Diplomatische Krise im Cono Sur

Und wieder war Ex-General Lino Oviedo der Anlaß für die Krise. Der Marionettenspieler, der die Regierung Cubas Grau nach seiner Pfeife hatte tanzen lassen und als Drahtzieher des Attentats auf Vizepräsident Argaña vom 23. März 1999 gilt, setzte sich damals sofort nach Argentinien ab und erhielt dort prompt politisches Asyl (vgl. LN 299). Er versteht sich nicht nur gut mit Noch-Präsident Carlos Menem, sondern ist auch in obskure Geschäfte mit ihm verbandelt.
Oviedo traf sich in seinem Luxusanwesen in Buenos Aires mit seinen Gefolgsleuten und beriet Strategien eines politischen Come-backs. Bereitwillig äußerte er sich vor allem auch gegenüber jedem Journalisten, der ihn sprechen wollte – und eckte damit hart an: Politische Betätigung ist nach einer lateinamerikanischen Abmachung für politische Asylanten verboten. Die paraguayische Regierung unter Luis Angel González Macchi reagierte entsprechend energisch und verlangte die Auslieferung Oviedos. Als Menem dies verweigerte, begann ein Schlagabtausch von Beschuldigungen und Beleidigungen auf höchster Ebene, der mit dem zeitweiligen Abzug der paraguayischen Botschafter aus Argentinien und Uruguay auch handfeste Konsequenzen hatte. Der argentinische Außenminister Di Tello wiederum zweifelte an, daß die vierjährige Amtszeit des paraguayischen Präsidenten nach der Frühjahrskrise überhaupt legal ist.

Diplomatische Eiszeit

Die diplomatische Eiszeit dürfte nicht enden, bevor nicht das Problem Oviedo bewältigt ist. Eine Lösung ist da allerdings nicht in Sicht. Die paraguayische Regierung will Oviedo im eigenen Land hinter Gitter bringen. Argentinien und die USA fürchten jedoch, daß bei einer Rückkehr Oviedos die gesamte Region destabilisiert werden könnte. Die beiden aussichtsreichsten Kandidaten für die argentinische Präsidentschaft am 24. Oktober, Duhalde von den regierenden Peronisten und De la Rúa von der oppositionellen Alianza, wollen die Menemsche Politik nicht weiterverfolgen, sondern Oviedo so schnell wie möglich außer Landes bringen.
Wenn sich keine Drittländer bereiterklären, Oviedo aufzunehmen – Panama, Venezuela und sogar Deutschland waren hypothetisch im Gespräch –, könnte es spätestens nach dem Amtsantritt des neugewählten argentinischen Präsidenten am 10. Dezember doch zu einer Auslieferung Oviedos nach Paraguay kommen. Zunächst hat Menem die Situation zu entschärfen versucht, indem er Oviedo Anfang Oktober zum Umzug von Buenos Aires ins 3 000 Kilometer südlich gelegene Feuerland zwang.

Ein Strohmann für Feuerland

Im verbalen Schlagabtausch ist von argentinischer Seite gelegentlich das Argument vorgebracht worden, die Regierung des Nachbarlandes wolle mit dem Wirbel um Oviedo in erster Linie von den hauseigenen politischen Problemen ablenken. Das ist nicht aus der Luft gegriffen, zumal bei den paraguayischen Bemühungen um Oviedo offenbar die politische Symbolik eine wichtige Rolle spielt. So ist es um den nach Brasilien geflohenen Ex-Präsidenten Cubas Grau bemerkenswert still, obwohl dieser als Strohmann Oviedos keine geringe Verantwortung für die Frühjahrsunruhen trägt. Oviedo, der nach wie vor damit droht, nach Paraguay zurückzukehren und dann einen „Staatsstreich mit Wahlstimmen“ zu führen, taugt jedoch viel besser als Feindbild, gegen das die politischen Kräfte in Paraguay mobilisiert werden können. Dabei darf allerdings der nach wie vor beträchtliche Einfluß vom charismatischen General Oviedo auf seine Anhänger nicht unterschätzt werden.

Personalkarussell und Flügelkämpfe

Die Krise scheint so schlimm, daß eine von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin für den 13. Oktober anberaumte Tagung über die deutsch-paraguayische Zusammenarbeit kurzfristig abgesagt werden mußte – immerhin waren zwei Minister der ehemaligen Oppositionsparteien und verschiedene Parlamentarier geladen. Schließlich könnte der eigene Posten bei der Rückkehr ja andersweitig vergeben sein. Trotz der Gründung einer Regierung der nationalen Einheit nach der Staatskrise im Frühjahr sieht es mit der Einheit schlechter denn je aus. Noch wird der vereinbarte Status quo gehalten und sind die Ministerposten entsprechend verteilt, sechs für die Colorados, je zwei für die Liberalen und den Encuentro Nacional. Aber das Personalkarussell dreht sich, schon mehrere Minister mußten – mitunter auch auf Drängen aus den eigenen Reihen – ihren Posten räumen, unter ihnen Anfang September auch Außenminister Miguel Saguier von den Liberalen.
Nicht nur die seit 1940 ununterbrochen regierende Colorado-Partei ist in sich zerstritten, auch der Partido Liberal Radical Auténtico besteht zumindest aus zwei miteinander zerstrittenen Fraktionen. Ein Parteitag der Liberalen wurde unlängst zum Kampfschauplatz, als die Delegierten mit allen möglichen Einrichtungsgegenständen gegeneinander vorgingen. Setzt sich dieser Trend fort, könnten durchaus wieder mehrere selbständige liberale Parteien entstehen – unter dem Stroessner-Regime waren es zu Spitzenzeiten acht. Der sozialdemokratisch orientierte Encuentro Nacional scheint noch nicht in diesem Maße betroffen, obwohl sich auch dort mehrere innerparteiliche Strömungen mit eigenen Namen und eigenen Programmen gebildet haben.

Ex-Präsident Wasmosy unter Druck

Geschickt hat es der Parteiflügel des ermordeten Vizepräsidenten Luis María Argaña geschafft, seine Machtposition innerhalb der Colorado-Partei auszubauen: Die beiden Söhne von Argaña scheinen die Fraktion fest im Griff zu haben. Obwohl die Fraktion UNACE des flüchtigen Generals Oviedo noch immer existert, laufen immer mehr ihrer AnhängerInnen zu den Argañisten über. Oder aber die Betroffenen werden aus der Partei ausgeschlossen – ein Schicksal, das Oviedo und 60 seiner Gefolgsleute ereilte. Gegenwärtig wird unter anderem versucht, den gewählten Bürgermeister von Ciudad del Este an der brasilianischen Grenze abzusetzen, weil er sich noch immer zu Oviedo und seiner Bewegung bekennt. Aber auch die dritte große Colorado-Fraktion des ehemaligen Präsidenten Wasmosy steht seitens des Argaña-Flügels unter Druck. Die Immunität von Wasmosy als Senator auf Lebenszeit wurde aufgehoben, und damit ist der Weg bereitet, ihm wegen Korruption den Prozeß zu machen. Unter diesen Bedingungen dürfte die Regierung der nationalen Einheit das Jahresende nicht überstehen.

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Stichprobe in Salta

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U. Brand, M. Gensler, S. Thimmel, „Argentinien & Uruguay – Länderkunde und Reisehandbuch für Kultur- und Naturreisende“, Peter Meyer Reiseführer, Frankfurt a.M., 1999, 512 Seiten, 39,80 DM (ca. 20 Euro).

Der Mercosur im Visier der Europäischen Union

Es waren vor allem der spanische Ministerpräsident Aznar und der französische Präsident Chirac, die sich in der Europäischen Union (EU) für einen europäisch-lateinamerikanisch/karibischen Gipfel stark machten. Ein spanisch-französisches Papier bildete die Diskussionsgrundlage für die festzulegenden Inhalte. Demgemäß sollten der politische Dialog, die wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie die kulturelle Dimension der Beziehungen gleichgewichtig Gegenstand des Treffens sein. Diese Inhalte finden sich sodann auch in der „Erklärung von Rio“ wieder, die vor dem Gipfel ausgearbeitet wurde, um dann von den versammelten 48 Staats- und Regierungschefs verabschiedet zu werden. Darin wird sowohl die gegenseitige Bedeutung der Kontinente als Wirtschaftsräume als auch als politische Partner betont. Die Unterzeichner verpflichten sich zu gemeinsamen Anstrengungen für freien Handel, aber auch zur Bekämpfung des Drogenhandels, von Armut, Arbeitslosigkeit, Menschenrechtsverletzungen, Militarismus und Massenvernichtungswaffen. So weit, so gut, so unverbindlich. Denn konkrete Vorgaben gibt es für diese Beschlüsse ebensowenig wie irgendwelche Finanzzusagen.

Mercosur im Mittelpunkt

Überraschend konkret festgelegt wurde hingegen der künftige Fahrplan in Sachen Integration zwischen der EU und dem Gemeinsamen Markt des Cono Sur (Mercosur), der Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay umfaßt. Überraschend deswegen, weil die Kommission der EU überhaupt erst eine Woche vor dem Gipfel ein Mandat zur Aufnahme von Freihandelsverhandlungen erhalten hatte, nachdem die EU-Agrarlobby um Frankreich ein solches bis dato total blockierte. Frankreich gab nun nach, aber nicht bedingungslos. Verhandlungen ja, aber erst einmal nicht über Zölle, lautet die Kompromißformel. Ab Herbst wollen die beiden Blöcke einschließlich Chile über nicht-tarifäre Handelshemmnisse (zum Beispiel Qualitätsstandards) verhandeln, um dann im November einen detaillierten Zeitplan über die weiteren Verhandlungen zur gemeinsamen Freihandelszone auszuarbeiten. Allerdings gibt es schon jetzt Dissens darüber, wann die Verhandlungen über den Hauptstreitpunkt, die Zölle, beginnen sollen. Spätestens Anfang 2001 meint stellvertretend für den Mercosur der brasilianische Präsident Cardoso, frühestens ab Juli 2001 lautet dagegen das EU-Verhandlungsmandat.
Die Zölle entscheiden in erster Linie über den Marktzugang von Waren und Dienstleistungen und somit über die Exportmöglichkeiten. Während der Mercosur sich durch eine möglichst schnelle Liberalisierung des EU-Agrarmarktes einen kräftigen Exportschub erhofft, versucht die EU-Agrarlobby die Marktöffnung solange wie möglich hinauszuzögern. Getreide, Rindfleisch, Milcherzeugnisse, Wein, Gemüse und nichttropische Früchte sind in der EU mit Zöllen belegt, die den Import aus Nicht-EU-Ländern wie den Staaten des Mercosur begrenzen. Der Zankapfel bei den anstehenden Verhandlungen ist somit klar, der Ausgang ungewiß.

Brasilien als Absatzmarkt

Nicht erst seit dem Rio-Gipfel steht der Mercosur im Blickpunkt der EU. Im Zeitraum von 1990-94 konnte die EU ihre Exporte in die Mercosur-Staaten mehr als verdoppeln, während die Einfuhren nur leicht stiegen. Die einseitige Liberalisierung seitens der Mercosur-Staaten zeigte Wirkung. Vor allem Brasilien, das zwischen 1990 und 1995 seine Außenzölle von durchschnittlich 52 Prozent auf 14 Prozent senkte, avancierte zum begehrten Absatzmarkt. Während in bezug auf ganz Lateinamerika die USA vor allem wegen des intensiven Handelsaustausches mit Mexiko immer noch der führende Handelspartner ist, hat die EU hinsichtlich des Mercosur die Nase vorn.
Über die Hälfte des Handelsvolumens der EU mit Lateinamerika entfällt inzwischen mit steigender Tendenz auf den Mercosur. Seit dem Entstehen des Mercosur verfolgt die EU das Ziel, diesen Absatzmarkt vertraglich abzusichern. So wurde am 15.12.1995 auf dem EU-Gipfel in Madrid ein Rahmenabkommen abgeschlossen, das die Voraussetzungen für die Gründung einer gemeinsamen Freihandelszone schaffen sollte und den Weg für die jetztige Vereinbarung ebnete. Mit Chile, das dem Mercosur assoziiert ist, wurde 1996 ein ähnliches Abkommen abgeschlossen.
Letzter Baustein der Lateinamerika-Strategie der EU ist Mexiko, das als Produktionsstandort aufgrund des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) den weitgehend unbeschränkten Zugang zum US-amerikanischen Markt gewährleistet. Das mit Mexiko im Dezember 1997 unterzeichnete Abkommen über wirtschaftliche Partnerschaft, politische Koordination und Zusammenarbeit ist noch nicht ratifiziert. Dieses Freihandelsabkommen enthält unter anderem eine Demokratie- und Menschenrechtsklausel, die in den letzten Monaten zu heftigen Diskussionen unter MenschenrechtlerInnen in Europa und Mexiko geführt hat. Ist es angesichts einer sich dramatisch verschlechternden Menschenrechtslage mit einer Standardklausel getan, oder bedarf es eines Überwachungsinstrumentariums zur Kontrolle der Einhaltung der Menschenrechte? Die EU-PolitikerInnen sehen diese Frage weniger verkrampft als die MenschenrechtlerInnen und hoffen auf eine Ratifizierung des Freihandelsabkommens noch in diesem Jahr, zumal es in bezug auf den Agrarsektor mit Mexiko weit weniger Streitpunkte als im Falle des Mercosur gibt. Hinsichtlich der Menschenrechtslage in Mexiko teilte der finnische Präsident Martii Ahtisaari im Februar auf einer Pressekonferenz mit, daß der Europäische Rat die Kontroverse über die vermeintliche Verletzung der Menschenrechte gegenüber den indigenen Völkern in Mexiko überwunden habe, nachdem auf diesem Gebiet deutliche Fortschritte zu verzeichnen seien. Ahtisaari amtiert seit 1. Juli als EU-Ratspräsident und ist somit Nachfolger von Kanzler Schröder.

EU gewinnt an Boden

Freie Fahrt also für den Freihandel, zumal die Gelegenheit günstig scheint, den USA im Rennen um den lateinamerikanischen Markt den Rang abzulaufen. Schließlich verließ Clinton den letzten interamerikanischen „Gipfel“ am 18. und 19. April 1998 in Santiago de Chile mit leeren Händen. Mehr als die Bekundung, daß am Ziel der gemeinsamen Freihandelszone festgehalten werde, gab es nicht zu verzeichnen. Der Grund ist der US-Kongreß, der Clinton hartnäckig die sogenannte Fast-Track-Autorität verwehrt, die ihm ein autonomes Verhandlungsmandat sichern würde – der Kongreß könnte dem Verhandlungsergebnis dann nur noch als Ganzem zustimmen oder es ablehnen. Ohne Fast-Track wollen sich die lateinamerikanischen Staaten aber nicht weiter an den Verhandlungstisch setzen. Die Freihandelsbestrebungen der USA hinsichtlich Lateinamerikas sind deswegen erst einmal ins Stocken geraten, während diejenigen der EU an Fahrt gewinnen. Dabei sind sie nicht zuletzt eine Reaktion auf die Versuche der USA, die lateinamerikanischen Ökonomien stärker an sich zu binden.
Nachdem der Hinterhof aufgrund der Verschuldungskrise und der damit einhergehenden wirtschaftlichen Stagnation als Produktionsstandort von den US-amerikanischen Unternehmen in den achtziger Jahren weitgehend gemieden wurde und selbst der Warenabsatz zurückging, änderte sich das Bild in der ersten Hälfte der neunziger Jahre schlagartig. Mit den ersten Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung und vor dem Hintergrund der entstehenden Wirtschaftsblöcke in Europa und Asien wurde die USA aktiv und wandte sich den lateinamerikanischen Ländern zu. Bereits am 27. Juni 1990 kündigte der damalige Präsident George Bush seine Initiative „Enterprise for the Americas“ an. Ziel: eine Freihandelszone von Alaska bis Feuerland. Als ersten Schritt in diese Richtung leitete Bush mit Kanada und Mexiko Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen ein.
Sein Nachfolger Bill Clinton blieb der eingeschlagenen Linie treu. So ratifizierte der anfangs widerwillige Kongreß, der den Verlust von Arbeitsplätzen befürchtete, im November 1993 nicht zuletzt aufgrund Clintons massiven Einsatzes schließlich den Vertag zum North American Free Trade Agreement (NAFTA) zwischen den USA, Kanada und Mexiko. Auch das Ziel der gesamthemisphärischen Freihandelszone verlor Clinton nicht aus den Augen. Auf dem „Gipfel der Amerikas“ in Miami vom 9. bis 11. Dezember 1994 bot er den anwesenden 33 Staats- und Regierungschefs nord- und lateinamerikanischer sowie karibischer Staaten eine „Partnerschaft für den Wohlstand“ an. Der Gipfel endete mit der Unterzeichnung einer Erklärung und eines Aktionsplans. Bis zum Jahr 2005 sollen die Verhandlungen über eine die gesamte Hemisphäre umfassende Freihandelszone, die Free Trade of the Americas (FTAA), abgeschlossen werden. Seitdem tritt Clinton mangels Fast-Track auf der Stelle. Dessen ungeachtet bleibt das Hauptziel der Außenpolitik der Clinton-Administration ungebrochen: Absatzmärkte für US-amerikanische Waren zu suchen. Der Staatssekretär im Handelsministerium, Stuart Eizenstat, brachte es auf den Punkt: Es gehe darum, Jobs für Amerikaner im Inland zu schaffen, indem man die Märkte im Ausland öffne. Dementsprechend komme der Aufrechterhaltung der amerikanischen Führungsrolle in Sachen Marktöffnung und freier Welthandelsordnung außenpolitisch Priorität zu.
Die EU verfolgt dieselben Ziele. Die Vereinbarung von Rio ist ein Schritt in diese Richtung, nicht mehr und nicht weniger. Potential ist ohne Zweifel vorhanden, denn noch beträgt das Handelsvolumen mit den 480 Millionen LateinamerikanerInnen weniger als das mit den sieben Millionen SchweizerInnen. Ohne eine zumindest partielle Öffnung ihres Agrarmarktes wird die EU allerdings bei den Freihandelsverhandlungen mit Lateinamerika auf Granit beißen. So forderte der uruguayische Präsident, Julio María Sanguinetti, Ende Mai beim Treffen der sogenannten Rio-Gruppe, eines losen Zusammenschlusses von 14 lateinamerikanischen Ländern, die Europäer auf, ihre „protektionistischen Reflexe“ auszumerzen, und „im Prozeß der Liberalisierung fortzuschreiten.“ Diese Forderung ist mehr als berechtigt, denn wohin eine einseitige Marktöffnung führt, erfahren die Mercosur-Staaten um ihre Lokomotive Brasilien derzeit: in die Krise.

Integrationsmodell auf dem Prüfstand

Im Kern verfolgten die Mercosur-Staaten Argentinien, Uruguay und Brasilien in den letzten Jahren dieselbe Wirtschaftspolitik: Bindung der eigenen Währung an den US-Dollar, Überbewertung der heimischen Währung, Finanzierung der Leistungsbilanzdefizite über Kapitalimporte. In den Nuancen und in der Dauer unterscheiden sich die Wirtschaftspolitiken etwas. In Argentinien wurde der Peso mit einer Parität von eins zu eins an den Dollar gekoppelt, während die Handhabung in Brasilien und Uruguay etwas flexibler war. In Argentinien und Uruguay geht diese Form der Politik bereits auf den Anfang der 90er Jahre zurück, während sie in Brasilien erst 1994/95 durchgesetzt wurde.
Die amtliche Begründung der neuen Politik war uniform: eine überbewertete Währung sollte für niedrige Importpreise und eine verschärfte Importkonkurrenz sorgen, diese wiederum sollten den Preisauftrieb dämpfen. Tatsächlich ging die Inflation mehr oder weniger dramatisch zurück, in Argentinien inzwischen bis zur Deflation. Entscheidender noch für die Dämpfung des Preisauftriebs war jedoch, daß der Verteilungskonflikt eindeutig zugunsten der Kapitalseite gelöst wurde. Damit entfiel der Anreiz für die in einem oligopolistischen Umfeld agierenden Unternehmer, auf Lohnerhöhungen prompt mit noch stärkeren Preiserhöhungen zu reagieren. Signifikanterweise war die Inflation in Uruguay am höchsten. Es war das Land, in dem die Gewerkschaften noch am konfliktfähigsten blieben. Die Interessen der (Groß-)Anleger wurden begünstigt und die Kapitalkonzentration nahm zu. In Argentinien verschärfte sich die Einkommenskonzentration. Diese war dort in gewisser Weise auch Wachstumsmotor. Die Industriebranchen, die hochwertige Konsumgüter für die wohlhabenden Bevölkerungsschichten produzierten, verzeichneten hohe Wachstumsraten, während ein Großteil der restlichen importsubstituierenden Industrien stagnierten oder ganz von der Bildfläche verschwanden. Auch in Brasilien und Uruguay belebte die Preisstabilisierung vorübergehend den Konsum. In Brasilien vermochten anfangs sogar die Armen mehr zu konsumieren. Ihr Einkommen war während der Hyperinflation am wenigsten indexiert gewesen, und so konnten sie zunächst von der Preisstabilisierung profitieren. Im allgemeinen wurde der Konsumboom jedoch vom Bürgertum und dem oberen Teil der Mittelklasse getragen, die auf Pump kauften. So ist die Kreditkarte die Eintrittskarte zum vollwertigen Konsumenten.
Neue Anlagefelder erschlossen die Regierungen dem aus- und inländischen Kapital zeitgleich durch eine Privatisierung der Sozialversicherung bzw. der Infrastruktur. In Argentinien ist dieser Privatisierungsprozeß fast abgeschlossen, während er in Uruguay auf erhebliche, allerdings nachlassende Widerstände stieß.

Die Kehrseite der Medaille

Die Politik überbewerteter Wechselkurse bei gleichzeitiger Außenöffnung trieb ganze Branchen in den Ruin. Damit hat die Branchenstruktur an Diversität verloren. Am deutlichsten ist die Reprimitivisierung der Industriestruktur in Uruguay, wo vornehmlich die nach Brasilien exportierenden Agrarindustrien wuchsen. Der überbewertete Wechselkurs und der florierende Oberschichtenkonsum ließen die Importe hochschnellen. Den entstehenden Devisenengpaß suchten die Regierungen über die Anziehung ausländischen Kapitals, beispielsweise mittels hoher Zinsen, auszugleichen. Der hieraus resultierende Abfluß von Zinsen und Dividenden verschlechterte seinerseits die Leistungsbilanz, so daß der Bedarf an Auslandskapital eher noch dringlicher wurde. Und so weiter und so fort. Besonders dramatisch war die Entwicklung in Brasilien. Hier weitete sich das Leistungsbilanzdefizit von 1,7 Milliarden im Jahr 1994 auf satte 33,4 Milliarden US-Dollar im Jahr 1997 aus. Die Auslandsschuld stieg im selben Zeitraum von 148,3 Milliarden auf 193,1 Milliarden, 1998 dann nochmals auf 235 Milliarden US-Dollar. Ähnlich war die Entwicklung in Argentinien und Uruguay. Die argentinische Auslandsschuld stieg von 1991 bis 1997 von 58,5 auf 109,3 Milliarden US-Dollar, in Uruguay stieg sie von 7,2 auf 12,5 Milliarden US-Dollar. Zwar nahmen auch die Devisenreserven zu, doch diese können in einer Krise so dahinschmelzen wie ein Speiseeis in der Äquatorsonne.

Brasilianische Krisendynamik

In Brasilien stieß das Modell am schnellsten an seine Grenzen. Brasilien verfügte über die komplexeste Ökonomie, in der auch am deutlichsten wurde, daß die US-amerikanische Wechselkurspolitik nur zufällig einmal in die für die brasilianische Ökonomie richtige Richtung geht. Zudem war der durch die Hochwährungs- und Zinspolitik zunehmend belastete Industriesektor in Brasilien unter den Mercosur-Ländern politisch immer noch am stärksten und damit am ehesten in der Lage, wenigstens partielle Veränderungen der Wirtschaftspolitik durchzusetzen.
Der Anstoß zur offenen Krise kam allerdings von außen. Nach den Finanzkrisen in Ostasien und Rußland entzogen die Anleger Brasilien ab dem August 1998 massiv das Vertrauen und das Kapital. Um den Wechselkurs bis zu den Wahlen zu halten, warf die Zentralbank 30 Milliarden US-Dollar auf den Markt. Auf diese Höhe können auch die direkten Kosten des Wahlsiegs Cardosos im Oktober taxiert werden. Der IWF half im November 1998 mit einem Finanzpaket von 41 Milliarden US-Dollar nach. Doch im Inneren schmolz die Machtbasis Cardosos. „Industriellenvereinigungen und Gewerkschaftszentralen reichten sich die Hände,“ so der brasilianische Ökonom Paul Singer in seinem jüngsten Buch O Brasil na crise, „um die Gesellschaft für die Verteidigung der Produktion zu mobilisieren, was ein erster entscheidender Schritt zur Anerkennung der Tatsache ist, daß sich die gültige Wirtschaftspolitik erschöpfte“. Auch die neugewählten Gouverneure wollten sich nicht mehr mit der gravierenden Einschränkung ihrer Handlungsspielräume durch die Budgetkrise zufrieden geben. Das Fanal war die Verhängung eines Zahlungsmoratoriums durch den Gouverneur von Minas Gerais, Itamar Franco, am 6. Januar 1999. Danach war bei der Kapitalflucht kein Halten mehr, und die Regierung mußte den Wechselkurs freigeben. Der Kurs des Real fiel wie ein Stein. Damit gab die Regierung einer zentralen Forderung der Produzentenkoalition nach. Anders sieht es bei der inneren Geldpolitik aus. Nach wie vor versucht die Regierung über extrem hohe Zinsen und eine deflationär angelegte Wirtschaftspolitik das Kapital im Lande zu halten und eine Verbindung von Zinssenkungen und Kapitalverkehrskontrollen zu umgehen. Die Hochzinspolitik läuft auf den allmählichen fiskalischen Selbstmord des Staates hinaus. Sie gehorcht jedoch durchaus einer machtpolitischen Rationalität. Bundesstaaten wie Rio Grande do Sul, das jetzt von der Arbeiterpartei (PT) regiert wird, oder Minas Gerais könnten zum Kern eines Gegenblocks im heterogenen brasilianischen Staat werden. Einen Präzendenzfall gab es bereits mit der Formierung eines neuen Machtblocks in der letzten „großen Krise“ im Jahr 1930. Dem will Cardoso durch geldpolitische Erdrosselung vorbeugen. Die Geldpolitik ist der zentrale politische Konfliktpunkt.

Folgewirkungen bei den Nachbarn

Die Exporteure in Argentinien und Uruguay hatten sich auf den Wechselkurs in Brasilien eingestellt. Für verschiedene Branchen beider Staaten war Brasilien in den letzten Jahren das einzige Land, in das sie noch exportieren konnten. Die Geschäftsgrundlage allseitig überbewerteter Währungen im Mercosur ist nun entzogen. Damit fallen die Integrationsvorteile nun anders aus.
An Daten über die Wirkungen der Abwertung auf den Außenhandel fehlt es noch. Einen Eindruck über das Ausmaß des Einbruchs vermitteln jedoch die brasilianischen Außenhandelsdaten für die ersten beiden Monate dieses Jahres. Danach nahm der Handel mit den anderen drei Mercosur-Staaten im Januar um 15,8 Prozent und im Februar um 32,6 Prozent ab. Der Warenversand Uruguays in den großen Nachbarn im Norden halbierte sich. Die unmittelbare Wirkung des erschwerten Exportes nach Brasilien ist jedoch begrenzter als man zunächst annehmen könnte. Die Exporte machten in Argentinien 1997 nur 7,9 Prozent und selbst im Kleinstaat Uruguay nur 13,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) aus. Es gingen in beiden Staaten zuletzt etwa ein Drittel der Exporte zum großen Nachbarn im Norden. Es sind also nur etwa drei bis 4,5 Prozent des BIP unmittelbar durch die verschlechterten Exportmöglichkeiten betroffen. In einigen Branchen, vor allem der Landwirtschaft und Agrarindustrie (in beiden Ländern Reis und Malz, in Uruguay auch Milch) sowie der Autoindustrie in Argentinien, ergibt sich hingegen ein dramatisches Bild. Die Landwirte sind zudem noch mit einem rapiden Verfall der internationalen Agrarpreise konfrontiert. Wie der argentinische Regionalwissenschaftler Alejandro Rofman gegenüber LN erklärte, sind beispielsweise die Preise für Äpfel in der argentinischen Provinz Mendoza um zirka 80 Prozent gesunken. Bei einjährigen Kulturen wurde die Aussaat daher stark verringert. In Corrientes betrug die Reduzierung bei Reis sogar ca. 40 Prozent. Durch die weitgehende Komplementarität der Außenhandelsstrukturen ist die Importkonkurrenz durch die auf einen Schlag verbilligten brasilianischen Produkte hingegen nicht so fühlbar.
Jene Regionen, die durch regionale Integration besonders begünstigt worden waren, trifft der erschwerte Export nach Brasilien nun am stärksten, daneben auch das argentinische Autozentrum Córdoba, sowie einige eher ländliche Gebiete in Argentinien und Uruguay. Da es sich dort vielfach um kleinere und mittlere Betriebe handelt, fehlt es den betroffenen Produzenten an Mitteln, um die Krise durchzustehen.
Die Hauptwirkung der Finanzkrise und Währungabwertung Brasiliens ist nicht direkter, sondern indirekter Natur. Der brasilianische Crash stellt die demselben Strickmuster folgenden wirtschaftspolitischen Modelle Argentiniens und Uruguays in Frage.
Die große Sorge der dominanten Sektoren beider Länder ist nun, daß ein Mißtrauensvotum des internationalen Finanzkapitals ihrem Modell die Grundlage entzieht. Daher setzen sie auf eine deflationäre Politik, welche noch größere Löcher in der Zahlungsbilanz durch eine (Er-)Drosselung der Binnennachfrage vermeiden soll. Eine IWF-Delegation empfahl der argentinischen Regierung (Nominal-)Lohnsenkungen. Die Kreditzinsen bleiben hoch, in Uruguay beliefen sie sich im Juli 1998 für Peso-Kredite real auf 45 Prozent, für Dollar-Kredite auf 8,6 Prozent. Die restriktive Politik bleibt nicht ohne Folgen. Die Produktion geht deutlich zurück, in Argentiniens Automobilindustrie zum Beispiel in den ersten beiden Monaten des Jahres um 48,7 Prozent. Die Arbeitslosigkeit steigt.
Die Regierungsparteien beider Länder wollen sich zumindest noch bis zu den anstehenden Wahlen ohne Abwertung über die Runden retten. Diesem Zweck diente auch das Gerede von einer völligen Dollarisierung der argentinischen Ökonomie.

Zersplitterter Protest

Die restriktiv angelegte Wirtschaftspolitik stößt in Argentinien und Uruguay auf Proteste. Speerspitze des Protestes ist vielfach der Agrarsektor. In Argentinien gingen nun erstmals auch die Großgrundbesitzer auf die Straße. Ihre Vertretung, die Sociedad Rural, legte zusammen mit anderen Agrarverbänden Mitte April den Landwirtschaftshandel lahm. Industriellenvereinigungen und die deutlich geschwächten Gewerkschaften sind in ihrem Protest weniger sichtbar. Die Regierungen suchen durch kleinere Steuererleichterungen und andere Zugeständnisse dem Protest die Spitze zu nehmen, der meist von spezifischen Gesellschaftssektoren organisiert wird. Dies ermöglicht es den Regierenden, zumindest potentiell, einzelne Interessengruppen gegeneinander auszuspielen. An den grundlegenden Tabus – überbewerteter Wechselkurs und Außenöffnung – wird in der Regel ohnehin nicht gerüttelt. Umfassende Alternativen präsentieren die oppositionellen Gruppen kaum.
Tatsächlich hätte eine Abwertung in Argentinien und Uruguay dramatischere Folgen als in Brasilien. Der Grund ist die hohe Dollarisierung. Unternehmen und Konsumenten sind fast ausschließlich in Dollar verschuldet. Zum Teil müssen laufende Ausgaben, wie Mieten, in Dollar beglichen werden. Damit gerät die soziale Basis der regierenden Parteien in die Finanzklemme. Auch der Bankensektor geriete in eine schwere Schieflage. Für Uruguay wäre dies ein Déjà-vu. Bereits Anfang der 80er Jahre endete derselbe Politikstil in Bankenkrach und Abwertung.
Gleichzeitig ist nicht zu erkennen, wie eine Abwertung umgangen werden kann. Eine Orientierung am Geld eines Staates mit einer völlig anderen sozio-ökonomischen Struktur und einem deutlich höheren Produktivitätsniveau ist auf die Dauer kaum durchhaltbar. Nur zufällig kann die Wechselkursentwicklung des US-Dollar für den Produktionssektor in Argentinien oder Uruguay in die richtige Richtung gehen. Es ist sicher kein Zufall, daß der Mercosur-Staat mit der komplexesten und gewichtigsten Produktionsstruktur als erster von der Dollarparität abging.

Bruchlinien im Mercosur

Der Streit um die Geld- und Währungspolitik ist der potentielle Bruchpunkt im Mercosur. Die Wechselkurse sind eine zentrale Determinante für Höhe und Richtung der Handels- und Kapitalflüsse wie für die Verteilung der Integrationsvor- und ¤nachteile. Zudem sind die Interessenkonstellation und Kräfteverhältnisse in der Geld- und Währungspolitik innerhalb des Mercosur unterschiedlich ausgeprägt.
Als dominante Macht scherte sich Brasilien nicht um seine Partner und wertete einseitig ab. Signifikanerweise redete Brasiliens Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso dann auch nicht als erstes mit dem ausgewiesenen Paritätsfetischisten Carlos Menem, sondern mit Uruguays Staatschef Julio Sanguinetti. Verhandelt wurde bilateral über die Krisenfolgen für die Mitgliedsländer, eine gemeinsame, hochrangig, besetzte Diskussion schoben die Mercosur-Staaten vor sich her. Mit erweiterten Kreditmöglichkeiten für die Mercosur-Exporteure bei Brasiliengeschäften kam Cardoso seinen Partnern etwas entgegen. Doch dann führte die Krise zu einem Hauen und Stechen im Mercosur. Brasilia düpierte seine Partner durch einseitige zollpolitische Maßnahmen und die Aufnahme von Verhandlungen über ein Handelsabkommen mit der Comunidad Andina, ohne seine Partner zu konsultieren. Als Begründung gab der zuständige brasilianische Staatssekretär, José Alfredo Graça Lima, an, ein Abkommen zwischen dem Mercosur und den Andenstaaten würde sich durch die divergenten Interessen Brasiliens und Argentiniens schwierig gestalten. Brasilien will für seine Industriegüter in der Andenregion freien Zugang schaffen, während es Argentinien und Uruguay eher um ihre Agrarprodukte geht. Für den obersten Verhandlungsführer Uruguays im Mercosur, Elbio Roselli, ist eine solche Politik der Alleingänge „unmöglich“.
Verschärft wurden die Konflikte im Mercosur durch die Involvierung von Spitzenpolitikern der anderen Mercosur-Staaten in die Fraktionskämpfe in Paraguays regierender Colorado-Partei. Das Umfeld Menems ist geschäftlich stark mit dem Putschisten-Militär Oviedo verbunden, ein enger Sanguinetti-Vertrauter ebenfalls mit der im jüngsten Machtkampf unterlegenen Colorado-Fraktion verbandelt. Dies blieb für die bilateralen Beziehungen zwischen Paraguay und diesen beiden Staaten nicht ohne Folgen. Menem gewährte seinem Geschäftsfreund Asyl, Uruguay erkannte die neue Regierung in Asunción zunächst nicht an. Der neue paraguayische Staatspräsident Luis González Macchi forderte seinerseits eine grundlegende Revision der Mercosur-Verträge.
Konstruktiver war der Umgang von Interessenverbänden mit der Krise. Um Schadensbegrenzung bemühten sich die Industriellenvereinigungen Argentiniens und Brasiliens. Grundsätzlicher wurden die Gewerkschaften im Mercosur. Sie suchen die Krise produktiv zu wenden und forderten in einem Gespräch mit Brasiliens Präsident Cardoso eine Demokratisierung des Mercosur. Doch scheinen die oppositionellen Kräfte derzeit zu schwach, um eine Abkehr vom liberalen Integrationsmodell durchzusetzen.

KASTEN:
In Sachen Bild:

Auf Wirtschaftsseiten spielen Fotos in aller Regel eine Nebenrolle. Oft genug liegt es daran, daß sich Redaktionen auf die Bebilderung ihrer Textbeiträge oder auf Standardmotive beschränken. In dem folgenden Wirtschaftsschwerpunkt wollen wir unsere Leserinnen und Leser nicht mit Fotos von Börsen, Bonzen und Bankern langweilen. Statt der üblichen optischen Ergänzung zum vorgegebenen Thema haben wir Bilder ausgesucht, von denen wir hoffen, daß sie für sich sprechen. Es geht nicht um eine getreue Zuordnung der Fotos zu bestimmten Ländern oder Themenbereichen. Eins ist ihnen allerdings gemein: Sie zeigen Menschen in Lateinamerika, auf dem Markt, bei der Arbeit, in alltäglichen Situationen. Die eigentlichen Subjekte jeder wirtschaftlichen Entwicklung, auch wenn sie meistens zu Objekten von Wachstums- und Profitinteressen gemacht werden.
Möglich war dieses Konzept dank der Unterstützung der Fotoagentur version. Seit längerem zeichnet sich diese in Köln und in Neukölln (für Nicht-BerlinerInnen: ein Hauptstadtbezirk) beheimatete Agentur durch sozial und politisch engagierte Fotografie aus. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf den Entwicklungsländern, vornehmlich Lateinamerika. So vermittelt der Kölner Fotograf Herby Sachs auf den ersten Seiten einen visuellen Eindruck vom Leben in Mexiko, in Oaxaca und Juchitán. Jens Holst aus Berlin zeigt im Anschluß Arbeits- und Alltagssituationen in Chile sowie einen Einblick in die Lebensbedingungen von Haitianern in der Dominikanischen Republik. Last, not least, stellt uns der ebenfalls bei Köln beheimatete Fotograf Klaus Görgen einige Motive aus Kuba vor, die sich von vielen Standards der Kuba-Berichterstattung lösen und Alltagssituationen der dort lebenden Menschen zeigen.

Der historischen Chance bewußt

Allgemein waren diese ersten, durch die Verfassungsänderung von 1996 notwendig gewordenen, offenen Vorwahlen mit Spannung erwartet worden. Obwohl keine Wahlpflicht bestand, beteiligten sich 54 Prozent der UruguayerInnen daran, die Kandidaten der verschiedenen Parteien für die Nationalwahl im Oktober zu küren. Ein knappes halbes Jahr Wahlkampfzeit bleibt jetzt, eine Zeit, in der die Auseinandersetzungen um die Macht erst richtig losgehen werden.
Und zu welchen Überraschungen es dabei kommen kann, zeigen die Ergebnisse der Vorwahlen. Mit dem internen Sieg von Jorge Battle, dem 71jähriger Politveteran der Colorados, hatte letztlich kaum jemand gerechnet. Vermutet wird, daß viele Anhänger des Linksbündnisses Encuentro Progresista für Battle stimmten, um ihn als möglichen Gegenkandidaten zu Tabaré Vázquez in die (wahrscheinliche) Stichwahl Ende November diesen Jahres zu bringen. Das Kalkül dabei: Battle, der sich jetzt zum fünften (!) Mal einer Präsidentschaftswahl stellt, haftet das Stigma eines Verlierers an. Aber niemand macht den Fehler, den erfahrenen Politprofi Battle zu unterschätzen. Wenn es drauf ankam, war er immer zur Stelle – so auch jetzt.
Die Colorados, die Mitte-Rechts-Partei des ehemaligen Großbürgertums, zählen zu den Gewinnern, weil es ihnen gelungen ist, fast eine halbe Million der 1,3 Millionen abgegeben Stimmen im Land, zu erhalten. Aber die Partei hat auch verloren: Der Hoffnungsträger der Colorados, der smarte, auf US-amerikanische Wahlkampfmethoden getrimmte Senator Luis Hierro konnte sich wider Erwarten nicht durchsetzen. Seine massive Wahlkampagne und seine Wahlgeschenke waren denn auch selbst für viele Anhänger seiner Partei zu anmaßend und er selbst zu siegesgewiß.

Das Linksbündnis Encuentro Progresista im Aufwind

Der Encuentro Progresista, das Linksbündnis aus über 13 Parteien von Christdemokraten bis zum Movimiento de Participación Popular (MPP), dem auch das Movimiento de Liberación Nacional/Tupamaros (MLN), die Partei der 1985 legalisierten Stadtguerilla der Tupamaros, angehört, hat gewonnen, weil Tabaré Vázquez als Kandidat die meisten Stimmen aller Kandidaten auf sich vereinigen konnte. Abzusehen war sein interner Sieg über den Senator Danilo Astori, aber die deutliche Mehrheit war doch für viele Beobachter überraschend. Mit mehr als 82 Prozent der fast 400.000 für den Encuentro abgegebenen Stimmen triumphierte der ehemalige Bürgermeister von Montevideo über seinen Widersacher.
Aber der Zusammenschluß zeigt sich trotzdem enttäuscht, weil es nicht gelungen ist, die meisten Stimmen für das Bündnis zu erhalten, womit insgeheim viele gerechnet hatten. Das mag an den Spekulationen über die strategische Wahlhilfe vieler Anhänger des Linksbündnisses für den vermeintlich schwachen Battle gelegen haben, aber sicher auch an den internen Querelen: Im Movimiento de Participación Popular kam es zur Spaltung, viel Zeit wurde mit internen Diskussionen verbracht und nicht zuletzt führte auch die persönliche Fehde der beiden Kandidaten Vázquez und Astori zu einem Bild der Zerstrittenheit in der Öffentlichkeit.
Am meisten verloren hat die Partido Nacional. Diese zweite der traditionellen Parteien, die Blancos, die ihren Rückhalt eher bei den ländlichen Großgrundbesitzern haben, erreichten mit ihrem Kandidaten, dem ehemaligen Präsidenten Luis Alberto Lacalle, nur 180.000 Stimmen. Insgesamt errang die Partei, die traditionell im Wechsel mit den Colorados in Uruguay die Regierung stellt, nur den dritten Platz bei den Wählerstimmen, mit weitem Abstand hinter den Colorados und dem Encuentro Progresista. Dem parteiinternen Herausforderer von Lacalle, dem Reformer Juan Andrés Ramírez gelang es nicht, den durch Korruptionsvorwürfe stark belasteten Ex-Präsidenten zu verdrängen. Hinter Lacalle sammelten sich wie in einem letzten Gefecht alle Traditionalisten und Konservativen, die sich nichts anderes vorstellen können, als die Blancos zu wählen.

Korruption wird akzeptiert

Aber 46 Prozent der UruguayerInnen, das heißt über 1,1 Millionen WählerInnen, blieben den Urnen fern. Die größte Partei stellen also die NichtwählerInnen und die Unentschlossenen. Auch das war bei den ersten Vorwahlen in der Geschichte Uruguays nicht abzusehen, allgemein wurde von einer höheren Wahlbeteiligung ausgegangen.
Niemand wagt im Moment eine Vorhersage für die Nationalwahlen im Oktober. Für den Encuentro Progresista stehen die Chancen nach dem Urnengang im April aber nicht schlecht: Die beiden Kontrahenten Vázquez und Astori scheinen sich zusammenzuraufen, die Diskussionen über ein Regierungsprogramm werden sachlicher.
Einigkeit herrschte bislang nur über die Ablehnung der Regierungspolitik des aktuellen Staatspräsidenten Julio Mariá Sanguinetti von den Colorados, der mit seiner neoliberalen Privatisierungspolitik auf heftigen Widerstand gestoßen ist. Auch finanziell soll ab jetzt eher geklotzt als gekleckert werden:
Im Gegensatz zu den traditionellen Parteien stand dem Bündnis für den Vorwahlkampf kaum Geld für eine aufwendige Kampagne zur Verfügung und auch der Kandidat Tabaré Vázquez machte nahezu keinen persönlichen Wahlkampf. Um eine auf den Kandidaten zugeschnittene Medienkampagne zu finanzieren, sollen jetzt Kredite aufgenommen werden. Für das Linksbündnis kommt es aber viel mehr darauf an, ob ein überzeugendes politisches Profil gefunden, ob die vielschichtige Struktur des Bündnisses zusammengehalten und ob die Mehrheit der Unentschiedenen mobilisiert werden kann – und das wichtigste: Ob die Basisorganisationen wieder angesprochen werden.
War die Teilnahme an den „Internas“ freiwillig, so besteht bei den Nationalwahlen im Oktober Wahlpflicht. Viele Anhänger des EP hoffen, daß wenn die Wahlkampagne des Encuentro jetzt anläuft, die stärkste Kraft im Lande, die Nichtwähler, noch überzeugt werden kann. Der Links-Kandidat ist von der historischen Chance, die sich ergibt, überzeugt. Und er ist sich auch bewußt, daß nur die Wiederbelebung der Aktivitäten der Basis zum Sieg im Oktober/November führen kann.

„Weniger Titanic – mehr Juliette“

Ist der lateinamerikanische Filme out?

Es gibt, und das ist ja nicht nur auf den Film beschränkt, ein klar abnehmendes Interesse an Lateinamerika. Bis vor einigen Jahren gab es in sehr vielen Städten regelmäßig lateinamerikanische Filmtage. Das ist jetzt kaum noch der Fall, und das hängt damit zusammen, daß es die Basis dafür nicht mehr gibt. Die Initiativen, die zu Lateinamerika gearbeitet haben, wo Lateinamerika bestimmte Emotionen bei vielen Leuten hervorgerufen hat, sind weg. Wir hatten „Tupamaros“ im Kino und die Leute, die ihn gesehen haben, waren begeistert. Der Film hatte sich auch stark an die Überreste von Linken gerichtet. Aber es sind eben Reste, und man schafft es mit solchen Filmen kaum, über diese Zielgruppe hinauszukommen. Das ist aber ein allgemeines Phänomen, das mit Film nur am Rande etwas zu tun hat.

Welche Filme aus Lateinamerika sind denn hierzulande erfolgreich gelaufen?

„Erdbeer und Schokolade“ lief relativ gut, also relativ gut heißt 120.000 Zuschauer. Er wäre vielleicht noch besser gelaufen, wenn er von Anfang an auch in der Originalfassung gelaufen wäre. Kuba ist gerade total angesagt und alle lieben kubanische Musik. Das heißt, wenn der Film „Buena Vista Social Club“ von Wim Wenders jetzt herauskommt – von Wim Wenders gedreht! – dann hat man den Namen Wim Wenders’ und hat den Namen Buena Vista Social Club. Der Film wird funktionieren, da werden die Leute massenweise reinrennen. Weil das ganze auch, ohne jetzt jemandem Böses zu wollen, auf der Abkocherschiene fährt. Das Publikum mag etwas, was nett ist, wo alte Herren agieren, die so authentisch sind und relativ harmlos. Man geht ins Kino, lehnt sich zurück, wippt ein bißchen mit, weil die Musik so schön ist und geht anschließend raus und hat zwei wunderschöne Stunden hinter sich. Es gibt den anderen Film „Lagrimas Negras“, der hatte keinen richtigen Verleih gefunden, aber dort, wo er gezeigt wird, läuft er ebenfalls sehr gut. „Wer zum Teufel ist Juliette“, ebenfalls ein Film über Kuba, läuft auch gerade einigermaßen gut und hatte bisher um die sechs- bis siebentausend Zuschauer. Was für einen kleinen Film mit dieser Herausbringungsgröße absolut o.k. ist.

Was aber auch herzlich wenig ist.

Das sind die Dimensionen in denen kalkuliert wird, macht man dann mehr, ist das super. Als wir den Dokumentarfilm „Tupamaros“ ins Kino gebrachten, kalkulierten wir ihn auf 5000 Zuschauer. Es gibt nunmal kein großes Publikum für so einen Film, und es gibt wenig neugieriges Publikum, das in einen Film geht, den es nicht kennt. Außer, es gibt gerade eine irrsinnige Kampagne dazu. Dann wollen die Leute hingehen und nachher den Arbeitskollegen sagen: Ich habe „Titanic“ gesehen, und dann kann man sich über den Film unterhalten. Über „Wer zum Teufel ist Juliette“ kann man sich nicht unterhalten. Bei „Juliette“, den Pegasus verleiht, sind es in der zehnten Woche bundesweit 8643 Zuschauer, wobei fünf Kopien unterwegs sind. Ein Film wie „Das Fest“, den aus unserer Szene jeder gesehen hat, und der für einen Programmkinofilm außerordentlich gut gelaufen ist, hat nach 17 Wochen 380.000 Zuschauer. Das ist aber kein Vergleich zu dem, was die Major-Filme einspielen. „Titanic“ ist jetzt bei über zwanzig Millionen Zuschauern. Der Film kam gleich mit sechs- bis siebenhundert Kopien ins Kino und in der dritten Spielwoche waren schon 1000 Kopien im Einsatz. Man kann sich vorstellen, wieviele Leinwände mit diesem einen Film blockiert sind. Und entsprechend wird der Druck für alle größer. Das geht immer weiter runter und es gibt wenig Programmkinos, die es sich noch leisten können, kleine Filme zu spielen. Ein Beispiel ist das 3001Kino in Hamburg, das in Bezug auf Lateinamerika ein gutes Publikum hat, da laufen solche Filme außerordentlich gut. Es ist aber falsch, zu glauben, mit einen kleinen Film müsse man nur in ein großes Kino, das bekannt ist und gute Zuschauerzahlen macht.

Und was ist mit den Festivals?

Da bekommt man regelmäßig lateinamerikanische Filme zu sehen. Zum Beispiel das Festival in Dresden. Die haben seit vielen Jahren eine Kooperation mit der Filmschule in Havanna und haben ein paar Filme gezeigt von Regisseuren, die gerade die Filmschule hinter sich hatten. Das war zwar alles sehr interessant, aber das war nichts von dem ich sagen würde, das könnte man hier in die Kinos bringen.

Was bedeutet es für einen Film, auf einem Festival wie der Berlinale zu laufen?

Filme, die auf der Berlinale gelaufen sind, ereilt im Normalfall das gleiche Schicksal wie alle Filme, die auf einem internationalen Festival laufen. Sie werden vom nächsten Festival eingeladen und haben am Ende eine Liste von 20 – 30 Festivals, auf denen sie gezeigt wurden. Sie kommen aber in den einzelnen Ländern kaum ins Kino.

Und was bringt eine Auszeichnung, beispielsweise der Goldene Bär für „Central do Brasil“?

Das läßt zumindest den Preis steigen, zu dem so ein Film verkauft wird. Aber „Central do Brasil“ wäre auch ohne Bär ins Kino gekommen, weil alle an ihm dran waren. Für die Herausbringung ist es dagegen völlig gleichgültig. Es gibt einen Film von Ken Loach, „Ladybird, Ladybird“, der hat damals den Silbernen Bären bekommen, der hat dann in Deutschland 12.000 Zuschauer gehabt. Und wer weiß heute noch, wer wann einen Bären bekommen hat. Genauso ist es mit Venedig, Cannes und den anderen großen Festivals.

Ein guter Festivalfilm ist also noch kein Kinofilm, der einen Verleih findet?

Nein, man sieht einen Film aus Lateinamerika auf dem Festival mit vier- bis fünfhundert anderen Lateinamerikainteressierten. Alle sind da und finden den Film großartig. Dann stellt man sich aber die Frage: Wird der Film auch das ‘normale’ Publikum anlocken, und dann ist es oft so, daß man nein sagen muß. Es ist ein großer Unterschied, ob ein Film auf einem Festival beim Publikum gut ankommt, oder danach auch im Kino. Das Normalpublikum kommt mit viel weniger Neugier ins Kino als das Festivalpublikum.

Ist es denn nicht möglich, daß ein Film, der nicht die Massen bringt, einfach mal für eine Woche in einem Kino läuft, ohne ihn gleich groß herausbringen zu müssen?

Es ist möglich. Es gibt auch eine Reihe von Verleihern, die noch kleiner sind als wir. Das sind Verleiher, die nebenher ein Kino betreiben. Die sind genau auf die Idee gekommen, weil sie auf Festivals Filme gesehen haben, die kein Verleiher genommen hat. Es gibt in Deutschland rund 15 Kinos, die spielen diese Filme. Dann besorgt man sich ohne großen Aufwand die Festivalkopie, die untertitelt ist, übernimmt die Plakate meinetwegen vom französischen Verleih und schickt sie herum. Am Ende kommen dann vielleicht zwei- bis dreitausend Zuschauer, aber das ist zumindest eine Chance, daß die Filme überhaupt ins Kino kommen.

Ist es ein genereller Trend, daß das Interesse an Filmen, die nicht aus Europa oder den USA kommen, nachläßt, oder hat es sich verlagert – weg von Lateinamerika nach Afrika, Asien, Osteuropa…?

Nach Afrika sicherlich nicht, Afrika ist immer noch der vergessenste der Kontinente. Was immer gut läuft, sind Filme über Buddhismus, über Tibet.

Also Esoterik?

Ja, so ein wenig in Richtung Esoterik, obwohl diese Filme mitunter gar nicht so esoterisch sind, aber sie holen die Leute auf der Ebene ab. Ich weiß allerdings nicht, ob das eine Verlagerung ist, denn die waren immer stark und die laufen auch weiterhin gut. Eine Interessenverlagerung, die ich durchaus positiv empfinde, ist die hin zu Themen, die in Europa stattfinden. Das birgt auf der anderen Seite die Gefahr, daß man sich für Dinge außerhalb seines Wahrnehmungsbereichs nicht mehr interessiert. Unterhaltsamkeit ist im übrigen ein sehr wichtiges Kriterium für das Publikum. Auch der Film „Das Fest“ mit seiner sehr harten Thematik muß unterhaltsam sein. Die Leute wollen auch in diesem Film lachen. Dennoch gibt es verstärkt den Trend, sich mit den Realitäten und Zuständen hier zu beschäftigen. Das macht vielleicht den Erfolg des neueren britischen Kinos aus, das sich mit sozialen Realitäten wie Arbeitslosigkeit auseinandersetzt. Ein anderes Beispiel ist die Auseinandersetzung mit der jüdischen Kultur. Es gibt eine Reihe von Filmen, die sich mit der jüdischen Kultur in der Vergangenheit oder in der heutigen Zeit auseinandersetzen. Hier spürt man das Bedürfnis der Leute nach etwas exotischem, etwas authentischem, etwas, das woanders liegt. Ich glaube, daß das bei Lateinamerika lange Zeit genauso war, daß Lateinamerika für das Exotische, das Angenehme stand, in das man Dinge hineinprojizieren konnte. Genauso wie in die jüdische Kultur und die Klezmermusik heute das Bedürfnis nach Authentizität reinprojiziert wird, wird auch viel in lateinamerikanische Filme oder Kultur projiziert.

Auf welche Kriterien wird geachtet, wenn ein Film aus Lateinamerika relativ erfolgreich sein soll?

Beim Dokumentarfilm ist es ziemlich klar. Es muß für den Film eine Zielgruppe geben. Und wenn der Film wirklich erfolgreich sein soll, muß er eine gewisse Harmlosigkeit haben. Er muß dem Bedürfnis nach Unterhaltung und Entspannung entgegen kommen. Spielfilme müssen mir in erster Linie gefallen, ich möchte im Kino sitzen und mich unterhalten, gespannt sein oder heulen oder lachen, und danach überlege ich: Ist dieser Filme verleihbar? Ist er vielleicht zu speziell, ist die Thematik zu eingegrenzt, oder wird mit ihm eine Geschichte erzählt, die etwas Universelles hat? Die US-Filmindustrie ist Meister darin, Geschichten so zu erzählen, daß sie sich auf einen allgemein menschlichen Kern reduzieren lassen. Zum Teil bedienen sie sich dabei schamlos irgendwelcher Mythen, um Grundthemen anzusprechen wie Liebe, Tod, Angst, Glück, Familie. Das sind immer noch die wichtigsten Kriterien. Wenn es ein lateinamerikanischer Film schafft, einen universellen Zug zu haben, so wie es „Central do Brasil“ letztlich auf einer sehr sentimentalen Ebene geschafft hat, oder der Film „Die Strategie der Schnecke“, der an dem Wunch nach kollektiver Aktion gerührt hat, dann wird er auch erfolgreich sein. Und wenn sie erfolgreicher sind, geraten sie sofort unter die Fittiche der Majors und gehen in die USA und drehen dort. Stichwort „Central do Brasil“, Walter Salles, sein darauffolgender Film ist natürlich zusammen mit einem Major aus den USA gemacht.

Um welche Filme bemüht sich der Ventura Film?

Wir verleihen in erster Linie Filme, die wir selber mögen. Dabei gibt es bei uns ein klares Übergewicht zu Filmen, die sich auf die eine oder andere Weise mit sozialer Realität befassen. Und da ist es mir persönlich nicht so wichtig, ob es gesellschaftliche Realität in Uruguay ist oder eine, die hier stattfindet. Er sollte aber einen Bezug zur Wirklichkeit haben. In der Filmbranche haben wir sicher ein bestimmtes Image, weil wir eher die ungewöhnlichen Filme herausbringen. Nimm Ken Loach. Der dreht einen Film über Nicaragua, Carla’s Song. Jetzt macht man eine Kampange dazu und überlegt, wen man einlädt. Ken Loach dreht schon an seinem neuen Film und der männliche Hauptdarsteller, Robert Carlyle, war aber auch gerade wieder am Drehen. Also lädt man jemand aus Nicaragua ein, was teuer und aufwendig ist. Oyanka Cabezas kommt nach Deutschland. Und dann ist sie da, man versucht der Presse zu erklären, ihr könnt ein Interview mit der Hauptdarstellerin des neuen Ken Loach-Film machen, und die Reaktion darauf ist irrsinnig gering, das interessiert weiter nicht. Letztlich, und das will ich jetzt noch in dein Micro sagen, das Publikum hat es sehr stark in der Hand, die guten Ausgangsbedingungen für kleinere, für schwierigere, ungewöhliche Filme und auch lateinamerikanische Filme zu schaffen. Weniger „Titanic“, mehr „Wer zum Teufel ist Juliette“.

Schuld haben immer die Anderen

Drei Damen besteigen mit einiger Mühe den Bus Nummer 92. Sie unterhalten sich laut. Plötzlich verkündet die eine mit schriller Stimme: „Die muß man alle töten, bevor sie geboren werden.“. Ihre Freundinnen nicken zustimmend. Dreimal noch wiederholt die Dame diese Forderung. Keiner im Bus zeigt auch nur die leisteste Regung. Eine Szene, beobachtet vor wenigen Wochen in Buenos Aires, Argentinien. „Die“ waren in diesem Fall Peruaner.
Es ist Wahlkampf in Argentinien. Es geht um den Präsidentenstuhl, den Carlos Menem im Oktober räumen muß. Und da wird schon mal zu schmutzigen, auch in Europa bewährten Mitteln gegriffen: die Angst vor dem Fremden, die Suche nach Schuldigen für Arbeitslosigkeit und Kriminalität und das Anbieten einfacher Lösungen. Argentinien überschwemmt eine Welle der Ausländerfeindlichkeit. Eigentlich ein Paradox in einem Land, in dem ein großer Bevölkerungsanteil, wenn nicht der größte, Nachfahren von spanischen und portugiesischen Eroberern und italienischen, türkischen, russischen, polnischen, englischen, deutschen…. Einwanderern ist. „Die Ausländerfeindlichkeit in einem Land von Immigranten ist eine Verrücktheit“, erklärt Héctor Recalde, Doktor der Soziologie und Geschichte. „Man läßt jetzt andere erleiden, was unsere Großeltern erleiden mußten.“
Anfang Januar brach Carlos Menem die Polemik vom Zaun, als er im Kongreß einen Vorschlag zur Änderung des Immigrationsgesetzes vorlegte. Nach seiner Ansicht sind neue Kontrollen an den Grenzen nötig, „um skrupellosen Schmugglern das Handwerk zu legen“. So sieht der Vorschlag bis zu sechs Jahre Gefängnis für all jene vor, die bei illegaler Einwanderung helfen. Die Strafe erhöht sich auf bis zu acht Jahre für „Gewohnheitstäter“. Und sollte ein öffentlicher Funktionär die Hände mit im Spiel haben, so droht sogar lebenslänglich. Diejenigen, die Einwanderern ohne amtliche Aufenthaltsgenehmigungen Arbeit geben, müssen mit Geldbußen von 500 bis 50.000 US-Dollar rechnen.
Aber auch die „Legalen“ müssen sich nach dem neuen Gesetz verschärften Auswahlkriterien für die Einreise nach Argentinien unterziehen. Und wer straffällig geworden ist, wird bei einer Strafe von mehr als zwei Jahren Gefängnis abgeschoben.
Auch wenn sich die Mehrzahl der Vorschläge für die Gesetzesänderung auf die Helfer der illegalisierten Einwanderer und weniger auf diese selbst bezieht, so richten doch Medien und Politiker, Menem eingeschlossen, ihr Hauptaugenmerk auf die „Invasion“ aus den Nachbarstaaten. Denn im Blickpunkt der Kampagne stehen vorallem die bolitas – die Bolivianer, die peruches – die Peruaner und die paraguas (Regenschirme) – die Paraguayer. Solche Umgangssprache erinnert fatal an Polacken und Kanacken. Den Nachbarn wird von höchster Stelle die Schuld für Unsicherheit in den Straßen und Arbeitslosigkeit in die Schuhe geschoben. Nach Angaben des Sekretärs für Einwanderung, Hugo Franco, werden 60 Prozent der Delikte von Ausländern begangen. Er meint außerdem, eine Einwanderungswelle beobachten zu können. Seine Äußerungen waren der Anlaß für den Vorschlag Menems.
Andere Zahlen, zum gleichen Zeitpunkt veröffentlicht, belegen allerdings das Gegenteil. Bei einem Durchschnitt von 5 Prozent Ausländern in ganz Argentinien während der letzten Jahre kann von einer Einwanderungswelle wahrlich keine Rede sein. (Zum Vergleich: 1914 waren 30 Prozent der Argentinier Ausländer). Von diesen 5 Prozent werden außerdem laut dem Gerichtshof von Buenos Aires nur ganze 10 Prozent straffällig.
Der Aufschrei in Argentinien war angesichts der Zahlendrehereien der Regierung groß. Opposition, Kirche und Menschenrechtsorganisationen warfen Menem, seinen Ministern und der Polizei Ausländerfeindlichkeit vor. Der Gesetzesvorschlag ist für sie zudem nicht mit der Verfassung in Einklang zu bringen, die in der Präambel „allen, die argentinischen Boden besiedeln wollen“ ihre Rechte garantiert.

Daily Crime

Doch auf subtile Weise bestätigen Fernsehen und Zeitungen die Version der Regierung. Polizeiaktionen gegen illegale Straßenhändler werden täglich live übertragen. Schießereien und Raubüberfälle sind in Argentinien sowieso Lieblingsthema – jetzt haben sie als Hauptaktoren die Nachbarn aus Peru und Bolivien. Und selbst gut gemeinte Artikel schlagen ins Gegenteil um. So veröffentlichte die Tageszeitung „Página/12“ eine Reportage über die unmöglichen Lebensbedingungen peruanischer Familien, die ein leerstehendes Haus besetzten, weil ihnen nichts anderes übrigblieb. Die Zeitung merkte nicht, daß sie genau die Klischées bediente: Armut, Kinderreichtum, Aneignung „argentinischen“ Eigentums und Heimlichtuerei in dunklen Ecken.

Die Vorurteile zeigen auch die Idiotie der Kampagne

Geurteilt wird nach dem Äußeren. Selbst der Chef der Polizei gab das zu. Es wird verhaftet, wer dunkle Haut, ein breites Gesicht und glattes schwarzes Haar hat und von kleiner untersetzter Statur ist. Verwechslungen mit „ehrwürdigen“ Argentiniern des gleichen Aussehens enthüllen in ihrer ganzen Idiotie die Kampagne.
Peru und Bolivien, für die Argentinien wichtiger Handelspartner ist und die auf eine Aufnahme in den Mercosur, den gemeinsamen Markt von Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay, hoffen, standen dem Vorstoß Menems ersteinmal sprachlos gegenüber. Dann entschlossen sie sich, die genauere Kontrolle der Grenze zu begrüßen. Meterlange Schlangen bildeten sich vor ihren Konsulaten in Buenos Aires. Peruaner und Bolivianer versuchten, in Anbetracht der Situation alle Papiere in Ordnung zu bringen. Und beschwerten sich über den Umgang mit ihnen auf der Straße, wo sie alle wie potentielle Täter schief angesehen werden und jederzeit von der Polizei kontrolliert werden können.
Mittlerweile werden nicht nur in den Medien der Andenländer, sondern auch innerhalb ihrer Regierungen Stimmen laut, die solche diskriminierenden Methoden verurteilten. Aber ihre Empörung ist gedämpft. Zu viel stände auf dem Spiel, würde man sich mit einem der wirtschaftlich entwickeltsten und einflußreichsten Länder im Süden Lateinamerikas anlegen.
Die Welle, die Klischees heraufbeschwört und bis zur Unkenntlichkeit vereinfacht, wird sich nur noch schwer aufhalten lassen. Von oberster Stelle, aus dem Munde des Innenministers Carlos Corach beispielsweise hört man die Forderung nach Arbeit für Argentinier. Und die Bevölkerung klatscht Beifall. Laut einer Umfrage der politischen Zeitschrift „Siglo XXI“, einer der kritischsten im Land, halten acht von zehn Argentiniern die Maßnahmen von Regierung und Polizei für richtig. Und die Popularität der Partei Menems steigt langsam, aber sicher, von der Talsohle, auf die sie gesunken war, wieder in die Höhe. Das Wahlkonzept scheint aufzugehen. Trotz Brasilienkrise –oder vielleicht auch deshalb.
Noch brennen in Argentinien keine Häuser. Noch ziehen Skinheads, die es auch gibt, nicht mit Baseballschlägern gegen Ausländer los. Und Argentinien ist nicht Deutschland. Doch der Samen ist gesät. In einem Land, in dem europäische, „weiße“ Einwanderung nicht abgelehnt worden war, wird den indigenen Nachbarn jetzt die Tür vor der Nase zugeschlagen.

Zeit für neue Rezepte

An diesem Tag können die UruguayerInnen die Kandidaten der einzelnen Parteien für die Präsidentschaftswahlen am 31. Oktober 1999 bestimmen. Darüber hinaus werden die National- und Regionalversammlungen der Parteien gewählt. Das Verfahren ist neu: Nach diesen sogenannten internas, den Vorwahlen, gibt es nur einen Kandidaten jeder Partei für die Präsidentschaftswahl. Im Gegensatz zur Wahl im Oktober gibt es zwar keine Wahlpflicht, aber viele Menschen im Land wissen das gar nicht. Vermutet wird, daß die Beteiligung hoch sein wird, sicher wird sie über 50 Prozent liegen. „Die Uruguayer gehen gerne wählen“, so die einhellige Meinung im Land. Es gibt aber auch über 20.000 ErstwählerInnen, die es versäumt haben, sich registrieren zu lassen. Ein Anzeichen für die abnehmende Wahlleidenschaft der Jugend.
Nach einem heftigen Disput zwischen den Parteien wurde 1996 die Verfassungsreform angenommen (ein Teil des Linksbündnisses Frente Amplio unterstützte ein Volksbegehren gegen das neue Wahlrecht, dieses scheiterte aber unter anderem an der Zerstrittenheit der Linken). Das neue Verfahren eröffnet zwei Möglichkeiten, zum Kandidaten einer Partei für die Nationalwahlen gewählt zu werden. Entweder direkt durch die Vorwahlen – wenn mehr als 50 Prozent der WählerInnen für einen Kandidaten einer Partei stimmen – oder indirekt durch die Nationalversammlung der einzelnen Parteien, wenn keiner der Kandidaten eine absolute Mehrheit erreicht.
Weiterhin werden in den Regionalversammlungen die Kandidaten für die Provinzregierungen gewählt. Diese Wahl wird im Mai 2000 stattfinden. Auch das ist neu. Bisher waren National- und Regionalwahlen immer zeitgleich. An das komplizierte Wahlsystem hatten sich die Uruguayos nach 1984 gewöhnt. Weil mehrere Kandidaten innerhalb einer Partei auch bei der Nationalwahl miteinander konkurrierten, konnte auch ein Kandidat mit deutlich weniger als 20 Prozent zum Präsidenten gewählt werden, da letztlich alle Stimmen der verschiedenen Kandidaten einer Partei addiert wurden. So geschehen 1994, als Julio María Sanguinetti nach seiner ersten Präsidentschaft von 1985 bis 1990 wieder ins Amt gewählt wurde. Der alleinige Kandidat des Linksbündnisses Encuentro Progresista (Progressives Treffen, EP), Tabaré Vázquez, Bürgermeister von Montevideo von 1990 bis 1995, erhielt damals zwar die meisten Stimmen, allerdings fehlten knapp zwei Prozent zur Mehrheit.

Erstmals keine Einigkeit im Encuentro Progresista

Von den vier Parteienbündnissen, die momentan im Parlament vertreten sind, kann nur eines jetzt schon ganz sicher sein, wer ihr Kandidat für die Nationalwahlen sein wird: Der liberale Nuevo Espacio mit seinem Vorsitzenden Rafael Michelini. Mehr oder weniger scheint aber auch bei der Partido Nacional (Nationale Partei), den “Blancos“ das Rennen gelaufen zu sein: Dem ehemaligen Präsidenten Luis Alberto Lacalle werden hier die besten Chancen eingeräumt. Nur bei den „Colorados“ steht es noch unentschieden. Obwohl das Pendel immer mehr zugunsten von Luis Hierro, Senator vom rechten Rand der Partei, ausschlägt, werden auch dem Politveteran Jorge Battle gute Chancen eingeräumt.
Beim Encuentro Progresista ist man sich relativ sicher: Tabaré wird gewinnen. Erstmals gab es aber kein Einverständnis über den Kandidaten der Linken. Dem Präsidenten der Frente Amplio, dem international renommierten Onkologen Dr. Tabaré Vázquez, steht der Senator Danilo Astori, Finanzexperte des Bündnisses, als Konkurrent gegenüber, und in den letzten Wochen vor der Wahl haben sich die Auseinandersetzungen verschärft. Vor allem geht es um die Strategie für die Nationalwahlen. Astori hält den ehemaligen Bürgermeister von Montevideo in einer wahrscheinlichen Stichwahl beim zweiten Wahlgang im November nicht für koalitions- und mehrheitsfähig, im Gegensatz zu sich selbst.
Dieser Gefahr, nicht gegen einen gemeinsamen Kandidaten der traditionellen Parteien bestehen zu können, ist sich auch Vázquez bewußt. Befürchtet wird, daß das Linksbündnis mit Tabaré Vázquez die erste Runde der Wahlen im Oktober deutlich gewinnen wird, die Stichwahl im November allerdings verlieren könnte. Für viele der WählerInnen, die der EP braucht, um zu einer eigenen Mehrheit zu kommen, vertritt der Arzt zu „linke“ Positionen. Bei einigen Mitgliedsparteien im Bündnis, vor allem bei den Kommunisten wird das allerdings genau anders gesehen. Im Team von Vázquez hat genau aus dieser Befürchtung heraus schon die Suche nach möglichen Koalitionspartnern begonnen. An erster Stelle wird dabei der Chef des Nuevo Espacio, Rafael Michelini genannt. Aber auch die internen Probleme im Frente Amplio, hervorgerufen duch die Spaltung des Movimiento de Participación Popular (Bewegung der Volksbeteiligung, MPP), bereiten dem Team von Vázquez große Sorgen. Ganz davon abgesehen, daß für eine großflächige Kampagne kein Geld zur Verfügung stand, auch wenn in der letzten Woche des Wahlkampfes noch ein Kredit von 50.000 US-Dollar aufgenommen wurde. Aber auch die bisherige Stärke des Linksbündnisses, die militancia, das starke politische Engagement vieler Parteimitglieder und SympathisantInnen, ist zurückgegangen.

Die Themen des Wahlkampfes: Korruption und das Desaster in der Agrarpolitik

Eines der großen Themen im Wahlkampf war die Bekämpfung der Korruption. Da fast alle der traditionellen Politiker von Korruptionsvorwürfen betroffen waren, versuchte jeder sich selbst reinzuwaschen und dem anderen an den Karren zu fahren. Innerhalb der Parteien wurde dabei mit harten Bandagen gefochten. So bekämpften sich innerhalb der Colorados vor allem Luis Alberto Lacalle, Präsident der Republik von 1989 bis 1994 und der Senator und ehemalige Innenminister Juan Andrés Ramírez. Während Ramírez nichts vorgeworfen werden konnte, stand besonders unter der Regierungszeit von Lacalle die Korruption in voller Blüte. Erst vor kurzem wurde ein ehemaliger Mitarbeiter des Ex-Präsidenten verurteilt und mußte hinter Gitter.
Das Hauptthema des Wahlkampfes war aber die Agrarpolitik und die Frage der Wiederbelebung der Produktivität in der Landwirtschaft. Die Finanzkrise in Brasilien hat im letzten Jahr zu einem bösen Erwachen geführt. Kleinbauern und Viehzüchter konnten ihre Produkte nicht mehr verkaufen, die wenigen großen Fabriken im Land mußten massiv Leute entlassen. Zwischen Realität und Paranoia, die Wahrheit liegt wohl in der Mitte: Gesichert ist, daß circa die Hälfte der Exporte Uruguays wegen der Abwertung des brasilianischen Reals in den Häfen des Landes liegenblieb.
Viele hatten diese Krise erwartet. Die Linke beschuldigte die traditionellen Regierungsparteien Blancos und Colorados (seit der Unabhängigkeit im Jahre 1820 wechseln sich diese Parteien in der Regierung ab, mit Ausnahme der Zeit der Militärdiktatur von 1972 bis 1985), die notwendigen Modernisierungen verschlafen, und sich viel zu sehr vom übermächtigen Nachbarn Brasilien abhängig gemacht zu haben. Die Traditionellen wiederum geben dem trägen, aufgeblähten Staatsapparat die Schuld und wollen nach dem argentinischen Vorbild möglichst viele staatliche Sektoren privatisieren. Falls die Blancos oder die Colorados die Nationalwahlen im Herbst gewinnen, scheint es auch in Uruguay soweit zu sein: Der Staat soll auf seine Rolle als Ordnungsmacht reduziert werden. Justiz und Polizei sollen staatliche Aufgaben bleiben, der Rest wird neo-liberalisiert. Der Anschluß an den Mercosur soll gefunden werden.
Ein Zeichen für einen möglichen Wandel in der Gesellschaft wurde am 13. April sichtbar: Mehrere zehntausend Kleinbauern aus dem ganzen Land versammelten sich in Montevideo. Nie zuvor in den letzten 50 Jahren gab es eine so machtvolle Demonstration der Bauern, Viehzüchter, Milchproduzenten et cetera aus dem interior, wie in Uruguay alles außerhalb von Montevideo und der Küstenregion genannt wird. Das erstaunliche an diesem Tag war aber neben der enormen Beteiligung auch die Tatsache, daß die Demonstranten bei Mariano Arana, dem von der Frente Amplio gestellten Bürgermeister der Hauptstadt, anklopften und eine Petition überreichen wollten.
Die letzten Wahlen im Jahr 1994 verlor Tabaré Vászquez auch deshalb, weil das Linksbündnis im Interior nahezu kaum Stimmen gewinnen konnte. Die große Mehrheit der Menschen auf dem Land lebt unterhalb der Armutsgrenze, hat nie etwas anderes gelernt als Landwirtschaft und Viehzucht, Gaucho-Traditionen werden kultiviert, die Menschen lieben den campo. Zu dieser Lebensweise gibt es nur eine Alternative: In die Hauptstadt zu ziehen und dort in den Marginalsiedlungen am Stadtrand unterzukommen.
Tradition ist das Eine. Aber viele der LandbewohnerInnen sind politisch mehr als konservativ, man könnte auch sagen, reaktionär. Für die meisten gab es nie eine andere Alternative als die Wahl zwischen Blancos und Colorados. Die meisten werden als „Kinder“ von Blancos oder Colorados geboren und die Frente Amplio sind immer noch die „Kommunisten“, vor denen man die Kinder wegsperren muß. Die in Europa immer noch vorherrschende Vorstellung von Uruguay als die „Schweiz Südamerikas“ bezieht sich wohl lediglich auf Montevideo und auf die mondänen Badeorte an der Küste wie Punta del Este.
Die Mehrheit auf dem Land bilden aber die Kleinbauern und Viehzüchter. Und diese haben die letzten Wahlen entschieden. Obwohl sie ihre Petition nicht an Mariano Arana übergaben, zogen sie doch an der intendencia, dem Bürgermeisteramt in Montevideo, vorbei und grüßten den Bürgermeister. Für viele EinwohnerInnen Montevideos ein Grund zum Staunen, für manche in den traditionellen Parteien eine eindeutige Warnung. Folgerichtig verspricht der Encuentro Progresista und hauptsächlich ihr Kandidat Tabaré Vázquez Unterstützung für die Kleinbauern, so zum Beispiel eine Steuerbefreiung. Die große Frage ist also, ob
diese Bevölkerungsgruppe schon so weit ist, die Angst vor den „Kommunisten“ in der Stadt zu verlieren, weil sie die Hoffnung in die traditionellen Parteien verloren haben.

Lebensmittelpakete als Wahlgeschenke

Aber auch die Konservativen schlafen nicht. Sie haben die Gefahr erkannt. Obwohl sie an ihrer Agrarpolitik allein aus ideologischen Gründen und um ihr Klientel nicht gegen sich aufzubringen, nicht viel ändern werden, ist doch zu befürchten, daß sie bis Oktober versuchen werden, mit spektakulären Aktionen gerade die Leute vom Land weiter an sich zu binden. Das Geld dafür ist sowohl bei den Blancos als auch bei den Colorados vorhanden. Einen Eindruck von den Methoden gab es jetzt schon im Vorwahlkampf. So ließ Luis Hierro, aussichtsreicher Kandidat der Colorados, in einigen Randvierteln von Montevideo Pakete mit Reis, Mehl und Nudeln verteilen, inclusive Werbezetteln für seine Bewerbung. Für die BewohnerInnen, von denen die meisten einen Politiker der traditionellen Parteien nur aus dem Fernsehen kennen, eine überraschende und überaus willkommene Wohltat. Jorge Battle, der interne Konkurrent von Hierro setzt mit seinen Methoden eher auf die Wähler der Mittelschicht. Er bietet den Wahlberechtigten mit Wohnsitz in Buenos Aires für den Wahlsonntag einen kostenlosen Transfer von der argentinischen Hauptstadt nach Montevideo und zurück an.
Die Ausgaben der traditionellen Parteien, hauptsächlich für Werbung im Fernsehen, sind enorm. Geschätzt wird, daß allein die Colorados für ca. zwölf Tage Wahlkampf täglich über 125.000 US-Dollar ausgegeben haben, die Blancos gut die Hälfte der Summe. Der EP kann da mit geschätzten 4.500 US-Dollar täglich nicht einmal annähernd mithalten. Deutlich wird das in der Präsenz im auch in Uruguay allgegenwärtigen Fernsehen. Über 65 Prozent der Sendezeit waren von den Colorados gebucht, 32 Prozent von den Blancos, die restlichen 3 Prozent vom EP.

Frustration in Uruguay — Chance für die Linke?

Eines ist deutlich: Nie seit Wiedereinführung der Demokratie nach 1985 war die Stimmung im Land so schlecht. Das macht auch die Bedeutung der Vorwahlen aus: Die Nationalwahlen im Oktober werden simuliert, es sollen Denkzettel verteilt werden, es soll klar gemacht werden, wie hochgekocht die Frustration im Lande ist. Und oft wenn die Stimmung verzweifelt ist, werden extreme Lösungen gesucht. Und gerade das ist in Uruguay auch eine Chance für das Linksbündnis. Wird es so sein, daß die Menschen, auch die konservative Mehrheit im Land, sich eine Verbesserung durch eine Linksregierung vorstellen kann? Die Kandidaten der traditionellen Parteien haben nicht viel neues zu bieten, die alten Rezepte scheinen ausgedient zu haben.

Akteneinsicht gefordert

Wolfgang Kaleck, sie sind im Vorstand des republikanischen Anwältinnen- und Anwaltsvereins, der wiederum der „Koalition gegen Straflosigkeit – Wahrheit und Gerechtigkeit für die deutschen Verschwundenen in Argentinien“ angehört. Wie sehen sie den Stand der Dinge?

In den letzten zwei Jahren ist bei den Ermittlungen in Spanien eine Menge passiert. Praktisch jeder Gesprächspartner, den ich bei meinem Besuch in Argentinien getroffen habe, hat sich in den letzten Monaten in Spanien aufgehalten und dort eine Zeugenaussage gemacht oder wird in den nächsten Monaten eine machen. Im Zuge der Ermittlungen bei Verschwundenen spanischer Staatsangehörigkeit tauchten mehr und mehr Dokumente auf [Siehe LN 293]. Die „Operation Condor“ wird aufgeklärt, und in Paraguay wurden die sogenannten „Archivos del Terror“ ausfindig gemacht, in denen umfangreiche Dokumente lagern [siehe folgenden Artikel]. Wir werden in Deutschland vielleicht nicht soviel erreichen wie es in Spanien der Fall ist. Wir können aber das Ganze insoweit unterstützen, daß auch in den deutschen Fällen ermittelt wird und die Bundesregierung dazu gebracht wird, diese Strafverfahren im europäischen und internationalen Zusammenhang zu unterstützen.

Sie meinen die Fälle, die letztes Jahr hier in Deutschland eingereicht wurden?

Ja, wir haben im letzten Jahr vier Fälle von Verschwundenen deutscher Staatsangehörigen hier in Deutschland zur Anzeige gebracht. Seit Juni 1998 ermittelt die Staatsanwaltschaft am Landgericht Nürnberg-Fürth [Siehe LN 288]. Ich sehe die Einreichung solcher Strafanzeigen auch als den Beginn einer Dynamik, die nur dann zu Ergebnissen führt, wenn sie nicht nur juristisch angegangen, sondern auch durch eine politische und publizistische Kampagne begleitet wird. Nochmal zu Spanien: Dort hat man es geschafft, innerhalb von zweieinhalb Jahren die Öffentlichkeit und Teile der Justiz für die Sache einzunehmen.

Gibt es eine ungefähre Zahl der während der Militärdiktatur in Argentinien verschwundenen Deutschstämmigen?

Es gibt eine Liste mit über 70 deutschen und deutschstämmigen Verschwundenen. Diese Liste wird aber weiter fortgeschrieben, nicht zuletzt, weil durch die Strafanzeigen in Deutschland weitere Angehörige von Verschwundenen neue Hoffnung auf eine mögliche Aufklärung schöpfen und sich melden. Wir wollen in diesem Jahr weitere zehn bis zwölf Fälle zur Anzeige bringen. Konkret werden wir zunächst Ende April, Anfang Mai vier Fälle von Verschwundenen deutschstämmiger Juden einreichen, so beispielweise den Fall der Tochter von Ellen Marx. Frau Marx mußte 1939 aus Berlin emigrieren und ging nach Argentinien. Später wurde sie von den Nazis ausgebürgert, ließ sich aber in der Bundesrepublik wieder einbürgern. Sie versteht sich als eine in Argentinien lebende Deutsche. Am 21. August 1978 wurde ihre damals 28jährige Tochter Leonora Marx von argentinischen Militärs verschleppt und gilt seitdem als verschwunden.

Gegen wen richten sich die Anzeigen?

Gegen die argentinischen Militärs, die Mitglieder der Junta, die Oberbefehlshaber der einzelnen Zonen und, soweit sie namhaft gemacht werden können, gegen die Verantwortlichen der Gefangenenlager. Bei den Nürnberger Fällen wurden 41 Militärs angezeigt. In den zehn, zwölf Fällen, die ich gerade angesprochen habe, haben wir nur ansatzweise herausgefunden, wo ein Teil der Verschwundenen hingekommen ist und, können jetzt nachforschen, welche Militärs für die Lager verantwortlich waren.

Die Militärjunta ist damals verurteilt worden, aber die einzelnen Lagerkommandanten fielen unter die argentinischen Amnestiegesetze. Woher schöpfen Sie die Hoffnung, daß ein Prozeß, der in Argentinien von Rechts wegen ausgeschlossen ist, in Deutschland nachgeholt werden kann?

Zunächst einmal besteht das juristische Ziel darin, die deutsche Strafjustiz einzuschalten, das heißt alle verfügbaren Informationen über die Einzelfälle zu sammeln und damit das System des Verschwindenlassens aufzuarbeiten. Ohne dieses System zu verstehen, kann niemand begreifen, warum die einzelnen Menschen verschwunden sind. Ein weiteres Ziel ist der Erlaß von internationalen Haftbefehlen gegen die Täter. Pinochet sitzt seit vier Monaten in London in Auslieferungshaft. Lassen Sie einen dieser Lagerkommandanten im uruguayischen Punta del Este Badeurlaub machen und lassen Sie das jemanden mitbekommen. Pinochet ist sicher ein Glücksfall, aber es ist schon viel gewonnen, wenn keiner dieser Typen sich mehr außer Landes traut.

Haben Sie außer den Zeugenaussagen von Eltern weiteres belastendes Material?

Es gibt zum Glück einige Zeugenaussagen von Nachbarn oder Arbeitskollegen, da das Verschwindenlassen zum Teil auch sehr öffentlich abgelaufen ist. Die Verhaftungstrupps haben die Menschen aus ihren Wohnungen geholt oder am Arbeitsplatz verhaftet. Und es gibt viele Ex-Gefangene, die sehr gut organisiert sind und ein gutes Informationsnetz haben. Von diesen ehemaligen Gefangenen erfahren wir dann teilweise etwas über den Verbleib der Verschwundenen, wenn sie nicht gleich in den ersten Tagen nach der Verhaftung umgebracht wurden. Oft war es aber einfach so, daß Eltern gemerkt haben, daß ihr Sohn oder ihre Tochter auf dem Weg von A nach B verschwunden ist, und nichts in Erfahrung bringen konnten.

Sie wollen mit den Strafanzeigen auch eine politische und publizistische Kampagne anstoßen. Glauben Sie, daß die Schröder-Regierung ein Interesse daran hat, bei der damaligen SPD-FDP-Koalition unter Helmut Schmidt genauer nachzuforschen?

Die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen in Argentinien fielen voll und ganz in diese Periode der Schmidt/Genscher-Regierung. Außenminister Genscher prägte im Umgang mit der Militärdiktatur den verklärenden Begriff der ‘Stillen Diplomatie’. Letztlich wurde aber eine Politik betrieben, bei der die wirtschaftlichen und militärischen Interessen den Vorrang vor Menschenrechten besaßen. Wir gehen davon aus, daß die Bundesregierung und die deutsche Diplomatie in den Jahren der Diktatur nicht alles getan haben, um das Leben deutscher Staatsbürger, aber auch das anderer Nationalitäten, aus den Fängen der Militärs zu retten. Wir fordern von einer rot-grünen Bundesregierung, daß die Rolle der Regierung unter Helmut Schmidt und der deutschen Diplomatie während der Militärdiktaturen in Chile, Uruguay und Argentinien aufgearbeitet wird. Der erste Schritt dazu wäre eine Öffnung der Archive des Außenministeriums und der entsprechenden Botschaften. Wenn eine US-Regierung zumindest in Ansätzen einräumt, in den 70er Jahren bei ihrer Lateinamerikapolitik Fehler gemacht zu haben, dann sollte der kleinere Bündnispartner Deutschland dazu auch in der Lage sein. Wir fordern die Bundesregierung auf, daß sie sich dafür einsetzt, endlich alle Informationen, die es zweifelsohne über den Verbleib der Verschwundenen gibt, auf den Tisch kommen zu lassen. Wie jede gute Bürokratie hat auch die argentinische Militärbürokratie mit der Wiedereinführung der Demokratie 1983 nicht alle Akten vernichtet. Außerdem leben die Täter zum Großteil noch und können Auskunft geben. Sie mögen zwar nach argentinischem Recht nicht mehr bestraft werden können, aber niemand hindert die argentinische Regierung daran, diese Menschen vorzuladen und zu befragen.

Pressegespräch im FDCL vom 1. März 1999

Der tödliche Duft der DINA

Pinochet will mich ermorden lassen!” – mit diesem Schrei platzt im November 1992 ein hysterischer Mann in die Polizeiwache von Parque del Plata, einer Kleinstadt in der Nähe von Montevideo. Was sich anschließt, scheint die Materialisierung eines Agententhrillers zu sein, die den beschaulichen Badeort für einen kurzen Moment aus seiner frühsommerlichen Beschaulichkeit reißt. Innerhalb kürzester Zeit werden vor dem perplexen diensthabenden Kommissar ein Offizier des uruguayischen Militärgeheimdienstes sowie ein pensionierter Marinekapitän vorstellig, mit durchaus unterschiedlichen Versionen dessen, was geschehen ist. Letzterer nimmt den Unbekannten, einen Chilenen, in Schutz: Dieser sei vom uruguayischen Militär entführt worden, seinen Bewachern nun entkommen, und habe ihn um Hilfe gebeten. Der Geheimdienstler bedrängt den Polizisten, dieser möge den Kollegen von den Streitkräften seine Zusammenarbeit nicht verweigern und ihm den vermeintlichen Entführten, einen geisteskranken Kriminellen unter seiner Obhut, wieder überlassen. Der Polizeikommissar weiß nicht, wem er Glauben schenken soll, nimmt den völlig aufgelösten Chilenen aber erst einmal mit ins örtliche Krankenhaus, wo ihm der diensthabende Arzt ein Beruhigungsmittel verabreicht und dessen wirre Aussagen im Stationsbuch festhält. Bei der Rückkehr wartet auf der Wache jedoch bereits eine ganze Militäreinheit. Der Polizeichef, in Begleitung einiger Militäroffiziere in Zivil, ist ebenfalls anwesend und befiehlt dem Kommissar, ihm den Chilenen anzuvertrauen. So geschieht es, und bevor der Spuk ein Ende hat, werden auch noch das polizeiliche und das ärztliche Protokoll vernichtet, in denen die Zeugenaussagen dieses seltsamen Falls festgehalten waren.

Autobomben und Giftgas

Was der uruguayische Journalist Samuel Blixen auf den ersten Seiten seines im Dezember 1998 erschienenen Buches Operación Cóndor ausbreitet, ist eine Episode des „Fall Berríos“, ein Beispiel für die institutionalisierte Kooperation der militärischen Geheimdienste des Cono Sur, die eben als Operation Cóndor bekannt geworden ist. Der zu Tode geängstigte Chilene, Eugenio Berríos, dessen Leiche in der Tat einige Jahre später am Ufer des Río de la Plata auf den Sand gespült werden wird, ist dabei kein typisches Opfer der südamerikanischen Diktaturen, sondern eine skurrile Kreatur der DINA, des berüchtigten chilenischen Geheimdienstes, der in den ersten Jahren nach dem Putsch Tausende von Oppositionellen folterte und verschwinden ließ. Blixen schildert den Werdegang Berríos’, der innerhalb der perfiden Maschinerie der DINA als Chemiker und Ingenieur für die Installierung einer wahren Hexenküche zuständig war. In einem geheimen Labor entwickelte er nach direkten Anweisungen von DINA-Chef Manuel Contreras eine Spielart des Giftgases Sarin, das – so mutmaßt Blixen – nicht nur zum raschen Exitus von Verhörten führen, sondern ambitionierteren Zwecken dienen sollte. Berríos arbeitete eng mit Michael Townley zusammen, einem US-Amerikaner im Dienste der DINA, der in Contreras’ Auftrag den einstigen Außenminister Allendes, Orlando Letelier, im Washingtoner Exil in die Luft sprengte.
Darf man Blixen Glauben schenken, war ursprünglich ein weniger geräuschvolles Vorgehen geplant gewesen: Berríos hatte einen Flakon „Chanel No. 5“ mit Sarin gefüllt. Das Gift sollte Letelier von einer Agentin auf die Haut appliziert werden; als Todesursache wäre wahrscheinlich ein Herzinfarkt diagnostiziert worden.

Ein Mitwisser zuviel

Warum Letelier schließlich nicht mit vermeintlichem Pariser Parfum sondern per Autobombe beseitigt wurde, bleibt unklar. Sicher ist jedoch, daß die Detonation unweit des Weißen Hauses die US-amerikanische Justiz und die Sicherheitsbehörden auf den Plan rief, was letztendlich zur Festnahme Townleys und – viel später und nur durch erheblichen diplomatischen Druck – zur Verurteilung von Manuel Contreras in Chile führte. Berríos, dem das chilenische Militär als zivilem Kollaborateur wenig Vertrauen entgegenbrachte, stellte nun als Mitwisser eine Gefahrenquelle im Contreras-Prozeß dar und wurde kurzerhand außer Landes gebracht. Hier reaktivierte man alte institutionelle Bande mit den Streitkräften Uruguays. Und als Augusto Pinochet im Februar 1993, wenige Monate nach den Vorfällen von Parque del Plata, in Montevideo weilte, war er möglicherweise nicht nur wieder einmal als Waffenverkäufer unterwegs: Als Verbindungsoffizier wurde ihm für seinen Aufenthalt ein gewisser Tomás Cassella zugeteilt. Eben jener war für die Verwahrung von Eugenio Berríos zuständig. Nach dem Fund des Leichnams von Berríos im Jahr 1995 datierten die Gerichtsmediziner dessen Tod auf den Zeitraum kurz nach der Visite des chilenischen Ex-Diktators.

„Interpol gegen die Subversion“

Der „Fall Berríos“ ist freilich nicht viel mehr als das makabre Nachspiel einer länderübergreifenden Verfolgungsmaschinerie, die sich schließlich einer Selbstreinigung unterzog, indem sie einen zum Risikofaktor gewordenen Mitarbeiter eliminierte.
Blixen, der damit auch dokumentieren will, daß die unsichtbaren Kanäle der “Operation Cóndor” weiterhin existieren, hat versucht, die Ursprünge dieses Gemeinschaftsprojektes offenzulegen. Eine zentrale Rolle bei der Entstehung der unheilvollen Vernetzung spielte DINA-Chef Contreras. Als er sich 1975 in einem Schreiben an seinen Kollegen Pastor Coronel vom paraguayischen Geheimdienst für dessen freundliche Unterstützung bedankte – es ging um paraguayische Pässe, die Michael Townley und einem chilenischen DINA-Mitarbeiter für deren verdeckte Operationen in den USA vom Stroessner-Regime zur Verfügung gestellt worden waren –, schlug er gleichzeitig eine stabile Kooperation der militärischen Geheimdienste des Cono Sur vor. Nachdem sich zu den Diktaturen in Chile, Paraguay, Uruguay und Brasilien auch Argentinien gesellt hatte, konnte dieses Vorhaben Realität werden. „Die Subversion hat interkontinentale, kontinentale und regionale Führungsebenen entwickelt”, zitiert Blixen die Analyse eines anderen DINA-Offiziers, „und diese multiplizieren ihre Aktivitäten in Form von Solidaritätskomitees, Kongressen, Konferenzen oder Festivals. Wir dagegen werden innerhalb und außerhalb unserer Grenzen attackiert. Dagegen kämpfen wir bislang alleine oder bestenfalls mit punktuellen bilateralen Übereinkünften.“ Um dies zu ändern, fand im November 1975 ein streng geheimes Treffen in Santiago de Chile statt, wo – laut Blixen – Delegationen aller beteiligten Staaten „gemeinsame Arbeitsgruppen“ und eine Datenbank etablierten, die einen raschen Aufschluß über Aufenthaltsort und Aktivitäten von „subversiven Gruppen“ geben sollte, welche jenseits der jeweiligen nationalen Grenzen operierten. Wie sich dieses System in der Realität bewährte, beschreibt Blixen anhand diverser Fälle: Eines der ersten Opfer dieser „Interpol gegen die Subversion“, wie Contreras sein neuestes Kind nannte, war Jorge Fuentes, ein Mitglied der chilenischen Revolutionären Linken, MIR. Fuentes, der sich in Paraguay versteckt hielt, wurde dort nach offiziellen Angaben im Januar 1976 festgenommen und „abgeschoben“. Tatsächlich wurde er, so Blixen, in Asunción an Agenten der DINA übergeben. Fuentes ist seitdem verschwunden. Nach diesem Muster wurden in den Folgejahren offensichtlich eine beträchtliche Zahl verfolgter Oppositioneller in den jeweiligen Nachbarländern aufgespürt, ausgeliefert und eliminiert.

Ein Archiv des Terrors

Blixen beruft sich bei seinen Recherchen auf einen Dokumentenfund, der im Dezember 1992 die Öffentlichkeit Paraguays erschütterte. Dank den zähen Bemühungen eines Opfers der Stroessner-Diktatur, der konsequenten Haltung eines Richters und einer Indiskretion seitens der Polizei konnte ein „Archiv des Terrors“ sichergestellt werden, eine tonnenschwere Dokumentensammlung des militärischen Geheimdienstes, die Aufschluß über eine Vielzahl von Folteropfern, Verschwundenen und Ermordeten gab.
In diesem Archiv fanden sich aber auch etliche Hinweise auf die transnationalen Aktivitäten der Geheimdienste. Die eigentliche „Datenbank“ des Terrors vermutet Blixen allerdings in Chile, wo sie – sollte sie nicht zwischenzeitlich von umsichtigen Kräften vernichtet worden sein – weiterhin gut vor der Öffentlichkeit geschützt ist.
Samuel Blixens Buch hinterläßt trotz all seiner Bemühungen, ein Licht auf die dunklen Machenschaften der „Operation Cóndor“ zu werfen, einen faden Nachgeschmack. Bei dem Versuch, in zwölf Kapiteln immer neue Aspekte der transnationalen Antisubversion im spannungsgeladenen Stil einer Enthüllungsreportage zu präsentieren, werden Leserin und Leser mit einer Unzahl von Namen, Pseudonymen, vermuteten Vernetzungen, geheimdienstlichen Winkelzügen und Konspirationen überhäuft. Ein „antisubversives“ Pandämonium, das letztlich Verwirrung stiftet und mit wenig harten Fakten untermauert wird. Daß die Sachlage bisweilen undurchdringlich bleibt, liegt dabei wohl in der Natur der Dinge. Geheimdienste von Diktaturen arbeiten nun einmal gerne unter Ausschluß der Öffentlichkeit und sind kaum daran interessiert, Rechenschaft über ihre Aktivitäten abzulegen.

Verschwörungen allerorten

Unter diesen Umständen kann Blixens Reportage zumindest Eindrücke von der Perfidie eines Contreras und seiner internationalen Kumpanei vermitteln. Er schießt aber über sein Ziel hinaus, wenn er abschließend ein verschwörungstheoretisches Feuerwerk abbrennt. Den Mord an Letelier reiht er ein in ein Terrorszenario, in dem irgendwie alles miteinander zusammenhängt: Die Waffen- und Drogengeschäfte des Oliver North, Attentate von Exilkubanern auf Fidel Castro, die Ermordung von Che Guevara und – nicht zuletzt – von John F. Kennedy. Viel zu viele Zutaten mischt Blixen zusammen, und in Ermangelung stichhaltiger Beweise (für Zusammenhänge, die ja vielleicht gar nicht von der Hand zu weisen sind) müssen immer wieder neue Namen herhalten, die die mutmaßliche Verbindung herstellen sollen. Auch Henry Kissinger sollte übrigens – irgendwie gehört das auch in diesen Kontext – ermordet werden. Es verwundert beinahe, daß es nicht Berríos’ Giftgasfläschchen gewesen ist, das später bei dem Sarin-Anschlag auf die Tokioter U-Bahn Verwendung fand.
Problematisch ist insbesondere Blixens Methode eines scheinbar investigativen Journalismus, die ihm zwar bisweilen äußerst spannungsreiche Passagen erlaubt, deren Realitätsgehalt aber zugleich fragwürdig erscheint. In einem Anhang listet der Autor seine Quellen auf: Neben einigen Originaltexten, die dem „Archiv des Terrors“ entstammen oder Auszüge aus gerichtlichen Ermittlungen darstellen, stützt Blixen sich hauptsächlich auf bereits vorliegendes journalistisches Material, auf Artikel, Reportagen oder Bücher, in welche die zitierten KollegInnen möglicherweise bereits eine gute Portion Spekulation haben einfließen lassen. Das ist zuviel Information aus zweiter oder dritter Hand, um wirklich glaubwürdig zu sein. Im Vorwort heißt es, Blixens Buch erscheine zu einem Zeitpunkt (Dezember 1998), an dem bereits Klarheit über das Schicksal des in London inhaftierten Augusto Pinochet herrschen werde. Das ist immer noch nicht der Fall. Sollte Pinochet allerdings nun an Spanien ausgeliefert werden, könnten durchaus weitere Mosaiksteinchen das Bild der unheiligen Allianz im Zeichen des „Cóndor“ ergänzen.

Blixen, Samuel: Operación Cóndor.
Del archivo del Terror y el asesinato de Letelier al caso Berríos,
Vorwort von Roberto Bergalli,
VIRUS editorial, Barcelona 1998.

Zwischen Diktatur und Demokratie

Unter denen, die sich im Be-
reich der Sozialwissenschaften mit Lateinamerika beschäftigen, gehört Dieter Boris zu den eher wenigen, die sich den Blick für das Ganze bewahrt haben, weil sie mit Recht meinen, nur so könne die Dimension und Bedeutung einzelner Erscheinungen sinnvoll eingeschätzt werden. Dieser Blick des Generalisten bewahrt ihn auch vor der Gefahr, den wechselnden wissenschaftlichen Modetrends hinterherzulaufen. Das geschieht zunächst in der sehr lesenswerten Einleitung. Hier wird deutlich gemacht, daß die sozialen Bewegungen in Lateinamerika nicht allesamt neu sind, denn Aufstände der indigenen Bevölkerung, Rebellion der Bauern und Bäuerinnen, später die ArbeiterInnenbewegung und regionale StudentInnenbewegungen hat es schon lange vor der „Hochkonjunktur“ der „neuen sozialen Bewegungen“ in den achtziger Jahren gegeben. Auch stellen nicht alle Bewegungen eine lateinamerikanische Besonderheit dar, denn die Frauenbewegung und die Umweltbewegung beispielsweise nahmen in Lateinamerika etwa zur gleichen Zeit an Bedeutung und Stärke zu wie in Europa oder Nordamerika. Die während der siebziger und achtziger Jahre in den meisten Ländern Lateinamerikas etablierten Militärdiktaturen haben allerdings mit der Unterdrückung der normalen Möglichkeiten politischer Artikulation durch Parteien einerseits und der Schaffung von dramatischen Notsituationen durch politische Verfolgung und soziale Gefühllosigkeit andererseits den Boden für eine Reihe von Bewegungen bereitet, die unter „normalen“ Umständen wahrscheinlich nie entstanden wären. Dazu gehören vor allem die Menschenrechtsbewegungen, die sich um die verschwundenen politischen Gefangenen gekümmert haben und noch kümmern, die solidarischen Organisationen einer Art Volksökonomie, die Stadtteilbewegungen und andere mehr.
Lesenswert ist die Einleitung auch besonders, weil Dieter Boris hier die seither unternommenen Versuche zur Bildung von Theorien über soziale Bewegungen einer kritischen Revision unterzieht und sich gegen die Ansicht zur Wehr setzt, die „veraltete“ Klassenanalyse sei in Zukunft durch die Analyse sozialer Bewegungen zu ersetzen (statt zu ergänzen). Natürlich könnten, so argumentiert er, die sozialen Bewegungen nicht auf ein Klassenphänomen reduziert werden. Das schließe aber nicht aus, daß sie in der Klassengesellschaft „verortet“ seien. Fast nebenbei vermittelt Dieter Boris an dieser Stelle auch, daß der modische und sehr unscharfe Begriff der „Zivilgesellschaft“ in Lateinamerika eher vernebelnde als aufklärerisch-erkenntniserweiternde Funktionen gehabt hat.

Analyse im Vergleich
und am Beispiel
Nach einem kurzen Ausblick auf neuere Tendenzen der Entwicklung der Sozialstruktur in den Ländern Lateinamerikas unternimmt Dieter Boris den Versuch, die Konsequenzen der Demokratisierungsprozesse für die Weiterentwicklung der sozialen Bewegungen zu kennzeichnen. Nach seinem Urteil sind diese Bewegungen in Ländern wie Chile und Uruguay mit dem Wiederaufkommen der politischen Parteien sehr geschwächt worden, während sie ihren Einfluß etwa in Bolivien und Paraguay halten und in Brasilien oder Ecuador sogar ausbauen konnten. Diese Typenbildung ist nicht ganz unproblematisch; richtig ist aber sicherlich, daß die Veränderungen in den Ländern unterschiedlich waren und sind. Dabei erstaunt, daß Dieter Boris eine ganze Reihe von Faktoren anführt, die diese Unterschiede bewirkt haben könnten, aber nicht auf das Ausmaß eingeht, in dem eine neoliberale Gesellschaftspolitik es geschafft hat, mit „Modernisierungsreformen“ entsolidarisierende Wirkungen zu entfalten. Das war eben in Chile und Uruguay weitaus mehr der Fall als etwa in Brasilien.
Der größte Teil des Buches ist der Analyse der einzelnen Bewegungen gewidmet. Dabei geht Dieter Boris jeweils von einer Schilderung der Strukturprobleme aus, die die Entstehung oder das Wiederaufblühen einer sozialen Bewegung bewirkt haben, also: der Mangel an Land für die Bewegung der Bauern und Bäuerinnen, die kulturelle Benachteiligung für die indigenen Bewegungen, die Wirkungen der Öffnung zum Weltmarkt für die ArbeiterInnenbewegung, Mord, Folter und Unterdrückung für die Menschenrechtsbewegungen, Machismus und männliche Vorherrschaft für die Frauenbewegung, die steigende Belastung der Umwelt für die Umweltbewegung usw. Daran knüpft jeweils eine sehr nützliche differenzierende Übersicht über die Entwicklung der jeweiligen Bewegungen in ganz Lateinamerika an, die schließlich in eine detailreiche Darstellung am Beispiel eines einzelnen Landes mündet.
Daß Brasilien im Unterschied zu allen anderen Ländern gleich dreimal erscheint, hat nicht nur mit der Größe dieses Landes zu tun, welches – nach geographischer Größe und Bevölkerung – fast die Hälfte Lateinamerikas ausmacht, sondern auch mit der größeren Bedeutung, die die sozialen Bewegungen hier eingenommen haben. Die neue Gewerkschaftsbewegung mit ihrer engen Beziehung zur Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores), die Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) und die kirchlichen Basisbewegungen innerhalb des größten katholischen Landes der Welt konnten in solch einem Buch einfach nicht fehlen.

Soziale Bewegungen
und Neoliberalismus?
Daß Dieter Boris im allgemeinen die eher erfolgreicheren nationalen Bewegungen als Beispiele für seine Einzeldarstellungen ausgesucht hat, wird man kaum kritisieren können, zumal ja die Einschätzung der Situation in ganz Lateinamerika diesen immer vorausgeht. Das einzige Kapitel, bei dem eine andere Auswahl sicher besser gewesen wäre, ist das Kapitel über die Guerilla, in dem Nicaragua im Mittelpunkt steht. Selbst wenn man zugesteht, daß es sich bei den Guerillas um soziale Bewegungen handeln kann – und in Nicaragua wurden sie 1979 zum Kristallisationspunkt sehr breiter Bewegungen –, läßt sich fragen, ob der Sieg der Sandinisten damals nicht eine untypische Ausnahme darstellt, die ganz besonderen Bedingungen zu verdanken war und ob nicht etwa Kolumbien besser als Beispiel gedient hätte, um die Vielfalt der Probleme zu beleuchten. Wichtig wäre in diesem Kapitel auch gewesen, etwas stärker zu differenzieren. Jedenfalls kann die bündnisunfähige und auch gegenüber der übrigen Linken zum Terror entschlossene peruanische Guerilla Leuchtender Pfad (Sendero Luminoso) ebenso wenig mit den anderen (maoistischen, trotzkistischen, castristischen) Guerillas in einem Atemzug genannt werden wie die zapatistische Guerilla in Chiapas (Mexiko), die sich vom Kampf um die politische Macht offiziell verabschiedet hat und mit den modernsten Methoden weltweiter Kommunikation arbeitet.
Die Menschenrechtsbewegungen in Argentinien um die „Mütter der Plaza de Mayo“, die Avantgarde der lateinamerikanischen Frauenbewegung in Chile, die Bewegungen von ElendsviertelbewohnerInnen in Lima, die erfolgreich agierende indigene Bewegung in Ecuador und die ökologische Bewegung in Mexiko-Stadt, der größten Metropole der Welt mit entsprechend großen Umweltproblemen bieten dagegen gute Gelegenheit, die allgemeinen Probleme der jeweiligen Bewegungen vertiefend zu analysieren.
Wer sich in der deutschsprachigen Welt mit zentralen gesellschaftlichen und politischen Problemen Lateinamerikas beschäftigen will, wird auf die Lektüre dieses wichtigen Buches – auch wegen seines sehr ausführlichen Literaturverzeichnisses – kaum verzichten können.

Dieter Boris: Soziale Bewegungen in Lateinamerika. VSA-Verlag, Hamburg 1998, 254 Seiten.

Ein Doppelleben

Ernesto Gómez Gómez ist eigentlich Guillermo Morales. Er war es zumindest und will es auch wieder sein. Er sitzt am Strand bei San Francisco, im Hintergrund die Golden-Gate-Bridge, und erzählt über seine innere Zerrissenheit. Die Kamera um-kreist ihn, wechselt die Blickrichtung, zeigt die Widersprüche, mit denen der junge Mann leben muß. So wie der gesamte Dokumentarfilm, der sehr unstet und teilweise abgehackt wirkt, die Szenen rasch wechselt und bei dem sich erst im Laufe der Zeit ein roter Faden erkennen läßt: Die Biographie des heute 18jährigen Ernesto alias Guillermo. Geboren wird er als Ernesto Gómez in Puerto Rico. Seine Eltern kämpf ten in der wiederauflebenden Un-abhängigkeitsbewegung der 70er Jahre auf der seit 1898 von den USA besetzten Insel. Als sie sich entschließen, für ihre Sache in den Untergrund zu gehen, trennen sie sich von ihrem damals eineinhalb-jährigen Sohn und geben ihn zu Pflegeeltern nach Chihuahua in Nordmexiko, weit weg von der Heimat, um ihn vor möglichen Konsequenzen zu schützen.
Nach wenigen Monaten und einer Serie von Bombenanschlägen werden beide Eltern verhaftet und zur Aburteilung in die USA überführt. Dem Vater Eduardos gelingt die Flucht, seither lebt er im Exil in Kuba. Seine Mutter dagegen wird zu 55 Jahren Haft verurteilt und sitzt seither in San Francisco im Gefängnis. Ernesto wächst derweil als kleiner Mexikaner heran. Mit zehn Jahren erfährt er von seinen Zieheltern, daß sie nicht seine leiblichen Eltern sind.

Das Wiedersehen

Kurz darauf kann der Junge zum ersten Mal seine Mutter wiedersehen, und mit Fünfzehn entschließt er sich, nach Kalifornien zu ziehen. Dort wird er zu Guillermo, er geht zur Schule und bekommt schließlich einen auf den Namen Guillermo Morales ausgestellten US-Paß. Seither kämpft er für die Freiheit seiner Mutter und der anderen Gefangenen des puertorikanischen Widerstands der 70er Jahre.
Dieser Teil, das politische Engagement der mittlerweile nach Chicago übergesiedelten Hauptfigur, erscheint etwas nachge-schoben, so als ob der Film erst einmal gelegen hätte und dann endlich nachaktualisiert und vollendet wurde. Denn die anderen Sequenzen des Dokumentarfilms stammen aus dem Jahre 1995, die Szenen vor der Golden Gate Bridge, die Interviews mit der Mutter im Gefängnis, die Einstellungen mit der mütterlichen Ana María, bei der Guillermo in San Francisco Unterschlupf gefunden hat und die Interviews mit seinen Pflegeeltern in Chihuahua. Die Vergangenheit des Jungen wird erzählt und mit Fotos illustriert. Regisseur Gary Weimberg hat ein Motiv aufgegriffen, das in mehreren Ländern Lateinamerikas bis heute Brisanz hat. Das Schicksal von Ernesto alias Guillermo erinnert an das der vielen Kinder politischer Gefangener in Argentinien, Uruguay oder El Salvador, die während der Militärdiktaturen veschleppt und zwangsadoptiert wurden. Die politisch motivierte Kampagne zur Rückführung der salvadorianischen Kinder hat keine Rücksicht auf die psychosozialen Aspekte genommen, die Weimberg so eindrücklich schildert.

Nebenthema mit Absicht

Der Film greift ganz nebenbei, aber zweifelsohne mit Absicht, ein Thema auf, das weitgehend in Vergessenheit geraten ist: Den bewaffneten Kampf für die Unabhängigkeit von Puerto Rico. Und vor allem das der maßlosen Rachegelüste der USA gegenüber den VertreterInnen der Unabhängigkeitsbewegung, die sich anschickten, mit Bombenanschlägen gegen die Kolonialherrschaft der Vereinigten Staaten auf der Karibikinsel vorzugehen. Es wäre zu wünschen, daß der Dokumentarfilm über das Doppelleben von Ernesto Gómez dazu beiträgt, das überfällige Problem etwas seiner Vergessenheit zu entreißen.

“The double life of Ernesto Gómez Gómez“, USA/Mexiko 1998; Regie: Gary Weimberg; Farbe, ca. 60 Minuten. Dieser Film ist im Forum auf der Berlinale zu sehen.

Por esos ojos – Wegen dieser Augen

Mariana Zaffaroni ist ein geraubtes und adoptiertes Kind und heißt auch Daniela Furci. Sie teilt das Los vieler junger Menschen, die während der Militärdiktaturen der 70er Jahre in Argentinien, Uruguay und Chile ihren Eltern weggenommen wurden. “Por esos ojos” (Wegen dieser Augen) gibt Einblicke in ein Problem, das in den letzten Monaten zur Verhaftung hochrangiger Machthaber der argentinischen Militärdiktatur führte. Jorge und Maria-Emilia Zaffaroni de Islas, ein junges uruguayisches Studentenpaar, das sich in einer anarchistischen Gewerkschaftsbewegung engagiert hatte, suchte Anfang der 70er Jahre politisch verfolgt sein Exil in Buenos Aires. Als im März 1976 auch in Argentinien Militärs an die Macht kamen, wurden während der „Operación Condor“, bei der die Geheimdienste mehrerer Militärdiktaturen zusammenarbeiteten, auch Maria-Emilia, Jorge und ihr Kind Mariana in Buenos Aires festgenommen. Die Eltern blieben bis heute „verschwunden“, aber was geschah mit Mariana?
Im Fall von Mariana hieß ihr neuer Vater Miguel Angel Furci, ein Mitglied des argentinischen Geheimdienstes SIDE, der ihr eine neue Identität und einen neuen Namen gab: Daniela Romina Furci. Die Großmutter Esther Gatti de Islas leitete sofort nach Ende der argentinischen Militärdiktatur ein Gerichtsverfahren ein, doch einen Tag vor dessen Beginn floh Miguel Angel Furci aus Buenos Aires. Mariana verschwand ein zweites Mal.
Während der folgenden Jahre entstand die Kampagne „Por esos ojos“ und das Foto der kleinen Mariana wurde zum Symbol einer ganzen Bewegung. Jedes Jahr an ihrem Geburtstag wurden Demonstrationen abgehalten, ihr Foto wurde wie ein Banner vorangetragen, es klebte als Poster an jeder Straßenecke.
Der gleichnamige Dokumentarfilm „Por esos ojos“ wurde international viel beachtet, lief auf Festivals in Argentinien, Frankreich und den USA, und gewann Preise wie 1997 den „Premio Coral“ in Kuba.

Ein Film für Out- und Insider

Vor allem denjenigen, die sich erst neu mit dem Thema befassen, bietet der Film einen umfassenden Einstieg in die Geschehnisse. Gonzalo Arijón, ein seit 1979 im französischen Exil lebender Uruguayer, macht uns mit ruhigen, dem Thema angemessenen Bildern mit Esther Gatti bekannt, einer würdigen alten Dame, der man Bewunderung zollen muß. Die persönlichen Details, die der Film präsentiert, die tragische und teilweise absurde Realität der Familie Marianas, von der er ein authentisches Zeugnis abgibt, zeigen die Verbrechen der Militärregimes in einem neuen Licht. Dadurch wird „Por esos ojos“ auch für diejenigen sehenswert, die sich in der Geschichte der Militärdiktaturen auskennen.
1992, als Mariana 17 Jahre alt ist (oder 16, wie die gefälschten Papiere aussagen, durch die sie Daniela Furci wurde), wird Miguel Angel Furci gefaßt und erneut eine Gerichtsverhandlung eingeleitet. Es werden Blut- und Gentests durchgeführt, die die biologische Identität Danielas/Marianas feststellen: Als Resultat werden Geburtsurkunde und Registrierung offiziell geändert, von einem Tag auf den anderen wird aus Daniela Mariana. Der zuständige Richter Roberto Marquevich sagt: „Dieser offizielle Akt erscheint als nebensächliche Formalität, Tatsache aber ist, daß ihre Identität vergewaltigt, zerstört wurde und das ist schlimmer als getötet zu werden.“

Daniela gegen Mariana

Was für einen Wert hat die Wahrheit für Daniela oder Mariana, wenn sie in einer anderen Wahrheit lebt, auch wenn diese für ihre Großmutter Lüge ist? Daniela will bis heute nichts von der Familie Zaffaroni wissen, sie blieb bei einem Familienmitglied der Furcis und studiert heute Jura, denn Sie möchte später bei der SIDE arbeiten.

„Por esos ojos“, Frankreich/Uruguay 1997, 60 Minuten, Regie: Gonzalo Arijón, Virginia Martínez, Original mit englischen Untertiteln. Dieser Film ist im Forum auf der Berlinale zu sehen

Revolutionäre Zeiten

Um die Bedeutung dieses Treffens einzuschätzen, ist zunächst wichtig, sich die damalige Zeit mit ihren Aufbrüchen und ihrem Fortschrittsglauben in Erinnerung zu rufen. Die 60er Jahre standen weltpolitisch im Zeichen des kalten Krieges, aber auch im Zeichen der Entkolonialisierung und der Befreiungskämpfe (z.B. Algerien, Vietnam). Die Länder des Südens suchten ihre Chancen innerhalb der globalen Machtkonstellationen zwischen Ost und West, sie wurden von den Mächtigen aber auch gnadenlos in diese Machtverhältnisse hineingepreßt: Für (wirtschaftliche) Freiheit und gegen Sozialismus oder für einen sozialistischen Weg und damit automatisch gegen westliche Interessen.
Es herrschte ein Glaube an einen machbaren, schnellen Fortschritt, eine schnelle Überwindung von Armut und Hunger. Dies zeigt sich zum Beispiel in den damals vorherrschenden Entwicklungstheorien, die auf den ersten Blick genau gegensätzlich sind, aber doch eine gemeinsame Basis haben. Die Theorie der „nachholenden Entwicklung“ (spanisch auch „desarrollismo“ genannt) ging vom Modell der „entwickelten Industrienationen“ aus und verfolgte das Ziel, durch massive Entwicklungshilfe, durch Förderung von Industrialisierung und gesellschaftlicher Mittelschichten „nicht entwickelte Länder“ dem westlichen Modell anzunähern. Die Dependenztheorie hingegen sprach davon, daß die sogenannte Unterentwicklung die Kehrseite der Entwicklung der westlichen Industrienationen sei und deshalb zunächst eine Befreiung aus der Abhängigkeit notwendig sei, um einen eigenen, unabhängigen Entwicklungsweg gehen zu können. Gemeinsam ist beiden Theorien, daß sie an die kurzfristige Machbarkeit glaubten.

Kirchliche Aufbrüche

Auch in den Kirchen herrschte – global betrachtet – Aufbruchsstimmung: Im II. Vatikanischen Konzil (1962-1965) versuchte die katholische Kirche, Fenster und Türen zur Welt hin zu öffnen und produzierte – für die damalige Kirche – erstaunliche Aussagen über die Rolle der Laien, über soziales Engagement von Christen und das Aufbrechen verkrusteter kirchlicher Strukturen. Ähnliche Impulse gingen auf evangelischer Seite von der IV. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Uppsala (1968) aus.
Die Konferenz in Medellín 1968 hatte zunächst zum Ziel, die Ergebnisse und Aufbrüche des II. Vatikanischen Konzils für den lateinamerikanischen Kontext umzusetzen. Der wohl bekannteste Befreiungstheologe Gustavo Gutiérrez bemerkte dazu: „Das II. Vatikanische Konzil spricht von der Unterentwicklung der Völker unter dem Blickwinkel der entwickelten Länder, um diese an ihre Möglichkeiten und Verpflichtungen jenen gegenüber zu erinnern. Medellín dagegen versucht, das Problem von den armen Ländern aus anzugehen, und definiert sie deshalb als Völker, die einer neuen Spielart von Kolonialismus unterworfen sind. Das II. Vatikanum spricht von einer Kirche in der Welt und versucht bei der Beschreibung dieser Kirche, die bestehenden Konflikte zu mildern, Medellín indes bestätigt, daß die Welt, in der die lateinamerikanische Kirche präsent sein muß, sich in vollem revolutionären Prozeß befindet.“ (Gustavo Gutiérrez: Theologie der Befreiung. Mainz, 10. Aufl. 1992, 191f.)
Dieser „revolutionäre Prozeß“ ist in vielen Texten und Berichten aus Lateinamerika unübersehbar. So schreibt ein kirchlicher Beobachter 1968 aus Uruguay: „Daß sich die Situation in mehreren lateinamerikanischen Ländern allmählich einem gefährlichen revolutionären Zustand nähert, dafür häufen sich die Symptome. Das schroffe Nebeneinander von permanentem Hunger, Arbeitslosigkeit, hoher Sterblichkeit auf Seiten breiter Volksschichten, die unter unmenschlichen Bedingungen leben müssen, und von unausgesuchtem Komfort, ja kaum vorstellbarem Pomp in der Lebensführung herrschender Kreise hat soviel Sprengstoff angehäuft, daß es, wenn einmal der Funke zündet, zur Explosion des ganzen Kontinents kommen könnte.“ (Galo Martínez Arona: Lateinamerikanisches Dilemma. Die Christen und die Revolution, in: Orientierung 32 (1968), 93).
Derselbe Autor sieht, daß eine Analyse der wirtschaftlichen Lage und ihre Erfahrungen der Ungerechtigkeit viele zu der Überzeugung führen, „es gebe nur mehr die Möglichkeit, das eiserne Gerüst des herrschenden Systems zu zerbrechen: den bewaffneten Aufstand.“ Er sieht die Christen und die Kirche in diesem Zusammenhang vor eine unausweichliche Entscheidung gestellt, entweder die bestehende Ungerechtigkeit weiter zu stützen oder aber sich für revolutionäre Veränderungen einzusetzen. In diesem Zusammenhang verweist er unter anderem auf den katholischen Priester Camilo Torres, der sich nach dem Scheitern seiner politischen Bemühungen im Jahr 1967 dem bewaffneten Kampf der Guerilla in Kolumbien angeschlossen hatte und getötet worden war, was Beweis seiner Nächstenliebe und seiner Sehnsucht nach Gerechtigkeit sei.

Zeitzeichen

Die Beschlüsse von Medellín stellen sich zwar nicht explizit dieser „unausweichlichen Entscheidung“, beschreiten aber einen neuen, kirchlich gesehen sehr wohl „revolutionären“ Weg: Sie gehen nicht – wie in offiziellen kirchlichen Dokumenten bis dahin üblich – von festen Glaubensaussagen und kirchlichen Regelungen aus, um diese den Menschen zu verkünden, sondern analysieren zunächst die gesellschaftliche Wirklichkeit, die Nöte und Hoffnungen der Menschen und formulieren den eigenen Anspruch: „Der lateinamerikanische Episkopat darf angesichts der ungeheuren sozialen Ungerechtigkeit in Lateinamerika nicht gleichgültig bleiben; Ungerechtigkeiten, die die Mehrheit unserer Völker in einer schmerzhaften Armut halten, die in sehr vielen Fällen an unmenschliches Elend grenzt.“
Als wichtigste und folgenreichste theologische Konsequenz gilt vielen Beobachter die Formulierung: „Christus, unser Erlöser, liebt nicht nur die Armen, sondern er, der reich war, machte sich arm, lebte in Armut, konzentrierte seine Sendung darauf, daß er den Armen ihre Befreiung verkündete und gründete seine Kirche als Zeichen dieser Armut unter den Menschen.“ Dies begründete in Folge eine neue Praxis der Kirche, einen Positionswechsel, weg von der Seite der Reichen, Staatstragenden und politisch Mächtigen, hin zu einer „Option für die Armen“.

Positionswechsel

Die Beschlüsse von Medellín stellten eindeutig in den Vordergrund, daß der Glaube die Forderung und das Engagement nach Gerechtigkeit umfasse, daß ohne Gerechtigkeit christlicher Glaube nicht möglich sei. Dies löste zunächst eine Krise, dann massive Konflikte innerhalb der Kirche aus: Das Verständnis von pastoraler Praxis als die Versorgung der Bevölkerung mit Sakramenten geriet ins Wanken und mit ihm die Rolle und damit das Selbstverständnis von den Priestern und Bischöfen. Ihre Tätigkeit im Rahmen von Sakristei und Kirchenraum reichte nicht mehr aus. Im Bereich der neuen Aufgaben, der sozialen Gerechtigkeit kannten sie sich zu wenig aus, fühlten sie sich unsicher. Bald aber entstanden neue pastorale Strategien und Konzepte: Es wurden – zunächst vor allem in ländlichen Bereichen – kleine Pastoralteams gebildet, Laien in die Arbeit einbezogen, der Bewußtseinsbildung, Alphabetisierung und Gesundheitsversorgung eine vorrangige Bedeutung beigemessen und eine „Gute Nachricht“ als Hoffnung für die von materieller Not und sozialer Ausgrenzung betroffenen Menschen verkündet. Zudem wurde die Selbstorganisation der Menschen gestärkt: in der Bildung von Basisgemeinden und in der Betonung der darin liegenden Möglichkeiten gegenseitiger Hilfe. Gleichzeitig wurden aber vielerorts auch Gründung und Arbeit von gewerkschaftlichen Initiativen zur Durchsetzung von Interessen wie Landverteilung und Kreditbewilligungen unterstützt. Die Reaktion darauf ließ nicht lange auf sich warten: Zivile und militärische Machthaber sowie die Oligarchie begannen zunächst mit Vorwürfen und Beschuldigungen („Kommunisten“, „Subversive“), gingen bald aber zur offenen Verfolgung ihrer Gegner über: Viele Priester, Laien, Engagierte, aber auch Bischöfe wurden vertrieben, verschleppt, gefoltert oder getötet, wie Bischof Oscar Arnulfo Romero aus El Salvador.
Heute sind zwar die „revolutionären Zeiten“ vorbei und der „Geist von Medellín“, der in den Texten deutlich wird, hat es schwer, sich durchzusetzten. Trotzdem bleibt die dort formulierte Herausforderung als Aufgabe bestehen: Die ungerechte Verteilung der Güter dieser Welt anzuklagen und die Sünde, die diese Ungerechtigkeit hervorbringt, aufzudecken.

Tips zum Weiterlesen:
– Sekretariat der Dt. Bischofskonferenz, Die Kirche Lateinamerikas. Dokumente der II. und III. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopates in Medellín und Puebla (Stimmen der Weltkirche 8), Bonn, o.J.
– Gustavo Gutiérrez, Theologie der Befreiung, Mainz 10.überarb. Aufl. 1992
– Ludger Weckel, Um des Lebens willen, Mainz 1998

Die Linke in Lateinamerika

Albert Sterr gebührt das Verdienst, als Herausgeber und Mitautor den Versuch unternommen zu haben, einen Überblick über die Vielfalt linker Kräfte in dem trotz aller Gemeinsamkeiten höchst differenzierten Lateinamerika zu geben. Das Buch kann dem Anspruch nur begrenzt gerecht werden, die Linke von innen und außen, aus theoretischer Perspektive und mit praxisbezogenen Stellungnahmen zu analysieren. Dazu zwingen Umfang, Preis, Lesbarkeit und der bisweilen von Zufällen abhängende Zugang zu Artikeln.
Die Gliederung in eine einführende Übersicht, neun Länderbeiträge und fünf themenorientierte Artikel gestattet eine Art multifunktionaler Nutzung sowohl für SpezialistInnen wie für allgemein interessierte LeserInnen. Bedauerlich ist allerdings, daß mögliche Querverbindungen zwischen den beiden großen Teilen des Buches, ein Bezug der themenorientierten Beiträge auf die spezifischeren Länderbeschreibungen ausbleibt.

Die schlechteren Rechten

In seinem einführenden Beitrag beschreibt Albert Sterr die wirtschaftliche und politische Entwicklung der Rahmenbedingungen für die linken Strömungen seit den achtziger Jahren und die subjektive Verfaßtheit der Linken, wobei hier zunächst die dem linken Parteienspektrum zuzuordnenden Kräfte betrachtet werden. Wichtig erscheint der Verweis auf außerparlamentarische, zum Beispiel Bauernbewegungen oder die ZapatistInnen am Ende des Kapitels. Wer sind die auf Demokratisierung und alternative Entwicklungsstrategien gerichteten Kräfte? Wer wirkt jenseits der traditionellen Arten der Machtergreifung, sei es durch Wahlen oder durch bewaffneten Kampf? Die Offenheit, beide großen Strömungen zu betrachten, ist einer der Vorzüge der Konzeption des gesamten Bandes. Edgar Gutiérrez benennt die Herausforderung für die Linke treffend: „Sie muß eine andere Zukunft entwerfen. Dies heißt, die Linke neu zu begründen und ihr Modell der Macht noch einmal zu diskutieren. Schließlich hat Macht nicht nur eine Dimension, und es gibt viele Hinweise dafür, daß die Linken, wenn sie die Macht im Staate innehaben, die schlechteren Rechten sind.“
Die nachfolgenden Länderartikel stellen die Entwicklung und die gegenwärtige Verfaßtheit der Linken exemplarisch dar. Die Aussagekraft der einzelnen Beiträge ist dabei quantitativ und vor allem qualitativ recht unterschiedlich. Neben umfassenden, wenngleich nicht sonderlich neuen Überblicksdarstellungen wie zu Mexiko oder Venezuela stehen Beiträge, in denen prozeßorientiert die Wechselwirkung zwischen den jeweils sehr unterschiedlichen nationalen Entwicklungen und den existierenden linken Kräften reflektiert wird. Zu nennen sind hier besonders die Artikel zu Guatemala, Kolumbien und Peru, die auch die subjektiven Faktoren einschließen, die gemeinhin eher vernachlässigt werden.
Edgar Gutiérrez analysiert den Werdegang der guatemaltekischen Linken, also vor allem der Guerillabewegung, unter den Bedingungen von jahrzehntelangem Terror und brutaler Repression und stellt fest: „Konspiration als Prinzip des politischen Handelns, geheime Bräuche, Verzicht auf private und berufliche Normalität, die Einhaltung einer quasi-militärischen Arbeitsdisziplin, von der die physische Unversehrtheit und die Sicherheit der Organisation abhingen, die unvermeidliche Anpassung an die Kunst der Kriegsführung, das Loslösen von materiellen Gütern und die Führung eines Doppellebens waren die Folgen. Heldentum und Aufopferung, aber auch Verrat und Untreue. Grausame Intrigen, persönliche Streitigkeiten und Machtkämpfe unter feindlicher Belagerung… Die Linke durchquerte diese Etappe wie jemand, der in einer lange andauernden Grenzsituation lebt.“ Für die Führer (und viele namenlose Mitglieder) der guatemaltekischen Linken dauerte diese Grenzsituation zum Teil mehr als 40 Jahre – ein Menschenleben lang. Auch in anderen Ländern wie El Salvador und Kolumbien, unter modifizierten Bedingungen auch in Argentinien und Uruguay, sind diese Faktoren zumindest für Teile der Linken kennzeichnend.

Zwischen eigener Entscheidung und Notwendigkeit

Wie kann diese Linke, wie können Menschen mit dieser persönlichen Geschichte, mit einer Tradition, die notwendigerweise antidemokratisch und intolerant ist, nunmehr Toleranz und Demokratie voranbringen, eine „Zivilgesellschaft“ mitgestalten? Wie kann unter solchen Voraussetzungen ein Neuanfang aussehen, nach einem letztlich verlorenen Kampf, der das eigene Leben prägte? Welche Chancen bestehen für die nachfolgenden Generationen der Guerilla, für diejenigen, die oftmals weniger aus politischer Überzeugung denn als einzigem Ausweg aus einer unabwendbaren Gewaltsituation und traumatischen persönlichen Erlebnissen zu den Waffen griffen und „Normalität“ nie kennengelernt haben? Die Beiträge von Gutiérrez und Rütsche können keine endgültige Antwort auf diese Fragen geben, aber die Einbeziehung dieser sozialpsychologischen Faktoren erscheint für das Verständnis der Linken in den genannten Ländern unabdingbar.
Eher enttäuschend hingegen sind die fragmentarischen Darstellungen zu El Salvador, Haiti oder Nicaragua, in denen erklärende Hintergründe zu der teilweise übergroßen Vielzahl von Namen und Fakten nur ansatzweise beschrieben werden. Am Beispiel von Haiti wird dies besonders deutlich. Einen deutlich tiefergehenden Einblick ermöglicht der Beitrag von Löwy zum „Befreienden Christentum“ und dessen Abschnitt zu Aristide.
Sowohl für Nicaragua als auch für El Salvador gilt, daß der Blickwinkel einseitig auf das jeweilige parteipolitische Spektrum gerichtet ist; hier wäre die Einbeziehung anderer sozialer Kräfte wünschenswert gewesen. Eine Aussage wie „Innerhalb der FSLN gab es schon immer eine ausgeprägte Faulheit, sich mit theoretischen Problemen zu befassen“, ist nicht nur von erstaunlicher Arroganz, sondern auch als Erklärung wenig hilfreich.
Der letzte der Länderbeiträge, der Brasilien gewidmet ist, richtet seinen Fokus auf die ganz speziellen Erfahrungen in der kommunalen Arbeit einer Partei, der PT in Porto Alegre. Der Ansatz unterscheidet sich mit diesem Praxisbezug deutlich von den anderen Beiträgen und illustriert die auf lokaler Ebene bestehenden Veränderungsmöglichkeiten und Handlungsoptionen linker Kräfte jenseits einer neuen Vision der Systemveränderung. Die kurze Beschreibung macht neugierig auf eine umfangreichere und vielleicht auch kritischere Analyse dieser Erfahrungen.

… lokal handeln

Auf die Länderbeiträge folgen thematisch orientierte Artikel, die einen umfassenden Überblick über wichtige Wurzeln, Bezugspunkte und gegenwärtige Wirkungsmöglichkeiten und -formen der lateinamerikanischen Linken geben, angefangen mit Ernesto Che Guevara über die Entwicklung der Guerillabewegungen in verschiedenen Ländern des Kontinents, den Einfluß der Theologie der Befreiung, bis hin zu den sozialen Bewegungen und der Zusammenarbeit der linken Parteien. Einen auch quantitativ zentralen Platz nimmt Sterrs Analyse des Guerillakampfes und der Befreiungsbewegungen ein.
Es ist möglicherweise der für die breite Themenstellung notwendigen Verknappung und Verallgemeinerung geschuldet, daß einige wichtige Fragen offen beziehungsweise einige Thesen zweifelhaft bleiben. So ist die Militärdiktatur in Chile nicht ohne die Regierungszeit der Unidad Popular denkbar, auf die jeder Hinweis fehlt.

Offene Fragen

Dies deutet auf ein Manko des gesamten Buches hin: Es fehlt eine genaue Betrachtung der Entwicklung im Cono Sur. So wird ein wichtiger Teil der lateinamerikanischen Linken ausgeklammert, der für eine Gesamtdarstellung eigentlich unverzichtbar ist.
Auch im zweiten Abschnitt des Artikels, in dem es um die Integration geschlagener Guerillagruppen in die legale Opposition geht, wird zu stark verallgemeinert – zeigen doch spätere Ausführungen, daß sich diese Integration durchaus in verschiedenen Zeiträumen und sehr unterschiedlichen Ausprägungen vollzog.
Ein merkwürdiger Widerspruch wird in den beiden letzten Abschnitten deutlich, die im wesentlichen am Beispiel Mexikos einen Ausblick auf die Gegenwart und die mögliche Zukunft der Guerillabewegung geben. Neben der Analyse der neuen Ansätze und Konzeptionen besonders der EZLN erfolgt abschließend die Kritik, „daß die Zapatisten zu gesellschaftlichen Schlüsselfragen keinen eigenen klaren Standpunkt haben“. Zunächst erscheint dies durchaus zutreffend, nur: Welche linke Kraft kann für sich in Anspruch nehmen, eine realistische Antwort auf diese Fragen zu haben, die über die zugegebenerweise bestenfalls mittelfristig konkretisierten Vorstellungen der ZapatistInnen hinausgehen? Wie die den Linken gemeinsame Vision einer gerechten Gesellschaft konkret umgesetzt und ausgestaltet werden könnte, welche Strategien und Konzepte notwendig sind, bleibt nicht nur bei der EZLN offen: mir ist zumindest kein klares Konzept anderer Kräfte bekannt, das diesem Anspruch gerecht würde. Handelt es sich also um eine der (deutschen?) Linken durchaus nicht unbekannte Projektion, wenn die EZLN an Maßstäben gemessen wird, denen sie selbst nicht gerecht wird? In diesem Zusammenhang wäre eine genauere Untersuchung interessant, warum „Sympathiebezeugungen politischer Parteien und der Solidarität“ für die EZLN als unverbindlich und offensichtlich wenig hilfreich („bündnispolitische Schwäche“) bewertet werden.
Michael Löwy gibt einen knappen, aber aussagekräftigen Überblick über die Entwicklung des „Befreienden Christentums“, vertrauter unter dem Stichwort „Theologie der Befreiung“. Hervorzuheben sind die an den Beispielen von Haiti und Mexiko beschriebenen Wirkungen und Einflüsse dieser Strömung der lateinamerikanischen Linken in den gegenwärtigen Prozessen.
Trotz aller kritischen Anmerkungen sind die von Sterr herausgegebenen Analysen und Berichte nicht nur lesenswert, sondern aufgrund ihrer erstaunlichen Vielfalt nahezu als obligatorisches Standardwerk für Lateinamerikainteressierte zu betrachten. Viele der notwendigerweise offengebliebenen Fragen verdienten eine ausführlichere Analyse, zu der der Band vielleicht Anregungen gibt. Ein Wermutstropfen sei allerdings noch benannt, der auch durch die verschiedenen objektiven Umstände nicht zu erklären ist: Die Rolle der Frauen in den linken Bewegungen und die Frauenbewegungen selbst werden im gesamten Buch bestenfalls marginal erwähnt. Ist es wirklich nur ein Zufall, daß unter den insgesamt 14 AutorInnen nur zwei Frauen vertreten sind?

Albert Sterr (Hg.): Die Linke in Lateinamerika. Analysen und Berichte. 318 S., Neuer ISP-Verlag, Köln und Rotpunktverlag, Zürich 1997.

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