“Die spanischen Kollegen sind in einer guten Lage”

Sie stehen von Berlin aus in ständigem Kontakt mit den zuständigen juristischen Stellen in Madrid und setzen sich für die Auslieferung Pinochets nach Spanien ein. Auch persönlich sind Sie in die Geschehnisse seit 1973 involviert. Können Sie uns Ihre Bindungen, persönlich wie beruflich, schildern?

Ich war 1972, damals noch unter der Regierung Allende, im Schüleraustausch in Chile und ging dort viereinhalb Monate zur Schule. Zu dem Programm gehörte auch, daß man in einer chilenischen Austauschfamilie wohnte. Von dieser Familie ist der Onkel meiner Austauschschwester, ein führender Kommunist, am 11. September 1973 (Tag des Putsches, Anm. d. Red.) in der Moneda, dem Regierungspalast, verhaftet worden. Wir wir später durch Zeugen erfuhren, wurde er umgebracht. Die Leiche wurde der Familie nie übergeben. Viele Familienmitglieder sind damals vertrieben worden, mußten ins Exil gehen. Die Familie ist zum Teil auseinandergerissen worden, meine Austauschschwester selbst lebt bis heute im Ausland. Soviel zu den persönlichen Erlebnissen.
Nachdem ich später in Berlin mit dem Jurastudium angefangen hatte, engagierte ich mich zusammen mit Exilchilenen zunächst vor allem für das Schicksal inhaftierter chilenischer Frauen. Später habe ich Chile oft besucht, habe dort auch an Treffen von Menschenrechtsgruppen teilgenommen, wo es um politische Gefangene und die Straflosigkeit der Militärs ging. Dabei fand auch ein Austausch mit Argentiniern statt, die unter der dortigen Diktatur ganz ähnliche Erfahrungen gemacht hatten.

Diese Treffen fanden noch während der Pinochet-Diktatur statt?

Zum ersten Mal habe ich 1988 an einem solchen Treffen teilgenommen. Das war also in der Übergangszeit. Ich habe mich dort juristisch wie auch persönlich mit der jüngeren chilenischen Geschichte beschäftigt, vor allem mit den Problemen der Übergangszeit.

Wann kam dann Ihr Kontakt mit den spanischen Prozeßführern zustande?

Ich bin im Sommer letzen Jahres mit dem spanischen Anwalt Juan Garcés in Verbindung getreten, der die Exilchilenen vertrat, die von Europa aus um ihr Recht kämpften. Auch er ist in die Vorfälle während der Militärdiktatur involviert. Er ist Katalane und hat als Berater Salvador Allendes gearbeitet. Über seine Erlebnisse von 1973 hat er ein Buch geschrieben. Garcés hat in Madrid jahrelang daran gearbeitet, der Straflosigkeit in Chile juristisch beizukommen, und er ist einer der Hauptakteure im Prozeß gegen Pinochet. Er unterrichtet mich laufend über das Verfahren. Durch diese Bekanntschaft kam ich in Kontakt mit dem Anwalt Carlos Slepoy, der sich mit den Verbrechen während der argentinischen Militärdiktatur beschäftigt. Über ihn wiederum lernte ich den Richter Baltasar Garzón aus Madrid kennen, der ja nun als Ermittlungsrichter im Fall Pinochet agiert. Garzón war schon damals als extrem ambitionierter Mann bekannt, der beispielsweise den hochrangigen argentinischen Militärangehörigen Adolfo Scilingo, den er ursprünglich als Zeugen vorgeladen hatte, im Gerichtssaal verhaften ließ. Dieser Fall schlug damals hohe Wellen, da Scilingo in einem Interview die vermuteten „Todesflüge“ zugegeben hat, bei denen Dissidenten über dem Río de la Plata aus dem Flugzeug geworfen wurden. Scilingo bestätigte damals, was Oppositionelle schon von jeher der Militärdiktatur vorgeworfen hatten, und wurde so zu einem der wichtigsten Zeugen des ganzen Prozesses. Garzón hatte damals schon erreicht, gegen einige der argentinischen Verantwortlichen Haftbefehle zu erlassen und ihre ausländischen Konten zu beschlagnahmen. Später wurden auch Kontakte nach Deutschland geknüpft, von wo aus Exilargentinier im Mai dieses Jahres Strafanzeige gegen Angehörige des argentinischen Militärs stellten. Im Laufe der Ermittlungen wurde auch im „Plan Cóndor“ ermittelt. Das war die Zusammenarbeit zwischen den chilenischen und den argentinischen Militärs.

Und uruguayischen Militärangehörigen …

Ja, auch Uruguay und Paraguay waren in diese Zusammenarbeit verwickelt, die auf ein Verschwindenlassen und Ermorden politischer Gegner hinauslief. Jedenfalls hatte Richter Garzón schon damals besonderes Interesse an Pinochet als Beschuldigtem bekundet. Rechtsanwalt Garcés sagte mir schon im Mai dieses Jahres, daß seiner Einschätzung nach Garzón irgendwann einen Haftbefehl gegen Pinochet erlassen wird. Das Problem würde dann bloß sein, Pinochet außer Landes zu bekommen, um den Haftbefehl auch zu vollstrecken. Daß Pinochet einige Monate später nach Großbritannien reisen würde, damit hatten wir natürlich nicht gerechnet.

Wie gestaltet sich Ihre juristische und politische Zusammenarbeit mit den spanischen Juristen von Berlin aus?

Ich bin im wesentlichen daran beteiligt, daß hier politische Aktionen organisiert und koordiniert werden. Wir, das FDCL, haben kürzlich eine Demonstration vor der britischen Botschaft für die Auslieferung Pinochets nach Spanien organisiert. Zur Zeit planen wir eine weitere Demonstration, die sich auf ein breites Bündnis stützt. Auf Wunsch meiner spanischen Kollegen habe ich eine Kampagne in Deutschland angestoßen, bei der es darum ging, Faxe an die Audiencia Nacional (nationaler Gerichtshof Spaniens, Anm. d. Red.) zu schicken, um so, unmittelbar vor der endgültigen Entscheidung über die Zuständigkeit der spanischen Gerichtsbarkeit, Druck auszuüben. Eine ähnliche Kampage haben wir jetzt vor der Entscheidung des britischen Oberhauses über das spanische Auslieferungsgesuch in Richtung London gestartet.
Es ist auch an mich herangetragen worden, eine Sammelklage hier lebender Betroffener zu organisieren. Es existiert zwar tatsächlich die Möglicheit nach deutschem Recht, eine solche Klage einzureichen. Allerdings denke ich, daß der spanische Prozeß mehr Aussicht auf Erfolg hat, und daß man sich auf ihn konzentrieren sollte, da in den letzten zweieinhalb Jahren unheimlich viel Material zusammengetragen worden ist. Durch die gute Dokumentation sind die Kollegen in Madrid einfach in der besten Lage, solch ein Verfahren real, konsequent und erfolgreich durchzuführen.

Wie beurteilen Sie rein juristisch die Entscheidung des britischen „High Court“, Pinochet genieße als ehemaliges Staatsoberhaupt Immunität?

Diese Entscheidung verstößt gegen geltendes Völkerrecht. Zwar sind Staatsoberhäupter grundsätzlich vor Strafverfolgung wegen ihrer Amtshandlungen geschützt – dies entspringt dem gegenseitigen Respekt und der Anerkennung der Souveränität der Staaten. Seit den Nürnberger Prozessen 1945/46 ist jedoch längst anerkannt, daß diese Immunität nicht für schwerwiegende Verbrechen wie Völkermord, Verschwindenlassen und Folter gelten kann. Wie es treffend gesagt wurde: Nach der Rechtsauffassung des Londoner Gerichts hätte selbst Hitler nicht zur Rechenschaft gezogen werden können.

Wie schätzen denn die spanischen Anwälte nun, nach dieser ersten negativen britischen Entscheidung, die Chancen im Prozeß gegen Pinochet ein?

Sie sind nach wie vor sehr davon überzeugt, Erfolg zu haben. Die Audiencia Nacional, ein nicht gerade linkslastiges Gericht, hätte auch niemals das Auslieferungsgesuch des Richters Garzón bestätigt, wenn dem Prozeß nicht eine derart überwältigende Dokumentation der Verbrechen zugrunde liegen würde.

Zu dieser so deutlichen Beweislage trugen sicher nicht zuletzt die zahlreichen Zeugenaussagen bei?

Genau, es sind sehr viele Zeugen – auch aus Chile – gehört worden. Ich selbst habe übrigens für den Anwalt Garcés hier in Deutschland Helmut Frenz als Zeugen ausgemacht. Frenz war Lutheraner und evangelischer Bischof in Chile, und ihm wurde nach dem Putsch 1973 von Pinochet die Einreise ins Land verboten. Er hatte sich damals für einen katholischen Priester eingesetzt und zusammen mit einem katholischen Bischof bei Pinochet vorgesprochen, um diesen Menschen irgendwie zu retten. Während dieses Gespräches sagte Pinochet einige Sätze, die ihn eindeutig als Mitwisser der Verbrechen entlarvten, was ja bis heute immer wieder bestritten wird. Frenz wurde also im Januar dieses Jahres von den spanischen Richtern als Zeuge gehört und es ging danach überall durch die Presse, daß die Mitwisserschaft Pinochets mit dieser Aussage belegt werden kann.

Wie stark war in den letzten zweieinhalb Jahren, die der Prozeß bereits andauert, der Widerstand der rechten Kräfte in Chile?

Die Bestrebungen in Spanien, Pinochet habhaft zu werden, lösten bei seinen Anhängern massive Proteste aus. Es ist sogar so, daß versucht wurde, auf das Verfahren direkten Einfluß zu nehmen -sowohl von chilenischer als auch von argentinischer Seite. So reiste der chilenische Ex-Militärstaatsanwalt Torres nach Madrid – angeblich, um dort Urlaub zu machen – und besuchte „zufällig“ die beiden spanischen Untersuchungsrichter Garzón und García-Castellón. Dort gab er Material ab, das angeblich beweisen sollte, daß alles eine wüste Lügenkampagne sei. Der chilenische Widerstand führte in der Folge auch zu einer Stärkung der Rechten innerhalb der spanischen Justiz. Das ging soweit, daß seitens der spanischen Staatsanwaltschaft argumentiert wurde, daß die Militärregierungen in Chile und Argentinien nur einen „Übergang“ zu einer zivilen, demokratischen Regierung dargestellt hätten. Diese Äußerungen lösten in Spanien einen Skandal aus. Die Presse fiel über die Staatsanwaltschaft her, die dann sofort einen Rückzieher machen mußte.

Wie ist die Stimmung in Chile nach der Festnahme Pinochets in London einzuschätzen?

Die Situation in Chile ist sehr angespannt. Ich denke, daß hier in Europa anfangs nur das angekommen ist, was die Rechte dort an Protesten veranstaltete. Diese nahmen bald extreme Formen an. So ist zum Beispiel auf Initiative eines rechten Bürgermeisters der Müll von der britischen und der spanischen Botschaft nicht mehr abgeholt worden. Allerdings wurden sogleich Müllabfuhren aus links regierten Stadtbezirken geschickt, deren Wagen – eine wirklich sehr nette Anekdote – mit Transparenten bespannt waren, auf denen es hieß: „Wenn ihr unseren Müll beseitigt, holen wir euren ab!“
Aber es ist schon so, daß die Rechte heftig reagiert hat, zum Teil auch wieder mit Morddrohungen, etwa mit den Worten:“Wenn Pinochet etwas passiert, dann bringen wir dich um.“ Die Betroffenen solcher Drohungen sind Rüchkehrer aus dem Exil, Oppositionelle und ehemalige politische Gefangene. Es hat zudem auch einen xenophoben Schub in Chile gegeben. Das bedeutet, daß ein Brite oder Spanier, der heute nach Chile fährt, durchaus unangenehme Erfahrungen machen kann.
Es ist im Grunde herausgekommen, daß die ganze Übergangssituation, die ganze Versöhnung eine einzige Lüge ist und daß sich die Lager immer noch verfeindet gegenüberstehen. Die wahren Machtverhältnisse treten jetzt wieder zutage. Es zeigt sich, wie gespalten dieses Land nach wie vor ist.

Wie würden Sie – auch wenn dies schwerfällt – diese Spaltung prozentual beurteilen?

Nun, ich würde schon von einem Kräfteverhältnis 60:40 zugunsten der Gegner Pinochets ausgehen. Beim Referendum 1988 hat Pinochet einen Stimmenanteil von rund 40 Prozent auf sich verbuchen können. Obwohl er den heute so nicht mehr bekommen würde, kann man doch mit 30 Prozent Pinochetismus rechnen. Dazu kommt der Mittelstand, der auch eher zu dieser Seite neigt. Es gibt die „klassische“ Aufteilung in ein Drittel Rechte, ein Drittel Christdemokraten, ein Drittel Linke. Letztere sind in den siebzehn Jahren Gewaltherrschaft unter Pinochet zerschlagen worden. Den Leuten sitzt heute noch die Angst im Nacken. Chile ist ein Land, in dem man sich über fünfzehn Jahre lang nicht getraut hat, den Mund aufzumachen. Ich bin mir sicher, daß zumindest 60 Prozent der Chilenen am Tag, als die Nachricht der Festnahme kam, zu Hause saßen und gefeiert haben, sich aber nicht getraut haben, damit sofort auf die Straße zu gehen. Die psychologische Einschüchterung ist sehr, sehr verheerend gewesen.
So ist die Situation im Moment. Es steht alles sehr auf der Kippe, obwohl die Stimmung gegen Pinochet zu siegen scheint. Selbst aus den konservativen Kreisen wurden jüngst Stimmen laut, die sich zu der Festnahme positiv äußern. Auch der oberste Gerichtshof ist allmählich nicht mehr ausschließlich von Pinochetisten besetzt, so daß dort das Amnestiegesetz, 1978 von der Junta selbst verfaßt, künftig sogar zur Debatte stehen könnte. Und die Stimmen gegen Pinochets Senatorenamt mehren sich, auch von konservativer Seite.

Straßenkinder und Kellerratten

Das Stadtzentrum gleicht einem Ameisenhaufen. Aus allen Richtungen strömen Menschen durch die Innenstadt von Porto Alegre. Eine nahezu endlose Reihe von Omnibussen schluckt die von der Arbeit nach Hause fahrenden Menschen. Es ist einer der zentralen Plätze der Stadt, wo die große Ausfallstraße Avenida Borges de Medeiros auf die Fußgängerzone der Rua das Andradas trifft, und sich am frühen Abend Männer und Frauen versammeln, um alle Arten von Gebrauchsgütern und Kleidungsstücken vom großen Wandspiegel bis zur Haarspange anzubieten.
Inmitten der Menschenmenge sitzt Max. Er hat es sich zusammen mit seiner Freundin auf einem Betonsockel gemütlich gemacht, wo sonst Folkloregruppen auftreten und Sektenprediger ihre religiösen Botschaften vermitteln. Obwohl schon Herbst, ist es noch sehr warm, so daß Max seine mit Nieten und zahllosen Parolen versehene Lederjacke auszieht und sich darauf setzt. Er hat trotz seiner zwanzig Jahre einen fast kindlichen Gesichtsausdruck. Ein Freund mit dem Namen Flavio hilft ihm, mit einer Bürste und einer Mischung aus Klebstoff und Haargel die blondgefärbten Haare zu einem Irokesenkamm aufzustellen. In Brasilien nennen die Punks ihre Frisur „Mohicano“. Bis auf den kleinen vokabularischen Unterschied gleichen sie ihren Gleichgesinnten aus Übersee, die seit Beginn der achtziger Jahre zum Erscheinungsbild europäischer Großstädte gehören.
„In Brasilien hat Punk vier oder fünf Jahre später als in Europa und den USA eingesetzt. Dies lag vor allem an der Militärdiktatur und gilt auch für die anderen südamerikanischen Länder“, erzählt Max, der sich wie seine Freunde gut auskennt in der Geschichte der relativ heterogenen Punkbewegung, die für ihre Mitglieder mehr als nur ein Modephänomen ist, sondern ein Lebensgefühl, das unter anderem auch sozialen Halt bietet. Max gibt sich gesprächsbereit und fragt seinerseits nach seinen Gleichgesinnten in Deutschland.

Bunt und punkig erst nach der Militärdiktatur

Die schillernden Paradiesvögel sind vor allem in den südamerikanischen Ländern mit zumeist europäischen Einwanderern anzutreffen, obwohl man in Brasilien auf Punks jeder Hautfarbe trifft. Deren Musik ist in den siebziger Jahren in England entstanden und damals schnell zum Symbol von „No Future“ geworden. Sie hat in den letzten Jahren nach einer langen Durststrecke weltweit eine Renaissance erlebt. Dies mag zum einen am kommerziellen Erfolg amerikanischer Bands wie Green Day oder Offspring und der damit verbundenen Wiederentdeckung des Punk durch die Musikindustrie liegen, aber auch an der sozialen Krise in den Industrieländern, die immer mehr von Arbeitslosigkeit betroffene Jugendliche ausgrenzt und auf die Straße treibt. Straßenkinder sind bekanntlich nicht mehr allein ein lateinamerikanisches Phänomen, sondern auch in Deutschland zur traurigen Realität geworden. Punk ist für viele eine Ausdrucksform ihrer eigenen Hoffnungslosigkeit und gleichzeitig die Gelegenheit, in einer Gruppe so etwas wie Solidarität zu erleben. Dies gilt in zunehmendem Maße auch für die Jugendlichen in Lateinamerika, die sich erst nach dem Ende der Militärdiktaturen auf eine solch auffallende Art und Weise in der Öffentlichkeit zeigen konnten. Unter den Militärs wäre die Anwesenheit eines Bunthaarigen mit Nietenarmband und Lederjacke in der Fußgängerzone einer südamerikanischen Stadt undenkbar gewesen. So sind es zum Beispiel in Brasilien bis vor kurzem noch verschwindend wenige Jugendliche gewesen, die Punkrock hörten und sich dementsprechend kleideten.

Politische Songs und Fanzines

Baffo, ein dunkelhäutiger Punk, hält ein Fanzine in den Händen. Es ist eine selbst angefertigte Zeitschrift mit Songtexten, politischen Statements, Kurzartikeln und Veranstaltungshinweisen. Die Texte befassen sich zumeist mit der Situation der Punks oder mit der allgemeinen sozialen Lage in Brasilien, haben also primär politischen Charakter. Sie prangern die soziale Ungleichheit, die Aussichtslosigkeit für die Jugendlichen und die juristische Ungerechtigkeit an. Sie erzählen von gewalttätigen Fußballfans und rechtsradikalen Todesschwadronen, die Jagd auf Straßenkinder machen. Kaum ein Thema wird ausgelassen. In ihren Refrains werfen die Punks den politischen Parteien aller Couleur Verrat vor und treten für die Indígenas ein, mit denen sie sich verbunden fühlen und deren Ohnmacht ihnen nur allzu bekannt ist. In Karikaturen machen sie sich über die Regierungspolitiker lustig. Unpolitische Texte, wie man sie vor allem bei sogenannten „FunPunk“-Gruppen aus Nordamerika und Europa findet, gibt es fast nicht. Sogar ein banales Liebeslied verweist auf die Armut und den Minderheitenstatus als gemeinsamen Nenner. Auf den ersten Blick sind die Punks bekennende Anarchisten. Sogar der Partido dos Trabalhadores (PT) stehen sie skeptisch gegenüber. Sie unterstützen am ehesten die Landlosenbewegung der Movemento sem Terra (MST) oder lose Organisationen wie Schwulen- und Lesbengruppen. In Argentinien und Chile spielen die pazifistischen und antimilitaristischen Punks in ihren Liedern stärker als in Brasilien auf die grausame Rolle des Militärs in den beiden Staaten an. Dort stehen Gruppen wie Fiskales ad hok aus Santiago in enger Beziehung zu Autonomen.
Ein Mädchen mit blaugefärbten Haaren bringt einen ganzen Stapel der selbstgemachten Hefte und verteilt sie an Passanten. Die meisten ignorieren sie und werfen nicht einmal einen Blick auf die Fanzines, die für einen freiwilligen Unkostenbeitrag zu haben sind. „Wir verbringen unsere Zeit mit der Herstellung von Fanzines, mit Musikmachen oder wir treffen in der Stadt unsere Leute“, erklärte Baffo. „Ein Freund hat eine Schreibmaschine, auf der wir die Texte schreiben. Die Zeichnungen malen wir selbst. Anschließend kleben wir alles auf einen Bogen Papier, vervielfältigen das Ganze im Kopierladen und fertig ist das Fanzine.“

Kritik an sprachloser Samba

An diesem Tag sind ungefähr dreißig Punks auf dem Platz. Am Wochenende zuvor hat ein Festival mit Bands aus ganz Südbrasilien stattgefunden, so daß Konzertbesucher sowohl aus den Nachbarprovinzen Paraná und Santa Catarina als auch aus Uruguay angereist sind. So zum Beispiel „China“, der mit seinen 28 Jahren auffällt unter seinen zumeist 16- bis 20jährigen Freunden. „Ich bin schon seit über zehn Jahren dabei und habe zu Hause in Curitiba schon mit vielen Bands gespielt.“ Er holt eine Kassette mit Aufnahmen seiner Bands, den Ratos Nerviosos („Nervöse Ratten“), hervor. Für ein oder zwei Reais verkauft er sie mit spärlichem Erfolg auf der Straße: „Nichts gegen Samba. Das ist die Musik des Volkes. Aber sie ist dem Kommerz unterworfen und vor allem: sie ist sprachlos. Die Reichen haben die Samba vereinnahmt und lassen sie den Armen als Zuckerbrot. Wir dagegen spüren nur allzu oft die Peitsche.“
Die Punks sind wie in Europa mittellos, doch fällt auf, daß keiner von ihnen vor Ohnmacht tatenlos auf der Straße sitzt, sondern sein Geld entweder mit der Herstellung von Fanzines oder mit Straßenmusik verdient. Staatliche Unterstützung für arbeitslose Jugendliche gibt es nicht und Jobs sind in aussichtsloser Ferne. „Die Leute hier, die ihre Waren verkaufen, sind entweder arbeitslos oder haben drei bis vier Jobs, um überhaupt überleben zu können. Ein Punk hat erst gar keine Chance, eine Arbeit zu bekommen“, so China. Die Frage, weshalb er überhaupt Punk sei, hätte sich eigentlich erübrigt: „Das ist Ehrensache. Die anderen haben nur Fußball im Kopf oder verblöden vor der Glotze. Wir sind aktiv. Wir machen Musik oder organisieren Treffen, um Erfahrungen auszutauschen und zusammenzuhalten.“ In seiner Heimatstadt wohnt er zusammen mit seinen drei Brüdern in einer zehn Quadratmeter großen Hütte ohne fließendes Wasser. Stolz weist er darauf hin, daß Punk für ihn eine Möglichkeit ist, den Kopf aus der Enge der von Kriminalität und Analphabetismus geprägten Favelas herauszustrecken.

Musik statt Klebstoff

„Wir werden nie reich, so wie die berühmten Gruppen um Ratos de Porâo (Kellerratten), die inzwischen sogar in Europa touren und durch MTV zur Edelpunkband für Großbürgerkids geworden sind“, sagt Max. Er lacht verächtlich: „Die Kellerratten. Daß ich nicht lache. Diese Wohlstandssöhnchen haben bestimmt noch nie eine Ratte gesehen. Wir dagegen kommen wirklich von der Straße“, fügt er hinzu und zeigt uns stolz eine weiße Ratte, die aus dem Ärmel seiner Freundin krabbelt. Früher habe er Klebstoff geschnüffelt. Aber er habe Angst bekommen, dadurch abzustumpfen und nicht mehr texten und Gitarre spielen zu können. „Das Beste an Punk ist die einfache Aussage, daß jeder etwas machen kann. Du mußt nur Mut haben und eine Gitarre.“ Inzwischen haben er und seine Freunde nicht nur landesweit Briefkontakte, sondern erhalten auch Post von finnischen oder australischen Bands. Kontakte knüpfen sei ihm besonders wichtig. Im nächsten Sommer will man sich treffen, um gemeinsam nach Montevideo zum ersten südamerikanischen Treffen von Gleichgesinnten zu fahren, wo auch politische Gruppen wie die argentinischen Quebrachos erwartet werden. Die Auseinandersetzungen mit der Polizei sind schon vorprogrammiert. China deutet lächelnd auf sein T-Shirt mit der Aufschrift „Polícia, foda-se!“ – „Bullen, verpißt Euch!“, ein wenig dezenter Hinweis an die Polizei, daß sie nicht gern gesehen wird.

Konfrontation mit
Polizei und Skins
Punk ist für ehemalige Straßenkinder nicht nur eine Möglichkeit zur Flucht aus einem von Hoffnungslosigkeit geprägten Alltag und vielleicht die einzige Chance, eine Spur gemeinschaftlicher Solidarität zu finden. Die Gruppe bietet auch Schutz, denn das Leben auf den brasilianischen Straßen ist aus den bekannten Gründen gefährlich. China hat schon Bekanntschaft mit der brutalen Vorgehensweise der Polizei gemacht. Eine Revolverkugel hat eine Narbe am Oberarm hinterlassen, als er zusammen mit Freunden vor der Polizei fliehen mußte: „Es war nur ein Streifschuß. Halb so schlimm.“ Einen seiner Freunde hat es dabei erwischt. Er hat ihn nie mehr wiedergesehen. Dabei waren sie nur in eine Kontrolle geraten und konnten sich nicht ausweisen. Außerdem gibt es gelegentlich gewalttätige Auseinandersetzungen mit Skinheads. Er zeigt auf die Spuren von Messerstichen. „Ihr Europäer meint immer, hier gebe es keinen Rassismus. Aber mich hätten sie fast totgeschlagen“, erzählt Baffo, „Das Leben hier ist gefährlich. Und die Polizei um einiges brutaler als eure.“
Baffo, Max und die anderen Mitglieder der Band Estomagos vacios („Leere Mägen“) haben einen Monat zuvor nach europäischem Vorbild ein Haus besetzt. „Die Besetzung war kein Problem, denn die Polizei kümmert sich nicht darum, wenn das Haus ein wenig außerhalb liegt“, so Flavio, der nebenbei in einer Straßentheatertruppe mitmacht. Er setzt sich sein rotes Barrett zurecht, das ihn wie einen kleinen Che Guevara aussehen läßt: „Von dort aus organisieren wir die Konzerte.“ Er weist stolz daraufhin, daß seine Freunde und er sogar einen kleinen Garten haben. „Ich glaube, die Punks sind schon aufgrund ihrer sozialen Herkunft politischer“, erklärt er: „Viele behaupten, sie kämen aus den Favelas. Aber der Anteil an abenteuersüchtigen Mittelstandskids ist nicht gering.“

Kunst und Punk vereint

Diego stammt aus einer Künstlerfamilie und malt schon seit Jahren Aquarelle. Der Neunzehnjährige fühlt sich inspiriert von den Punks, weil es die einzige Gruppe sei, „die sich nicht vom kapitalistischen System korrumpieren läßt.“ Er wohnt zusammen mit seinem Vater Bez Batti, einem der bekanntesten Bildhauer von Rio Grande do Sul, in einem Vorort von Porto Alegre. Als Motive dienen ihm vor allem seine Freundin und die geistig behinderten Patienten eines nahegelegenen Armensanatoriums. Nach ästhetischen Gesichtspunkten hätte ihn der deutsche Expressionismus, nach politischen dagegen das anarchistische Ideal der Punks am meisten beeinflußt. Er findet, daß für ihn als jungen Maler die Eindrücke von deren vielfältigen Aktivitäten besonders wichtig seien: „Das, was die hier machen, ist mehr als nur dadaistisches Geschrei. Es ist einfach der gemeinsame Fluchtversuch aus einer individuellen Perspektivlosigkeit, auch mit künstlerischen Mitteln.“ Einige seiner Bilder wurden schon ausgestellt und im Stadtmagazin von Porto Alegre veröffentlicht. „Ich hole nicht nur meine Inspirationen vom Punk und von den Leute auf der Straße, sondern lebe, esse und trinke mit ihnen, wenn ich nicht gerade im Atelier bin.“ Sein Traum ist es, einmal mit seinem Vater, der vor Jahren schon eine Europareise unternommen hat, nach Deutschland oder Frankreich zu gehen und dort eine Kunstakademie zu besuchen. „Aber es fehlt nicht nur das Geld. Wer kann mir diese Freunde hier ersetzen?“, fragt der Neunzehnjährige traurig, während er zu den anderen hinüberschaut, die entweder weiterhin geschäftig ihre Fanzines verteilen oder den Gitarrenklängen von Moska, dem zahnlosen Mitglied der „Leeren Mägen“, lauschen.

Der Klassiker im Fußball Uruguays

Estadio Centenario, Montevideo, Uruguay, an einem Samstag im November 1997. Man nennt es den clásico: das Topereignis im uruguayischen Fußball. Es spielen Peñarol und Nacional, die beiden großen Vereine, die seit Jahrzehnten die Ligaspitze stellen und fast ausnahmslos Jahr um Jahr wieder um den Meistertitel kämpfen. Seit Gründung der Liga im Jahre 1900 wurde die Meisterschaft nur fünfzehnmal von einem anderen Verein gewonnen. Auch auf kontinentaler Ebene zählen die Hauptstadtklubs zur Elite und stehen an zweiter und dritter Stelle bei der Gewinnerliste der Copa Libertadores, der südamerikanischen Vereinsmeisterschaft.
Der clásico verkörpert das Land, denn die drei Millionen Menschen, die hier leben, teilen sich zu gleichen Teilen in ein schwarz-gelbes und in ein rot-weiß-blaues Lager. Auch wenn man einen anderen Verein unterstützt, kommt man nicht darum herum, sich zum einen oder anderen der beiden Großen zu bekennen. Meist ist einem diese Entscheidung bei der Geburt abgenommen worden: die Familie ist das eine oder eben das andere.
Regionale Vereinszugehörigkeit gibt es in Uruguay nicht. Denn wie sich auch sonst das ganze Leben der Republik in der Hauptstadt konzentriert, so auch beim Fußball. Es gibt keine guten Vereine im interior, wo immerhin die Hälfte der Bevölkerung lebt. Die uruguayische Liga besteht einzig aus Vereinen aus Montevideo. Die beiden besten, Peñarol und Nacional, ziehen die Bevölkerung des gesamten Landes in ihren Bann. Der clásico schafft in seiner Konzentration der Fans, der hinchas, im 100.000-Plätze-Stadion Centenario einen Mikrokosmos Uruguays.
Der Ursprung des uruguayischen Fußballs geht auf die Briten zurück, die lange Jahre den Handel und die Wirtschaft des Landes — Stichwort Fleischkonserven — dominierten. So wurden Mitte des letzten Jahrhunderts die ersten Sportclubs von Briten gegründet, waren aber nur für jene offen. 1913 ging Peñarol aus dem 1891 von Briten gegründeten Central Uruguay Railways Cricket Club CURCC hervor. Die Statuten wurden ins Spanische übersetzt und die Mitgliedschaft für Uruguayer geöffnet. Der Name entstammt des im Norden von Montevideo gelegenen Stadtteils Peñarol, das damalige Zentrum der sich in britischem Eigentum befindenden Eisenbahn. Der Verein Nacional wurde 1899 gegründet, mit dem ausdrücklichen Ziel, als Gegenstück zu den elitären Britischen Clubs einen angemessenen Sportclub für Uruguayer zu bilden. Der Name macht dies deutlich genug. Aus diesen Gründungsgeschichten resultiert der ewige Streit um das decanato, der Streit, welcher Verein nun älter und damit bedeutender ist. Nacional behauptet, Peñarol gäbe es in seiner jetztigen Form erst seit 1913, Nacional aber schon seit 1899. Peñarol setzt dagegen sein Gründungsdatum auf das Jahr 1891 an.
Es ist schwierig, zu sagen, inwiefern sich diese Ursprünge in der Zusammensetzung der Anhängerschaft heute noch abzeichnen. Die Anhänger von Peñarol, sagt man, gehörten in Anbetracht der Eisenbahnergeschichte eher der arbeitenden Bevölkerung an, während die Anhänger Nacionals eher der oberen Schicht entstammten. So soll die afro-uruguayische Minderheit, überwiegend Arbeiter, ausnahmslos Peñarol unterstützen. Am ehesten sind die Ursprünge sprachlich überliefert. Die Anhänger von Nacional sind bekannt als cuelludos, was abgeleitet ist von Stehkragen, der damaligen Mode reicher Herren. Die Anhänger von Peñarol dagegen nennen sich manyas (um den Rio de la Plata übliche Schreibweise für das italienische mangia). Diesen Namen soll ein Nacional Spieler italienischer Abstammung geprägt haben, als er seinen Gegnern zurief mangia-merde, zu deutsch, die, die Scheiße fressen. Man hat die Beleidigung offensichtlich zum Kompliment gewendet.

Politik am Ball

Wo es um Klassen geht, kann Politik nicht fern sein. So sind die dirigentes der beiden großen konservativen Parteien Uruguays, die blancos und die colorados, die Uruguay seit Jahren abwechselnd regieren, jeweils auch in den Vorständen der beiden großen Vereine vertreten. Peñarols Tradition ist colorado, und die von Nacional blanco (die blancos heißen offiziell Partido Nacional, sie sind aber nicht aus dem Verein hervorgegangen). Der gegenwärtige Präsident der Republik, Sanguinetti, war Vorstandsmitglied und zeitweise Präsident von Peñarol. Sein Sohn pflegt die Tradition im Vorstand heute weiter. Batalla, Vizepräsident Uruguays, war seinerseits Präsident der Ascociación Uruguaya de Fútbol (AUF), dem Uruguayischen Fußballverband.
Der Linken wird generell eine distanzierte Haltung in bezug auf die Verbindung von Politik und Sport nachgesagt. So wird der Gang ins Stadion aus linker Sicht oft als ein Beispiel von opium de las masas dargestellt und die großen Vereine als kapitalistische Geldmaschinen. Aber was ist mit Tabare Vázquez, langjähriger Vorsitzender des linken Parteienbündnisses Frente Amplio, von 1990-94 Bürgermeister von Montevideo und heute Präsidentschaftskandidat der Linken? Seinen allgemeinen Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad verdankt er seiner Präsidentschaft beim Fußballclub Progreso mit Sitz in dem traditionellen Arbeiterviertel La Teja. Vázquez war bis dahin als ausgezeichneter Arzt bekannt gewesen, was vielleicht in Fachkreisen, nicht aber in der Politik weiterhilft. So wurde Vázquez dank der Verbindung zu Fußball breiten Bevölkerungskreisen bekannt. Ist es ein Zufall, daß Progreso ausgerechnet 1989 uruguayischer Meister wurde und somit Peñarol und Nacional entthronte und im selben Jahr die Frente Amplio zum ersten Mal die Wahlen in Uruguay gewann, Vázquez zum Bürgermeister Montevideos avancierte und damit die jahrzehntelange Herrschaft der zwei großen Parteien gebrochen wurde?
Welcher der beiden großen Vereine schneidet in diesem Dauerduell besser ab? Das Spiel vom sonnigen Samstag im November gewinnt Peñarol, und auch die nächsten Meisterschaftsspiele gewinnt Peñarol. Und so wird Peñarol nicht nur uruguayischer Meister 1997, sondern gewinnt zusätzlich noch den quinquenio, denn Peñarol ist fünf Jahre in Folge Meister geworden. Ja, vielleicht ist Peñarol doch irgendwie besser, denn inzwischen hat der Verein 34 Meistertitel, Nacional bloß 25 auf seinem Konto.
Ich muß gestehen, es ist das erste Mal in meinem Leben, hier bei diesem clásico im November, daß ich mich in einem Fußballstadion befinde. Ich gestehe, Fußball ist nicht mein Ding. In Deutschland käme ich nie und nimmer auf die Idee zu einem von grölenden Fans beherrschten Fußballspiel zu gehen. Aber hier macht man es mir leicht: ganze Familien, Mate-trinkende Großväter, Anhänger der beiden Mannschaften vereinen sich in freundlicher Stimmung. Und daß Frauen nur die Hälfte des Eintrittspreises zahlen, so wie Minderjährige, freut mich ebenso. Obwohl ich unsicher bin, ob es sich dabei um Frauenförderung oder einen Ausdruck der grassierenden Lohndiskriminierung handelt.

Der verblassende Mythos

Ich bin hier, weil ich dem Mythos der Fußballnation Uruguay verfallen bin. So wie die meisten Uruguayer, denn die Größe des uruguayischen Fußballs ist nur noch ein Mythos. Peñarol und Nacional mögen zwar in Uruguay große Mannschaften sein und der clásico ein Erlebnis, doch blickt man über den Stadionrand hinaus, ist der Glanz des uruguayischen Fußballs verblichen. Der Ruhm Uruguays als Fußballnation gründet sich auf zwei olympischen Sieg, 1924 als Neulinge in Paris, vier Jahre später in Amsterdam. Noch stärker aber basiert er auf den zwei Weltmeistertiteln: 1930, bei der ersten offiziellen FIFA-Weltmeisterschaft in eben diesem Estadio Centenario errungen, und ein zweites Mal 1950 in Brasilien. Seitdem blieb Uruguay bei Weltmeisterschaften titellos. Wie schon bei der letzten WM, ist Uruguay auch in Frankreich Zuschauer, nachdem es in der Qualifikation kläglich scheiterte.
Obwohl die Erfolge schon lange zurückliegen, ist der (Fußball)-Stolz tief in der Nationalpsyche verankert. So hat UTE, der staatliche Elektrizitätskonzern, Ende letzten Jahres 1-9-3-0 als neue Kunden Service Telefonnummer auserkoren. Die Werbekampagne zur Lancierung der neuen Nummer zeigte ein altbekanntes Schwarzweißfoto des Sieges von anno 1930 mit dem Slogan: „Eine Zahl, die Du nie vergessen wirst“. Der große Wiedererkennungswert des Bildes kommt nicht aus dem Nichts. Durch die regelmäßige Ausstrahlung im Fernsehen — mindestens einmal wöchentlich wird der Sieg von 1930 in einem oder anderen Zusammenhang plaziert — hat sich die Jahreszahl 1930 eingeprägt. Um sich dieser Obsession zu stellen, organisierte 1990 die Friedrich-Ebert-Stiftung eine Tagung zum Thema Fußball und Uruguay. ¿Nunca más campeón mundial? lautet der Titel des dazu erscheinenden Buches.
Dabei sind die uruguayischen Spieler keineswegs schlecht: alleine beim italienischen Meister Juventus Turin spielen vier Uruguayer, allerdings ist nur einer Stammspieler. Vielleicht liegt es an der mangelnden Finanzkraft Uruguays, daß die guten Spieler abwandern. Und nicht nur die Spieler wandern ab: der Streit um eine Neuvergabe der TV-Übertragungsrechte, die bisher einem argentinischen Unternehmen gehörten, provoziert dieser Tage eine Krise, die schon zu Protestrücktritten im Vorstand der AUF geführt hat.
Daß man die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat und mit einer gewissen Selbstüberschätzung und gepflegtem Traditionsbewußtsein weitermacht, zeigt die blinkende Anzeige auf den diversen Internetseiten zum Thema uruguayischen Fußball: „FIFA WORLD CUP. URUGUAY 2030. Uruguay, donde todo comenzó.“ Man plant dreißig Jahre voraus, für den Traum, eine weitere Weltmeisterschaft in Uruguay nicht nur zu veranstalten, versteht sich, sondern auch zu gewinnen. So wie damals, „dort wo alles anfing“.

Wer noch nicht genug hat:
La Página del Fútbol uruguayo auf http://www.isfa.com/server/web/uruguay für die letzten Ergebnisse, Statistiken, Infos über Vereine, Meisterschaften, Spieler. La página manya, die Fanseite von Peñarol und ihrer Diaspora, auf http://www.manya.org . Die offizielle Seite von Nacional ist auf http://w3.cs.com.uy/nacional/, unter anderem mit ausführlicher Erläuterung zum décano-Streit. Aktuelle Berichterstattung auf der http://www.elsitio.com.uy, oder aber zu finden bei den zwei großen uruguayischen Tageszeitungen, http://www.diarioelpais.com/edicion/deportes.shtml und http://www.observador.com.uy.

Sieg im Volkssport

André Markovits hat vor einigen Jahren ein interessantes Essay geschrieben mit dem Titel: „Why is there no soccer in the United States?“ Unter dieser Fragestellung gelingen ihm wichtige Einblicke in die Besonderheiten des kulturellen Systems der USA. Für Lateinamerika müßte die Frage lauten „Why is there so much soccer in Latin America?“

Triumphe am Amazonas

Conde, eine etwas triste Stadt am Rio Tocantins, zwei Stunden von der Amazonasmetropole Belém entfernt, versprüht den herben Charme eines heruntergekommenen Badeortes, der inzwischen zur Aluminiummetropole und zum Industriehafen mutiert, aber auch schon im Neuen dekadent wirkt. Ein Strand mit Aussicht auf die Hafenanlagen, die fast das einzige Licht in die dunkle Nacht verströmen. Der tropische Regen will nicht aufhören und wir sitzen in einer recht finsteren Bar fest. An der Wand hängt als einziger Schmuck ein Bild von Ronaldinho, wie Ronaldo in Brasilien genannt wird, mit seinem Zahnspaltenstrahlen, das seine soziale Herkunft unübersehbar macht. Und im Fernsehen läuft natürlich Fußball, das Endspiel von São Paulo, Corinthians gegen FC São Paulo (ein packendes Spiel übrigens, das São Paulo mit den großartigen Rai und Denilson souverän gewinnt). Ich bin schnell als Gringo erkannt und nach meiner Herkunft befragt. „Ah, Deutschland…“ – und sofort kommt die Analyse. „Keine Chance bei der WM, guck hier, Ronaldinho, was habt ihr dem entgegenzusetzen.“ Meine Einwände – „also wißt Ihr eigentlich, wie der Torschützenkönig der italienischen Liga heißt: Bierhoff und nicht Ronaldinho“ – rufen ungefähr dieselbe Reaktion hervor, wie wenn ich erzähle, daß man in Europa fischt, indem man Löcher in vereiste Seen schlägt. Schnell hat sich in der kleinen Bar eine Triumphgemeinde über den Gringo zusammengeschlossen: Daß Brasilien mit Ronaldinho und Giovanni (der aus der Gegend stammt) unschlagbar ist, gilt als ausgemacht. Ich werde verspottet und verhöhnt, und an diesem tristen Abend feiert die Bar in dem abgelegenen Ort Amazoniens Brasilien, seine bisherigen und künftigen Titel. Als ich schließlich mit meinen spielverderberischen Hinweisen aufhöre – die WM hat ja noch gar nicht begonnen, Erinnerungen an die jüngsten Niederlagen gegen Argentinien und die USA(!) – und mich dumpfen Trinksprüchen ergebe, kippt die Stimmung. Ich werde allgemein bedauert, da ich aus einem Land komme, in dem man „futebol perna de pau“ (Holzbeinfußball) spiele, da wir keinen Romário, Ronaldinho, also keine cracks (oder craques auf gut portugiesisch) haben, und natürlich wird dem armen Kerl noch mehr Bier eingeflößt, um ihn angesichts solch verzweifelter Existenz etwas zu trösten.
Die kleine Episode enthält viele Elemente, die für die Stellung des Fußballs in Lateinamerika bezeichnend sind. Überall in der Welt hat Fußball mit Nationalismus oder zumindest mit nationalen Hochgefühlen zu tun. In Lateinamerika aber sind es geschundene Nationen, Völker, die marginalisiert sind und sich so fühlen, die sich in einigen Momenten nicht nur als Gemeinschaft von Hungerleidern, Gaunern oder Rumbatänzern wahrgenommen sehen. Nationale Identitäten in Lateinamerika sind aus verschiedenen Gründen oft prekär. In Brasilien, dem mit Abstand größten Land des Kontinents, bezeichnen sich die Menschen oft nicht als Brasilianer, sondern als baianos, mineiros, paulistanos etc. Daß im Inneren Amazoniens Brasilien gefeiert wird, ist keineswegs so selbstverständlich. In der Regel sieht man sich dort nicht gerne als Teil Brasiliens, fühlt sich von den „sulistas“, den Leuten aus dem „Süden“ Brasiliens (der bereits in Brasilia und Sao Paulo anfängt) systematisch verarscht.
Auch in Deutschland, Frankreich usw. ruft Fußball nationale Emotionen wach. Aber in „entwickelten“ Ländern ist der gesellschaftliche Zusammenhang viel stärker durch Institutionen vermittelt als in Lateinamerika. Sieg oder Niederlage mag schmerzlich sein, aber es ist nicht das zentrale Moment der Selbstdefinition. Es gibt gute Gründe für den Verdacht, daß dies in Brasilien, und nicht nur dort, anders ist. Ein brasilianischer Anthropologe und Fußballtheoretiker resümiert: „Wenn tatsächlich Karneval, Volksreligiosität und Fußball in Brasilien – im Unterschied zu Ländern in Europa und Nordamerika – grundlegend sind, dann sind die Quellen unserer sozialen Identität nicht zentrale Institutionen der sozialen Ordnung wie etwa Gesetze, Verfassung, das Universitätssystem oder die finanzielle Ordnung. Vielmehr sind es dann die Musik, das Verhältnis zu den Heiligen, die Gastfreundschaft, die Freundschaft, die Kameradschaft und natürlich Karneval und Fußball, die es dem Brasilianer erlauben, in einen permanenten Kontakt mit seiner sozialen Welt einzutreten.“

Könige und Horden

Ein gutes Beispiel für den zentralen Stellenwert des Fußballs für die Selbstdefinition als Nation lieferte die Tragödie Kolumbiens bei der WM 1994. Wir erinnern uns: In den Qualifikationsspielen trumpfte die kolumbianische Mannschaft mächtig auf. Als sie am 5.September 1993 die Argentinier in Buenos Aires mit 5:0 vom Platz fegten, ist plötzlich ein neuer Titelanwärter geboren. Dann die Ernüchterung bei der WM. Drei Spiele, zwei Niederlagen, darunter gegen die USA und ein unbedeutender Sieg gegen die Schweiz. Schließlich der absolute Tiefpunkt. Noch während die WM (ohne Kolumbien) weiterläuft, wird in Medellín Andrés Escobar erschossen, der im Spiel gegen die USA ein Eigentor fabriziert hatte. Darauf die kolumbianischen Wochenzeitschrift Semana: „Der Mord an Andrés Escobar bestätige als jüngste, nicht letzte Episode das wahre Wesen dieser Horde, auf deren Bezeichnung als Land wir beharren.“
Als Kontrast zu dieser mißlungenen Nationswerdung via Fußball, seien die euphorischen Worte des brasilianischen Dramatikers Nelson Rodrigues zitiert, die er nach dem WM Sieg 1962 in Chile schrieb: „Plötzlich erreicht der Brasilianer – vom armen Schlucker bis zum feinen Herren eine unerwartete und gigantische Dimension…Wir sind 75 Millionen Könige. Freunde, nach diesem Sieg will ich nichts mehr von Rußland oder den USA hören. Das ist die Wahrheit: Rußland und die Vereinigten Staaten beginnen der Vergangenheit anzugehören. Es war ein Sieg des brasilianischen Menschen, des größten der Welt. Heute hat Brasilien die Fähigkeit, eine Nation von Napoleons Größe zu schaffen.“
Nun, solche Euphorie mag heute befremdlich wirken, aber auch noch nach dem WM Sieg von 1994 titelt das seriöse Journal do Brasil: „Wir sind die Herren der Welt“. Das können natürlich so nur die sagen, die nie in Verdacht geraten, wirklich die Herren der Welt zu sein.

Vom Elitevergnügen zum Nationalsport

Der Aufstieg des Fußballs in Lateinamerika enthüllt ein spannendes und überraschendes Stück Sozialgeschichte. Überall begann der Fußball als Elitesport, eingeführt durch höhere Angestellte englischer Gesellschaften. Das erste klar bezeugte Fußballspiel auf brasilianischem Boden organisierte ein Brasilianer englischer Abstammung namens Charles Miller: The Sao Paulo Railway Team besiegt The Team OF Gas mit 4:2. In der Folge formieren sich die ersten Klubs, Treffpunkt der jungen Elite, die ausdrücklich Schwarze nicht zuließen, auch nicht auf dem Spielfeld.
Der Transformation des Fußballs vom Elite- zum Volkssport kann hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden. Nur so viel: Es dürften wohl gerade funktionale Elemente des Fußballs sein, die ihn nicht nur in großen Teilen Lateinamerikas zu der modernen Sportart schlechthin gemacht haben. Im Gegensatz zur aristokratischen Betonung der Performance (etwa im Dressurreiten) ist Fußball durch seine Erfolgsorientierung geprägt. Er spiegelt die Leistungsorientierung einer modernen Industriegesellschaft wieder. „Siegen, Siegen, Siegen“, heißt es in der Hymne des populärsten brasilianischen Klubs – Flamengo – und auf diesen Siegeswillen steuert die Logik des Fußballs erbarmungslos zu.
Diese Erfolgsorientierung muß schließlich das elitär aristokratische Gefüge unterminieren: die Erfahrung zeigt, daß ein Klub, der bereit war alle Talente einzuspannen (zunächst die Arbeiter der Firmen, schließlich auch Schwarze) einfach erfolgreicher war als reine Oberschichten-Teams. Das Aufkommen des Fußballs erscheint damit als ein Moment der partiellen Industrialisierung und Proletarisierung der urbanen Zentren Lateinamerikas. Dabei ist er sicherlich nicht ein Reflex, sondern ein aktives Element – zumindest auf der ideologischen Ebene –eines langsamen und widersprüchlichen Prozesses. Die industrielle Moderne Lateinamerikas wächst in einer durch traditionelle Hierarchien geprägten Gesellschaft, die weder kulturell noch sozial auf die Industrialisierung eingestellt war. Das heißt, der Markt und seine universellen Gesetze leben in problematischer Symbiose mit den traditionellen Hierarchien.

Der Aufstieg der Schwarzen im Fußball

In dieser Konstellation steht der Fußball zumindest mit einem starken Standbein in der Sphäre der universellen Geltung, in der letztendlich die Leistung auf dem Feld zählt und nicht die gesellschaftliche Stellung außerhalb desselben. In einer noch hierarchisch-traditionell geprägten Gesellschaft ist das Fußballfeld wahrlich Spielwiese für Gleichheit und soziale Gerechtigkeit á la Kapitalismus. Diese doch recht abstrakten Ausführungen sollen nun an einem Beispiel dokumentiert werden.
In den Frühzeiten des brasilianischen Fußballs versuchte der Klub América (Rio de Janeiro), sein Team durch lokale Cracks zu verstärken. Bei der Talentsuche stieß man auf einen Seemann namens Manteiga (Butter), wohl wegen seiner „butterweichen „ Flanken so genannt. Manteiga wird angeworben und bei der Firma eines der Direktoren des Klubs beschäftigt. Als sich Manteiga für sein erstes Spiel beim neuen Verein umziehen will, verlassen andere Spieler die Kabine. Manteiga war schwarz. Neun Spieler der ersten Mannschaft treten aus dem Verein aus, um gegen den Einsatz des Schwarzen zu protestieren. Die Vereinsführung hält an Manteiga fest, der aber den Druck aufgrund des Wirbels um seine Person nicht aushält. Bei einer Reise Américas nach Salvador, der Hauptstadt des schwarzen Brasiliens und Heimatstadt Manteigas, setzt er sich ab und bleibt dort.
Am 13. November 1927 findet das Endspiel um die brasilianische Meisterschaft statt. Wie üblich stehen sich ein Team aus Rio und eins aus Sao Paulo gegenüber. Fußball ist inzwischen zu einer Massenveranstaltung geworden. Das Stadion von Sao Januário, zu seiner Zeit das größte Lateinamerikas, ist mit 50.000 Zuschauern gefüllt, unter ihnen der Präsident der Republik, Washington Luís. Was während dieses Spiels geschieht, beschreibt der Chronist des Aufstieges der Schwarzen im brasilianischen Fußball, Mário Fulho, folgendermaßen:
„Plötzlich ist das Spiel unterbrochen, es geht nicht weiter, der Schiedsrichter hat einen Elfmeter gegen Sao Paulo verhängt. Die Paulistas verlassen das Feld. Washington Luís bleibt ernst, er gibt einen Befehl an einen Offiziellen. Er gibt den Befehl, das Spiel solle weitergegehen, dies sei ein Befehl des Präsidenten der Republik.
Der Regierungsbeamte tritt aufs Feld, geht zu den Spielern Amílcar und Fetício. Und mit finsterem Gesicht übermittelt er die Botschaft: ‘Der Präsident der Republik hat den Wiederbeginn des Spiels angeordnet.’ Die Antwort von Fetício, einem ‘verstellten Mulatten’, der nicht mal der Kapitän des Teams aus Sao Paulo war, lautete, daß da oben, auf der Ehrentribüne, der Doktor Washington Luís seine Befehle geben könne, aber hier unten auf dem Feld sei er es, der befehle. Und um zu zeigen, daß dies nicht nur Worte waren, gab er ein Zeichen, und die Spieler aus Sao Paulo verließen hinter ihm den Platz. Washington Luís, Präsident der Republik, konnte nur weggehen, aufs äußerste verletzt.“
Zwischen beiden Episoden liegen nur einige Jahre, und sie markieren weniger eine gradlinige Geschichte als Extrempunkte in einem Feld von Konflikten. Die Diskussion etwa um die schwarzen Spieler wird endgültig erst 1958, durch den Aufstieg Pelés entschieden. Daß 1927 ein Farbiger dem brasilianischen Präsidenten so gegenüber treten konnte, zeigt, daß der Fußball in der Lage war, ein eigenes soziales „Feld“ zu erzeugen, das zumindest partiell eine Gegenerfahrung zu den traditionllen Hierarchien darstellte.

Die Originalität der Kopie

Fußball in Lateinamerika ist ein europäisches Erbe. Das zeigt sich auch heute noch in Klubnamen und Fachvokabular (chute – brasilianisch für Schuß, vom englischen shoot). Die Übernahme europäischer Gepflogenheiten ist keine Überraschung auf einem Kontinent, der Länder beherbergt wie Argentinien und Uruguay, die sich lange Zeit eher als verirrter Teil Europas sehen wollten, dessen Eliten sich den Eliten Europas näher fühlten als dem eigenen Volk. Jeder kennt in Südamerika den Kalauer, daß ein Argentinier ein Italiener ist, der spanisch spricht, ein Engländer sein möchte und dessen Eliten auch heute eher Miami und Paris heimsuchen als im eigenen Hinterland Urlaub zu machen. Aber den Fußball in Lateinamerika als pure Übernahme (quasi-)kolonialer Traditionen (wie Hockey in Indien und Pakistan) zu sehen, hieße gerade die Pointe des lateinamerikanischen Fußballs zu verkennen: Der lateinamerikanische Fußball ist anders als der europäische. Er hat die englische Balltreterei gründlich transformiert. Er insistiert auf der Originalität der Kopie – allerdings ist diese, seine angebliche Besonderheit heute gerade umstritten. Zitieren wir zunächst einen europäischen Zeugen, Nick Hornby, den Autor des besten Fußballbuches („Fever Pitch“) der letzten Jahre. Mitten in seinen Beschreibungen trostloser Spiele seines Vereins Arsenal London findet sich angesichts des WM-Sieges 1970 in Mexico ein kurzer Abschnitte über Pelé und den brasilianischen Fußball: „Es war jedoch nicht nur die Qualität ihres Fußballs, es war die Art, wie sie die unerhört raffinierte Verschönerung des Spiels so betrachteten, als sei sie ebenso funktional und notwendig wie ein Eckball oder ein Einwurf… Selbst die brasilianische Art, Tore zu feiern, war fremdartig, lustig und beneidenswert, alles zur gleichen Zeit. In gewisser Weise haben die Brasilianer es für uns alle verdorben. Sie hatten eine Art platonisches Ideal enthüllt, das für immer unerreichbar bleiben sollte, sogar für sie selbst.“

Futebol-arte oder herzloser Erfolg

Futebol-arte heißt die brasilianische Selbstqualifizierung, und in Argentinien hatte einst Cesar Menotti, der Trainer der Weltmeisterelf von 1978, die Parole vom „linken“ Fußball ausgegeben. Beide Konzepte sind alles andere als eindeutig oder unumstritten. Um diese Frage der Besonderheit des lateinamerikaischen Fußballs hat sich in den letzten Jahrzehnten eine große und populäre Debatte entspannt, die Grundfragen lateinamerikanischer Identität berührt. Wie bestimmt Lateinamerika sich in der heutigen Welt, in der „Moderne“. Ist es nur die Anpassung, die erbarmungslose Mimikry, die einen Platz in einer zunehmend vereinheitlichten Welt ermöglicht? Oder gibt es eine lateinamerikanische Besonderheit und kann sie sich behaupten? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht so eindeutig wie es zunächst scheint. Natürlich sind Intellektuelle, Sportjournalisten und viele Fans zunächst Anhänger des futebol-arte. Aber dem Fußball ist eben auch die (fast) unbedingte Erfolgsorientierung zu eigen, und nach einigen Niederlagen mit futebol-arte verstärken sich immer wieder die Stimmen, die nach einem kühlen, erfolgsorientierten Fußball rufen. In Argentinien hatte Menottis Nachfolger Bilardo diesen „europäischen“ Fußball auf seine Fahnen geschrieben und wurde entsprechend von Menotti kritsiert: „Er tötet das Herz unseres Fußballs mit seiner Betonstrategie“, er wolle nur „Anpassung und Berechnung statt Emotion und Risiko“ . Aber als Bilardo Argentinien 1986 zum zweiten WM-Titel führte, verstummte solche Kritik.

Mit coitus interruptus zum Sieg?

Als Brasilien bei den WMs 1982 und 1986 mit technisch brillanten Teams ausschied, schlug die große Stunde der Anpasser. Schön gespielt, aber verloren – soll das unser Schicksal sein, sollen wir zum ewigen Scheitern in Eleganz verurteilt sein? Nein, sagte Lazaroni, der Trainer von 1990, verkündete die Ära Dunga (ein technisch mittelmäßiger Spieler) und den futebol de resultados – und verlor ebenfalls. Als es 1994 dann doch gut ging, mit einem weniger radikalen Konzept, aber doch mit einem ziemlich defensiven System, freute sich Brasilien über den Titel, doch die richtige Euphorie wollte nicht aufkommen. Die Folha de Sao Paulo schrieb, der Fußball des WM-Teams sei wie coitus interruptus.
Symptomatisch für eine solche Diskussion um den Fußball ist eine Reaktion des brasilianischen Trainers von 1994, Parreira, der auf die Frage eines französischen Journalisten, ob die brasilianische Mannschaft nicht übertrieben diszipliniert und organisiert spiele, antwortet: „ Ich habe verstanden. Ihr wollt das alte Brasilien, schlecht organisiert und improvisiert. Was ist falsch daran, sich zu organisieren? Wenigstens im Fußball, wenn es nach mir ginge, werdet ihr nie mehr ein unorganisiertes Brasilien sehen.“ Parreira wird über die Taktik seiner Mannschaft befragt und antwortet mit Reflexionen über Brasilien.
Fußball bietet ein Diskussionsfeld, das weit über ihn hinausgeht. In den unzähligen Fußballdiskursen (Artikeln, Fernsehkommentaren, Gesprächen) entwerfen Lateinamerikaner ein Bild davon, wie sie ihr Land sehen (möchten), entwickeln Utopien und Kritiken. Und sie diskutieren dabei das Verhältnis Lateinamerikas zum Rest der Welt. Offensichtlich ist die Polarisierung futebol-arte versus erfolgsorientierter Fußball eine der unzulässigen Vereinfachungen, zu der polarisierte Debatten neigen, aber sie markiert das Spannungsfeld der aktuellen Diskussionen. Ist der futebol-arte nur eine wehmütige Erinnerung, gar ein platonisches Ideal, wie Hornby meint? Diktiert die Globalisierung auch im Fußball? Oder hält sich dieser hartnäckige Rest, die Spielfreude, die ästhetische Wonne, die alegría?
Was wird nun in diesem scheinbar endlosen „Kampf zweier Linien“ die bevorstehende WM bringen? Einen weiteren Rundensieg des kalkulierten, rationalisierten Einheitsfußballs oder ein erneutes Aufflackern des „anderen“ Fußballs, der eine Hoffnung wachhält, daß das letzte Wort noch nicht gesprochen worden ist, weder in Lateinamerika noch anderswo?

Wer mehr zum Thema lesen will, sei ausdrücklich auf das Jahrbuch Lateinamerika 19, 1995 verwiesen. Teile dieses Artikels finden sich dort in dem Aufsatz „Das Vaterland der Fußballschuhe. Ein kleine Sozialgeschichte des brasilianischen Fußballs.“. Die Ausführungen über die kolumbianische Fußballtragöde basieren auf einem Aufsatz von Ciro Krauthausen im selben Jahrbuch. Das zitierte Buch von Nick Hornby ist bei KiWi erschienen und sei auch Nicht-Fußballfans zur Lektüre empfohlen.

Samba, Coca und Tore, die überall lauern.

Wie alle männlichen Einwoh-
ner Uruguays wollte ich einmal Fußballer werden.“ Aus dem Jugendtraum, zu dem sich Eduardo Galeano in seinem 1997 erschienenen Buch „Der Ball ist rund und Tore lauern überall“ bekennt, ist nichts geworden. Zum Glück, denn ob der Fußballer Galeano „Die offenen Adern Lateinamerikas“ und damit eines der wichtigsten Bücher der letzten 30 Jahre über diesen Kontinent geschrieben hätte, ist zumindest sehr fraglich. So aber hat der leidenschaftliche Fan, „Der Spieler mit der Nummer Zwölf“, sich selbst aufgestellt und erzählt Geschichten und Anekdoten über das Spiel, das überall auf der Welt so viele Menschen in seinen Bann zieht .
Zu Beginn des Buches, das im Original unter dem Titel „El fútbol a sol y sombra“ erschienen ist, beschreibt der Uruguayer in seinem typischen anekdotischen Stil alles, was zum Spiel dazugehört: der Fan, der Schiedsrichter, das Stadion, der Ball werden hin und her gespielt und im Licht, aber eben auch im Schatten betrachtet. Auch historische Kuriositäten gräbt Galeano aus. Wer wußte schon, daß erst 1938 drei argentinische Tüftler aus Córdoba den Ball erfanden, der der Vorgänger des heutigen runden Leders ist. Sie erfanden eine Blase mit Ventil, die man mit einer Pumpe aufblasen konnte. Seitdem ist es möglich zu köpfen, ohne sich an dem Netz zu verletzten, das vorher den Ball zusammengehalten hatte.
„Verrückte, das sind verrückte Engländer“, so zitiert Galeano aus den Erinnerungen eines Journalisten. Der hatte als Kind verwundert seinen Vater gefragt, warum die blonden Jungen gleich neben dem Irrenhaus andauernd gegen einen Ball treten.

So kam der Fußball
nach Lateinamerika…
Die Frage, wer mit diesen Verrücktheiten angefangen hat, wird letztendlich wohl nie entschieden werden. Doch waren es unbestreitbar die Engländer, die neben Eisenbahnen, Manchester-Kapitalismus und anderen nützlichen Dingen auch den Fußball mit (höchst britischen) Regeln nach Lateinamerika exportierten. Genauer gesagt, an den Río de la Plata. Dort fand auch 1889 das erste „Länderspiel“ zwischen Montevideo und Buenos Aires statt, das eben die britischen Handelsvertreter und Diplomaten unter sich ausmachten. Ziemlich schnell allerdings wurde der Fußball immer weniger englisch und immer mehr südamerikanisch. Die Mützen, Hüte und schweren „Manfield-Stiefel“ wurden abgelegt, Trikots wurden erfunden, Brasilien lieferte Capoeira und Samba als Zugaben, die La-Plata-Länder den Tango. „Wie der Tango, so wuchs auch der Fußball von den Vorstädten aus. Und so entstand an den Füßen der ersten virtuosen südamerikanischen Spieler der „toque“, die typisch südamerikanische Art des Dribblings: der Ball, der wie ein Instrument gespielt wird, wie eine Gitarre, wie eine Quelle der Musik.“
Viele Porträts der oft glücklichen, meist aber auch tragischen und einsamen Helden des Mannschaftsports Fußball zeichnet Galeano in seiner kleinen Geschichtsschreibung nach. So das Schicksal des ersten schwarzen Fußballers in Lateinamerika, des Uruguayers Andrade oder des krummbeinigen Brasilianers Garrincha, der bei der WM 1962 zum besten Spieler gewählt wurde, aber seinen Tod „arm, im Suff und einsam“ starb.

Uruguayische Höhenflüge
Überall auf der Welt heißt Fan sein auch parteiisch sein. Und wenn ein Chronist des Fußballs aus einem Land kommt, in dem schon die Kinder als Anhänger von Nacional oder Peñarol auf die Welt kommen, dann ist es vielleicht auch verständlich, daß Galeano seine Landkarte der Fußballwelt anders zeichnet als die Geographen. Und zumindest in der Vergangenheit war Uruguay im Fußball eine Weltmacht. Schließlich hat es zwei Olympiasiege und zwei WM-Titel errungen. 1924 gewann die Mannschaft aus Uruguay bei der Olympiade in Frankreich als erste südamerikanische Mannschaft die Goldmedaille. Auf dem Weg dahin hatten sie aber allerlei Demütigungen zu überstehen: Im Spiel gegen Jugoslawien wurde die Fahne verkehrt herum aufgezogen (mit der Sonne nach unten) und anstelle der Nationalhymne wurde ein brasilianischer Marsch gespielt. Das Spiel aber gewann Uruguay mit 7 : 0. Heute ist von diesem Glanz allerdings nicht viel übriggeblieben, außer einer grenzenlosen Selbstüberschätzung. Der uruguayische Soziologe Rafael Bayce beschreibt das so: Im Vorfeld der WM 1986 wurden in einer Umfrage die einheimische Bevölkerung und die in anderen Ländern nach den Chancen der einzelnen Teams befragt. Die Meinung über die bundesdeutschen Kicker von Deutschen und Nichtdeutschen war ungefähr gleich, und auch die Brasilianer schätzten ihre Mannschaft nicht viel besser ein als der Rest der Welt. Die Spanier überschätzten ihre Truppe nach dieser Umfrage etwa sechsmal, die Uruguayer jedoch etwa 45mal gegenüber den Befragten in anderen Ländern. Ein schon pathologisches Anzeichen von Realitätsflucht, wie Bayce anmerkt.
Die schönste Geschichte im Buch stammt übrigens nicht vom Autor selbst. In „Tor durch Sanfilippo“ des argentinischen Schriftstellers Osvaldo Soriano spielt der Held ein „Fußballspiel“ im Stadion San Lorenzo nach. Zwischen Kochtöpfen, Käse und Knackwürsten erzielt José Sanfilippo noch einmal „das schnellste Tor der Geschichte“, diesmal allerdings in einem riesigen Einkaufszentrum von Buenos Aires, das Stadion ist inzwischen abgerissen.

Schattenseiten
Wie immer bei Galeano ist auch seine kleine Geschichte des Fußball nicht zu trennen von dem, was sich jenseits des Spielfeldes abgespielt hat. Natürlich erzählt er auch vom „Fußballkrieg“ zwischen Honduras und El Salvador im Jahr 1969. Und von der WM 1978 in Argentinien. Während die holländischen Vizeweltmeister sich weigerten, den Führern der argentinischen Diktatur die Hand zu geben, steht stellvertretend für die deutsche Haltung ein Zitat von Berti Vogts, dem damaligen deutschen Mannschaftskapitän: „Argentinien ist ein Land, in dem Ordnung herrscht. Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen.“ Aber nicht nur davon, auch von Nationalismus, der Macht der FIFA und von dumpfer Gewalt ist die Rede. Kommerz buchstabiert Galeano von A wie adidas bis Z wie Zirkusaffen (die Spieler) durch.
Nach dem Endspiel der WM 1970 in Mexiko zwischen Italien und Brasilien titelte die englische Presse: „Ein solch schöner Fußball müßte verboten werden“. Wenn es dieses Jahr mit ähnlichen Lobeshymnen nichts werden sollte, ist Galeanos Buch sicher eine kleine Entschädigung. Wenn doch, dann ist es eine prima Zugabe. Brasilien überrollte übrigens Italien damals mit 4 : 1.
Eben dieses Spiel, das WM-Fi-
nale zwischen Brasilien und Italien am 21. Juni 1970, ist für den englischen Journalisten Chris Taylor die Geburtsstunde des lateinamerikanischen Fußballs. Was angesichts der triumphalen Erfolge in den vorhergegangenen 50 Jahren doch etwas verwundert. Aber wie auch immer, die „beste, die erregendste Mannschaft der Welt“, wie er das brasilianische Team von 1970 bezeichnet, nicht gesehen zu haben, stimmt schon etwas betrüblich.
Taylors 1998 erschienenes Buch „Samba, Coca und das runde Leder“ ist das Resultat von „Streifzügen durch das Lateinamerika des Fußballs“, wie es im Untertitel heißt. Streifzüge, die er zwischen 1995 und 1997 unternommen hat, einem Zeitraum, der von der Qualifikationsrunde zur WM in Frankreich beherrscht wurde. Nie wird er auf den 223 Seiten des Buches aber betriebsblind: immer versucht er auch die Hintergründe des Spiels zu vermitteln, das Spielfeld des Fußballs hat für ihn die Größe des gesamten Kontinents, die Protagonisten sitzen nur allzu oft an den Hebeln der Macht und lassen die oben erwähnten Zirkusaffen bzw. die Spieler tanzen. Und doch, trotz der politischen, historischen und sozialen Informationen ist es ein Buch über Fußball. Über den Fußball, wie er sein könnte und sein sollte und eben ein Buch über den Fußball, wie er tatsächlich ist.

“Hoffnungslos nostalgisch“
Seine Reise beginnt Chris Taylor am Río de la Plata. Eduardo Galeano hätte sicher seine Freude daran, daß die erste Station auf den Streifzügen des fußballverrückten Engländers Uruguay ist. Mit einer ungeheuren Detail- und Faktenkenntnis spielt sich der Autor akribisch von dort bis nach Mexiko vor. Auch eine Art der Geschichtsschreibung.
Charakteristisch für den Fußball in Uruguay, Argentinien und Brasilien sind die großen Duelle zwischen den ewigen Rivalen Peñarol und Nacional, Boca Juniors und River Plate, Flamengo und Fluminense. Wer wie warum zu welchem Verein gehört und wie sich diese im Laufe der Zeit entwickelt und verändert haben, beschreibt Taylor in einer bewundernswerten Neutralität. Wer einige Zeit in einem dieser Länder verbracht hat, kann es kaum vermeiden, irgendwann einmal Stellung dazu beziehen, welcher „sein“ Verein ist, Ausländer oder nicht. Das wird auch Chris Taylor nicht anders gegangen sein, anmerken läßt er es sich aber nicht.
Der Fußball in Uruguay ist für ihn „hoffnungslos nostalgisch“. Das Land lebt von und in seiner Vergangenheit, die auch schon mal deprimierende Gegenwart wird ausgeblendet. Spätestens seit der WM 1986 gilt Uruguay allgemein aber als unwürdiges Team von Grätschern und Rauhbeinen, daran haben auch die internationalen Erfolge von Nacional und Peñarol wenig geändert. Die „garra charrúa“, einst Ausdruck für Mumm, Kampfgeist und Wildheit ist heute zu einem Synonym für Nachtreten und den Gegenspieler wüst von den Beinen zu holen, geworden. Außer den Uruguayern selbst war dann auch wohl niemand traurig, daß das Land die Qualifikation zur WM 98 in Frankreich nicht schaffte. Argentinien: Die WM 1978, das Ballspektakel fürs Vaterland unter der Militärdiktatur, die Rivalität zwischen den wechselnden ehemaligen Nationaltrainern „El Narigón“ (Große Nase) Bilardo und „El Flaco“ (Der Hagere) Menotti und natürlich das Phänomen Maradona sind die Stationen von Chris Taylor. Das politische Potential des Fußballs wird hier besonders offensichtlich. Die Militärdiktatur wußte dieses geschickt auszunützen. Dagegen half auch nicht der „Waffenstillstand“, den die Montoneros, eine peronistische Stadtguerilla für die Dauer der WM 1978 verkündeten. Ihre Hoffnung, daß sich das Interesse der Welt auf die Verbrechen der Militärjunta richten würde, ging im Siegestaumel beim Gewinn des Titels unter. Ein Titel, durch den der linke Intellektuelle Menotti die Wünsche der Militärs erfüllte.

Andenluft und Fußballtoto
In Bolivien findet Taylor Vereine mit solch schönen programmatischen Namen wie The Strongest, Destroyers oder Always Ready, auch hier kam der Fußball mit der englischen Eisenbahn Ende des letzten Jahrhunderts an. Heute geht es in Bolivien vor allem um eins: der gefährlichste Gegner ist für das Land die Höhenangst der Anderen. Seit der Empfehlung der FIFA von 1995, internationale Spiele ab einer Höhe von über 3.000 Metern über dem Meeresspiegel zu verbieten, sind die bolivianischen Fans außer sich vor Wut und die Souveränität scheint ähnlich bedroht wie vor 150 Jahren, als das Land im „Krieg um den Pazifik“ seinen Zugang zum Meer verlor. Wer hat die Bolivianer denn gefragt, ob sie bei 40 Grad und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit in Bahia in den brasilianischen Tropen spielen wollen. In Kolumbien sind es die Drogenkartelle, die eher offen als verdeckt bei jedem Spiel mit auflaufen. Die Mannschaften des Cali-Kartells traten in den achtziger Jahren gegen die des Medillín-Kartells an. Unsummen wurden unter der Regie der Drogenbosse verwettet. Und das nicht nur auf das Ergebnis. Auch darauf, wer den ersten Eckball schießt, wer zur Halbzeit führt, auf nahezu alles. Wurde eine Rechnung danach nicht eingehalten, wurde schon mal mit der Waffe abgerechnet. Viel verändert hat sich bis heute nicht. 1997 stellte eine Untersuchung fest, daß 80 Prozent des Kapitals bei den Topvereinen in den Händen der Drogenkartelle liegen. Trotzdem hat der kolumbianische Fußball aber auch durch seine internationalen Erfolge Aufsehen erregt. Mit einem historischen 5:0 Sieg in Buenos Aires qualifizierte sich die Mannschaft 1993 für die WM in den USA und wurde dort als Geheimfavorit gehandelt. Tatsächlich endete der Ausflug aber in einem Debakel und ein Spieler überlebte die Niederlage nicht. In „Eigentor in den Tod: Warum Andrés Escobar sterben mußte“ beschreibt Taylor dieses dunkle Kapitel. Der Kolumbianer wurde nur wenige Tage nach seinem verhängnisvollen Eigentor im Spiel gegen die USA in seiner Heimatstadt Medellín erschossen. Im Gerichtssaal wurde behauptet, daß der Killer sechs Schüsse abfeuerte und dazwischen jeweils Tor brüllte.

Kommerz, Korruption
und Abhängigkeiten
Nicaragua, „Das Land, das der Fußball vergaß“, durchstreift Chris Taylor hauptsächlich deshalb, weil es eines der wenigen Länder in Lateinamerika ist, in dem der Fußball keine Rolle spielt. Entsprechend geht es in dem Kapitel auch fast mehr um Baseball, den aus den USA importierten Nationalsport, als um Fußball. Aber der Autor sieht einen Hoffnungsschimmer: in der kleinen Stadt Diriamba, von dem Verlag das „Schalke Nicaraguas“ genannt, hat er eine Ecke ausgemacht, in der das Herz für Fußball schlägt.
Nur auf der letzten Station seiner Streifzüge, auf dem Spielfeld Mexiko verläuft sich der Autor. Zu undurchschaubar ist das Geschäft mit dem Fußball. Mannschaften werden nach Bier-sorten benannt oder umgekehrt, und Televisa, das größte Fernsehunternehmen der spanischsprachigen Welt, besitzt neben den Übertragungsrechten auch noch gleich die Vereine selbst. Zu undurchsichtig auch das bizarre Gestrüpp der Ersten Liga, die in vier Gruppen mit vier (oder auch fünf) Mannschaften unterteilt ist. Über Auf- und Abstieg wird nach jeweils drei Saisons entschieden, die durchschnittliche Punktzahl aus allen Runden ist entscheidend. Ähnlich der Situation in der Politik, ist auch der Fußball in Mexiko ein unentwirrbares Knäuel von Kommerz, Korruption und Abhängigkeiten. Trotzdem glauben aber die Mexikaner, ihr Fußball sei sauber. Nicht daß sie es nicht besser wissen würden, die seit jetzt 69 Jahren regierende PRI, die Partei der Institutionalisierten Revolution, hat dafür zu viel Anschauungsunterricht geliefert; sie wollen die Wahrheit nicht wissen.
Obwohl vom Stil her sehr unterschiedlich, haben die Fußballbücher von Eduardo Galeano und Chris Taylor doch vieles gemeinsam. Die Verfasser outen sich als leidenschaftliche Fans und beide versuchen, das Spiel mit dem runden Leder, bei dem die Tore lauern, auf ihre ganz eigene Weise zu schildern. Und beide schreiben über viel mehr als nur über das Spiel mit „dem rollenden Runden im flachen Eckigen“ (A. Mitscherlich). Der eine als Schriftsteller, der andere als Journalist. In ihrer gemeinsamen Unterschiedlichkeit ergänzen sich die beiden Bücher deshalb hervorragend. Ein perfekter Doppelpack für alle diejenigen, die vor dem Spiel und nach dem Spiel immer noch nicht genug von der „Droge“ Fußball haben. Aber genauso für die anderen, die es auch geben soll: wer immer schon mal verstehen wollte, wieso man in Begeisterung ausbrechen kann, wenn 22 Verrückte nach einem Ball treten, der ist vielleicht nach der Lektüre weniger ratlos
Natürlich darf in beiden Büchern auch nicht der Querpaß auf den neben Pelé und Maradona berühmtesten Fußballer des lateinamerikanischen Kontinents fehlen, einen asthmakranken Torhüter aus Argentinien mit dem Vornamen Ernesto, der später in Kuba und dann in Bolivien seinen Teil zur lateinamerikanischen Identität beitrug. Aber das ist jetzt wirklich eine andere Geschichte.

Eduardo Galeano „Der Ball ist rund und Tore lauern überall“, Peter Hammer Verlag 1997, Wuppertal, 277 Seiten.
Chris Taylor „Samba, Coca und das runde Leder“, Schmetterling Verlag 1998, Stuttgart, 223 Seiten.

Gerechtigkeit gibt es nur in Fazendinha

Sie haben vor 25 Jahren ihr Buch „Die offenen Adern Lateinamerikas“ veröffentlicht, das eine ganze Generation der sich politisierenden Jugend Lateinamerikas tief geprägt hat. Sie gelten allgemein hin als politischer Autor, doch vor kurzem ist von Ihnen ein Buch über Fußball erscheinen. Weshalb haben Sie ein Fußballbuch geschrieben?

Wie hätte ich kein Buch über Fußball schreiben können? Es gibt wenig Spiegel der Realität, die so mächtig sind wie der Fußball und so wichtig als Quellen kultureller Energie. Die Leute erkennen sich in der Art zu spielen wieder, so wie sie sich in der Art zu Essen oder zu Tanzen wiedererkennen, das sind kulturelle Indikatoren. Sag mir wie du spielst, und ich sage dir, wer du bist.

Das heißt, auch Machtverhältnisse spiegeln sich im Fußball wieder?

„Die offenen Adern Lateinamerikas“ handelte von den Exportindustrien. Es geht darum, daß die lateinamerikanischen Länder zu einer Entwicklung nach außen verurteilt sind. Anstatt nach innen gerichtet zu sein, folgt ihre Entwicklung fremden Bedürfnissen. Das findet auch seinen ideologischen und kulturellen Ausdruck: in der Verachtung für alles von innen kommende und der Verehrung dessen, was von außen kommt sowie der Verachtung für alles von unten kommende und der Unterodnung unter alles, was von oben kommt. Im Fußball ist es genauso. Fußball ist in Lateinamerika eine Exportindustrie. Ich komme aus Uruguay, einem Land, das Beine verkauft. Es verkauft Hände, also Arbeitskraft, aber auch Beine, wir könnten es die „Beinkraft der Fußballfelder der Welt“ nennen. Es ist also eine Exportindustrie im Dienste fremder Interessen, so wie jede andere Industrie auch.

Was ist am Fußball noch politisch?

Es gibt im Fußball keinen Bereich, der nicht den Verdacht erwecken würde, politisch zu sein. Daher finde ich es immer sehr unterhaltsam, wenn die Männer der FIFA erklären, es sei verboten, politische Propaganda zu machen, wo sie es doch die ganze Zeit tun. Sie machen politische Propaganda für ein monarchistisches und undemokratisches Machtsystem. Wenn sie den Spielern nicht einmal die Möglichkeit einräumen, „piep“ zu sagen, wenn es darum geht Entscheidungen zu treffen. Der Generalsekretär der FIFA Joseph Blatter wurde kürzlich befragt, was er über die internationale Spielergewerkschaft denke. Und dieser Oberbürokrat, der immer in dicker Limousine mit schwarzem Chauffeur herumfährt, aber in seinem ganzen Leben außer als Zuschauer noch nie ein Fußballfeld betreten hat, antwortete: „Mit den Spielern haben wir nichts zu reden, das sind Angestellte“. Die Spieler sind aber die Protagonisten der Veranstaltung, also ist Fußball antidemokratisch organisiert, so wie es mit der Welt auch ist. Der Fußball ist ein Spiegel der Welt.

Gibt es einen rechten und linken Fußball?

Nein, ich glaube nicht, daß er an dieser Linie entlang verläuft. Er ist Indikator kultureller Identität. Es gibt verschiedene Arten zu spielen und sie reflektieren die verschiedenen Arten zu sein, in einer Welt, die glücklicherweise verschiedenartig ist. Der Fußball tendiert ebenso zu einer Angleichung, zu einem Fußball, der aus Geschwindigkeit und Kraft besteht. Aber man sieht ja, was mit Brasilien geschieht. Ich habe mir die letzten Spiele angesehen, und es war ein Fest für die Augen, ein Wunder. Ich mag Fußball sehr gerne und es tut mir leid, wenn das der intellektuellen Tradition der Verachtung gegenüber dem Fußball entgegenläuft. Für die rechten Intellektuellen ist der Fußball der Beweis dafür, daß das gemeine Volk mit den Füßen denkt und für die linken Intellektuellen ist der Fußball daran schuld, daß die Bevölkerung nicht denkt. Wenn es den Fußball nicht gäbe, wäre schon längst eine soziale Revolution ausgebrochen und sie wäre rein und wirklich. Wir wären alle glücklich, wenn es den Fußball nicht gäbe …

Doch das einzige Zentrum der Gerechtigkeit, das auf diesem Planeten existiert, ist eng mit Fußball verknüpft. Es handelt sich um einen Ort Namens Fazendinha, ein kleines verlorenes Dörfchen an der Mündung des Amazonas. Das ist das Reich der Gerechtigkeit, denn das Fußballfeld wird dort genau in der Mitte durch den Äquator geteilt, jede Mannschaft spielt also eine Halbzeit auf der nördlichen Halbkugel und eine Halbzeit auf der südlichen. Das ist der einzige Platz auf diesem Planeten, an dem Gerechtigkeit herrscht. Überall sonst ist der Kampf ungleich, denn die reichen und die armen Länder messen sich nie mit gleichen Bedingungen, ebensowenig die unterernährten Spieler und die gutgenährten Athleten. Aber der Fußball hat eine unglaubliche Fähigkeit zur Überraschung, und das hält ihn als universelle Leidenschaft am Leben. Südamerika hat mehr Weltmeisterschaften gewonnen als Europa, das wäre vom finanziellen Standpunkt aus unerklärlich. Wenn Wirtschaftsmacht und Sportresultate gleich laufen würden, gäbe es nicht solche Ergebnisse.

Zwischen politischem Kalkül und revolutionärer Romantik

Der mittlerweile zu einem historischen Phänomen mutierte ostdeutsche Staat Deutsche Demokratische Republik ist heute ein Objekt der Begierde. PolitologInnen, SoziologInnen, PsychologInnen und HistorikInner haben das seltene Glück, auf dem Seziertisch ihrer wissenschaftlichen Analyse die Strukturen eines gerade gescheiterten politischen Systems freilegen zu können. Dabei scheint die von Hegel oft beschworene List der Geschichte zu bewirken, daß gerade jenes Herrschaftssystem, das im Innern jegliche Öffentlichkeit verbannte und sich nach Außen abkapselte, heute in den Archiven einer solch intensiven Durchleuchtung seiner 40jährigen Geschichte ausgesetzt ist, wie wohl kaum eines in der bisherigen deutschen Geschichte. Die Instrumentalisierung der gewonnenen Befunde in den politischen Grabenkämpfen des vereinten Deutschlands ist offenbar, und auch der Versuchung, post festum alte akademische Fehden nun zu einem siegreichen Ende zu führen, wird selten widerstanden.
Nachdem dieser Staat deutsche Geschichte ist, wird Gericht gehalten. Oftmals sind die Urteile schon vor Beginn des Prozesses gesprochen. Historischer Kontext und konkretes Wissen werden kaum abgefragt. Was die auswärtigen Beziehungen des untergegangenen östlichen deutschen Teilstaates angeht, so überwiegen heute Desinteresse oder einfach Ignoranz (1). Für einige zählen diese Beziehungen einfach nicht zur Geschichte der “deutschen Außenbeziehungen”. In der offiziellen deutschen Diplomatie wird die Erinnerung an die Beziehungen des verblichenen Rivalen heute eher vermieden. Gewiß kann die Analyse der Außenbeziehungen der DDR, auch die mit Süd- und Mittelamerika, den rationalen Diskurs über die jüngste deutsche Geschichte befördern. Dabei müssen unsere Forschungsboote den gefahrvollen Weg zwischen der Scylla nostalgisch eingefärbter Rechtfertigung der Außenpolitik des Ancien Regime um jeden Preis und der Charybdis ihrer Pauschalaburteilung in westlich-besserwisserischer Gutsherrenart finden, wollen wir uns dem Horizont historischer Wahrheit nähern. Wissenschaft, wenn sie sich als kritische versteht, sollte dies als Herausforderung annehmen. In diesem Sinne soll im folgenden über die Beziehungen der DDR zu diesem Raum – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – geschrieben werden. Dabei stütze ich mich vor allem auf die ungewöhnlich weit geöffneten Archive im Osten Deutschlands, speziell das der Parteien und Massenorganisationen der DDR in Berlin. Aber natürlich ist es dann auch hier, wie bei jeder historischen Betrachtung, die persönliche Erfahrung des Autors, die manche der bereits Staub ansetzenden Saiten zum Klingen bringen kann.
In größeren Abhandlungen zur DDR-Diplomatie nahmen die Beziehungen zu Süd- und Mittelamerika eher einen marginalen Platz ein. (2) Das entsprach auch dem tatsächlichen Stellenwert dieser Ländergruppe für die DDR-Außenpolitik. Dabei variierte zwar im Verlaufe der vierzig Jahre der Platz einzelner Regionen, wie z.B. Afrika oder der arabische Raum, in der Prioritätenskala. Jedoch waren stets die Beziehungen zur Sowjetunion, zu den östlichen Nachbarn Polen und CSSR sowie zur Bundesrepublik Deutschland an der Spitze der außenpolitischen Agenda. Dies galt sowohl für die politischen als auch für die wirtschaftlichen Beziehungen. Auf den ersten Blick kann die marginale Bedeutung Süd- und Mittelamerikas für die Politik der DDR-Führung aus deren Beschäftigung mit “lateinamerikanischen Themen” abgelesen werden. Erstmals beschäftigte sich das Politbüro am 23. Juli 1956 mit Süd- und Mittelamerika. Es war einverstanden, daß einer “in der UdSSR befindlichen Parlamentsdelegation aus Uruguay eine Einladung der Volkskammer zum Besuch in der DDR überreicht wird.” (3) Letztmalig war diese Region auf der 47. Politbüro-Tagung am 31. Oktober 1989 auf der Tagungsordnung. Verteidigungsminister Heinz Kessler berichtete von seinem Besuch in Nicaragua. Insgesamt kamen die lateinamerikanischen Themen relativ selten auf die Agenda des Machtzentrums der DDR-Gesellschaft, des SED-Politbüros.(4)
Gab es nach der Staatsgründung der DDR im Oktober 1949 angesichts der formal durch die UdSSR eingeschränkten Souveränität bis 1955 eine Zeit außenpolitischer Abstinenz, so begann danach ein Anrennen gegen den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik. Zeitlich reichte dies bis Anfang der 70er Jahre. Politisches Ziel war es, mit möglichst vielen Partnern einen hohen Grad der diplomatischen Beziehungen zu vereinbaren und damit die DDR völkerrechtlich als (zweiten) souveränen deutschen Staat zu etablieren. Süd- und Mittelamerika maß man zunächst dabei keine große Bedeutung zu.

Von anfänglicher Distanz zu informeller Berührung

Eher am Rande erwähnte der damalige Außenminister Lothar Bolz auf einer Botschafterkonferenz im Januar 1957: “Wir bemühen uns, mit einigen Ländern Süd- und Mittelamerikas Handelsbeziehungen aufzunehmen und diese zu erweitern.” Interessant ist dabei nur, daß Bolz auch auf die Bevölkerungsgruppen deutscher Herkunft in Süd- und Mittelamerika verweist, die stärker über den anderen deutschen Staat informiert werden sollten. (5) (In den 70er und 80er Jahren wurde auf diesen Umstand überhaupt nicht bzw. nur sehr zurückhaltend verwiesen.) Die lateinamerikanischen Staaten ihrerseits lehnten offiziell diplomatische Beziehungen ab. Dahinter standen sowohl ein gewisses Desinteresse als auch der erwartete Druck seitens der wirtschaftlich bedeutenderen Bundesrepublik. Während des Besuches einer Delegation des Bundestages im Frühjahr 1960 in Brasilien brachte dessen Präsident Gerstenmeier die Hallstein-Doktrin deutlich mit folgenden Worten zum Ausdruck: “Leider müßten wir mit Brasilien brechen, falls die Beziehungen zu Ostdeutschland aufgenommen würden.” (6) Dazu gehörte auch, daß das Protokoll, das der brasilianische Sonderbotschafter Dantas während seiner Osteuropa-Reise auch in der DDR unterzeichnet hatte, nach diplomatischer Intervention seitens der BRD nicht anerkannt wurde.
Das alles bedeutete jedoch nicht, daß es keine politischen Kontakte auf staatlicher Ebene gab. Der damalige stellvertretende Außenminister Georg Stibi definierte als Ziel der Politik gegenüber dieser Region “die Anerken- nung der DDR als rechtmäßigen deutschen Staat”. Dies mußte aber nicht unbedingt die offizielle Anerkennung bedeuten. Das zu fordern erschien unrealistisch. Es ging deshalb um die “faktische Anerkennung durch die lateinamerikanischen Regierungen”. (7) Dazu wurden verschiedene Kanäle genutzt. Der wichtigste befand sich in den Handelsvertretungen, die es seit Mitte der 50er Jahre in verschiedenen Ländern des Cono Sur gab. Diese arbeiteten auf der Basis von Bankenabkommen und hatten diplomatische Sonderrechte, die ihnen von den Gastländern stillschweigend gewährt wurden. So war es z.B. in Brasilien (8) und in Uruguay. Als weiterer Kanal dienten die diplomatischen Kontakte mit lateinamerikanischen Botschaften in Prag, Moskau und Genf. Hier wurden erste Gespräche über die Aufnahme von Handelskontakten geführt, so beispielsweise 1961/62 mit Mexiko in Genf. Von gewisser Bedeutung waren auch die Besuche von Parlamentsdelegationen aus Süd- und Mittelamerika in der DDR, die jedoch in der Regel inoffiziellen Charakter hatten.

Diplomatischer Durchbruch mit Verzögerung

“Projekt Mission einschließlich diplomatischer Rechte und Funk von Guevara gebilligt. Er sieht keine Schwierigkeiten.” telegraphierte K. sichtlich zufrieden am 12.8.1960 als “streng vertraulich” aus Havanna nach Berlin (Ost). K. führte im Auftrage der DDR-Regierung im Sommer 1960 Gespräche zur Herstellung diplomatischer Beziehungen und war dazu in der Nacht vom 9. zum 10. August 1960 mit Ernesto Guevara de la Serna, el Comandante Che, zusammengekommen. Kuba schien der nächste Stein zu sein, den man aus der Mauer der diplomatischen Nichtanerkennung des “anderen Deutschlands” herausbrechen konnte. “Kuba wird erstes lateinamerikanisches Land, das China und DDR anerkennt”, zitiert K. im artikellosen Telegrammstil Che Guevara. Dieser hatte ihm in einem zweiten Gespräch am 11.8.1960 erklärt, daß die kubanische Führung “bald völligen Wirtschaftsboykott seitens der USA und anderer NATO-Staaten” erwarte und deshalb “Totalumstellung Außenhandel Kuba” bevorstehe. (9) Die kubanische Revolution bedeutete auch eine Zäsur in den Beziehungen der DDR zu Süd- und Mittelamerika. Kuba wurde von nun an der wichtigste Partner in dieser Region. Zugleich verstärkten sich Interesse und Hoffnung der DDR-Führung gegenüber diesem Raum. Nach dem ersten Besuch von Politbüro-Mitglied Paul Verner im Sommer 1960 auf Kuba beschloß das Politbüro am 13.9.1960 nicht nur eine “Direktive über die Weiterentwicklung der Beziehungen mit der Republik Kuba”, sondern es beauftragte auch das Außenministerium “zur Auswahl der Kader und zur Bildung einer Abteilung für südamerikanische Länder in 14 Tagen die entsprechenden Vorbereitungen zu treffen.” (10) Daraufhin wurde auch die 6. Außereuropäische Abteilung geschaffen, die für die Beziehungen mit Süd- und Mittelamerika verantwortlich war. Jedoch verzögerte sich trotz der Zusagen von Che die Herstellung voller diplomatischer Beziehungen erheblich. Die Zeit lief gegen die DDR. Zwar hatte Guevara dem bundesdeutschen Botschafter von Spretti im Oktober 1960 noch erklärt: “Wir werden mit der DDR Missionen austauschen. Wenn Sie sich damit zufrieden geben, dann können unsere Beziehungen normal weiterlaufen. Falls nicht, so ist das allein Ihre Angelegenheit.” (11) Jedoch wurde den drängenden DDR-Vertretern dann sowohl von kubanischer Seite immer wieder die Bedeutung der kubanischen Wirtschaftsbeziehungen zur Bundesrepublik in Erinnerung gebracht. Dieser Faktor schien im Jahre 1961 angesichts der komplizierter werdenden Lage für die kubanische Führung sogar an Bedeutung zuzunehmen. Ein Abbruch der Beziehungen zur BRD, der von einer DDR-Mission zu erwarten war, sollte vermieden werden. Man schlug deshalb eine “Handelsvertretung” vor, deren Chef jedoch alle Rechte haben sollte. Das würde, so die kubanische Hoffnung, nicht zum Abbruch der Beziehungen zur BRD führen. Das sei aber, so nochmals DDR-Unterhändler K. im Telegramm nach Berlin, ein Widerspruch zu dem, was Che Guevara versprochen hatte, und er fügt etwas resignierend hinzu: “Haben Sache wirklich in günstiger Zeit ungebührlich verzögert.” (12) Die DDR akzeptierte letztlich die kubanische Haltung, und der erste Diplomat der DDR war im Frühjahr 1961 ein “Leiter der Vertretung” im Range eines Gesandten. Erst im Zuge der Verschärfung der Lage nach der Karibik-Krise (Im Westen unter dem Begriff Kuba-Krise bekannt [Anm. d. Red.]) im Oktober 1962 wurde die Vertretung in eine vollwertige diplomatische Mission umgewandelt. Sie erfolgte am 12.1.1963.
Neben Kuba definierte Stibi in der bereits erwähnten Konzeption von 1962 Brasilien als regionalen Schwerpunkt der Politik gegenüber Süd- und Mittelamerika. Hier erwartete man zumindest Regierungsvereinbarungen über Handel, die mit konsularischen Rechten verbunden sein könnten. Hoffnung setzte man auch auf die Entwicklung in Britisch-Guyana, wo nach der Unabhängigkeit mit einer Regierung unter Cheddi Jagan offizielle Beziehungen als möglich erschienen. Als potentielle Partner wurden weiterhin jene Staaten aufgeführt, die sich neben Brasilien auf der OAS-Tagung im uruguayischen Punta del Este 1962 gegen den Druck der USA nicht für den Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Kuba ausgesprochen hatten (Argentinien, Ecuador, Bolivien, Chile, Mexiko und Uruguay). Bei den “Hauptaufgaben 1962” gegenüber der Region wurde nicht nur an die Entsendung von Sonderbotschaftern an die Präsidenten einzelner Länder oder von Briefen an Parlamentspräsidenten zwecks Einladungen an die Volkskammer gedacht, sondern es wurde unter anderem auch die Möglichkeit erwogen, “eine größere Zahl von Facharbeitern aus Lateinamerika in der DDR auszubilden.” (13) Das in dieser Zeit deutlich gestiegene Interesse der DDR an Süd- und Mittelamerika kam auch in dem Vorschlag zum Ausdruck, einen “Sonderbevollmächtigten der DDR für Lateinamerika” mit ständigem Sitz in Brasilien einzurichten. Jedoch kam nach der Machtübernahme der Militärs in Brasilien im März 1964 nicht nur diese Idee nicht zur Umsetzung, sondern angesichts der geringen Aussichten auf eine stärkere diplomatische Präsenz schwand auch das politische Interesse der Führung der DDR an diesem Raum. Andere Regionen, wie Afrika und die arabische Welt, zogen in der Folgezeit stärker die politischen Aktivitäten der DDR an.

Von der Einheit zur Geschlossenheit

Jedoch blieb das Interesse an Kuba. Bis es jedoch zu der “brüderlichen Einheit” der 70er und der “ideologischen Geschlossenheit” der 80er Jahre kam, mußte noch so manche politische Klippe umschifft werden. Die kritische Distanz der SED-Führung gegenüber Fidel Castro und seiner Bewegung zog sich trotz vielfacher Solidaritätsbekundungen für Kuba durch die gesamten 60er Jahre hindurch. In internen Berichten wurde kritisiert, daß Castro “keine Volksvertretung, sondern so etwas wie die gelenkte Demokratie Sukarnos” (indonesischer Präsident in den 50ern, Anm. d. Red.) einführen wolle, wurden die “nicht vertrauenswürdigen Minister” aufgelistet und die “Partisanenmethoden” von Fidel Castro beklagt, die von den anderen nachgemacht würden, “so daß die Unordnung komplett” wäre. (14) Diese im Partei- und Wirtschaftsapparat gepflegten Ansichten müssen auch in offiziellen Verhandlungen sichtbar geworden sein. Fidel Castro beklagte in einem Brief vom 9. November 1964 zu vorangegangenen Wirtschaftsverhandlungen gegenüber Walter Ulbricht, “daß einige deutsche Genossen der Meinung sind, daß es bei einigen kubanischen Funktionären in früheren Verhandlungen spekulative und unredliche Momente gegeben habe.” (15) Ab Mitte der 60er Jahre kam dann das Schisma innerhalb der kommunistischen Bewegung hinzu. Dabei galten bis Anfang der 70er Jahre die kubanischen Sympathien, besonders die Che Guevaras, eher der chinesischen als der sowjetischen Seite.
Ende 1967/ Anfang 1968 kam es dann zu einer ernsthaften Krise in den bilateralen Beziehungen, die in den folgenden Jahrzehnten stets in den Hinterhof der Peinlichkeiten verbannt worden war. Auf der 3. Tagung des ZK der Kommunistischen Partei Kubas im Januar 1968 wurden namentlich Mitarbeiter der sowjetischen Botschaft und auch der DDR-Botschaft genannt, die man der Zusammenarbeit mit einer prosowjetischen und anticastristischen Fraktion innerhalb der Partei beschuldigte. Mit der als “Mikrofraktion” bezeichneten Gruppe um Anibal Escalante, die von Castro der “Kriecherei” und des “Knechtsinns gegenüber der Sowjetunion” bezichtigt wurde, hätte es (auch in der DDR-Botschaft selbst) Kontakte gegeben. Es gehört sicherlich auch zu den schon erwähnten Listigkeiten der Historie, daß Ende der 80er Jahre gerade jene an der Spitze der Botschaften der UdSSR bzw. DDR in Kuba standen, die 1968 der “Konspiration mit politischen Feinden” und der “Einmischung in die inneren Angelegenheiten” beschuldigt worden waren.
Zwei politische Entwicklungen trugen maßgeblich zu einem veränderten Verhältnis zwischen der DDR und Kuba zu Beginn der 70er Jahre bei. Zum einen war da der Canossa-Gang Fidel Castros nach Moskau und die danach erfolgte umfassende Eingemeindung Kubas in das sozialistische Lager. Angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Lage Ende der 60er Jahre, die sich mit der gescheiterten 10 Millionen Zuckerrohrernte 1970 zu einer ersten Legitimationskrise Castros verwandelte, sah sich der Máximo Lider aus machtpolitischen Gründen zu einer engeren Zusammenarbeit mit der UdSSR gezwungen. Politbüro-Mitglied Paul Verner hatte nach seinem Besuch Ende 1969 eine “echte Belebung” festgestellt.
Die andere politische Veränderung, die zu einem Wandel in der Sicht auf Kuba, Fidel Castro und auch die Person Che Guevaras in der DDR führte, war die Ablösung Walter Ulbrichts durch Erich Honecker an der DDR-Spitze. Im Unterschied zu Ulbricht, der sich angesichts der ernsthaften Probleme auf Kuba Ende der 60er Jahre in seiner Distanz zu den Barbudos, den Bärtigen, bestätigt sah, fand Honecker ein politisch anderes Kuba vor. Es war nun eindeutig im eigenen Lager gebunden und hatte zudem einen erstrangigen strategischen Wert für die UdSSR. Hinzu kam, daß der personelle Wechsel an der DDR-Spitze auch mit einem gewissen politischen Neuansatz verbunden war, der sich unter anderem auch in einer kulturellen Öffnung zeigen sollte. Das schlug sich z.B. auch in der nun eintretenden öffentlichen Beschäftigung mit Che Guevara nieder. Aus einem anfänglichen Tabu wurde ein propagandistisch breit aufgemachtes Thema. Die Ikone von Che kehrte nun auch in die Studierstuben zwischen Rostock, Babelsberg und Leipzig ein. Gerade bei der studentischen Jugend, die offenbar stets eine Dosis Utopie benötigt, sollte mit diesen beiden Märtyrern die Attraktivität des Sozialismus verstärkt werden. Das blieb nicht ohne Erfolg und machte Che nach seinem Siegeszug durch die Hörsäle von Hamburg, Frankfurt/a.M. und Berlin-West nun zu einem systemübergreifenden “gesamtdeutschen” Idol.
Im folgenden Jahrzehnt nahmen die bilateralen Beziehungen jene Form an, wie sie zwischen “sozialistischen Bruderländern” typisch war: gegenseitige Besuche der Partei- und Regierungsspitze (Honecker 1974 in Kuba und Castro 1977 in der DDR), Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit (1980), Koordinierung der Volkswirtschaftspläne, umfangreicher Delegationsaustausch auf allen Ebenen, der sich in den verschiedensten Abkommen niederschlug. Ideologischen Gleichklang hatte man nun auch im Kampf gegen Peking gefunden. Im Dezember 1978 betonte nun Fidel Castro die Wichtigkeit, sich “mit der antisozialistischen Politik der Pekinger Führer prinzipiell auseinanderzusetzen.” (16)
Für Kuba waren die wirtschaftlichen Beziehungen zur DDR von besonderer Bedeutung. Castro bat in mehreren Briefen an das Politbüro sowohl um zusätzliche Lieferungen (u.a. technische Ausrüstungen, Nahrungsmittel) als auch um die Beibehaltung der für Kuba außerordentlich günstigen Preisrelationen im bilateralen Handel, speziell bei Zucker. 1980 stimmte nach einer Bitte Castros das SED-Politbüro zu, die “gegenwärtigen Preisrelationen im Warenaustausch auch im Zeitraum 1981-1985 beizubehalten”, um die Kaufkraft der kubanischen Exporte zu erhalten. Castro nannte das dann “ein Musterbeispiel für die Beziehungen zwischen sozialistischen Ländern mit unterschiedlichen Entwicklungsniveaus.” (17) Ungeachtet der konkreten kubanischen Bedingungen und der eigenen Wirtschaftskraft wurde im “Leuchtturm des Sozialismus” (Honecker) solidarische Gigantomanie praktiziert. Kuba erhielt “die größte Brauerei” und das “größte Zementwerk” der Karibik. Beide konnten nie vernünftig ausgelastet werden. Diesen “politischen Entscheidungen”, die die reale wirtschaftliche Lage beider Länder kaum in Betracht zogen, versuchten in den 80er Jahren DDR-Ökonomen, wirtschaftlich sinnvolle Projekte zur Seite zu stellen (Bananenmarkproduktion, Kupferproduktion, Spritrektivikate). Kubanischerseits blieb das Interesse an Großprojekten ungemindert. Da Kuba auch seine Verpflichtungen bei der Lieferung der für die DDR-Innenpolitik so brisanten Südfrüchte kaum erfüllte (1988 hatte man nur zirka 50 Prozent der geplanten Menge geliefert), blieb Kuba bis zum Schluß primär eine “politische Frage”, die man – auch mit Blick nach Moskau – ungeachtet des eigenen wirtschaftlichen Desasters zu lösen versuchte. Bemerkenswert, da im Unterschied zu den anderen Projekten auch über das Ende der DDR hinaus von Relevanz, ist die zwischen 1984 und 1989 erfolgte Ausbildung von rund 30.000 Kubanern in der DDR (80 Prozent davon als Facharbeiter).

In den Farben der DDR

Ab Mitte der 80er Jahre erreichte die politische Übereinstimmung in der starren Ablehnung der Reform-Politik von Gorbatschow ihren Höhepunkt und schließlich auch ihr abruptes Ende. Castros “Rectificación” und Honeckers “Sozialismus in den Farben der DDR” waren gleichermaßen politische Versuche, sich vom sowjetischen Einfluß abzukoppeln und durch innere Verhärtung dem Druck aus Moskau zu widerstehen. Ende der 80er Jahre verstärkten sich nochmals die politischen Kontakte. Politbüro-Mitglieder der SED gaben sich 1988/89 in Havanna gegenseitig die Klinke in die Hand und ließen sich von den Kubanern ihren politischen Starrsinn als “ideologische Festigkeit” bestätigen. Honecker gab seinen Politbüro-Mitgliedern die Rede Castros vom 26. Juli 1989, in der er sich erneut gegen Perestrojka und Glasnost wandte, zur Pflichtlektüre auf. Mit den Worten Raúl Castros “Wir sind sehr stolz auf die Übereinstimmung mit der SED” (18) betonte im September 1989 letztmalig ein Mitglied der kubanischen Führung in Berlin dieses “Bündnis in Agonie”, ehe der andere Partner von der politischen Bühne für immer verschwand.

Ein Schwiegersohn in Chile

Was die Beziehungen zum “restlichen” Süd- und Mittelamerika betraf, so kam es zu Beginn der 70er Jahre, vor allem im Kontext der Aufnahme der beiden deutschen Staaten in die UNO, zu diplomatischen Beziehungen mit der großen Mehrheit der Staaten dieses Raumes. Begonnen hatte die lateinamerikanische Anerkennungswelle mit Chile. Die Regierung der Unidad Popular von Salvador Allende suchte sehr schnell Kontakte zur DDR. Im März 1971 kam es zu ersten Gesprächen über die Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen. Chile war besonders an einer Kooperation in der Kupferproduktion und Chemie interessiert. Die DDR wiederum wünschte von Chile die Fürsprache bei internationalen Organisationen (z.B. in der WHO) und Unterstützung bei der Statuserhöhung ihrer Vertretungen in Süd- und Mittelamerika. (19) In der Folgezeit wurde eine Reihe wirtschaftlicher Abkommen geschlossen, deren volle Umsetzung jedoch durch den Militärputsch im September 1973 verhindert wurde. Das Politbüro beschloß im September 1973, “daß die diplomatischen Beziehungen mit Chile unterbrochen werden.” (20) Zugleich wurde ein Maßnahmepaket angenommen, das sowohl die Rückführung von DDR-BürgerInnen als auch die solidarische Unterstützung der chilenischen EmigrantInnen betraf. In den nachfolgenden 15 Jahren war die DDR Aufnahmeland für Tausende von ChilenInnen und ein Zentrum des chilenischen Widerstandes gegen die Pinochet-Diktatur. Dabei ist vor allem das von der Sozialistischen Partei unterhaltene Büro “Chile Antifascista” in Berlin zu nennen. Die Kommunistische Partei Chiles hatte ihre Auslandsführung in Moskau. Diese Unterstützung wurde mit propagandistischen Kampagnen im Innern verbunden, die mit der Herausstellung der “antifaschistischen Solidarität” eine Grundmaxime im Selbstverständnis der Führung der SED, den Antifaschismus, untermauern sollte. Hinzu kamen bei einer Reihe von Politbüro-Mitgliedern die Erfahrungen des eigenen Exils durch den Faschismus. Das stark innenpolitisch motivierte Festhalten an dem Konzept blockierte aber in den 80er Jahren sowohl die realistische Analyse der Entwicklung in Chile als auch eine adäquate Politik der DDR. Demgegenüber wurde z.B. während der blutigen Militärherrschaft in Argentinien Ende der 70er Jahre weder offizielle Kritik an dem Regime geübt noch in der Presse über die massenhaften Verbrechen berichtet. Offenbar ordnete man sich in diesem Falle stark den sowjetischen Interessen unter, für die Argentinien, vor allem wegen der Getreideimporte, ein wichtiger Faktor war. Sicherlich war für die Chile-Politik auch die durch seinen chilenischen Schwiegersohn entstandene persönliche Beziehung Honeckers zu diesem Land ein wichtiges Moment. Für die Politik gegenüber Chile wurde das jedoch immer mehr zur Selbstblockade. Ab Mitte der 80er Jahre begannen zwar im Apparat die Bemühungen, Chile neu zu thematisieren. Es dauerte aber noch geraume Zeit, bis im März 1989 im Politbüro eine als “Geheime Verschlußsache” eingestufte Vorlage zu “Maßnahmen zur Herstellung von Kontakten mit Chile” bestätigt wurde. (21)

Nicaragua – “Kein zweites Kuba”

Die nicaraguanische Revolution von 1979 fiel in eine Zeit gewachsener diplomatischer Potenz beziehungsweise internationalen Anspruchs der DDR. Die “europäische Mittelmacht DDR” verstand im Kontext des einsetzenden 2. Kalten Krieges die Beziehungen zu Nicaragua als wichtiges Moment der bipolaren Auseinandersetzung. Zugleich wurde bald die These formuliert, daß Nicaragua “kein zweites Kuba” werden solle. Neben der damit verbundenen militärstrategischen Komponente, eine zweite Raketen-Krise lag angesichts der praktizierten Dialogpolitik in Europa nicht im DDR-Interesse, waren es auch die “ökonomischen Erfahrungen” aus der Kuba-Problematik, die ein anderes Herangehen sinnvoller erscheinen ließen. Solidarische Unterstützung wurde verhältnismäßig strikt von bilateralen Geschäften getrennt. In den Konzeptionen wurde immer stärker die “Erwirtschaftung von Devisen” auch in den bilateralen Beziehungen mit Nicaragua betont. Die solidarische Unterstützung war quantitativ, im Vergleich zu Kuba, geringer. Sie entsprach aber viel stärker den konkreten Bedürfnissen des Landes. Die unterschiedlichen Entwicklungsprojekte der DDR waren besser den örtlichen Gegebenheiten angepaßt und orientierten sich an den Grundbedürfnissen der breiten Bevölkerungsmehrheit. Das gilt neben dem Berufsausbildungszentrum in Jinotepe vor allem für das Krankenhaus “Carlos Marx” in Managua.

Vorläufiges Fazit

Die Beziehungen zu Süd- und Mittelamerika hatten für die DDR nur eine relativ geringe Bedeutung und von einer “Lateinamerika-Politik der DDR” zu sprechen, wäre sicherlich verfehlt. Grob können zwei Etappen ausgemacht werden: In einer ersten stand die Frage der diplomatischen Anerkennung im Mittelpunkt. Sie reichte von Mitte der 50er bis Anfang der 70er Jahre. Die DDR bemühte sich, sowohl in Süd- und Mittelamerika selbst als auch mittels der lateinamerikanischen Staaten als gleichberechtigter internationaler Akteur akzeptiert zu werden. In der zweiten Etappe (ab 1972/73 bis 1989) ging es der DDR in den Beziehungen zu Süd- und Mittelamerika um den politischen und rechtlichen Ausbau dieser Beziehungen. Letzteres betraf vor allem die Konsularbeziehungen, in denen die politisch wichtige Staatsbürger-Problematik berührt, aber nie zur eigenen Zufriedenheit gelöst werden konnte. Die DDR-Führung bemühte sich zugleich um ein eigenständiges Auftreten in der Region. Die steigende Zahl von Besuchen lateinamerikanischer Außenminister in der DDR machte ebenfalls die beginnende Normalität in den bilateralen Beziehungen deutlich. Kuba hatte als Mitgliedsland des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und durch die engen bilateralen Bindungen einen besonderen Stellenwert für die DDR. Die Anstrengungen, die wirtschaftlichen Potentiale der Region stärker zu nutzen, scheiterten nicht zuletzt an der eigenen ökonomischen Schwäche und an der mangelnden internationalen Kooperationsfähigkeit. Wie in realsozialistischer Außenpolitik generell, so war auch in der Politik der DDR-Führung gegenüber dieser Region ein erhebliches Maß an Ideologie, manchmal auch revolutionärer Romantik, vorhanden. Diese Politik sollte dem System natürlich auch Legitimität verschaffen. Angesichts eigener Erstarrung waren lateinamerikanische Vitalität und Revolutionsrhetorik willkommen, wenn auch diese dann selbst an die realsozialistischen Mauern stießen.
Trotz einer gewissen Versachlichung des Lateinamerika-Bildes blieb der Subkontinent auch in der “späten DDR” ein Fluchtpunkt revolutionärer Ideen und romantischer Utopien. Damit stand man in jener jahrhundertealten westeuropäischen Geistestradition, die bis heute die “Neue Welt” als letzte Zufluchtsstätte revolutionärer Visionen versteht. Und das galt sowohl für die “alten Herren” des Politbüros als auch für viele Jugendliche und Intellektuelle. Viele Details der Beziehungen zu Nicaragua sind nur aus der großen Sympathie Erich Honeckers für Daniel Ortega, den er gewissermaßen als “politischen Enkel” verstand, erklärbar.
Die schwindende materielle Untersetzung des internationalen Engagements begrenzte jedoch sowohl den Ausbaus der sachlichen Beziehungen zur Mehrheit der lateinamerikanischen Staaten als auch die unbegrenzte Fortsetzung der solidarischen Beziehungen zu einzelnen Ländern.
Ab Mitte der 80er Jahre führte das starre Festhalten an einem entwicklungsunfähigen Gesellschaftssystem innenpolitisch zur Agonie und außenpolitisch in die Isolation. Nach der Wende im Herbst ’89 fiel dieser Raum fast völlig aus dem Gesichtskreis der ostdeutschen Politik. Weder die zwei Modrow-Regierungen noch die erste frei gewählte Regierung unter de Maiziere verwanden ernsthaft politische Energien für die Beziehungen mit diesem Raum. Allein die entwicklungspolitisch aktiven Gruppen, die zum Teil in der Bürgerbewegung der Wende verwurzelt waren, thematisierten noch Süd- und Mittelamerika als Teil des Südens. Als dann der 3. Oktober 1990 nahte, blieb den DDR-Diplomaten in den lateinamerikanischen Hauptstädten nur noch übrig, ihre Gebäude besenrein zu übergeben. Sie selbst fielen in das schwarze Loch sozialer Unsicherheit. Vom Auswärtigen Amt wurde kaum jemand übernommen. Viele der DDR-Immobilien in diesen Ländern wurden veräußert und das Mobiliar großzügig verschenkt. Geblieben ist nur die Geschichte. Diese aber kann man weder verkaufen, noch verschenken, sondern wir müssen sie als Teil der deutschen Außenbeziehungen des 20. Jahrhunderts annehmen.

Anmerkungen:
1. Vgl. dazu ausführlich Erhard Crome/ Raimund Krämer; Die verschwundene Diplomatie. Rückblicke auf die Außenpolitik der DDR, in: WeltTrends, Heft 1 (1993), S. 128-146.
2. Vgl. Geschichte der Außenpolitik der DDR, Abriß, Staatsverlag: Berlin 1985. Das gilt auch für eine Abhandlung über die Außenpolitk der Entwicklungsländer, in der der Autor für den Abschnitt “Lateinamerika” verantwortlich war: Vgl. Autorenkollektiv, Die Außenpolitik befreiter Länder, Staatsverlag,: Berlin 1983, 6.Kapitel.
3. Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Zentrales Parteiarchiv (im weiteren abgekürzt: SAPMO, BArch.-ZP), Sign.-Nr. J IV 2/2 – 491.
4. Im Zeitraum von 1949 bis 1989 war diese Region insgesamt 346 Mal auf der Tagungsordnung des Politbüros. Bei wöchentlich durchschnittlich 15 Tagesordnungspunkten (in den 70er und 80er Jahren war die Zahl deutlich höher als in den 50er und 60er Jahren) war es insgesamt nur zirka 1 Prozent der Protokollpunkte, in denen sich das höhste Machtgremium der DDR mit Süd- und Mittelamerika beschäftigte. Dabei konzentrierte sich dies auf Kuba (153 Mal auf der Tagesordnung), Nicaragua (56) und Chile (50).
5. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr. IV 2/20/81.
6. Journal do Comercio, Rio de Janeiro, 29.3.1960.
7. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr. IV 2/20/49.
8. Zu Beginn der 60er Jahre hatten in Brasilien der Leiter der Vertretung und seine Frau einen Diplomatenpaß, die Handelsvertretung konnte chiffrierte Telegramme empfangen und senden, deren Mitarbeiter hatten keine Steuern zu zahlen, ein Dienstsiegel mit DDR-Wappen konnte geführt und eine Art Vorvisabescheinigung ausstellt werden. Ebenda.
9. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr. DY 30/ IV/ 2/ 20/147 Bl.1.
10. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr. J IV 2/2-724.
11. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr. DY/ IV/2/20/147/ Bl.21.
12. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr. DY 30/IV/ 2/20/142/ Bl. 178.
13. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr. IV 2/20//49.
14. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr. J IV 2/202-367.
15. Ebenda.
16. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr. IV B/20/592.
17. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr.J IV 2/2-1834.
18. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr. IV 2/2. 035/41.
19. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr.J IV 2/2-1333.
20. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr.J IV 2/2-1469.
21. Zu diesen gehörten u.a. die “Errichtung einer Interessenvertretung der DDR mit konsularischen Rechten”, die Aktivierung der komerziellen Beziehungen, die Veränderungen der Sendungen von Radio Berlin International, dem Auslandssender der DDR, sowie der Wiederaufbau einer Freundschaftsgesellschaft DDR-Chile. SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr.J IV 2/2-3204.

Darf ich bekanntmachen…

Die frisch erschienene Anthologie „Andere Länder, andere Zeiten“ ist eine Ansammlung literarischer Visitenkarten. Entstanden im Rahmen von INTERLIT 4, den Internationalen Literaturtagen, die in der ersten Oktoberhälfte 1997 in Nürnberg, Erlangen und Berlin veranstaltet wurden, versammelt das Buch Texte von 32 Autorinnen und Autoren der gesamten „Dritten Welt“.

Keine DebütantInnen

Enthalten sind – von wenigen Ausnahmen wie dem 1974 geborenen Chilenen Luis Miranda abgesehen – keine DebütantInnen, sondern SchriftstellerInnen, die in ihren Ländern bereits volle Anerkennung genießen. Ihnen ist aber auch gemein, daß sie hierzulande – wiederum abgesehen von den Ausnahmen Derek Walcott, V.S. Naipaul und Wole Soyinka – kaum einem breiteren Publikum bekannt und nur spärlich übersetzt sind, woraus folgt: Wir halten ein Buch in den Händen, in dem heute nachzuschlagen und vorzukosten ist, wer morgen gelesen werden wird.
Aus dem spanischsprachigen Amerika sind vertreten: der erwähnte Luis Miranda und Magali García Ramis (Puerto Rico), Ana Teresa Torres (Venezuela) und Mario Delgado Aparaín (Uruguay), Carlos Franz (Chile) und Teresa Porzecanski (Uruguay) sowie Ana María Shua (Argentinien). Daneben einige englisch- und französischsprachige Kariben, aber kein Brasilianer – und viele afrikanische und asiatische AutorInnen. Es wäre müßig, einzelne Texte genauer vorzustellen, denn wo sollte ich anfangen? Das Buch dürfte für jeden Gernleser Lustvolles und Herausforderndes bereithalten; zudem ist jedem Text eine Seite vorangestellt, die prägnant über die jeweiligen AutorInnen informiert, kurz: ein empfehlenswertes Buch.

Sätze wie Samenkörnchen

Müßigkeit hin oder her, einen Beitrag habe ich mir – streng subjektiv – dick angekreuzt: „Jeden Sonntag“ von Magali García Ramis. Mich hat bereits der erste Satz gefesselt: „Keiner von uns ist jemals gestorben, also muß ich nein sagen.“ Ein Satz wie ein Samenkörnchen, ganze Geschichten könnten aus ihm entstehen, so offen in seinen Andeutungen (aber nicht beliebig) ist er. „Jeden Sonntag“ ist die Geschichte eines puertoricanischen Mädchens, das sich jenseits von immer wiederkehrenden, öden Familienritualen einen eigenen Ort suchen und bewahren kann, der nur ihrer ist. Dorthin entweicht sie – jeden Sonntag –, dort kommt sie zu sich, ist ungestört, das verfallene Häuschen im Bambuswald ist wie ein sorgsam gehüteter Halt in ihrem Innern. Die äußere Welt, die Familie haben hier keinen Zutritt, aber nicht nur das: Auch die Zeit verläuft anders. Magali García Ramis führt vor, daß es einen Ort gibt, an dem ein Mensch ganz bei sich sein kann – ein zerbrechlicher Schatz, abhängig davon, daß andere ihn nicht zerstören wollen, und ohne Macht, sich zu verteidigen. Besonders schön an dieser Erzählung ist, daß die Autorin diese Zerbrechlichkeit nicht nur direkt beschreibt, sondern daß sie sich darüber hinaus in den Selbst-Gesprächen des Mädchens unter der Hand, atmosphärisch, mitteilt.
Durch das Thema Zeit werden die Gedichte und Geschichten dieser Anthologie zusammengehalten. Erfreulich ist der Effekt dieser „Zeit-Geschichten aus aller Welt“: Nach und nach stellt sich der Eindruck ein, als würde sich der Titel „Andere Länder,andere Zeiten“ von selbst erledigen. So anders sind die Zeiten woanders auch nicht.

Wolfgang Binder u.a. (Hg.): Andere Länder – andere Zeiten. Zeit-Geschichten aus aller Welt, Marino Verlag, München 1997, 29,- DM
(ca. 15 Euro).

Den arbeitenden Kindern nützt nur, was sie selbst wollen

In Lateinamerika, Westafrika und Südostasien sind seit einigen Jahren Organisationen arbeitender Kinder im Entstehen. Ihre Vorstellungen und Forderungen zur Kinderarbeit decken sich oft nicht mit dem, was Regierungen und internationale Organisationen wie ILO und UNICEF verkünden. Vor allem wenden sie sich dagegen, jede Arbeit von Kindern in Bausch und Bogen zu verdammen und abschaffen zu wollen. Statt dessen verlangen sie, Armut und Ausbeutungsverhältnisse ins Visier zu nehmen und die Kinder dabei zu unterstützen, bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen und in Würde und freier Entscheidung arbeiten zu können. Die Kinder wollen weiter ihre Familien unterstützen und eine aktive anerkannte Rolle in ihren Gesellschaften spielen.
Die Osloer Konferenz näherte sich ein Stück weit den Vorstellungen der Kinderorganisationen, indem sie sich auf die besonders ausbeuterischen und riskanten Formen der Kinderarbeit konzentrierte. Sie blieb aber meilenweit von den Erwartungen der Kinder entfernt, indem sie die internationalen und strukturellen Ursachen der Ausbeutung von Kindern ignorierte und sich wie eh und je auf gesetzliche Verbote und Boykottappelle kaprizierte. Eine neue Strategie, die wirklich den arbeitenden Kindern zugute käme und ihre Situation verbesserte, kam auf der Osloer ILO-Konferenz nicht in Sicht.
Die 300 MinisterInnen und ExpertInnen von ILO, UNICEF, Gewerkschaften, Unternehmensverbänden und Kinderhilfsorganisationen, die sich auf der Konferenz die Köpfe heiß redeten, duldeten sage und schreibe drei (3) handverlesene Kinder unter sich und störten sich auch noch daran, daß die anderen ihr Forum verließen und vor der Tür ihrer luxuriösen Konferenzstätte demonstrierten. In Oslo waren es vor allem einige Gewerkschaften und Regierungen, die sich die Mitwirkung und Kritik der Kinder verbaten.
Ihre Sturheit und Arroganz wurde selbst innerhalb der UNICEF, die die Konferenz mitveranstaltete, mit Empörung quittiert. Immerhin: In einem Brief an die norwegische Regierung erklärte Bill Myers, einer der profiliertesten UNICEF-Experten zur Kinderarbeit:
„Allein pragmatische Erwägungen erfordern, die arbeitenden Kinder gerade in dem Moment, in dem wir Maßnahmen zu ihrem Schutz beschließen, mitwirken zu lassen und uns ihnen zu stellen. Jedes Mal mehr erkennen die Experten, daß ein wirksamer Schutz der Kinder gegen den Mißbrauch am Arbeitsplatz nicht von oben gegen den Willen der Bevölkerung dekretiert werden kann, vor allem in Ländern mit einem hohen Anteil armer Familien, deren Kinder mehrheitlich in der Landwirtschaft, im Haushalt und im informellen Sektor arbeiten.“
In Oslo wurde die Chance verpaßt, neue Wege im Kampf gegen die wirtschaftliche Ausbeutung und den sozialen Ausschluß zusammen mit den direkt betroffenen Kindern zu suchen. Um so wichtiger ist es, die Kritik, Vorschläge und Forderungen der sich organisierenden Kinder selbst einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

KASTEN

Erklärung des V. lateinamerikanischen und karibischen Treffens
arbeitender Kinder an die internationale Gemeinschaft

Für Arbeit in Würde und eine Gesetzgebung, die uns schützt und anerkennt

Die VertreterInnen der Bewegungen und Organisationen arbeitender Kinder Lateinamerikas und der Karibik (NATs) sowie anwesende VertreterInnen der arbeitenden Kinder Afrikas und Asiens, die sich auf dem V. lateinamerikanischen und karibischen Treffen aller organisierten arbeitenden Kinder versammelt haben, geben hiermit im Namen von weiteren Millionen von arbeitenden Kindern dieser Regionen folgende Erklärung an die internationale Öffentlichkeit ab:
Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen hat für uns Kinder die Rechte, angehört zu werden (Art. 12), uns zu organisieren (Art. 15) und beschützt zu werden (Art. 32) festgelegt. In unserem tagtäglichen Leben, in unserer Arbeit, in unseren Organisationen und auf diesem lateinamerikanischen Treffen haben wir NATs jedoch feststellen müssen, daß diese Rechte nicht ausreichend sind, denn sie werden in der Praxis nicht respektiert.
Man hört uns an, aber man berücksichtigt unsere Ansichten nicht. Man gibt uns das Recht, uns zu organisieren, aber unsere Organisationen arbeitender Kinder und Jugendlicher werden nicht anerkannt. Man „beschützt“ uns, aber man läßt uns nicht an der Ausarbeitung solcher „Schutz“programme mitwirken. Unsere Organisationen kämpfen Tag für Tag für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, für unsere Rechte auf angemessene und qualitativ gute Ausbildung, für bessere Gesundheitsbedingungen, für Möglichkeiten, uns versammeln zu können, um gemeinsam Aktionen durchzuführen, das heißt dafür, in unserem Leben selbst die Protagonisten zu sein und in unseren Gesellschaften als soziale Subjekte anerkannt zu werden. Unsere Organisationen haben sich als die beste Art erwiesen, uns vor Ausbeutung, schlechter Behandlung und der Geringschätzung durch die Gesellschaft zu schützen. Innerhalb unserer Organisationen fühlen wir uns als würdige, fähige und vollwertige Personen und empfinden Stolz für unsere Arbeit. Hier bilden wir uns und finden Raum für Solidarität und für die Erarbeitung von Vorschlägen für Alternativen zum bestehenden System von Armut und Gewalt, das für uns unzumutbar ist.
Damit unsere Meinungen ernstgenommen werden, müssen unsere Organisationen auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene rechtlich voll anerkannt werden. Unsere demokratisch gewählten VertreterInnen müssen in allen lokalen, nationalen und internationalen Gremien mitreden und mitwählen können, in denen über Politik, die die Kinder und die Arbeit betrifft, entschieden wird, wie in der Bildungspolitik, der Arbeitspolitik sowie bei Plänen zur sozialen Absicherung und Gemeindeentwicklung. Die Präsenz der NATs innerhalb dieser Gremien gemeinsam mit Delegierten anderer sozialer Organisationen ist die beste Garantie im Kampf gegen Ausbeutung, Armut und Ausgrenzung und ein großer Schritt zur Durchsetzung der Menschenrechte. Wir NATs aus Lateinamerika und der Karibik wie auch unsere Freunde aus Afrika und Asien verstehen uns als ProduzentInnen DES LEBENS, angesichts der Kultur des Todes, die uns jegliche Rechte und unsere volle Eingliederung in die Gesellschaft verwehrt. Dies nicht anzuerkennen bedeutet, uns noch weiter als jetzt schon auszugrenzen. Gleichzeitig von Bürgerrechten zu uns zu sprechen, ist ein Hohn.
JA zur Arbeit in WÜRDE, NEIN zur Ausbeutung!
JA zur Arbeit unter SCHUTZ, NEIN zu schlechter Behandlung und Mißbrauch!
JA zu ANERKANNTER Arbeit, NEIN zu Ausschluß und Ausgrenzung!
JA zu Arbeit unter MENSCHLICHEN BEDINGUNGEN, NEIN zu unwürdigen Bedingungen!
JA zum RECHT, IN FREIHEIT ZU ARBEITEN, NEIN zur Zwangsarbeit!
Huampaní, Lima (Peru), 6.–9. August 1997
VertreterInnen der Bewegungen arbeitender Kinder: aus der Region Südamerika: Argentinien, Paraguay, Uruguay; aus der Andenregion: Kolumbien, Chile, Ecuador, Peru, Venezuela; aus Mittelamerika und der Karibik: Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Dominikanische Republik.
Übersetzung: Jutta Pfannenschmidt und Manfred Liebel

„Wir sind viel mehr als Geld“

Herr Galeano, am Ende dieses Jahrhunderts klaffen die sozialen Widersprüche weltweit so sehr auseinander wie niemals zuvor in der Geschichte. Sind wir Gefangene eines Systems, das die Menschheit unausweichlich zugrunde richtet?

Dracula hat bestimmt große Minderwertigkeitskomplexe. Viele Psychologen und Psychiater kommen zusammen, um ihm zu helfen. Denn Dracula fühlt sich heute wie der letzte Dreck und glaubt, seine ganze Arbeit sei nichts Wert, wenn er sieht, wie die multinationalen Konzerne agieren, wie die wilden Mechanismen der großen Finanz- und Handelsmärkte der Welt funktionieren, die dir mit der einen Hand das leihen, was sie dir mit der anderen stehlen. Es stimmt, daß das System sehr zerstörerisch mit den Menschen und der Natur umgeht, und es herrscht eine traurige Konkurrenz, vor allem unter den Ländern des Südens, um Kapital anzuziehen in den Zeiten der Globalisierung. Das ist sehr erniedrigend. „Wer kriecht am besten“, heißt das Motto. Es werden absolut niedrige Löhne und die Freiheit, die Umwelt zu verschmutzen, angeboten.
Und es ist ein System, das die Menschen zur Einsamkeit, zur Angst, zur Hoffnungslosigkeit und zu Beklemmungen verurteilt. Dieses System zerstört die solidarischen Beziehungen zwischen den Menschen, es schränkt die Möglichkeiten der Menschen, sich zu treffen, immer stärker ein. Es zwingt uns, die anderen als Feinde zu betrachten. Es überzeugt uns davon, daß das Leben eine Rennbahn ist, auf der es wenige Gewinner und viele Verlierer gibt. Es ist ein System, das die Seele vergiftet.

Der Pessimismus, der die Welt und die Linke erfaßt hat, gründet sich auf die historische Erfahrung des Scheiterns der realsozialistischen Systeme. Mangelt es an einem glaubwürdigen alternativen Projekt der Linken?

Es gibt in bestimmter Hinsicht eine Symmetrie, in dem Sinn, daß im Westen die Gerechtigkeit im Namen der Freiheit geopfert wurde und im Osten die Freiheit im Namen der Gerechtigkeit. Im Grunde geht es um die Wiedergewinnung der verlorenen Einheit beider. Die Freiheit und die Gerechtigkeit, die als Zwillinge geboren und gewaltsam getrennt wurden, müssen wieder zusammenfinden. Das ist das, was ich wünsche. Genauso wie die Wiedergewinnung der Einheit von der Gerechtigkeit und der Schönheit ein Teil der Utopie ist. Möglicherweise war die Ethik noch nie so getrennt von der Ästhetik wie heute, am Ende dieses Jahrhunderts.

Sie haben in Ihren Essays von der Notwendigkeit der Entgiftung des Geistes gesprochen, gibt es ein Rezept für das Gegengift?

Nein, ein Rezept dafür gibt es nicht. Glücklicherweise, denn ich glaube an kein Rezept. Aber ich glaube an das Recht auf Notwehr. Wenn sich jemand durch eine dominierende Kultur bedroht sieht, die ihm den Geist vergiftet und ihn mit Gewalt und Angst füllt, dann hat er jedes Recht, sich dagegen zu verteidigen. Und wenn es eine dominante Kultur gibt, die deine Identität ausradiert, dann hast du jedes Recht, sie zu bekämpfen. Ich glaube, daß das menschliche Wesen geheime Muskeln besitzt, die es ihm erlauben, besser zu sein als dieses abscheuliche Bild, das einem jeden Tag von einem System um die Ohren gehauen wird, das auf Geld konzentriert ist. Wir sind viel mehr als Geld.

Wie ist es möglich, daß wir die Menschen immer alle in Schubladen mit Aufschriften stecken müssen? Mir macht es am meisten Spaß, aus den Schubladen zu fliehen und festzustellen, daß man das Abenteuer der Freiheit überall und mit allen Menschen teilen kann, mit den verschiedensten Sprachen, die sie sprechen, und an den verschiedensten Orten. Es gibt immer Orte der Zusammenkunft mit den anderen.

Aber die Verschiedenartigkeit der Welt wird durch eine große Dampfwalze niedergemacht, durch die universelle Auferlegung eines einzigen Lebensmodells. Das fängt mit dem Export aufgezwungener Konsummodelle an. Die Welt ist daher immer weniger verschieden, leider, denn das Beste an der Welt ist die Vielzahl von Welten, die sie beinhaltet. Es ist ein Horror, ein Alptraum, zu einem Leben in einer zukünftigen Welt verurteilt zu sein, in der jene, die nicht verhungern, vor Langeweile sterben. Es gibt eine Chancenungleichheit, die symmetrisch zur Angleichung der Gewohnheiten verläuft. Das System ist ungleich in den Möglichkeiten, die es bietet und angleichend in der Kultur, die es aufzwingt.
Am Ende dieses Jahrhunderts universalisiert sich die Verehrung des Geldes. Das System basiert auf Habsucht und reduziert alle Menschen und Länder zu Waren. Ich weigere mich, eine Ware zu sein. Ich glaube, daß Land und Leute mehr als nur Waren sind.

Genau das Gegenteil denken die internationalen Finanzinstitutionen, die heute gerade in Lateinamerika eine für Wirtschaft und Politik dominierende Rolle einnehmen. Wie beurteilen Sie IWF und Weltbank?

Der IWF ist eine weltweite Maschine im Dienste der Idee der Entwicklung. Der IWF ist so etwas wie eine Weltregierung, weil seine Funktionäre mehr vermögen als alle Wirtschaftsminister zusammen. Wenn die Leute einen Präsidenten wählen und er seine Minister bestimmt, sind wir manchmal die Zuschauer eines Theaterstückes. Denn diejenigen, die eigentlich herrschen, sitzen irgendwo am Schreibtisch, und von dort entscheiden sie per Computer über das Schicksal von Millionen von Menschen. Sie konzentrieren den Reichtum und setzen die massive Verarmung durch. Und das mit einer absoluten Straflosigkeit. Das nennen sie Strukturanpassungsprogramme.

Die Logik der Entwicklung und des Wirtschaftswachstums ist absurd. Wenn Waffen verkauft werden, steigt das Bruttosozialprodukt. Das ist eine gute Nachricht im Wirtschaftsteil der Zeitungen. Aber ist es eine gute Nachricht für die Opfer dieser Waffen? Wenn ein Haus einstürzt oder ein Flugzeug mit allen Insassen abstürzt, ist das für die Wirtschaft eine gute Nachricht. Nicht nur weil die Auszahlung der Versicherungssumme Geld bewegt, sondern auch weil ein neues Gebäude oder ein neues Flugzeug gekauft werden muß. Für die Wirtschaft ist das gut, aber für die Opfer?

Eine Freundin, die als Sozialarbeiterin arbeitet, erzählte mir kürzlich, daß sie ein Haus betreiben, in dem sich Kinder im Alter von neun Jahren aufhalten, die Drogen zu sich nehmen. Sie betäuben sich mit Klebstoff. Einer der Jungen sagte zu ihr, sie solle nicht böse auf ihn sein. „So gehe ich in ein anderes Land“, sagt er. Er nimmt Drogen, um in ein anderes Land zu fliehen. Und das passiert mit Millionen von Kindern. Er möchte dieses traurige Land verlassen, in dem wir leiden und das zu einem großen Teil durch die Knebelungen der internationalen Finanz- und Kreditinstitutionen so geworden ist.

Aber die Flucht vor der Realität ist nicht die einzige Antwort auf die Knebelungen, die die Menschen in ihrem Griff halten. Welche sozialen Akteure leisten heute in Lateinamerika Widerstand?

Ein interessantes Beispiel für eine neue Widerstandsbewegung gegen den Neoliberalismus ist die in Europa weitgehend unbekannte Bewegung El Barzón. In dieser Organisation haben sich in Mexiko über zwei Millionen Kleinschuldner zusammengefunden, die ihre Schulden und die enorm angestiegenen Zinsen nicht mehr an die Gläubigerbanken zurückzahlen können und wollen. Damit treffen sie das Finanzsystem in seinem Nervenzentrum. Kürzlich wurden Repräsentanten von El Barzón sogar vom Vizepräsidenten der Weltbank in Washington empfangen. Ein deutlicheres Zeichen für die Furcht der Mächtigen vor dieser schnell an Kraft gewinnenden Bewegung kann es nicht geben. Andererseits haben in Mexiko auch die Zapatistas aus Chiapas mit ihrem Aufstand im Januar 1994 ein Zeichen der Hoffnung gesetzt. Es gibt in Lateinamerika aber auch viele Kämpfe gegen den herrschenden Neoliberalismus, von denen nichts oder wenig bekannt ist, weil die großen Kommunikationsmedien darüber nicht berichten.

Das aufsehenerregendste lateinamerikanische Medienereignis im letzten Jahr war die Besetzung und anschließende Räumung der japanischen Botschaft in Lima durch ein Kommando der MRTA. Wie haben Sie die dramatischen Ereignisse wahrgenommen?

Das Massaker bei der Räumung der japanischen Botschaft in Lima vom Blickwinkel Fujimoris aus betrachtet, ist etwas anderes als der Blickwinkel seiner Opfer. Fujimori bestrafte auf eine abscheuliche Weise die Leute, die die Botschaft besetzt hielten. Und er, der das Parlament und die Exekutivgewalt mit einem selbstinszenierten Staatsstreich besetzte? Was ist schon das Verbrechen, eine Botschaft zu besetzen, im Vergleich zu dem Verbrechen, ein Parlament zu besetzen und es aufzulösen.

Nicht nur die sozialen und politischen Folgen des Neoliberalismus beschäftigen Sie, sondern auch die ökologischen. Sie sagten einmal, es gelte die verlorengegangene Einheit von Mensch und Natur zurückzugewinnen. Was ist damit gemeint?

Es gibt zwei Faktoren, die die Auslandsinvestitionen anziehen. Die Freiheit, die Natur ungestraft zu verschmutzen und zu zerstören sowie das Recht, einen Dollar pro Tag als Lohn zu bezahlen. Wir befinden uns in diesem traurigen Konkurrenzkampf, und die Resultate für die Welt sind immer katastrophaler. Fünf Jahre nach der internationalen Umweltkonferenz in Rio, die die Welt mit Erklärungen, Worten und guten Absichten überschwemmte, scheint mir der Tod von Jacques Cousteau die beste Metapher für eine Bilanz zu sein. Er starb in dem Moment, in dem die Unfähigkeit des Systems, einen Planeten zu retten, der in eine große Kloake und Müllhalde verwandelt wurde, am offensichtlichsten geworden ist.
Wir müssen wieder auf unsere tiefsten kulturellen Wurzeln schauen. Für die amerikanischen indigenen Kulturen ist der Mensch eine Einheit mit der Natur, weil er Teil von ihr ist. Und weil sie das glaubten, wurden die Indígenas seit dem 16. Jahrhundert bestraft. Sie wurden wegen „Götzenverehrung“ bestraft, weil sie glaubten, daß die Natur heilig ist. Das galt als Beweis für die Präsenz des Teufels in Lateinamerika. Das waren die Zeiten, in denen im Namen Gottes eine universelle Losung geschaffen wurde, „die Natur beherrschen“, später geschah es dann im Namen des „Fortschritts“. Die Natur wurde als wildes Tier gesehen, das gezähmt und unterworfen werden muß, um im Dienste des Menschen zu stehen, wie der herrschende Machismus es nennt.
Im 16. und 17. Jahrhundert hieß es, Gott habe den Europäern Amerika gegeben, damit sie die wilde Natur in ein Haustier verwandeln. Später wurde Gott durch den „Fortschritt“, die Zivilisation mit ihrer Idee, daß es möglich sei, die Natur zu beherrschen, ersetzt. Die Idee, daß der Mensch die Natur zu beherrschen habe, blieb. Erst in den letzten Jahren ändert sich etwas. Heute spricht man nicht mehr davon, die Natur zu beherrschen, die Parole lautet vielmehr, sie zu beschützen. In beiden Fällen gehen wir von einer falschen Grundannahme aus, indem wir die Natur außerhalb von uns selbst verorten. Wir müssen, meiner Meinung nach, diese verlorene grundlegende Einheit wiedergewinnen, die die unterworfenen indigenen Völker besaßen, für die diese Trennung nicht möglich war. Wir sind Teil der Natur. Ich bin der Bruder von allen, die Füße haben, aber auch von allem, was Pfoten hat, und von allem, was Flügel hat, und von allem, was Wurzeln hat. Deshalb wandelt sich jedes Verbrechen gegen die Natur in einen Selbstmord um, es wendet sich gegen mich, weil ich gegen etwas vorgehe, von dem ich ein Teil bin. Diese Konzeption der Dinge, die als Götzenverehrung über viele Jahre hinweg bestraft wurde, müssen wir wiedergewinnen. Wir müssen den Blickwinkel verändern, das gilt für viele Probleme.

KASTEN

Eduardo Galeano, 1940 in Montevideo (Uruguay) geboren, gilt als der bekannteste politische Essayist Lateinamerikas. Weltberühmt wurde er mit seinem 1971 erschienenen Buch „Die offenen Adern Lateinamerikas“ (deutsch 1973), einer engagierten Analyse der Ausbeutung und Unterdrückung Lateinamerikas durch Kolonialismus und Neokolonialismus von der Eroberung des Subkontinents durch die Spanier bis zur konterrevolutionären Politik der USA in den 60er Jahren dieses Jahrhunderts. Dieses Buch trug zur Politisierung einer ganzen Generation bei und gilt bis heute als Standardwerk. Im Exil, in das er nach dem Militärputsch in Uruguay 1973 fliehen mußte, setzte er seine Geschichtsschreibung „von unten“ mit dem dreibändigen Werk „Erinnerung an das Feuer“ fort. Zurück in seinem Heimatland Uruguay, engagierte sich Galeano für soziale und demokratische Reformen, beispielsweise für das erfolgreiche Plebiszit gegen die Privatisierung von Staatsbetrieben Anfang der 90er Jahre. Im Frühjahr erschien sein neuestes Buch in deutscher Übersetzung, eine Hommage an die Schönheit des Fußballs und dessen Gefährdung durch die zunehmende Kommerzialisierung („Der Ball ist rund und Tore lauern überall“, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1997).

Kurzrezensionen

Konzentriertes Alterswerk
Juan Carlos Onetti, der vor wenigen Jahren verstorbene Senior der uruguayischen Literatur, gab in seinem 1987 erschienenen Roman Cuando entonces noch einmal eine Probe seiner Kunst. Das Buch liegt nun unter dem Titel „Magdau in der Bibliothek Suhrkamp vor. „Magda” ist ein äußerst komprimierter Roman; Onetti verzichtet auf epische Breite, be-schränkt sich auf wenige Szenen und vermag doch eine Geschichte zu erzählen, die an Facetten reich ist und deren Tiefgang bewegt.
Was im Roman auch immer geschieht, es bleibt offen, unergründet, unvollendet -vielleicht ist das ein Fazit des alten Herrn, der uns die ganze Fülle der Motive der lateinamerikanischen Literatur vor Augen führt. Ein Journalist begegnet in einer Kneipe in Buenos Aires einer Prostituierten. Er verliebt sich in sie und muß doch feststellen, daß ihre Liebe einem brasilianischen Kommandanten gehört, der sich in Argentinien aufhält. Mit dem durchrauscht sie einige ekstatische Nächte, aus denen zwei Jahre werden. Dies ist die einzige Beziehung im Roman, die ihre Chance bekam, aber auch sie endet abrupt. Er muß weg, wird nach Brasilien gerufen, wo Militärs geputscht haben, diesmal steht er auf der Seite der Begünstigten. Sie -Magda -bleibt zurück, genauso wie vorher Lamas, der Journalist. Es endet, wie man es von einer unerfüllten Liebesgeschichte nicht anders erwartet, mit Tod -sie nimmt sich das Leben, der Brasilianer kommt vermutlich bei einem Flugzeugabsturz um, aber das wird so deutlich nicht gesagt.
Das Bordell und die Sehnsucht nach Liebe in den Gesichtern der Huren, die Armee und der Hunger nach Leben in denen der Offiziere, die herbe Poetik der trinkenden Einsamen -dieses wohlbekannte Panorama findet man im Roman wieder, kondensiert in berauschend gekonnter Art und Weise. Es ist eine Sammlung von Fragmenten, die allesamt mehr verschweigen oder nur ahnen lassen, als sie erzählen, aus deren Beziehungen untereinander aber doch die Geschichte scharfe Konturen gewinnt -ein prägnantes, weises Alterswerk, das mitunter an musikalische Spätwerke erinnert. Die Experimente hatte Onetti, scheint’s, lange hinter sich, hier geht es um den Versuch, zu resümieren.
Leider ist die Lektüre nicht leicht, und zwar wegen einer Übersetzung, der man das Konstruierte anmerkt. Zu oft begegnen Sätze, bei denen ich dachte, so würde man das nie sagen. Vielleicht liegt das am spanischen Text selbst, vielleicht ist auch dessen Intensität nur sehr schwer beizubehalten. Es dauert ein Weilchen, bis man sich eingelesen hat. Dann allerdings blüht etwas auf, und hinter den zunächst holperig klingenden Wörtern findet sich oft überraschender Nachhall.
Onetti lohnt sich. Das Buch ist sehr zu empfehlen.

Juan Carlos Onetti: Magda. Aus dem Spanischen von Anneliese Botond. Suhrkamp Verlag, FrankfurtIMain 1997,
104 S., 19,80 DM.
Auf der anderen Seite
Liber:Libertas. Buch:Freiheit. Der Titel der Publikationsreihe im Residenz Verlag wirft ein grelles Licht auf das, wovon in Mauricio Rosencofs neuem Buch die Rede ist. Die Erzählung „Die Briefe, die nie an-gekommen sind” skizziert das Leben einer zerrissenen jüdisch-polnischen Familie Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre.
Auf der einen Seite des Meeres lebt Moishe, ein kleiner Junge, dessen Familie nach Montevideo ausgewandert ist. Moishe -Mauricio. Sie wohnen in einem Arbeiterviertel und reden sich in Jiddisch auf den Versammlungen die Kehlen wund über den Krieg in Spanien. Für Moishe wäre die Welt in Ordnung -alles Erzählte ist ein Atemzug, man muß nur zuhören -, wenn es nicht die andere Seite gäbe: die Verwandten, die zurückgeblieben sind. Zwischen die Beobachtungen von Moishe sind Briefe an Isaac, seinen Vater, eingestreut, Briefe, die nie angekommen sind, weil sie nie hätten geschrieben werden können. Es sind die Briefe, von denen Moishe nicht wußte, von denen aber Mauricio heute weiß, daß sie hätten gedacht, vor sich hin gesagt, in die Luft geschrieben werden können. Sie erzählen vom Judenstern und von den Versprechungen, die die Nazis den Juden über Theresienstadt machten. Und dann reden sie von Treblinka, vom Lager, von ausgehobenen Massengräbern, von einem Berg, aber aus Asche.
Moishe sieht dem Vater zu, der auch schreibt, „Dinge von hier für dort” in einer unentzifferbaren Schrift. „Die kleinen Stöcke ganz oben bedeuten Mamele, und Mamele heißt Mama. Und Papa hat eine Mama, zu der er Mamele sagt …”
Wie sollte man Distanz gewinnen zu diesem Buch? Die kindlich-unverstellten, neugierigen und zugleich scheuen Worte des Kindes Moishe verbergen nicht ihren Autor. Dessen eigene Geschichte als politischer Häftling während der Militärdiktatur in Uruguay versichert, daß die ungeschriebenen Briefe der Zurückgebliebenen nicht erdacht und nicht zitiert sind.
Es gibt Bücher, über die eine Rezension zu schreiben unmöglich zu sein scheint. Dieses Buch kann man lesen, man kann darüber reden. Aber es kritisieren?
vale
Mauricio Rosencof: Die Briefe, die nie angekommen sind. Aus dem Spanischen von Erich Hackl, Residenz Verlag, Salzburg und Wien 1997, 32 S., 20,-DM.
Marlboro-Country in Feuerland
Endlich mal wieder was Schönes! „Das violette Licht, das den Sonnenaufgang ankündigt, überflutete die endlose Steppe und verdrängte den Widerschein, den der untergehende Mond immer noch auf die Erde warf. Der violette Schein strich langsam wie ein Peitschenschlag über die Erde, und das grelle Licht des beginnenden Tages ließ die Umrisse der patagonischen Natur deutlich hervortreten”. Nein, es passiert nicht viel in Coloanes Geschichten. Es sind vielmehr die statische Erhabenheit der Naturdarstellungen und die eindrücklichen Beschreibungen dieser sonderlichen Charaktere vom Ende der Welt, die die Leserschaft in den Bann zu ziehen vermögen. So zum Beispiel der englische Zahlmeister Handler, der nach einem Sturz vom „Pferd der Morgenröte” Halluzinationen bekommt und eine Gruppe Strauße für Dinosaurier hält, wofür er nachher allerdings eine ganz plausible wissenschaftliche Erklärung parat hat. Oder Haberton, der „Eisberg unter Wasser” der mit den Bäumen, den Wolken und den Steinen redete, und von dem „keiner geahnt hat, wieviel Zärtlichkeit unter der Oberfläche dieses We-sens verborgen lag”. Oder der Seemann Foster, der seinen besten Freund beraubt und ermordet hatte und so, in einer eigenen Version von Schuld und Sühne, an einem alten Seemannsaberglauben zugrunde geht.
Die Geschichten aus dem bereits 1956 erschie-nen Bändchen ,,Tierra del Fuego” des Chilenen Francisco Coloane (I 9 1 O), von Willi Zurbrüggen brilliant übersetzt, zeichnen ein uns bisher völlig verborgen gebliebenes Bild Lateinamerikas nach: Die Welt der weiten Steppe Patagoniens und der zerklüfteten Archipel-Landschaft Feuerlands, der Yaghan-lndianer, der Seemänner und der Goldsucher (die grossen „InnenM fehlen bewußt, Frauen scheinen hier nur eine Nebenrolle zu spielen). Daß sein Werk trotz hoher Auflagen von der Literaturwissenschaft bis-her wenig beachtet wurde, mag damit zusammen-hängen, daß, wie der chilenische Schriftsteller Luis Sepúlveda in seinem Vorwort bemerkt, „sich dieser Autor nirgends einordnen ließ, sich keinem damals erfolgsträchtigen Stil fügte und sich (…)keinen Deut darum scherte ‘große Romane’ zu schreiben”.
Erst 1964 hat Coloane den chilenischen Literaturpreis bekommen. Die vielen Anhänger unter der jungen Leserschaft lassen sich, neben dem abenteuerlichen Charakter des Werks, vor allem damit er-klären, daß „Coloanes Bücher (…)unschätzbare Elemente zur Definition einer lateinamerikanischen Identität enthielten”.
Ob Identität oder nicht, auf jeden Fall haben wir es hier mit einem Werk zu tun, das zu entdecken sich durchaus lohnt -nicht nur als Reiselektüre!
MaMü
Francisco Coloane: Feuerland. Unionsverlag, Zürich 1996, 200 S., 32.-DM.

Gerüst in 75 Teilen

Javier Montes kehrt nach zwölf Jahren politischen Exils in Madrid zurück nach Uruguay. Seine halberwachsene Tochter Camila und seine Frau Raquel – “seit einiger Zeit lief es schon nicht mehr so gut” – bleiben in Spanien, wo die beiden Frauen eine neue Heimat gefunden haben.
Javier läßt sich in der Nähe von Montevideo in einem Häuschen am Strand nieder, der aus Vermarktungsgründen nicht mehr El Arroyán (Myrtenfeld), sondern, ganz im Trend der Zeit, Nueva Beach heißt. Er trifft alte Freundinnen und Freunde wieder, Mittvierziger wie er. Jene, die ebenfalls während der Diktatur Zuflucht im Ausland suchten, und jene, die in den Folterkellern des Militärregimes dahinvegetierten und wie durch ein Wunder überlebten.
Benedetti erzählt die Geschichte eines “Desexils”, die Nachwirkung des Exils, die mit dem Ende der Repression beginnt. Der Protagonist muß keine traumatischen Foltererlebnisse verarbeiten. Auch ist er kein politischer Vollblutaktivist, der sich im Ausland ständig für die Sache seines Landes engagiert hat. Er ist ein Mann, der sich mit seiner Familie während des erzwungenen Auslandsaufenthaltes eine Existenz aufgebaut hat, seine Rückkehr nach Uruguay aber nie in Frage stellte.
Javier kommt nach Montevideo und nimmt Veränderungen wahr, Beobachtungen eines Insiders, der Distanz gewonnen hat. Seine Erinnerungen, durch die Jahre, die Erlebnisse, Ängste und Sehnsüchte gegerbt, treffen auf eine veränderte Stadt. Weder an ihr selbst noch an ihren Bewohnern sind die Jahre spurlos vorübergegangen. Die politischen Aktivisten von damals treffen sich auch heute wieder, doch scheint es, als seien politische Diskussionen nun ein Tabu. Die revolutionären Träume von einst sind gescheitert, und die Wunden, die Folter und Exil geschlagen haben, sind zu frisch, um ein politisches Projekt zu entwerfen oder auch nur zu kommentieren.

Verzicht auf das Plakative

Mario Benedetti unterliegt nicht der Versuchung, in nostalgisches Wehklagen zu verfallen oder einen gesellschaftskritischen Rundumschlag über die aktuelle Situation in Uruguay zu wagen. Seine Beobachtungen sind subtiler, oft nur beiläufige Episoden wie die hinter Ausreden versteckte Schwäche seiner Mutter für Telenovelas, die Avenida, auf der früher Bäume standen, Briefe aus Madrid, die erste Liebe seiner Tochter, von der er nun getrennt ist – Alltagsgeschichten. In seinem Buch geht es nicht um politische Intrigen oder wirtschaftliche Probleme, sondern einzig um die Empfindungen eines Mannes, der nach langer erzwungener Abwesenheit wieder in seiner Heimat zu Hause sein möchte, auch wenn er sich in Spanien wohlgefühlt hat.
Die Veränderung einer Gesellschaft geschieht bei Benedetti nicht klar und plakativ, sondern schwingt in gerade jenen Alltagsgeschichten mit: “Es stimmt, daß die Avenida ohne Bäume ist, (…) daß die Jugendlichen (…) ohne Ziel sind, viele Alte ohne Rente und ganze Familien ohne Wohnung. Aber das alles bestätigt keine radikale Transformation. Die Veränderung, die ich bemerke, hat wenig damit zu tun. Es ist eher eine Störung in der Atmosphäre, eine ethische Intrige, als atme die Stadt eine andere Luft, die Gesellschaft eine andere Art von Energielosigkeit, das Bewußtsein eine andere Verlassenheit, und als habe die Solidarität andere Fesseln. Die Stimme der Ruhe entschlüsselt mehr als die Stimme des Geplärres (…). Die Gesichter der Rückkehr sind nicht nur die Straßen oder Plätze, die Straßenecken oder die Milchstraße, so hoch geschätzt bei Stromausfällen. Da sind auch die Gesichter des Nächsten oder der Nächsten, und es ist dort, wo ich eine gewisse Angst bemerke, ein ganzes Archiv ausgeschlossener Hoffnungen, Resignation und angsterfüllter Augen, die nicht vergessen.”
Die Sprache des Buches ist klar und poetisch zugleich, frei von barocken Pirouetten und oft mit einer gewissen Ironie. Benedetti, unter dessen mehr als fünfzig veröffentlichten Büchern viele Gedichtbände sind, hat auch in “Andamios” Gedichte eingesetzt. Sie sind Aufzeichnungen Javiers, die seine Sinneseindrücke, sein körperliches Bewußtsein ausdrücken. Wer allerdings ein spannendes Buch erwartet, einen Reißer, den man in einer Nacht verschlingen muß, der wird enttäuscht sein. Es hat keine Eile, das “Gerüst” zusammenzubauen. Da gibt es viel Zeit für Frühstücks- und Denkpausen. Am Ende schließlich steht man vor einem soliden Gerüst, auf dem man herumklettern kann und verschiedene Perspektiven des “Desexils” entdeckt, jener Etappe, die mit dem Rückzug der Militärs in die Kasernen beginnt und noch viele Kapitel haben wird.

Mario Benedetti: Andamios. Madrid, Alfaguara 1997

Guerillero-Entsorgung

Im Morgengrauen des 23. Januar 1989 stürmten rund 60 schlecht bewaffnete meist junge Menschen der Oppositionsbewegung MTP die Infanteriekaserne Nr. 3 von La Tablada, einem Vorort der Hauptstadt Buenos Aires. Dreißig Stunden dauerte die darauf folgende von Rundfunk und Fernsehen live übertragene Schlacht zwischen den Angreifern, die eine beinahe leere Kaserne vorfanden, und den von außen attackierenden über 3000 (!) Militärs. Diese schlugen mit martialischem Aufwand – Panzer, Infanterie und Luftwaffe – den Angriff nieder, schossen die Kaserne buchstäblich in Schutt und Asche: 39 Tote, 70 Verletzte und 20 Gefangene waren die Bilanz (siehe LN 179, 180, 181). Die Angreifer wollten nach eigenen Angaben einem geplanten Militärputsch zuvorkommen. Informationen darüber seien ihnen aus zuverlässigen Kreisen zugespielt worden. Bis heute halten die überlebenden MTPistas an dieser Version fest, und auch an dem Glauben, daß vor mittlerweile mehr als acht Jahren tatsächlich eine Rebellion der nationalistischen Militärfraktion der Carapintadas bevorstand. Der Überfall auf La Tablada leitete 1989 die erneute Militarisierung Argentiniens und den unrühmlichen und vorzeitigen Abgang des damaligen Präsidenten Raúl Alfonsín ein (LN 183/4).
Schon damals zirkulierte das Gerücht, daß der vermeintliche Kopf hinter dem Angriff Gorriarán Merlo gewesen sei, der erfolgreich fliehen konnte. Merlo ist eine der schillerndsten Gestalten der argentinischen und lateinamerikanischen Guerilla-Bewegungen. Als enfant terrible tauchte sein Name in Argentinien immer dann auf, wenn die Militärs meinten, die auch in der Demokratie noch virulente Bedrohung durch den Linksradikalismus behaupten und diese “Subversion” bekämpfen zu müssen. Aber tatsächlich: In einem im Mai 1995 klandestin gegebenen Fernsehinterview gab Merlo nicht nur seine Beteiligung an La Tablada zu. Er war ebenfalls am erfolgreichen Attentat auf den geflüchteten nicaraguanischen Ex-Diktator Anastasio Somoza am 17. September 1980 in der paraguayischen Hauptstadt Asunción beteiligt.

25 Jahre “freie Gefangenschaft”

1970 war Merlo gemeinsam mit Roberto Santucho führendes Gründungsmitglied des trotzkistischen Ejército Revolutionario del Pueblo (ERP). Neben den peronistischen Montoneros war der ERP die wesentliche Guerilla Argentiniens der 70er Jahre. Derweil festgenommen, gelang Merlo 1972 mit fünf Mitgefangenen die Flucht aus dem Hochsicherheitsknast von Rawson per Flugzeug nach Chile und weiter nach Kuba. 1974 führt er einen mißglückten Angriff auf die größte argentinische Militärkaserne von Azul an, bei dem drei Soldaten und zwei Guerrilleros starben. 1979 wurde Merlo Mitglied der nicaraguanischen FSLN, verantwortlich für den Sicherheitsdienst. Zurückgekehrt nach Argentinien engagierte sich Merlo ab 1987 in der populären Basisbewegung MTP. Der MTP war eine weit verbreitete BürgerInnenbewegung in den Armenvierteln der Großstädte. Die Mitglieder arbeiteten in Basisgruppen für partizipative Demokratie, gegen soziale Ausgrenzung und Ungerechtigkeit und gegen die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft.
Auf der Fahndungsliste stand Merlo nicht nur immer ganz oben, seit Beginn der 90er Jahre war er in Argentinien der einzige, der überhaupt noch darauf zu finden war – alle anderen waren tot, festgenommen, verurteilt oder – wie die meisten – verschwunden. Am 28. Oktober 1995 fand Merlos bewegtes Leben im Untergrund ein jähes Ende. Seit mehr als einem Monat war der argentinische Geheimdienst SIDE ihm auf den Fersen. Bei einem Besuch in Mexiko wurde er in einer heftigen Schießerei von 60 (!) Mitgliedern des mexikanischen und argentinischen Geheimdienstes gemeinsam festgenommen und kurzerhand im Flugzeug nach Argentinien abtransportiert. Diese binationale Entführungskooperation erregte damals weder eine zwischenstaatliche Krise noch internationales Aufsehen. 21 Tage lang wurde Merlo im Gefängnis des ehemaligen Konzentrationslagers von La Perla vernommen und nach eigenen Angaben von Angehörigen der Gendarmerie gefoltert. Danach saß er bis zum Prozeßbeginn am 20. Juni 1997 in Villa Devoto 577 Tage in Isolationshaft, mit abgeschotteter Einzelzelle, eingeschränkter Besuchserlaubnis und Bewegungsfreiheit, und begrenztem Postzugang. Merlos Ex-Frau Ana María Sívori war ebenfalls 1995 bei einem Besuch ihrer Mutter in Rosario festgenommen worden. Seit Jahren hatten beide keinerlei Kontakt mehr gehabt. Die Tatsache vor Jahren mit dem Guerillero verheiratet gewesen zu sein, war alleiniger Verdachtsmoment gegen Sívori. Später tauchte aus Polizeikreisen ein Beutel mit Dokumenten auf, der ihre angebliche Mitgliedschaft im MTP und Verbindung mit dem Angriff auf die Kaserne von La Tablada belegen sollte.

“Die Wunden schließen”

Unter Hubschrauberüberwachung, Militärpräsenz und mittels zahlreicher bewaffneter Polizeieinheiten wurde am 20. Juni 1997 der Prozeß gegen Merlo und Sívori im Vorort San Martín von Buenos Aires eröffnet. Einige Tage vor und während des Prozesses wurde in den Medien eine regelrechte Kampagne gestartet, die auf das Bild Merlos als durchgeknallter Fanatiker des militärischen Kampfes hinauslief. Entsprechend groß war das Interesse der Medien aber auch vieler gesellschaftlicher Kreise und Gruppierungen an dem Prozeß. Unter ihnen beispielsweise der ehemalige Verteidiger im Prozess gegen die Militärs Víctor Seguí: “Ich bin gekommen, weil dies eine historische Chance ist. Es hilft, die seit dreißig Jahren offenen Wunden zu schließen.”
“Wir sind politische Geiseln”, rief Sívori beim Betreten des Gerichtssaales, in dem vor acht Jahren bereits zwanzig Mitglieder des MTP von den selben Richtern und mit zum Teil identischen Anwälten in einem Farce-Prozeß unter der Regie der Militärs für den Angriff mit lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren (LN 186). Keine guten Vorzeichen, wie sich im weiteren Verlauf zeigen sollte.
300 Seiten stark war die Anklageschrift, die vom Staatsanwalt Pablo Quiroga an den ersten beiden Verhandlungstagen verlesen wurde. Sie begründete die über zehn Anklagepunkte aus der Sicht des argentinischen Staates. Neben unerlaubtem Waffenbesitz, schwerem Raub, illegaler Freiheitsberaubung, Rebellion, doppelt-schwerem Mord, Dokumentenfälschung und anderem lag der Schwerpunkt auf Bildung und Führung einer illegalen Vereinigung. Der MTP, so die Kernargumentation der Staatsanwaltschaft, habe sich nach dem Eintritt Gorriarán Merlos 1987 unter seinem Einfluß und seiner Führung in eine bewaffnete, illegale Vereinigung verwandelt, mit dem Ziel der Machtergreifung in Argentinien. Der Angriff auf La Tablada liest sich in dieser Sicht als geplanter Staatsstreich von links namens “Operation Tapir”. So war es laut Quiroga beabsichtigt, “die Universitäten, Militärkasernen, Radios, Fabriken, Ländereien, Wohnungen, Gerichte, öffentliche Einrichtungen, Presse und schließlich die Regierungsgebäude zu besetzen”. Ziel der Angreifer war demnach, mit in La Tablada geraubten Panzern auszurücken, bis sich schließlich die Regierung vor der Casa Rosada ergeben werde. “Es muß darauf hingewiesen werden”, so Quiroga, “daß es nur 150 Personen waren, die die Kaserne von La Moncada angriffen und die kubanische Revolution auslösten. Und nur zehn Mitglieder der Frente Sandinista de Liberación Nacional begannen deren öffentliche Aktivität”. Die “Bedrohung” der sechzig schlecht bewaffneten MTPistas wirkt wahrlich einleuchtend. Aber die waren in der offiziellen Version gar “bestens ausgerüstet und im Waffenumgang geschult”. Entlarvend war ebenso wie 1989 der Sprachgebrauch der Staatsanwaltschaft. So bezeichnete Quiroga Merlo und Sívori in guter diktatorischer Tradition als “subversive Elemente”.
Das aktenschwere “Beweismaterial”, auf das sich die Anklage stützte, war dasselbe wie schon beim 1989er Prozeß gegen die MTPistas. Es stammt nachweislich aus dubiosen Quellen rechtsextremistischer Militärs (Gruppe Albatros), die teilweise seit dem letzten mißglückten Putschversuch 1990 (LN 199) in Uruguay untergetaucht sind, um der Strafverfolgung zu entgehen. Darüber hinaus hatte der Geheimdienst SIDE die “relevanten” 900 von insgesamt 2650 Stunden Telefonabhörungen in Protokollform zur Verfügung gestellt. Über Jahre wurden nicht nur die Telefone der VerteidigerInnen und von Sívori abgehört – ein klarer Verstoß gegen internationale Rechtsstandards -, sondern von Dritten, allen Menschen, die mit diesen Personen in irgendeiner Weise telefonisch in Verbindung traten – JournalistInnen, MenschenrechtlerInnen, StudentInnen etc. In den Protokollen wird nicht der Wortlaut der Telefongespräche wiedergegeben, sondern lediglich Zusammenfassungen der MitarbeiterInnen des SIDE. Darin liest sich unter anderem, die jeweilige politische Einschätzung der Personen (z.B. radikale Ideologie, über ein Mitglied der Oppositionspartei UCR). Und ein Attribut schien von “informativem Wert” bei der Freundin, einer Freundin der Schwiegermutter, einer Tochter von Merlo: “jüdisch”.
“Verhandelte Sache”
Die vier RechtsanwältInnen der Angeklagten stützten ihre Verteidigung auf drei Hauptelemente: Die Widerlegung des angeblichen Putschversuchs des MTP, die Illegalität des Prozesses aufgrund der Inhaftierungsweise der Beschuldigten sowie die Anklage der Unregelmäßigkeiten in Verlauf und Beweisführung dieses, wie des vorangegangenen Prozesses. In der Version von Verteidigung und MTP sollte die Kasernenerstürmung einem Militärputsch zuvorkommen. “La Tablada ereignete sich in einem spezifischen Kontext”, meinte Merlo in einem schriftlichen Zeitungsinterview mit der argentinischen Tageszeitung Página/12 kurz nach seiner Festnahme. Eine detaillierte Selbstkritik könne der MTP aber erst dann leisten, wenn es die Möglichkeit einer gemeinsamen Diskussion gäbe. Die Militärrebellionen der putschistischen Carapintadas von Semana Santa, Monte Caceros und Villa Martelli bildeten ab 1986 ein zunehmendes Klima politischer Unsicherheit und Angst. Der letzte Aufstand hatte Anfang Dezember 1988 ein extrem labiles politisches Klima hinterlassen. Viele hielten es 1989 für möglich, daß es zu einem weiteren Aufstand kommen würde, der erneut die taumelnde Demokratie beseitigen könnte. Tatsächlich erhoben sich die Carapintadas am 3. Dezember 1990 zu ihrer letzten Schlacht. Die nachgiebige Politik von Menems Vorgänger Alfonsín gegenüber den Militärs hatte ihrerseits schon vor der Amnestierung der wenigen verurteilten Hauptverantwortlichen durch Menem im Oktober 1989 zu breiter Frustration und Wut geführt: Nicht nur die Menschenrechtsbewegung und Angehörigen der über 30.000 während der Diktatur Verschwundenen reagierten mit Ohnmacht und Angst vor den kommenden Verhältnissen. In dieser spezifischen Situation erhielten die Mitglieder des MTP im Januar 1989 die Information über einen bevorstehenden erneuten Putschversuch. Sie rekrutierten damals innerhalb kürzester Zeit 60 Frauen und Männer, die zum Teil niemals zuvor eine Waffe in ihrer Hand gehalten hatten, und rüsteten sie teilweise mit schrottreifen, nicht funktionierenden Luftgewehren aus.
Bereits wenige Tage nach dem Angriff auf La Tablada wurde in verschiedenen Kommuniqués des MTP die Folterung und Exekution einiger MitkämpferInnen durch die Militärs bei der Niederschlagung denunziert: Erstaunlicherweise gab es auf Seiten der Angreifer keinen einzigen Verletzten. Mittels Foto- und Fernsehaufnahmen konnte in den folgenden Wochen und Monaten nachgewiesen werden, daß fünf MTPistas sich den Militärs ergaben und gefangen genommen wurden, wenig später aber unter den Toten zu finden waren. Daß dies nach wie vor ohne Konsequenzen geblieben ist, reklamierte die Verteidigung und forderte eine unabhängige Untersuchung sowie eine Wiederaufnahme des Prozesses von 1989. Darüber hinaus forderte sie einen Freispruch für Merlo und Sívori, da die Absicht des Überfalls auf La Tablada eine legitime Verteidigung der Demokratie gewesen sei.
Die Richter – zwei von ihnen hatten schon die 20 anderen MTP-Mitglieder verurteilt – gaben der Argumentation der Staatsanwaltschaft dahingehend statt, daß die “Sache La Tablada” keiner weiteren Beweiserhebung bedürfe, da Merlo bereits im Prozeß von 1989 in Abwesenheit mitverurteilt worden sei. Von Sívori kein Wort. Ihr Name fiel im Prozeßverlauf lediglich bei Anklage und Urteilsverkündung. Die somit “bereits verhandelte Sache” bedurfte keinerlei neuerer Beweisführung oder Hinterfragung – eigentlich, so die Botschaft, war für Richter und Staatsanwalt der ganze Prozeß überflüssig. Der dauerte entsprechend auch nur fünf Verhandlungstage, von denen zwei für die Verlesung der Anklageschrift und einer für die Plädoyers draufging.
Die Verteidigung scheiterte in den ersten drei Tagen mit allen Anträgen und Einwänden gegen das “Beweismaterial” aus den Händen der putschistischen Militärs, gegen Parteilichkeit und Befangenheit der Richter, sowie der Nichtigkeit des Prozesses, der auf der illegalen Entführung Merlos basiere. Da offensichtlich war, daß die Verurteilung von Merlo und Sívori bereits vor dem Prozeß feststand, entließen die Angeklagten am dritten Verhandlungstag ihre VerteidigerInnen. Diese hielten eine Pressekonferenz ab, auf der sie auf die gravierenden Verletzungen der Prozeßregeln verwiesen und ankündigten, beim Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof eine Klage gegen das Verfahren einzureichen. Die von den Richtern eingesetzte Pflichtverteidigerin las sich innerhalb von 48 Stunden in die 1.500 Seiten starke Prozeßakte ein und garantierte so den zügigen Fortgang des Prozesses bis zur Urteilsverkündung am 2. Juli: 18 Jahre Knast für Ana María Sívori wegen begleitender Mittäterschaft und lebenslänglich mit anschließender Sicherheitsverwahrung für Enrique Gorriarán Merlo für Anführung des Überfalls und Bildung einer illegalen Vereinigung.
Merlo hatte nichts anderes erwartet: “Aus Überzeugung glaube ich nicht an die Gerechtigkeit dieser Justiz.”
Einen Tag nach der Urteilsverkündung übersandte die Interamerikanische Menschenrechtskommission CIDH der argentinischen Regierung ihren Abschlußbericht der Untersuchung des La Tablada Prozesses von 1989. Darin führt sie zahlreiche Unregelmäßigkeiten in der Beweisführung an, die auch in diesem Prozeß die Grundlage bildeten und legt der Regierung nahe, die noch 16 Inhaftierten auf freien Fuß zu setzen und ihnen eine Entschädigung zu zahlen. Darüberhinaus fordert die CIDH eine juristische Untersuchung der behaupteten Vorwürfe der Exekution und Folterung von Gefangenen seitens der Militärs.
Bleierne Zeit
Entscheidend ist der Gesamtzusammenhang in dem der Prozeß gegen Merlo und Sívori vonstatten ging. Seit Beginn der Regentschaft Menems sind die ArgentinierInnen an regelmäßige Skandale in Politik und Justiz gewöhnt. Eine der ersten Amtshandlungen Menems war die Erhöhung der Mitgliederzahl des obersten Gerichtshofs. Die vier neuen RichterInnen ernannte selbstverständlich der Präsident höchstpersönlich und verschaffte sich damit von vornherein einen freien Rücken vor der rechtlichen Ahndung seiner Skandal-Politik. Die “demokratische Rechtsprechung” hat sich in diesen Jahren zunehmend als vollkommen korrumpiert und Farce erwiesen. Ein Prozeß wie dieser hat mit Demokratie gar nichts, dafür aber mit der Tradition militärischer Schauprozesse sehr viel gemein. Aber auch das internationale Kreuzfeuer in das Argentiniens Unrechtspolitik seit einiger Zeit geraten ist, läßt Menems Equipe kalt. Beirus Szmulke, Präsident der Amerikanischen Juristenvereinigung und Beobachter beim La Tablada Prozeß meint: “Hier steht die Legalität auf dem Spiel. Der Bevölkerung soll klar gemacht werden, daß es sehr gefährlich ist, das System herauszufordern, denn dieses respektiert die Normen der Legalität in keinster Weise.”
Seit einigen Monaten mobilisieren Teile der Bevölkerung offensiver als zuvor gegen die Regierungspolitik. So häufen sich die Aufstände und Unruhen in den Provinzen. Die RentnerInnen campieren – ähnlich wie schon 1992 – seit Monaten vor dem Kongressgebäude. Fast so lange, wie sie auf die ausstehenden Rentenzahlungen warten. StudentInnen und SchülerInnen solidarisieren sich mit ihnen und organisieren Demonstrationen mit Zehntausenden. Der oppositorische Flügel der zerstrittenen Gewerkschaftsbewegung hat sich am 14. August gar zum zweiten Generalstreik gegen Menem durchgerungen.
In diesem Jahr hat sich allerdings nicht nur der soziale Sprengstoff weiter verschärft. Justiz und Politik sind dabei sich vollständig zu diskreditieren. Es häufen sich Aktionen, die fatal an die Zeit der Diktatur erinnern: Anfang des Jahres wurde der Journalist Cabezas ermordet. Seine Leiche wurde verbrannt in seinem Auto aufgefunden. Bis heute ist in diesem Mord genauso wenig wie in anderen eine ernsthafte Untersuchung eingeleitet worden, auch wenn klar ist, daß es sich um einen organisierten politischen Mord handelt. Mitte Juli wurde der Chef der links-alternativen Tageszeitung Página/12 Jorge Lanata auf offener Straße überfallen und bedroht. Página/12 ist Menems Crew seit Jahren einer der heftigsten Dornen im Auge. Die Zeitung hat sich vorwiegend der Enthüllung eines Skandals nach dem nächsten gewidmet und ließ sich auch durch vorhergehende Zensurbemühungen in diesem Bestreben nicht einschüchtern. Drei Jahre nach dem fatalen Bombenanschlag auf die jüdische Kulturvereinigung AMIA steht inoffiziell fest, daß die Suche nach den Tätern direkt in Militär- und Polizeikreise führt, nur ist kein offizieller Vertreter bereit, diesen Spuren ernsthaft nachzugehen.
Gleichzeitig treten die Bemühungen einer direkten Rehabilitierung der Militärs immer offener zu Tage. Jüngster Fall, die beabsichtigte Beförderung von Enrique Villanueva zum General. Villanueva war führendes Mitglied der Alianza Argentina Anticommunista (AAA), die als paramilitärische Gruppierung Tausende von Menschen folterte und ermordete und ab 1972 in Vorbereitung des Putsches von 1976 ihren Terror über das gesamte Land ausbreitete. Der angehende General leitete während der Diktatur das berüchtigte Konzentrationslager La Perla.
In diesem Klima der Einschüchterung der demokratischen Opposition durch organisierte Gruppen mit direkten Verbindungen bis hinein ins Militär stößt der Präsident eines Landes, in dem innerhalb eines Jahrzehnts 30.000 Menschen verschwanden, in ein fatales Horn: “Wir akzeptieren die Kritik, aber wir müssen die Demonstrationen derjenigen zurückweisen, die nicht verstanden haben, was Demokratie ist. Das ist keine Kritik. Das ist Müll. Wir sollten ein Müllentsorgungsunternehmen damit beauftragen, diese Art von Kritik einzusammeln und in irgendeinem Ort der Provinz zu vergraben”.

Vielfältige Bündnisse

Die Ausgangsbedingungen für feministische Bewegungen unterschieden sich allerdings von Land zu Land, denn schließlich ist der lateinamerikanische Kontinent ein Konglomerat von Rassen, Ethnien, Sprachen und Kulturen. Diese Vielfalt hat sehr ungleiche ökonomische, kulturelle und politische Entwicklungen verursacht. Sie hat außerdem die komplexen Probleme, die sich aus der spanischen Kolonisierung und später aus der Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten ergaben, noch verstärkt. Für die Entstehung der neuen Republiken nach den Unabhängigkeitskriegen hat auch das ideologische Gewicht der katholischen Kirche eine entscheidende Rolle gespielt. Denn die Kirche hat ihren Einfluß über einen langen Zeitraum hinweg aufrechterhalten können – in den Sphären politischer Macht ebenso wie in großen Bereichen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Eine solche Präsenz wird in bestimmten historischen Epochen immer verhindern können, daß sich Strömungen der sozialen Erneuerung und Säkularisierung durchsetzen.
Andererseits haben auch Klassen- und Rassenunterdrückung den Republiken, die nach dem Ende der spanischen Herrschaft gegründet wurden, ihren Stempel aufgedrückt. Bis heute hat dies die Überwindung der gesellschaftlichen Ungleichheiten verhindert und jedwede Form der Integration erschwert, besonders in den Ländern wo die indigene Bevölkerung seit Jahrhunderten marginalisiert wird.

Erste Feministinnen

Als Auslöserinnen der feministischen Bewegungen Lateinamerikas können einerseits fortschrittliche Ideen und die politische Durchsetzung kapitalistischer Modernisierung benannt werden, die um die Mitte des letzten Jahrhunderts besonders in Ländern mit europäischer Einwanderung oder in geographischer Nähe zu den Vereinigten Staaten auftauchten. Genauso bedeutsam ist aber auch die Bildung sozialer Bewegungen, die soziale und wirtschaftliche Verbesserungen einforderten. Sie sind hauptsächlich gewerkschaftlichen oder indigenistischen Ursprungs, mit Wurzeln im Anarchismus wie im Sozialismus.
Die Bewegungen, die sich für das Frauenwahlrecht, für gleichberechtigten Zugang zu Bildung und für die Verleihung gleicher bürgerlicher Rechte für Frauen einsetzen sind so parallel zu den sozialen Bewegungen der Arbeiter und Indígenas entstanden. Manchmal haben sie sich angesichts gemeinsamer Ziele auch miteinander verbündet. Der Kampf um den Acht-Stunden-Tag und Protestbewegungen von LandarbeiterInnen und ethnischen Gruppen zum Beispiel, wurden durch einen Teil der frühen Frauenbewegung unterstützt.
Forderungen nach weiblicher Emanzipation gab es bereits 1836, als eine Gruppe mexikanischer Frauen die Zeitschrift El Semanario de las Senoritas Mexicanas gründete, in der feministische Ideen diskutiert wurden. Die Argentinierin Juana Manso, die heute als Vorläuferfigur der feministischen Bewegung in ihrem Land gilt, veröffentlichte 1852 in Brasilien O’Jornal das Senhoras, eine Zeitschrift “für die gesellschaftliche Verbesserung und die Emanzipation der Frau”. Es war die erste Zeitschrift, die ausschließlich von Frauen geleitet und hergestellt wurde. Ebenfalls in Brasilien initiierte die Feministin Nisia Floresta (1809-1885) eine Reihe von Konferenzen zu Frauenfragen. Sie übersetzte auch Mary Wollstonecraft ins Portugiesische, während die Chilenin Martina Barros de Orrego ihrerseits 1874 John Stuart Mill “Über die Unterdrückung der Frauen” ins Spanische übersetzte.
Zwei Jahre später, also 1876, trug sich eine Gruppe chilenischer Frauen in das Wahlregister eines Bezirks von Santiago ein, und lenkten so die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Ungerechtigkeit ihrer Situation. Empört verhinderte die Mehrheit der männlichen Politiker die Teilnahme der Frauen an der Wahl, nicht ohne klarzustellen, daß die chilenische Verfassung, wenn sie von “Bürgern” spricht, “Männer” meint.

Die Themenpalette erweitert sich

Der Kampf um das Wahlrecht dauerte noch lange an und umfaßte viele Aktionen in zahlreichen Ländern des Kontinents. Bald schon ging es jedoch nicht mehr nur um das Wahlrecht. Im Jahr 1910 fand in Buenos Aires der Erste Internationale Frauenkongress (Congreso Femenino Internacional) statt, und zwischen 1914 und 1915 fand der Feministinnenkongress von Yucatan in Mexiko statt. Die Debatten über Themen wie Prostitution, Scheidung oder die Situation der Arbeiterinnen begannen auf diesen Kongressen.
In den 20er und 30er Jahren dieses Jahrhunderts dann wurden erste lateinamerikanische Frauenparteien gegründet, die ihre Aufgabe darin sahen, die Forderungen von Frauen in die Tagespolitik einzubringen. So etwa die Partido Feminista Nacional de Argentina und die Partido Civico Femenino de Chile, beide 1919 gegründet. 1921 wurde auf einem Frauenkongress in Havanna die Gründung der Partido Nacional Feminista vereinbart.
Sicherlich hatten diese Aktionen nicht die gleiche Wirkung wie die angelsächsischen Bewegungen für das Frauenwahlrecht. Oft handelte es sich nur um sehr kleine Gruppen oder Einzelpersonen, die ihren Kampf über den Journalismus oder in den Konferenzsälen von Kultur- und Wohltätigkeitseinrichtungen austrugen. Die lateinamerikanischen Mentorinnen und ihre Anhängerinnen waren intellektuelle Frauen der Mittelschicht, die meist einen bürgerlichen Beruf erlernt hatten. Der sufragismo, der Feminismus vor und nach dem Ersten Weltkrieg, vertrat also mehrheitlich eine politisch liberale Ideologie, die den sozioökonomischen status quo nicht in Frage stellte. Angesichts der frühnationalen und kolonialen Züge der lateinamerikanischen Gesellschaften muß der frühen Frauenbewegung aber zugutegehalten werden, daß sie in der Lage war, eine wichtige Gruppe von Frauen zu mobilisieren und daß er für seine Zeit sehr progressive Ziele vertreten hat.

“Proletarierinnen aller Länder…”

Während sich die von den Anarchisten und Sozialisten verbreiteten Ideen in Gewerkschafts- und Parteigründungen kristallisieren, betrat eine neue Spielart des Feminismus die Bühne, die ihre Ursache der wachsenden Eingliederung von Frauen in die Lohnarbeit hatte: Man könnte sie als proletarischen Feminismus bezeichnen. Insbesondere der Anarchismus unterstützte die Organisierung der einfachen Arbeiterinnen und auch die Formierung von Frauen mit Führungsqualitäten. Ihre Diskussionen kreisten um die Thematik von Klasse und Gender, wie wir heute sagen würden. Hervorzuheben wäre hier die Kolumbianerin Maria Cano, die als Arbeiteraktivistin ihre sozialistischen Überzeugungen mit ihrem Engagement für die Emanzipation der Frauen verband. Sie organisierte nicht nur Streiks in den Bergbau – und Erdölregionen sowie in den Bananenanbaugebieten, wo sie stets von einer kämpferischen Menge begleitet wurde; sondern attackierte auch gleichzeitig scharf ein Gesellschaftssystem, das sie aus Sicht der Frauen für höchst ungerecht hielt. Sie betonte zum Beispiel 1925, daß Frauen nicht an den Universitäten zugelassen wurden, “wo sie sich die Stellung, die ihnen zusteht, erarbeiten könnten. Nicht einmal das Recht zu denken, das Recht, ihre Meinung zu sagen, gesteht man den Frauen zu. Eingeschlossen wie in einem eisernen Ring müssen sie schweigen, sich wie Wesen ohne eigenes Bewußtsein unterwerfen, während auf ihrem Heim Unterdrückung und Unrecht lasten…”.
In manchen Fällen hat sich der Kampf der sufragistas direkt mit dem Klassenkampf verbunden. Beispielsweise beteiligen sich 1991 einige sufragistas aus der von der Schriftstellerin Zoila Aurora Caceres gegründeten Gruppe Feminismo Peruano an der Organisation einer Frauenversammlung, die die Forderung nach “Verbilligung der Lebenskosten/Grundnahrungsmittel(??)” erhob. Die Versammlung mündete in einem “Marsch gegen den Hunger”, der durch die Straßen von Lima zog. Später gründete Caceres, die als eine der wichtigsten Vorkämpferinnen für das Frauenwahlrecht in ihrem Land gilt, die erste Telefonistinnengewerkschaft.

Errungenschaften der ersten Feministinnen

Was hat der frühe Feminismus in Lateinamerika und der Karibik erreicht? Er hat weite Teile der öffentlichen Meinung auf die defizitären bürgerlichen und politischen Rechte der Frauen, auf ihre Situation der gesetzlich verankerten Unmündigkeit aufmerksam gemacht. Viele Veröffentlichungen, Reden, Bücher und Zeitschriften aus dieser Epoche zeugen von dieser Sensibilisierungsarbeit. Feministinnen wie Juana Manso in Argentinien, Paulina Luisi in Uruguay, Serafina Davalos in Paraguay, Adela Zamudio in Bolivien, Francisca Senhorina da Motta Diniz in Brasilien, Luisa Capetillo in Puerto Rico, Amanda Labarca in Chile, Maria Jesus Alvarado Rivera in Peru und viele andere setzten sich vehement für den Zugang zu Bildung für Frauen und die Änderung diskriminierender Gesetze ein. Natürlich beschränkte sich der Einsatz für diese Sache nicht allein auf die sufragistas, auch Sozialistinnen und Anarchistinnen organisierten Kerngruppen und Schauplätze für den Kampf um Gleichberechtigung. Hier trafen Feministinnen, Gewerkschafterinnen, Parteiaktivistinnen, Berufstätige und Intellektuelle aufeinander. Gemeinsam übten sie erfolgreich Druck aus und erreichten schließlich auch die Unterstützung einiger männlicher Politiker für bestimmte Gesetzesänderungen. Dieser langwierige Kampf wurde 1929 in Ecuador das als erste Land der region Frauen das aktive Wahlrecht zusprach zum ersten Mal von Erfolg gekrönt.
Später wurden dann auch andere Gesetze verändert, die Scheidung, den Zugang zu den Universitäten, das Recht auf Berufsausübung und auf bezahlte Beschäftigung regelten. Diese Errungenschaften hingen auch mit den Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges und dem beschleunigten Verstädterungsprozeß zusammen, der Lateinamerika vor allem seit den 50er und 60er Jahren bestimmte. Paradoxerweise war aber gerade im letzteren Zeitraum der organisierte Feminismus eher schwächer, was in erster Linie mit dem Aufstieg der politischen Parteien und der Gewerkschaftsbewegung zu tun hatte.
Die Zweite Welle des Feminismus in Lateinamerika und der Karibik fand ihren ersten Auftritt vor einem sehr spezifischen Hintergrund: dem antiimperialistischen Kampf der Linken. Die 60er Jahre waren von intensiven ideologischen Debatten der Linken, besonders innerhalb der orthodoxen stalinistischen Parteien bestimmt, insbesondere nach dem Triumph der kubanischen Revolution und den Guerrilla-Aufständen in Bolivien, Kolumbien, Peru und Venezuela. Die romantische Figur des Guerrilleros, die Stilisierung des bewaffneten Kampfes zum “Wahren Weg” in Richtung Sozialismus prägten den Alltag einer ganzen Generation. Tiefgreifende Veränderungen und Mobilisierung kennzeichneten die lateinamerikanischen Gesellschaften: LandarbeiterInnenaufstände in den Andenstaaten, Migration vom Land in die Metropolen, die dort wiederum in Basisbewegungen mündete. LandarbeiterInnen und SlumbewohnerInnen trugen die politische Radikalisierung bis in Gruppen der Mittelschicht, wie StudentInnen, Intellektuelle und FreiberuflerInnen. Auch die Revolution vom Mai ’68 wirkte als ein weiterer Faktor von außen besonders auf Sektoren der marxistischen Linken ein, in denen sich nach dem Scheitern der Guerrilla-Bewegungen eine gewisse Unzufriedenheit breitgemacht hatte.
In dieser Zeit kanalisierte sich das Engagement von Frauen für Veränderungen besonders in den linken Parteien. Figuren wie Haydee Santamaria (Kuba), Lolita Lebron (Puerto Rico), Domitila Chungara (Bolivien), aber auch Tania La Guerrillera, die Gefährtin Che Guevaras in Bolivien, waren die Modelle feministischen politischen Engagements.
Um 1970 aber tauchte das Bild des Feminismus als Importprodukt auf. Die Massenmedien zeigten das Bild nordamerikanischer Feministinnen, die scheinbar nichts anderes zu tun hatten, als sich ihrer BHs zu entledigen. Der Begriff “Feministin” wurde zum Synonym für eine verbitterte Frau, einer Art Anti-Mann, und der aktive Feminismus wurde zur Gefährdung des Klassenkampfes stilisiert. Schon Fidel Castro hatte den Feminismus für schädlich erklärt, da er einer gut durchdachten Strategie des internationalen Kapitalismus gehorche. So litten die ersten Versuche feministischer Aktionen unter den Angriffen und der Ablehnung der Linken – auch der in linken Parteien organisierten Frauen.

Institutionalisierung des Feminismus

Als 1975 die “Frauendekade” der Vereinten Nationen ausgerufen wurde, intensivierten sich die Diskussionen über die “Frauenfrage”, den Feminismus, die Beziehungen zwischen Feminismus und Klassenkampf und Formen der Selbstbestimmung. Neue Gruppen traten auf den Plan, die den ersten Zusammenschlüssen aus den Jahren zwischen 1970 und 1973 folgen. Die erste Konferenz des Internationalen Jahres der Frau, die von den Vereinten Nationen im Juni 1975 ausgerichtet wurde, geriet zum ersten großen Treffen der lateinamerikanischen und angelsächsischen Feministinnen. Gleichwohl – bedingt durch das Engagement der meisten Delegierten in sozialen und parteipolitischen Organisationen – räumte das Schlußdokument auch dem Klassenkampf und umfassenden gesellschaftlichen Veränderungen eine zentrale Bedeutung ein. Bei dieser Gelegenheit bezeichnete die bolivianische BergarbeiterInnenanführerin Domitila Chungara den Feminismus als bourgeois und realitätsfern. Die Zeit war noch nicht reif für einen Dialog zwischen Feministinnen und Aktivistinnen der Linken.
Andererseits durchlebte der lateinamerikanische Kontinent eine schwierige und sehr schmerzhafte Etappe: Neben die bereits institutionalisierten Diktaturen in Brasilien und Paraguay traten die Militärherrschaften in Argentinien, Chile und Uruguay. Mord, Folter, Verfolgung, die Aufhebung der bürgerlichen Freiheiten, Exil und – in dessen Folge – die Auflösung familiärer Bezüge waren die Folgen. Vor diesem Hintergrund reduzierte sich der Handlungsspielraum des Feminismus auf ein Minimum; nur in Ländern mit einem formaldemokratischen System konnten feministische Aktivitäten überhaupt überleben, etwa in Selbsthilfegruppen oder den ersten Frauen-NGOs (1978-1980). Dennoch war gerade das Exil auch Auslöser eines Bewußtwerdungsprozesses bei argentinischen, chilenischen, uruguayischen und brasilianischen Frauen. Viele erlebten die Realität des europäischen Feminismus und gründeten während des Exils eigene Gruppen. Die Rückkehr der ersten Exilierten in ihre Heimatländer fiel so mit dem Erscheinen unabhängiger feministischer Gruppen seit 1980 zusammen.
Außerdem begannen Frauen in der politischen Linken aufzubegehren, die bezüglich ihrer Parteizugehörigkeiten ein neues Selbstbewußtsein entwickelt hatten – schließlich hatte sich ihre Rolle zuvor auch innerhalb ihrer Organisationen auf die “häusliche Arbeit” beschränkt.
Die Abspaltung eines Sektors dieser Parteiaktivistinnen ist in etwa zeitgleich mit dem Auftreten eines “sozialistischen Feminismus”, einer Spielart besonders klassenbewußter Prägung, die sich erst im Laufe der Zeit starrer Schemata entledigte und Konzepte von Patriarchat und Sexualität in ihre Gesellschaftsanalyse einbezog. Manche Ausprägungen des lateinamerikanischen Feminismus lehnten sich stark an den Feminismus des Nordens an, insbesondere in ihrer Betonung von “Bewußtwerdungsprozessen”, dem radikalen Anspruch auf Separatismus bezüglich der Parteien und indem sie die Betonung einer spezifisch weiblichen Sexualität (und auch eine sehr schüchterne Kritik von Zwangsheterosexualität) in den Status politischer Fragen erhoben.

Vielfältige Feminismen und Bewegungen

In den letzten Jahren sieht sich der lateinamerikanische Feminismus neuen praktischen und konzeptuellen Herausforderungen gegenüber. Vor dem Hintergrund der aktuellen neoliberalen Umwälzungen in den Gesellschaften des Kontinents ist seine Situation schwieriger geworden. Die unterschiedlichen Formen des Feminismus wurden nun dazu gezwungen, umfassendere Analysen zu erarbeiten und – beispielsweise – ethnische Fragen zu thematisieren, die in der Region von entscheidender Bedeutung sind. War die Bewegung in ihren Anfängen von akademisch gebildeten Frauen der Mittelschicht und von emanzipierten Berufstätigen dominiert, so stellt sich das feministische Universum heute als ein Konglomerat aus Frauen und Strömungen unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Ansätzen dar. In dem oft als movimiento amplio de mujeres bezeichneten Gesamtzusammenhang finden sich so verschiedene Ausdrucksformen, wie zum Beispiel der feminismo popular (in Organisationen der Armenviertel, der Landarbeiterinnen oder Indígenas), die corriente autonoma (der “Feminismus per se”), der Feminismus in den linken Parteien, in Gewerkschaften und Berufsverbänden, der Feminismus im akademischen Bereich, der NGO-Feminismus und nicht zuletzt der “Regierungs-Feminismus” von Frauen, die in Regierungsinstitutionen beschäftigt sind.
In jedem dieser Bereiche können die Forderungen, die erhoben werden, Elemente aus der liberalen Strömung, Teile des Radikalfeminismus oder aber einer klassenbezogenen Ausrichtung enthalten. Bei bestimmten Gelegenheiten, etwa in Wahlkämpfen oder während internationaler Konferenzen, hat sich gezeigt, daß die zu den jeweiligen Anlässen gebildeten Plattformen eine strategische Kombination aus reformerischen und radikalen Forderungen wählen. Allianzen müssen eingegangen werden, die von vornherein die spezifischen Unterschiede wahrnehmen und respektieren. Es ist dementsprechend unmöglich, weiterhin von nur einem Feminismus zu sprechen, der in der Theorie einheitliche Forderungen vertritt und sich auch in der Praxis homogen darstellt. Neuere Beiträge des postmodernen Feminismus zielen in diese Richtung. Um mit den US-Amerikanerinnen Nancy Fraser und Linda J. Nicholson zu sprechen: Die feministische politische Praxis “wird immer mehr zu einer Angelegenheit von Allianzen. Es gibt keine Einheitlichkeit mehr in bezug auf ein Interesse oder eine Identität, die von allen geteilt werden”. Eine solche Praxis “funktioniert nur in der Form vielfältiger Bündnisse. Keines davon läßt sich auf einen Wesensgehalt festlegen. Vielleicht wäre es besser, immer nur im Plural, von einer Praxis der Feminismen zu sprechen…”. Auch für Lateinamerika ist das ein wichtiger Denkanstoß kurz vor dem Jahr 2000.

aus: Perspectivas 3/1996, Isis Internacional

Vom Recht, sich “das Kleid schmutzig zu machen”

Costa Rica war eines der ersten lateinamerikanischen Länder, das die politische Gleichstellung von Frauen mittels Quotenregelung gesetzlich verankerte. 1990 schon wurde ein Gesetz erlassen, das vorschreibt, die Positionen der Vizeminister, hohe politische Ämter und der Vorsitz staatlicher Institutionen in den ersten fünf Jahren zu mindestens 30 Prozent, in zehn Jahren zu 50 Prozent von Frauen eingenommen werden müssen. Es regelt außerdem, daß weder Männer noch Frauen mehr als 60 Prozent der Kandidatinnen stellen dürfen. Außerdem werden die einzelnen Parteien aufgefordert in ihren Parteistatuen “effektive Mechanismen” festzulegen, die eine Beteiligung von Frauen in der Parteiarbeit und bei der KanditatInnenwahl erleichtert.

Quotierung von KandidatInnen

Die in Lateinamerika am häufigsten praktizierte Form der Ouotierung beruht darauf, daß die Aufstellung der KandidatInnen politischer Parteien beeinflußt wird, eine Einflußnahme, die nur aufgrund der schon praktizierten Kontrolle der Parteien durch staatliche Organe stattfinden kann. Das bedeutet, daß die nationalen Wahlkommissionen die KandidatInnenlisten vor dem Beginn des Wahlkampfs anerkennen müssen, die Anerkennung verweigern, wenn nicht der im Quotengesetz vorgeschriebene Mindestanteil durch Frauen besetzt ist. Deshalb sind Quotenregelungen in Lateinamerika fast ausschließlich als Veränderungen der Wahlgesetze verabschiedet worden, nicht als Anti-Diskriminierungsgesetze per se.
Die weitreichendsten dieser Quotenregelungen sehen 30 Prozent der Kandidatinnenplätze auf den Listen der politischen Parteien für Frauen vor. Eine solche Regelung findet sich beispielsweise in Argentinien. Im November 1991 wurde hier das Gesetz Nr. 24.012 verabschiedet, welches vorschreibt, daß “die Liste der Kandidaten für ein öffentliches Amt mindestens 30 Prozent Frauen enthalten muß. Listen, die dieses Kriterium nicht erfüllen, dürfen nicht veröffentlicht werden.”
Auch in der Dominikanischen Republik gibt es seit diesem Jahr ein vergleichbares Gesetz, welches fordert, daß ein Minimum von 30 Prozent der KandidatInnen aller politischen Parteien und Gruppierungen für das Nationalparlament und die Provinzparlamente Frauen sein müssen. In Brasilien gibt es seit 1996 eine 20 Prozent Quote bei der KandidatInnenaufstellung, die von einem Zusammenschluß aller Parlamentarierinnen durchgesetzt wurde.
In Chile wurde dieses Jahr dem Parlament ein Gesetzesvorschlag über eine Frauenquote von 20 Prozent vorgestellt. Er wurde allerdings bisher noch nicht verabschiedet. In Mexiko dagegen ist schon im letzten Jahr ein Gesetzesvorschlag, der eine 30 Prozent Quote vorsah, an den Stimmen der Abgeordneten der Partido Revolucionario Institutional (PRI) gescheitert.

Freiwillige Quoten

Zusätzlich finden sich in anderen Ländern Frauenquoten als freiwillige Verpflichtungen einzelner Parteien. So garantieren zum Beispiel die Sozialistische Partei in Uruguay, die Partido Colorado in Paraguay und die Partido de la Revolución Democrática (PRD) in Mexiko eine Quote von 30 Prozent für Frauen. Die Partido por la Democracia (PPD) in Chile hat eine 20 Prozent Quote eingeführt. Auch die PT in Brasilien hat nach langen Auseinandersetzungen eine Quote von 30 Prozent für alle Parteiämter eingeführt. “Es war ziemlich schwer, diese Quote in der Partei einzuführen”, so Benedita da Silva, Gründungsmitglied der PT und seit 1994 im Brasilianischen Senat. “Einige Männer meinten, es gäbe gar keine Diskriminierung in der Partei und alle Frauen könnten hohe Parteiämter erlangen, wenn sie nur kompetent seien. Wir Frauen haben dagegengehalten: ‘Was denkt ihr eigentlich? Wir haben schon lange genug gezeigt, daß wir kompetent sind, erhalten aber nicht die entsprechende Anerkennung dafür’. Wir mußten sie also erst überzeugen, daß eine Quote notwendig ist, weil Diskriminierung der Grund ist, daß keine Frauen in hohen Positionen waren.”

Zusammenarbeit über politische Grenzen hinweg

Die Diskussionen um Quoten haben in allen Ländern dazu geführt, daß sich Frauen – teilweise auch Männer – aus verschiedenen politischen Gruppen oder unterschiedlichen Richtungen, aus Parteien und sozialen Bewegungen, in mehr oder weniger losen Koalitionen zugunsten der Quotenforderung zusammengeschlossen haben. Nur dort wo Zusammenschlüsse von Frauen mit massiver Unterstützung in der Öffentlichkeit eine Quotenforderung gestellt haben, waren diese auch erfolgreich, wie das argentinische Beispiel verdeutlicht.
Obwohl dort zwei unterschiedliche Versionen des Quotengesetzes zuerst von Abgeordneten der Unión Civica Radical, Senator Margarita Malharro, Norma Allegrone und Florentina Gomez Miranda im Senat und im Repräsentantenhaus vorgestellt wurden, erhielt es sofort Unterstützung von Vertreterinnen der anderen Parteien. Und obwohl die Stimmung vorher gegen das Quotengesetz gewesen war, wurde es überraschenderweise schon im September 1990 vom Senat verabschiedet. “An jenem Tag haben wir alle unsere Kollegen mobilisiert und um ihre Unterstützung gebeten”, so die Senatorin Malharro, “trotzdem hatten wir nicht viel Hoffnung und waren sehr überrascht, als die Abstimmung positiv verlief. Das war eher eine Frage des Glücks für uns.”
Ganz anders der Entscheidungsprozeß im Repräsentantenhaus: Als das Gesetz am 6. November 1991 debattiert werden sollte, war eine große Gruppe von Frauen als Beobachterinnen auf der Galerie, in den Fluren und auf den Straßen und Plätzen in der Nähe des Kongresses. Sie verliehen ihren Forderungen durch Rufe, Gesang und teilweise durch direkte verbale Angriffe auf die männlichen Abgeordneten während der Debatte Ausdruck. Frauen aus unterschiedlichen politischen und sozialen Gruppen und Vertreterinnen unterschiedlicher Ideologien waren sich einig in der Unterstützung des Gesetzes. Es war ihnen außerdem gelungen, die weiblichen Abgeordneten, die das Gesetz nicht unterstützten wenigstens dazu zu bringen, es nicht öffentlich zu kritisieren.

Nicht einmal Frauentoiletten im Parlament

Die Brasilianerin Benedita da Silva erzählt ähnliches über ihre Zeit als Abgeordnete: “Als ich zuerst gewählt wurde, waren nur 26 von 599 Abgeordneten Frauen. Das war so eine Männerwelt, daß es nicht einmal Frauentoiletten gab. Und die Männer behandelten uns mit einem unglaublichen Paternalismus! Sie wollten auch, daß Frauen nur über Frauenangelegenheiten sprechen und versuchten, uns aus allen anderen Diskussionen rauszuhalten. Ich als Vertreterin der PT interessierte mich aber für die Agrarreform und die Rechte der ArbeiterInnen. Um gegen ihre Vorurteile anzugehen, fing ich also an, über “Frauen und die Agrarreform” zu reden, oder über “Frauen und Rechte am Arbeitsplatz”, Frauen und alles mögliche, bis sie mich endlich in allen diesen Bereichen ernst genommen haben.”
Gegen diese männliche Übermacht sind die Frauen aller Parteien in Brasilien dann zusammengekommen und haben eine nationale Kampagne gestartet, um eine Frauenquote von 20 Prozent bei allen KandidatInnen zu verlangen. “Das war ein tolles Beispiel dafür, wie Frauen mit ganz unterschiedlichen politischen Überzeugungen, gemeinsam mit der Frauenbewegung aus allen Teilen des Landes, zusammenkommen können. Wir haben gemeinsam alle Parteien zwingen können, den Frauenanteil in ihren Reihen zu erhöhen.”

Allheilmittel gegen Machismo…

Dabei ist allen Beteiligten vollkommen klar, daß es sich bei der Quotenregelung keinesfalls um ein Allheilmittel gegen Machismo oder jede Art von Benachteiligung handelt. Eine Quote von 30 Prozent bei der Aufstellung der KandidatInnen erhöht ja nur in den seltensten Fällen den Frauenanteil wirklich auf 30 Prozent. Sie sagt an sich ja noch nichts darüber aus, ob Frauen auf aussichtsreichen Listenplätzen landen. Selbst wenn Frauen auf jedem dritten Listenplatz stehen, führt das vor allem bei kleineren Parteien, die nicht viele Sitze gewinnen, am Ende auch wieder zu einer weitaus geringeren Repräsentation von Frauen.
Letztlich haben Quoten bei der KandidatInnenaufstellung aber doch in allen Ländern dazu geführt, daß mehr Frauen in die Parlamente gelangen. In Argentinien beispielsweise halten Frauen seit den Wahlen 1994 ein Viertel der Sitze im Parlament, der höchste Frauenanteil in der Geschichte Argentiniens.
Schlechter sieht es dann allerdings bei der Verteilung von Plätzen im Kabinett aus, wo in keinem lateinamerikanischen Land eine Quotenregelung praktiziert wird. In Argentinien hat die erhöhte Anzahl von Parlamentarierinnen nicht dazu geführt, daß nun Frauen auch tatsächlich mehr Regierungsämter bekleiden und sich in den Rängen mit hoher politischer Verantwortung wiederfinden. Im Vergleich dazu finden sich mehr Frauen auf ministerieller Ebene in Ländern, die keine gesetzlich geregelte Quote bei der KandidatInnenaufstellung, haben so zum Beispiel in Chile und Venezuela. Und in den karibischen Staaten bekleiden Frauen bis zu 20 Prozent der Ämter auf Ministerialebene. Auch ohne daß die Listen der KandidatInnen quotiert sind, halten Frauen in der Karibik im Durchschnitt 18 – 20 Prozent der Sitze im Parlament.

… oder Gnade der Mächtigen?

Was eine Quote real für Frauen bringt, ist umstritten. Selbst in den Ländern, in denen Quotenregelungen bestehen, sind sich die KommentatorInnen uneins, ob die Quoten den Frauen denn nun auch tatsächliche politische Handlungsmöglichkeiten verschaffen oder ob Frauen – mit oder ohne Quote – nur nach oben gelangen, weil sie durch Partei-Patriarchen unterstützt werden oder anders von Männern abhängig sind. Diese “Quotenfrauen”, so wird erwartet, machen sowieso keine progressive Politik.
Die Bolivianerin Sonia Montaño beobachtet zum Beispiel, daß “die wenigen Frauen, die nach oben kommen, eine solch große Bringeschuld gegenüber den parteipolitisch Mächtigen haben, daß sie fast immer nur zustimmend die Hand heben, mit der Mehrheit der Partei stimmen, um Konflikte zu vermeiden oder plötzlich blind werden für Menschenrechtsverletzungen.” Sie fügt deshalb unmißverständlich hinzu: “Von solchen Frauen wollen wir nicht mal 15 Prozent.”

Verändern Quoten Politik?

Forderungen nach Quoten wurden in der Öffentlichkeit manchmal so wahrgenommen, als ob sie nur den Partikularinteressen der parteipolitisch aktiven Frauen entgegenkommen, aber keine Relevanz für Normalbürgerinnen haben. Das hat einerseits die Vehemenz von Quotenforderungen geschwächt. Andererseits aber hat es dazu geführt, daß die Politikerinnen nur in intensiven Diskussionen über Politikstile und -inhalte die Unterstützung für Quoten durch Frauen der sozialen Bewegungen gewinnen konnten und ihr Verhalten im Parlament stärker beobachtet wurde. “Es war schwierig, dieses neue Konzept von Gleichheit durchzusetzen”, so die argentinische Abgeordnete der Frente Grande, Cecilia Lipczik, “nicht nur gegenüber der männlichen Welt, sondern auch der weiblichen Welt gegenüber.”
Die Diskussionen um Quoten spiegelten so die Debatte der Frauenbewegungen weltweit wider: Gibt es allen Frauen gemeinsame Interessen, die nur von Frauen vertreten werden können, und praktizieren Frauen als solche einen anderen Politikstil?
Insgesamt blieb es jedenfalls bisher eine Wunschvorstellung, daß sich feministische Überzeugungen, soziales Engagement und progressive politische Inhalte und Stile in einer Machtposition vereinigen. “Wenn auch Frauen anders als Männer sein mögen, so muß doch auch klar sein, daß nicht alle Frauen automatisch auf die Bedürfnisse anderer Frauen achten oder auf Gender-Fragen im allgemeinen. Mehr Frauen in wichtigen Positionen bedeuten deshalb noch lange nicht, daß auch mehr Aufmerksamkeit auf die Diskriminierung von Frauen gelegt wird”, so die Journalistin Anna Fernandez Poncela. Deshalb wäre es trügerisch, es als Erfolg zu werten, daß in Ecuador die Vizepräsidentin inzwischen eine Frau ist. Alexandra Vela bezeichnet sich selbst weder als Feministin noch hat sie besonderes Interesse an der Verbesserung der Situation von Frauen geäußert, auch wenn sich das mittlerweile ein wenig zu ändern scheint.
Auch das Beispiel Violettá Chamorros, der ehemaligen Präsidentin Nicaraguas, zeigt, wie wenig sich positive Veränderungen des Geschlechterverhältnisses einstellen müssen, nur weil eine Frau politische Entscheidungsträgerin ist.
Insgesamt scheint sich aber die Meinung durchzusetzen, daß sich die “Qualität der Debatte” durch die Anwesenheit von Frauen verbessert habe und daß eine “Erweiterung des demokratischen Raums offensichtlich geworden sei, weil “das Thema Frauendiskriminierung” notwendigerweise behandelt werden mußte, auch von Politikern und Parteien, die sich sonst nicht damit beschäftigt hätten”, betont die brasilianische Feministin Graciela Rodriguez.
Quotenregelungen können also reale Möglichkeiten schaffen für mehr Pluralismus und für die Ausübung von Kritik und Kontrolle durch Frauen – im Parlament und von außen. Formal müssen Frauen dann jedoch überhaupt erst das Recht erhalten, genauso schlechte Politiker zu sein wie die Männer. Unter den “Quotenfrauen” werden dann hoffentlich auch so manche dabei sein, die andere politische Inhalte vielleicht sogar mit anderen Politikstilen verbinden und streitbare Alternativen innerhalb des politischen Systems formulieren.
Die nicaraguanische Feministin Sofía Montenegro drückt das so aus: “Der Kampf um die Rechte von Frauen muß aus dem Inneren des Systems heraus stattfinden. Sonst werden weiterhin andere Entscheidungen treffen ohne uns zu fragen. Irgendeine von uns muß jetzt hier ihr Kleid schmutzig machen, um für uns alle neue Wege zu eröffnen.” Die Erfahrung mit Frauenquoten und institutionalisierter Gleichstellungspolitik in anderen Ländern wie zum Beispiel hier in der Bundesrepublik hat allerdings gezeigt, daß Quotendiskussionen die Energien der Frauenbewegungen eher aufsaugen und zum Verlust feministischer politischer Kreativität zu führen scheinen. Die Frage ist also noch offen, ob die Machtumverteilung und Politikveränderung durch Quoten, in Lateinamerika wie anderswo, die Frauenbewegung zum zahnlosen Tiger macht.

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