Mittlerin zwischen AutorIn und Verlag

In den USA gehören Literaturagenten ganz selbstverständlich zum Literaturbetrieb; fast jeder Autor arbeitet mit einem Agenten zusammen. In Deutschland hingegen ist dieser Beruf kaum bekannt. Könnten Sie Ihr Arbeitsfeld kurz beschreiben? Was sind die Aufgaben einer Literaturagentin?

Wenn Sie zehn Agenturen fragen, bekommen Sie zehn verschiedene Antworten, weil sich alle auf einer Skala zwischen Kultur und Kommerz an unterschiedlicher Stelle ansiedeln. Wenn ich zum Beispiel mit nordamerikanischer oder deutschsprachiger Literatur arbeite, sind das völlig andere Vorzeichen, als wenn ich mit Portugiesisch und Spanisch arbeite, zumal Portugiesisch, das viel weniger zugänglich ist.
Ich übernehme einen Autor, weil ich Bücher von ihm schätze und meine, sie sollten übersetzt werden. Ich betreue ihn, indem ich ihn, wenn möglich, an verschiedene Länder vermittle und mich auch mit ihm darüber berate, mit welchem Buch man zuerst anfängt. Ich bin also eine Gesprächspartnerin für den Autor, eine korrigierende Gesprächspartnerin, wenn es um die Vermittlung an Verlage geht, weil nämlich die Vorstellungen von Autoren oft auch ganz unrealistisch sind. Eigentlich geht es einem ja darum, dass man zwischen beiden Seiten gut vermittelt und zu beiden Seiten ein gutes Verhältnis hat. Das klappt nicht immer, man kann es sich auch mit Verlagen verscherzen, indem man zum Beispiel mit einem berühmten, großen Autor den Verlag wechselt. Das heißt, die Hauptarbeit besteht darin, den Autor zu vermitteln und den Autor auch davon zu überzeugen, dass man für ihn den richtigen Verlag sucht. Dahinter stecken in meinem Fall achteinhalb Jahre Brasilien, davor einige Jahre in Spanien, überhaupt eine sehr frühe Bindung an Latino-Welten. Diese Brasilienerfahrung, die sehr intensiv und wichtig für mich gewesen ist, weiter zu geben, ist einfach spannend.

Wie sind Sie überhaupt zu diesem Beruf gekommen?

Durch meinen Wegzug aus Brasilien, wo ich Lektorin beim DAAD war. Ich hockte in New York ohne Arbeitserlaubnis und musste mich als Freelancer betätigen. Da hab ich angefangen zu übersetzen, zunächst für Suhrkamp. Dann gab es einen Kontakt zu einem New Yorker Agenten, der damals so unerfahren und jung war wie ich, aber schon angefangen hatte. Als ich fünf Jahre später wieder nach Deutschland zog, habe ich als Agentin begonnen. Dieses Jahr ist meine zwanzigste Buchmesse.

Sie vermitteln ja nicht nur Autoren aus Lateinamerika, sondern auch aus Afrika, Portugal und Spanien. Wie ist denn da die Gewichtung?

Es hat angefangen mit Brasilien und Portugal. Damit alleine hätte ich die Agentur schließen können, das war einfach zu wenig. Sie kennen ja sicher die Übersetzungsstatistiken, Spanisch ist wenig vertreten und Portugiesisch ist ein Sechstel, ein Fünftel von Spanisch. Ich habe dann nach Lateinamerika ausgeweitet, über Portugal kamen Angola und Mosambik hinzu. Zur Zeit vertrete ich zum Beispiel Autoren aus Chile, Angola, Portugal, Mosambik, Uruguay, Argentinien, Kuba und Kolumbien – kreuz und quer verteilt.
Wenn ich für einen Autor nicht genug habe tun können, finde ich es ehrlicher, ihm zu sagen, „Lass uns aufhören, der Vertrag ist abgelaufen, vielleicht hast du mit jemand anderem mehr Glück“. Manchmal gelingt es, jemanden sofort unterzubringen, manchmal gelingen auch Erfolgsstorys, dass man jemanden vermittelt, der dann in 30 Ländern gedruckt wird.

Das heißt, Sie haben sowohl junge, unbekannte Autoren wie auch ältere, etablierte?

Wir haben aus Chile gerade zwei ganz junge Autoren übernommen, die sind 30. Und dann gibt es ältere: Da ist zum Beispiel ein sehr guter Autor aus Argentinien, der wollte, dass sich jetzt jemand um seine Verträge und Bücher kümmert, damit er das nicht mehr selbst tun muss. Ich habe einen ganz anderen Überblick als ein Autor. Ich habe Hunderte von Verträgen abgeschlossen und kann ein Angebot viel besser einordnen als ein Autor. Außerdem kann ich für jemand anderes viel besser verhandeln als für mich selber, und ich denke, ein Autor sollte sich dem auch nicht aussetzen. Man hat eine Stellvertreterfunktion, der Autor muss nicht selber anklopfen und sagen: „Hier ist mein Buch“. Das halte ich für sehr wichtig.

In den 80er Jahren war die sogenannte engagierte Literatur sehr präsent, Eduardo Galeano, Rigoberta Menchú, Ernesto Cardenal gehörten in Solidaritätskreisen zur Pflichtlektüre. Heute werden kaum noch Bücher publiziert, die Literatur und Politik miteinander verbinden. Und wenn, dann finden sie nur ein sehr kleines Publikum.

Das hat damit zu tun, dass das Interesse für die Länder immer dann besonders stark war, wenn politische Umbrüche stattfanden. Das Interesse an bestimmten Ländern lässt wieder nach, und dann ist auch das Interesse, entsprechende Bücher zu machen, einfach nicht mehr so groß. Als ich in den Achtzigerjahren anfing, haben wir viele Autoren zur Diktatur in Brasilien und zur politischen Öffnung gehabt. Das hat sich dann wieder gelegt, diese ganze Testimonio-Literatur ist als bessere Landeskunde gelesen worden. Das Sachbuch ist wieder zum Sachbuch geworden und die Literatur wieder zur Literatur, was auch richtig ist.
Ich konnte das in Brasilien verfolgen, wo ich zur schlimmsten Zeit der Diktatur gelebt habe. Die Diktatur hat eine bestimmte Literatur zur Folge gehabt, die wegen der Zensur als Zeitungsersatz diente. In den Büchern ist vieles an Engagement und Information versteckt worden, was die Zeitung nicht bringen konnte, und so nicht ausgesprochen werden konnte. Das Buch war relativ ungefährlich, wurde nicht so häufig zensiert. Als das alles vorbei war, war die Notwendigkeit für solche Bücher nicht mehr gegeben. Es folgte eine Welle von history revisited, man begann, die eigene Geschichte neu zu überdenken. Eine ganze Reihe von Sachbüchern entstand, eine Art Standortbestimmung. Und Literatur wurde wieder zur Literatur, ohne solche Nebenfunktionen zu haben.
Diese Entwicklung hat es überall gegeben. In anderen Ländern kommt hinzu, dass es seit dem sogenannten Boom die großen Namen gibt, die leider wenig oder gar nichts getan haben für die Literatur in ihrem Land, so dass immer der Eindruck entstand, wir haben für Kolumbien nur García Márquez, für Peru Vargas Llosa und so weiter. Die Boom-Autoren waren so erfolgreich, dass die jüngeren Autoren, die sich jetzt zu Wort melden, völlig im Schatten gestanden haben, als gäbe es in all diesen Ländern hinter diesen großen Namen nichts. Das hat mich immer sehr geärgert. Und es reizt einen natürlich auch, das aufzubrechen.

Gemeinsam mit der Literatur hat sich ja auch verändert, welche Verlage lateinamerikanische Literatur publizieren. Verlage, die sich bisher kaum für lateinamerikanische Literatur interessiert haben, werden aktiv, dagegen scheinen sich Verlage aus dem Solidaritätsbereich eher zurückzuziehen. So antwortete Hermann Schulz vom Peter Hammer Verlag in einem Interview mit den Lateinamerika Nachrichten auf die Frage, warum sein Verlag kaum noch lateinamerikanische Literatur herausbringe, dass eine große Langeweile bei Autoren und Lesern in Lateinamerika eingetreten sei.

Das glaube ich nicht. Da tut sich doch immer wieder eine ganze Menge. Ich kann nicht sagen, dass das langweilig geworden wäre. Es gibt Länder, in denen mehr oder weniger los ist. Brasilien ist zur Zeit weniger interessant. Und es gibt andere Länder, wo sich mehr tut, in Chile ganz sicher, in Kolumbien oder auch in Peru. Bolivien ist ein weißer Fleck für uns. Was die Verlage angeht: Ich habe früher schon mehrmals gesagt, Literatur sei kein Vehikel für Landeskunde. Wenn Bücher gut sind, dann können sie in jedem literarischen Verlag erscheinen. Ich habe von Anfang an versucht, ganz weit zu streuen. In Lateinamerika ist der Suhrkamp Verlag identisch mit dem deutschen Verlagswesen. Sie hatten so eine Art Monopolstellung. Das hat sich geändert.

Stichwort Cubanissimo. Was glauben Sie, was diesen Kuba-Boom ausgelöst hat?

Ich habe das Gefühl, dass es ein bisschen Mode geworden ist. Und da haben wir wieder das Phänomen politischer Veränderung, also, mal gucken, was da passiert. Ich fahre jetzt zum ersten Mal nach Kuba, und es wird höchste Zeit, weil ich dieses Kuba noch erleben will, ehe die Amerikaner es wieder vereinnahmen. Ich denke, viele andere sehen das auch so und wollen einfach dieses Kuba erleben und sehen und mitnehmen. Buena Vista Social Club hat sicher auch noch ein bisschen dazu beigetragen.

Glauben Sie, dass dieser Kuba-Boom langfristig Auswirkungen haben wird auf die lateinamerikanische Literatur, dass die Literatur dadurch mehr Chancen auf dem deutschsprachigen Büchermarkt hat?

Nein, das halte ich für ziemlich unwahrscheinlich. Ich glaube nicht, dass ein Land oder ein Bereich sich so auswirken kann, dass dies auf alle anderen einen Einfluss hat. Generell ist ein Interesse an lateinamerikanischer Literatur da, es hat in den letzten Jahren eher wieder zugenommen und bleibt glücklicherweise ein stetig vorhandenes Interesse.

Interview: Ann-Catherine Geuder

Editorial Ausgabe 313/314 – Juli/August 2000

Die Geschichte der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ist wenig ruhmreich. In den knapp 52 Jahren ihres Bestehens war die OAS stets eine Marionette der USA. Während sie eng mit Despoten wie Batista, Somoza, Stroessner oder Pinochet zusammenarbeitete, schloss sie Kuba 1962 als Mitglied aus. Die US-Interventionen auf der Dominikanischen Republik oder Grenada wurden als Gemeinschaftseinsätze zur „Rettung der Demokratie“ verkauft.Vor wenigen Jahren wurde in die Charta der OAS ein neues Ziel aufgenommen – die „Förderung der repräsentativen Demokratie“. Doch die Nagelprobe ging Anfang Juni beim Treffen der OAS-Außenminister im kanadischen Windsor daneben, als die Versammlung sich nicht dazu durchringen konnte, den offensichtlichen Wahlschwindel in Peru zu verurteilen, entgegen den Schlussfolgerungen einer eigens nach Lima entsandten Beobachterdelegation der OAS. Bei der Entscheidung fiel auch nicht ins Gewicht, dass die peruanische Regierungsmafia um Fujimori und den als Geheimdienstchef amtierenden Mörder und Drogenhändler Vladimiro Montesinos bereits lange vor den Wahlen die Weichen zum Betrug gestellt hatte. Durch Bestechung und Erpressung war es ihr gelungen, die größten Medien, die Legislative und die Justiz unter ihre Kontrolle zu bringen.
Allerdings waren die Karten dieses Mal bei der Abstimmung anders gemischt als früher. Ausgerechnet die USA – mit Kanada, Argentinien und Costa Rica im Schlepptau – wollten die peruanische Diktatur an den Pranger stellen. Jene Macht, die sich bislang in Lateinamerika eher als Totengräber demokratischer Grundwerte einen Namen gemacht hatte. Die übrigen dreißig Mitgliedsstaaten der OAS empfanden eine Verurteilung der peruanischen Regierung als Einmischung in deren innere Angelegenheiten.
Die Zeiten haben sich verändert und sind doch gleich geblieben. Die mittlerweile konkurrenzlos gebliebene Weltmacht USA kann es sich leisten, weniger plump zu agieren. Und die sogenannten „jungen lateinamerikanischen Demokratien“ stimmen ab wie damals, als sie noch von der Armee regiert wurden. Das ist in einigen Fällen wenig erstaunlich. Während in Bolivien niemand anders als der ehemalige Diktator Hugo Banzer auf dem Präsidentenstuhl sitzt, ist im Nachbarland Paraguay immer noch die Colorado-Partei Alfredo Stroessners an der Macht. In Ecuador setzte das Militär direkt den Präsidenten ein. Der Präsident El Salvadors gehört der Arena-Partei an, die einst mit den Todesschwadronen in enger Verbindung stand, und sein guatemaltekischer Kollege versucht sich gerade erst von seinem Ziehvater freizumachen: dem Massenmörder und Putschisten Rios Montt.
Von Ländern wie Venezuela oder Mexiko war erst recht nicht zu erwarten, dass sie sich einer Verurteilung der peruanischen Regierung anschließen würden. Der machtorientierte Präsident Chávez fuhr kurz nach der peruanischen Wahlfarce sogar zusammen mit seinen Kollegen Banzer, Noboa und Pastrana zum Gipfel der Andenstaaten nach Lima und umarmte Fujimori öffentlich. Die mexikanische PRI ist selbst ein gebranntes Kind. Schon 1988 konnte sie nur durch massiven Wahlbetrug den Machtverlust abwenden.
Überraschend ist aber, dass Brasilien, Chile und Uruguay sich den USA nicht anschließen mochten. Die Begründung des brasilianischen Präsidenten Cardoso für seine Politik der Nichteinmischung lässt sich dahingehend interpretieren, dass es ihm um eine von den USA unabhängige Politik und um den Führungsanspruch in der Region geht.
Dabei gibt es wahrlich genügend Gelegenheiten, sich gegen die US-Politik in der Region zu wenden. Zum Beispiel könnte Brasilien die milliardenschwere Militärhilfe für Kolumbien ablehnen, die soeben bewilligt wurde und den Bürgerkrieg weiter schüren wird. Oder den Schuldenerlass auf die Tagesordnung setzen. Aber dass Wahlmanipulationen einer diktatorischen Regierung zu deren inneren Angelegenheiten gerechnet werden, darf nicht hingenommen werden. Selbst dann nicht, wenn sich mit den USA ein zweifelhafter Bündnispartner anbietet.

Aufarbeitung in Bewegung

Schweigend, aber optimistischer als in den Jahren zuvor marschierten am 20. Mai ca. 70.000 UruguayerInnen durch das Zentrum der Hauptstadt Montevideo, um an die Verhafteten und die Verschwundenen der Militärdiktatur von 1973 bis 1985 zu erinnern. Unter dem Motto „Wo sind sie? Die Wahrheit ist möglich und notwendig!“ wurde der Zug von den Familienangehörigen der ca. 160 „Verschwundenen“ angeführt. Mit dem zum fünften Mal stattfindenden Marsch sollte auch an die am 20. Mai 1976 in Argentinien ermordeten uruguayischen Senatoren Zelmar Michelini und Héctor Gutiérrez Ruiz erinnert werden.
Die Hoffnung, dass nun, nach fünfzehn Jahren Demokratie, das Schicksal der Verschwundenen endlich aufgeklärt werden könnte, gründet sich auf Jorge Batlle, den neuen Staatspräsidenten von der konservativen Colorado-Partei seit dem 1. März 2000.
In den gut zwei Monaten der Amtszeit von Batlle ist die Vergangenheitsbewältigung in dem südamerikanischen Land, dass unter den Militärs in ein „großes Gefängnis“ verwandelt wurde (jeder fünfzigste im Land war während der Diktatur inhaftiert), weiter voran gekommen als in den anderthalb Jahrzehnten zuvor.
Die überraschende Haltung von Jorge Batlle hat auch mit der Konkurrenz zu seinem Vorgänger, dem ebenfalls der Colorado-Partei angehörenden Julio María Sanguinetti zu tun. Sanguinetti steht für die Aussage „In Uruguay gibt es keine Fälle von Kindesentführungen“. Diese Haltung konnte er über die Jahre seiner ersten und zweiten Präsidentschaft von 1985 bis 1990 und von 1995 bis 2000 durchhalten, bis Juan Gelman seinen Weg kreuzte.
Mit einem offenen Brief, den der argentinische Dichter Juan Gelman im Sommer 1999 an den damaligen uruguayischen Präsidenten Sanguinetti adressierte, erreichte der Fall eine internationale Öffentlichkeit. Mehrere hundert JournalistInnen, SchriftstellerInnen und KünstlerInnen weltweit erklärten ihre Solidarität und Unterstützung für Gelman, der seit mehr als 23 Jahren versuchte, das Schicksal seines Ende 1976 in Gefangenschaft geborenen Enkelkindes aufzuklären. Sanguinetti hatte sich, trotz des starken nationalen wie internationalen Drucks, beharrlich geweigert, auch nur anzuerkennen, dass es in Uruguay Fälle von Verschwundenen gibt. Zudem beschuldigte er Juan Gelman der Parteilichkeit und bezeichnete ihn öffentlich als ehemaligen Montonero (peronistische Guerilla in Argentinien Mitte der 70er-Jahre), in der Hoffnung, ihn dadurch zu diskreditieren. Mehr noch, immer offensichtlicher wird, dass der Ex-Präsident über viel mehr Details der „Operación Cóndor“, der Gemeinschaftsaktion der Militärregierungen Argentiniens, Brasiliens, Chiles, Paraguays und Uruguays in den 70er- und 80er-Jahren, informiert war, als bisher vermutet wurde (Vgl. LN 297).
Der 72-jährige Politveteran und Nachfahre des legendären Präsidenten José Batlle y Ordóñez erreichte innerhalb von nur zwei Monaten einen radikalen Politikwechsel in Uruguay: Am 31. März 2000 traf er sich mit Gelman und beide verkündeten öffentlich die Nachricht vom Auffinden der Enkeltochter des Schriftstellers (Vgl. LN 311). In den folgenden Wochen traf sich Batlle als erster uruguayischer Präsident mit den Angehörigen der Verschwundenen und ordnete in weiteren Einzelfällen Untersuchungen an. Zudem empfing er VertreterInnen der uruguayischen Menschenrechtsorganisation Servicio Paz y Justicia (Serpaj), die dem Präsidenten eine Liste mit Namen von 162 uruguayischen und vier argentinischen StaatsbürgerInnen übergaben.

Wahrheitskommision vorgesehen

Die Haltung Batlles hat die Debatte über die Vergangenheit seit dem Plebiszit von 1989, durch das den an Verbrechen beteiligten Militärs Immunität garantiert wurde, wieder deutlich angeheizt. Das Gesetz wurde 1989 von vielen UruguayerInnen auch nur deshalb angenommen, weil es den Verzicht auf Strafverfolgung der Tupamaros, der linken Guerilla, mit der Immunität der Militärs verknüpfte. Allerdings verlangt Artikel 4 dieses Gesetzes auch, dass die Fälle der Verschwundenen aufgeklärt werden. Jetzt, fünfzehn Jahre nach dem Ende der Militärherrschaft, soll damit endlich begonnen werden. Dies soll laut Batlle durch eine Wahrheitskommission über das Schicksal der Verschwundenen geschehen, die sich aus verschiedenen Persönlichkeiten des Landes zusammensetzen und Batlle einen Bericht vorlegen soll. Über Aufgabe und Mitglieder der Kommission gibt es aber immer mehr Widersprüche. So ist die “Vereinigung der Mütter und Familienangehörigen der Verschwundenen“ nicht bereit, unter den bisher bekannt gewordenen Bedingungen in der Kommission mitzuarbeiten. Und auch die Linke verhält sich zögerlich, weil ihr der vorgeschlagene Weg nicht weit genug geht. Von seiner eigenen Partei und seinem Koalitionspartner, den Blancos, wird ihm hingegen jede Zusammenarbeit verweigert. Für den Ex-Präsidenten Luis Alberto Lacalle (1990-1995) ist das Thema „abgeschlossen”.
Dabei steht Batlle unter Zeitdruck, seit die Richterin Estela Jubette angeordnet hat, dass staatlicherseits eine Untersuchung über das Schicksal der 1976 verschwundenen Lehrerin Elena Quinteros durchgeführt werden muss. Die neue Stimmung im Land hat auch das Militär erkannt; nach bewährtem Modell versuchte es, unterschwellig Angst vor einem etwaigen Eingreifen zu schüren. Aber auch hier hat sich der neue Präsident erstaunlich klar verhalten. Der Chef der Streitkräfte, der sich drohend geäußert hatte, wurde umgehend entlassen.
Die unerwartet deutliche Haltung des neuen Staatspräsidenten, die auch den Linken Respekt abnötigt, öffnet den politischen Raum für weitere Untersuchungen. So kündigten die Regierungen der Departamentos Rocha und Colonia an, dass sie jetzt bereit sind, Untersuchungen über die sterblichen Überreste von nicht identifizierten Personen auf den lokalen Friedhöfen zu eröffnen. Die Mehrheit dieser Leichen war zwischen 1976 und 1979 an den Küsten des Río de la Plata und des Atlantiks aufgefunden worden. Dass dies gerade kurz vor den im Mai anstehenden, landesweiten Regionalwahlen angekündigt wurde, zeugt von einem Politikwechsel in Uruguay, wo im Gegensatz zur jüngsten Entwicklung in Argentinien die Zeit der Militärdiktatur noch kaum aufgearbeitet ist.
Auch im argentinischen Parlament werden die Bemühungen Batlles gewürdigt. „Batlle hat sich in den ersten Präsidenten eines lateinamerikanischen Landes verwandelt, der offiziell anerkannt hat, dass der ,Plan Cóndor’ existierte”, so die Resolution des Abgeordneten Bravo, die im Parlament behandelt wurde.

Schluss im Wahlmarathon

Einen Einfluss auf die Kommunalwahlen, die am 14. Mai in Uruguay stattfanden, hatten diese Ereignisse wider Erwarten kaum. Das Linksbündnis Encuentro Progresista–Frente Amplio (EP–FA) mit seinem Vorsitzenden Tabaré Vázquez ist endgültig zur stärksten politischen Kraft im Lande geworden. Trotzdem gewannen in allen 18 Departamentos, teilweise jedoch nur sehr knapp, die traditionellen Parteien. Das gesamte Interior, wie in Uruguay alles außerhalb von Montevideo genannt wird, teilen also auch für die nächsten fünf Jahre die Blancos und Colorados, wie schon seit über 170 Jahren, unter sich auf. In Montevideo errang der bisherige Bürgermeister Mariano Arana einen beeindruckenden Sieg. Fast 60 Prozent (umgerechnet auf das ganze Land sind das 44 Prozent) stimmten für den Kandidaten des Linksbündnisses, der seit fünf Jahren die Hauptstadt regiert und sich steigender Zustimmung über alle Parteigrenzen hinweg erfreut.
Für die UruguayerInnen waren diese Wahlen der Schlusspunkt eines langen Wahlmarathons. Jetzt ist zuerst einmal wahlfreie Zeit bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen Ende 2004.
Batlle hat in einer Rede Mitte Mai davon gesprochen, dass “alle in diesem Land absolut frei und gleich“ sind. Nun muss er sich allerdings auch immer öfter Kritik an seinen Sonntagsreden gefallen lassen. Vor dem Gesetz sind eben nicht alle gleich, es gibt viele UruguayerInnen, speziell im Militär, die nicht für ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der zwölfjährigen Diktatur zur Rechenschaft gezogen wurden. Fast schien es schon, als hätten sich die UruguayerInnen mit den unaufgeklärten Verbrechen in den 15 Jahren Demokratie abgefunden. Durch den Politikwechsel in Bezug auf die Verschwundenen wird der Ruf nach einer Bestrafung der Täter nun wieder lauter.

Nazi-Treffen mit schnellem Ende

Kurz vor Beginn des Nazi-Treffens hatten in der Hauptstadt Santiago 4.000 Chilenen gegen diese nationalsozialistische Initiative demonstriert. Sonst stieß die Zusammenkunft bei den meisten Chilenen auf wenig Interesse. Verschiedene Juristen erinnerten an das Recht auf Meinungsfreiheit, während sich die neue Regierung unter Ricardo Lagos bemühte, das Treffen zu verhindern. Auf konkrete Gesetze konnte sie sich dabei allerdings nicht berufen und so konnte sie im Vorfeld nicht mehr tun, als eine Liste mit 50 international bekannten Nazi-Vertretern zu erstellen, denen die Einreise verweigert wurde.
So wurden andere Wege gesucht, um die Realisierung dieses Kongresses zu verhindern: Zwei Tage vor dem offiziellen Beginn wurde „zufällig“ der Organisator Alexis López von der chilenischen nationalsozialistischen Patria Nueva Sociedad auf der Strasse wegen ungedeckter Schecks verhaftet. Jeglicher Zusammenhang wurde von Regierungsvertretern jedoch dementiert: „An dieser Verhaftung war die Regierung in keiner Weise beteiligt.“ Claudio Huepe, Generalsekretär der Regierung, besteht darauf, dass es sich um eine „Routinemassnahme der Polizei“ gehandelt habe und es „nicht mehr als ein Zufall“ sei, dass der Kopf der Nazi-Organisation so kurz vor Beginn des Treffens verhaftet worden sei. Arnel Epulef, ebenfalls Mitglied von Patria Nueva Sociedad, besteht hingegen darauf, dass Alexis López der „erste politische Gefangene“ der neuen Regierung ist, da er wegen seiner Ideen verhaftet worden sei.
López war gegen 23 Uhr auf der Strasse im Zentrum von Santiago verhaftet worden. Ihm wird vorgeworfen, seit 1998 seine Schulden nicht bezahlt und mit ungedeckten Schecks gezahlt zu haben. Insgesamt geht es um umgerechnet etwa 20.000 Mark.

Pünktlich zum Führergeburtstag

Das für 17. bis 22. April geplante Primer Encuentro de Nacionalidad y Socialismo wurde am Montag trotzdem in einem privaten Strandhäuschen in der Nähe von Valparaiso, in dem kleinen Ort Concon, eröffnet. Von den angekündigten 30 Teilnehmern waren schließlich sieben ausländische Vertreter aus Bolivien, Peru, Argentinien, Uruguay und Ecuador angereist, pünktlich zu „Führers Geburtstag“. Dieses Datum habe für die ausländischen Gäste, die Hitler und seine Politik im Dritten Reich verteidigen, eine besondere Bedeutung, erklärten die Veranstalter. Patria Nueva Sociedad bestehen hingegen darauf, keine Nazis zu sein: „Wir sind nicht rassistisch, wir sind nicht fremdenfeindlich, wir glauben nicht an eine Herrenrasse und respektieren die Grundrechte der Menschen.“
Dem Geist der Zeit folgend haben die chilenischen Nationalsozialisten im vergangenen Jahr ihr Image geändert, weg vom „typischen Nazi“ hin zum „aufgeklärten Patrioten“. Im Rahmen dieser Kosmetik wurde das Hakenkreuz durch das vom Ku-Klux-Klan verwendete Sonnenrad (ein Kreuz im Innern eines Kreises) ersetzt. Auch Hitlers Idee von einer einzigen Herrenrasse machte wenig Sinn innerhalb einer internationalen Bewegung. Patria Nueva Sociedad besteht deshalb darauf, dass jede Rasse für sich wertvoll ist, aber es komme eben darauf an, sie möglichst rein zu halten, also die Rassen zu trennen. Innerhalb dieser Logik ist es dann auch möglich, dass sich nationalsozialistische Vertreter beispielsweise auf den Demonstrationen der Mapuche-Indianer wiederfinden und deren Rechte verteidigen.

Austausch im Strandhaus

Viel weiter als bis zu einem allgemeinen Austausch über ihre Situation sind die Teilnehmer bei ihrem Treffen in Chile allerdings nicht gekommen, da nach 24 Stunden die Polizei auftauchte und den Versammlungsort umstellte. Die Ermittler hatten die Grenzübergänge und die Mitglieder von Patria Nueva Sociedad überwacht und so nach verschiedenen vergeblichen Polizeiaktionen im Süden Chiles schließlich das Strandhäuschen als Versammlungsort ausgemacht.
Mit der Aktion folgten die Ermittler einer Regierungsanweisung. Dort war man schließlich auf das Abkommen von San José in Costa Rica gestoßen, in dem sich unter anderem auch Chile zur Bekämpfung der Verbreitung von jeglicher Ideologie, die Gewalt oder Rassenhass fördert, verpflichtet. Zu Hausdurchsuchungen oder Verhaftungen kam es dabei nicht. Noch in der Nacht verliessen die Kongressteilnehmer freiwillig das Gebäude und wurden unter Polizeibegleitung nach Viña del Mar gebracht, von wo aus sie umgehend in ihre Heimatländer zurückkehrten.
Warum dieses Treffen ausgerechnet in Chile stattfand, haben die Veranstalter offengelassen. Für Yoram Rovner, Herausgeber der jüdischen Zeitschrift Der Ruf eignet sich Chile für ein solches Treffen wegen der „Duldsamkeit der chilenischen Gesellschaft gegenüber solchen Phänomenen, der Apathie gegenüber der öffentlichen Debatte um nationalsozialistische Ideen, ohne dass es jemand stört und der Apathie der Chilenen im allgemeinen, wenn es um Menschenrechte geht.“
Für Rovner hat dieses Nazi-Treffen wegen seiner strategischen Bedeutung für die Zukunft Gewicht. „Es geht nicht um die Anzahl der Teilnehmer, es geht um die Organisationen, die hinter ihnen stehen.“ Und er erinnert daran, dass 1962 in England ein Treffen von Vertretern nationalsozialistischer Ideen unter ähnlichen Bedingungen stattfand, aus dem die „Weltweite Union der Nationalsozialisten“ entstand, in der sich schliesslich 80 nationalsozialistische Organisationen aus 40 Ländern zusammengeschlossen hatten.
Ein erstes Ergebnis des Treffens, das hinter verschlossenen Türen stattfand, wurde inzwischen bekannt. Patria Nueva Sociedad wollen sich als Partei einschreiben, um an Wahlen teilnehmen zu können.

KASTEN:
Zum Nazi-Treffen eingeladene Organisationen:
Partido Nuevo Triunfo (Argentinien), Juventud Nacionalista Socialista (Argentinien), Frente Nacionalsocialista (Ecuador), Proyecto Colombia 88 (P.88, Kolumbien), Partido Nueva Sociedad Venezolana (Venezuela), Movimiento Nueva Guardia Española (Spanien), Frente Nacionalista Socialista (Peru), Movimiento Nacional Socialista (Bolivia), Movimiento Zapatista Chiapaneco (Mexico), Movimiento Socialista Nacional (Paraguay), Movimiento Integralista Brasileño (Brasilien), Partido por la Libertad (Österreich)… und weitere Organisationen, die bisher noch keine politische Kraft in ihren Ländern darstellen und nun eine gemeinsame Strategie suchen wollen.

Juan Gelman findet sein Enkelkind

Am 31. März konnte sich Juan Gelman mit seiner 23-jährigen Enkeltochter treffen – zum ersten Mal in seinem Leben. Bei einem Treffen mit Jorge Batlle, dem seit Anfang März amtierenden neuen Präsidenten Uruguays, hatte er endlich erfahren, dass seine Enkeltochter am Leben ist und von einem uruguayischen Polizeioffizier „adoptiert“ wurde. Die Studentin lebt heute, nach dem Tod des Adoptivvaters 1996, zusammen mit ihrer Adoptivmutter in Montevideo und möchte dort bleiben. Ihre Identität wurde nicht bekanntgegeben, um ihr ein ungestörtes Weiterleben zu ermöglichen. Ein genetischer Test, dem die junge Frau schon zugestimmt hat, soll den letzten Zweifel an ihrer wahren Identität beseitigen. Ihre leibliche Mutter, María Claudia García Irureta Goyena de Gelman, die Schwiegertochter Gelmans, war im Herbst 1976 von Buenos Aires, wo sie im berüchtigten Folterzentrum „Automotores Orletti“ gefangen gehalten wurde, nach Montevideo verschleppt worden. Dort wurde sie ins Militärhospital eingeliefert, wo sie ihr Kind zur Welt brachte. Was danach mit ihr geschehen ist, ist bislang ungeklärt. Bekannt ist lediglich, dass sie von zwei Militärs aus dem Gebäude gebracht wurde und einer von beiden sagte: „Manchmal muss man unangenehme Dinge erledigen“. Juan Gelman nimmt deswegen an, dass seine Schwiegertochter ermordet worden ist – genauso wie sein Sohn, dessen Leiche vor mehreren Jahren gefunden wurde.
Der Pressekonferenz am 31. März, bei der Jorge Batlle und Juan Gelman gemeinsam die Nachricht verkündeten, ging ein langes Gespräch zwischen den beiden voraus – ein Novum in der 15-jährigen Demokratie in Uruguay. Kein Präsident vorher war bereit, einen Angehörigen von „Verschwundenen“ offiziell zu empfangen. Der Colorado Jorge Batlle, der im November 1999 nur knapp in der Stichwahl gegen Tabaré Vázquez, den Kandidaten des Linksbündnisses Frente Amplio, gewinnen konnte, hat erstmals die Verantwortung des Staates für die Verbrechen während der Diktatur von 1973 bis 1985 offiziell anerkannt. Er kündigte an, die Verschwundenen für tot zu erklären, die Familienangehörigen zu entschädigen und im Namen des Staates um Vergebung zu bitten.
Für Juan Gelman, der sich niemals mit dem staatlichen Schweigen abgefunden hat, ist die Suche nach seinen Angehörigen aber noch nicht zu Ende: Er will auch Auskunft über das Schicksal seiner in Uruguay „verschwundenen“ Schwiegertochter.

KASTEN:
70 Jahre Juan Gelman

Der argentinische Lyriker Juan Gelman wurde 1930 in Buenos Aires als Sohn eingewanderter ukrainischer Juden geboren. Von Kind auf mit politischen Fragen in Berührung gekommen – vor allem durch seinen sozialrevolutionären Vater, der 1928 der Sowjetunion desillusioniert den Rücken gekehrt hatte, und durch die Nachrichten vom Spanischen Bürgerkrieg, engagierte sich Gelman schon frühzeitig in linken Organisationen. Zunächst ging er zu den argentinischen Kommunisten; nachdem ihm dort der kubanische Einfluss zu groß wurde, entschied er sich für den bewaffneten Kampf der linksperonistischen Montoneros. Vor dem Terror der paramilitärischen Triple A (Alianza Anticomunista Argentina), auf deren Todeslisten er stand, floh Gelman 1975 ins europäische Exil zunächst nach Rom; in den folgenden Jahren lebte er in der Schweiz, in Frankreich und Spanien. So entkam er dem Schicksal seiner Dichterkollegen Rodolfo Walsh und Haroldo Conti, die von den argentinischen Militärs ermordet wurden. 1979 sagte er sich von den Montoneros los. Als 1983 die Militärjunta die Macht an den zivilen Präsidenten Raúl Alfonsín abgab, blieb Gelman von der Amnestie ausgenommen, die ansonsten für fast alle politisch Aktiven – Generäle wie Guerilleros – galt. Erst 1989 durfte er wieder nach Argentinien einreisen. Seit 1990 lebt Juan Gelman in Mexiko-Stadt, er nimmt jedoch am politischen Geschehen in Argentinien regen Anteil. Vor allem die Straflosigkeit der Diktaturverbrechen erregt immer wieder seine scharfe Kritik.
1997 ist Juan Gelman mit dem altehrwürdigen argentinischen Nationalpreis für Dichtung ausgezeichnet worden. Obwohl er sich in seiner Dankesrede dagegen wehrte, über den Umweg der literarischen Anerkennung auch politisch vereinnahmt zu werden, konnte er sich über die Würdigung seines Lebenswerkes doch freuen. Ohne Zweifel gehört Gelman zu den wichtigsten lateinamerikanischen Dichtern unserer Zeit, seine Entdeckung auf Deutsch steht allerdings noch aus. Mit Gedichtbänden wie Violín y otras cuestiones (1956; Violine und andere Angelegenheiten), Gotán (1962) oder Cólera Buey (1971; Ochsenwut) schuf er sich eine dichterische Sprache, mit der er immer wieder soziale oder auch politische Themen behandelt, wobei Gelman jedoch auf kämpferische, im engeren Sinne engagierte Gedichte konsequent verzichtet. Charakteristisch für seine Texte ist der expressive Umgang mit der Sprache: er schafft Bedeutung, indem er verschiedene Worte miteinander kontrastiert, sie bisweilen konfrontiert. Anders als zum Beispiel Pablo Neruda, den Gelman gekannt und sehr bewundert hat, der sich der Bedeutung seiner Worte von vornherein sicher ist und sie zu einem großen Epos aneinander fügt, sind Gelmans Verse durch Perspektivwechsel, durch Um- und Neudeutungen und durch innere Dialoge gekennzeichnet.

Besuch beim Zahnarzt

Es scheint merkwürdig, immer wenn Präsident Luis González Macchi außer Landes ist, kommt es zu einschneidenden Ereignissen, vielleicht auch gerade deshalb. Im Dezember ging es um den Ex-General Lino Oviedo. Dieser hatte nach den Ereignissen um die Ermordung des Vizepräsidenten Luis María Argaña und den nachfolgenden Protesten der Bevölkerung im Februar/März vergangenen Jahres (siehe LN 297/305) zusammen mit dem damaligen Präsidenten Cubas Grau fluchtartig das Land verlassen und bekam von seinen guten Bekannten Menem politisches Asyl in Argentinien. Oviedo wird die geistige Urheberschaft am Attentat auf den Vizepräsidenten nachgesagt. Außerdem wurde die umstrittene Begnadigung seiner zehnjährigen Haftstrafe für einen Putschversuch von 1996 wieder aufgehoben. Das monatelange Tauziehen um seine Auslieferung hatte zu einer diplomatischen Verschnupfung zwischen beiden Nachbarstaaten geführt. Ohnmächtig über die erfolglosen Auslieferungsversuche trat sogar der damalige Außenminister Paraguays zurück. Argentinien sah sich dann wenigstens doch noch genötigt, Oviedo ins Abseits zu schieben und seinen Exilort von Buenos Aires nach Feuerland zu verlegen. Selbst seinem Freund Menem war Oviedo politisch doch etwas zu aktiv gewesen. Bereits während des argentinischen Präsidentschaftswahlkampfes hatte der Kandidat de la Rua seine Auslieferung nach Paraguay im Falle eines Wahlsieges angekündigt. Dann erfolgte ein Szenarium wie in einem schlechten Agentenfilm.

Oviedo hat Zahnschmerzen

Oviedo bat die Regierung Menem seinen Zahnarzt in Buenos Aires besuchen zu dürfen, die Erlaubnis erhielt er auch promt, obwohl es auch in Feuerland nicht gerade wenige Zahnärzte gibt. In Buenos Aires entkam er seinen Bewachern wie es die zuständigen Behörden formulierten. Zuletzt wurde er auf dem Flughafen Don Torcuato gesehen. Über sein Reiseziel wurde viel spekuliert, Brasilien, Uruguay – seine Anhänger bevorzugten schon immer die Variante, dass er heimlich nach Paraguay zurückgekehrt sei und es sich im Departament San Pedro gemütlich gemacht habe. Dies bestätigte auch der Grundbesitzer Miguel Angel Zelada gegenüber der argentinischen Zeitschrift Clarín und gab an, dass Oviedo auf einer seiner Besitzungen lebe und auf Garantieerklärungen des Obersten Gerichtshofes warte. Die Ehefrau Oviedos stützte diese Version.

Oviedo meldet sich aus Paraguay

Von offizieller argentinischer Seite hieß es jedoch, Oviedo halte sich im argentinischen Corrientes auf, der genaue Aufenthaltsort sei aber nicht zu ermitteln. Schließlich meldete sich Oviedo selbst beim Sender CBS in Miami und erklärte, dass er sich in Paraguay aufhalte. Er werde der nächste Präsident Paraguays sein, weil die gegenwärtige Regierung nicht die Verfassung einhalte und keine Wahlen ausrufe, verkündete er weiter. Da Präsident González Macchi im Ausland weilte, kasernierte sein Vertreter vorsichtshalber die Streitkräfte, weil er einen Putschversuch der Oviedoanhänger befürchtete.

Unsicheres Militär

Die Positionen der Streitkräfte sind unklar. Während der Amtszeit von Cubas Grau, der nur als Strohmann von Oviedo galt, waren Anhänger Oviedos in alle Schlüsselpositionen gesetzt worden. Mit der Flucht der beiden ins Ausland, setzte eine erneute Säuberungswelle ein, wie schon nach dem Putschversuch von Oviedo 1996. Doch dies genügte dem Präsidenten González Macchi nicht. Mehrfach nahm er als Oberkommandierender der Streitkräfte Umstrukturierungen und Zwangsversetzungen in den Ruhestand vor. Doch nach wie vor wird vermutet, dass der charismatische Ex-General zahlreiche Sympathisanten unter den Streitkräften besitzt, die den Zeiten der Diktatur nachtrauern. Viele Militärs kommen noch nicht mit ihrer Rolle in einer Demokratie zurecht. Andererseits gab es auch Gerüchte um einen Putschversuch von jüngeren Militärs, die González Macchi absetzen wollen um Neuwahlen auszurufen.

Zweifelhafte Rechtsgrundlage der Regierung

Präsident González Macchi begründet sein Amt in der Tat auf einer umstrittenen Rechtsgrundlage. Mit der Ermordung des Vizepräsidenten und der Flucht des damaligen Präsidenten Cubas Grau nach Brasilien wurde laut Verfassung der Senatspräsident zum Staatsoberhaupt. Bis dahin ist die Verfassung klar. Es sollen zwar Neuwahlen erfolgen, unklar bleibt jedoch ob für alle Ämter oder nur für das des Vizepräsidenten oder ob gar der dann gewählte Vizepräsident als Staatsoberhaupt nachrücken soll. Über solch ungewöhnliche Konstellationen hatte die damalige Verfassungsgebende Versammlung nicht nachgedacht. González Macchi denkt jedoch nicht daran sein Amt vor Ablauf der regulären Amtszeit aufzugeben. Der Termin für die Wahl eines Vizepräsidenten wurde mehrfach verschoben. Diese soll nun am 13. August stattfinden.

Maß voll bei den Liberalen

Der Anspruch auf Legitimität der Regierung González Macchi hat sich mit dem Ausscheiden der Liberalen (Partido Liberal Radical Auténtico) aus der Regierung weiter verringert. Nach der Flucht von Oviedo und Cubas Grau hatte sich eine Regierung der Nationalen Einheit gebildet, der neben den eigentlich regierenden Colorados auch die beiden stärksten Oppositionsparteien, die Liberalen und der Partido Encuentro Nacional, angehörten. Die Liberalen waren bereits seit längerem unzufrieden mit dem Regierungsstil des Präsidenten. Ihre beiden Minister hatten wenig erreicht. Sie hatten selbst die Partei in zwei Flügel gespalten, die der Präsident fleißig gegeneinander ausspielte. Als der Präsident dann noch sein beim Amtsantritt gemachtes Versprechen, das Vizepräsidentenamt den Liberalen zu überlassen, zurückzog, war das Maß voll. Die Liberalen traten aus der Regierung aus.
Der sozialdemokratisch orientierte Encuentro Nacional hält noch an der Koalition fest, aber auch Parteigründer, Unternehmer und derzeitiger Industrieminister Caballero Vargas zeigt sich zunehmend enttäuscht von der Erfolglosigkeit und Schwäche der Regierung González Macchi.
Neuste Umfragen der paraguayischen Tageszeitung ABC-Color von Ende Februar zeigen, dass 51 Prozent der Bevölkerung mittlerweile den Präsidenten González Macchi als Usurpatoren ansehen und über 58 Prozent unzufrieden oder sehr unzufrieden mit seiner Art der Amtsführung sind. Mit einem gewählten Vizepräsidenten wird sein Rücktritt immer wahrscheinlicher.

Coloradopartei mit Stroessnernostalgie

In der Coloradopartei bestehen weiterhin die drei großen Fraktionen. Die oviedistas haben politisch überlebt und betreiben einen Psychokrieg gegen den derzeitigen Präsidenten. Ihre Erzfeinde sind die argañistas, benannt nach dem ermordeten Vizepräsidenten. Dessen Söhne führen jetzt die Fraktion an. Nelson Argaña als Verteidigungsminister und Félix Argaña als aussichtsreichster Kandidat auf das Vizepräsidentenamt (er führt bei parteiinternen Umfragen mit 33 Prozent vor Enrique Riera mit 27 Prozent) sind hier die Wortführer. Die Brüder Argaña waren es auch, die auf die Ergreifung von Oviedo ein Kopfgeld von 100.000 US-Dollar ausgesetzt haben. Die dritte Fraktion die wasmosistas, eine Fraktion des ehemaligen Präsidenten Juan Carlos Wasmosy, spielt derzeit keine herausragende Rolle mehr. Als beunruhigend wird vor allem angesehen, dass die argañistas offen Positionen wie zu Zeiten der Stroessnerdiktatur vertreten und Vetternwirtschaft, Korruption sowie den Schmuggel im Lande eher fördern als bekämpfen. Der 86-jährige Altdiktator Stroessner hat sich kürzlich im brasilianischen Exil in einem Interview selbst zu Wort gemeldet, zeigte sich sehr gut informiert über die Lage im Lande und kündigte seine baldige Rückkehr an, ohne freilich einen genauen Termin zu nennen. Ähnlich wie in Chile könnte dieses Thema auch in Paraguay nochmals zu einer großen politischen Zerreißprobe werden.

Wirtschaftliche Talfahrt ungebremst

Neben den politischen Problemen steht Paraguay wirtschaftlich am Rande des Ruins, alle Wirtschaftsdaten sind rückläufig, die Exporte sind allein im letzten Jahr um ein Drittel gesunken. Die letzten Arbeitslosenzahlen liegen zwischen 50 und 55 Prozent. Massive Landbesetzungen von landlosen Bauern stehen an der Tagesordnung, um deren nacktes Überleben zu sichern. Nach anfänglichen Repressalien lenkte die Regierung hier zumindest ein und nahm die gesetzlich vorgeschriebenen Enteignungen von ungenutztem Land vor. Aber bisher war alles nur ein bescheidenes Reagieren, Konzepte und Lösungsansätze fehlen völlig. Der IWF hat für Paraguay einen Krisenplan vorgelegt, die Härten für die Bevölkerung dürften damit noch eher zunehmen.

“Es wird schwer sein, uns zu ignorieren“

Wie interpretieren Sie die Ergebnisse der beiden Wahlrunden von Ende letzten Jahres?

In Uruguay, wie auch im Rest Lateinamerikas, wurde das Stichwahlsystem eingeführt, um so den Sieg der Linken zu verhindern. Dasselbe ist vorher auch in Ecuador und Brasilien passiert. Trotz dieser Verfassungsänderung ist ein beeindruckendes Wachstum des Frente Amplio nicht zu leugnen. Er stellt jetzt die Mehrheit und ist zur wichtigsten politischen Kraft des Landes geworden. Wir haben in der ersten Runde einen großen Triumph erzielt, der uns eine starke Präsenz im Parlament ermöglicht. In der zweiten Runde hatten wir es dann mit einer Allianz der beiden traditionellen Parteien Colorados und Blancos aufzunehmen, die eine über 160 Jahre währende Geschichte haben und seitdem ununterbrochen an der Regierung waren. Dieses Bündnis aus Zweit- und Drittplaziertem der ersten Runde konnte uns dann in der Stichwahl mit einer Differenz von sieben Prozent schlagen.
Colorados und Blancos sind jetzt gezwungen, eine rechte Koalitionsregierung zu bilden, um so die parlamentarische Mehrheit aufrecht zu erhalten. Aber ich denke, daß das neoliberale Projekt in Uruguay in Frage gestellt worden ist. Das Land ist nicht mehr das, was es einmal war. Das wichtigste ist, daß wir einen überdurchschnittlichen Stimmenzuwachs im Landesinneren verzeichnen konnten, in Gegenden, wo wir vorher praktisch nicht existierten.
Es war aber ein sehr ungleicher Kampf, besonders wegen der ökonomischen Voraussetzungen. Der Einfluß der Regierung auf die Presse ist sehr groß, besonders während der Wahlkampagne wurde das deutlich. Unsere Medienpräsenz war in keiner Weise proportional zu unserer politischen Bedeutung. Trotz alledem kann man sagen, daß sich das politische Panorama radikal verändert hat. Es wird schwer sein, uns zu ignorieren.

Welche Fehler hat der Frente in der Wahlkampagne begangen?

Es wurden einige taktische Fehler gemacht, besonders der, vor der zweiten Runde nicht auf die Mobilisierung der Basis zu setzen, die uns bis dahin immer große Erfolge „von unten“ ermöglicht hat. Wir haben uns auf die Schlacht über die Medien eingelassen, die wir aber nur verlieren konnten.

Wie sieht es jetzt, nach der Niederlage, innerhalb des EP-FA aus?

Wir haben die Niederlage verarbeitet und schauen jetzt nach vorne. Die nächste Herausforderung wartet schon im Mai 2000 auf uns. Dann werden in landesweiten Regionalwahlen die Regierungen der 19 Departamentos neu bestimmt und wir hoffen weitere Fortschritte machen zu können, besonders im „Interior“, den 18 Provinzen außerhalb Montevideos, wo Erfolge bis vor kurzem undenkbar waren. Wir haben eine intensive Kampagne vor uns und das wird auf kürzere Sicht unsere Hauptbeschäftigung sein.

Was für eine Opposition wird der Frente Amplio in den nächsten fünf Jahren ausüben?

Einer unserer Sprecher hat bereits eine konstruktive Opposition angekündigt. Das bedeutet in unserem Fall, Alternativen anzubieten. Es ist absehbar, daß die neoliberale Politik fortgesetzt wird. Deswegen wird es einen prinzipiellen Reibungspunkt geben, was die sozial-ökonomische Linie des Landes angeht. Das legt von vornherein fest, daß unser Standpunkt strikt oppositionell sein wird. Es wäre unverzeihlich, wenn wir nicht weiterhin mit Klarheit für unsere Alternativen eintreten würden.

Teilen Sie die Ansicht vieler, daß der Sieg des FA im Jahr 2004 schon so gut wie sicher ist?

Oh nein. In der Politik gibt es keine Sicherheiten.

Viele Analytiker sind der Ansicht, daß das spektakuläre Wachstum des MLN/Tupamaros innerhalb des FA hauptsächlich Ihrer Präsenz in der
Kampagne zu verdanken ist. Was denken Sie?

Ich denke der Grund war vielmehr unser Richtungswechsel. Wir haben uns mehr unserer historischen Linie angenähert, die immer auf die Konstruktion von Alternativen ausgerichtet war. Das bedeutet eine weniger ideologische Opposition. Die Ideologie drückt sich durch das aus, was in der Realität vertreten wird. Die ideologische Debatte auf intellektuellem Niveau beschäftigt uns nicht. Uns beschäftigt vielmehr das, was der normale Bürger auf der Straße auch nachvollziehen kann.

Ein führender Colorado meinte vor kurzem, daß Sie der Politiker des Frente wären, der die beste Marketingstrategie hätte. Was ist Ihre Meinung dazu?

Marketing ist ein Wort, das von denen erfunden wurde. Wir vom MLN sind sehr darauf bedacht, unsere Persönlichkeit und unsere Kultur zu bewahren. Wahrscheinlich ist es das, was er unter Marketing versteht. In der Politik ist es sehr verbreitet, sich zu verstellen, sich zu verkleiden. Unseren wenig förmlichen Stil ist man in der Politik nicht gewohnt und er stellt einen Bruch mit den Normen dar.

Was führte eine ehemals militante Bewegung wie die Tupamaros dazu, heute Teil des parlamentarischen Systems zu sein?

Die historische Notwendigkeit. Jede andere Entscheidung hätte uns unter den spezifischen Umständen in Uruguay ins politische Abseits befördert. Wir hätten den Zug verpaßt, hätten wir uns nicht diesen Umständen angepaßt, denn unser Volk, das eine lange und aufreibende Diktatur hinter sich hat, hätte uns nicht verstanden. Wir wären damit von der Bevölkerung isoliert worden. Wir vertreten weiterhin eine revolutionäre Vision, auch innerhalb des Parlaments. Die Frage ist nicht, wo du kämpfst, sondern wofür. Das bedeutet, sich in das Feld des Gegners zu begeben, seine eigenen Waffen zu verwenden, sich ihm aber trotzdem nicht anzupassen.

Wurde diese Entscheidung von allen Mitgliedern der Bewegung getragen?

Die meisten haben es verstanden. Es hat sie einige Zeit gekostet, zehn Jahre.

Wie kam es zu Ihrer Entscheidung, dem MLN beizutreten?

Es gab eine Zeit, da war ich jung. Ich gehörte einer Generation an, die erkannte, daß das Land große Veränderungen durchmachte. Uruguay war in den ersten 40, 50 Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts als die Schweiz Amerikas bekannt. Es war, dank eines relativen ökonomischen Wohlstandes, ein ziemlich liberales Land, mit demselben Pro-Kopf-Einkommen wie Frankreich. Wir hatten den zehnthöchsten Lebensstandard der Welt. Es handelte sich um ein fortschrittliches Land, zumindest dem Anschein nach, mit einer großen Investition in die Bildung etc. Das unterschied uns vom Rest Lateinamerikas. Die Krise nach dem 2. Weltkrieg brachte uns der lateinamerikanischen Realität etwas näher. Die Regeln des Austauschs im Weltmarkt änderten sich. Wir waren gezwungen, unsere Rohstoffe billig zu verkaufen und zur selben Zeit zu hohen Preisen zu importieren. Die daraus resultierende Wirtschaftskrise beendete den sozialdemokratischen Staat. Die Regierungen wurden von mal zu mal autoritärer. Es gab damals ziemlich viele, die wie ich die Diktatur kommen sahen, obwohl wir weder wußten wann noch wie. Das war in der Zeit der kubanischen Revolution, die auf die progressive Jugend dieser Jahre einen bedeutenden Einfluß hatte. Wir fingen angesichts der drohenden Diktatur an, kleine bewaffnete Gruppen zu bilden, die die Funktion hatten, die traditionellen Formen des Volkswiderstandes, wie die Gewerkschaften, zu unterstützen, nicht etwa abzulösen. Dieser Prozeß führte letztendlich zur Gründung des MLN/Tupamaros. Wir hatten verschiedene Hintergründe, gehörten unterschiedlichen Parteien an, aber die Bildung einer solchen Organisation erforderte die Einführung einer gewissen Disziplin. Wir sind also eigentlich nie in die Bewegung eingetreten, wir haben sie vielmehr gegründet.

Können Sie einen Überblick über die militärische Kampagne der Tupamaros geben?

Es liegt da ein Irrtum vor, der von vielen begangen wird, die unsere Geschichte von außen betrachten. Anfangs waren wir keine Guerilla, sondern eine bewaffnete politische Bewegung. Das Leben des Menschen hat einen großen Wert in Uruguay. Unsere Aktionen waren also vor allen Dingen öffentliche Anklagen mit militärischem Charakter. Wir versuchten Handlungen zu vermeiden, die den Beigeschmack von Grausamkeit hätten haben können. Nachdem wir uns dann mit einer wachsenden Repression konfrontiert sahen, mußten wir natürlich harte Antworten geben. Ein Krieg entwickelt sich immer über eine wechselseitige Beziehung. Wir hatten mit einer Menge von Problemen zu kämpfen. Die Botschaft der kubanischen Revolution war, daß ein Triumph nur über eine „Landguerilla“ zu erreichen war, eine Strategie, die durch die natürlichen Voraussetzungen in Uruguay nicht umzusetzen war. Wir hatten also hier eine „Stadtguerilla“ aufzubauen, was alles andere als einfach war. Wir hatten gelernt, daß im von Nazi-Deutschland besetzten Europa auch ein jüdischer Widerstand innerhalb der Städte existiert hatte. Wir studierten auch die Erfahrungen, die im Algerien-Krieg und im Befreiungskampf in Zypern gemacht wurden. Aus all diesen historischen Ereignissen zogen wir unsere Schlüsse und wendeten das Gelernte in der Formierung unserer Organisation an, dem MLN/Tupamaros.

Wie reagierte das uruguayische Volk auf die Aktionen der Tupamaros?

Wir hatten natürlich eine Menge gegen uns. Logischerweise radikalisierte sich die politische Szene. Aber wir konnten einen Teil der Gesellschaft auf unsere Seite bringen, was es uns erlaubte, nach der militärischen Niederlage im Jahr 72 politisch weiter zu existieren, natürlich erst als das Jahrzehnt der Diktatur beendet war.

Wie kam es zu Ihrer Festnahme?

Ich wurde dreimal festgenommen. Zweimal konnte ich ausbrechen. Während einer Festnahme wurde ich angeschossen. Es war eine schwere Verletzung und ich konnte nur mit viel Glück in einem Militärhospital gerettet werden.

Wie erlebten Sie die Zeit im Gefängnis?

Ich war dort viele Jahre. Sie hatten mich in Einzelhaft, und ich wurde alle fünf, sechs Monate in eine andere Kaserne transportiert. Es waren harte Jahre.

Haben Sie es jemals bereut, diesen Weg gewählt zu haben?

Ich habe keine Zeit nach hinten zu schauen. Sicherlich habe ich viele Fehler begangen. Unsere Fehler waren kein Produkt der Böswilligkeit. Die Geschichte der Linken war es immer, mit jeder Niederlage Fortschritte zu machen. Nur aus der Niederlage kann man lernen. Die Siege betäuben.

Tragen Sie noch Haß in sich?

Dafür hab ich keine Zeit. Der Haß ist, genauso wie die Liebe, gefährlich, man verliert die Objektivität. Man kann Wut haben, aber Haß ist kein gutes Motiv, um zu kämpfen.

Wird das im Jahr 89 erlassene Amnestiegesetz, welches den Militärs völlige Straffreiheit garantiert, Konsequenzen haben, vergleichbar mit den Auseinandersetzungen, die derzeit in Chile zu beobachten sind?

Das sind ungelöste Probleme in Uruguay. Es wurde ein Plebiszit abgehalten, in dem das Volk, aus Angst vor einer neuen Diktatur, für die Amnestie gestimmt hat. Das ist eine tiefgreifende Entscheidung, die respektiert werden muß. Aber ein anderes Thema sind die Verschwundenen, deren Schicksal bis heute nicht aufgeklärt wurde. Das Wissen über unsere eigene Geschichte ist eine offene Rechnung. Man muß den Kampf aufrecht erhalten.

Was ist Ihre Meinung zum Fall Pinochet?

Pinochet hätte man in Chile den Prozeß machen müssen, das chilenische Volk hätte über ihn richten müssen. Einerseits ist es befriedigend zu wissen, daß es ihm an den Kragen geht. Andererseits bin ich aber nicht bereit, einem internationalen Tribunal diese Vollmacht auszusprechen. Das ist prinzipiell sehr gefährlich. Es bedeutet nämlich, daß die reicheren Länder sich das Recht herausnehmen können, über die ärmeren zu richten. Pinochet wünsche ich alles Übel der Welt. Aber so lange es keine gerechte Justiz auf dieser Welt gibt, wird diese immer den Stärkeren bevorzugen.

Hauptberuf: Blumenzüchter

Es ist sehr langweilig“, ist ein nicht untypisches Statement von José „Pepe“ Mujica über das Buch des Schriftstellers und Journalisten Miguel Angel Campodónico, das Mitte 1999 in Montevideo veröffentlicht wurde. „Mujica“, so der persönliche und zugleich programmatische Titel der „Biographie“ über den Mitgründer der Tupamaros, den Ex-Guerillero, der im Hauptberuf Blumenzüchter und im Nebenberuf Parlamentsabgeordneter und inzwischen Senator ist, wurde zum Bestseller des Jahres in Uruguay. Es ist ein Buch über den Menschen Pepe Mujica, einen Menschen, der dort zum Phänomen, heute von Freund und Feind gleichermaßen anerkannt, geworden ist.
Wer heute José „Pepe“ Mujica sieht, wie er mit seiner Lebensgefährtin Lucia Topolansky auf einem klapprigen Moped durch die Stadt fährt, dem fällt es schwer, sich vorzustellen, dass der jetzige Senator ein Ex-Guerillero ist, der an verschiedenen Anschlägen der Tupamaros in den 60er und 70er Jahren teilgenommen hat, der durch die Kloaken von Montevideo aus dem Gefängnis flüchtete, der lebensgefährlich verletzt wurde, der 13 Jahre unter unmenschlichen Bedingungen in den Kerkern der Militärdiktatur verbrachte und in der Isolationshaft einer brutalen Folter ausgesetzt war.
„Pepe“ Mujica, der sich selbst als „einen Klumpen Erde mit Füßen dran“ bezeichnet, erzählt Geschichten seines Lebens und über sein Land. Er beschreibt die Zeit der politischen Umbrüche in Uruguay am Ende der 50er Jahre, erzählt von der Entstehung der Tupamaros, reflektiert über die kubanische Revolution und das sowjetische Regime, spricht über das Leben in der Illegalität, über Erfolge und Fehler der Stadtguerilla und macht sich seine Gedanken über die Welt, in der wir leben. Der Autor Miguel Angel Campodónico liefert für diese Geschichten den Rahmen, in dem er in jeweils kurzen Einführungen die nötigen Informationen gibt, um sie zu verstehen und den Faden weiterzuspinnen.
Kaum eine revolutionäre Bewegung Lateinamerikas hatte soviel Rückhalt in der Bevölkerung wie die Stadtguerilla der Tupamaros. Der Name Tupamaros, geht zurück auf Tupac Amarú, den Anführer der ersten großen Indio-Rebellion im peruanischen Hochland Anfang des 18. Jahrhunderts. Er wurde gewählt, weil die Gründer sich Anfang der 60er Jahre nicht, wie so viele andere Bewegungen auch, proletarisch, sozialistisch, oder revolutionär nennen wollten.
„Die Füße auf der Erde“, so der Titel des ersten Kapitels, beschreibt die Kindheit von Mujica, in der er schon seine Liebe zu den Blumen entdeckte. Noch heute züchtet er gemeinsam mit Lucia Topolansky, die ebenfalls 13 Jahre inhaftiert war, Blumen. „Blumen laufen nicht weg, wenn wir wegmüssen“, sagt er dazu im Dokumentarfilm von 1996 „Tupamaros“ von Rainer Hoffmann und Heidi Specogna, der auch in Deutschland zu sehen war.
Das Kapitel „Das Auftauchen der Tupamaros“ ist untertitelt mit „Von den Worten zu den Taten“. Darin schildert „Pepe” Mujica die Aktionen, mit denen die Bewegung große Sympathien im Volk erlangen konnte, wie Banküberfälle, nach denen die Beute in den Armenvierteln verteilt wurde. Er bekennt sich aber auch zum größten Fehler der Tupamaros, der zum Kippen der Stimmung führte: Der Ermordung eines einfachen Bauern, der zufällig den Zufluchtsort der Stadtguerilla entdeckt hatte. Erzählt wird auch über das alltägliche Leben der Guerilleros im Untergrund, nachdem viele gezwungen waren, sich in die Illegalität zurückzuziehen. „Liebe und Einsamkeit“ ist dieser Teil überschrieben.
Obwohl gerade die Beschreibung der politischen Verhältnisse in Uruguay, seit Ende der 50er Jahre, viel Detailkenntnis verlangt, sind es doch die persönlichen Eindrücke und Bewertungen von Mujica, die das Buch so spannend und auch lehrreich machen. Ein Buch, aus dem man etwas lernen kann?

Blumige Sprache

Der Ex-Guerillero verliert nie seine einzigartige „blumige“ Sprache und es gelingt ihm immer wieder mit farbenreichen Bildern auch ökonomische Zusammenhänge begreifbar zu machen.
Nur über die Zeit seiner Inhaftierung von 1973 bis 1985 verliert Mujica, wie so viele andere Gefangene der Militärdiktatur auch, wenig persönliche Worte. Vielleicht ist dazu auch schon in dem, 1990 auf Deutsch erschienenen, Buch „Wie Efeu an der Mauer – Erinnerungen aus den Kerkern der Diktatur“ von Mauricio Rosencof und Eleuterio Fernández Huidobro das Wichtigste gesagt. Huidobro, zu Gründungszeiten jüngstes Mitglied der Tupamaros und heute ebenfalls als Senator für den Frente Amplio im uruguayischen Parlament, wird übrigens als „Alter Ego“ immer wieder in den Begleittexten von Campodónico bemüht, wenn ein zusätzlicher Zeitzeuge nötig ist, um das Erzählte zu verstehen.

Uruguay bleibt in Familienbesitz

Lorenzo Batlle, der Urgroßvater des neuen Staatspräsidenten, regierte das Land von 1868 bis 1872, José Batlle y Ordóñez, sein Großonkel, prägte die Entwicklung Uruguays zwischen 1903 und 1930, und sein Vater Luis Batlle Berres bestimmte die Geschicke des Staates zwischen 1946 und 1959. Mit einem Batlle begann das letzte Jahrhundert in Uruguay, mit einem Batlle wird auch das neue beginnen. Aber: Im neuen Uruguay gibt es nur noch zwei Parteien, die Konservativen und die Progressiven; es gibt keine Farben mehr in der Politik, ab jetzt heißt es Idee gegen Idee. Das alte Regime hat sich gerade noch einmal ins neue Jahrtausend herüber gerettet. Bei der Stichwahl zwischen Jorge Batlle, dem gemeinsamen Kandidaten der beiden traditionellen Parteien Blancos und Colorados, und Tabaré Vázquez, dem Kandidaten des Linksbündnisses Encuentro Progresista-Frente Amplio (EP-FA), erreichte der 72jährige Batlle 51,6 Prozent und der 59jährige Vázquez 44,1 Prozent.
Die Reform der Verfassung von 1996 hat ihren Zweck erfüllt: Der Kandidat mit den meisten Stimmen, die jemals in der Geschichte Uruguays für einen Einzelbewerber abgegeben wurden, ist der Unterlegene. Heute kennen auch diejenigen in der Frente Amplio, die für die Reform votiert hatten, den Preis dieser Änderung: Fünf Jahre Neoliberalismus, fünf Jahre Kontinuität, und für viele heißt das: fünf weitere Jahre Stillstand.

Die Fehler des Frente Amplio

Daß der Kandidat der vereinigten Konservativen gewinnen konnte, lag sicher nicht an seinem Charisma oder an seinen Führungsqualitäten. Bis zuletzt konnte er das Image des ewigen Verlierers nicht abstreifen. Vielmehr war es auch die Unfähigkeit des Frente Amplio und seines Kandidaten, auf die Kampagne der „Colorancos“, wie der Schriftsteller Eduardo Galeano das neu geschmiedete Abwehrbündnis von Colorados und Blancos gegen die Linken nannte, angemessen und machtvoll zu reagieren.
Der massiven Schmutzkampagne in den letzten Tagen vor der Stichwahl hatte das Parteien- und Organisationsbündnis wenig entgegenzusetzen. Der Vorschlag von Vázquez, ein neues Steuersystem einzuführen, berührte den wundesten Punkt aller BürgerInnen: den eigenen Geldbeutel. In den akribisch geführten Tabellen des Frente wurde aufgelistet, daß im neuen Steuerkonzept 70 Prozent aller UruguayerInnen weniger Steuern zahlen sollten, 20 Prozent ebenso viel wie im derzeitigen System und nur zehn Prozent aller BürgerInnen mehr. Den Konservativen gelang es aber mit der massiven Unterstützung der Medien, vor allem durch den Aufkauf fast der gesamten Sendezeit in den staatlichen und privaten Fernsehkanälen, den WählerInnen zu suggerieren, daß erstens jeder zweite mehr Steuern zahlen müsse und daß zweitens das neue System des Frente Amplio das alte nicht ersetzen, sondern zusätzlich zum bestehenden eingeführt werden solle.
Das Linksbündnis vermochte es nicht, eine Strategie zu entwickeln, um auf die Unwahrheiten, Verdrehungen und Verfälschungen zu reagieren, die in den Tagen vor der Wahl von den Colorados verbreitet wurden. Es gab auch keine offensive Kampagne des EP-FA, die Allianz von Colorados und Blancos für ihre Politik der letzten 15 Jahre zur Rechenschaft zu ziehen. Erst zwei Tage vor der Stichwahl tauchten Flugblätter auf, auf denen die Frage gestellt und aus Sicht des Linksbündnisses beantwortet wurde, „Und wer hat das Land bis jetzt regiert?“.
„Wir haben zehn Tage verloren zu reagieren. Und wir machten das mit Würde und Bescheidenheit, versuchten, auf alles Unseriöse seriös einzugehen. Daß wir versuchten, Antworten auf all die Unwahrheiten zu geben, das war unser Fehler“, so die bittere Analyse von Alberto Cid, Senator des Frente Amplio. „Wir haben unsere stärkste Karte nicht ausgespielt, die Mobilisierung unserer Anhänger. Das Paradoxe ist, daß die Colorados uns mit ihrer gewalttätigen und intoleranten Kampagne in die Ecke gedrängt haben und um ihnen keine offene Flanke zu bieten, haben wir keine Leute mobilisiert. Das alles war unnütz, denn sie haben mit der gleichen schmutzigen Kampagne weitergemacht, sie haben unsere Vorschläge verfälscht und ihre verschleiert“, so das Fazit von José „Pepe“ Mujica, für die MPP-MLN, die Partei der ehemaligen Tupamaros, ins Parlament gewählter Senator.
Trotz der Ankündigung einiger Führungspersönlichkeiten der Blancos, Tabaré Vázquez zu wählen, konnte das alte System noch einmal fast alle Stimmen der beiden traditionellen Parteien aus dem ersten Wahlgang Ende Oktober an sich binden. Es gelang dem am 31. Oktober noch so erfolgreichen Kandidaten der Linken nicht, der Mehrheit des Volkes deutlich zu machen, daß eine politische Kraft, die niemals in der Geschichte des Landes die Macht innehatte, in der Lage ist, die in den letzten 15 Jahren seit dem Ende der Militärdiktatur erreichte politische Stabilität zu bewahren. Der versprochene Wechsel, der „cambio a la uruguaya“, der die Hauptbotschaft im Wahlkampf des Frente Amplio war, war für die Mehrheit der traditionell konservativen WählerInnen im Land immer noch mehr Bedrohung und weniger Verheißung.

Trübe Aussichten

In beiden Lagern sind jetzt die Optimisten und die Pessimisten vertreten: Das Glas ist halbvoll oder halbleer. Im EP-FA sind es diejenigen, die immer wieder betonen, daß die wirklich historische Veränderung der politischen Landschaft schon Ende Oktober stattgefunden hat, als die vereinigte Linke 40 Prozent der Stimmen erreichte und damit 40 von 100 Abgeordneten und 12 von 30 Senatorenposten gewinnen konnte. Für wichtige Gesetzesänderungen, die einer Zwei-Drittel-Mehrheit bedürfen, ist die neue Koalitionsregierung auf die Stimmen des Frente Amplio angewiesen. Und da sind die anderen im Linksbündnis, die maßlos enttäuscht darüber sind, daß es nicht gereicht hat, um die Macht zu übernehmen.
Ähnlich im vereinigten Lager der Konservativen: Die Stimmung ist geteilt zwischen denjenigen, die glücklich darüber sind, daß ihr Kandidat endlich die Mehrheit der WählerInnen für sich gewinnen konnte, und anderen, denen es Angst macht, daß die Linken bei jeder Wahl näher dran sind, die Mehrheit der Stimmen zu gewinnen.
Die Stimmung in den Tagen nach der Wahl ist eher trübe, von Euphorie und Aufbruch keine Spur. „Wenn die Politiker nicht die Botschaft verstehen, die ihnen das Volk gegeben hat, dann sind wir auf einem schlechten Weg. Wenn sie denken, eine gute Regierung ist eine, die das schlechteste Wahlergebnis erreicht hat, das die Konservativen jemals hatten, dann haben sie absolut nichts verstanden. Es ist ein absurdes Argument, alles auf die Entwicklung in Brasilien zu schieben, auf die Abwertung der dortigen Währung und die damit verbundenen wirtschaftlichen Konsequenzen für das Land. Als die Dinge gut liefen, zwischen 1996 und 1998, war auch nicht die Entwicklung in Brasilien dafür verantwortlich, sondern damals selbstverständlich die eigene ökonomische Politik“, so ein Leitartikel in der konservativen Zeitschrift Búsqueda am 2. Dezember, nur wenige Tage nach der Wahl.
Für das Linksbündnis bleibt die Hoffnung auf die Regionalwahlen im Mai 2000 und auf die nächsten Nationalwahlen in fünf Jahren. Die Wahl in den 19 Departamentos könnte dazu führen, daß die Linke neben der Hauptstadt Montevideo, in der sie seit 1990 regiert, auch die Wahlen in den drei bevölkerungsreichsten Provinzen des Landes gewinnt. In beiden Wahlgängen im Oktober und November wurde sie dort stärkste politische Kraft. Und es gibt eine stabile und systematische Tendenz für die FA, die ihren Sieg bei den nächsten Präsidentschaftswahlen sehr wahrscheinlich macht, in der Stichwahl oder sogar schon im ersten Wahlgang.

Von Martinique nach Ravensbrück

Sidonie, geboren auf Martinique, lebt selbst noch keine zehn Jahre in Frankreich. Schon in ihrer Heimat arbeitete sie im Haushalt der Dubreuils. Als das jüdische Ehepaar in den dreißiger Jahren nach Frankreich zurückkehrt, geht sie mit, Madame hätte sie sowieso am liebsten gleich ganz adoptiert. Neben ihrer Arbeit im Haushalt macht sie eine Ausbildung als Krankenschwester. Aus einer kurzzeitigen Liaison mit Jean gehen ihre zwei Lieblinge hervor: Désiré und Nicaise. Wenn das Leben so weitergegangen wäre – mit einzelnen Rückschlägen vielleicht –, wäre aus ihr bestimmt eine fast weiße, fast echte Französin geworden. Seit der Razzia durch die SS im Dezember 1943, in deren Folge sie und ihre Kinder sich auf einem Lastwagen zum Abtransport wiederfinden, wird alles ganz anders. Sie wird (wieder) eine Schwarze, die genau darin ihre Stärke, ihren Halt, ihren Überlebenswillen findet.
Allein und einsam in der Masse, soweit man in dem enggedrängten Lagerleben überhaupt davon sprechen kann, findet Sidonie dadurch Kraft, daß ihre Gedanken zurückschweifen zu ihren Wurzeln, nach Guinea. Sie hält die Strapazen des Transports im Güterwaggon aus, indem sie sich in den tiefen Laderaum eines dunklen Sklavenschiffs vor 200 Jahren zurückversetzt. „Die Bahnhöfe der Verzweiflung heute (sind) die Häfen des Schreckens“ von gestern. Der „schwarze Holocaust“, den ihre Vorfahren überlebt haben, hilft ihr, an sich zu glauben, an ihre Unbeugsamkeit. Ihr genügen somit ein paar Sekunden, um den Gott zu erkennen, den sie braucht: Er ist schwarz, und sie nennt ihn Agenor.
Der Zug endet in Auschwitz, und das Leiden beginnt. Die Trennung von den Kindern, Hunger, Schikanen – das Leben wird zur Tortur. Aushalten kann man das Ganze als LeserIn nur dadurch, daß man analog zur Protagonistin die Rückblenden nach Martinique quasi herbeisehnt, genauso wie die Passagen, wo sie bei ihrem Gott Agenor Kraft zum Widerstehen schöpft. So habe ich einzelne Stellen schneller gelesen, um bei anderen wiederum länger zu verweilen. Dort, in Martinique, liegen nicht nur Sidonies Stärken, sondern auch die der Romanautorin Michèle Maillet. Die heute in Paris und Martinique lebende Schriftstellerin, Journalistin und Schauspielerin besitzt eine geradezu geniale Gabe, uns die Düfte, die Farben, die Träume und die Klänge der Antillen zu schildern, so daß wir danach die nüchternen Beschreibungen des beklemmenden Lagerlebens durchstehen können.
In Ravensbrück – wohin Sidonie von Auschwitz aus verschleppt wird – bekommen die LeserInnen über mehrere Seiten ein geradezu phantastisches kreolisches Menü aus Krabben, Fisch, verschiedenen Gemüsen, Desserts und Wein aufgetischt, um sodann abrupt wieder auf dem Boden der Tatsachen zu landen. „Es ist Sonntag, und ich habe furchtbaren Hunger. Draußen ist es minus dreißig Grad kalt.“
Die Verfolgung und Deportation von schwarzen Frauen und Männern durch die Nazis ist bislang nur unvollständig aufgearbeitet. Keiner weiß genau, wieviele Menschen davon betroffen waren – Schätzungen sprechen von 2 000 Personen –, nirgendwo wird bislang explizit an sie erinnert. Überlebende Zeitzeugen gibt es nur sehr wenige, eine systematische Forschung zu diesem Thema scheint schwierig. Vor diesem Hintergrund ist es erfreulich, daß sich Maillet nach langen, intensiven Recherchen und gut beraten von einigen Historikern darangesetzt hat, einen Roman über dieses Thema zu schreiben. Einzelne Namen, die darin vorkommen, basieren gleichwohl auf konkreten Personen. 1990 in Frankreich erschienen, kam die deutsche Erstausgabe bereits 1994 im Orlanda Frauenverlag heraus. Ende letzten Jahres erschien die Taschenbuchausgabe, der ebenfalls viele LeserInnen zu wünschen sind.
„Schwarzer Stern“ – so der Titel des Buches – weckte bei mir zuerst die Assoziation zum „Gelben Stern“. Aber angesichts der Tatsache, daß in den Lagern nur dreieckige „Winkel“ auf die Häftlingskleidung genäht wurden und die Farbe schwarz schon für sogenannte „Asoziale“ vergeben war, greift diese Erklärung ins Leere. Während für Sidonie die „Sonne ganz langsam auf der deutschen Erde erlischt“, spürt sie, daß ihr Stern weiter existiert. „Ich will an einem Abend großer Zärtlichkeit einschlafen, mit dem Gesicht zum lebendigen Meer.“

Michèle Maillet: Schwarzer Stern, Unionsverlag, Zürich 1999, 191 Seiten, 7,90 Euro.

KASTEN

Ein Dichter sucht sein Enkelkind

„Helfen Sie Juan Gelman, helfen Sie der Gerechtigkeit, helfen Sie den Toten, Gefolterten und Entführten, indem Sie den Lebenden helfen, die sie beklagen und suchen, helfen Sie sich selbst, helfen Sie Ihrem Gewissen, helfen Sie dem verschwundenen Enkelkind, das Sie nicht haben, aber durchaus haben könnten.“ (José Saramago, portugiesischer Literaturnobelpreisträger, an Julio María Sanguinetti, Präsident Uruguays)
Juan Gelman, einer der großen Dichter Argentiniens und Lateinamerikas, sucht sein Enkelkind. Im Rahmen der „Operation Cóndor“, bei der in den 70er Jahren die Militärdiktaturen in Chile, Argentinien und Uruguay zusammenarbeiteten, wurde Gelmans Sohn 1976 in Argentinien verhaftet, durch Genickschuß getötet und dann einbetoniert. Dessen hochschwangere Frau wurde nach Uruguay verschleppt und gilt seither als verschwunden. Durch intensive Nachforschungen erfuhr Juan Gelman, daß seine Schwiegertochter in der Haft ein Kind geboren habe. Dieses Kind müßte jetzt 23 Jahre alt sein. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde es der Mutter geraubt und an kinderlose Ehepaare aus Militärkreisen weitergegeben.
Gelman hat den uruguayischen Präsidenten Julio María Sanguinetti in einem Brief gebeten, sich persönlich für die Suche nach dem Kind einzusetzen. Der Präsident wäre nicht nur moralisch, sondern ist auch gesetzlich dazu verpflichtet: Die uruguayische Verfassung verlangt vom Staat und seinen Repräsentanten, Verbrechen wie das „Verschwindenlassen“ von Personen und den Kindesraub rückhaltlos aufzuklären. Sanguinetti hat sich bisher nur ausweichend geäußert. Wenn er sich bis zum Ende seiner Amtszeit als Präsident am 1. März 2000 nicht ernsthaft um eine Aufklärung bemüht, wird sein gewählter Nachfolger, Jorge Batlle, das Problem erben.
Mehr als 3.000 Schriftsteller und Intellektuelle aus Latein- und Nordamerika sowie Europa haben sich seither mit der Suche Gelmans solidarisiert und individuelle oder kollektive Briefe und Petitionen an den Regierungschef Uruguays geschrieben. Seit Dezember läuft in zahlreichen Ländern eine massive Kampagne an, die auch in Deutschland eine Menge UnterstützerInnen braucht. Der deutsche Übersetzer Juan Gelmans, Tobias Burghardt, sammelt bis zum 15. Januar 2000 Solidaritätserklärungen aller Art (Faxe, E-mails, Postkarten, Briefe, Unterschriftenlisten), um sie dann gesammelt dem uruguayischen Präsidenten zu übergeben.
Schickt Eure
Karten und Briefe an: Tobias Burghardt
Obere Waiblinger Str. 156
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Die Macht zum Greifen nah!

Mit 39,5 Prozent der Stimmen ist es dem linken Parteienbündnis Encuentro Progresista-Frente Amplio (EP-FA) bei den Nationalwahlen am 31. Oktober erstmals gelungen, stärkste Partei zu werden. Die regierenden Colorados erreichten 31,7 Prozent, während die zweite traditionelle Partei, die konservativen Blancos, mit 21,5 Prozent weit abgeschlagen auf dem dritten Platz landete und damit das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte erzielte. 92 Prozent der 2,4 Millionen Wahlberechtigten gingen zur Wahl. Auch für ein Land, in dem Wahlpflicht herrscht und Nichtwählen beispielsweise zu Schwierigkeiten bei der Bewerbung um eine Arbeitsstelle oder bei Aufnahme eines Kredites führt, ist diese Beteiligung beachtlich.
In den vier Wochen vom 31. Oktober, dem Tag des ersten Wahlgangs, bis zur Stichwahl, dem balotaje am letzten Sonntag im November, ist ein ganzes Volk in Analysen und Spekulationen vertieft. “Was glaubst du, wie es am 28. November ausgehen wird?” Jeder hält seine persönliche Umfrage ab und will sich anderen mitteilen, sich Sicherheit holen, das Gefühl der Hoffnung und seine Illusionen teilen. Unzählige Listen und Gruppen treffen sich und sezieren die Ergebnisse von der Hauptstadt bis hinein ins letzte kleine Dorf. Zahlen werden hin und her geschoben; wer koaliert mit wem, wie werden die Wähler der geschlagenen Blancos entscheiden?

Ex-Tupamaros im Senat

Die politische Landkarte des 3,2 Millionen Einwohner zählenden kleinen südamerikanischen Landes hat sich tatsächlich verändert, und das gleich mehrfach: Die starke Polarisierung zwischen der Hauptstadt und dem interior, wie das Landesinnere – also alles jenseits von Montevideo – etwas despektierlich genannt wird, hat sich relativiert. Die Linke konnte neben der Hauptstadt, die sie schon bei den Wahlen 1994 erobert hatte, auch drei ländliche Provinzen gewinnen. In vier weiteren Provinzen landete der EP-FA auf dem zweiten Platz. Ein zweiter Wandlungsprozeß ist in bezug auf die unterschiedlichen Strömungen innerhalb der FA zu verzeichnen. Die Linke im Bündnis, die Partei der ehemaligen Guerilla Tupamaros MPP-MLN (Movimiento de Participación Popular-Movimiento Liberación Nacional) hat ihren Stimmenanteil vervierfachen können und stellt jetzt fast 20 Prozent der FA-Abgeordneten. Darüber hinaus hat der Erfolg der Linken zu einer historisch neuen Situation geführt: In den Senat, die verfassungsgebende Kammer des Parlaments, wurden gleich zwei legendäre Führer der Tupamaros gewählt. Noch vor wenigen Jahren wäre dies undenkbar gewesen.
Über 27 Jahre Einzelhaft sind jetzt im Senat versammelt. Neben José „Pepe“ Mujica, der schon in der letzten Wahlperiode als Mitglied der MPP für die FA im Abgeordnetenhaus vertreten war, zieht auch Eleuterio Fernandez Huidobro, genannt El Ñato, in den Senat ein. So groß die politischen Unterschiede zwischen den beiden ehemaligen Tupamaros auch sind, sie hätten sich wohl beide in ihren kühnsten (Alp-)Träumen nicht ausgemalt, einmal zusammen als Vertreter der stärksten Fraktion im Senat zu sitzen, zusammen mit compañeros von der sozialistischen Partei und den Kommunisten, und noch dazu auch mit anderen, die während der Militärdiktatur von 1973 bis 1984 im gegnerischen Lager politisch eine Rolle gespielt haben.

Tabaré Vázquez gegen Jorge Batlle

In der Stichwahl am 28. November stehen sich mit Tabaré Vázquez vom EP-FA und Jorge Batlle von den Colorados zwei Politiker und zwei politische Projekte gegenüber, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Der 59-jährige Arzt Vázquez, ein international renommierter Krebsspezialist, regierte für die FA erfolgreich von 1990 bis 1995 die Hauptstadt Montevideo und unterlag bei den Präsidentschaftswahlen 1994 nur denkbar knapp dem jetzt scheidenden Präsidenten Julio Maria Sanguinetti von den Colorados. Während seiner Amtszeit in Montevideo erwirkte er deutlich sicht- und spürbare Veränderungen. So wurde die der Verwaltung der 1,3-Millionen-Stadt dezentralisiert, Mitbestimmungsrechte für die Bevölkerung eingeführt und ein gerechteres Steuersystem auf Landbesitz eingeführt.
Für viele dienen diese Erfahrungen aus Montevideo als Beleg dafür, daß sich nach einem möglichen Wahlsieg Ende November tatsächlich etwas ändern wird.
Tabaré Vázquez, der seine medizinische Praxis bisher nie hat ruhen lassen, gilt als politischer Quereinsteiger. Nach quälenden Richtungskämpfen innerhalb des Bündnisses in den letzten beiden Jahren und nach seinem klaren Sieg in den parteiinternen Vorwahlen im April gilt seine Autorität mittlerweile als gefestigt, und er wird von allen Strömungen innerhalb des FA, von den Kommunisten über die Christdemokraten bis hin zu abtrünnigen ehemaligen Colorados gleichermaßen respektiert.
„Ich will ein sensibler Präsident sein“, so sein Credo im Wahlkampf: „Wir werden keine sozialistische, sondern eine progressive Politik machen.”
Was darunter zu verstehen ist, steht im Wahlprogramm des EP-FA, das zwischen den mehr als 15 beteiligten Parteien und Organisationen drei Jahre lang diskutiert worden war und beinahe zum Auseinanderbrechen des Bündnisses geführt hatte. Vázquez will sich an dieses Programm halten wie die „Kirche an die Bibel“. Das Kernstück des Regierungsprogramms ist der Plan de Emergencia (Dringlichkeitsplan), mit dem die gravierenden sozialen Probleme bekämpft werden sollen: Über 700 000 Einwohner in den Städten Uruguays über 50 Prozent der Landbevölkerung leben in Armut. 500 000 Menschen sind arbeitslos oder unregelmässig beschäftigt. Die Verschuldung sowohl des Staates als auch der privaten Haushalte steigt immer mehr an, und die Exporte nach Brasilien, dem wichtigsten Handelspartner, sind im letzten Jahr um 50 Prozent zurückgegangen.
Vier Punkte stehen im Vordergrund: Ein Sozialeinkommen soll alleinerziehenden Müttern und Vätern sowie den Bewohnern der Armenviertel helfen. Zum zweiten soll es finanzielle Hilfen für die verschuldete Landbevölkerung geben. Ein Mindesteinkommen und verbesserter Kündigungsschutz stehen auf dem Programm, und schließlich sollen über Kooperativen und durch Selbsthilfe 100.000 Wohnungen entstehen.
Umgerechnet 300 Millionen US-Dollar soll all dieses kosten, eine Summe, die laut Programm durch die Bekämpfung von Klientelismus und Korruption und durch internationale Kredite aufgebracht werden soll.

Im fünften Anlauf: Jorge Batlle

Auf der anderen Seite steht mit Jorge Batlle ein Vertreter des alten Zweiparteiensystems zur Wahl. Der 72jährige Veteran will es im fünften Anlauf endlich schaffen, seinen berühmten Vorfahren, dem legendären Präsidenten José Batlle y Ordóñez, der als Vater des uruguayischen Sozialstaats gilt, und seinem Vater Luis Batlle Berres, der von 1947 bis 1951 regierte, ins Präsidentenamt zu folgen. Seit mehr als 40 Jahren ist Batlle schon Mitglied des Parlaments. Für ihn geht es bei der Stichwahl sowohl persönlich als auch politisch um alles: „Auf dem Spiel steht unser Lebensstil gegen den Marxismus“. Ökonomisch hat er sich kleine europäische Staaten wie Holland oder Finnland zum Vorbild genommen, der freie Markt ist für ihn die Garantie für Wohlstand und sinkende Arbeitslosigkeit.

Die Russen kommen!

Unerwartet aktuell war im Wahlkampf die ideologische Debatte, allerdings auf niedrigstem Niveau. So versuchte Präsident Sanguinetti immer wieder, mit der ganzen Autorität seines Amtes Tabaré Vázquez als von Moskau (!) fremdgesteuerten Marxisten zu bezeichen: „Wenn der FA gewinnt, laufen russische Schiffe in den Hafen von Montevideo ein und entführen unsere Kinder nach Kuba.“ Mit Drohungen dieser Art machte er sich allerdings eher lächerlich. Kaum jemand konnte oder wollte ihm in diesem Diskurs folgen, nicht einmal – wie die Wahlergebnisse im traditionell eher konservativen, teilweise sogar reaktionären interior zeigten – die Mehrheit der Bevölkerung außerhalb der Hauptstadt. Vázquez wußte sich dieser Diffamierungskampagne geschickt zu entziehen. Auf die Frage, ob er Marxist sei, antwortete er ganz staatsmännisch: „Ich bin wählbar!“

Das Schicksal der “Verschwundenen”

Wie die angekündigte „sensible Politik“ wirklich aussieht, wird sich daran zeigen, ob eine neue linksorientierte Regierung Themen wie den Umgang mit der Vergangenheit ernst nimmt.
Wenig sensibel verhielt sich hingegen Präsident Sanguinetti, als er kurz vor den Wahlen zu einem offenen Brief des portugiesischen Literaturnobelpreisträgers José Saramago schwieg. Es ging darin um das Schicksal des Enkelkindes des argentinischen Schriftstellers Juan Gelman. 1976 wurde die hochschwangere Schwiegertochter des bekannten Poeten, nachdem der Sohn Gelmans von den argentinischen Militärs in Buenos Aires ermordet worden war, nach Montevideo verschleppt und niemals mehr lebend gesehen. Vermutet wird, daß das Kind, wie in vielen anderen Fällen auch, in Gefangenschaft zur Welt kam und in Uruguay zur Adoption freigegeben wurde. Die Aufklärung dieses Falles und all der anderen, nicht mehr und nicht weniger forderte Saramago. Mehr als 2 000 Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler aus 20 Nationen haben sich dieser Forderung mittlerweile angeschlossen, darunter Adolfo Pérez Esquivel, Eduardo Galeano, Mario Benedetti, Dario Fo, Fito Páez, Chico Buarque und Manuel Vázquez Montalbán. Die öffentliche Diskussion über dieses Kapitel der jüngsten uruguayischen Geschichte, der Umgang mit den Menschenrechten, wird eine erste Bewährungsprobe für den zukünftigen Präsidenten sein, wie immer er auch heißen mag. Die Streitkräfte positionieren sich bereits. Gerade zwei Tage nach den Oktoberwahlen lud Generalstabschef Fernán Amado 40 Militärs zu sich ein, die beschuldigt werden, an Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur beteiligt gewesen zu sein. Seine Botschaft nach diesem „Familientreffen“ war: Das Thema Menschenrechte und Verschwundene in Uruguay ist abgeschlossen, wer auch immer Präsident der Republik wird.

Wie wählen die Blancos?

Das Werben und Buhlen um Koalitionspartner hat auf beiden Seiten längst begonnen. Die Bindung an Parteien ist schwächer geworden, und viele Uruguayer können sich vorstellen, den Kandidaten Vázquez zu wählen, haben allerdings gegenüber der Partei erhebliche Vorbehalte. Die Colorados um Batlle bieten sich den geschlagenen Blancos um Ex-Präsident Luis Alberto Lacalle wie sauer Bier an. Ein Teil der Partei um Juan Andrés Ramírez, den charismatischen parteiinternen Rivalen von Lacalle, will sich in der Opposition erneuern, und vielleicht kommt es sogar noch zu einer Wahlaussage von Ramírez zugunsten von Vázquez. Auf der anderen Seite schachert der größere Teil der Partei um Lacalle und seine in den Senat gewählte Ehefrau „Julita“ Pau, die ein Evita-Perón-Image zu pflegen versucht, jetzt schon um mögliche Posten in einer Koalitionsregierung. Die Parteispitze sprach bereits eine Wahlempfehlung zugunsten der Colorados aus.
Doch Beobachter sind skeptisch: Möglicherweise wählt ein Teil der stockkonservativen Traditions-Blancos die Linken, nur um nicht die seit über 140 Jahren verhaßten Erzrivalen von der Colorado-Partei an die Macht zu bringen. Zünglein an der Waage könnte dadurch der sozialdemokratische Nuevo Espacio mit seinem Stimmenanteil von etwa fünf Prozent werden, dessen Führer, der jugendliche Senator Rafael Michelini, sich für Vásquez ausgesprochen hat. Der reagiert erfreut: „Auch Sie sind Teil der vereinigten Linken“, umgarnte er den möglichen Partner. Wenn die Mehrheit dieser Kleinpartei sich für Vázquez entscheidet, ist schon fast die Hälfte der fehlenden Stimmen zur absoluten Mehrheit gewonnen. So könnte es erstmals in der Republik östlich des Flusses Uruguay, wie das Land offiziell heißt, zu einem wirklichen – demokratischen – Machtwechsel kommen.
Einen weiteren Unsicherheitsfaktor stellen die Auslands-Uruguayer dar. Sowohl aus ökonomischen als auch aus politischen Gründen leben im Ausland mehr Uruguayer als im Land selbst. Allein in Argentinien sind das fast 300 000 Menschen. Vor allem viele von denen, die während der Militärdiktatur ins politische Exil getrieben wurden, sind nicht mehr dauerhaft zurückgekehrt. Die große Mehrheit dieser Exil-Uruguayer sympathisiert mit dem Frente. Kein Wunder, daß die letzten Regierungen nie das Recht auf Briefwahl einführen mochten. Kommt auch nur ein Teil von ihnen am 28. November ins Land, um zu wählen, könnten diese Stimmen entscheidend sein. Je nach Anzahl der ungültigen Stimmen können 48 bis 51 Prozent zur Mehrheit reichen. Eine Regierungsübernahme durch die EP-FA befindet sich damit in Reichweite.

Keine Angst, liebe Wirtschaft!

Am 2. März 2000, dem Tag der Übergabe der Amtsgeschäfte an die neue Regierung, werde sich „wenn wir gewinnen, nicht alles ändern, außer in bezug auf zwei Themen: Erstens beim Kampf gegen die Korruption und zweitens beim Kampf gegen die zunehmende Armut“, so Vázquez am Tag nach dem ersten Wahlgang. Gleichzeitig richtet sich der Kandidat an die internationalen Geldgeber: „Die Finanzwelt kann beruhigt sein, wir haben einen absoluten Respekt vor den Regeln.“ Wer auch immer in der Nacht vom 28. auf den 29. November jubilieren kann, auf jeden Fall wird es sehr knapp werden. Wie gefestigt die Demokratie ist, wird sich erst daran zeigen, ob die unterlegene Seite das Ergebnis akzeptiert, seien es die Rechten mit ihren Verbündeten in Wirtschaft und Militärs oder die Linken mit den Massen, die sie auf die Straße zu bringen vermögen.

Agentur der Globalisierung

Unter dem Motto des Wiederaufbaus der Weltwirtschaft und der Förderung von Beschäftigung und Wirtschaftswachstum wurde 1944 auf der UN-Konferenz von Bretton Woods (USA) die Gründung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank beschlossen. Der IWF sollte die internationale Kooperation auf dem Gebiet der Währungspolitik gewährleisten und somit die Währungsstabilität und die Abwicklung von Finanztransaktionen sichern.
Zu diesem Zweck sollte bei Ländern mit kurzfristigen Zahlungsbilanzschwierigkeiten in Form von Krediten Überbrückungshilfe geleistet werden. Auf längerfristige Ziele orientierte sich hingegen die Schwesterorganisation Weltbank. Vergab sie in ihren Anfängen langfristige Kredite für den Wiederaufbau in Westeuropa, verlagerte sich ihr Aufgabengebiet ab den fünfziger Jahren auf die Durchsetzung westlicher Politik in den Staaten der Dritten Welt. Bei beiden Organisationen hängen die Stimmrechte von den Einzahlungen ab, das UN-Prinzip „ein Land, eine Stimme“ ist folglich außer Kraft gesetzt.

Souveräne USA

Die finanzpolitische Ebene um IWF und Weltbank wurde durch das „Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen“ (GATT) auf handelspolitischer Ebene ergänzt. Das GATT war am 30.10.1947 lediglich als Übergangslösung zu einer geplanten umfassenderen International Trade Organisation (ITO) verabschiedet worden. Die umfassende Havanna-Charta der ITO wurde jedoch nie verabschiedet. Sie hatte internationale Wettbewerbsregeln, Schutzklauseln im Investitionsbereich, eine Förderung der Dritten Welt und Arbeitsschutzrechte zum Inhalt. Dadurch sahen die USA ihre Souveränität bedroht und blockierten deshalb die Inkraftsetzung.
Realisiert wurde nur Teil IV der ITO-Charta, eben das GATT, das mit Beginn des Jahres 1948 wirksam wurde. Das GATT erhielt den Status eines multilateralen Abkommens mit einem Sekretariat, das in erster Linie die Umsetzung von Verträgen zu überwachen hatte.
Oberstes Ziel des GATT war die Handelsliberalisierung. Zu diesem Zweck sollten nicht-tarifäre Handelshemmnisse wie zum Beispiel Importbegrenzungen in Zölle, also tarifäre Handelshemmnisse, umgewandelt werden und diese dann sukzessiv gesenkt werden. In diesem Zusammenhang wurden zwischen 1947 und 1994 acht mehrjährige Verhandlungsrunden durchgeführt. Trotz der formalen grundsätzlichen Verpflichtung auf einen generellen Freihandel und der Regel „ein Land, eine Stimme“ entschied letztlich jeweils die Verhandlungsmacht über die Gestaltung der Abkommen.
Massive Zollsenkungen gab es daher nur auf jene Waren, die die Industrieländer unter sich tauschen (verarbeitete Industrieprodukte), und auf solche, die sie selber nicht produzieren können (Rohstoffe und tropische Produkte). Güter, bei denen die Entwicklungsländer konkurrenzfähig sind beziehungsweise sein könnten, wie Textilien, Bekleidung und verarbeitete Primärgüter wie etwa Stahl, wurden weiter mit starken Handelshemmnissen belegt – zum Beispiel durch mit der Verarbeitungsstufe ansteigende Zölle, die sogenannte Zolleskalation oder Importquoten.

Unsouveräne Dritte Welt

Mit der Gründung der UNCTAD (UN-Konferenz für Handel und Entwicklung) im Jahre 1965 versuchten die Entwicklungsländer ihre Position im GATT zu stärken und benutzten die UNCTAD als Plattform für gemeinsame Interessen, so zum Beispiel der Forderung nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung in den siebziger Jahren. Gewisse Erfolge wie das Durchsetzen der enabling-clause in den siebziger Jahren, mit der ein Abweichen vom Prinzip der Reziprozität (Gegenseitigkeit) und somit eine präferentielle Behandlung der Entwicklungsländer ermöglicht wurde, konnten verzeichnet werden.
Mit Beginn der Schuldenkrise am Anfang der achtziger Jahre wurde der Einfluß der Entwicklungsländer wieder zurückgedrängt. Als Gegenleistung für Stützungskredite wurden den Schuldnerländern Strukturanpassungsprogramme aufgebürdet, mit denen die Ökonomien fit für den Weltmarkt gemacht, insbesondere aber für die Interessen der Transnationalen Konzerne (TNCs) aufgeschlossen werden sollten.
Die vielbeschriebenen Folgen der Strukturanpassungsprogramme wie soziale Verelendung, geringere Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln, verstärkte Exportkonkurrenz unter den Entwicklungsländern mit entsprechendem Preisverfall erklären das Interesse der Entwicklungsländer an einer Lösung der im GATT bestehenden Probleme. Die Industrieländer machten jedoch Zugeständnisse von der Einbeziehung neuer Bereiche in das GATT abhängig. So wurden bei der letzten GATT-Runde, der sogannten Uruguay-Runde, die 1986 in Montevideo begann und 1994 im marokkanischen Marrakesch ihren Abschluß fand, die neuen Themen Dienstleistungen, Investitionen und Patente integriert und die lange außen vor gelassenen Bereiche Landwirtschaft und Textilien/Bekleidung reintegriert.
Die zunehmenden Unterschiede innerhalb der Dritten Welt schlugen sich bei den Verhandlungen in uneinheitlichen Verhandlungspositionen nieder. Im Zuge der Verhandlungen gerieten die Interessen der Entwicklungsländer in den Hintergrund, während sich der Streit zwischen den USA und der Europäischen Union (EU) in punkto Agrarbereich zum beherrschenden Thema entwickelte.

WTO als Räterepublik

Im Rahmen der letzten GATT-Runde wurde schließlich die Gründung der World Trade Organisaton (WTO) zum 1.1.1995 beschlossen. Mit der WTO wurde das GATT institutionalisiert und damit in seiner Bedeutung aufgewertet, da die WTO-Regelungen die Mitglieder weit stärker unter Druck setzen, als es das provisorische GATT mangels Sanktionsmöglichkeiten konnte.
Das höchste Organ der WTO ist die alle zwei Jahre tagende Ministerkonferenz aller Mitgliedsstaaten. Halbjährlich tritt der Allgemeine Rat (General Council) zusammen, der die Umsetzung der Abkommen überwachen soll. Der Rat besteht aus der Streitschlichtungsstelle (Dispute Settlement Body) und dem Organ zur Überprüfung nationaler Handelspolitiken (Trade Policy Review Body). Drei weitere Räte kontrollieren die Einhaltung dreier Einzelabkommen in bezug auf den allgemeinen Handel (GATT ‘94), den Handel mit Dienstleistungen (GATS) und handelsbezogenen Aspekten geistigen Eigentums (TRIPS).
Das Streitschlichtungsverfahren soll die Akzeptanz von Schiedssprüchen gewährleisten und so einseitige Vergeltungsmaßnahmen von Einzelstaaten verhindern. Daß die Akzeptanz dennoch auf tönernen Füßen steht, hat zumindest der US-Kongreß bereits kundgetan: er hat sich vorbehalten, über eine weitere WTO-Mitgliedschaft neu zu befinden, wenn zum dritten Mal ein Schiedspruch gegen die USA ausgesprochen werden sollte. So gilt trotz des Prinzips „ein Land, eine Stimme“ für die WTO bisher dasselbe wie für den Vorläufer GATT: die tradierte internationale Arbeitsteilung zwischen Nord und Süd wird fort- und das Recht auf „Entwicklung“ abgeschrieben.

Quelle: Heiko Wegmann: “Vom GATT zur WTO”. In: Sonderheft der iz3w; Kuhhandel des Jahrtausends?, November 1999. Bezug: iz3w, Postfach 5328, 79020 Freiburg, Tel.: 0761/740 03, Fax: 0761/709866.

Lateinamerika vor der Millenniums-Runde

Jährlich 700 Milliarden US-Dollar gehen den Entwicklungsländern laut dem Jahresbericht der UN-Organisation für Handel und Entwicklung (UNCTAD) durch die Protektion der Industrieländer allein bei einfachen Industrieprodukten verloren. Handelshindernisse beim Import von Textilien, Metall-, Holz-, Gummi- oder Kunststoffwaren sind hierfür in erster Linie verantwortlich. Nahezu zeitgleich mit dem Mitte September erschienenen Bericht wurde auf der Jahrestagung von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank ein „großzügiger“ Schuldenerlaß für die Ärmsten der armen Schuldenländer verabschiedet – in Höhe von einem Zehntel der 700 Milliarden US-Dollar.
Für die UNCTAD steht außer Frage, daß die rasche Integration der Entwicklungsländer in das globale Handels- und Finanzsystem, wie es die Strukturanpassungsprogramme von IWF/Weltbank und die Handelsliberalisierungen im Zuge des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) und der Welthandelsorganisation (WTO) intendiert hatten, gescheitert ist. Ein Lösungsansatz bestünde laut der UNCTAD in einer Öffnung der Märkte in den Industrieländern.

Liberalisierung oder Evaluierung

Eben dieser Marktzugang müßte im Mittelpunkt einer Handelsagenda und somit der anstehenden millennium round der WTO stehen, die mit der vom 30. November bis zum 3. Dezember in Seattle stattfindenden Ministerratstagung ihren Anfang nehmen soll.
Um Marktzugang wird es bei der millenium round sicher gehen, aber sicher nicht in der von der UNCTAD propagierten Einbahnstraße pro Entwicklungsländer. Zwar greift ein simples Schema Industrieländer gegen Entwicklungsländer bei weitem zu kurz, um die vielfältigen Konfliktlinien in der WTO zu beschreiben, daß aber dieser Interessensgegensatz weiter im Vordergrund steht, kann kaum bestritten werden.
Die Industrieländer um die Triade USA, Europäische Union und Japan sind sich generell einig, daß der Liberalisierungs- und Deregulierungsprozeß der WTO fortgesetzt und intensiviert werden soll. Bei den Entwicklungsländern herrscht dagegen überwiegend Skepsis gegenüber einer neuen umfassenden Liberalisierungsrunde. So sind die Beschlüsse der letzten GATT-Runde, der sogenannten Uruguay-Runde, teilweise noch nicht implementiert und soweit umgesetzt, in ihren Folgen noch nicht abzuschätzen. Verständlich, daß eine Mehrzahl der Entwicklungsländer für eine Überprüfung des bisherigen Liberalisierungsprozesses plädiert, die jüngsten Wirtschaftskrisen in Asien und Lateinamerika noch in schlechter Erinnerung. Diese Position ist allerdings unter den Entwicklungsländern nicht unumstritten.
In vorderster Front der Entwicklungsländer, die sich für eine weitere Liberalisierungsrunde aussprechen, sind die lateinamerikanischen Länder Argentinien, Chile, Kolumbien und Mexiko, die sich davon vor allem verbesserte Agrarexportmöglichkeiten erhoffen. Ihr gewichtigster Bündnispartner in Sachen Agrarpolitik ist Bill Clinton. Dieser stellte im Vorfeld von Seattle klar, daß die Agrarmärkte weltweit geöffnet werden sollen: „Die Landwirtschaft muß von ihren eigenen Erträgen leben, nicht von staatlichen Subventionen.“ Klar, wem dieser Hinweis galt: der Europäischen Union, die für rund 80 Prozent der jährlichen Agrarexportsubventionen der Industrieländer aufkommt. Die Gesamtsumme aller Landwirtschaftssubventionen in den Industrieländern beläuft sich gemäß der UNCTAD derzeit mit 350 Milliarden US-Dollar auf mehr als das Doppelte des Gesamtwertes der Agrarexporte der Entwicklungsländer. Dementsprechend populär ist Clintons Forderung bei den meisten der 135 WTO-Mitglieder. Die EU kann nur auf Japan und Südkorea, die ihre Reisbauern schützen wollen, sowie auf die Schweiz und Norwegen zählen. Pakistan und Indien sprechen sich zwar dafür aus, die Landwirtschaft von allgemeinen Freihandelsprinzipien auszunehmen, allerdings nur in Entwicklungsländern.

„Obszöne“ Agrarpolitik

In der Ablehnung des von der EU und Japan propagierten Konzepts der „multifunktionalen Landwirtschaft“, das Tierschutz und Gesundheitsvorsorge integrieren soll, sind Indien und Pakistan mit den lateinamerikanischen Ländern einer Meinung. Übereinstimmend wird darin eine neue protektionistische Finte gesehen, die Agrarexporte aus Entwicklungsländern unterbinden soll. Ganz unangenehme Erfahrungen mit multifunktionaler Landwirtschaft scheint der brasilianische WTO-Botschafter gemacht zu haben. Über dieses „obszöne Wort“ rede er nicht, ließ er kategorisch verlauten.
Aber auch die USA ist kein Unschuldslamm in Sachen Subventionen. Dieses Jahr fließen im Agrarsektor 41,2 Milliarden DM Subventionen – rund die Hälfte der Summe der EU. Diese Subventionen sind aber erlaubt, da sie unabhängig von der Produktion gezahlt werden, beispielsweise für Ernteausfälle. Gemäß den Statuten der WTO ist die Produktionsunabhängigkeit die Ausnahmebedingung, die Beihilfen grundsätzlich erlaubt, da sie dann in die sogenannte green box fallen. Die Subventionen der EU fallen jedoch überwiegend in die blue, amber und red box, was bedeutet, daß sie nur übergangsweise geduldet werden, beziehungsweise wie Exportsubventionen verboten sind. Zumindest eigentlich, denn bisher vermochte die EU ihre Agrarexportsubventionen noch aufrecht zu erhalten und Übergangsfristen herauszuschlagen. Der Druck wird jedoch bei der millennium round weiter zunehmen, denn die Schätzungen belaufen sich auf maximal 15 Jahre Galgenfrist bis zur Weltmarktöffnung des EU-Agrarsektors.
Die radikalsten Liberalisierer in Sachen Agrarpolitik haben sich in der sogenannten Cairns Group organisiert. Diese 15 argarexportierende Länder umfassende Gruppe von Argentinien bis Neuseeland lehnt sämtliche Eingriffe in den Agrarmarkt ab. „Agrarprodukte sollen wie jedes andere Industriegut frei gehandelt werden“, lautet gemäß dem kolumbianischen WTO-Botschafter Néstor Osorio die Marschroute der Gruppe für die millennium round.
Und die Uhr tickt in ihrem Sinne. Anfang 2004 werden Agrarexportsubventionen definitiv illegal, wenn nicht alle WTO-Länder einer Verlängerung zustimmen sollten. Die Gegenstrategie der EU ist simpel. Unter dem Deckmantel der Liberalität akzeptiert sie zunächst alle Tagesordnungswünsche aller Teilnehmer. Damit wird die Verhandlungsmasse größer, und wenn en bloc verhandelt wird, ermöglicht die Salami-Taktik, für jedes gemachte Zugeständnis ein anderes einzufordern.

Unklare Tagesordnung

Was denn nun wirklich verhandelt wird, steht bisher nur zum Teil fest. Auf jeden Fall werden die bei der Uruguay-Runde vereinbarten Themen der built-in-agenda auf den Tisch kommen. Neben der angesprochenen Liberalisierung in bezug auf den Agrarsektor, handelt es sich vor allem um die Liberalisierung im Dienstleistungsbereich. Zudem sollen die diversen Abkommen über handelsbezogene Investitionsauflagen (TRIMs), über handelsbezogene Aspekte des geistigen Eigentums (TRIPs), über Textilien und Bekleidung überprüft werden. Überprüft werden sollen auch die beliebten Industrieländerpraxis der Anti-Dumping Maßnahmen, bei denen Entwicklungsländerexporten schlicht unerlaubtes Preisdumping vorgeworfen wird, um sie unterbinden zu können.

Umwelt- und Sozialstandards

Die weiteren Themenvorschläge seitens der Industrieländer sind bei den Entwicklungsländern heftig umstritten. Beim Thema Investitionen besteht die Befürchtung, daß das gescheiterte Multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI) quasi durch die WTO-Hintertür wieder aufs Tapet kommt. Noch allergischer reagieren die Entwicklungsländer auf die Bestrebungen der USA und der EU, Umwelt- und Sozialstandards auf die Agenda zu setzen, in denen sie lediglich einen Vorwand für neue Handelsbarrieren sehen. Clinton forderte, daß in Seattle eine Arbeitsgruppe über Arbeit und Handel gebildet werden soll, damit Arbeitnehmerfragen zukünftig in den Verhandlungen stärker berücksichtigt würden. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Der Präsidentschaftswahlkampf seines Vizepräsidenten Al Gore steht an, und die Gewerkschaften sind als Großsponsor der Demokraten bekannt. Al Gore hat Seattle zu seiner Chefsache erklärt und will sich dort als großer Außen- und Handelspolitiker gerieren. Die US-amerikanischen Gewerkschaften fordern von ihrer Regierung seit langem einen stärkeren Einsatz für weltweite verbindliche Arbeitnehmerrechte und Sozialstandards. Mit solidarischem Internationalismus hat das jedoch nichts zu tun, sondern vielmehr mit der Sicherung von US-Jobs durch neue Handelshemmnisse.
Nicht einmal die EU schenkt dem amerikanischen Proletarismus Glauben. “Man muß den politischen Zyklus der USA in Rechnung stellen”, äußerte der für Außenhandel zuständige EU-Kommissar Pascal Lamy. Gleichwohl wollen auch die Europäer Arbeitnehmerrechte in Seattle diskutieren. Zwar nicht in einer institutionalisierten Arbeitsgruppe wie die USA, aber immerhin in einem lockeren gemeinsamen Arbeitsforum zwischen der WTO und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die den USA sogar einen verbindlichen Beobachterstatus verschaffen wollen.
Der kolumbianische WTO-Botschafter Néstor Osorio hat auch hierzu eine klare Position: „Falls die USA Arbeitnehmerrechte diskutieren wollen, riskieren sie ein Scheitern der WTO-Ministerkonferenz.“ Starker Tobak, aber Kolumbien und die Cairns Group wollen schließlich unter anderem die Quotensysteme für die europäische und US-amerikanische Tabakwirtschaft zum Einsturz bringen – da können ein paar Blendgranaten im Vorfeld nichts schaden.

Professioneller Nostalgiker

Ich ging mit erhobener Faust und kehre zurück mit offener Hand als Zeichen der Versöhnung.“ Mit diesen Worten begrüßte Rafael Alberti im April 1977 sein geliebtes Spanien. Zwischen der erhobenen Faust und der ausgestreckten Hand lagen 38 Jahre Exil, ständiges Warten auf die Rückkehr in ein freies Land, Jahre des Heimwehs und der Verklärung, die Augen immer auf die Bucht von Cádiz gerichtet.
Das Regime Francos und der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatten den Dichter mit 36 Jahren an die Ufer des Río de la Plata gespült, ein Schicksal, das er mit unzähligen Intellektuellen, Juden und anderen Verfolgten teilte. Rafael Alberti war längst ein angesehener Dichter mit eineinhalb Dutzend veröffentlichter Bücher, der in regem Kontakt mit lateinamerikanischen Autoren stand, als er in Südamerika aufgenommen wurde. Bevor er sich mit seiner Frau, der Schriftstellerin María Teresa León, im bonarenser Stadtteil Palermo niederließ, machte er Station in der Provinz Córdoba und im uruguayischen Punta del Este. Er bekam schließlich einen Paß, mit dem er trotz eingeschränkter Gültigkeit für Argentinien und Uruguay vor allem nach Osteuropa reiste.
Jorge Luis Borges, Pablo Neruda und der Spanier Pablo Picasso gingen bei ihm ein und aus, Nicolás Guillén, Nicanor Parra und Julio Cortázar; wen Alberti nicht in Buenos Aires traf, den lernte er in Kuba, Europa oder Chile kennen, auf jenen Reisen, die ihn lange Zeit nicht nach Spanien führten.
Bevor er sich entschied, aus dem Schreiben seinen Beruf zu machen, wollte Alberti eigentlich Maler werden. 1922 stellte er einige Gemälde mit kräftigen Pinselstrichen und bunten Farben im Ateneo von Madrid aus. Damals wohnte er schon nicht mehr in Puerto de Santa María, schaute schon nicht mehr in die Bucht von Cádiz, aus der er nach eigenen Worten seine Inspiration und sein Wesen schöpfte. Als er 1924/25 mit seinem Gedichtband Marinero en Tierra (deutsch: Zu Lande, zu Wasser) den spanischen Nationalpreis für Literatur erhielt, begann seine Karriere mit der Melodie der Worte, obwohl er den Pinsel der Farben nie endgültig beiseite legte und sich vor allem in Argentinien die Sehnsucht nach Andalusien von der Seele malte. Im Madrid der 20er und 30er Jahren sucht er nach neuen lyrischen Formen auf der Basis von Tradition, in den „neovolkstümlichen“ Gedichten seines ersten Bandes, in dem er mit poetischer Klarheit die Vielfalt des Meeres zum Wogen bringt, im Surrealismus und der engagierten Dichtung, gemeinsam mit Federico García Lorca, Dámaso Alonso oder Ernest Hemingway, mit Luís Buñuel oder Salvador Dalí. Der Lieblingsbeschäftigung der spanischen Kritiker, ihre Künstler nach Generationen zu katalogisieren, kommt 1927 eine Hommage in Sevilla zum 300. Todestag von Shakespeares Zeitgenossen Luís de Góngora entgegen. Alberti, Federico García Lorca, Gerardo Diego, Jorge Guillén, José Bergamín, Dámaso Alonso, Mauricio Bacarisse und Juan Chabás ehrten den spanischen Poeten und wurden später als die 27er Generation bezeichnet. Alberti tritt der Kommunistischen Partei bei, reist 1932 erstmals in die Sowjetunion und gründet zwei Jahre später in Spanien die revolutionäre Zeitschrift Octubre. Er nennt sich selbst „Poet der Straße“, reist zum sowjetischen Schriftstellerkongress nach Moskau, nach New York, Mexiko und Havanna, wo er den Grundstein für seine Freundschaft mit Nicolás Guillén legt. Im spanischen Bürgerkrieg ist er auf republikanischer Seite aktiv, propagiert poetisch die kommunistische Avantgarde. Nach dem Sieg der Faschisten setzt der Dichter sich nach Paris ab. Mit Hilfe von Pablo Neruda, zu dieser Zeit Botschafter in Frankreich, kommen er und seine Frau beim internationalen Radio als Sprecher unter. 1939 beginnt auch in Frankreich ein neuer Wind zu wehen, Alberti verliert seine Arbeit und zieht schließlich weiter an den Río de la Plata, wo 1941 seine Tochter Aitana zur Welt kommt. Die Jahre in Südamerika beschreibt er im zweiten Band von La arboleda perdida (deutsch: Der verlorene Hain). Er hält Vorträge, Lesungen und schreibt weiter Gedichte, versinkt in Melancholie, beschwört die Erinnerungen an ein vergangenes Paradies herauf oder träumt von der Zukunft. Die nostalgische Sehnsucht nach dem Süden Spaniens läßt ihn jedoch nicht untätig werden. Mit Pablo Neruda verbindet ihn seit Paris eine tiefe Freundschaft mit gegenseitigen Besuchen; auch trägt er seine Poesie persönlich durch die Welt, reist ein weiteres Mal in die UdSSR, nach Polen, Bulgarien, Rumänien, in die Tschechoslowakei, nach China und, nach dem Sieg der kubanischen Revolution, 1960 noch einmal nach Havanna. Bei seinem letzten Besuch auf der Karibikinsel 1991 verleiht Fidel Castro ihm den Orden José Martí, die höchste Auszeichnung der kubanischen Regierung für einen Ausländer.
Zu Beginn der 60er Jahre schließlich ist Alberti auch in Südamerika nicht mehr sicher – die Geheimpolizei durchsucht seine Wohnung. Universitäten, Verlage und Theater werden zu militärischen Zielscheiben und als schließlich der Guatemalteke Miguel Angel Asturias verhaftet wird, schauen sich Alberti und seine Frau María Teresa León erneut nach einem Platz zum Leben um. 1963 gehen sie zurück nach Europa, nach Rom, wo sie noch 14 Jahre auf ihre endgültige Rückkehr nach Spanien warten. Nach dem Tod Francos läßt sich Alberti als kommunistischer Abgeordneter für Cádiz in den spanischen Kongreß wählen. Es wird ein triumphaler Einzug und eine späte Genugtuung, als er, über 70jährig, mit Dolores Ibárruri „La Passionara“ im Kongress den Alterspräsidenten stellt. Erneut lassen sich Alberti und María Teresa León in Madrid nieder, wo er sich wieder mit lateinamerikanischen Schriftstellern wie Mario Benedetti und Julio Cortázar trifft, die nun – Ironie des Schicksals – ihr Exil in Europa leben.
Auch für Carlos Fuentes und Gabriel García Márquez sind gemeinsame Abende und Nachmittage mit dem „Poet des Meeres“ selbstverständlich. Die gemeinsame Sprache, poetisch wie alltäglich, der Kompromiß mit der Gesellschaft sowie das Engagement für eine gerechtere Zukunft haben für die spanischsprachigen Schriftsteller zwar die Grenzen zwischen den Kontinenten aufgehoben, nicht aber ihre tiefe Verbindung zum eigenen Land.
Zehn Jahre führt Rafael Alberti sein unstetes Leben in Madrid fort. Seine Frau stirbt, nachdem ihr Gedächtnis jahrelang von Alzheimer zermürbt worden war und kurze Zeit später heiratet er die junge Autorin María Asunción Mateo, mit der er sich Anfang der 90er Jahre in sein geliebtes Puerto de Santa María zurückzieht. Der Zerfall der Sowjetunion, die kubanischen „Balseros“, das alles interessierte ihn dort nicht mehr. In seinem Haus mit Blick auf’s Meer hat er die Politik hinter sich gelassen, malt und rezitiert mit schwerer tiefer Stimme seine Gedichte. Hier stirbt er mit 96 Jahren. In der Bucht von Cádiz wird seine Asche von den Wellen verspült.

Zum Rendezvous mit Garzón

Es ist Frühling im Cono Sur. Und mit ihm sprießen auch einzelne Blüten der Zivilcourage, nachdem der spanische Richter Baltasar Garzón am 2. November Haftbefehl gegen 98 Verantwortliche der argentinischen Militärdiktatur erlassen hat. Zum Beispiel in einer Bar im argentinischen Rosario, Ecke Paraguay und Mendoza: Statt dem bestellten café cortado erhält José Rubén Lofiego, Nummer 66 der Angeklagten, die höfliche, aber bestimmte Aufforderung, das Lokal zu verlassen: „Mein Herr, ich denke, Sie sollten besser gehen. Erstens, weil sich die Kunden beschweren. Zweitens, weil auch ich finde, daß jemand wie Sie nicht ungestraft durch argentinische Straßen laufen darf.“ Eine schöne Geschichte. Doch herrscht wirklich Tauwetter in der Menschenrechtsfrage?

Drei lateinamerikanische Länder haben gewählt. In Guatemala ist einer der beiden wichtigsten Kandidaten selbst ein Mörder, und der andere trägt zumindest Mitverantwortung für deren Straflosigkeit. Und Argentiniens designierter Präsident Fernando de la Rúa hat auf Garzóns Haftbefehl nicht so reagiert, wie man es sich von einem erwartet, in dessen Reihen ehemalige Menschenrechtsaktivisten sitzen. Doch gibt es da nicht noch diesen kleinen Fleck auf der Landkarte, der nicht aufhört, dem Vergessen Widerstand zu leisten? Nach dem ersten Urnengang in Uruguay und zehn Jahre nach dem Mauerfall glaubt Eduardo Galeano die „winds of change“ in seinem Land zu spüren. Tatsächlich verlief die erste Runde dort vielversprechend und macht Lust auf mehr.

Doch sollte man keine voreiligen Schlüsse ziehen. Wenn sich nicht auf einmal ganz viele wie unser Kneipenwirt in Rosario finden, werden die Henker Lateinamerikas zunächst weiter frei herumlaufen und in jeder anderen Bar ihren Kaffee bekommen. In Argentinien liegt das unter anderem daran, daß die wichtigsten zwar amnestiert, aber formal bereits verurteilt sind. Was auch bedeutet, daß es hier eben nicht wie bei Pinochet darum geht, die Verantwortlichen öffentlich als Verbrecher hinzustellen. Garzóns Aktivitäten haben dennoch ihren Sinn. Erstens tragen sie dazu bei, daß insgesamt mehr Einzelheiten und damit auch Besonderheiten der lateinamerikanischen Diktaturen bekannt werden. Daß Antisemitismus ein wichtiges Merkmal der argentinischen Militärregierung war, wissen manche vielleicht schon länger. Zum ersten Mal jedoch ist jetzt auch in der bürgerlichen argentinischen Presse die Rede davon.

Zweitens ist der Haftbefehl ein Ansporn für die Justiz in Lateinamerika, endlich selbst aktiv zu werden. Während in Europa der Fall Pinochet über die Bühne lief, konnte man beobachten, wie in Chile eine Klage nach der anderen eingereicht wurde. Und wahrscheinlich sind die derzeit laufenden Prozesse wegen Kindesentführung in Argentinien ebenfalls eine Folge von Garzóns Eifer. Ohne diese zaghaften Fortschritte könnte schließlich kein Präsident vollmundig Justizsouveränität für sein Land einfordern.

Drittens ist es zu begrüßen, daß überhaupt über die Menschenrechtsverletzungen gesprochen wird. Das ist nicht selbverständlich. Betrachtet man die Wahlergebnisse, scheint es, als wollten viele nichts wissen von den Schatten der Vergangenheit. Der Mörder Alfonso Portillo hat bei den guatemaltekischen Präsidentschaftswahlen am 7. November einen deutlichen Vorsprung gegenüber seinen Kontrahenten errungen. Keine tausend Kilometer nordwestlich von Rosario wurde mit Antonio Bussi ein argentinischer Abgeordneter gewählt, der den Blutrausch der siebziger Jahre mitorganisiert hat. Und noch ein bißchen weiter im Norden regiert – vom Volk gewählt – seit über zwei Jahren Hugo Bánzer, Boliviens Diktator von 1971–78. Vielleicht knöpft sich Garzón ihn als nächsten vor.

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