NAFTA-Fieber

Die Integration des Muster­landes des Kontinents, das sich in den vergangenen Jahren durch wirtschaft­liche Stabilität und steigende Wachstums­raten hervorgetan hatte, soll nach dem Willen der Präsiden­ten der bisherigen Mitgliedsstaaten USA, Kanada und Me­xi­ko die Süderweiterung der Frei­handels­zone einleiten, die bis zum Jahr 2005 den ge­samten Kontinent um­fas­sen soll. Die Ver­hand­lungen mit Chile sollen Mitte 1996 abgeschlossen sein.
APEC und NAFTA und MERCOSUR und …
Die chilenische Ge­schäftswelt ist von den Signalen aus Miami vom Anfang De­zember ebenso hellauf begeistert wie die Regierung. Präsident Eduardo Frei sprach von “einem historischen und entscheiden­den Augen­blick”, der allerdings auch ein großes Risiko mit sich bringe. “Wir ma­chen einen enormen Schritt vorwärts und brauchen dazu die Unterstützung des gan­zen Landes.” Nur gut drei Wochen zuvor war der Beitritt zur pazifischen Handels­gemeinschaft APEC unter Dach und Fach gebracht worden, wodurch sich Chile eine Ver­besserung der Wirt­schaftsbeziehungen zu Japan und den eigentlichen “Tigern” in Südostasien erhofft. Um eventuellen Zweifeln der Nachbarländer vorzubeugen, beeilte sich Außenminister José Miguel Insulza zu versichern, “die Verhandlungen mit der NAFTA stehen der Annäherung an den MERCOSUR nicht im Wege”. Das Interesse an der süd­amerikanischen Wirt­schafts­union (Argenti­nien, Brasilien, Pa­raguay, Uruguay) wurde nicht zuletzt durch die Teilnahme hochrangiger chile­nischer Regierungs­vertreter am konstituie­renden MERCOSUR-Treffen im brasilia­nischen Ouro Preto bekräftigt.
Nun stehen auch die Türen zu den tra­ditionellen Partnern im Norden weiter of­fen denn je. Bereits in der Vergangenheit wickelte Chile immerhin 18 Prozent der Exporte und 23 Prozent der Importe allein mit den USA ab.
Erwartet werden jetzt ein deutlicher Anstieg der Auslandsinvestitionen in Chile – 50 Prozent der bisherigen Investi­tionen stammen bereits aus den drei NAFTA-Staaten – sowie des Warenaus­tausches mit den Partnerstaaten im Nor­den. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen der drei NAFTA-Staaten werden bereits in den ersten Monaten nach dem Beitritt Steigerungen von 20 bzw. 25 Prozent er­wartet. Es erscheint aber sehr fragwürdig, ob sich die in den USA beobachtete posi­tive Auswirkung der NAFTA auf den Ar­beitsmarkt, wo seit Anfang dieses Jahres 130.000 Stellen neu geschaffen wurden, auf Chile übertragen läßt. Der chilenische Gewerkschaftsverband CUT befürchtet für Chile die gegenteilige Wirkung. Ihr Vizepräsident Arturo Martíriez geht davon aus, daß in den ersten beiden Jahren nach dem Beitritt mehr als 10.000 Arbeitsplätze verloren gehen, vergleichbar mit der sich in Mexiko abzeichnenden Entwicklung.
Nord-Süd-Gefälle außerhalb wie innerhalb Chiles
Ein entscheidender Grund für die ge­gen­läufigen Tendenzen in den bisherigen drei und bald vier NAFTA-Ländern liegt in den grundverschiedenen Ausgangsbe­dingungen. Das jahrhundertalte Nord-Süd-Gefäl­le ist auch durch das Wirtschafts­wachstum der vergangenen Jahre nicht überwunden. Ein Vergleich des Pro-Kopf-Einkommens ist überaus aufschlußreich: In den USA und in Kanada liegt es bei 20.000, in Mexiko dagegen nur bei 2.700 US-Dollar. Mit 3.300 US-Dollar pro Ein­wohnerIn wird auch Chile nicht über die Rolle eines Junior-Partners hinauskom­men.
Das spüren auch diejenigen, die wahr­scheinlich am heftig­sten vom NAFTA-Beitritt betroffen sein werden: Viele chi­lenische Landwirte wittern Kon­kurrenz aus dem hoch­technisierten Nor­den und dem Billiglohnland Mexiko. Ge­rade die mittleren und kleinen Produzen­t­Innen im Süden des Landes sehen ihre in­ländischen Absatz­märkte in Gefahr. Während in Zen­tral- und in Nordchile in den vergan­genen Jahren gerade in der Agrarwirt­schaft di­versifiziert wurde, ist das an ih­nen im Sü­den weitgehend vorbei­gegangen. Jetzt schickt Chile sich erneut an, zum Muster­schüler der Ent­wick­lungs­strategInnen zu wer­den, indem es – ob­wohl auf der süd­lichen Halbkugel gelegen – das Nord-Süd-Gefälle kopiert. Nach ei­ner Untersuchung der Agrarwis­sen­schaft­lerin Eugenia Muschnik von der Katho­lischen Uni­ver­si­tät in Santiago wer­den durch den NAFTA-Beitritt knapp 2.800 Arbeits­plätze in der Landwirtschaft ent­stehen. Neue Be­schäftigungs­mög­lich­kei­ten wird es aber ausschließlich in den nörd­lichen Lan­desteilen in der Landwirt­schaft (Wein und andere Obstsorten, Ta­bak, Spargel, Ge­flügel) und in der eben­falls dort ansässigen Agroindustrie (Fruchtsaft, Obst­kon­serven, Rosinen, To­ma­tenmark) geben. In der über­wiegend im mittleren Süden angesiedelten tra­ditio­nellen Land­wirt­schaft gehen gleich­zeitig 7.700 Ar­beitsplätze ver­loren.
Frei zeigt sich undiplomatisch
Widerstand kommt deshalb vor allem von den Land­wirtInnen im herkömmlich fruchtbaren Teil des Landes, das süd­lich der Hauptstadt Santiago beginnt und sich über mehr als 800 Kilometer erstreckt. En­de Dezember machten sie ihre Streik­an­drohung wahr und blockierten nach dem Vorbild der französischen Bau­ern und Bäuerinnen für mehrere Stunden die Pa­namericana im Süden des Landes.
Die Frei-Regierung, die sich durch ein eher technokratisches Manage­ment der Wirt­schafts­politik auszeichnet, hat bisher wenig diploma­tisches Geschick im Um­gang mit denen gezeigt, die Widerstand ge­gen ihre ausschließlich markt­orientierte Politik leisten. Der in allen Medien beju­belte NAFTA-Beitritt vertiefte den Gra­ben zwischen Regierung und ArbeiterIn­nen weiter.
Als wesentlichen Faktor der negativen Aus­wirkungen auf die ArbeitnehmerInnen bekämpft die CUT in erster Linie das chi­lenische Arbeitsgesetz. Fünf Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur sind nämlich weiter­hin wichtige Passagen des pinoche­tistischen Plan Laboral in Kraft, der unter anderem kaum Kündigungsschutz bietet und keine Tarif­verhand­lungen auf überbetrieb­licher Ebene zuläßt.
Der sozialistisch-sozialdemokratische Arbeits­minister Jorge Arrate versuchte, dem seit Wochen schwelenden Kon­flikt die Schärfe zu nehmen, indem er noch für Ja­nuar die Vorlage von Gesetzes­ent­würfen zur Änderung des Ar­beits­rechts ver­sprach. Ob er damit die chilenischen ArbeitnehmerInnen im Hin­blick auf den NAFTA-Beitritt beruhigen kann, ist eher zweifel­haft. Die Erinnerun­gen an die letzte große Weltmarkt­öffnung Anfang der 80er Jahre unter der Pinochet-Diktatur sind für Manuel Bustos und viele seiner Kolleg­Innen noch allzu gut in Erin­nerung, als daß die Gewerkschaftsbewegung nun den NAFTA-Beitritt begrüßen könnte. Damals brachen ganze Industrie­zweige zu­sammen, die Arbeitslosigkeit schnellte auf über 30 Prozent.
Deshalb fordern die Gewerk­schaften soziale und arbeits­recht­liche Bestimmun­gen als integrativen Bestand­teil des NAFTA-Vertrages, ähn­lich wie im EG-Vertrag verankert (siehe neben­stehendes Interview). Derartiges fehlt nämlich bis­her, und weder die chile­nischen Unter­nehmerInnen noch die US-Administration haben Interesse daran, sich diesbezüglich festlegen zu lassen.

Die Linke im Aufwind

Obwohl es Kritik an der merkwürdigen Informationspolitik des Innenministeriums gab, geht kaum jemand davon aus, daß es bei den Wahlen in Uruguay zu irgendwelchen Manipulationen oder Wahlfälschungen gekommen sein könnte. Zweifel haben bislang lediglich die MLN Tupamaros angemeldet. Sie fordern eine genaue Überwachung und eine vollständige Transparenz bei der erneuten Überprüfung der Stimmzettel durch den Wahlgerichtshof. Sicher aber ist: Der Colorado Politiker Dr. Julio Maria Sanguinetti wird neuer Präsident Uruguays. Am 1. März 1995 wird er seine Amtsgeschäfte aufnehmen. Es ist seine zweite Amtsperiode, denn Sanguinetti war bereits von 1985 bis 1989 Präsident, direkt nach dem Ende der Militärdiktatur in Uruguay.
Die eigentliche Gewinnerin der Wahl ist jedoch die Linke. Zehn Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur ist es ihr bei diesen Wahlen endgültig gelungen das traditionelle Zweiparteiensystem in Uruguay zu knacken. Als einzige politische Kraft konnte sie landesweit kräftige Stimmengewinne verbuchen. In Montevideo, dort lebt fast die Hälfte der etwa 3,2 Millionen UruguayerInnnen, wird sie mit dem Architekt und Stadtplaner Mario Arana erneut den Bürgermeister stellen. Arana kann zwar auf eine beruhigende Mehrheit im Stadtparlament bauen, verfügt aber nur über einen äußerst mageren Haushalt.
Machtverschiebungen in der Frente Amplio
Vor allem im traditionell eher konservativen Landesinneren hat das Wahlbündnis Encuentro Progresista, bestehend aus Frente Amplio, Christdemokraten und einigen Dissidenten der bislang regierenden Blancos, beachtlich dazugewonnen. Der Stimmenanteil verdoppelte sich im Vergleich zu den Wahlen von 1989. Die stärkste und die bestimmende Kraft im Encuentro ist die Frente Amplio – ein Listenbündnis verschiedenster Strömungen in der Linken Uruguays.
Innerhalb der Frente Amplio hat die Gruppe Asamblea Uruguay/Lista 2121 um den Ökonomen Danilo Astori einen sensationellen Erfolg verbuchen können. 40 Prozent der WählerInnen des Encuentros entschieden sich für die Liste von Astori, der damit zum neuen starken Mann innerhalb der Frente Amplio geworden ist. Auf den Plätzen folgen die Sozialistische Partei, das eher sozialdemokratische Vertiente Artiguista, die Rest-KP Uruguays und das Movimiento de Partizipación Popular (MPP) mit den MLN-Tupamaros.
Die Tupas werden zum ersten Mal in der Geschichte Uruguays mit eigenen Abgeordneten im Parlament vertreten sein. Bisher hatten sie immer unabhängige Kandidaten innerhalb des MPP unterstützt. Pepe Mujica, Gründungsmitglied der Tupamaros und während der Diktatur viele Jahre unter den schlimmsten Bedingungen als Geisel der Militärs eingekerkert, zieht für die MLN ins Abgeordnetenhaus ein. Jorge Zabalza, der ebenfalls als Geisel während der Diktatur im Gefängnis saß, sitzt als erster Tupamaro im Stadtparlament von Montevideo.
ZTFrente zwischen Machtanspruch und Basistreue
Innerhalb der Frente Amplio haben jetzt eindeutig die Moderaten um Danilo Astori die Nase vorn. Sein Flügel stellt alleine 6 Senatoren und 15 Abgeordnete im neuen Parlament. Das MPP mit den MLN-Tupamaros hat nur leicht dazugewonnen. Schwer verloren haben dagegen die orthodoxen Reste der Kommunistischen Partei.
Die interne Stimmenverteilung hat auch Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Vollversammlung der Frente Amplio und auf die Debatten über den zukünftige Kurs der Uruguayischen Linken. Die Hälfte der Sitze wird nach errungenen Prozentpunkten bei den Wahlen vergeben, die zweite Hälfte wird von den Frente Basiskomitees gewählt. Der interne Streit scheint vorprogramiert. Schon einen Tag nach der Wahl kam die erste Kostprobe, als Astori im Fernsehen verkündete, daß er sich durchaus eine Zusammenarbeit mit der Regierung Sanguinetti, zum Beispiel in den Bereichen Wirtschafts- und Bildungspolitik vorstellen könne. Viele BasisaktivistInnen der Frente sehen das etwas anders und wünschen sich eher eine starke Opposition. Nach dem ersten Frust über den heiß erträumten und knapp verfehlten Wahlsieg konnten sie dem Ergebnis aber auch durchaus positive Seiten abgewinnen: “Eine linke Regierung unter einem Präsidenten Tabare Vazquez hätte es sehr schwer gehabt gegen eine Mehrheit der traditionellen Parteien im Parlament zu regieren… “, kommentierten sie das Wahlergebnis und fügten hinzu, “es ist großartig, dass die Frente so viele Stimmen gewonnen hat, aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht alle 5 Jahre nur auf Wahlergebnisse schielen und darüber vergessen, was wir eigentlich sein wollen: eine politische und soziale Basisbewegung.”
Innerhalb des Wahlbündnisses Encuentro Progresista hat bereits der Streit darüber begonnen, wer in Zukunft die erste Geige spielt. Ob Danilo Astori als großer Wahlgewinner oder der knapp geschlagene Präsidentschaftskandidat und ehemalige Bürgermeister von Montevideo Tabare Vazquez – mit Sicherheit kommt er aus der Frente Amplio. Vazquez wollte sich im Falle einer Wahlniederlage eigentlich vornehmlich seinem Beruf als Arzt widmen. Für einen Sitz im Parlament hatte er gar nicht erst kandidiert.
Vorläufiger Punktsieger im Richtungsstreit ist Vazquez, denn das Leitungsgremium der Frente Amplio (Organo de Conducción Politica) hat am 7. Dezember entschieden, ihn als Verhandlungsführer der Frente Amplio und als Repräsentanten des Encuentros für die Gespräche mit der neuen Regierung zu benennen. Etwas beleidigt reagierten darum auch die Vertreter der Asamblea Uruguay auf diese Personalentscheidung. Sie teilten mit, sie würden die Beschlüsse zwar mittragen, gleichzeitig kritisierten sie aber, daß Vazquez erheblichen Druck ausgeübt habe und seine weitere Mitarbeit vom Fortbestand des Encuentro Progresista abhängig gemacht habe. Für die anstehende Wahl eines neuen Präsidenten der Frente käme Tabare Vazquez ohnehin nicht in Frage. Ihr Kandidat der Wahl sei Danilo Astori.
ZTFlügel in der Frente geschwächt
Der linke Flügel innerhalb der Frente Amplio setzt jetzt vor allem auf die Delegierten der Basiskomitees in der neuen Vollversammlung. Der MPP Senator Helios Sarthou erklärte in einem Interview, der linke Flügel innerhalb der Frente werde es in Zunkunft schwer haben. Er kritisierte gleichzeitig den zukünftigen Präsidenten Sanguinetti, der sich gerne einige moderate PolitikerInnen vom Encuentro als Gesprächsspartner über die Bedingungen für eine punktuelle Zusammenarbeit mit der Regierung ausgesucht hätte . Sarthou wies solch patriarchale Anbiederungen zurück: “Die Verhandlungspartner aus der Linken bestimmen die Linken selbst”.
ZTDie Blancos im Tal der Tränen
Der ganz große Verlierer der Wahl sind die Blancos des noch amtierenden Präsidenten Dr. Luis Alberto Lacalle. Erdrutschartig verloren sie fast 10 Prozent ihrer Stimmen. In fünf Landkreisen müssen den Regierungssessel an einen Colorado Politiker abtreten.
Innerhalb der Blancos hat nun ein Richtungsstreit begonnen, der sich zu einer Frage zuspitzt: Wer wird in Zukunft an der Spitze der Partei stehen. Die Strömung, die dem Noch-Präsidenten Lacalle nahesteht, hat bei den Wahlen weniger Stimmen errungen als die, an deren Spitze dessen Widersacher Volonte steht. Volonte könnte nun mit seiner gestärkten Hausmacht die Führungsposition übernehmen
ZTWahlsieger Sanguinetti auf der Suche nach Koalitionen
Wahlsieger Sanguinetti steckt bereits in Beratungen, um sich eine tragfähige Mehrheit im Parlament aufzubauen. Er will sowohl mit den Blancos als auch mit dem Encuentro Progresista verhandeln. Denn seine Partei, die Colorados, verfügt im neu gewählten Parlament nicht einnal über eine relative Mehrheit und ist daher auf Bündnispartner und Absprachen angewiesen. Sanguinetti liess aber keinen Zweifel aufkommen, daß für ihn lediglich der moderate Flügel des Encuentro Progresista ein Gesprächspartner sein wird. Die Abgrenzungen haben bereits begonnen: Colorado Politiker beschuldigten den linken Flügel der Frente Amplio, für einige Glasschäden an Parteilokalen und Handgreiflichkeiten gegen Colorado Anhänger in der Wahlnacht verantwortlich zu sein. Man darf gespannt sein, welche Positionen die Frente Amplio in den Gesprächen mit Sanguinetti und seiner Regierungsmannschaft einnimmt.
Sanguinetti hofft auf einen reibungslosen Wechsel. Im Mittelpunkt seines Regierungsprogramms stehen die Förderung der nationalen Wirtschaft, die Bekämpfung der Inflation und die sozial leicht abgefederte Integration Uruguays in den gemeinsamen südamerikanischen Markt MERCOSUR. Für drohende Konflikte zwischen ArbeitnehmerInnen und -arbeitgeberInnen schwebt ihm Sozialpakt vor. Sanguinetti verfügt über beste Beziehungen zum Internationalen Währungsfond und hat bereits in seiner ersten Amtszeit (1985-89) ein Strukturanpassungsprogramm mit der Weltbank unterzeichnet. Er rühmt sich, in seiner letzten Amtszeit keinen einzigen Arbeitskonflikt verloren zu haben. Auf die uruguayischen Gewerkschaften kommen schwere Zeiten zu.

“Jetzt haben die Leute das Sagen”

Der Colorado-Spitzenpolitiker und Ex-Präsident (1985-1990) Sanguinetti be­nutzte einen großen Teil seiner Redezeit dazu, das Schreckgespenst einer linken Regierung, womöglich mit Tupamaros (!) im Parlament, an die Wand zu malen, um vor allem noch am rechten Rand Stimmen zu gewinnen.
Montevideo mit Werbung überschwemmt:
Auf geht’s an die Arbeit
Kaum war die “Debatte des Jahres” been­det, da gab es natürlich bereits die neue­sten Wahlprognosen. Die regierende Nationale Partei (Blancos) habe praktisch gleigezo­gen mit den Colorados, und das Encuentro Progresista liege dicht dahinter und habe in Montevideo noch um zwei Prozentpunkte zugelegt. Solche Fernseh­duelle sind fast schon die Highlights im sonst eher öden uruguayischen Wahl­kampf, und das Publi­kum ist dankbar, daß wenigstens bei die­sen Gelegenheiten ein wenig Polemik und politischer Streit aus­getragen werden. An­sonsten werden die etwa zwei Millionen WählerInnen – in Uruguay besteht Wahl­pflicht – weniger mit Inhalten, sondern hauptsächlich mit Hochglanzprospekten, Fähnchen und Handzetteln “erschlagen”. Im eher vor­nehmen Stadtteil Pocitos ha­ben sich die Hunde- und Eigenheimbesit­zerInnen schon über die Massen von Wahlkampf­zettelchen auf der Straße be­schwert, die sie am Morgen durchwaten müssen, wenn der Vierbeiner Gassi ge­führt wird. Uru­guays Fernseh­zuschauerInnen werden hart strapaziert. Schon außerhalb der Wahl­kampfzeiten präsentieren die drei privaten und der ein­zige staatliche Fernsehkanal bis zu 50 Prozent Werbung im Programm. In der jetzigen heißen Wahlkampfphase dauert ein normaler Spielfilm mindestens drei Stunden, weil zwischen Waschmittel- und Deostiftreklame die Wahlspots pla­ziert sind. Fernsehwerbung ist teuer, und das Verhältnis zwischen TV-Spots der kon­servativen Parteien und denen der Linken dürfte etwa bei 5:1 liegen. Kom­merzielle Werbeargenturen haben die Parteien be­raten, und dabei sind dann so sinnige Sprüche wie ” Ein Uruguay für alle!” oder “Auf geht’s an die Arbeit…!” herausge­kommen. Auch das Mitte-Links-Bündnis Encuentro Progresista war nicht viel krea­tiver und wirbt mit dem Slogan: “Jetzt ha­ben die Leute das Sagen” Über die Bild­schirme flimmern die Präsidentschafts­kandidaten, die ihrer ju­belnden Fan-Gemeinde zuwinken, und auf Montevi­deos Einkaufsstraße, dem 18 de Julio, dröhnen die Wahlkampfslogans und die Erkennungsmelodie aus den Lautspre­chern der Parteibusse. Wahlkampf made in USA, könnte man meinen, und auch AktivistInnen der Linken beklagen durch­aus selbstkritisch, daß ausgeklügelte PR-Kampagnen diesen Wahlkampf zuneh­mend bestimmen und weniger die viel be­schworene militancia política, das politi­sche Engagement der aktiven Basis.
Wahlkampf made in USA
Trotzdem dürfte es am Wahlabend äußerst spannend werden, denn nach den jüngsten Umfragen liegen die traditionellen Par­teien Colotados und Blancos fast gleich­auf mit jeweils 27 Prozent der Stimmen, dicht gefolgt vom Mitte-Links-Wahlbünd­nis Encuentro Progesista, das landesweit bisher bei rund 22 Prozent liegt. Etwa 13 Prozent der WählerInnen sind laut Umfra­gen noch unentschlossen und warten ab, was in den letzten drei Wochen noch an Skandalen und Skankälchen an die Öf­fentlichkeit kommt, und wie sich die Prä­sidentschaftskandidaten, selbstverständ­lich alles Männer, bei den Fensehduellen schlagen.
Montevideo Hochburg der Linken
Als sicher gilt heute schon, daß die Linke erneut die Wahlen in Uruguays Hauptstadt Montevideo gewinnen wird. Dort leben immerhin fast 50 Prozent der insgesamt etwa drei Millionen EinwohnerInnen des kleinsten südamerikanischen Landes. Die uruguayische Großstadtlinke wird in der Metropole mit einem bequemen Vor­sprung erneut den Bürgermeister stellen. Dies wird ab 1. März 1995 der Stadtplaner Mariano Arana sein, kein Politprofi oder Technokrat, sondern eher der sympathi­sche Intellektuelle von der Universität, mit Sinn für Bürgerbeteiligung und behutsame Stadterneuerung. Ihn erwartet keine einfa­che Aufgabe, vor allem wenn er wie sein Amtsvorgänger mit sehr wenig Finanz­mitteln auskommen muß und gegen eine konservative nationale Regierung regieren müßte. Die nationalen Wahlen, und das wissen auch die KandidatInnen der Lin­ken, werden in Uruguay allerdings im Landesinneren entschieden. Da gilt es, die Domäne der konservativen Parteien (Partido Nacional = Blancos und Partido Colorado) zu brechen, um eventuell die Sensation zu schaffen und Tabaré Vázquez, den ersten sozialistischen Bür­germeister von Montevideo, zum neuen Staatspräsidenten zu wählen.
Das Zweiparteiensystem ist geknackt
Vor fünf Jahren war es noch die große Sensation, als das Linksbündnis Frente Amplio zum ersten Mal in der Geschichte des Landes die Bürgermeisterwahlen in Montevideo gewann. Im Jahre 1994, ge­nau 10 Jahre nach Beendigung der Mili­tärdiktatur in Uruguay, hat die Linke das traditionelle Zweiparteiensystem endgül­tig geknackt. Sie hat durchaus Chancen, auch landesweit bei den Wahlen für eine Überraschung zu sorgen. “Wir haben noch vier Wochen Zeit, und es fehlen uns nur noch etwa fünf Prozentpunkte zum Wahl­sieg”, meinte Tabaré Vázquez auf der Ab­schlußkundgebung eines Sternmar­sches des Encuentro Progresista in Montevideo, an dem mehr als 40.000 Menschen teil­nahmen. Vázquez weiß, wovon er spricht, und er weiß auch, daß die Frente Amplio tausende von Aktivi­stInnen mobilisieren kann, die in Stadteil­gruppen organisiert sind und in den bevor­stehenden Tür-zu-Tür-Kampagnen für die Wahl des Encuentro Progresista werben werden – ein Vorteil, den die traditionellen Parteien trotz dickerer Finanzdecke für die teure TV-Werbung und die bezahlten Flugblatt­verteiler nicht so einfach wett­machen können. Trotzdem ist man auch in Uru­guay vorsichtiger geworden, denn auch beim großen Nachbarn Brasilien hatten ja die Meinungsumfragen bis we­nige Mo­nate vor der Wahl dem linken Kandidaten Lula den Wahlsieg vorherge­sagt.
In die Breite und ab durch die Mitte?
Die Linke in Uruguay setzt auf ein breites Bündnis, und Tabaré Vázquez hatte seine Präsidentschaftkandidatur davon abhängig gemacht, daß die Frente Amplio, in der über 20 linke und linksliberale Parteien und Organisationen zusammengefaßt sind, einem breiten Wahlbündnis unter anderem zusammen mit ChristdemokratInnen und DissidentInnen aus der regierenden Blanco-Partei zustimmt. Über das Zustan­dekommen des breiten Bündnisses Encuentro Progresista und vor allem über programmatische Fragen einer gemeinsa­men Wahlplattform hatte es natürlich zu­vor beim Kongreß der Frente Amplio im Juli dieses Jahres heftige Auseinanderset­zungen gegeben. Vor allem der linke Flü­gel der Frente, MLN Tupamaros, UNIR und Teile der ehemaligen KP Uruguays kritisierten die moderaten Töne etwa bei den Themen Bedienung der Auslands­schulden, Verstaatlichung der Banken und Uruguays Rolle im zukünftigen gemein­samen südamerikanischen Markt Mer­cosur. Auf dem Kongreß im Juli dieses Jahres fand sich keine Zweidrittel-Mehr­heit, um das Programm der Frente Amplio aus den siebziger Jahren mit seinem anti-oligarchischen und anti-imperialistischen Grundtenor zu verändern. Trotzdem gab der Kongreß nach langen Debatten grü­nes Licht für die Verhandlungen zum Wahl­bündnis Encuentro Progresista, ohne je­doch genaue Vorgaben für ein Regie­rungsprogramm zu machen. Das Bündnis ist geschmiedet, und das gemeinsame Re­gierungsprogramm ist vielen in der Frente Anplia zu light. Trotz massiver Kritik vom linken Flügel und Drohungen der Füh­rungsspitze der Frente Amplio, “die linken Querulanten sollen doch aus­treten, falls ihnen die ganze Richtung nicht mehr paßt”, hat das Bündnis bisher gehalten. Die Einschätzungen gehen aller­dings ziemlich weit auseinander, was im Falle eines Wahlsieges überhaupt an Ver­änderungen möglich oder erwünscht ist. Alle Beteiligten konzentrieren sich heute auf die gemeinsame Wahlkampagne, auch weil ihnen klar ist, daß ihr zukünftiges Gewicht innerhalb der Frente nicht zuletzt davon abhängt, wieviel Prozentpunkte ihre Gruppierung zum Gesamtergebnis für die Frente Amplio bzw. für deren Wahl­bündnis Encuentro Progresista beiträgt.
Spannungen innerhalb der Frente
Innerhalb der Frente gibt es auch seit Mo­naten erbitterte Diskussionen, welches Gewicht die einzelnen Parteien und Orga­nisationen haben sollen. Geht es nach dem Willen der mitgliedsstärksten Organisa­tionen wie z.B. der Sozialistischen Partei (Tabaré Vázquez) oder der Asamblea Uruguay mit Danilo Astori an der Spitze, so sollen die Parteien in einem zukünfti­gen Leitungsgremium je nach Mitglieds­stärke und errungenen Wahlprozenten Stimmenanteile bekommen.
Vor allem der linke Flügel innerhalb der Frente, das MPP (Movimiento de Partizi­pación Popular), das sind unter anderem die MLN-Tupamaros und einige andere kleinere Organisationen, aber auch UNIR mit dem Movimiento 26 de Marzo und die Rest-KP (eher orthodoxer Flügel), wehren sich ge­gen diese Änderung und befür­worten eine weitgehend gleichberechtigte Repräsen­tanz aller Organisationen und Parteien in­nerhalb der Frente Amplio. Das Thema ist vorläufig zurückgestellt bis nach den Wahlen, wird aber mit Sicher­heit noch ei­nige interne Debatten auslö­sen, und das wissen natürlich auch die politischen Gegner aus der Colorado- und Blanco-Partei. Die traditionellen Parteien schlafen nicht, und sie geben sich redlich Mühe, das Schreckgespenst einer linken Regie­rung an die Wand zu malen. Beim großen Fernsehduell führte der Colorado-Politiker Sanguinetti scharfe Angriffe gegen den linken Flügel der Frente Amplio vor allem gegen die Tupamaros. Vázquez konterte mit Daten und Fakten über die verfehlte Regierungspolitik unter Sanguinettis Prä­sidentschaft und deren Fortsetzung unter der amtierenden Regie­rung Lacallo (Nationale Partei/Blancos). Er betonte, daß die neoliberale Wirt­schaftspolitik der verschiedenen konser­vativen Regierungen für die Mehrheit der uruguayischen Be­völkerung zum Alp­traum geworden sei. “Über 70.000 Indu­striearbeitsplätze sind in den letzten sie­ben Jahren vernichtet worden, und über 50 Prozent der unter 24-jährigen sind arbeitslos oder haben kei­nerlei Aussicht, in ihrem Beruf Arbeit zu finden”, betonte Tabaré Vázquez und fügte hinzu, daß in Uruguay, durch staatli­che Initiativen und Anreize, wieder ver­stärkt Arbeitsplätze vor allem auch im In­dustriesektor und in der Landwirtschaft geschaffen werden müssen. Er forderte einen grundsätzlichen Wandel in der Poli­tik und eine Umvertei­lung der Lasten von unten nach oben und nicht, wie gehabt, in umgekehrter Rich­tung.
Flagge zeigen
Der Wahlkampf in Uruguay tritt jetzt in seine heiße Phase, und neben den ange­mieteten Werbeflächen, vollgeklebten Lichtmasten und bemalten Häuserwänden zeigen jetzt auch viele EinwohnerInnen der Stadt, welchem Kandidaten sie ihre Stimme geben werden. Mit Stickern, Au­toaufklebern oder einem Wahlplakat am Wohnungsfenster oder vom Balkon wird Flagge gezeigt, und die Nachbarschaft er­fährt, was sie eigentlich schon immer vermutet hatte – oder das genaue Gegen­teil. Am Zeitungskiosk, im Lebensmittel­laden oder in der Warteschlange bei Ban­ken und Behörden diskutieren die Men­schen über die Wahlen oder geben ihre Kommentare über Kandidaten oder die neuesten Enthüllungen über Korruption und Vetternwirtschaft in der Staatsbüro­kratie ab.
Fast täglich erscheinen neueste Umfra­geergebnisse, und auch mit diesen Zahlen wird Politik und Wahlkampf gemacht. Die Colorados verlieren ihren bisher deutli­chen Vorsprung gegenüber den Blancos, und das Encuentro Progresista holt leicht auf. Je nach Meinungsforschungsinstitut haben entweder die Blancos oder Colora­dos bislang noch leicht die Nase vorn. In­nerhalb der regierenden Blanco-Partei holt der Lieblingskandidat des amtierenden Präsidenten Lacalle, Ex-Innenminister Dr. Andrés Ramirez kräftig auf gegen seinen Rivalen aus der eigenen Partei, den ehe­maligen Direktor der staatlichen Elektri­zitätsgesellschaft Dr. Alberto Volonté, den wiederum der Präsident nicht leiden kann.
Kompliziertes Wahlsystem
Uruguays Parteienlandschaft ist kompli­ziert, und das Namens- und Kanidatenka­russell ist für AusländerInnen kaum durch­schaubar. Jede Partei besteht aus zahlrei­chen Untergruppierungen, die bei den Wahlen ihre eigenen Listen zur Abstim­mung stellen, auf denen unter­schiedliche Präsidentschaftskandidaten stehen kön­nen. Die traditionellen Parteien Blancos und Colorados haben gleich je­weils drei Präsidentschaftskandidaten zur Auswahl. Das soll WählerInnenstimmen von links bis rechts abschöpfen. Das Mitte-Links-Wahlbündnis Encuentro Pro­gresista hat sich auf einen gemeinsamen Präsident­schaftskandidaten und Vizeprä­sidenten geeinigt, die auf allen Listen der über 20 Parteien und Gruppierungen ste­hen. Für die beiden Kammern des Parla­ments er­scheinen dann die KandidatInnen der je­weiligen Partei oder Gruppe. Uru­guays WählerInnen müssen sich am Wahlsonn­tag durch einen Berg von Wahllisten wühlen, um die Liste ihrer Partei für die nationalen Wahlen und die Regionalpar­lamente in die Umschläge zu tüten. Um die Sache noch etwas kompli­zierter zu machen: In Uruguay wird nicht etwa der Kandidat Präsident, der absolut die mei­sten WählerInnenstimmen be­kommen hat, sondern derjenige, dessen Partei im natio­nalen Maßstab vorne liegt. Ein Beispiel: Tabaré Vázquez vom EP er­ringt die mei­sten Stimmen, und trotzdem wird Sangi­unetti Präsident, weil alle Colorado-Kan­didaten zusammen mehr Stimmen be­kommen haben als das EP und Sanguinetti innerhalb der Colorados die Nase vorne hat. Die vielzitierten politi­schen Beob­achterInnen halten diese Vari­ante sogar für ziemlich wahrscheinlich.
Wahlen und Referendum
Am 27. November wird in Uruguay gleichzeitig über zwei zentrale Themen eine Volksabstimmung durchgeführt. Zum einen geht es um eine Initiative, die in der Verfassung festlegen möchte, daß 27 Pro­zent des Staatshaushaltes für Bildung aus­gegeben werden müssen.
Zum anderen sollen die WählerInnen entscheiden, ob die staatliche Sozial- und Rentenversiche­rung unangetastet bleiben soll. Beide Themen werden natürlich auch im Wahl­kampf heftig diskutiert. Uruguay gibt heute nur etwa vier bis sechs Prozent der Haushaltsmittel für Bildung aus und steht in der internationalen Statistik damit noch hinter Ländern wie Senegal, dem Sudan oder Kolumbien. Ein uruguayischer Grundschullehrer verdient monatlich we­niger als 250 US-Dollar, und 72 Prozent der LehrerInnen haben zumindest zwei Jobs nebeneinander. Die UNESCO fordert die “Entwicklungsländer” auf, mindestens 6 Prozent des Bruttoinlandprodukte für Bildung auszugeben. Uruguay ist heute meilenweit entfernt von diesem Ziel. 1965 wurden immerhin die jetzt wieder gefor­derten 27 Prozent des Staatshaushalts für Bildung ausgegeben. Heute sind die Schulen in einem beklagenswerten Zu­stand, viele davon müßten eigenlich we­gen Baufälligkeit geschlossen werden. Es fehlt überall an Lehrmaterial, und auch die ehemals international berühmte staatliche Uni hat mehr als bescheidene Finanzmit­tel. Die meisten AkademikerInnen arbei­ten eigentlich nur noch an der Uni, weil es sich für die persönliche Biographie gut macht. Parallel suchen sie sich noch einen anderen Job zum Überleben.
Referendum über Bildungs- und Gesundheitspolitik
Es steht völ­lig außer Zweifel, daß das uruguayische Bildungssystem in den letz­ten zwei Jahr­zehnten völlig herunterge­wirtschaftet wurde. Die politische Pole­mik geht nun darum, woher das Geld kommen soll. Die Linke schlägt Kürzun­gen im Verteidi­gungshaushalt, Abbau der Staatsbürokra­tie, Besteuerung von nicht genutztem Agrarland, und die Aussetzung der Be­zahlung der Auslandsschulden vor. “Uruguay überweist täglich 2 Millionen US-Dollar für die Bedienung des Schul­dendienstes”, schreibt die Wahlkampfzei­tung des MPP und der MLN-Tupamaros, La Pulga (der Floh). Eine Mehrheit für das “Ja” zu diesem Thema, gilt als relativ wahrscheinlich, obwohl sich gerade die konservativen Parteien er­bittert dagegen wehren, einen festen Prozentsatz für den Bildungsetat in der Verfassung zu veran­kern.
Auch beim zweiten Thema, Unan­tastbarkeit der staatlichen Sozial- und Rentenversiche­rung, gilt ein “Ja” als rela­tiv wahrschein­lich. Sämtliche Versuche und Vorschläge einer zumindest teilwei­sen Privatisierung dieser Einrichtungen sind bisher immer auf vehemente Kritik bei der Organisation der RentnerInnen, der Gewerkschaften und der linken Par­teien gestoßen. In der reichlich überalter­ten uruguayischen Ge­sellschaft ist die äl­tere Generation auch ein wichtiges Wäh­lerpotential und zudem ziemlich gut orga­nisiert.

Öko-Zuschüsse als entwicklungspolitische Neuerung

Was ist von der noch relativ jungen GEF zu halten? Handelt es sich tatsächlich nur um ein weiteres Kreditangebot im Menü von IWF und Weltbank, wodurch sich die beiden einen grünen Touch geben können? Oder steckt diesmal vielleicht mehr als nur ein Lippenbekenntnis dahin­ter?
Wie alles anfing
Die GEF wurde 1990 auf Initiative der deutschen und französischen Regierung in erstaunlichem Tempo eingerichtet: bereits 1992 erfolgten die ersten Auszahlungen. Sie hat – trotz des IWF-typischen Begriffs “Fazilität” – nichts mit diesem zu tun; da­für aber ist die Weltbank als Durchfüh­rungsorganisation beteiligt – neben dem Nuten Nations Development Pro­gramme (UNDP) und dem United Nations Environment Programme (UNEP). Diese Konstellation ist grundsätzlich neu, da ge­rade Weltbank und UNDP ansonsten in vielen Bereichen konsequent aneinander vorbeiarbeiten. Zwar sind auch bei der GEF die Aufgaben nach dem üblichen Muster – Weltbank für finanzielle und UNDP für technische Projekte – getrennt, immerhin aber unter einem Dach zusam­mengefaßt. Die UNEP darf in einer Ne­benrolle einen Wis­sen­schaftlichen und Tech­nischen Bei­rat einsetzen, der die Kriterien für die Mit­tel­vergabe er­ar­bei­tet. Diese werden als reine Zu­schüsse, also nicht als Kredite, vergeben.
Da in den meisten Fällen staatliche Orga­nisationen die Empfänger dieser GEF-Zu­schüsse sind, wurde von Anfang an ein Programm für Klein(st)zuschüsse über die UNDP für Projekte auf kommunaler, nichtstaatlicher Ebene als Gegengewicht etabliert. 10-15 Mio. US-Dollar bei Pro­jekten in über 30 Ländern machen aus diesem Programmteil aber höchstens ein Fliegengewicht.
In der Pilotphase wurden insgesamt 750 Mio. US-Dollar für die genannten Berei­che verwendet, davon allein 42 Prozent für die Erhaltung der Artenvielfalt. (Zum Ver­gleich: Die Weltbank zahlt jährlich ca. 20 Mrd. US-Dollar aus.) Dieser Topf ist für Lateinamerika besonders interessant, da aus ihm die meisten Gelder nach Latein­amerika fließen, allen voran nach Mexiko und Brasilien mit jeweils 30 Mio. US-Dollar.
Kritische Stimmen und Reform
Die GEF wurde seit ihrer Einrichtung von vielen Seiten scharf kritisiert, insbeson­dere auch von internationalen Natur­schutzorganisationen, die über die GEF Zuschüsse erhalten. Eine 1993 vom World Wildlife Fonds veröffentlichte Studie von über 100 Nichtregierungsorganisationen (NRO) in Lateinamerika, Afrika und Asien kommt zu den folgenden Ergebnis­sen:
– Die GEF wurde von einigen wenigen Nord-Ländern unter Mißachtung jeglicher Süd-Perspektive (Umweltprobleme durch Armut, Bevölkerungsentwicklung, Ver­schuldung und mangelhaften Zugang zu Ressourcen) gegründet. Mit dem Stichwort “global” versuchen die Länder des Nor­dens in die Politik der Entwicklungsländer hineinzuregieren, wobei sie gleichzeitig von ihrer Verantwortung ablenken wollen.
– Die Weltbank, UNDP und UNEP sind für die GEF-Aufgaben ungeeignet. Die Bank hat bisher grundsätzlich soziale und Umweltaspekte von Projekten beflissent­lich übersehen und ist nicht gerade für Transparenz und demokratische Konsul­tationen bekannt. UNDP und UNEP sind zu bürokratisch, um effektiv arbeiten zu können.
– Die GEF konzentriert sich auf kurzfri­stige Projekte, obwohl gerade der Um­weltbereich langfristige Investitionen und Programme erfordert.
– Der Schwerpunkt der GEF liegt im Be­reich staatlicher Unterstützung und läßt NRO fast überall außen vor.
Zu besonders heftigen Kontroversen hat die Beteiligung der Weltbank an der GEF geführt. Während einige NRO die Beteili­gung der Weltbank an der finanziellen Verwaltung der GEF akzeptieren, bezwei­feln die meisten die allgemeine Kompe­tenz der Bank im Bereich Umwelt. Die Kompetenz einzelner MitarbeiterInnen aus der Weltbank wird hingengen hoch gelobt.
Die Kritik an der GEF hat dazu geführt, daß sie nach der Pilotphase im März 1994 restrukturiert wurde bzw. werden soll. Um den Entwicklungsländern mehr Mitspra­che zu verschaffen, wurde der GEF-Auf­sichtsrat tatsächlich paritätisch besetzt: 16 Sitze gehen an die Entwicklungsländer, 14 an Industrie- und zwei an osteuropäische Transformationsländer. Für die Projekt­durchführung bleiben allerdings weiterhin die drei genannten Organisationen ver­antwortlich, so daß von einer “grund­sätzlichen Reform”, wie es die Ge­ber­län­der gerne darstellen, bisher nicht die Rede sein kann.
Artenvielfalt: wann gibt’s Geld wofür?
Die von der UNEP aufgestellten Vergabe­kriterien für GEF-Zuschüsse sind sehr vage und werden teilweise recht fragwür­dig gehandhabt.
Die GEF finanziert grundsätzlich nur Projekte, bei denen die Kosten für das Land gegenüber dem Nutzen zu hoch sind, als daß das Land das Vorhaben durchführen könnte. Einfaches Beispiel: Der Aufbau eines Nationalparks zum Schutz bedrohter Tierarten wird von der GEF als förderungswürdig eingestuft. Komplizierter wird es, wenn dieser Park für den Tourismus attraktiv sein könnte und das Land dadurch höhere Einnahmen (= höheren Nutzen) besäße. Aufgrund die­ser Annahme finanziert die GEF nur die “Zusatzkosten”, die ihrer Ansicht nach nicht aus nationaler Tasche bezahlt wer­den können. Daraus ergeben sich so ab­surde Situationen wie die in Costa Rica: Durch den vom IWF-Programm aufge­zwungenen Sparkurs mußte Costa Rica zwei Drittel des Personals für die Natio­nalparks entlassen. Dies erschwerte die Erhaltung des erreichten Parkstandards. Überdies sanken die Einnahmen durch den Ökotourismus, da nicht mehr ausrei­chend ReiseführerInnen zur Verfügung standen. Gleichzeitig finanzierte die GEF lediglich zwei Projekte zur “biologischen Forschung und Training des Parkmana­gements”, da potentiell Einnahmen aus dem Ökotourismus vorhanden wären.
Die Vergabe von Geldern richtet sich weiterhin danach, ob das Projekt innovativ ist. Großvaters Lehren über den Umgang mit natürlichen Ressourcen sind nicht ge­fragt: neu ist gleich gut. Daß bei moderner Technologie oftmals die Kostenkontrolle aus den Augen verloren wird, liegt auf der Hand. Viele Pilotprojekte haben sich als so teuer erwiesen, daß sie nach Vergabe der GEF-Gelder nicht weitergeführt, ge­schweige denn auf andere Gebiete über­tragen werden können.
In Lateinamerika werden neben den ge­nannten in Costa Rica, folgende Projekte im Bereich Artenvielfalt gefördert:
Weltbank:
– Bolivien: Stärkung des Schutzzonen-Managements und der nationalen Institu­tionen über bolivianischen Treuhand­fonds. (5 Mio. US-Dollar)
– Brasilien: noch kein Projekt festgelegt. (30 Mio. US-Dollar)
– Ecuador: Schutz der Artenvielfalt durch Stärkung der legalen Rahmenbedingungen und des Parkmanagements. (6 Mio. US-Dollar)
– Mexiko: Unterstützung des Manage­ments von 20 Schutzgebieten. (30 Mio. US-Dollar)
– Peru: Etablierung eines Treuhandfonds für Management, Training, Ausbildung usw. im Bereich Artenschutz. (4 Mio. US-Dollar)
UNDP:
– Amazonasregion: Strategien zur Erhal­tung natürlicher Ressourcen. (5 Mio. US-Dollar)
– Argentinien: Entwicklung eines regio­nalen Managementplans für Patagonien. (3 Mio. US-Dollar)
– Belize: Forschung und Beobachtung so­wie Entwicklung eines Managementplans für das längste Felsenriff Lateinamerikas. (3 Mio. US-Dollar)
– Costa Rica: Finanzierung von biologi­scher Forschung und Training von Park­management (8 Mio. US-Dollar)
– Dominikanische Republik: Protektion von Samana Bay, incl. wissenschaftliche Basisstudien. (3 Mio. US-Dollar)
– Guayana: Programm für nachhaltiges Tropenwaldmanagement. (3 Mio. US-Dollar)
– Kolumbien: Bewahrung der Artenvielfalt im Chocó. (9 Mio. US-Dollar)
– Kuba: Schutz und nachhaltige Entwick­lung des Sabana-Camaguey Archipels. (2 Mio. US-Dollar)
– Uruguay: Schutz der Artenvielfalt in den östlichen Feuchtgebieten. (3 Mio. US-Dollar)

Bemerkenswert ist zunächst einmal die vage Formulierung der meisten Projekte und insbesondere auch der Fall Brasilien. Gerade dieses Beispiel zeigt, daß die Auswahl der Länder und Schutzgebiete eher aus politischen als aus ökologischen Gründen erfolgte.
Die oben genannte Kritik an kurzfristiger Finanzierung gilt auch für die aufgeliste­ten lateinamerikanischen Projekte: sie machen nur Sinn, wenn sie auch nach der GEF-Projektperiode (2-5 Jahre) weiterge­führt werden. Die meisten Länder sind aber zur Zeit nicht in der Lage (oder auch nicht willens), für Projekte zum Schutz der Artenvielfalt Geld bereitzustellen. Ein geplanter Treuhandfonds wie in Peru oder die Unterstützung eines bereits existieren­den wie in Bolivien ist unter diesen Um­ständen besser als stark eingegrenzte Pro­jekte, da hierdurch Zahlungen über einen langen Zeitraum garantiert werden kön­nen. Eine Weiterfinanzierung der meisten anderen Projekte ist unwahrscheinlich, da bei der bisherigen Projektfinanzierung Länder mit großer Artenvielfalt wie Gua­temala, Indien, Madagaskar, Malaysia, Tansania und Zaire ausgelassen wurden, die sich bei einer weiteren Runde stark zu Wort melden werden.
Die Projekte decken zudem sehr unter­schiedliche Ökosysteme ab, vom tropi­schen Regenwald über Meeresbiotope, Feucht- und Trockengebiete. Wenn man sich die zur Verfügung stehenden Gelder ins Gedächtnis ruft und bedenkt, daß mehr oder weniger zu jedem Projekt intensive Studien aufgestellt und ausländische Ex­perten bezahlt werden, dann entsteht der Eindruck, die GEF wolle ihre Vielfalt be­weisen und übernimmt sich ganz ordent­lich. Viele der genannten Projekte wurden unter – politischem – Zeitdruck bereits Ende 1993 eingeführt; Diskussionen und Evaluierungen von unabhängigen Gut­achter oder NRO haben so gut wie gar nicht stattgefunden bzw. wurden mit der Entschuldigung “Mittelabflußdruck” un­terbunden. Die meisten lateinamerikani­schen Projekte fallen in die Kategorie der “wenig beeindruckenden Mittelabfluß­druckprojekte”, allen voran Brasilien und auch Mexiko.
Erstaunlich ist auch die mangelhafte Aufmerksamkeit gegenüber politischen Zwängen. Selbst bestens geplante Projekte können scheitern, wenn Wirtschaftspoli­tik, Handelsabkommen, Strukturanpas­sungsprogramme und Gesetze über Bo­deneigentum einen dauerhaften Schutz der Artenvielfalt behindern. Hinzu kommen noch Entwicklungsprojekte, die den Um­weltschutz konterkarieren und oft von derselben Durchführungsorganisation stammen. Eine Aufstockung der GEF-Gelder, wie sie von allen Seiten berech­tigterweise gefordert wird, wird unter die­sen Umständen keine erhebliche Verbes­serung des Artenschutzes bringen.
Scheitern an alten Strukuren
Nach dem bisher Gesagten verlief die GEF-Pilotphase nicht sehr beeindruckend. Auch in Zukunft wird sich daran nicht viel ändern, da insbesondere die Weltbank an ihrer üblichen Praxis festhalten wird: Auswahl nach politischen Gesichtspunk­ten, fast nur öffentliche Organisationen als Ansprechpartner, mangelnde Flexibilität bei Projektdesign und -durchführung, keine sozioökonomischen Studien, kurze Projektzyklen, Einsatz ausländischer Ex­pertInnen und rein symbolische Beteili­gung der lokalen Bevölkerung. Bei der GEF können diese Probleme allerdings wenigstens abgemildert werden, wenn die beteiligten NRO – und gerade die großen – ihren Einfluß so stark wie möglich geltend machen. Die Weltbank läßt sich sonst normalerweise nicht in die Karten sehen, daher sollte jede Möglichkeit der Einflußnahme ausgenutzt werden. Bei der derzeitigen fi­nanziellen Ausstattung ist die Auswirkung der GEF auf globale Umweltschutzmaßnahmen jedoch nur von marginaler Be­deutung. Die GEF bleibt ein Trostpflaster, das die eigentlichen Ursachen der Um­weltzerstörung nicht angeht.

Die permanente Invasion

Nun hat der UNO-Sicherheitsrat mit leichtem Zähneknirschen die Clinton-Regierung für eine Invasion in Haiti au­thorisiert. Dies wäre nicht das erste Mal. Bereits 1915 fielen die einschlägig be­rühmten marines in dem Land ein unter dem Vorwand, die haitianische Regierung habe “einige Verpflichtungen nicht einge­halten”. Sie blieben fast 20 Jahre und zo­gen erst 1934 ab. Nach der Amtszeit von Lescot, Estime und Magliore, drei pünkt­lich vom haitianischen Militär gestürzten Präsidenten, setzten die Vereinigten Staa­ten “Papa Doc” Francois Duvalier ein und unterstützten ihn bis zu seinem Tode 1971. Sein Sohn Baby Doc erbte die Prä­sidentschaft, bis er 1985 durch einen wei­teren Militärputsch gestürzt wurde. Unter den Regierungen der beiden Duvaliers herrschte eine grausame Repression. Es wird davon ausgegangen, daß allein unter der Regierung von Baby Doc mehr als 40.000 Personen ermordet wurden. Die Vereinigten Staaten wußten aus guter Quelle, wie auf Haiti mit ihrer tatkräftigen Unterstützung die Menschenrechte ver­letzt wurden.
Mißratener Zögling der USA
Raul Cédras, der gegenwärtige Diktator, der den demokratisch gewählten Priester Jean-Bertrand Aristide durch einen Putsch stürzte, ist lediglich der letzte in der bishe­rigen Reihe von haitianischen Tyrannen. Man weiß nicht genau, warum ausgerech­net er den Vereinigten Staaten so mißfällt, wo sie doch in der Vergan­genheit mit den Duvaliers so gut auska­men. Dem nicht genug, darf man nicht vergessen, daß Cé­dras, wie alle Diktator-Lehrlinge Latein­amerikas, auf einer nord­amerikanischen Militärakademie ausge­bildet wurde.
Die Geschichte Haitis ist wirklich drama­tisch: Der revolutionäre Kampf begann 1791 mit einem Sklaven, dem berühmten Toussaint l`Ouverture. Die Unabhängig­keitserklärung am 28. November 1803 machte Haiti zum ersten entkolonisierten Land Lateinamerikas. Aus dieser histori­schen und politischen Avantgarderolle stieg es zu dem heute ärmsten Land La­teinamerikas und einem der am stärksten geplünderten der Welt ab.
Angesichts des politischen Imageverlu­stes, den jede ihrer Interventionen in ande­ren Ländern nach sich zieht, haben die Nordamerikaner beschlossen, sich für je­den ihrer internationalen Angriffe Partner zu suchen. Die Idealformel ist, daß die Vereinten Nationen sie mit dieser oder je­ner Strafaktion beauftragen, wie sie es beispielsweise beim Golfkrieg erreichten. Aufgrund ihres Insistierens wurden sie schließlich von einigen französischen und englischen Flugzeugen begleitet.
Diplomatische Winkelzüge
Rony Lescouflair, ein haitianischer Dich­ter, der 1967 durch die Polizei Duvaliers ermordet wurde, schrieb dieses kurze Ge­dicht: “Dreimal krähte der Hahn; / Petrus war kein Verräter: / er wurde Diplomat.”
Mit Hilfe eines umfassenden und nach­drücklichen diplomatischen Manövers wollen die USA auch jetzt bei der Inva­sion in Haiti Begleitung haben. Die For­mel ist einfach: Wenn einige Länder zu kleinmütig sind, um Truppen, Schiffe und Flugzeuge zu entsenden, sollen sie zumin­dest applaudieren.
Bei den Regierenden in Lateinamerika kam, wie üblich, der einzige enthusiasti­sche Applaus von Präsident Menem. Bei allen anderen, ob sie jetzt der Rechten, der Mitte oder der Linken angehören, erzeugte die bloße Idee, eine nordamerikanische Invasion zu authorisieren, allergische Re­aktionen.
Nach wie vor mögen einige Arglose oder Einfältige sich fragen, warum das US-State Department nicht die Unterstützung des UNO-Sicherheitsrates erbat, um wäh­rend der Pinochet-Diktatur in Chile zu in­tervenieren, oder während der Videla-Zeit in Argentinien, oder während der Goyo Alvarez-Zeit in Uruguay, oder während der Stroessner-Zeit in Paraguay etcetera. Könnte es daran liegen, daß es sich hier um “befreundete Diktaturen” handelte, wie es Präsident Reagan ausdrückte? Wäre es möglich, daß das Regime Cédras` zufällig eine “feindliche Diktatur” ist? Oder existiert vielleicht ein Motiv, wel­ches nicht öffentlich genannt wird, wie zum Beispiel, daß die geplante Invasion dem ständigen Zustrom haitianischer Flüchtlinge an die Küsten Nordamerikas ein Ende bereiten würde?
Niemand hat das Züchtigungsmittel ver­gessen, das 1990 gegenüber Panama an­gewandt wurde, die sogenannte “Operation Gerechte Sache”. Um einen General gefangenzunehmen, der ihnen lä­stig fiel – er war CIA-Agent gewesen und hatte später mehrfach die Seiten gewech­selt – nahmen sie in Kauf, 2.000 unschul­dige Zivilisten zu töten und ne­benbei ei­nige Viertel der Hauptstadt Pa­namas in Trümmerhaufen zu verwandeln. Damals schrieb ich, daß Panama sich in die absto­ßendste Militäraktion dieses Jahrhunderts verwandelt habe. Man müßte hinzufügen: in die heuchlerischste. Erst 1994 geben einige Medien im Hinblick auf die ange­kündigte Invasion in Haiti zu, daß mehr als 2.000 Todesopfer auf das Konto der “Operation Gerechte Sache” gingen. 1990 dagegen, als das Massaker sich ereignete, war ein Großteil der Me­dien zu schwer­fällig, so viele Leichen zu erwähnen.
Sicherlich ist der Diktator Raoul Cédras nicht vorzeigbar, fügt sich doch sein re­pressives Regime perfekt in die nieder­trächtigsten Traditionen der Duvalier-Dy­nastie ein. Trotzdem scheint eine Invasion auf keinen Fall die adäquateste Lösung zu sein, auch wenn Aristide in den saubersten Wahlen in der Geschichte Haitis gewählt wurde.
Marionetten pflastern den Weg
Der Schlüssel zu dieser Verwirrung liegt wahrscheinlich darin, daß das dichte In­terventions-Curriculum der Vereinigten Staaten weder den Ländern der Dritten Welt allgemein noch speziell denen La­teinamerikas das geringste Vertrauen ein­flößt. Niemand vergißt, daß die USA nach jeder ihrer zahlreichen Invasionen in dem Moment, wo sie einen Rückzug für op­portun hielten, eine Marionettenregierung hinterließen: Somoza in Nicaragua, Bala­guer (immer noch unverwüstlich) in der Dominikanischen Republik, “Quissling” Endara in Panamá – eine Gestalt, deren Ernennung zum Präsidenten beschämen­derweise in einer nordamerikanischen Militärstation stattfand. Nach jeder Inva­sion blieb das jeweilige Land in einem schlimmeren Zustand als vorher zurück, tiefer in seiner Armut versunken, seiner Würde beraubt, in seiner Souveränität verletzt, überbrodelnd vor Groll.
Auch muß bedacht werden, daß es einen zusätzlichen, nicht zu verachtenden Vor­teil gibt, welchen sich die Vereinigten Staaten verschaffen, wenn es ihnen ge­lingt, untergeordnete Verbündete oder Helfershelfer für ihre Militäraktionen zu finden. Wenn sie ohne Alliierte ein Land ihres Hinterhofes angreifen – beispiels­weise Grenada oder Panama, entfallen die hohen Ausgaben für diese Operation not­wendigerweise auf die Posten im US-Haushalt, die für Invasionen, Blockaden und andere Lappalien vorgesehen sind. Heute dagegen, wo es niemand geringeres als der Weltsicherheitsrat ist, der die Ver­einigten Staaten mit der Bestrafung der haitianischen Diktatur beauftragt, handelt es sich um eine kollektive Verantwortung, und der militärische Exekutor muß nur für 25 Prozent der anfallenden Kosten auf­kommen.
Daher handelt es sich für die Vereinigten Staaten um ein rundes Geschäft: Sie füh­ren die geplanten Invasionen durch und kommen billig dabei weg. Zum ersten Mal versucht – und erreicht – es der Imperia­lismus in solch offener Form, daß seine militärischen Aktionen von den direkt oder indirekt untergeordneten Ländern fi­nanziert werden. Vor einigen Jahren gab es den Spruch, daß die Organisation Ame­rikanischer Staaten so etwas wäre wie das Ministerium der nordamerikanischen Ko­lonien. Seit kurzem ist die UNO auf dem Weg, sich in das US-Verteidigungsmini­sterium zu verwandeln.
Folgt die Herde der Stimme des Herrn?
Gibt es nach alldem keine andere Mög­lichkeit als die Kanonenbootpolitik, um die weltweiten Konflikte zu lösen? Die Imaginationskraft der Regierenden ist ge­fragt, um den Dialog als Instrument des Friedens zu nutzen. Während ich diese Zeilen schreibe (in der ersten August­hälfte, Anm. d. Red.), erreicht mich die Nachricht, daß der haitianische Diktator eingewilligt hat, eine Verhandlungskonfe­renz zu empfangen, an der Delegierte von fünf lateinamerikanischen Ländern betei­ligt sind. Hoffen wir, daß daraus eine an­ständige Lösung erwächst.
Auf jeden Fall hat das so konfliktträchtige haitianische Problem einen wichtigen Schritt provoziert: Die lateinamerikani­schen Länder – zumindest diejenigen, die über eine historische Erinnerung verfügen – sind dabei zu lernen, Nein zu sagen an­gesichts des Drucks von “the master`s voice”. Halleluja.

Der schwarze Mittwoch

“Seit 25 Jahren gab es keinen solchen Po­lizeieinsatz mehr, selbst während der Mi­litärdiktatur (1973-1984) haben die Mili­cos bei den verbotenen Demonstrationen zwar übel geprügelt und Gas und Gummi­geschosse eingesetzt, aber nie scharf auf unbe­waffnete DemonstrantInnen geschos­sen”, berichtet eine ältere Aktivistin. Die Regierung verkündete derweil in Abwe­senheit des auf Wahlkampftour befindli­chen Präsidenten, es habe mehr verletzte Polizisten als DemonstrantInnen gegeben und vertei­digt ihr Vorgehen damit, daß sie entschlossen gegen interna­tionalen wie nationalen Terrorismus vorgehen müsse. Innenmi­nister Gianola sah zunächst keine Veranlassung, dem Parlament Rede und Antwort zu stehen. Er begab sich erst dann ins Abgeordnetenhaus, als am 7.September die notwendige Stimmen­zahl, für die Erzwingung einer großen An­frage zusammen­kam, bei der er sich den Fragen der ParlamentarierInnen stel­len mußte.
Zahlreiche Gewerkschaften, soziale Orga­nisationen, u.a. auch das Linksbündnis Frente Amplio fordern den Rücktritt des Innenministers. Menschenrechtsorganisa­tionen, Kirchen, Gewerkschaften und viele nationale und internationale Ver­bände und Organisationen haben Protest­schreiben geschickt und for­dern eine un­abhängige Untersuchung der Vorfälle. Im Parlamentsausschuß für Menschenrechte werden Videoaufnahmen gesichtet, und ein Richter nimmt die Anzeigen von Be­troffenen und Zeugen auf. Die spanische Regierung hingegen schickt No­ten, in denen beteuert wird, daß viele Menschen in Uruguay “offensichtlich ungenügend oder falsch informiert sind”.
Der Entzug der Sendelizenz für Radio Panamericana CX 44 und die 48stündige Schließung von Radio CX 36 – beide hat­ten ständig aktuell über die Situation vor der Klinik El Filtro berichtet – lösten auch international heftige Proteste aus. Der Innenminister versucht offensichtlich im Zuge des Wahlkampfs in die Offensive zu gehen. Er spricht von ultralinken Splitter­gruppen (er meint damit in erster Linie die MLN Tupamaros), die die ge­walttätigen Auseinandersetzungen provo­ziert hätten und beschuldigt zwei Ra­diosender, zur Gewalt angestiftet zu ha­ben. Ein Staats­anwalt gibt bekannt, daß er Strafverfahren gegen verantwortliche Redakteure bzw. die Direktion von Radio Panamericana einleiten wird. Vorwurf: Falschinforma­tion, Verun­glimpfung von Staatsorganen etc.
Die baskischen Gefangenen in Uruguay
Der Fall der baskischen Gefangenen hatte in Uruguay erhebli­chen Wirbel ausgelöst. Am 15.Mai 1992 wurden in einer Großak­tion der uruguayischen Polizei insgesamt 24 Baskinnen und Basken, teilweise mit ihren Kindern, festgenommen. Bis auf sechs wurden die meisten sehr schnell wieder freigelassen. Die Vorwürfe gingen vom Besitz falscher Personaldokumente bis zur Mitgliedschaft in der ETA. Schon bei den polizeilichen Ermittlungen gab es einige Unregelmäßigkeiten und Rechts­brü­che, so wurden z.B. auch die Kinder der Festgenommenen, ei­nige da­von waren minderjährig, erkennungs­dienstlich be­handelt und verhört. Bei den Hausdurch­suchungen und Verhören in Montevideo waren auch spanische Poli­zeibeamte zu­gegen, und Staatsanwalt Langón gab schon vor dem Abschluß der Verfah­ren im Fernsehen etwas voreilig bekannt, daß die Ausweisun­gen vollzogen würden.
Es gründete sich daraufhin relativ schnell ein unabhängiges Komitee zur Unterstüt­zung der baskischen Gefangenen. Es wur­den Veranstaltungen und Demonstratio­nen organisiert, Weihnachtspakete in den Knast geschickt und die “Kommission für Recht auf Asyl” sammelte letztes Jahr über 25.000 Unterschriften.
Zur Chronologie der Ereignisse
Nach 27 Monaten Gefängnis beginnen am 11. August die drei baskischen Ge­fangenen Jesús Goitia, Mikel Ibañez und Luis María Lizarralde einen Hunger­streik “bis zur letzten Konse­quenz”, um nicht an Spanien ausgeliefert zu werden.
Freitag, 19.August:
Der Staatsanwalt unterschreibt die Aus­setzung des Verfahrens, weswegen die Basken in Uruguay verurteilt waren (gefälschte Papiere). Die Basken können jetzt an die spanischen Behörden überge­ben werden. Sie beschließen neben ihrem Hungerstreik, sofort einen Durststreik zu beginnen und werden in die Klinik “El Filtro” verlegt.
Samstag, 20.August:
Mehrere hundert Leute versammeln sich vor der Klinik, um ihre Solidarität mit den Basken zum Ausdruck zu bringen. Weder die Anwälte noch Abgeordnete der Fren­te Amplio dürfen mit den Gefangenen spre­chen. Die Presse trifft vor dem Ho­spital ein, um Interviews zu ma­chen und zu be­richten.
Sonntag, 21.August:
Der Gesundheitszustand der drei Basken verschlechtert sich nach Auskunft der be­handelnden Ärzte kontinuierlich. (Es ist der 11. Tag des Hungerstreiks).
Die mesa representativa des Gewerk­schaftsdachverbandes PIT-CNT ruft für den kommenden Tag alle ArbeiterInnen zur Kund­gebung vor dem Krankenhaus Filtro auf. Das Linksbündnis Frente Am­plio erabschiedet eine Erklärung, in der das Recht auf Asyl für die drei Basken gefordert wird. Rund um die Uhr sind Menschen vor der Klinik präsent.
Montag, 22.August:
Die Gewerkschaft der LehrerInnen der staatlichen Schulen beschließt, an diesem Tag zu streiken. Auch die Uni beendet ihre Kurse um 10 Uhr. Am Krankenhaus Filtro werden die Sicherheitsvorkehrungen ver­schärft. Der Erzbischof von Montevideo ruft dazu auf, alle rechtlichen Möglich­keiten auszuschöpfen. Innenmini­ster Gia­nola bleibt dabei, daß die Soli­daritätsdemos le­diglich politische Motive hätten und kün­digt an, daß die Ausliefe­rung am Mitt­woch, dem 24.8. durchge­führt werde. Am gleichen Tag wird be­kannt, daß ein Flug­zeug des spanischen Königs, ausgestattet mit Ge­räten für Intensivmedi­zin, die drei Basken abholen wird. 30.000 Unter­schriften wer­den zur Unterstützung eines Gesetzesan­trags vor­gelegt, der die Auslieferung an Spanien untersagt. Wäh­rend sich der Gesund­heitszustand der drei Basken stän­dig ver­schlechtert, treffen immer mehr Menschen vor der Klinik ein. Ein großer Demonstrationszug trifft gegen 21.30 Uhr vor der Klinik ein. Alle Bemühungen, po­litisches Asyl fÜr die Basken zu errei­chen, sind bislang ge­scheitert, die Regie­rung beharrt auf ihrer Hal­tung: “Es gibt einen Beschluß der Ju­stiz zur Ausliefe­rung der Basken, wer ge­gen die Ausfüh­rung dieses Beschlusses agiert, richtet sich gegen die Staatsge­walt.” Es wird berich­tet, daß mehrere Be­amte der spanischen Polizei in Monte­video anwesend seien, was jedoch nicht offiziell bestätigt wird. Der Gewerk­schaftsdachverband PIT-CNT ruft zum Streik und zu einer Kundgebung vor dem Krankenhaus Filtro auf. Die Medien be­richten laufend über die Auslieferung der Basken und über die Demon­strationen.
Dienstag, 23.August:
Viele Sektoren der Wirtschaft, wie Ban­ken, Transport und Bildung beteiligen sich am Streik. Tausende ziehen während des Tages vor die Klinik Filtro. Innenminister Gianola nennt den Hungerstreik eine “Erpressung”.
Luis María Lizarralde hat Nierenfunkti­onsstörungen und Jesús Goitia wird we­gen Herzbeschwerden auf die Intensivsta­tion verlegt. Ein Versuch, das politische Asyl für die Basken über die Kommission für Menschenrechte im Abgeordnetenhaus zu er­reichen, scheitert ebenfalls. Der Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT ent­scheidet mit knapper Mehrheit den Gene­ralstreik ab Mitternacht auszusetzen. Für den Mittwoch wird jedoch zu ei­ner er­neuten Kundgebung vor der Klinik auf­gerufen. Der uru­guayische Botschafter in Madrid teilt mit, er habe via Telefon Morddrohungen erhalten. Vertreter von Herri Batasuna erklären einen Tag später, daß die ETA nichts mit diesem anonymen An­ruf zu tun habe und nicht Uruguay, sondern lediglich die spa­nische Regierung für die Situation verantwortlich sei.
Ein Parlamentsabgeordneter von Herri Batasuna ist in Montevideo eingetroffen und führt Gespräche mit Parlamenta­riern, um die Auslieferung der drei Basken zu verhindern.
Mittwoch, 24.August:
Die Lage im Umfeld der Klinik, die seit Samstag von starken Polizeieinheiten ab­geriegelt ist, verschärft sich. Es gibt mehrere Verletzte, als die Polizei in den Morgenstunden einen Platz nahe der Kli­nik räumt. Immer mehr Menschen kom­men während des Tages zum Filtro. Seit mehr als vier Tagen sind trotz naßkaltem Wetter rund um die Uhr Leute vor Ort.
Um 15.30 Uhr fordert Minister Gianola die Menschen auf, sich zurückzuziehen und teilt mit, daß die Polizei jedem Ver­such, den Abtransport zu verhindern, mit allen Mitteln entgegentre­ten werde. Das Flugzeug aus Spanien trifft mit Verspä­tung ein, weil der Flughafen in Montevi­deo abgeriegelt und nach Bomben durch­sucht wird. Gegen 17 Uhr befinden sich etwa 10.000 DemonstrantInnen vor der Klinik im Stadtteil Jacinto Vera. Die Polizei beginnt, mit Schlagstöcken, Gas­granaten und berittenen Spezialeinheiten gegen die Demonstration vorzugehen. Journalisten und Fernsehleute werden von der Polizei angegriffen. Obwohl es bereits die ersten ernsthaften Verletz­ten gibt, bleibt eine Menge Leute jeder Altersstufe vor der Klinik präsent. Es sind Menschen aus Betrieben und Schulen, VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen und sozialen Bewegungen, SchülerInnen und StudentInnen, VertreterInnen von politi­schen Parteien etc.
Radio Panamericana erhält Drohanrufe und Morddrohungen ge­gen Journali­stInnen.
Kurz nach 20 Uhr fahren fünf Kranken­wagen, eskortiert von neun Polizei­fahrzeugen, zur Klinik. Sie wählen genau die Zufahrtsstraße, auf der die Mehrheit der DemonstrantInnen versammelt ist. Die Polizei beginnt, in die Menge zu schießen. Spezialeinheiten der Polizei, teilweise be­ritten, prügeln auf die DemonstrantInnen ein. Es sind via Radio und Fernsehen Schüsse zu hören.
Originalton Fernsehkanal 10: “Was pas­siert gerade?” – “Es ist furchtbar, die Poli­zei schießt auf die Leute. Hört ihr nicht die Schüsse?” – “Wie, Schüsse, gibt es einen Schußwechsel?” – “Nun, ich werde mich jetzt nicht in die Schußlinie begeben, um zu sehen, ob aus verschiedenen Rich­tungen gefeuert wird.”
Der Stadtteil Jacinto Vera ist von der Po­lizei abgeriegelt, in zahlreichen Straßen ist der Strom abgestellt worden. Über Radio Panamericana CX 44 und Radio CX 36 Centenario berich­ten die ReporterInnen zum letzten Mal über diesen Polizeiein­satz. Die Sender haben sich zu einer ge­meinsamen Ausstrahlung entschlossen. Es sind Schüsse und Schreie von Verletzten zu hören. Die JournalistInnen bitten drin­gend, Krankenwagen nach Jacinto Vera zu schicken. Radio Panamericana fordert alle Leute, vor allem die Jüngeren, auf, sich um Gottes Willen aus dieser Zone zurück­zuziehen, in der die Polizei im Schutze der Dunkelheit regelrecht Jagd auf Menschen macht.
Sämtliche Zufahrtsstrassen zum Flughafen sind hermetisch abgesperrt. Aus östlicher Richtung kann für einige Stunden nie­mand mehr nach Montevideo fahren. In verschiedenen Straßenzügen rund um den Flughafen sind Strom und Telefon abge­stellt. Helikopter kreisen permanent über dem Flugfeld. 12 Krankenwagen und 30 Polizeifahrzeuge bilden die Wagenko­lonne, welche die drei Basken zur Luft­waffenbasis am Flughafen Carrasco fährt, wo das spanische Flugzeug bereitsteht. Zwei uruguayische Minister übergeben die drei Basken an die spani­schen Behör­den.
Die Opfer
Der Demonstrant Alvaro Fernández Mor­roni (24 Jahre) stirbt an den Folgen seiner Schußverletzungen. Es gibt über 100 Ver­letzte, viele davon mit Schußverletzungen, wobei die Dunken­ziffer noch höher liegen dürfte, da nicht alle Verletzten in Kran­kenhäusern behandelt wurden. Esteban Mazza, Angestellter im medizinischen Dienst, ist schwer verletzt. Auf ihn ist viermal geschossen worden, als er einen Verletzten versorgen wollte. Ein 18jähriger Student schwebt in Lebensge­fahr, er hat u.a. eine schwere Schußverletzung am Kopf. Zahlreiche Menschen waren vorübergehend festge­nommen worden.
Am Donnerstag wird der Abgeordnete von Herri Batasuna des Landes verwiesen.
Am Freitag, den 26. August, wird Alvaro Fernando Morroni be­erdigt. Viele tausend Menschen beteiligen sich am Trauerzug, der auch zu einer großen Demonstration gegen Repression und Gewalt wird.
Die Regierung ordnet am gleichen Tag die Schließung von Radio CX 44 und Radio CX 36 für 48 Stunden an. Sie beruft sich da­bei auf ein Dekret aus der Zeit der Mi­litärdiktatur, in dem festgelegt wurde, daß Duplex-Sendungen (gemeinsa­me Ausstrahlungen) 14 Tage im voraus an­gemeldet werden müssen. Wenige Stun­den danach ordnet die Regie­rung die end­gültige Schließung von Radio Paname­ricana CX 44 an. Formaljuristisch wurde der Sender geschlossen, weil beim Eintritt neuer Gesellschafter angeblich versäumt wurde, offiziell alte Gesell­schaftsteile ab­zutreten und sich von der Behörde die entsprechenden Stempel zu besorgen. Die politische Begrün­dung des Innenministers ist freilich eine andere – Agitation und Aufruf zur Gewalt.
Pikanterweise operiert die Regierung mit einer Verordnung, in der an anderer Stelle auch steht, daß keine Person oder wirt­schaftliche Gruppe über mehr als zwei Medien verfügen darf. Wenn dies tatsäch­lich angewendet würde, könnten morgen die meisten Zeitungen und Radios dicht­machen, weil einige wohlha­bende Leute gleich mehrere Sender und Zeitungen ha­ben.
Auf juristischer Ebene laufen z.Zt. Ver­fahren gegen diese Anordnung. Die Mit­arbeiterInnen von Radio Panamericana setz­ten sich für den Erhalt ihrer Ar­beitsplätze ein, und es ist schon erstaunlich, wie breit auch die internatio­nale Solidarität mit dem geschlossenen Sender ist. So sind Faxe aus aller Welt eingetroffen von Journalistenverbänden, Parteien, Gewerkschaften, anderen Radio­stationen, dem Weltverband der Comunity Radios AMARC. In mehreren Ländern wurden spontan Flugblätter verteilt und zu Spenden aufgerufen. Die vergilbte Wand im Empfangsraum des Radios ist neu mit Briefen und So­lidaritätserklärungen “tape­ziert”.

Ein Bürgermeister läßt die Linke träumen

Bis weit nach Mitternacht mußten die über 2.000 Delegierten in der Peñarol-Sporthalle ausharren, dann war klar: Die Frente Amplio geht mit Tabaré Vázquez, zur Zeit Bürgermeister der Metropole Montevideo, bei der Präsidentschaftswahl am 27. November ins Rennen. Basis­komitees und an die zwanzig Parteien und politische Organisationen haben sich im Bündnis zusammengeschlossen – genug Stoff für Auseinandersetzungen. Umstrit­ten und heiß diskutiert war vor allem die Frage der politischen Allianzen mit Po­litkerInnen der traditionellen Parteien. So zum Beispiel mit den ChristdemokratIn­nen und den DissidentInnen der derzeit regierenden Nationalen Partei (Blancos). Der Sozialist Tabaré Vázquez hatte ange­droht, seine Kandidatur für das Präsiden­tenamt zurückzuziehen, falls der Kongreß kein grünes Licht für Verhandlungen über eine “Makro-Koalition” gebe. Außerdem forderte er, den Kanditaten für das Amt des Vizepräsidenten außhalb der Reihen der Frente Amplio zu suchen. Nach stun­denlangen Debatten und zahlreichen ge­scheiterten Anträgen war es weit nach 23.00 Uhr so weit: Mit 1403 Stimmen war die Zweidrittel-Mehrheit knapp erreicht – der Weg für Verhandlungen über eine “große fortschrittliche Übereinkunft”, die Makro-Koalition, war frei. Tabaré Váz­quez hat seinen Lieblingskandidaten für das Amt des Vizepräsidenten durchge­bracht: Nin Novoa, Mitglied der regieren­den Partido Nacional und gleichzeitig prominenter Kritiker von Präsident La­calle wird aller Voraussicht nach an der Seite von Vázquez um die Sympathien der WählerInnen kämpfen. Da Vázquez sein Amt als Bürgermeister Montevideos auf­gibt, nominierte der Kongreß auch gleich noch seinen möglichen Nachfolger: Ma­riano Arana, ein Architekt und Stadtpla­ner, wird sich bei der Bürgermeisterwahl, die ebenfalls am 27. November über die Bühne geht, den WählerInnen stellen.
Heftig stritten sich die Frente Amplistas auch über das Wie einer “großen fort­schrittlichen Übereinkunft”, die von vielen RednerInnen als “die historische Chance für eine Veränderung” bezeichnet wurde. Vor allem der linke Flügel des Bündnis­ses, wie zum Beispiel die MLN-Tupama­ros und die UNIR, wehrten sich mit Hän­den und Füßen gegen Verhandlungen mit anderen Parteien. Auch der Kontakt zu VertreterInnen von Flügelfraktionen in­nerhalb dieser Parteien schien ihnen – wenn überhaupt – nur dann sinnvoll, wenn die Frente zuvor klare politische Eckdaten formulieren würde. Harte Kritik gab es auch dafür, daß nur ein erlauchter Kreis von 12 Persönlichkeiten die Ver­hand­lungen über ein Wahlbündnis führen soll. “Wir lehnen eine Politik der Allianzen nicht ab”, sagte Pepe Mijica, legendäre Füh­rungspersönlichkeit der Tupamaros, “aber wir glauben nicht an eine Bündnis­politik, die nur irgendwelche Aufgaben verteilt. Wir glauben vielmehr an politi­sche Bünd­nisse, in denen man sich enga­gieren muß, ohne Gruppenegoismus, aber aus einem linken Selbstverständnis her­aus”. In seiner Abschlußrede stellte Váz­quez dann The­men wie den Kampf gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik, die Demokratisierung der Gesellschaft und das Prinzip Solidari­tät und soziale Ge­rechtigkeit in den Mit­telpunkt. Eindring­lich verlangte er Ge­schlossenheit und er­innerte an die Ge­schichte dieser Organi­sation, die stets eng mit ihren Persönlich­keiten verbunden ge­wesen sei – wie zum Beispiel dem Grün­der der MLN-Tupama­ros Raul Sendic. “Das ist die Frente von Sendic”, rief Váz­quez unter großem Bei­fall den Delegierten zu. Einige der anwe­senden Tupamaros hatten da allerdings so ihre Zweifel.
Programmatischer Schliff
in der Wirtschaftspolitik
In einer fast 24stündigen Sitzung errich­tete die Frente in mehreren Arbeitsgrup­pen die Eckpfeiler ihres sozialpolitischen Programms: Einkommen, Bildungswesen, die Situation der Frauen, Gesundheit, Renten und vieles mehr – eine lange Liste. Zum Komplex internationale Politik, Verteidigung und Menschenrechte be­schloß die Frente, mit dem Foro de Saô Paulo, einem Zusammmenschluß linker lateinamerikanischer Parteien und politi­scher Organisationen, zusammenzuarbei­ten. Auslandseinsätze uruguayischer Sol­daten sollen verboten werden. In Fragen der Menschenrechte drängt die Frente darauf, das Schicksal der während der Militärdikatatur Verschwundenen zu klä­ren.
Beim Thema Wirtschaftspolitik waren vor allem die Auslandsschulden und der Mer­cosur, der gemeinsame südamerikanische Markt, heiß umstritten. Da keine Position eine Zweidrittel-Mehrheit der Delegier­tenstimmen auf sich vereinen konnte, blieb es bei den Beschlüssen, die die Frente auf ihrem Kongreß 1991 gefaßt hatte: Scharfe Kritik an der Politik des Internationalen Währungsfonds und ande­rer internationaler Finanzorganisationen sowie die Einstellung des Schulden­dienstes und ein machtvoller Zusammen­schluß aller Schuldnerländer.
Mercosur als Wahlkampfthema
Zum Mercosur hat die Frente weiterhin ein ambivalentes Verhältnis, daß inner­halb der Frente gerne mit “kritischer Un­terstützung” umschrieben wird. “Ich träume von einem Mercosur mit Lula in Brasilien, der Frente Grande in Argenti­nien und Tabaré Vazquez in Uruguay”, sagte Danilo Astori, Ökonom und mögli­cher Wirtschaftsminister, sollte die Frente die Regierung stellen. Alpträume löste der Mercosur dagegen bei zahlreichen Dele­gierten aus dem Norden Uruguays aus. Dort werden schon jetzt – eineinhalb Jahre vor dem Inkrafttreten der Vereinbarungen zum Mercosur – Arbeitsplätze durch den Billigimport von Zucker aus Brasilien vernichtet.
Der Präsidentschaftskandidat der Colora­dopartei, Julio María Sanguinetti, fährt einen noch härteren Kurs gegen den Mer­cosur als weite Teile der Frente. Der Ex-Präsident hat – im Duett mit seinem Vize­präsidentschaftskandidaten Hugo Batalla, einem Sozialisten und Ex-Frente Amplista – im Augenblick in Umfragen noch die Nase vorn. Die Frente wird in der Haupt­stadt Montevideo, in der etwa die Hälfte der Wahlberechtigten lebt, wohl einen satten Sieg einfahren. Auf dem Land sieht es jedoch anders aus. Dort werden die Wahlen wahrscheinlich entschieden, dort muß die Frente noch Überzeugungsarbeit leisten – bis zum 27. November.

Wenn es schon nicht mehr darauf ankommt

“Er war ein besonders hellsichtiger Mensch, der im Bett lebte und dachte, und er hatte so viel Hochachtung vor dem Tod, daß er ihn schon seit einiger Zeit übte,” so der spanische Schriftsteller Manuel Vicent über Onetti. Daß Onetti in den letzten Jah­ren seine Madrider Dachwohnung kaum noch verließ, es fast unmöglich war, ihn zu einem Interview zu bewegen, daß er viermal verheiratet war, viel rauchte und gerne Whisky trank, findet sich in fast je­dem der unzähligen Nachrufe, mit denen Anfang Juni die internationale Presse den alten Herrn würdigte – vor allem aber sein literarisches Werk, seine Romane und Er­zählungen, mit denen er zu einem der be­deutendsten lateinamerikanischen Autoren avancierte. Zwar ist er dem deutschen Pu­blikum weit weniger bekannt als die jün­geren “Boom”-Schriftsteller, die mit dem “magischen Realismus” den literarischen Markt eroberten, doch sagt dies mehr über die Sehnsüchte der LeserInnen nach Exo­tik aus denn über das Werk des Autors. Die erste Übersetzung erscheint hierzu­lande 1976 (“Die Werft”, Frankfurt/M. 1976), doch erst in den 80er Jahren gehen seine Bü­cher häufiger über den Laden­tisch. 1980 erhält Onetti in Spanien den “Premio Cer­vantes”, die höchste Aus­zeichnung für spanischsprachige Literatur. Auf die Fra-ge, was die Preisverleihung für ihn be­deute, sagte er lapidar “zehn Millionen Peseten”, eine Antwort, die auf distin­guierte Literaten geradezu beleidi­gend wirkte. Dabei hat er es oft wieder­holt: Es liege ihm nichts daran, Schrift­steller zu sein, nur das Schreiben sei ihm wichtig .
Santa María – das Universum
So gut wie alles, was Onetti geschrieben hat, ist von geradezu niederschmetternder Trostlosigkeit, und es ist fast unmöglich, zwei seiner Romane hintereinander zu le­sen, ohne dem Alkohol oder zumindest in tiefe Melancholie zu verfallen – “Unsere Ver­gangenheit mochte schmutzig, viel­leicht unumgänglich gewesen sein. Aber die Gegenwart war, wie gewöhnlich, schlimmer”.
Seine Themen: Santa María, die erfundene Stadt irgendwo zwischen Buenos Aires und Montevideo, und immer wieder Santa María. Mittelmäßigkeit, Dekadenz, Verlo­genheit, Langeweile, zerrüttete Ehen, die alltägliche Korruption, gestrandete Exi­stenzen. Dieselben Figuren tauchen auf, die gleichen Straßen und Plätze – die inter-textuellen Verweise stricken die sanmaria-nische Welt immer dichter. Doch ist auch Santa María eine Illusion, ein Para­dies der Abgründe. In “Lassen wir den Wind spre­chen” (Franfurt/M. 1986; “Dejemos hablar al viento”, Barcelona 1979) klärt der eine den anderen darüber auf, daß Santa María und all seine Bewohner die Erfindung ei-nes Dritten sind: “Das steht geschrieben, weiter nichts. Es gibt keine Beweise”. Der andere kehrt aber doch nach Santa María zurück und erfährt, daß auch der Dritte, der Stadtgründer, nur eine Romanfigur ist. Der ihm dies eröffnet, mißt die Zeit in Sei-ten. “Oh, alte Ge­schichte. Wir waren eine Zeitlang in einem Haus in den Dünen. Seltsamer Typ. Das liegt viele Seiten zu-rück. Hunderte.” Durch solche literar-is­chen Tricks gelingt es Onetti, den Rea-lismus als Fiktion zu entlarven, ohne ihn als erzählerisches Prinzip aufzugeben. Am Ende von “Lassen wir den Wind spre-chen” steht die Zerstörung Santa Marías durch ein Feuer, das, vom Wind ange-facht, die ganze Stadt erfaßt. Erstaunlich-erweise läßt Onetti sie in seinem letzten Roman wieder auferste­hen, mit einer klei-nen orthographischen Variante: Santa-maría. “Cuando ya no importe” (Wenn es schon nicht mehr darauf ankommt) er-scheint 1993, eine Art Tagebuch, in dem der Erzähler gesteht: “Ich sah, daß die To-talität fast aller Dinge auf Santamaría und die Ereignisse dort zu­rückgeht. Und daß, geheimnisvollerweise und ohne große Lust, es einzugestehen, das einzige, woran mir wirklich liegt, diese Stadt ist, dieser Ort, dieses Provinz­nest”. Gleich auf der ersten Seite kom­mentiert der Erzähler als Alter Ego des Autors auch ein viel-gelob­tes literaturtheoretisches Stecken-pferd: “… dieser Witz, den die Rechten für uni­ver­sell halten, des­sen Anhänger sie gut zu be­zahlen wissen und den sie Post-moderne getauft haben”.
Autor, Portier und Kellner
Seine erste Erzählung veröffentlicht Juan Carlos Onetti 1932 in der Tageszeitung “La Prensa” in Buenos Aires, wo er da­mals lebte. Wieder in Montevideo, über­nimmt er 1939 einen Redaktionsposten in der neugegründeten Wochenzeitschrift “Marcha”. Zuvor arbeitet er als Portier, Kellner und Verkäufer, später dann bei der Nachrichtenagentur Reuter und schließlich als Direktor der städtischen Bi-bliotheken in Montevideo. Kurz nach dem Militärputsch in Uruguay wandert er für einige Monate ins Gefängnis: er hatte ei-ner Jury angehört, die eine – in den Augen der Militärs verwerfliche – Erzählung prä-mierte. Ab 1974 lebt Onetti in Madrid, seit 1982 in seinem Bett, überzeugt, daß “draußen” sowieso nichts passiere, was der Aufmerksamkeit wert wäre. Und San-ta María? Im letzten Jahr noch einmal auf-erstanden, auch “wenn es schon nicht mehr darauf ankommt”. Für Dich, viel­leicht, Onetti. Ich jedoch gehe zum Regal, schlage das Buch noch einmal auf und da ist sie wieder – die Stadt Santa María. Vielleicht kommt es eben doch darauf an.

Drei zu Zwei

Am 24. April wurde Armando Calderón Sol von der ultrarechten ARENA-Partei in einer Stichwahl ge­gen den Oppositions­kandidaten Rubén Za­mora zum neuen Präsidenten El Salvadors gewählt. Es hatte zwar ge­ringe Verbesse­rungen des Wahl­ablaufs im Vergleich zum ersten Urnen­gang am 20. März ge­geben. Doch nach wie vor waren Hundert­tausende ohne Wahlaus­weis. Das Ergebnis war aller­dings eindeutig: Calderón Sol hatte 68 Prozent, Zamora le­diglich 32 Prozent der Stimmen erhalten. Bereits wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale gratu­lierte Rubén Zamora dem ARENA-Kan­didaten zu seinem Wahlsieg.

Die Vorgeschichte des Streits

Joaquín Villalobos hatte bereits im letzten Sommer die Nominierung des Vorsitzen­den der “Sozialchristlichen Volksbewe­gung” (MPSC), Rubén Za­mora, zum ge­meinsamen Präsident­schaftkandidaten kri­tisiert. Da die MPSC in den 80er Jahren mit der FMLN verbündet war, sei Zamora als Linker verschrien. Da es aber in erster Linie darum gehe, ARENA von der Re­gierung abzulösen, solle die FMLN Abra­ham Rodriguez von der Christde­mokra­tischen Partei (PDC) unterstüt­zen. Nach­dem dieser in den PDC-in­ternen Vor­wah­len jedoch dem PDC-Vorsitzen­den Fidel Chávez Mena un­terlegen war, hatte Villa­lobos keine Alternative mehr anzubieten. Denn Chávez Mena lehnte ein Bündnis mit der ehemaligen Guerilla ab. Das ERP (seit 1992 mit dem neuem Na­men Aus­druck der Volkserneuerung) und die RN (Nationaler Widerstand), un­terlagen dann in der Kandidatenfrage den anderen drei Parteien: FPL (Volksbefreiungskräfte), PCS (Kommunistische Partei) und PRTC (Zentralamerikanische Arbeiterpartei) stimmten für Zamora. Immerhin wurde mit Francisco Lima ein Vizepräsident­schaft­skandidat gekürt, der bis dahin noch nichts mit der linken Opposition zu tun hatte.
Doch die Spaltung in zwei Lager war of­fensichtlich geworden. ERP und RN hat­ten sich in den letzten Jahren im­mer deut­licher von ihren ursprüngli­chen sozialisti­schen Zielen entfernt und forderten für die FMLN eine sozialdemokratische Orientie­rung. Die anderen drei Organisationen woll­ten am Sozialismus zumindest als Fernziel festhalten. ERP und RN fühlten sich benachteiligt, da ihre Position bei eini­gen Entscheidungen in den obersten FMLN-Gremien, die alle paritätisch be­setzt sind, mit drei zu zwei Stimmen über­stimmt wurden.
Bereits in der Wahlnacht des 24. April wurde deutlich, daß die FMLN-Einheit der letzten Monate vor allem dem Wahl­kampf geschuldet war. ERP-Chef Joaquín Villalobos forderte in einer Pressekonfe­renz, daß die FMLN sich jetzt in die poli­tische Mitte bewegen müsse. Außerdem ließ die ERP durch­sickern, daß keine Chancen hatte, die Wahlen zu gewinnen. Klar war, daß ERP und RN sich in Zukunft nicht mehr den Mehrheitsverhältnissen beu­gen wollten.

Der mißlungene Parlamentsboykott

Nachdem ARENA in der letzten Sit­zung des alten Parlaments die Ge­schäftsordnung geändert hatte, um auch nach den Wahlen die Mehrheit im Par­la­ments­prä­sidium und in den Aus­schüssen zu be­halten, entschied die FMLN – wieder mit drei zu zwei Stimmen – die Präsi­di­ums­wahl für das neue Parla­ment und die Mit­arbeit in den Ausschüs­sen so­lange zu boykottieren, bis diese Rege­lung zurück­genommen würde.
Am Morgen des 1. Mai ließen sich die 21 Abgeordneten der FMLN noch feierlich im Parque Cuscatlán “vom Volk vereidi­gen”. Dort hatten sich we­niger als 1.000 Menschen zur traditio­nellen 1. Mai-De­monstration der Ge­werkschaften versam­melt. Dagoberto Gutierrez, einer der neuen Abgeord­neten, feierte in seiner Rede “die Einheit der Arbeiter und die Einheit der FMLN”.
Mittlerweile hatte ARENA erfahren, daß die Einheit der FMLN nur noch für Sonn­tagsreden taugt und verstän­digte sich mit sieben FMLN-Abgeord­neten von ERP und RN (lediglich der RN-Abgeordnete Eu­genio Chicas hielt sich an den Be­schluß der FMLN) auf einen Kuhhandel: Die sie­ben störten den feierlichen Parla­ments­auftakt nicht durch ihren Boykott und unterstützten die Wahl der ARENA-Abge­ord­neten Gloria Salguero Gross zur Parla­ments­präsidentin. Im Gegenzug un­ter­stützte die ARENA-Fraktion die Wahl von Ana Guadalupe Martínez zur Vize­präsiden­tin und von RN-Chef Eduardo San­cho zum Vorsitzenden des Parlaments­se­kretariats. Der Eklat war da, und Ar­man­do Calderón Sol freute sich: “Diesen 1. Mai wird die FMLN nicht so schnell vergessen.”

“Geht doch wieder in die Berge”

Es kam, was kommen mußte. Die FMLN-Mehrheit war sauer, und Scha­fik Handal von der Kommunistischen Partei, der vor eineinhalb Jahren noch einstimmig zum Koordinator der FMLN gewählt worden war, verkün­dete im Namen der ganzen Par­tei (!), daß die sieben Abgeordneten nicht mehr im Namen der FMLN sprechen dürften. Ana Guadalupe Martínez und Eduardo Sancho sollten im Parlaments­präsidium nicht länger die Interessen der FMLN repräsen­tieren. Die FMLN könne diesen Verstoß gegen die Parteibeschlüsse nicht hinnehmen.
ERP und RN hielten ihr Verhalten hinge­gen für völlig legitim und erklär­ten, “daß sie sich von der FMLN nicht vorschreiben ließen, wie sie sich im Parlament zu ver­halten hätten.”
Joaquín Villalobos heizte die Stimmung noch weiter an und meinte: “Wir sind nicht im Parlament, um uns zu schlagen oder zu beschießen. Wir wer­den unsere Gegner respektieren und wollen eine kon­struktive Opposition ausüben…Wenn je­mand das Gegenteil denkt, wäre es nur konsequent, daß er wieder in die Berge geht.” In diesem Ton ging es von beiden Seiten noch ein paar Tage weiter.
Eher peinlich für ERP und RN war je­doch das Lob, daß sie von Kirio Waldo Salgado erhielten. Waldo Sal­gado ist Leitartikler der rechtsextremen Tageszeitung “El Dia­rio de Hoy”, war lange Zeit klarer Gegner des Friedens­prozesses und gilt als einer der intel­lektuellen Köpfe der Todesschwadro­nen in El Salvador. In ei­nem Kom­mentar am 5. Mai freute er sich über den Streit in der FMLN, lobte ERP und ERP für ihre “Konversion zur So­zialdemokratie” und machte ihnen die Ab­spaltung von der FMLN schmack­haft: “Wenn die Konvertiten von ERP und RN sich vom dogmatischen Fana­tismus der Kommunisten in der Frente entfernen, könnten sie eine Macht­quote im neuen Obersten Gerichtshof (der demnächst neu gewählt wird; die Red.) erhalten und, wer weiß, vielleicht sogar in der neuen Regie­rung von Dr. Armando Calderón Sol.”
Als die FMLN-Mehrheit eine außer­ordentliche Sitzung ihres Nationalrates ein­berief, machten ERP und RN deut­lich, daß sie an dem Treffen nicht teil­nehmen wür­den. PRTC-Chef Fran­cisco Jovel warnte beide Orga­nisationen davor, der Sitzung fernzu­bleiben “Die Kriterien de­mokratischer Organisation und Funtions­weise in der FMLN müssen respektiert werden. Dies heißt, daß wie in jeder Demo­kratie alle Möglichkeiten der Konsens­fin­dung ausgeschöpft werden müssen. Ge­lingt dies nicht, muß jedoch der Wille der Mehr­heit akzeptiert werdfen.” Und Orlan­do Quinteros, frisch­gewählter Vor­sitzen­der der (Mehrheits-) Fraktion der FMLN meinte, ERP und RN wollten nicht an der Sitzung teilnhe­men, “weil sie ein­fach nicht erklären können, weshalb sie die FMLN-Ent­scheidung ab­gelehnt und sich der ARENA-Mehrheit gefügt haben.”
Zusätzlich verschärft wurde die Situa­tion, als die sieben Abgeordneten und Villalo­bos von der “Salvadorianischen Revolu­tionären Front” (FRS) als Ver­räter be­zeichnet und mit dem Tode bedroht wur­den. Die FRS hatte sich im Herbst 1992 erstmals öffentlich gemeldet und das Ver­halten der FMLN-Spitze im Friedenspro­zeß ver­urteilt. Zusammensetzung und Stärke der FRS sind nicht im Detail be­kannt. Angeblich besteht sie aus einigen (ehe­maligen) FMLN-Combatientes. Sie ver­fügt aber auf jeden Fall nicht über einen größeren Rückhalt.
Wie angekündigt erschienen die Vertrete­rInnen nicht zu der außerordentlichen Sit­zung des FMLN-Nationalrats am 9. Mai. In einem Brief an FPL, PCS und PRTC begründeten sie die Politi­schen Kommis­sionen von ERP und RN ihren Schritt da­mit, daß sie an der Ent­scheidung, die Sit­zung einzuberufen, nicht beteilgt gewesen seien. Den sieben Abgeordneten und Joaquín Villalobos (der nicht für das Par­lament kandidiert hatte) wurde nun of­fiziell verboten, im Namen der FMLN auf­zutreten. RN-Chef Eduardo Sancho meinte daraufhin in einer Pressekon­ferenz am Tag nach der Nationalrats­sitzung, “FPL, PCS und PRTC sind noch keine de­mo­kratischen Organisatio­nen.” Außer­dem wür­den ERP und RN “keinerlei Be­schlüs­se des Nationalrats mehr akzeptie­ren.” Die Spal­tung schien perfekt.
Zusätzlich meldete nun die Tendencia Democrática (TD) ihr Interesse an, in die FMLN aufgenommen zu werden. Die TD ist eine Gruppe enttäuschter ERP-Mitglie­der, die sich gegen den sozialdemokrati­schen Kurs und den autoritären Führungs­stil der ERP-Spitze wenden. Einige Mit­glieder dieser Gruppe, die ihren Rückhalt vor allem in der (ehemaligen) ERP-Basis in Usulután, San Miguel und Morazán hat, wurden im letzten Jahr aus dem ERP aus­geschlossen. Viele haben ihr jedoch frei­willig den Rücken gekehrt.

Kein Ausweg in Sicht

Erst langsam schienen alle am Streit Be­teiligten langsam zu bemerken, daß sie nur der Rechten in die Hände spielten. Schadensbegrenzung war angesagt. In der Öffentlichkeit wurde wieder freundlicher miteinander umgegangen und versucht, die Auf­merksamkeit auf andere Themen zu lenken. Die Wogen sind vorüberge­hend wie­der geglättet, doch eine Lö­sung des ei­gentlichen Problems ist nicht in Sicht. Klar ist zunächst ledig­lich, daß die FMLN so wie bisher nicht mehr bestehen bleiben kann. Das historische Projekt der FMLN ist ver­braucht, eine Neudefinition des Ver­hältnisses zwischen den fünf Mit­gliedsorganisationen notwendig.
Bislang ist es auch deshalb noch nicht zur Spaltung gekommen, weil keine Organi­sation auf den Namen der FMLN ver­zichten will. Wer ausschert, hat keinen Anspruch mehr auf den Namen und würde in der Öffentlichkeit als Spalter gelten. Au­ßerdem besitzt nur die FMLN, nicht aber die einzel­nen Mitgliedsorganisatio­nen, einen le­galen Status.
Eine Reorganisierung der FMLN könnte ein der Frente Amplio in Uru­guay ähnli­ches Bündnis ergeben. Alle Mitgliedspar­teien und Organisationen hätten ihre ei­gene politische und ideologische Identität, der Zusam­menschluß würde vor allem für Wahlen gelten. Doch auch in Uruguay ist das Projekt nicht einfach aufrechtzuerhal­ten. In El Salvador wäre Vorbedingung, daß die fünf FMLN-Organisationen in Freund­schaft aus­einandergehen. Doch daß dies gelingt, ist nicht sicher.
Momentan scheint es so, daß die ‘Dreier-Gruppe’ – die aber in sich wesentlich un­terschiedlicher als ERP und RN ist – mehr Interesse an der Aufrechterhaltung der Einheit hat und entgegen aller Unter­schiede weiter an einem gemeinsamen Pro­jekt der Lin­ken festhalten will.
ERP und RN scheinen das gemein­same Pro­jekt eher aufgeben zu wollen. Das ist verständlich, wenn man be­denkt, daß sie mit ihren Positionen oft unterliegen. Au­ßerdem wird es ihnen dann leichter fallen, in die Sozialisti­sche Internationale aufge­nommen zu werden. Nachdem die sozialdemokra­tische MNR bei den Parla­mentswahlen unter einem Prozent blieb, ist noch nicht einmal sicher, daß sie ihren le­galen Parteistatus behalten wird. So oder so muß sich die Sozialistische Internatio­nale neue BündnispartnerIn­nen in El Sal­vador suchen. Am liebsten hätte sie wohl alle drei Parteien – egal ob als Bündnis oder in Form einer neuen Partei.
Vor al­lem Joaquín Villalobos will raus aus der FMLN. Seine eigene Partei hat er nach dem Ausschluß einiger KritikerInnen fest im Griff. Doch er verträgt nicht, daß er in der gesamten FMLN nicht die “Nummer 1” ist. Es wäre gut möglich, daß er als ge­läuterter Sozialdemo­krat bei den näch­sten Wahlen in drei (Parlament) und fünf Jah­ren (Präsidentschaft) mit der PDC ge­meinsame Sache macht und mit einem Bündnis der Mitte antritt. Bereits seit letztem Jahr hofiert er die Christ­demokratische Partei. Und mit Fidel Chá­vez Mena, dem mittlerweile zu­rück­ge­tre­te­nen Vorsitzenden der PDC, war er im ver­gangenen Jahr auf Europa-Rundreise, um Geld für ein gemeinsames Zeitungs­projekt zu sam­meln. Was er aus dem ehe­ma­li­gen Guerillasender “Radio Vence­remos” gemacht hat, steht im fol­genden Artikel…

Lateinamerika im Fußballfieber

Kolumbien – auf leisen Sohlen zum Titel?

Die Vorstellung mit Kolumbien zu begin­nen, rührt aus der schlichten Tatsache, daß die Kolumbianer als einzige Mannschaft die Qualifikation ungeschlagen überstan­den. Zu zwei Siegen über Peru und zwei Unentschieden gegen Paraguay gesellten sich zwei Siege gegen den Topfavoriten und Südamerikameister Argentinien. Nach dem 2:1 Heimsieg gelang den Kolumbia­nern im Rückspiel in Buenos Aires Histo­risches. Mit 5:0 wurde Argentinien die höchste Heimniederlage in seiner Ge­schichte verpaßt. Kurz nach Schlußpfiff füllten sich in Kolumbien landesweit die Straßen mit fünf Finger zeigenden, enthu­siastisch feiernden AnhängerInnen. Über­schäumende Begeisterung mit tödlichen Folgen für Dutzende. Gewalt als Begleit­erscheinung des Massenspektakels Fußball ist leider auch in Kolumbien an der Tagesordnung.
Dem hohen Stellenwert des Fußballs im allgemeinen und dieses Triumphes über Argentinien im besonderen, trug auch Prä­sident Gaviria Rechnung. Alle Spieler und der Trainer wurden mit dem höchsten Or­den des Landes dekoriert. In Kolumbien träumen viele vom Titel, auch die Fußball­fachwelt traut den Supertechnikern den Coup zu. Unbestritten der populärste und schillerndste Fußballer des Landes ist der Kapitän und Mittelfeldregisseur Carlos Alberto Valderrama. Nach einer Kniever­letzung Ende Februar bangte eine ganze Nation um seine Teilnahme. Tausende von Kerzen wurden angezündet, tausende von Gebeten gesprochen. Unerwartet schnell wurde “El Pibe” (der Kleine) wie­der fit und die Träume vom Titel erhielten mit seinem Comeback neue Nahrung.

Der Kopf Kolumbiens: “El Pibe” – “Ich liebe das Leben in seiner ganzen Buntheit”

Schon äußerlich fällt Carlos Valderrama mit seinem blonden Afro-Look aus dem Rahmen. So eigenwillig wie seine Haar­tracht, die er als Ausdruck seiner Lebens­freude beschreibt, so eigenwillig zeigt er sich auf dem Spielfeld. Der Ball als Spiel­zeug und nicht als schnöder Arbeitsgegen­stand. Dieser Spielauffassung zu Folge “streichelt” Valderrama erst ausgiebig den Ball, bevor er ihn zu einem Mitspieler weiterpaßt. All dies mit ausgefeilter Tech­nik, die den ÄsthetInnen unter den FußballanhängerInnen das Herz höher schla­gen läßt. Brillant seine Spielübersicht, die exakten Pässe, die nahezu Ausgang jedes Angriffes seiner Mannschaft sind. Als Kopf von seinen Mitspielern unum­schränkt anerkannt, wird er als Anspiel­station permanent gesucht und meist auch gefunden. Zumindest so lange die Kondi­tion von “El Pibe” reicht. Laufen war vor allem zu Beginn seiner Karriere nicht sein Ding. “Ich bin keiner, der anderen hinter­herrennt. Ich muß das Spiel machen und Tore schießen, sonst nichts.” Im reifen Alter von knapp 33 Jahren hat er sich scheints doch noch besonnen. Bei der “Copa America” (Südamerika­meister­schaft) im letzten Jahr zeigte er neben den ge­wohnten techni­schen Kabinettstückchen auch unge­wohnten kämpferischen Einsatz. Der dem Nationaltrainer Francisco Matu­rana vor Jahren zugeschriebene Satz: “Ein Län­der­spiel ohne Carlos ist wie ein Tag ohne Sonne”, gewinnt so gesehen zusätz­liche Berechtigung. Die Wertschätzung ist in­des nicht auf Kolumbien beschränkt. Sowohl 1987, als Valderrama bei der “Copa America” erstmals international in Erscheinung trat, als auch 1993 wurde er zum südamerikanischen Fußballer des Jah­res gewählt.

Europäische Effizienz und lateinamerikanisches Genie

In Europa gehen die Meinungen bezüglich Valderrama auseinander. Bei den deut­schen Fans ist er durch seine Schauspiel­einlage im WM-Spiel 1990 gegen die deutsche Elf unrühmlich in Erinnerung geblieben. Mehrere Minuten lang spielte er den “toten Mann”, ließ sich mit der Bahre vom Platz tragen, um Sekunden später, wie von Geisterhand genesen, wie­der quicklebendig auf dem Platz aufzutau­chen und zu allem Überfluß mit einem genialen Paß das kolumbianische Aus­gleichstor vorzubereiten.
Als erster Kolumbianer suchte Valder­rama 1988 das lukrative Legionärsdasein in Europa. Seine Leistungen während der drei Jahre im französischen Montpellier und dem halbjährigen Aufenthalt im spa­nischen Valladolid waren aber eher durchwachsen. Seine lateinamerikanische Spielauffassung vertrug sich nicht recht mit europäischem Effizienzdenken. Rich­tig glänzen konnte Valderrama nur bei seinen Auftritten im Nationaltrikot. Folg­lich kehrte er 1992 nach Kolumbien zu­rück. Seit 93 spielt er nun in Barranquila, unweit entfernt von seiner Geburtsstadt Santa Marta an der kolumbianischen Ka­ribikküste. Mit dem dortigen Klub Atlé­tico Junior wurde er erstmals in seiner Laufbahn kolumbianischer Meister. Viel­leicht doch von europäischem Effizienz­denken beeinflußt oder etwa nur ein Aspekt des Lebens in seiner ganzen Bunt­heit?

Mexiko – Heimvorteil im Gringoland

An der Qualifikation zur letzten WM durfte Mexiko nicht teilnehmen. Der Grund: Bei einer Junioren-WM hatte Me­xiko diverse ältere Spieler mit getunten Pässen eingesetzt. Nachdem die Verfeh­lung ruchbar wurde, folgte die empfindli­che Strafe durch den Weltfußballverband (FIFA) auf dem Fuß. Nach achtjähriger WM-Abstinenz war die Freude nun um so größer, daß Mexiko seiner Favoritenrolle in der Nord- und Mittelamerika-Ausschei­dung gerecht wurde und somit neben dem automatisch qualifizierten Veranstalter­land USA als einziges Land diese Region vertritt. Die Spiele der mexikanischen Mannschaft werden wohl die stimmung­vollsten der WM werden – zumindest, was die Atmosphäre auf den Rängen betrifft. Hauptspielort für Mexiko ist Washington. Die riesige mexikanische Gemeinde in den USA wird zu Tausenden in die Hauptstadt pilgern.
Zwei Niederlagen in der Qualifikation in Costa Rica und El Salvador konnte das mexikanische Team verkraften, da der Hauptkonkurrent Kanada zweimal ge­schlagen wurde. In zwölf Spielen nur acht Gegentore. Nicht zuletzt ein Verdienst des Ausnahmetorwarts Jorge Campos, der als populärster Spieler dem in Spanien spie­lenden Hugo Sanchez den Rang abgelau­fen hat.

Der komplette Spieler:Campos – “Ich liebe grelle Farben und verrückte Kleider­kombinationen”

Der jetzige US- und ehemalige mexikani­sche Nationaltrainer Bora Milutinovic hält ihn für den kompletten Spieler der letzten hundert Jahre. Einfach deshalb, weil Jorge Campos auf den zwei gegensätzlichsten Positionen, die es im Fußball gibt, zumin­dest nationale Spitzenklasse darstellt. Sowohl in der Nationalmannschaft, als auch vor allem im Verein, spielt er je nach Lage Torwart oder Mittelstürmer, mitunter gar in einem Spiel. Den Höhepunkt seiner Doppelrolle zelebrierte er 1992 bei einem Erstligaspiel. Zuerst vom Tor in den Sturm gewechselt, sorgte er für den Aus­gleich, um kurz vor Ende der Partie bei einem Elfmeter für die gegnerische Mannnschaft ins Tor zurückzukehren und mit seiner Abwehrparade das Unentschie­den zu sichern. “Das Ganze ist keine in­szenierte Show von mir. Ich kann mich einfach nicht entscheiden, ob ich nur Tore verhindern oder nur Tore schießen soll.” Aber Entscheidungen über die Aufstellung trifft im Fußball ja gemeinhin der Trainer, womit Campos aus seinem Dilemma be­freit wäre. Seinem Spieltrieb gibt Campos mit Billigung seiner Trainer auch als Tor­wart nach. Da sowohl die mexikanische Nationalmannschaft als auch seine Ver­einsmannschaft UNAM Mexiko ohne letzten Mann (Libero) spielen, bekleidet Campos diese Position ersatzweise.
Seine für einen Torhüter geringe Größe von 175 cm gleicht er mit einem enormen Sprungvermögen aus. Entwickelt hat er diese Sprungkraft nach eigenen Angaben beim Fußballspiel am Strand seiner Hei­matstadt Acapulco. Andere Berichte kol­portieren indessen, daß er seiner Tätigkeit als Hühnerfänger auf der großväterlichen Farm einen Gutteil seiner Fangtechnik und Sprungkraft verdankt.

Kleider machen Leute

Seine Position als Torwart verleiht ihm alle Freiheiten bei der Kleiderwahl. Haben Feldspieler ob des einheitlichen Trikots nur geringen Spielraum, mit ihrer Kluft auf sich aufmerksam zu machen, so sind der Phantasie des Torhüters keine Gren­zen gesetzt. Kein Torhüter nützt dies so weidlich aus, wie Jorge Campos. “Das meiste Geld gebe ich für meine ausgefal­lenen Torhüterausrüstungen aus, ich liebe grelle Farben und verrückte Kleiderkom­binationen.” Wenn er auch verrückte Kleiderkombinationen bevorzugt, verrückt ist er keineswegs, sondern mit einer guten Portion Realitätssinn ausgestattet. Nach Europa will er auf keinen Fall wechseln. Er befürchtet wohl zu Recht, daß er mit seinem Stil im nüchternen Europa nicht ankommen würde.

Bolivien – Höhenflug in dünner Andenluft

Bolivien hatte nun wahrlich bei der Pro­gnose der WM-Teilnehmer niemand auf der Rechnung. Während ihrer zweier WM-Teilnahmen 1930 und 1950 gelang ihnen weder Punkt noch Tor. Einer der “Fußballzwerge” schlechthin. Die Fuß­ballgrößen Brasilien und Uruguay galten vor Beginn der Qualifikation als haushohe Favoriten, Ecuador als Außenseiter und Bolivien als Punktelieferant. Aber es kam ganz anders. Seine Heimspiele trägt Boli­vien auf 3800m Höhe in La Paz aus. Folglich geht den gegnerischen Mann­schaften in La Paz im wahrsten Sinne des Wortes gegen Ende des Spiels die Luft aus. Dies ist nicht neu, doch noch nie schlug Bolivien soviel Kapital daraus wie diesmal. Brasilien mußte in den letzen drei Minuten zwei Gegentore hinnehmen und verlor 0:2. Uruguay bekam in den letzten zehn Minuten gar drei Eier ins Nest gelegt und verlor 1:3. Daß Bolivien in Brasilien mit 0:6 unter die Räder kam, konnte verschmerzt werden. Der zweite Platz hinter Brasilien blieb dank der impo­santen Heimbilanz gewahrt. Die erste WM-Teilnahme seit 44 Jahren war ge­schafft. Der Verkehr brach zusammen. Nicht nur in La Paz, auch in den Exil­gemeinden Washington-Georgetown, Bu­enos Aires, Santiago und Lima.
Sechs aktuelle Nationalspieler entstam­men der berühmten Academia Tahuichi Aguilera (Fußballnachwuchsschule) in Santa Cruz, die 1978 vom jetzigen Staats­sekretär für Sport Rolando Aguilera ge­gründet wurde. Auch der Stürmerstar Marco Antonio Etcheverry erlernte dort sein fußballerisches Rüstzeug.

“El diabolo”: Ein teuflischer Dribbler

Seine Ausbildung an der Tahuichi-Aka­demie verdankt Marco Etcheverry der Antidrogen-Organisation “Seamos”. “Sea­mos” kam für den Monatsbeitrag von 16 DM auf, da dieser die finanziellen Mög­lichkeiten seiner Eltern überstieg. Mit 17 Jahren unterschrieb “El diabolo” (der Teufel) seinen ersten Profivertrag bei Bo­livar La Paz. Mit 21 Jahren feierte er 1991 sein Debüt in der Nationalmannschaft. Im gleichen Jahr glänzte er mit spektakulären Dribblings bei der “Copa America” (Südamerikameisterschaft) so sehr, daß er ins All-Star-Team der besten 11 Spieler des Turniers gewählt wurde. Der Weg ins lukrative Europa war geebnet. Der spani­sche Erstligist Albacete sicherte sich flugs die Dienste des umworbenen Stürmers. Doch alles Geld konnte das überhand­nehmende Heimweh nicht kompensieren. Etcheverry wurde mehr in Kneipen als auf dem Trainigsplatz gesehen. Nach einem halben Jahr brach “El diabolo” seine Zelte im europäischen “Paradies” wieder ab, um nach La Paz zu seinem Stammverein Bo­livar zurückzukehren. Die in Bolivien für einen Fußballprofi kärglichen Verdienst­möglichkeiten von im Schnitt 1700 DM, ließen ihn aber nach einem Jahr das chile­nische “Exil” bei Colo Colo Santiago su­chen. Mit diesem Club wurde er 1993 auf Anhieb Meister, wenngleich eine schwere Knieverletzung im November sein Mit­wirken in der Schlußphase der Meister­schaft verhinderte. Bei der WM soll er aber wieder fit sein und kann somit im Er­öffnungsspiel dem deutschen Team die Hölle heiß machen.

Argentinien

Bei den letzten zwei Weltmeisterschaften jeweils Endspielgegner der deutschen Mannschaft, war der Weltmeister von 1978 und 1986 und amtierende Südamerika­meister (1993) natürlich Top­favorit in seiner Gruppe. Doch Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Das unterentwickelte Kolumbien könne in Ar­gentinien doch gar nicht gewinnen, soll Diego Maradona vor dem Rückspiel in Buenos Aires geäußert haben. Mit dem schon erwähnten 5:0 Sensationssieg gaben die Kolumbianer auf dem Spielfeld eine deutliche Antwort. Das ruhmreiche Ar­gentinien mußte so eine interkontinentale Zusatzqualifikation gegen Australien be­streiten, um das Ticket für die USA zu er­halten. Mit diesen beiden Spielen kehrte auch Argentiniens bester Fußballer aller Zeiten, Diego Armando Maradona nach dreijähriger Abstinenz wieder ins Natio­nalteam zurück. Trotz mangelhafter Fit­ness trug Maradona mit seiner Vorlage zum 1:1 in Australien und beim knappen 1:0 in Buenos Aires mit seinem Mythos entscheidend zur Qualifikation bei. Wenn auch im Moment ohne Verein und von seiner Höchstform weit entfernt, hofft Ar­gentinien, daß Maradona auch bei der WM mit Genieblitzen die Mannschaft führen und inspirieren kann.

“Dieguito”: “Fußballgott” und “Kokain­sünder” – der Mythos Maradona

Neben dem Brasilianer Pelé gilt er als weltbester Spieler aller Zeiten. Schlag­zeilen produziert er im Privatleben ebenso ausgiebig wie auf dem Spielfeld. Seine Größe als Fußballer ist ebenso unumstrit­ten, wie seine Persönlichkeit umstritten. Politisch zeichnet sich Maradona durch wechselnde Positionen aus. Einst Verehrer von Menem, schenkte er als Zeichen sei­ner Wertschätzung unlängst dem máximo líder Fidel Castro sein Trikot. Bei den kürzlichen Kommunalwahlen in Argenti­nien sprach er sich für das Mitte-Links­Bündnis Frente Grande aus.

Teures Wunderkind

Seine von zahlreichen Rekorden und Er­folgen gekrönte Profikarriere begann Diego Armando Maradona schon zehn Tage vor seinem 16. Geburtstag als Ein­wechselspieler der Argentinos Juniors Bu­enos Aires. Vier Monate später feierte das Supertalent als jüngster Nationalspieler des Landes aller Zeiten seinen Einstand in der Nationalmannschaft. Mit 21 Jahren wechselte er für die damalige Rekordablö­sesumme von ca. 20 Millionen DM zum spanischen Club FC Barcelona; 1984, mit 23 Jahren, für die neue Rekordablöse­summe von ca. 24 Millionen DM an den Vesuv zum SSC Neapel. Größere sportli­che Erfolge hatte “Dieguito” bis dato überhaupt noch nicht errungen. Allein sein Ruf als weltbester Fußballspieler ließ die Ablösesumme in ungeahnte Höhen schnellen. Mit der Zeit in Neapel (84 bis 91) ist der Aufstieg zum verehrten “Fußballgott” wie auch der Fall zum “Kokainsünder” verbunden.

Eine Stadt und ihr Spieler – die Symbiose

Schon zu seiner Vorstellung pilgerten 80.000 ZuschauerInnen ins Stadion San Paolo. Maradona, einer, der den Aufstieg geschafft hat, als Symbol der Hoffnung für die Armen. “Bienvenuti a Italia” – so wurde das Afrika zugeordnete Neapel in Genua oder Mailand hämisch empfangen. Maradona als Symbol eines neuen Selbst­bewußtseins gegenüber den reichen Städ­ten des Nordens.
Maradona gab die Sympathien, die ihm in Neapel entgegenschlugen, zurück. Auf dem Spielfeld ließ er mit seinen Tricks Alltagssorgen verblassen. Privat lud er des öfteren Kinder für ein Wochenende in seine Prunkvilla ein. Wenn überhaupt, dann wurde in Argentinien der Gewinn der Weltmeisterschaft 1986 enthusiasti­scher gefeiert als in Neapel. Auch Neapel war Weltmeister geworden, schließlich war es ihr “Dieguito”, der als überragen­der Spieler dem Turnier seinen Stempel aufgedrückt hatte. Unsterblich machte sich Maradona im Jahr darauf. Der Begriff scudetto (italienischer Meistertitel) war aus dem neapolitanischen Vokabular ent­fernt worden, schien doch ein Fluch auf ihm zu lasten oder wie anders konnte er­klärt werden, daß Neapel noch nie Meister geworden war. Maradona, der Magier, lö­ste auch diesen Fluch. Meisterschaft und Pokal in einem Jahr. Maradona war auf dem Höhepunkt seines Ruhms angekom­men. Eine ganze Stadt lag “Dieguito” zu Füßen, umarmte ihn – und hätte ihn fast erdrückt.

Maradona auf der Flucht – die Tragik

Maradona, der sich anfangs in seiner un­antastbaren, gottähnlichen Rolle gefiel, wurde es zuviel. “Ich fühle mich wie ein Gefangener” äußerte er 1989. Er wollte weg, obwohl der sportliche Erfolg immer noch gegeben war. 1990 wurde die Mei­sterschaft ein zweites Mal errungen. Maradona gehen lassen, Neapel ohne Gott und Hoffnung? Wie sollte ein Präsident das verantworten? Maradona im Käfig. Im Februar 91 wurde Maradona mit ersten Drogenvorwürfen konfrontiert. Im März wurde es amtlich. Nach einem Ligaspiel wurde ihm der Kokaingenuß nachgewie­sen. Er habe zu den Drogen gegriffen, um dem Rummel um seine Person zu entflie­hen. Er floh weiter. Zunächst vor der ita­lienischen Justiz nach Argentinien. Dort wiederum in die Drogen. Nach seiner Festnahme wegen Drogenbesitz bewahrte ihn nur sein Name und die Bereitschaft, sich einer Entziehungskur zu unterziehen, vor einer Haftstrafe. Seine Karriere schien beendet.
Nach Ablauf seiner 15monatigen Spiel­sperre wegen Dopings wollte er seine Kar­riere bei Boca Juniors Buenos Aires fort­setzen. Neapel gab seinen Sohn preis – für 11,3 Millionen DM. Nie war er so billig und dennoch für Boca zu teuer. So hieß der glückliche Erwerber Sevilla. Mit Ma­radona setzte ein Zuschauerboom ein. Der Mythos Maradona hatte an Zugkraft nichts eingebüßt. Glücklich wurde Diego in Sevilla jedoch nicht. Die Eskapaden häuften sich. Im Sommer 93 hatte Mara­dona sein Ziel erreicht. Er wurde entlassen und kehrte nach Argentinien zurück. Sein neuer Club hieß Newell’s Old Boys aus Rosario – bis zum 1. Februar. “Maradonas Vertrag mit unserem Klub ist beendet, weil Diego psychisch nicht in der Lage ist, mit Anstand und Würde in einer ihm ge­mäßen Art zu spielen.” Mit diesen Worten beendete der Vereinspräsident die Zu­sammenarbeit mit dem enfant terrible. Die WM ist Maradonas neuer Fluchtpunkt. “Die Argentinier können beruhigt sein. Ich werde bei der WM dabei sein und in den USA wie um mein Leben spielen” ließ er kurz nach seiner Entlassung verlauten. Wohin sein Weg oder seine Flucht danach führen wird, ist noch offen. Der Mythos lebt weiter. Nur so ist zu erklären, daß dem bald 34jährigen Maradona auch für die Zeit nach der WM schon wieder An­gebote vorliegen. Darunter eins vom SSC Neapel.

Brasilien

Brasilien ist das einzige Land der Welt, das an allen 14 Weltmeisterschaften teil­genommen hat. Brasilien ist das einzige Land, das auf einem fremden Kontinent Weltmeister wurde (1958 in Schweden). Die glorreiche Zeit des dreifachen Welt­meisters liegt indessen weit zurück. Seit 24 Jahren kein Weltmeistertitel mehr. Dennoch gilt Brasilien immer noch als In­begriff für Fußballkunst und Fußballzau­ber. Wenngleich auch die Kolumbianer inzwischen als “die letzten Brasilianer” tituliert werden, gilt Brasilien wie immer als einer der Topfavoriten auf den Titel. Daran ändert auch die erstmals in einer Qualifikation erlittene Niederlage gegen Bolivien nichts. Gruppensieger wurden die Brasilianer trotzdem. Im letzten und entscheidenden Spiel gegen Uruguay be­rief der Nationaltrainer Parreira nach neunmonatiger Verbannung den Stürmer­star Romário wieder ins Aufgebot. Dieser bedankte sich mit zwei Toren. Unbestrit­ten als Torjäger, ist er innerhalb der Mannschaft ob seiner Starallüren jedoch ständiger Unruheherd.

Heirat im Strafraum: Romário: “Training ist Kalorienverschwendung”

“Ich wollte schon seit frühester Jugend immer ganz vorne spielen und Tore schie­ßen.” Romário hat sein Vorhaben ein­drucksvoll umgesetzt. Von 89 bis 91 wurde er dreimal in Folge holländischer Torschützenkönig. Auch in seiner ersten Saison beim FC Barcelona wurde er die­ses Jahr souveräner Schützenkönig. In Eu­ropa zog er als Torschützenkönig bei den Olympischen Spielen 1988 erste Auf­merksamkeit auf sich. Sein darauffolgen­der Wechsel zum Philips-Sport-Verein (PSV) Eindhoven sorgte durch die unge­wöhnliche Finanzierungsart für Schlag­zeilen. Philips hatte von der brasiliani­schen Zentralbank mit einem Abschlag Schuldentitel in Höhe von 2,8 Millionen US-Dollar aufgekauft, der Verein Romá­rios (Vasco da Gama) erhielt im Gegen­zug von der Zentralbank Cruzados zum Tageswert von 3,91 Millionen US-Dollar (siehe LN 176). Zum ersten Mal wurde so ein Fußballspieler zum Zwecke staatlicher Schuldentilgung verwendet.

Der launische Strafraumkönig

Der Strafraum ist Romários Lebensfeld. Nicht nur, daß er seine Tore fast aus­schließlich aus kurzer Distanz im selbigen erzielt, nein selbst geheiratet hat er in ihm. Zu seiner Trauung wurde eigens ein Altar auf dem Elfmeterpunkt eines Fußballplat­zes aufgebaut. Launisch zeigt er sich auch bei der Wohnungssuche in Barcelona. Nach knapp einem Jahr wohnt er immer noch in einem Luxushotel, weil er sich für kein Appartement entscheiden kann. Mal hat’s keinen Meeresblick, mal ist’s zu klein, mal ist’s zu weit vom Trainingsplatz entfernt. Ansonsten mißt er dem Training eher weniger Bedeutung bei. Training sei “Kalorienverschwendung” ließ er einmal verlauten. Dementsprechend häufig blieb er ihm fern. Tore schießen läßt sich nun­mal nicht trainieren. “Ich glaube, daß ich mit diesem Talent auf die Welt gekommen bin”, äußerte er sich zu seinen Torjäger­qualitäten. An Selbstvertrauen mangelt es Romário wirklich nicht. Dem brasiliani­schen Nationalheiligen Pelé unterstellte er kürzlich sogar in aller Öffentlichkeit “Schwachsinnigkeit” und “Museums­reife”. Seinen Stürmerkollegen in der Na­tio­nalmannschaft, Muller, kriti­sierte er hef­tig und kündigte an, daß er nicht mit ihm zusammenspielen wolle. Pelé rea­gierte gelassen: “Manchmal sagt man in Eu­ropa eine Sache und sie wird in einer anderen Art und Weise in Südame­rika be­richtet”. Er bezeichnete sich sogar als Fan Romários und erwartet ihn als einen der Super­stars bei der WM. Die Mitspieler des Torjägers reagierten gar nicht. Der Grund: Nationaltrainer Parreira verhängte ei­nen “Maulkorberlaß”. Keiner darf sich in der Öffentlichkeit negativ über den Hoff­nungsträger der Nation äußern. Vor neun Monaten noch hatte Romários For­derung nach einem Stammplatz zu sei­ner Ver­bannung geführt. Jetzt hält ganz Bra­silien in der Hoffnung still, daß Romá­rio Bra­silien zum Weltmeistertitel schießt. Wehe Romário, wenn er nicht trifft.

POONAL – vernetzte Nachrichten

Bündelung von Agenturen

Sie verstehen sich als alternative Medien, die im Gegensatz zu den herkömmlichen Agenturen aus Sicht der Bevölkerung und nicht im Sinne der Herrschenden informieren wollen. Repression, soziale Mißstände und das Aufzeigen von Alternativen stehen im Mittelpunkt der Berichterstattung. Viele stehen auch in engem Bezug zu politischen Bewegungen ihrer Heimatländer und arbeiteten auf kommunikativer Ebene für den Sturz diktatorischer Regime. Die wichtigsten unter ihnen waren früher SALPRESS aus El Salvador, die guatemaltekische Agentur CERIGUA, ANN aus Nicaragua, andere stammten aus Uruguay, Chile, Argentinien über Honduras bis hin zu “Prensa Latina” aus Kuba.

Anspruch und Realität

Zum einen sollten sich die bisher isoliert arbeitenden Agenturen gegenseitig darin unterstützen, die persönlichen Kontakte besser zu nutzen. Andererseits sollte durch die gemeinsame Herausgabe von Nachrichtenmaterial der Verbreitungsradius der einzelnen Agenturen erweitert werden. Insbesondere sollte ein Zugang zur bürgerlichen Presse gefunden werden. Zwei Agenturen wurden für ein Jahr für die Koordinierung gewählt, regelmäßige Treffen und Beitragszahlungen vereinbart. Weitere Agenturen sollten hinzugewonnen werden.
Die Ansprüche waren hoch, doch die Umsetzung war schwierig. Erstes Hindernis war die zusätzliche Arbeitsbelastung, die eine solche Koordinierung erforderte. Jede Agentur hatte mit finanziellen und personellen Engpässen zu kämpfen, und die eigene Arbeit hatte stets Priorität vor der Vernetzung. Hinzu kamen, wie leider immer und überall bei linken Projekten, ideologische Differenzen. Auch die Herausgabe eines gemeinsamen Nachrichtendienstes in Mexiko, der die großen Zeitschriften per Fax informierte, konnte nur für kurze Zeit realisiert werden. Die Initiative drohte bald wieder einzuschlafen.

Versuche von Süd-Süd-Kommunikation

Ein Rückblick auf die fortschrittliche “Dritte Welt”-Berichterstattung der letzten Jahrzehnte zeigt, daß auch andere, größere Initiativen vor ähnlichen Problemen standen. Einziges bis heute erfolgreiches Agenturenprojekt ist ips (Inter-Press-Service), das seit 1964 aus und über die “Dritte Welt” berichtet und mit seinen Nachrichtentickern eine vergleichsweise gute Verbreitung gefunden hat. Weniger effektiv war der “pool del tercer mundo”, mit dem seit Mitte der 70er Jahre eine Vielzahl von blockfreien Ländern versucht, die Vorherrschaft der multinationalen Agenturen zu brechen. Trotz weltweiter Konferenzen konnte nie die Idee eines wirklichen Pools realisiert werden. Im Kontext der UNESCO-Forderung nach einer neuen Weltkommunikationsordnung 1983 entstand die lateinamerikanische Agentur ALASEI, die neben politischen auch kulturelle Aspekte verbreiten wollte. Geldmangel ließ auch dieses Projekt nach weniger als zehn Jahren in die Bedeutungslosigkeit abrutschen.
Kleineren Agenturprojekten ist es bisher nicht gelungen, ihre Nischen zu verlassen. Das 1984 in Asien gegründete “Dritte Welt Netzwerk”, dessen lateinamerikanischer Zweig in Uruguay sitzt, verbreitet Nachrichten und Analysen sogar weltweit. Doch es gelingt nicht, kontinuierliche Präsenz zu zeigen. Die Mitarbeit der Mitgliedsmedien fluktuiert stark. Deshalb wurde inzwischen der Anspruch eines umfassenden Netzwerkes aufgegeben: “Das Ganze läuft nur, wenn einzelne die Initiative ergreifen. Dafür stellen wir die Infrastruktur zur Verfügung,” sagt Alberto Brusa, Mitarbeiter des “Dritte Welt Netzwerkes” in Uruguay. Eine ähnliche Einzelinitiative ist die Agentur “apia” in Nicaragua, die aus der österreichischen Solidaritätsbewegung hervorgegangen ist.
Die jüngste Initiative zur Vernetzung von Alternativmedien war der kontinentale Kongreß in Quito im April diesen Jahres, an dem über 60 JournalistInnen aus fast allen lateinamerikanischen Ländern teilnahmen. Schnell zeigte sich, daß trotz ähnlicher Interessen die vielen verschiedenen Medien unterschiedlicher Größe und Professionalität nur schwerlich an einem Strang ziehen können. Zwar war dieses Treffen ein neuer Schritt hin zu mehr Zusammenarbeit, doch mehr als Willensbekunddungen kamen oft nicht dabei heraus.

Basisanbindung und politische Pluralität – ein Problem?

Eine funktionierende Zusammenarbeit bringt zwar eindeutige Vorteile: weniger Vertriebskosten, höherer Verbreitungsgrad, gemeinsame Infrastruktur und schließlich eine Vielfalt von Nachrichten, die gerade für Medien und andere MultiplikatorInnen attraktiv und zugänglich sind. Doch die in der Praxis auftretenden Nachteile erweisen sich bisher als unüberwindbar: Kooperation erfordert ermüdende politische Diskussionen, insbesondere wenn die jeweiligen Medien politischen Organisationen nahestehen; Professionalität und Basisanbindung lassen sich oft nur schwer vereinbaren, Entfernungen und Kommunikationskosten wirken erschwerend. Doch dahinter steht ein wesentliches Problem jeder Vernetzung: Ein aktives Netz erfordert Initiative all seiner Teile – wenn diese nicht stattfindet, wird das Netz zu einem Konzentrationsprozeß zum Vorteil der größeren oder aktiveren Medien. So zeigt auch die bisherige Erfahrung, daß Pools selten funktionieren, während einzelne große und kleine Agenturen lange existieren können, aber kaum eine adäquate Verbreitung finden.
Es überrascht nicht, daß sich die Erfahrungen in Lateinamerika auch auf Seiten der internationalen Solidaritätsbewegung widerspiegeln. Zu der dortigen Vielfalt kommen hier noch ideologische Streitigkeiten hinzu, so daß Interessierte vor einer Unmenge von Publikationen stehen. So wichtig eine gewisse Pluralität ist, so schwer fällt es den meisten, einen Überblick über das Informationsangebot zu bekommen. Konsequenz ist eine wachsende Konkurrenz untereinander.
Ein Versuch, den Agenturen Zentralamerikas eine deutschsprachige Plattform zu geben, war Anfang der 80er Jahre der “mid” (Mittelamerika-Informationsdienst). Finanzielle Unterstützung, Kontakte und der gemeinsame Wille waren vorhanden, und wöchentlich konnten aktuelle Nachrichten aus Nicaragua, Guatemala und El Salvador gelesen werden. Doch auch das klappte nur kurze Zeit. Entscheidendes Hindernis waren die hohen Kosten für die Telex-Standleitung zwischen Managua und Frankfurt/Main. Einzig verbliebene Alternative, Originalnachrichten aus Zentralamerika zu bekommen, war über viele Jahre der “Informationsdienst El Salvador” (ides). Doch war dies ein Projekt von Teilen der bundesdeutschen Solibewegung und spiegelte deren politische Ausrichtung wider – auch wenn der ides mit lateinamerikanischen Quellen arbeitete. Darüber hinaus gingen ab Mitte der 80er einige alternative Agenturen dazu über, eigene Nachrichtendienste in deutscher Sprache herauszugeben, womit sie eine entscheidende Stütze der länderbezogenen Solidarität waren.

POONAL – Der Schritt nach Deutschland

1990 entstand die Idee, die Nachrichten der POONAL-Agenturen in einem gemeinsamen Dienst in deutscher Sprache herauszugeben. So entstand der “Wöchentliche Nachrichtendienst lateinamerikanischer Agenturen – POONAL”, der seit über zwei Jahren Nachrichten und Artikel der Mitgliedsagenturen veröffentlicht. In Mexiko wird das Material bis Freitagabend übersetzt, dann per Datenfernübertragung nach Köln geschickt, wo es journalistisch bearbeitet wird. Schließlich wird der Nachrichtendienst am Montag in Berlin gedruckt und verschickt – derzeit knapp 300 Exemplare in Deutschland, Österreich und in die Schweiz. Wichtigstes Ziel: Die Vereinzelung der Agenturen sollte aufgehoben werden und ein gemeinsamer Nachrichtendienst aus Lateinamerika durch seine Vielzahl an Themen und Ländern auch für Institutionen und etablierte Medien interessant und brauchbar werden.
Obwohl sich der POONAL-Nachrichtendienst etabliert hat, steht er in der Praxis kaum überwindbaren Problemen gegenüber. Verhältnismäßig glimpflich sieht es noch auf der Vertriebsseite aus. Die journalistische Qualität läßt zwar zu wünschen übrig, aber die Informationen stoßen auf Interesse. Auch konnten einige Institutionen und Medien als AbonnentInnen gewonnen werden, die bisher kaum Zugang zu diesen basisnahen Agenturen hatten. Dennoch bleibt das Hauptproblem bestehen: Auch POONAL hat einen begrenzten AbnehmerInnenkreis und die Präsenz in etablierten Medien ist unbedeutend.
Doch gerade da, wo es um die Koordination geht, nehmen die Schwierigkeiten existenzielle Ausmaße an. Wie oben erwähnt, liegt die Zusammenarbeit der POONAL-Agenturen in Mexiko derzeit auf Eis. Aus der lateinamerikanischen Initiative ist immer mehr eine deutsche geworden, der Vertrieb in Deutschland wurde zur treibenden Kraft. Hinzu kommt, daß viele Agenturen aus dem Exil in ihre Länder zurückgegangen sind, wodurch einige Mitglieder des Pools sich weniger beteiligen und die Kommunikation untereinander sehr spärlich geworden ist. Statt einer Zusammenarbeit findet eher Zuarbeit für ein Projekt statt, da die wenigen in Mexiko ansässigen Agenturen die Entscheidungen treffen. Nur einige Agenturen beteiligen sich, dazu unregelmäßig, daran, so es daß POONAL noch nicht gelungen ist, das Geschehen im gesamten Kontinent widerzuspiegeln.
Obwohl der hohe Anspuch nicht aufrechterhalten werden kann, hält POONAL an der Idee und daran, daß Vernetzung versucht werden muß, fest. Oft klagen gerade kleinere Medien, daß der Zugang zu alternativen Quellen sehr aufwendig ist. Die Konsequenz muß also sein, weiter aus den bisherigen Erfahrungen zu lernen.

Bezug des POONAL-Nachrichtendienstes:
Nachrichtenpool Lateinamerika e.V.
c/o FCDL
Gneisenaustr. 2
10961 Berlin
Fax: 030 / 692 65 90
Jahresbezugspreis:
110,– DM für Institutionen
75,– DM für Einzelpersonen

“Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche”

Ein Buch über “Ches Erben”, zusammengestellt aus Ländereinblicken, Interviews mit Guerilleros und biographischen Notizen, wirkt in Anbetracht der derzeitigen politischen Gesamtlage erst einmal befremdlich. Doch der erste verwunderte, aber auch interessierte Blick auf den Inhalt zerstreut die aufkommenden Befürchtungen. In den Gesprächen mit Vertretern – gibt es eigentlich keine Guerilleras? – der Guerillaorganisationen aus Guatemala, El Salvador, Nicaragua, Kolumbien und Uruguay – vermeidet der Autor Albert Sterr jegliche Beschwörung des linken Mythos von heldenhaften Guerilleros, aber auch seine Verdammung: “Die vorliegende Arbeit ist weder eine polemische Absage an den Mythos Befreiungsbewegung noch ein Wegweiser für die Suche nach einer neuen revolutionären Hoffnung für die Menschheit”(S.9). Das zweite Befremden stellt sich jedoch sogleich ein: wozu dann ein solches Buch?
Albert Sterr nennt zwei Leitfragen, zum einen die nach der “politischen Verankerung der (ehemaligen) Guerillabewegungen” und “ob sie für die Bevölkerungsmehrheiten im wirklichen Leben emanzipatorische Spielräume eröffnen” können (S.12), zum anderen, wie der Titel vermuten läßt, nach Che Guevara und seiner Vorbildfunktion (S.14). Beide Fragen werden in den Interviews kaum berührt, in den einleitenden biographischen Essays zu den einzelnen Interviewpartnern nur gestreift. Deutlich wird in der Einleitung allerdings, daß es in diesem Buch vor allem auch um einen Beitrag zur hiesigen Diskussion geht (S.21). Diesen Anspruch erfüllen die Interviews fürwahr. Sie lesen sich sehr spannend, geben einen guten historischen Einblick in die Geschichte der Linken in den jeweiligen Ländern und in die Möglichkeiten von Bewegungen im Widerstand gegen die Regierungen. Außerdem werden die Unterschiede der verschiedenen Bewegungen untereinander dargestellt, einige Tabuthemen wie interne Konflikte aufgegriffen und begangene Fehler thematisiert. Die Interviews haben für sich viel Aussagekraft. Trotzdem fehlte mir nach dem Lesen ein Schlußwort, ich fragte mich, was der Autor aus diesen Interviews nun schließt, ob er Antworten auf seine Fragen finden konnte.
Interessant ist es für die LeserInnen allemal, sich mit den Erfahrungen und Erkenntnissen der linken Bewegungen Lateinamerikas zu befassen und sich der äußeren Zwänge, die jede revolutionäre Veränderung verhindern, erneut bewußt zu werden. Denn die Erben Che Guevaras haben nicht mehr die gleiche Siegeshoffnung, die er selbst noch hatte als er schrieb: “Und wenn wir fähig wären, uns zu vereinigen, um unsere Schläge solider und genauer durchführen zu können, um Hilfe jeder Art den kämpfenden Völkern noch wirksamer leisten zu können, wie groß wäre dann die Zukunft und wie nah” (Che Guevara, “Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnams” 1967).

Feminismus -heraus aus dem Untergrund

LN: Welche Frauengruppen bereiten das VI. Frauentreffen vor und wer wird daran teilnehmen?
Mercedes Cañas: An der Vorbereitung sind verschiedene Gruppen beteiligt, in erster Linie die “Concertación (Zusammenschluss) für Frieden, Würde und Gleichheit”. Die “Concertación” wurde 1990 von Frauen aus EI Salvador gegründet, die an dem V. Treffen in Argentinien teilgenommen hatten. Wir suchten eine Alternative zu der herkömmlichen Frauenpolitik, die immer der Parteilinie und den Klasseninteressen untergeordnet war. Dagegen sind frauenspezifische Forderungen Schwerpunkt unserer Politik.
Wir möchten, daß die Frauen, die an dem Treffen teilnehmen, sich mit der feministischen Bewegung auseinandersetzen, sich gegen jede Form der Frauendiskriminierung und des Rassismus wenden und die Teilnahme am Treffen als Teil ihres Kampfes begreifen. Sie sollten die zentralen Ansichten der Feministinnen teilen.

Wenn nur Frauengruppen teilnehmen, die sich als feministisch begreifen,
schließt das nicht viele Frauen aus? Es nehmen keine Gruppen oder Organisationen teil. Bei einem feministischen Treffen ist die Teilnahme individuell. Jede Frau übernimmt für sich selbst die Verantwortung. Für den Feminismus einzutreten, heißt, sich ganz persönlich einzulassen.
Wir haben alle Frauengruppen angesprochen, auch solche, die sich nicht feministisch begreifen, denn in jeder gibt es Feministinnen, Natürlich wissen wir, daß viele Frauen sich noch nicht darüber klar sind, was Feminismus bedeutet; einige Frauen fühlen sich auch nicht als Feministinnen, und trotzdem nähern sie sich jeden Tag mehr an. Wir wollen, daß diese Frauen am Treffen teilnehmen.

Es gibt Kritik an der Organisation, zum Beispiel wegen der Teilnehmerinnenbegrenzung.
Wir bereiten ein Treffen für 1000 Frauen vor. Unsere Vorbereitungsgruppe der Frauen aus Zentralamerika hat sich für diese Teilnahmebegrenzung entschlossen, weil wir wollen, daß das Treffen effektiv verläuft.
In Argentinien kamen ungefähr 2500 Frauen; hinterher hieß es “Das Treffen des Nichttreffens” (siehe auch LN 199). Über 600 Argentinierinnen und Ca. 200 Frauen aus Uruguay nahmen teil. Das war kein lateinamerikanisches und karibisches Frauentreffen mehr, sondern ein südamerikanisches, an dem sich einige Frauen aus anderen Ländern beteiligten. Darum haben wir entschieden, für jedes Land eine Teilnehmerinnenbegrenzung zu setzen.

Ihr nennt Euch “Zentrum für feministische Studien” (CEF). Bedeutet nicht der Begriff Feminismus an sich schon eine Provokation, auch für viele Frauen?
Die feministische Bewegung in E1 Salvador ist noch sehr jung und entsprechend klein. Es gibt erst wenige Frauen, die wissen, was Feminismus heißt. Doch je länger wir den Feminismus im Untergrund halten, um so weniger lernen die Frauen ihn kennen. Für uns ist der Feminismus eine politische Option. So wie andere sich Sozialistinnen, Sozialdemokratinnen, Christdemokratinnen oder Nationalistinnen nennen, bezeichnen wir uns als Feministinnen. Und wir haben einen konkreten Vorschlag für die Zukunft. Wir wollen eine Demokratie für alle, und wir fordern von der Gesellschaft, Pluralität und Unterschiedlichkeit zu respektieren.
Das CEF hat eine Reihe von Aktivitäten durchgeführt, zum Beispiel zur selbstbestimmten Mutterschaft oder zur verantwortungsvollen Vaterschaft, damit die Gesellschaft die feministische Ideologie kennenlernt. Aber es gibt immer noch viele Leute, die erschreckt reagieren, die glauben, Feminismus sei Libertinage, sei Lesbianismus. Wir wollen die Gesellschaft mit unseren Vorschlägen vertraut machen. Nur wenn sie uns zuhören, können sie erkennen, daß unsere Vielfalt Freiheit bedeutet.

Wie sieht das Verhältnis zwischen der Frauen und der feministischen Bewegung aus?
Die feministische, die Frauenbewegung insgesamt ist eine der aktivsten Strömungen in unserer Gesellschaft. Und sie zeigt einen größeren Zusammenhalt als andere Bewegungen, trotz der vielen Widersprüche, die existieren. Wir haben einen gemeinsamen Ursprung. In den Frauengruppen haben wir darum gekämpft, die wirtschaftlichen Lebensbedingungen zu verbessern. Aus diesen Gruppen ist die feministische Bewegung entstanden. Das läßt sich nicht so genau abgrenzen, dort sind die Feministinnen und dort nicht. Trotzdem sind beide Bewegungen nicht identisch. Wir Feministinnen haben spezielle Frauenforderungen, z.B. die selbstbestimmte Schwangerschaft, den Kampf gegen Vergewaltigung, gegen Sexismus. Da gibt es Differenzen und Widersprüche.
Oder die Beziehung zu den Lesben. Es gibt in dem Sinn noch keine lesbische Bewegung in E1 Salvador. Aber nach dem Frauentreffen in Nicaragua (siehe LN 215) hat sich ein lesbisches Kollektiv “media luna” (Halbmond) gegründet. Die salvadorianischen Lesben hatten bei dem fünftägigen Treffen in Nicaragua die Möglichkeit, sich mit anderen auszutauschen, sich zu identifizieren. Die Lesben sind Teil der feministischen und der Frauenbewegung. Auch wenn sie hier noch keine große Öffentlichkeit haben, und die patriarchalische Ideologie die Gesellschaft noch stark belastet. Doch es passiert etwas, was mich persönlich sehr freut. Das Lesbenkollektiv hat das zweite nationale Frauentreffen, das im Juli stattfand, mit vorbereitet und sich mit verschiedenen Aktivitäten in der Öffentlichkeit präsentiert. Wir haben begonnen, das Recht einzufordern, daß alle Frauen sich öffentlich ausdrücken können.

Wie ist Euer Verhältnis zu den linken Volksorganisationen und zur FMLN?
Ich muß vorausschicken, daß die meisten von uns aus diesem Spektrum kommen. Ich selbst war Militante in einer der FMLN Organisationen. Doch die Mehrheit der Feministinnen hat diese Gruppen verlassen. Ich bin bereits 1990 aus der FMLN ausgetreten, nach 10 Jahren Mitgliedschaft. Als Parteimitglied arbeitete ich in einer Frauengruppe mit. Als ich mehr Autonomie forderte, verweigerte die Partei mir dies. Sie wollten mir meine Schritte immer vorschreiben; das erschwerte mir die Arbeit oft. Mir wurden so Handlungsmöglichkeiten genommen, Türen verschlossen, deshalb dachte ich, es ist besser zu gehen.
Diesen Prozeß haben viele von uns durchgemacht, auch ganze Gruppen wie z.B. die “dignas” (“Mujeres por la dignidad y la vida”, Frauen für die Würde und das Leben), die sich nach schwierigen internen Auseinandersetzungen von der “resistencia nacional” (Nationaler Widerstand, eine der fünf FMLN-Organisationen) löste.
Als wir die Ergebnisse der Friedensverhandlungen lasen, fühlten wir uns hinweggefegt aus der Geschichte, unsere Situation wurde nicht berücksichtigt. Es wurden auch andere Bereiche der Gesellschaft außer acht gelassen, aber wir sind nicht irgendein Bereich, wir sind die Mehrheit der Bevölkerung. Auch im nationalen Wiederaufbauplan, den die FMLN und die Regierung vorlegte, kommen wir nicht vor. Das einzige Mal, wo wir in den Abkommen von New York erwähnt werden, ist bei der Beteiligung an der neuen “Zivilen Nationalpolizei”. Also wir sehen nicht, daß die FMLN unsere Interessen vertritt.

‘Wir sehen nicht, daß die FMLN uns vertritt’

Allerdings will ich nicht übergehen, daß immer mehr Compañeras der FMLN sich mit der Frauenbewegung identifizieren und innerhalb der Partei um ihren Platz in der Hierachie kämpfen und die Interessen der Frauen verteidigen. Zum Beispiel entstand vor gut einem Jahr die Gruppe “Melida Anaya Montes” (MAM), ein Zusammenschuß von Frauen der FPL, die innerhalb ihrer Organisation versuchen, mehr Autonomie zu erlangen und gleichzeitig hinter den Forderungen der feministischen Bewegung stehen.
Die FMLN als politische Partei weist viele Strukturen auf, die sie an anderen Organisationen kritisiert: Hierarchie, autoritäres Verhalten, die Unterordnung von Sektoren, die keine Macht besitzen, obwohl sie vielleicht sogar Mehrheiten in der Bevölkerung stellen.
Während des Krieges verpflichtete die FMLN die Frauenorganisationen, mit denen sie zusammenarbeitete, darauf, ihre Interessen und Forderungen dem revolutionären Prozeß unterzuordnen. Während der Friedensverhandlungen hieß es, nach dem Frieden, jetzt sagen einige, nach den Wahlen ’94, und so wird die Frauenfrage immer vertagt. Doch wir Frauen machen das jetzt nicht mehr mit.

‘Ohne den Krieg könnten wir uns nicht organisieren’

Eine andere Sache ist, daß in der Geschichte E1 Salvadors die FMLN ganz klar eine Alternative zu den traditionellen Bewegungen war. Es muß auch gesehen werden, was die FMLN durch den Kampf in fast 12 Jahren Krieg erreicht hat. Wir wissen, daß es ohne den Krieg keine Möglichkeit gäbe, sich frei zu organisieren. Das ist ein großer Erfolg, Ergebnis des Krieges, dem wir 75.000 Tote und über 10.000Verschwundene geopfert haben. Die Institutionen, die gegründet wurden, zum Beispiel die neue “Zivile Nationalpolizei” (PNC) sind Hoffnungen für die Demokratisierung des Landes, die Verteidigung der Menschenrechte, all das negieren wir nicht. Wir kennen den historischen Prozeß, und wir wissen, welchen Terror wir hinter uns haben.
Doch auch die FMLN hat während des Krieges ihre Macht mißbraucht und in einigen Fällen die Gewehre statt für den Aufbau der Demokratie dazu benutzt, unbequeme Leute zu liquidieren, wie Roque Dalton oder Melida Anaya Montes, aber auch in nicht so bekannten Fällen. Wenn die FMLN sich nicht wirklich verändert in ihrem Denken und ihrer täglichen Politik, könnte sich einiges wiederholen.
Trotzdem finden wir es wichtig, daß die FMLN an den Wahlen teilnimmt; das ist Teil des Demokratisierungsprozesses.Aber wir haben ein kritisches Bewußtsein entwickelt, wir fragen, was ist wirkliche Demokratie.
Das ist meine persönliche Meinung. Es gibt Compañeras, die noch immer in der FMLN sind, die daran glauben, und ich haben keinen Grund, sie zu disqualifizieren.

Letzte Meldung

Anfang Oktober hat die salvadorianische Rechte eine Hetzkampagne gegen das Frauentreffen gestartet. In der rechtsextremen Tageszeitung “Diario de hoy” wurden Anzeigen veröffentlicht, in denen behauptet wird, daß der Kongreß im Auftrag der FMLN stattfände und unmoralisch sei, weil Homosexualität thematisiert wird und und lesbische Frauen nicht von der Teilnahme am Treffen ausgeschlossen werden. Mittlerweile ist die Durchführung des Kongreß gefährdet, da der Besitzer des Tagungshotels in Costa del Sol und umliegende Gästehäuser die Verträge mit der Vorbereitungskoordination gekündigt haben.

Exil zwischen Solidarität und Bevormundung

Der Militärputsch am 11. September 1973 ist nicht nur ein für die chilenische Geschichte einschneidendes Ereignis, sondern er markiert auch den Beginn für die größte Flucht und Migrationsbewegung in Lateinamerika seit den Unabhängigkeitsbestrebungen Anfang des 19. Jahrhunderts. Schätzungen der chilenischen Menschenrechtsorganisation CODEPU (Comite de Defensa de los Derechos del Pueblo) zufolge haben in den Jahren nach dem Militärputsch insgesamt 1,6 Millionen ChilenInnen ihre Heimat verlassen, außerdem mehr als 700.000 ArgentinierInnen nach dem Staatsstreich im Jahr 1976. Schließlich folgten die Fluchtbewegungen aus Uruguay und Peru mit jeweils rund 500.000 Menschen.
Das politische Exil hat in den siebziger und achtziger Jahren die lateinamerikanischen Migrationsbewegungen bestimmt. Heute hat die Emigration dagegen ihre eindeutig politische Konnotation verloren. An die Stelle der offenen Gewaltanwendung gegenüber politisch Andersdenkenden ist die Gewalt der neoliberalen Wirtschaftspolitik getreten. Die Menschen fliehen nicht mehr primär vor dem Militärterror und den Todesschwadronen, sondern vor der wirtschaftlichen Verelendung, von der heute bis zu 40 Prozent der Bevölkerung betroffen sind.
In diesem Sinne ist eine klare Trennung in politische Flüchtlinge und die vielfach diskriminierten Armutsflüchtlinge gar nicht möglich und erweist sich als ethnozentrisches und interessengeleitetes Konstrukt.

Deutsch-chilenische Migration

Mit dem Putsch 1973 wurde Deutschland zum Einwanderungsland für exilierte ChilenInnen. Man sollte aber nicht vergessen, daß schon seit der Unabhängigkeit Chiles 1818 immer wieder große Migrationsbewegungen stattgefunden haben, allerdings in umgekehrter Richtung, von Deutschland nach Chile. Zunächst kamen durch die Anwerbung des chilenischen Staates und deutscher Handelsunternehmen zahlreiche deutsche Siedlerfamilien, die das Handwerk in den großen Städten modernisierten und vor allem die IndianerInnengebiete südlich des Flusses BioBio für die Landwirtschaft nutzbar machen sollten.
Seit der chilenischen Staatsgründung hat es fünf große Einwanderungswellen aus Deutschland gegeben: Die erste große Fluchtbewegung erfolgte nach der Revolution von 1848, die zweite nach der Verkündung der Sozialistengesetze unter Bismarck 1878; sie hielt bis Ende der 80er Jahre an. In diesem Jahrhundert löste die Wirtschaftskrise in den 20er Jahren erneut eine große Auswanderungsbewegung aus. Mit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer weiteren starken Migration nach Chile. Während das Land zunächst flüchtende NazigegnerInnen und jüdische EmigrantInnen aufnahm, tauchte hier nach dem Krieg eine große Zahl von
SS-Angehörigen und Nazigrößen unter, deren Verbindungen zu den Reichsdeutschen im Süden Chiles seit jeher sehr gut waren.

Exil in der Bundesrepublik

Mit dem Putsch vor zwanzig Jahren wurde nun also das Einwanderungsland Chile über Nacht zum Auswanderungsland. Was hätte sich da mehr angeboten, als Zuflucht in den Herkunftsländern der Vorfahren zu suchen? Doch diese schlossen nach einem ersten Ansturm von Flüchtlingen ihre Botschaften in Santiago (mit Ausnahme Spaniens, das die Einreise ohne Reisepaß und Visa ermöglichte), obwohl die Medien voll von grauenhaften Berichten über Menschenrechtsverletzungen in Chile waren und internationale Kommissionen zu folgenden Untersuchungsergebnissen kamen: “Die Praktiken der Folter und Hinrichtungen werden derart systematisch angewandt, daß sie an Völkermord grenzen, wie er von den Vereinten Nationen definiert wurde”.
Zwar beschloß das bundesdeutsche Kabinett noch im Oktober, daß den ChilenInnen unbürokratisch geholfen werden sollte, doch schließlich wurde nur die Aufnahme eines Kontingentes von 2.000 ChilenInnen zugesagt. Im Rahmen dieser Quotenregelung durften in die Bundesrepublik aber ausschließlich inhaftierte ChilenInnen einreisen, deren Prozesse bereits abgeschlossen waren und deren Haftstrafen in Landesverweise zwecks Ausreise umgewandelt werden konnten. Aber gerade die Gefangenen ohne rechtskräftiges Urteil waren der Folter und der Gefahr des ‘Verschwindens’ besonders ausgesetzt. Diesen Menschen hätte also besonders geholfen werden müssen.
In der Folge kam es zu erbitterten Kontroversen zwischen Bundesregierung und einzelnen Bundesländern, als diese ihre Zusage zur Aufnahme der Verfolgten mit den unterschiedlichsten Bedingungen verknüpften. Während das Saarland und Bayern die Aufnahme kategorisch verweigerten, stellte BadenWürttemberg folgende Forderungen: “Die Bundesregierung muß unbedingt sicherstellen, daß von der Aufnahme Angehörige extremistischer und anarchistischer Gruppen und darüberhinaus solche Personen ausgeschlossen sind, deren Ziel die Beseitigung des demokratischen Verfassungsstaates ist”.
Angesichts dieser Logik, mit der die ChilenInnen als ‘Sicherheitsrisiko’ stigmatisiert wurden, war es dann nur konsequent, daß ein Vertreter des Verfassungsschutzes aus Köln die Sonderkommission der Bundesregierung im November nach Santiago begleitete, um bei der Befragung der Verfolgten anwesend zu sein, was schon damals eine eklatante Verletzung beziehungsweise Nichtbeachtung des Artikels 16 des Grundgesetzes war. Trotz scharfer Proteste von SPD, Diakonischem Werk, Amnesty International und Chile-Komitees kam es zu den Verhören der chilenischen Flüchtlinge in Santiago, und erst nach der Zustimmung des Verfassungsschutzes wurde den ersten 23 ChilenInnen Mitte Dezember 1973 die Ausreise erlaubt.
Angesichts der breiten Debatten über das ‘Sicherheitsrisiko’ und die Übernahme der Kosten für die Aufnahme der chilenischen Flüchtlinge zeigte sich, daß je reicher ein Land ist, desto perfekter auch sein Machtapparat zur Ausgrenzung der Fremden funktioniert.

Koordinierung der Chilesolidarität

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Ineffizienz staatlicher Strukturen kam es bereits Ende 1973 zu einer Koordinierung der ChileKomitees mit Amnesty International, an der sich bereits im Mai 1974 auch die Stiftung Mitbestimmung der Gewerkschaften (heute HansBöcklerStiftung) beteiligte, um den Flüchtlingen über die Vergabe von Stipendien oder Arbeitsverträgen die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. Viele Gemeinden der Evangelischen Kirche halfen mit Notunterkünften aus, zur Überbrückung wurden Sach und Geldspenden mobilisiert, und die chilenischen Flüchtlinge wurden persönlich betreut und bei ihren Wegen zu den Ämtern begleitet.
Innerhalb weniger Monate wurde so eine effiziente Struktur für verfolgte ChilenInnen errichtet, die nicht unter die Regelungen des staatlichen Kontingentes fielen. In Einzelfällen wandte sich sogar die deutsche Botschaft mit der Bitte um Hilfe an die ChileKoordination. Neben der breit gefächerten praktischen “Integrationsarbeit” leisteten die Komitees vorrangig eine offensive Öffentlichkeitsarbeit, die die Lage in Chile sowie das Verhalten der Behörden in der Bundesrepublik thematisierte. Ohne diesen Druck, der gemeinsam von Gewerkschaften, Diakonischem Werk, Amnesty International und ChileKomitees ausgeübt wurde, und der eine positive Resonanz in den öffentlichen Medien fand, wäre es sicherlich nicht zur Aufnahme der circa 4.000 Exil-ChilenInnen gekommen, die in den folgenden Jahren Schutz in der Bundesrepublik fanden. Denn nach wie vor mahlten die Mühlen der staatlichen Aufnahmeverfahren – inzwischen in der Kompetenz des Innenministeriums- äußerst langsam.
“Während es in England oder den Niederlanden etwa sechs bis zwölf Wochen dauerte, und manche skandinavischen Staaten in dringenden Fällen innerhalb von Stunden Einreisevisa erteilten, benötigten die deutschen Behörden wegen der eingehenden Sicherheitsprüfungen häufig ein dreiviertel oder gar ein volles Jahr”.
Als Beispiel für den Erfolg der internationalen Öffentlichkeitsarbeit sei an den Fall der Gefangenen Gladys Diaz erinnert, die mehrfach gefoltert und vergewaltigt wurde und tagelang spurlos aus den Gefängnissen verschwand, sowie an die Prozesse der Holzarbeiter von Panguipulli, die für einen nicht nachgewiesenen Überfall auf eine Polizeistation Höchststrafen zu erwarten hatten. In beiden Fällen konnte die Ausreise erwirkt werden.
Im Zentrum der Aktivitäten der privaten bzw. nicht-staatlich organisierten Solidaritätsaktionen stand die Basisarbeit in Komitees und Nicht-Regierungs-Organisationen in den vielfältigsten Formen und auf verschiedensten Ebenen, weniger die Lobby-Arbeit.
Getragen von der Überzeugung einer notwendigen Solidarität mit Verfolgten und dem klaren Feindbild einer Militärdiktatur ist es nach und nach zu einer Übernahme staatlicher Aufgaben durch die Solidaritätsbewegung gekommen, die sich heute unter anderem in dem Nichtvorhandensein offizieller Daten oder einer analytischen, inhaltlich bewertenden Stellungnahme zum chilenischen Exil ausdrückt. Selbst nach ausgiebigen Recherchen war es nicht möglich, offizielle Daten über die chilenischen Flüchtlinge in Deutschland zu erhalten. Zwar gibt es eine allgemeine Bevölkerungsstatistik, die unter anderem auch die Zahl der chilenischen Bürger in Deutschland aufweist. Diese enthält jedoch weder Hinweise auf die Verhältnisse während der Ein und Ausreise, noch gibt sie Aufschluß über die Einreisegründe.
Hochrechnungen chilenischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen ergeben aber eine relativ gleiche Zahl, nämlich ca. 1600 anerkannte politische Flüchtlinge bei einer Gesamtzahl von 6000 chilenischen Staatsbürgern in der Bundesrepublik. Diese Zahl von rund 6000 Flüchtlingen ist weitgehend konstant geblieben, weil die seit 1984 verstärkt einsetzende Rückkehr von Exil-ChilenInnen durch den Zuzug von Familienangehörigen, Studenten oder Arbeitssuchenden ausgeglichen wurde.

Ende des Exils

Mit dem Plebiszit im Jahr 1988, mit dem die chilenische Bevölkerung die Beendigung der Militärregierung und die Rückkehr zu demokratischen Politikformen einleitete, war die politische Begründung des chilenischen Exils nicht mehr gegeben. Die Verteidigung der Menschenrechte muß heute nur noch in Einzelfällen vor Gerichten eingeklagt werden und nur in einigen wenigen Fällen muß die Rückkehr von Flüchtlingen, deren Militärgerichtsprozesse in Chile noch anhängig sind, weiterhin erkämpft werden. Somit kann man sagen, daß das chilenische Exil mit der Regierungsübernahme durch Präsident Aylwin im März 1990 beendet wurde. Heute gilt es, in Chile selbst die psychischen Wunden und die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Diktatur zu heilen, beziehungsweise deren menschenrechtsverletzenden Charakter anzuklagen und ihre Ursachen zu beseitigen.

Die Integration

“Das Exil wurde uns mit Gewalt aufgezwungen. Wir wurden gezwungen, unser Land zu verlassen. Es war eine nicht gewollte Erfahrung, eine ungerechte und unendliche Strafe, ohne irgendwelche rechtfertigenden Gründe. Das Exil gehört zu den gravierenden Verletzungen der Menschenrechte des Pinochetregimes”.
In dieser kurzen Aussage wird bereits der zentrale Unterschied benannt, der das Exil von jeder anderen Form der Migration unterscheidet und der das Leben der Menschen als Exilierte grundlegend charakterisiert. Es ist der Gewaltcharakter, der zur Folge hat, daß Menschen aus ihren politischen, beruflichen und familiären Zusammenhängen gerissen werden und sich gegen ihren Willen und ohne ihr Zutun, oftmals völlig unvorbereitet, in einer völlig fremden Gesellschaft wiederfinden, zu der sie keine Beziehungen haben, deren Menschen in anderen Sozialisationsmustern handeln, von denen sie sich tendenziell ausgeschlossen fühlen; die eine ihnen fremde Sprache spricht und dadurch die Herstellung von normalen Alltagsbeziehungen ungemein erschwert.
Obwohl diese Charakteristika des Exils zunächst alle gleichermaßen betrafen, gab es im Umgang mit den Problemen große Unterschiede, z.B. zwischen jüngeren und älteren Flüchtlingen: Es war erstaunlich, mit welchem Pragmatismus sich erstere in die Universitäten einschrieben, sich um Umschulungen beziehungsweise Lehrberufe bemühten und in kürzester Zeit über das notwendige Beziehungsnetz verfügten, um die Sprache zu lernen und an Gelder heranzukommen.
Frauen haben vielfach, nachdem sie sich in den ersten Jahren total auf den Zusammenhalt der Familien konzentrierten, eigenständige Entwicklungen genommen, sich stark mit den deutschen Sozialisationsmustern auseinandergesetzt und an selbständigen Beziehungen zu deutschen Freundinnen gearbeitet. Viele haben sogar Ausbildungsgänge erfolgreich abgeschlossen, während Männer sich oft, nach den ersten bestätigenden Erfahrungen als Vertreter revolutionärer Bewegungen, in ihrer traditionellen Rolle in Familie und Gesellschaft zu behaupten suchten.
Zudem hat es deutliche Unterschiede im Aufeinanderzugehen zwischen den deutschen, mehrheitlich mittelständisch geprägten Mitgliedern der Solidaritätsbewegung sowie den exilierten ChilenInnen akademisch-mittelständischer oder proletarischer Provenienz gegeben. Besonders im ersten Jahr, als hauptsächlich StudentInnen und AkademikerInnen ankamen, gab es ein unausgesprochenes Einverständnis, sich gegenseitig als gleich anzuerkennen und über die “gemeinsame Sache” zu kommunizieren. In den Folgejahren, als nach und nach immer mehr GewerkschaftsführerInnen und ArbeiterInnen flüchteten, funktionierte dies nicht mehr so bruchlos. Man achtete viel stärker auf Distanz, was für viele chilenische Familien einem zweiten Exil gleichkam, d.h. sie wurden hierdurch tendenziell auf ihre eigenen Familien oder ihre chilenischen Vertretungsorganisationen zurückgeworfen.
Quer durch alle Schichten und Untergruppen des chilenischen Exils läßt sich sagen, daß ein Hauptproblem für viele in den ersten Jahren war, überhaupt zu akzeptieren, daß das Exil möglicherweise von längerer Dauer sein würde. Denn dieses anzuerkennen bedeutet nicht nur, seinem Leben eine andere berufliche und politische Perspektive zu geben, sondern vor allen Dingen zu akzeptieren, daß es “das Modell Chile der Unidad Popular” nicht mehr geben würde. Zur Verhinderung dieses Eingeständnisses wurden alle Energien für die Kontaktpflege mit dem Widerstand in Chile mobilisiert, der Aufbau von Exilvertretungen der Parteien in der Bundesrepublik wurde vorangetrieben, und die deutschen Solidaritätsorganisationen wurden in deren Aktivitäten einbezogen. Vielfach wurden die alten parteipolitischen Rivalitäten im Exil – ohne die Sachzwänge des chilenischen Alltags – erbitterter als im Herkunftsland selbst ausgetragen.
Auch viele Deutsche aus der Solidaritätsbewegung haben sich in diese Auseinandersetzungen – oder waren es Fluchtbewegungen vor der Realität? – einspannen lassen. Es galt die Vision einer utopischen Wirklichkeit in Chile. Aber vielleicht waren dies notwendige Prozesse, um den brutalen Bruch, das Hinausgeschleudertsein aus seinem eigenen Leben, zu verkraften.

Verlust von politischer Identität

Die chilenische Migration wurde fast ausschließlich politisch begründet, das heißt die Ankommenden hatten in Chile viele Jahre ihres Lebens in kollektiven Prozessen nicht nur für einen abstrakten “Neuen Menschen” gekämpft, sondern hatten ihr individuelles Leben stark an gesellschaftliche Veränderungsprozesse geknüpft. Ihr Alltag war – neben dem Beruf und den traditionellen vielfältigen familiären Aktivitäten – geprägt von einer aktiven Suche nach alternativen gesellschaftlichen und politischen Modellen. Diese wurden in den Gewerkschaften, Stadtteilorganisationen, MütterOrganisationen, Jugendverbänden und Parteien gelebt, und zwar desto leidenschaftlicher, je stärker die Außenbedrohung durch die Rechten wurde. Hierdurch ging tendenziell der Blick für die Außenwelt immer mehr verloren, und der Bruch des Exils war um so brutaler.
Über Nacht befand man sich in der reichen deutschen Gesellschaft, die mit dem Kapitalismus identifiziert wurde und die Wurzeln des Nationalsozialismus noch immer in sich zu tragen schien. Beeinflußt von vielen USMedien, die in Chile stark das Bild von Deutschland geprägt hatten und von dem elitären, geschlossenen Charakter der deutschen Kolonie (Colonia Dignidad), gab es zunächst ein großes Mißtrauen gegenüber dieser deutschen Gesellschaft. Eine kritische Auseinandersetzung schien zudem nicht opportun, weil die ganze Kraft für die Arbeit dem Widerstand in Chile gewidmet werden sollte.
Schwierigkeiten entstanden auch aus den gegenseitigen Projektionen. Erst heute können uns Vertreter des Exils offen sagen, daß sie schon lange nicht mehr an den Widerstand in Chile geglaubt hatten, aber weil die Deutschen es so haben wollten, sie entsprechende Informationen auf großen Veranstaltungen weitergaben. Jeder hatte seine Funktion in dem Bild, das sich die 68er Generation von einer besseren Gesellschaft gemacht hatte. Die ExilchilenInnen waren greifbare Beweise dafür, daß es MärtyrerInnen und Henker gibt und daß es nur eine Frage von konsequenter Haltung und Informationsmacht ist, diese Bilder in ihrer Ungebrochenheit zu reproduzieren und zu verbreiten.
Damals hat niemand richtig durchschaut, daß der Preis hierfür der Verlust von politischer Identität, Authentizität und Entwicklungsfähigkeit sein würde. So kam es im Laufe der Zeit zu immer ritualisierteren Beziehungen, statischen Bündnissen der verschiedenen Gruppierungen mit “ihrer” Exilgruppe, zu Solidaritätsfesten mit der immer gleichen Musik von “vorher”, den chilenischen Teigtaschen “empanadas” und politischen Diskursen, die durch leere Worthülsen bestimmt waren. Wir haben uns gegenseitig gebraucht, und -oftmals unbewußt- unter dem Deckmantel der Solidarität persönliche Sehnsüchte ausgelebt. In der Idealisierung unserer Zusammengehörigkeit wurden Differenzen überspielt. Zur wirklichen Begegnung kam es auf beiden Seiten oft nicht. Trotz alledem: Diese Zusammentreffen wurden auch gebraucht! Sie waren ein Trost gegen die Individualisierungstendenzen in der deutschen Gesellschaft, die kaum eine familiäre oder politische Kultur des Zusammenseins kennt. Es hat unvergeßliche und intensive gemeinsame Erfahrungen gegeben, Freuden und Ängste, Siege und Niederlagen, Kampf mit Behörden und interkulturellen Austausch, worin alle Beteiligten eng miteinander verbunden waren.
Erst mit der Erfahrung der Notwendigkeit, einen gemeinsamen Weg des Umgangs miteinander zu finden, konnte die Grundlage der Toleranz gegenüber der anderen Kultur, politischen Haltung oder dem jeweiligen Ethnozentrismus entstehen, zum Beispiel bezüglich der Unterschiedlichkeit der Frauensolidarität dem Machismo gegenüber. In der gegenseitigen Annahme von unterschiedlichen Wertvorstellungen, der Suche nach einer gemeinsamen Ethik haben wir uns Maximen eigenen Verhaltens erarbeitet, die oftmals noch heute Orientierungshilfen darstellen, sowohl für uns hier in der interkulturellen Arbeit gegen Ausgrenzung und Rassimus als auch für manche ChilenInnen, die nach ihrer Rückkehr mit den hier erfahrenen Organisations- und Solidaritätspraktiken ihr neues Arbeits- und Lebensfeld gestalten. Diese Toleranz zuzulassen und anzuerkennen, sowie das, was einmal als total “chilenisch” oder “deutsch” empfunden und eingeordnet wurde, auf dem Hintergrund gemeinsamer Lebensgeschichte politisch neu zu bewerten, ist sicherlich eine der wichtigsten Lehren des chilenischen Exils beziehungsweise der Solidaritätsarbeit.

Sprachverlust bewirkt kulturelle Stagnation

Die große Mehrzahl der chilenischen Flüchtlinge hatte keine Deutschkenntnisse und höchstens relativ schlechte Kenntnisse anderer Fremdsprachen. Diese “Sprachlosigkeit” hatte eine totale Orientierungslosigkeit in den neuen Verhältnissen zur Folge. Es ist nicht nur das Sozialverhalten in der fremden Gesellschaft, es sind auch die sprachlichen Grenzen, die eine nur funktionale, oberflächliche Beziehung zur Umwelt ermöglichen. So verarmt schließlich das Leben selber und ist nur noch ausgerichtet auf gewohnheitsmäßiges und materielles Bewältigen von Anforderungen.
Die Deutschkurse, die nun in kürzester Zeit von den verschiedenen Sozialdiensten angeboten wurden, sollten nicht nur der Sprachvermittlung dienen, sondern auch auf die jeweilige soziale Situation der Lernenden eingehen. So gab es Gesprächskreise zu Fragen des deutschen Sozialhilferechts, zu spezifischen Frauenthemen, zu Themen der 68er Studentenbewegung etc. Die Resonanz dieser Kursangebote war jedoch relativ schwach, weil die Mehrheit der ChilenInnen mehr über ihre baldige Rückkehr und über Chile nachdenken wollte, als sich mit den Problemen des Hierseins auseinanderzusetzen.
Argumente wie: Deutsch brauche man sowieso nicht mehr nach der Rückkehr nach Chile, oder daß die Kinder in der Familie nur Spanisch lernen sollten, um die chilenische Identität nicht zu verlieren, haben sich zehn bis fünfzehn Jahre lang gehalten. Erst angesichts der baldigen Rückkehr wurde der hieraus resultierende Verlust sozialer Kompetenz deutlich. Die Sehnsucht nach einer Welt, die einerseits vergangen und mit vielen leidvollen Nachrichten verbunden ist, und deren Entwicklung einem andererseits in den vielen Jahren der Abwesenheit fremd geworden ist, hat die vitale, alltägliche Auseinandersetzung mit der deutschen Kultur und Gesellschaft verstellt. Viele ExilchilenInnen waren so, ohne sich dessen bewußt zu sein, zu AnalphabetInnen beider Kulturen geworden.

Die Rückkehr beginnt im Exil

Diese Erkenntnis war es, die das chilenische Exil bereits 1983, zehn Jahre nach seinem Beginn, zu einer breiten, in vielen Städten der Bundesrepublik organisierten RückkehrerInnenarbeit motivierte, die auf der rechtlichen, beruflichen, ökonomischen, sozialen, politischen und psychologischen Ebene gleichzeitig laufen sollte. “Wir verstehen diese Rückkehr der ChilenInnen im Kontext des Kampfes für die Menschenrechte und die Wiederherstellung der Demokratie in unserem Land. Wir sehen sie jedoch auch als persönliche Entscheidung eines jeden Einzelnen oder der jeweiligen Familie”.
Zahlreiche Veranstaltungen wurden seit 1983 zur Vorbereitung der Rückkehr durchgeführt, so Veranstaltungen über spezielle rechtliche Probleme; Informationsveranstaltungen zur aktuellen Situation in Chile und Erfahrungen von Rückkehrern in ihrem Integrationsprozeß; Informationsveranstaltungen über Eingliederungsprobleme in das Erziehungssystem und die Anerkennung von akademischen Titeln und Ausbildungs und Studiengängen.
Kontakte mit Instituten in Chile und anderen Ländern wurden aufgenommen, um die Finanzierung der Rückkehr und der ersten Zeit im Heimatland zu gewährleisten. Aber der wohl wichtigste Inhalt der RückkehrerInnenarbeit war die Begegnung mit anderen Exilierten, die kritische Auseinandersetzung mit sich selber, den eigenen Veränderungsprozessen und der Wiederbegegnung mit Chile über die Erfahrungsberichte der Besuchsreisenden in die Heimat.

Exil zwischen Solidarität und Bevormundung

Diese letzte Phase, die schon vom Abschiednehmen und der kritischen Auseinandersetzung mit der neuen neoliberalen Wirtschaftspolitik der AylwinRegierung gekennzeichnet war, hat darüber hinaus ein ganz neues Licht auf die Beziehung zwischen ChilenInnen und Deutschen geworfen. Weder das HelferInnensyndrom noch die eigene Profilierung mit Hilfe der chilenischen RevolutionärInnen standen mehr zwischen uns, so daß unsere Begegnung auch unter der Perspektive der Beziehungen der Deutschen zu den Fremden thematisiert werden konnte. Schwierigkeiten in der Verständigung, in der Zusammenarbeit, in den Beziehungen, die immer auch Ausdruck von gesellschaftlicher Akzeptanz, Einfühlung und politischer Kultur sind, wurden nunmehr unter dem Blickwinkel des deutschen Dominanzverhaltens und Ethnozentrismus gesehen.
Als VertreterInnen der deutschen Chile-Solidarität mußten wir uns mit dem eigenem Größenwahn und einem idealisierten Selbstbild konfrontieren, das auf der Überhöhung der chilenischen RevolutionärInnen beziehungsweise edlen MärtyrerInnen im Widerstand beruhte. Mit der Idealisierung eines Chilebildes löschten wir jedoch gleichzeitig jene Widersprüchlichkeit des Entwicklungsprozesses aus, mit der wir schon in unserer eigenen Gesellschaft nicht zurecht gekommen waren. Nicht die Probleme mit einem reformistischen Entwicklungsweg, nicht die Ambivalenz der Moderne, die alles Fremde degradiert und tendenziell ausmerzt, waren Inhalte unserer Zusammenarbeit, sondern der strahlende Morgen der Revolution. Es war das Fehlen einer politischen Alternative in Deutschland beziehungsweise die bescheidene Auseinandersetzung mit den realen Möglichkeiten politischer Arbeit in Deutschland, die aus dem chilenischen Exil unsere Projektionsfläche machte. Hier haben wir uns getroffen, ChilenInnen und Deutsche, um die Geschichte für einige Jahre anzuhalten.
Die Bilder, die wir uns voneinander machten, waren jedoch nur von kurzer Dauer. Die Solidarität mit Portugal, Argentinien, Uruguay sowie seit Mitte der siebziger Jahre mit Nicaragua und später El Salvador hielt immer neu in Atem, ließ unseren Blick in die Ferne schweifen und die Probleme des chilenischen Exils zum Alltag werden, bis “plötzlich” Themen wie Rassismus und vielfältige Diskriminierungen in diesen Alltag Einzug hielten.
Wir hatten uns in unserer Solidarität menschlich gleichberechtigt gefühlt, aber dies war offensichtlich einseitig gewesen. Nicht nur Behörden hatten gegängelt, sondern chilenische Identität war mit “wohlgemeintem” Integrationsdruck ausgelöscht worden. Je angepaßter die ChilenInnen lebten, desto “erfolgreicher” waren sie. Wer von uns hätte dies vor Hoyerswerda und Rostock so selbstkritisch gesehen? Wer hätte gespürt, daß wir noch immer eine Gesellschaft von ClaqueurInnen sind?
“Es bleibt ein Stachel für die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft, daß diese politischen Flüchtlinge, die nach der Verfassung bei uns Asyl genießen, sich nicht heimisch fühlen, sich nicht angenommen fühlen konnten in einer Gesellschaft, die gleichzeitig eine Entsorgung der deutschen Geschichte von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit versucht, alten Antisemitismus hochkommen ließ, Fremdenfeindlichkeit mit Parolen wie ‘Asylantenschwemme’ schürte und unter diesem publizistischen und politischen Druck zuließ, daß die Asylgesetze bei uns dramatisch verschärft wurden”.
Anstatt aus unserer Geschichte und aus dem vielfältigen Mißbrauch der Asylgesetzgebung während der Chile-Solidarität zu lernen, vermeiden wir die Auseinandersetzung damit, indem wir sie zu einem “Sicherheitsproblem unserer Gesellschaft” (so Innenminister Seiters in der Asyldebatte im Deutschen Bundestag am 25. Mai 1993) umdefinieren. Das Grundrecht auf Asyl, das von den Gründern der Bundesrepublik angesichts der Erfahrung mit dem Antisemitismus in unser Grundgesetz aufgenommen wurde, ist in den Asyldiskussionen der letzten Jahre zu einer Inszenierung deutscher Dominanzkultur verkommen. Die Festung Europa, das heißt das Schengener Abkommen und die Änderung von Artikel 16 des Grundgesetzes, richten Mauern auf, anstatt den Blick frei zu machen auf Prozesse, wie sie angesichts der chilenischen Erfahrung deutlich wurden.

Der obige Artikel erscheint in seiner vollständigen, 26 seitigen Fassung, mit ausführlichem statistischen Material und über die Arbeitsmigration in Chile in einem Reader: Ethnische Minderheiten in Deutschland – ein Handbuch. (Hg.) Berliner Institut für Vergleichende Sozialforschung, Oktober 1993, DM 42,-

Das Recht auf trial and error in einer Welt ohne Beispiele und Bezugspunkte

“Reform oder revolutionäre Theorie und Praxis in Lateinamerika und Europa” lautete der Titel eines Internationalen Kongresses, den der Verein Monimbó aus Dietzenbach/Hessen in Zusammenarbeit mit Buntstift und der Stiftung Umverteilen organisiert hatte. Ein sowohl vom Alter als auch von den Nationalitäten ziemlich gemischtes Publikum von ungefähr 400 Leuten fand sich am 2. und 3. Oktober in der Frankfurter Uni ein.
Auf dem Podium des Hörsaals V1 saßen und referierten führende Vertreterinnen verschiedener linker Parteien und (ehemaliger) Guerillaorganisationen aus Brasilien, Cuba, Argentinien, Venezuela, E1 Salvador, Guatemala, Nicaragua und Chile. Einer der zentralen Diskussionspunkte war: Ist eine grundlegende Demokratisierung möglich, oder sind die formalen Demokratien, die in den letzten Jahren nach Abdankung der Militärs in Ländern wie Chile, Argentinien, Paraguay oder Brasilien entstanden sind, Fortsetzung der Diktatur mit anderen Mitteln?
Der argentinische Journalist Miguel Bonasso brachte die Fragestellung auf den Punkt: “Die sechziger Jahre waren die Zeit der revolutionären Bewegungen. In den siebziger Jahren kamen die Militärdiktaturen, die in den Achtzigern von formalen Demokratien abgelöst wurden. Was werden die neunziger Jahre bringen? Kommt jetzt wieder eine Phase der autoritären Staatsformen á la Fujimori in Peru, oder gibt es Möglichkeiten für linke Reformprojekte?” Die Kompetenz der lateinamerikanischen ReferentInnen konnte nicht über eine grundlegende Schwäche des Kongresses hinwegtäuschen: Die Zusammensetzung des Podiums spiegelte nicht gerade die Vielfalt der lateinamerikanischen Linken wieder, sondern nur deren parteipolitische Variante. Abgesehen von der Diskussionsleiterin Dorothee Piemont und Monica Baltodano von der FSLN waren Frauen lediglich in ihrer klassischen Funktion als Übersetzerinnen präsent.

Chance vertan: Soziale Bewegungen und Beiträge des Publikums waren kaum erwünscht

Auf die Anwesenheit von VertreterInnen sozialer Bewegungen war offenbar kein Wert gelegt worden, obwohl gerade diese in den letzten zehn Jahren in Lateinamerika entscheidende Impulse für eine Erneuerung linker Programmatik gegeben haben. Und so blieb es einer Lateinamerikanerin aus dem Publikum vorbehalten, darauf hinzuweisen, daß es mittlerweile auf kontinentaler Ebene zahlreiche Treffen und Zusammenschlüsse von Frauengruppen, Umweltverbänden, Bauernorganisationen, Schwarzen und indigenas gibt, die ja nicht zuletzt in der Kampagne gegen die offiziellen 500 Jahr-Feiern im vergangenen Jahr eine entscheidende Rolle spielten.
Was die Stimme der bundesdeutschen Linken auf dem Kongreß anging, war es fast schon grotesk, mit Wolf-Dieter Gudopp vom “Verein Wissenschaft und Sozialismus” einen Vertreter ausgerechnet jener orthodoxen, kopflastigen und verknöcherten Variante von Sozialismus eingeladen zu haben, die an der ideologischen Krise der Linken einen entscheidenen Anteil hat.
“Auch ich bin von der Begeisterung für Dinosaurier angesteckt.”Dieses modische Lippenbekenntnis Dorothee Piemonts bezog sich auf ihre These, daß der Kapitalismus auf Dauer nicht überlebensfähig sei. Mindestens genauso gut hätte dieser Satz jedoch auf das anachronistische Gestaltungskonzept des Kongresses gepaßt: An zwei Tagen wurde vor vollem Hörsaal eine Frontalveranstaltung sondergleichen abgezogen: Die meisten Redebeiträge lagen dem Publikum als deutsche Übersetzung vor. Aus “Zeitmangel” wurden fast alle Referate ohne Direkt-Übersetzung auf Spanisch abgelesen -eine Methode, die auf einen Teil des Publikums einschläfernd wirkte, während andere frustriert und wütend reagierten: “Da hätte ich mich ja besser mit dem Reader zuhause hinsetzen können.”
Für den Dialog mit der Basis blieb -“leider, leider” -wie die Diskussionsleitung immer wieder bedauerte -so gut wie keine Zeit. Auf diese Weise wurde nicht nur eine Chance vertan, die Perspektiven der lateinamerikanischen Linken in größerer Runde zu diskutieren. Auch die gegenwärtige Krise der bundesdeutschen Linken -und eventuell vorhandene Erneuerungskonzepte -wurde kaum reflektiert, geschweige denn diskutiert.

Revolutionärer Pragmatismus: Drei Mahlzeiten täglich für alle

Die lateinamerikanische Linke sieht sich zur Zeit mit politischen und wirtschaftlichen Problemen konfrontiert, die neben einer langfristigen Perspektive auch ein konkretes Handeln erfordern: Ein Blick auf die politische Landkarte des Subkontinentes zeigt, daß die Situation in den verschiedenen Ländern so unterschiedlich ist, daß es schwerfällt, allgemeine Prognosen zu treffen. Von einer Entwicklung sind allerdings fast alle Staaten betroffen: Mit dem rigiden Durchsetzen neoliberaler Wirtschaftsprogramme hat sich die Situation für den Großteil der Bevölkerung weiter verschlimmert und die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Das Kürzen öffentlicher Ausgaben im sozialen Sektor und im Bildungsbereich und die Privatisierungen staatlicher Unternehmen haben immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Heute ist es für viele Basisbewegungen in Ländern wie Peru oder Brasilien eine zentrale Forderung, den Hunger und das Massenelend zu beseitigen.
Wenn in seinem Land durchgesetzt werden könnte, daß die gesamte Bevölkerung dreimal täglich zu essen bekäme, so Nildo Domingos von der brasilianischen Arbeiterpartei (PT), wäre dies angesichts der jetzigen Situation schon eine revolutionäre Errungenschaft. Gleichzeitig sieht auch er die Gefahr, sich in tagespolitischen Forderungen aufzureiben: “Die Linke war bis vor kurzem zu dogmatisch. Nun ist sie zu pragmatisch.”
Mit dem Vorwurf eines zu großen Pragmatismus, der “Sozialdemokratisierung”, wurde auf dem Kongreß in Frankfurt insbesondere der Vertreter der FMLN aus E1 Salvador, Shafik Hándal, konfrontiert. Die ehemalige Guerilla, die Anfang letzten Jahres nach zwölfjährigem Kampf einen Friedens-und Demokratisierungsvertrag mit der Regierung aushandelte, hat gute Chancen, bei den Wahlen im kommenden März die Regierung zu übernehmen. Das Programm, mit dem die FMLN antritt, konzentriert sich auf eine grundlegende politische Demokratisierung und Entmilitarisierung der salvadorianischen Gesellschaft. Es sieht eine Stärkung genossenschaftlicher Eigentumsformen vor, will jedoch gleichzeitig die Marktwirtschaft erhalten. Gegenüber KritikerInnen betonte Handal: “Ob die Demokratie sich am Ende als eine bürgerliche, rein formale, oder als eine substantielle herauskristallisieren wird, ist eine offene Frage. Wir von der FMLN bestehen auf unserem grundlegenden Recht auf die Methode des trial and error in einer Welt, die uns weder Beispiele noch Bezugspunkte bietet.”
Neben der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit ist ein anderes zentrales Problem in vielen Ländern die Rolle des Polizei-und Militärapparates als Repressionsorgan und die Existenz paramilitärischer Todesschwadrone. Gerade die aktuelle Entwicklung des Friedensprozesses in E1 Salvador läßt daran zweifeln, ob sich diese Kräfte tatsächlich mit friedlichen Mitteln entmachten lassen -von einer systematischen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen ganz zu schweigen.

Der ‘Geist Bolivars’ -Trugbild oder politische Vision?

Auf dem Kongreß wurde deutlich, daß die meisten linken Parteien Lateinamerikas zur Zeit in erster Linie damit beschäftigt sind, Perspektiven auf nationaler Ebene zu entwickeln -mit unterschiedlichen Konsequenzen. Zwar wurde immer wieder die Notwendigkeit beschworen, sich auf kontinentaler Ebene zusammen-zuschließen und auch mit linken Bewegungen aus Afrika oder Asien zu kooperieren. Der “Geist Simón Bolivars”, des antikolonialen Befreiungskämpfers aus dem vorigen Jahrhundert, schwebte nicht nur in Form eines riesigen bemalten Transparentes über den Köpfen der Diskutierenden. Es wurde betont, daß es allein schon aufgrund der weltwirtschaftlichen Verflechtungen und der Interventionspolitik der westlichen Industriestaaten nicht möglich sei, den “Sozialismus in einem Land zu realisieren -siehe die Beispiele Kuba und Nicaragua. Durch den Niedergang des “realexistierenden Sozialismus” haben sich die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren weiter verschlechtert. Dazu Eleuterio Huidobro von der ehemaligen Guerilla und jetzigen Partei der “Tupamaros” aus Uruguay: “Früher sahen wir die Alternativen Sozialismus oder Faschismus. Heute ist eine dritte Alternative aufgetaucht, die sich besonders in einigen afrikanischen Ländern oder in Osteuropa zeigt: das Chaos.”
Trotzdem war die Stimmung auf dem Kongreß von Optimismus gedämpften Optimismus gekennzeichnet: Immerhin haben in einigen Ländern Lateinamerikas linke Projekte in den letzten Jahren an Boden gewonnen und deren VertreterInnen könnten in absehbarer Zeit Regierungsaufgaben übernehmen, beispielsweise in E1 Salvador, Brasilien oder Uruguay. Ein anderes sehr interessantes Projekt -in Deutschland bisher noch recht unbekannt -ist die “Causa R in Venezuela (vgl. LN 226):Diese Bewegung versucht, dem staatlichen Establishment eine dezentrale, basisdemokratische Gegenmacht entgegenzusetzen. Mit beachtlichem Erfolg: Mittlerweile stellt die “Causa R” unter anderem den Bürgermeister der Hauptstadt Caracas.
Was die politischen Programme angeht, sind die LateinamerikanerInnen zwar bereit, auch mit deutschen Linken zu diskutieren, wehren sich aber gegen Bevormundung. Dazu Huidobro aus Uruguay: “Es wäre wünschenswert, wenn sich die Deutschen mehr um ihre Probleme hier kümmern. Wir würden auch gerne in Lateinamerika ein Kommitee zur Unterstützung der Revolution in Deutschland gründen.”

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