Cochabamba liefert jede Menge Impulse

Es ist der Abschlusstag des alternativen Klimagipfels in Cochabamba. Auf dem Campus der Valle-Universität im bolivianischen Tiquipaya, wo in den letzten Tagen die meisten Veranstaltungen des alternativen Klimagipfels stattgefunden haben, herrscht am Nachmittag Aufbruchstimmung. Die Menge strömt bereits in Richtung Fußballstadion im nahe gelegenen Cochabamba, wo in wenigen Stunden die von über 17 Arbeitsgruppen ausgearbeitete Abschlusserklärung verlesen wird. Dort wird der venezolanische Präsident Hugo Chávez die „Erpressungspolitik“ der US-amerikanischen Regierung geißeln, die Ecuador und Bolivien wegen eigenständiger Positionen in der Klimapolitik bereits zugesagte Gelder entzogen hat.
Über 35.151 TeilnehmerInnen hatten sich im Laufe der Woche akkreditiert, die meisten aus Bolivien. 9.254 Personen waren aus 141 Ländern angereist. Der Ansturm hat die OrganisatorInnen überrascht. Doch hat sich der Aufwand gelohnt?
„Auf jeden Fall“, sagt Tadzio Müller. Der lang gewachsene 33-jährige Umweltaktivist aus Berlin – schwarzes T-Shirt, schwarze Shorts, kurzer Vollbart – sitzt inmitten einer Handvoll AktivistInnen auf der Wiese vor dem Fachbereich Kultur.
Gerade hat er mit seinen MitstreiterInnen vom Netzwerk Climate Justice Action (CJA) einen Workshop organisiert, zu dem an die 100 Leute gekommen seien. Thema: die globale Klimaaktionswoche im Oktober, an der sich auch der Kleinbauerndachverband Vía Campesina und Kampagnengruppen wie 350.org beteiligen.
„Die Tage hier waren für mich interessant und produktiv“, sagt Müller, der sich sehr an die Weltsozialforen in Brasilien erinnert fühlt. Der Austausch von Gleichgesinnten steht im Vordergrund, kontroverse Debatten sind eher die Ausnahme.
Die Stimmung auf dem Unigelände ist entspannt: Hunderte drängen sich an Ständen vorbei, an denen vegetarisches Essen, Politliteratur und Kunsthandwerk angeboten werden. Junge KünstlerInnen bemalen eine Stellwand, andine Folkloregruppen musizieren, eine Rapperin aus El Alto im Andenhochland trägt ihre Stücke vor. Auf schattigem Rasen ruhen sich farbenfroh gekleidete Indigenas aus.
Und ob leibhaftig oder nicht: Boliviens Präsident Evo Morales ist allgegenwärtig: auf riesigen Plakaten an Unigebäuden oder an Ständen diverser Ministerien, auf Buchdeckeln oder Stellwänden, in den Reden begeisterter AnhängerInnen aus dem In- und Ausland. Morales kommt auch selbst vorbei: Mal lauscht er einer Podiumsdiskussion, mal eilt er mit seinem Gefolge zu einer Wiese, wo er mit dem burundischen Vizepräsidenten Yves Sahinguvu per Hubschrauber zu einer Stippvisite in die Provinz abhebt. Dort wird er eine Sporthalle einweihen und Fußball spielen.
In einem nahe gelegenen Luxushotel gibt der Staatschef eine Pressekonferenz. Umrahmt von Außenminister David Choquehuanca und UN-Botschafter Pablo Solón, sammelt er Fragen, die er anschließend im Block beantwortet. Eine beliebte Methode, um unbequeme Themen auszuklammern. Und doch ist dieser Auftritt weitaus überzeugender als Morales‘ Eröffnungsrede, wo er auf dem örtlichen Sportplatz durch ein paar unglückliche Bemerkungen Aufsehen erregt hatte. Die weiblichen Hormone industriell hochgezüchteter Hühner sei ein Auslöser für Homosexualität, scherzte er da, der Verzehr von genmanipulierten Lebensmitteln sei die Ursache für grassierenden Haarausfall. In Bolivien brachte ihm das Spott von der Opposition und den Protest von Schwulengruppen ein, in der internationalen Presse stellte er damit vielerorts seine Ausführungen über die Klimafrage in den Schatten.
Als Gesellschaftsform schwebt dem Präsidenten ein „kommunitärer Sozialismus“ vor. Auf dem Andenhochland, „wo ich geboren bin, gibt es kein Privateigentum“. Zur Förderung der Bodenschätze, dem von linken ÖkologInnen kritisierten „neuen Extraktivismus“, sieht er kurz- und mittelfristig allerdings keine Alternative, ebenso wenig zum Bau neuer Überlandstraßen. Hinter den Protesten gegen solche Projekte steckten Nichtregierungsorganisationen, die die lokale Bevölkerung manipulierten.
Andererseits bieten Morales & Co. in- und ausländischen AktivistInnen ein Forum, von dem die auf offiziellen UN-Klimagipfeln nur träumen können. Dass die KritikerInnen von Bergbau-, Staudamm- oder Straßenprojekten, die sich zur Arbeitsgruppe 18 zusammengeschlossen haben, außerhalb des Campus tagen müssen, hat sich als Eigentor erwiesen: Mehr als die 17 „offiziellen“ Gruppen stehen sie im Mittelpunkt des Medieninteresses, auch Promis wie die kanadische Bestsellerautorin Naomi Klein oder Ecuadors früherer Energieminister Alberto Acosta treten dort auf. Nach zwei Tagen wird die Forderung an Evo Morales verabschiedet, sämtliche Großprojekte abzublasen, von denen indigene Völker direkt betroffen sind. Außerdem solle die Regierung ein Wirtschaftsmodell anstreben, das nicht mehr auf dem Export von Rohstoffen basiert.
Aber auch in der Arbeitsgruppe „Wälder“ geht es hoch her, da feilschen SpezialistInnen um jede einzelne Formulierung. Schließlich setzten sich die KritikerInnen des Emissionshandels gegenüber den regierungsnahen FunktionärInnen aus Venezuela oder Bolivien durch. Die Vorsitzende Camila Moreno aus Brasilien lobt den „wunderbaren Konsens“, den man erreicht habe: „Anders als bislang in der Klimakonvention dürfen künstlich angelegte Monokulturen wie Eukalyptusplantagen nicht als Wälder definiert werden, und die Rechte der Indígenas müssen ausdrücklich berücksichtigt werden.“
Besonders freut sie sich über das klare Nein zum Emissionshandel als „neoliberalem Mechanismus“ zur Privatisierung von Urwäldern. Stattdessen wünsche man sich die Einrichtung von freiwilligen Fonds, die auf der Anerkennung der „Klimaschulden“ des Nordens gründen. „Das ist ein ganz entscheidender Unterschied“, erläutert Camila Moreno, „wir wollen keine Almosen des Nordens als Gegenleistung für so genannte Umweltdienstleistungen, sondern die Anerkennung, dass er uns das schuldet. Wir wollen die ökologische Restaurierung der Wälder durch die Völker“.
Die Beschlüsse der Wäldergruppe sind das klarste Beispiel dafür, wie sich Positionen, die selbst bei Südamerikas fortschrittlichen Regierungen noch keine Chance haben, auf der Konferenz Gehör verschaffen können. Das ist das Neue an Cochabamba: Durch Druck von unten scheint es wieder möglich, marktbasierte, von der internationalen Klimadiplomatie ersonnene Mechanismen in Frage zu stellen, deren Haupttriebfeder der Profit von Privatunternehmen ist. „Es ist ein wichtiger Schritt nach vorne“, sagt Alberto Acosta: „Das ist der größte Verdienst von Evo Morales“.

Kasten:
ABKOMMEN DER VÖLKER
Radikale Erklärung: Die Ergebnisse aus insgesamt 18 Arbeitsgruppen flossen in eine 10-seitige Abschlusserklärung ein, die in vielen Punkten radikaler ist als die Praxis der lateinamerikanischen Linksregierungen. So wird das Agrobusiness, das Lebensmittel für den Markt, aber nicht für die Ernährung aller Menschen produziere, als einer der Hauptverursacher des Klimawandels bezeichnet.
Die Kritik: Agrotreibstoffe, Emissionshandel, Gentechik, Geo-Engineering oder Monokulturen seien allesamt falsche Lösungen im Kampf gegen den Klimawandel, heißt es weiter. Durch große Infrastruktur- und Bergbauprojekte würden indianische und bäuerliche Gemeinschaften in ihrer Existenz bedroht.
Die Forderungen: An die Industrieländer wird die Forderung gerichtet, ihren CO2-Ausstoß bis 2020 zu halbieren und sechs Prozent ihres jährlichen Haushalts in einen Weltklimafonds einzuzahlen. In einem weltweiten Referendum soll darüber abgestimmt werden, ob die Verteidigungsausgaben nicht lieber für den Klimaschutz umgewidmet werden sollten.
Das Klimagericht: Schließlich sollten Unternehmen und Regierungen vor einem zu gründenden Weltklimagerichtshof verklagt werden können.

Ein nie gehörtes Radio ist möglich

18. März 2009. Das Teatro Argentina de La Plata ist von Ü-Wagen und Kabelträgern umstellt. Premiere hat hier heute eine Aufführung der besonderen Art, das Ley de Medios K. In der Hauptrolle: Cristina Fernández de Kirchner, ihres Zeichens Präsidentin Argentiniens und seit Monaten auf der Suche nach ein bisschen öffentlichem Beifall. Hier, wo sie im Jahr 2005 ihre Kandidatur für das höchste Amt des Landes bekannt gab, verkündet sie nun den Vorentwurf für ein neues Mediengesetz. Und was für eins. Kaum einem der versammelten MinisterInnen, AkademikerInnen und MedienvertreterInnen dürften an diesem Nachmittag die drei wichtigsten verbalen Paukenschläge von Fernández de Kirchner entgangen sein. Die Zahl der Sendelizenzen pro Mediengruppe sollten künftig von 24 auf zehn bis zwölf reduziert werden. Die Gesamtheit aller Radio- und Fernsehfrequenzen würde zu gleichen Anteilen zwischen staatlichen, privaten und Nichtregierungsorganisationen aufgeteilt werden. Und die Einführung neuer technischer Standards müsse stets dem obersten Gebot der Pluralität folgen.
Dieser für viele überraschende und doch sorgsam inszenierte Monolog gegen die argentinischen Medienoligopole – allen voran die Gruppe Clarín – habe eine kaum beachtete Vorgeschichte, analysiert Inés Farina, Moderatorin des argentinischen Community Radios Radio Sur. „Die Abschaffung von Mediengesetzgebungen, die noch aus der Zeit der letzten Militärdiktatur (1976 bis 1983) stammten, erlaubte es der Präsidentin sowie ihrem Mann und Amtsvorgänger Néstor Kirchner ein demokratisches Vorzeigeprojekt anzuschieben. Doch dieses blendete konsequent alle früheren Forderungen und Initiativen aus, die seit Jahrzehnten für eine wirkliche Demokratisierung der Medien kämpfen.“
Im Grunde genommen ist das im Herbst letzten Jahres beschlossene und am 10. Dezember in Kraft getretene neue Mediengesetz Argentiniens nur die abgespeckte Version eines 21 Punkte umfassenden Programms, das bereits 2004 von über 300 zivilgesellschaftlichen Organisationen ausgearbeitet wurde. Doch die Arbeit der beteiligten Menschenrechtsorganisationen, freien JournalistInnen, unabhängigen Radios, Gewerkschaften, Universitäten und sozialen Bewegungen wird von den meisten etablierten Medien Argentiniens konsequent ausgeblendet. Das Thema wird auf eine billige Kabale zwischen einem „Staat der Beliebigkeit“ (O-Ton El Clarín) und den „erpresserischen Pseudo-Intellektuellen eines Medienmonopols“ (O-Ton Néstor Kirchner) reduziert.
Dieser pathetische Schlagabtausch hat seinen blinden Fleck genau dort, wo es spannend wird, nämlich der konsequenten Infragestellung der bisherigen Frequenzennutzung von „unten“. Befreit man sich ein wenig von den nationalen Scheuklappen wird deutlich, dass in Lateinamerika vielerorts elektronische Basismedien existieren, die unter oft schwierigen Bedingungen recherchieren, senden – und sich vervielfältigen. Unabhängige Radios sind dabei die sichtbarsten Akteure. Denn so unterschiedlich sich ihr Entstehungskontext in den einzelnen Ländern auch darstellt – ob als öffentliches Sprachrohr befreiungstheologischer Projekte oder sozialistischer Parteien, anspruchsvolle Bastelvorlage begeisterter FunkamateurInnen oder geheimer Kommunikationskanal irgendeiner Guerilla– in einem bestimmten Moment gerieten all diese Vorhaben stets in Konflikt mit dem exklusiven staatlichem Anspruch den Äther zu verwalten, zu verteilen, zu verpachten.

Mexiko: Von der Armada zum Ley Televisa
In Mexiko begann die staatliche Vereinnahmung des elektromagnetischen Spektrums besonders plakativ. Die Armada beschlagnahmte 1923 im Namen der nationalen Sicherheit die Sendetechnik des Funkamateurs José de la Herrán und begann dann mit diesem „erbeuteten“ Sender noch vor dem offiziell ersten Radiopionier und Unternehmer Raúl Azcárraga Vidaurreta ein tägliches Programm zu organisieren. Mit immer weiteren Einschränkungen der Radiotechnik für den allgemeinen Gebrauch und dem Verkauf von Konzessionen wurden nicht-staatliche und nicht-kommerzielle AkteurInnen zur Funkstille verurteilt.
“Das hat dazu geführt, dass die Vorstellung der Mediennutzung sich bis heute auf werbefinanzierte Unterhaltung, patriarchalischen Bildungsfunk und parteipolitischen Bekehrungseifer beschränkt”, meint Laura Reyes vom freien Medienkollektiv Radio Zapote. Sie kritisiert außerdem, dass immer noch gültige “Radio- und Fernsehgesetz” aus den 1960er Jahren, das „weder mit der mexikanischen Verfassung, den Vorgaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) oder dem Menschenrecht auf „Freie Meinungsäußerung“ vereinbar ist.“
Mit dieser Meinung ist Laura nicht allein. Sowohl die privatrechtliche Lobby der Cámara Nacional de la Industria de la Radio y la Televisión (CIRT) als auch die mexikanische Sektion des Weltverbands der Community Radios (AMARC) streben seit längerem eine Gesetzesänderung an, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen. Während CIRT nicht-kommerzielle Akteure im Äther verhindern will, drängt AMARC darauf Community Radios als Rechtsform anzuerkennen und ihnen – wie in Argentinien geschehen – dauerhaft einen bestimmten Anteil der Radiofrequenzen zuzusprechen.
Lediglich für ein gutes Dutzend Community Radios hat AMARC in Mexiko bisher eine Sendegenehmigung erwirken können. Der Widerstand der etablierten Medien und mit ihnen als shareholder verbandelter PolitikerInnen ist groß. Damit die „Radio-Sonderreglungen“ bloß nicht mit einem allgemeinen Anspruch verwechselt werden, kämpft die CIRT – und allen voran das 95% der terrestrischen Frequenzen kontrollierende Medienduopol TV Azteca und Televisa – darum, ein neues Mediengesetz durchzusetzen, das alle nichtkonzessionierten Radiotätigkeiten explizit verbietet. Dieses sogenannte „Ley Televisa“ wäre eigentlich schon seit 2006 in Kraft, hätte es der Oberste Gerichtshof nicht nachträglich für verfassungswidrig erklärt.
Während RichterInnen, LobbyistInnen und ParlamentarierInnen weiterhin über das Kleingedruckte streiten, sendet Radio Zapote wie schon in den vergangenen neun Jahren ohne Konzession in einer rechtlichen Grauzone des Äthers – oder eben im Internet. Die Legalisierungskampagne von AMARC wurde von dem freien Radioprojekt nicht mitgetragen, denn man versteht sich hier als radikal-praktisches Korrektiv des staatlichen Frequenzmonopols. Wie viele in der freien Radioszene ist auch Laura skeptisch, inwiefern eine positive Diskriminierung unabhängiger Radios vor dem Gesetz wirklich zu einem breiten, partizipativen Medienmachen beiträgt. „Die Community Radios die in Mexiko eine Sendeerlaubnis haben, berichten immer wieder von großen Schwierigkeiten überhaupt fortbestehen zu können. Denn sie dürfen weder Werbung senden, noch direkte finanzielle Unterstützung erhalten“, erzählt Laura. „AMARC verfügt sicherlich über die nötige Infrastruktur, ihre Medienarbeit sicht- und hörbar zu machen, aber darüber hinaus scheint es ihnen bisher nicht gelungen zu sein, die ihnen angehörigen Community Radios zu stärken.“

Brasilien: Nach der Zensur die Schrottpresse
Dem Papier nach befinden sich brasilianische Community Radios ihren mexikanischen KollegInnen gegenüber in einer äußerst privilegierten Position. Bereits seit 1998 regelt dort das Gesetz 9.612 zum „Community Radioservice“ den Betrieb von Sendeanlagen in Händen von kommunalen gemeinnützigen Stiftungen. Wer die gesetzlichen Auflagen erfüllt, sich auf dem FM-Band an eine niedrige Sendeleistung von 25 Watt hält und alle sprechwilligen BewohnerInnen im Sendegebiet ans Mikro lässt, der darf in Brasilien Radio machen. „Doch ich hatte schon damals meine Zweifel an der Umsetzung,“ erinnerte sich Tião Santos vom Community Radionetzwerk Viva Rio zum 10-jährigen Jubiläum des Gesetzestextes. „Wir hatten gerade eine Untersuchung abgeschlossen und festgestellt, dass 70 Prozent der ParlamentarierInnen direkte EigentümerInnen oder AktionärInnen kommerzieller Radio- oder Fernsehsender sind. Deshalb ahnten wir, dass sie uns ein Gesetz beschert hatten, dass den Bedürfnissen eines Community Radios nicht gerecht werden würde.“
Tiãos Befürchtungen erfüllten sich, denn die formalrechtlichen Hürden für den Erhalt einer Sendegenehmigung sind extrem hoch. „Das aktuelle Gesetz erschwert es Tausenden Community Radios in Brasilien sich wirklich zu legalisieren,“ bestätigt Luiza Cilente von der unabhängigen Nachrichtenagentur Pulsar. „Die Mehrheit der Antragsteller muss zehn Jahre warten bis ihre Gesuche bearbeitet werden. Deshalb senden viele Stationen eben einfach ohne Konzession und müssen ständig mit Repressionen von der Nationalen Telekommunikationsbehörde (ANATEL) rechnen.“
Unter der Regierung Ignacio Lula da Silvas wurden inzwischen weitaus mehr Freie und Community Radios geschlossen als unter seinem sozialdemokratischen Amtsvorgänger Fernando Henrique Cardoso. Ähnlich wie gegenüber der brasilianischen Landlosenbewegung MST, wird praktische Aneignung zunehmend als krimineller Akt diffamiert. „Es gibt eine intensive Propaganda der großen Medienunternehmen, die Freie und Community Radios als gefährliche Piratensender darstellt, weil sie mit ihren nicht-genehmigten Sendungen sogar Flugzeugabstürze verursachen würden“, sagt Luiza und fügt hinzu: „Und dabei reden wir hier von gerade mal 25 Watt Leistung.“
„Die Vorschläge der Radiobewegung selbst“, fasst Luiza von Pulsar zusammen“ „reichen von der Gründung eines Unterstaatssekretariats für Community Radios, über eine Generalamnestie für alle Häftlinge, die wegen nicht-genehmigten Radiomachens im Gefängnis sitzen, bis hin zu einer rechtlichen Ausweitung der Sendeleistung und einer Rückgabe der von ANATEL beschlagnahmten Sendetechnik.“ Letztere Forderung wird in vielen Fällen leider nicht mehr zu erfüllen sein: Vor dem Rathaus in Sao Paulo wurden Ende letzten Jahres öffentlichkeitswirksam acht Tonnen Sendetechnik illegalisierter Radios zerstört.

Chile: Werbung statt minimaler Reichweite
„Ein Radio aufmachen kann in Chile jeder“, lacht Leonel Yañez, freier Journalist und ehemaliger Leiter von AMARC Chile. „In der Übergangsphase von der Militärdiktatur zur Demokratie Anfang der 90er schafften wir es damals ein sogenanntes „Gesetz der minimalen Reichweite“ durchzusetzen. Dieses Gesetz regelt den Betrieb nicht-kommerzieler Radiostationen die mit weniger als einem Watt senden. Kaum weiter als 200 Meter hörbar also, aber mit über 300 registrierten Stationen durchaus präsent. Weniger als die Hälfte der Sender die von dem Gesetz gebrauch machen seien jedoch Community Radios, sagt Sebastián Feliú vom Radioprojekt Encuentro in Santiago de Chile. „Wir haben mal nachgezählt und festgestellt, dass 40% dieser Radios von Freikirchen organisiert werden. Sonderlich pluralistisch geht es bei der Programmplanung da oft nicht zu, “ berichtet Sebastián weiter, der stolz darauf ist, dass in Radio Encuentro „so ziemlich jede gesellschaftliche Gruppe aus dem Viertel“ vertreten ist.
Doch so leicht es ist, in Chile ein gemeinnütziges Radio zu gründen, so schwierig war es bisher, auf Sendung zu bleiben. Neben Miet- und Betriebskosten, ist die bürokratische Hürde, alle drei Jahre die Konzession zu verlängern, hoch. Selbst etablierte Community Radios wie Radio Tierra und Radio Placeres senden mitunter ohne aktuelle Genehmigung. Doch die Arbeitsbedingungen in der unabhängigen chilenischen Radioszene könnten sich schon in den nächsten Wochen entscheidend verbessern, denn ein neues „Gesetz für Community Radios“ hat bereits im Abgeordnetenhaus sowie im Senat eine Mehrheit gefunden und wird demnächst noch einmal abschließend im Abgeordnetenhaus diskutiert. Vorgesehen ist in der Novelle unter anderem die Erhöhung der Sendeleistung auf immerhin 25 Watt, eine Verlängerung der Konzessionen von drei auf 15 Jahre und die Möglichkeit, Einkünfte durch Werbung zu erwirtschaften. Vor allem der letztere Punkt hat bereits die privaten Rundfunksender auf den Plan gerufen, „die mit allen Mitteln verhindern wollen, dass ihnen Marktanteile verloren gehen“, meint der freie Journalist Leonel, der selbst lange Zeit eine Sendung bei Radio Tierra moderiert hat. „Werbung ist eine legitime Praxis und wir sollten alle das Recht haben, sie als Finanzierungsmöglichkeit auszuprobieren. Denn klar unterscheiden wir uns inhaltlich vom Kommerzfunk, aber vor dem Gesetz sollten wir alle gleich behandelt werden.“
Sollte das Gesetz wirklich in seiner jetzigen Form beschlossen werden, dann wäre das eine kleine Sensation, ein Präzedenzfall im Kampf um den Äther. Auch AMARC Chile ist sich dessen bewusst, versucht dem massiven Lobbying der privaten Medienunternehmen im Senat entgegenzuwirken und fordert keine Zeile an der jetzigen Fassung zu ändern. „Das ist eine maximalistische Forderung und wir sollten vielleicht eher vom machbaren ausgehen“, findet Leonel, „Wenn das Gesetz irgendwie durchkommt, dann wäre zumindest ein erster Schritt getan, die Community Radios zu sichtbaren gesellschaftlichen Akteuren zu machen. Und wer ein großes Publikum und viele aktive Mitarbeiter hat, der kann in Zukunft ganz andere kommunikationspolitische Forderungen stellen.“
Argentinien: Neue Gesetze, neue Ausschlüsse
Der erste Jubel über das neue Mediengesetz ist inzwischen verflogen. Am 21. Dezember erklärten die Gerichte das Gesetz zum dritten Mal für verfassungswidrig. Auch wenn es bisher nur um Formfehler geht, deuten sich bereits weitere Probleme bei der Umsetzung des neuen Mediengesetzes an. Größtes Hindernis ist dabei das 2005 vom damaligen Präsident Nestor Kirchner vorgeschlagene Dekret 527, welches pauschal die Konzessionen privater Medienunterunternehmen um zehn Jahre verlängert. Das in direktem Widerspruch zum neuen Mediengesetz stehende Dekret wurde nur zwei Wochen nach dessen Bestätigung im Senat verabschiedet. „Ich denke die Weigerungen der Regierung, das Dekret 527 vor der Abstimmung zurückzuziehen zeigt sehr klar, dass ihr Vorhaben, sich den Medienmultis entgegenzustellen relativ und ungenügend ist“, kommentiert Inés von Radio Sur.
Dass eine Regierung versuche, innerhalb nationaler Rundfunkgremien großen Einfluss zu wahren oder zu erlangen sei nichts außergewöhnliches, sagt Sebastián von Radio Encuentro. Neue Gesetze oder Verfassungen wie in Venezuela oder Ecuador bergen deshalb immer auch das Risiko, dass Regierungen die mediale Meinungsbildung stärker kontrollieren wollen. „Diese Gefahr müssen Community Radios berücksichtigen, wenn sie sich von staatlichen Mitteln abhängig machen.“ Neue Abhängigkeiten oder Ausschlüsse könnten ebenfalls bei der eignentlichen Vergabe digitaler FM-Frequenzen entstehen, berichten die unabhängigen RadiomacherInnen. „Die neuen technischen Standards würden Investitionen in Technik und Know-how nötig machen, über die die meisten Community Radios schlicht weg nicht verfügen“, sagt Sebastián. Laura von Radio Zapote sieht dagegen mit Bestürzung die geplante Übertragung bestehender Konzessionen des Medienduopols Televisa/TV Azteca in das digitale FM-Band, ohne eine mögliche Neuverteilung und Öffnung des Spektrums auch nur erwähnt zu haben. Solchen Plänen müsse man deshalb umso deutlicher durch zivilen Ungehorsam, sprich einem „Radiomachen ohne um Erlaubnis zu fragen“, unterlaufen. „Es gibt in Mexiko Stadt Freie Radios wie Ke-Huelga oder Regeneración Radio (vormals Radio Pacheco) die seit mehr als zehn Jahren auf Sendung sind, sich horizontal organisieren und es somit geschafft haben, die Machtbeziehungen gegenüber dem Staat umzukehren“, berichtet Laura. „Auch Radio Ñomdaa im Bundesstaat Guerrero hat immer wieder verhindern können, dass die Polizeikräfte ihre Sendetechnik beschlagnahmen konnten.“
Eine „Community“ die ihr eigenes Radio verteidigt und sich auf horizontalen Schleichwegen dem staatlichen Zugriff entzieht. Leonel gefällt diese Geschichte. Er fragt sich jedoch auch, wie öffentlich und offen eine solche Praxis wirklich sein kann. „Im ständigen Widerstand zu kommunizieren ist schwer. Die Heimlichkeit gerät schnell in Widerspruch mit der eigentlichen Praxis, nämlich dem Senden,“ meint Leonel auch in Hinblick auf das kurze Aufleben einer freien Radioszene in Chile Ende der 90er Jahre. „Aber in Zeiten der Hyperkommunikation müssen auch unabhängige Radios glaubwürdig und präsent sein.“ Dass sagt der Mitbegründer der chilenischen Community Radioszene nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern im Interesse, die Radikalität und technische Experimentierfreude Freier Radios mit dem pluralistischen Charakter der Community Radios praktisch zu versöhnen. „Denn eines ist klar. Ein nie gehörtes Radio ist möglich.“

Jubiläum inmitten der Krise

Ohne jeden Zweifel hat die Bürgerrevolution die politische Landschaft Ecuadors seit ihrem Beginn 2006 gründlich in Bewegung gebracht. Die traditionellen politischen Parteien scheinen endgültig in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht zu sein, und mit ihnen ein Konzept von formaler Demokratie, in der die Bevölkerungsmehrheit nicht repräsentiert war. Präsident Rafael Correa hatte eine Art Obama-Effekt ausgelöst: Er bewirkte, dass die Leute wieder Hoffnung entwickelten. Nicht nur auf eine Verbesserung ihrer persönlichen Lebenssituation, sondern auch Hoffnung auf einen tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Wandel, an dem es sich zu beteiligen lohnt. Hoffnung darauf, dass das kleine Andenland nicht nur seine Souveränität behaupten, sondern gar international wahrgenommen werden könnte – zum Beispiel mit radikalen Vorschlägen zu einer eigenständigen südamerikanischen Finanzarchitektur. Oder mit dem Yasuní-Projekt, bei dem die in einem besonders schützenswerten Teil des amazonischen Regenwaldes vermuteten Ölreserven nicht gefördert werden sollen, sondern stattdessen die Länder aus dem Norden für die ausgefallenen Einkünfte finanziell mit in die Pflicht zu nehmen.
Ecuador fand seinen Platz in einem von einer neuen Linken mehr und mehr übernommenen Kontinent und entwickelte in diesem Kontext eigenständige, interessante Visionen. Correa ist ein gebildeter Präsident, der auch den einfachen Leuten komplexe Sachverhalte in ihrer eigenen Sprache verständlich machen kann. Auf diesem neuen Selbstbewusstsein sollte die Nation neu gegründet werden, dafür wurde gegen den Widerstand der alten politischen und wirtschaftlichen Eliten eine neue Verfassung durchgesetzt, die im Herbst 2008 in Kraft trat.
Vor allem im Bereich der Sozialpolitik hat die Bürgerrevolution durchaus positive Ergebnisse vorzuzeigen: Die staatlichen Investitionen im Bildungs- und Gesundheitssektor sowie im sozialen Wohnungsbau sind im Vergleich zu den vorherigen Regierungen sprunghaft gestiegen. Auch die Infrastruktur des Landes wurde merklich verbessert, Straßen, Brücken, Flughäfen errichtet, wo vorher kaum ein Durchkommen war. Der Staat vergibt Kredite zu günstigen Konditionen und verteilt in einem gewissen Maß auch Grund und Boden an die Bäuerinnen und Bauern, wenn auch von einer grundlegenden Agrarreform nicht die Rede sein kann. Die Arbeitslosigkeit ist trotz der weltweiten Krise seit Januar 2007 nur um einen Prozentpunkt auf acht Prozent gestiegen – im Vergleich zu elf Prozent in Chile und 14 Prozent in Kolumbien – was Correa in seiner Festansprache als Erfolg wertete. Auch der Analphabetismus soll um drei Prozentpunkte zurückgegangen sein. Die gesamtwirtschaftliche Situation des Landes ist aufgrund der weltweiten Krise jedoch eher schlecht, die Mittelschicht verliert spürbar an Kaufkraft, und die offiziellen Armutsstatistiken stagnieren.
Bereits im Sommer hatte ein Skandal um Regierungsaufträge an die Firmen von Fabricio Correa, dem Bruder des Präsidenten, am Image des smarten Staatschefs gekratzt. Nun sind in nur zwei Monaten zusätzlich zur Energiekrise, die sich in den vor zwei Wochen vorerst eingestellten täglichen Stromrationierungen manifestierte, zahlreiche weitere politische Krisenherde entstanden: Im Dezember brach die indigene Dachorganisation CONAIE die Verhandlungen mit der Regierung über Bergbau, interkulturelle Bildung, das neue Wassergesetz und den Status indigener Regierungsinstitutionen ab und kündigte für das Frühjahr neue Aufstände an. Im Januar mobilisiert Jaime Nebot, der konservative Bürgermeister der Industriemetropole Guayaquil, zu Massenprotesten wegen Haushaltsstreitigkeiten zwischen der Zentralregierung und seiner Kommune. Auch ein Flügel der Gewerkschaften will am liebsten in den Generalstreik treten, weil die Regierung traditionelle Errungenschaften der Arbeiterschaft angreift, wie zum Beispiel das 13. und 14. Monatsgehalt – der erste Schritt zur schleichenden Abschaffung weiterer Errungenschaften, wie viele befürchten. Nun hat auch noch die Gattin des Generalstaatsanwalts, der eigentlich für eine moralisch erneuerte Justiz stehen sollte, eine junge Frau totgefahren und danach versucht zu flüchten. Woraufhin von der Generalstaatsanwaltschaft alle klientelistischen Hebel in Bewegung gesetzt wurden, um ihr die anstehende Haftstrafe zu ersparen. Und schließlich hat Rafael Correa das internationale Vorzeigeprojekt seiner eigenen Regierung – die erwähnte Nichtausbeutung des Erdöls im Yasuní-Nationalpark als Abkehr von dem auf Rohstoffexport basierenden Entwicklungsmodell – vor kurzem eigenhändig erdrosselt.
Anstatt auf dem Weltklimagipfel von Kopenhagen einen UN-verwalteten Fonds ins Leben zu rufen, in den die Länder aus dem Norden ihr „Geld gegen Regenwald“ hätten einzahlen sollen – und damit vor der Weltöffentlichkeit ins Sachen Klimaschutz gut dazustehen – pfiff er seinen Außenminister Falconí in letzter Minute zurück und verhinderte so die Konkretisierung des Fonds. Wenige Wochen später verkündete er obendrein in seiner wöchentlichen Radioansprache, das in Kopenhagen von Falconí geführte Verhandlungsteam habe „beschämende Bedingungen“ ausgehandelt, die gar die Souveränität Ecuadors in Frage stellten. Deshalb werde man spätestens im Juni mit der Ölförderung beginnen, wenn bis dahin aus dem Ausland nicht mindestens die Hälfte des Geldes eingegangen sei, das durch die Einahmen durch die Erschliessung der Ölquellen zu erwarten sei.
KritikerInnen vermuten hingegen, der Präsident habe dem Druck der mächtigen Ölkonzerne nachgegeben, die ein Gelingen der ökologischen Initiative unbedingt verhindern wollen. Im Yasuní-Gebiet werden mit 846 Millionen Barrel 20 Prozent der ecuadorianischen Ölreserven vermutet, wenn auch nicht besonders hochwertiger Qualität. Nichts an den Bedingungen für den Fonds sei beschämend gewesen, ja die Geber aus dem Norden hätten nicht einmal am Verhandlungstisch gesessen, hält Alberto Acosta dagegen, einer der geistigen Väter der Bürgerrevolution und ehemaliger Energieminister Correas. Man habe sich vielmehr mit der UN-Agentur UNDP (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen) auf die Mechanismen geeinigt, wie der zu schaffende Fonds verwaltet werden solle, und in dem entsprechenden Gremium habe Ecuador letztendlich die Mehrheit gehabt. Der Präsident habe mit seiner Wankelmütigkeit nun schon seit geraumer Zeit die konkrete Einrichtung des Fonds gebremst, in den die Gelder längst hätten fließen können.
Gleichzeitig machte die Regierung nie öffentlich, wie viele Länder mit welchen Summen bereits Zusagen gemacht hatten – unter anderen die Bundesrepublik, Spanien, Belgien, etc. Laut Roque Sevilla, dem nun zurückgetretenen Vorsitzenden der ecuadorianischen Verhandlungskommission, gab es bereits Zusagen in Höhe von ca. 49 Prozent der vereinbarten Gesamtsumme.
Sevilla erklärte auch, der plötzliche Kurswechsel von Correa sei auf Bedenken dessen juristischen Beraters Alexis Mera erfolgt. Von Alexis Mera wiederum ist bekannt, dass er auch schon Berater des rechtesten Präsidenten war, den die jüngere ecuadorianische Geschichte aufzuweisen hat: León Febres Cordero, dessen massive Menschenrechtsverletzungen während der 80er Jahre sogar die Einrichtung einer Wahrheitskommission in Ecuador im Jahr 2007 motiviert haben.
Alexis Mera ist eine der rechten Schlüsselfiguren in der weithin als links wahrgenommenen Regierung. Er, der als enger Vertrauter von Correa gilt, stand bereits im vergangenen Oktober im Kreuzfeuer der Kritik, als die Indigene Bewegung die Regierung nach einem Aufstand gegen das geplante Wassergesetz an den Verhandlungstisch gezwungen hatte. Damals hatte die Regierung Correa eine Reihe von runden Tischen zu Schlüsselthemen wie Bergbau, interkulturelle Schulbildung, Wasser und indigene Regierungsinstitutionen ins Leben gerufen. Es war das erste Mal seit seinem Amtsantritt, dass Correa von sozialen Protesten öffentlich zum Einlenken gezwungen wurde – insbesondere, weil bei den Demonstrationen im Amazonasgebiet ein indigener Lehrer zu Tode gekommen war.
Die ungestümen Äußerungen des Präsidenten im Zusammenhang mit dem Yasuní-Projekt führten nicht nur zum Rücktritt von Außenminister Fander Falconí und des gesamten Yasuní-Verhandlungsteams der Regierung, sondern auch zum endgültigen Bruch mit Alberto Acosta, der von der Zeitschrift Vanguardia als „das schlechte Gewissen eines Regimes“ bezeichnet wird, „das das ursprüngliche Programm von Alianza País (Correas Wahlbündniss, Anm. d. Red.) inzwischen von der anderen Straßenseite aus betrachtet.“ Mit Falconí und Acosta verliert Correa zwei seiner ergebensten und öffentlich angesehensten Mitstreiter aus dem linken Flügel von Alianza País. Auch wenn er in der Sache inzwischen halbherzig zurückgerudert ist und eine neue Verhandlungskommission für die Yasuní-Initiative geschaffen hat, dürfte die Glaubwürdigkeit Ecuadors im Hinblick auf die Umsetzung eines innovativen und nachhaltigen Entwicklungsmodells einen schweren Schlag erlitten haben.
Doch darüber hinaus stehen in Ecuador auch verschiedene Konzepte von Demokratie zur Debatte, was zu konstanten Spannungen zwischen Regierung und sozialen Bewegungen führt. Anstatt in sozialen Organisationen legitime Verhandlungspartner beim Aufbau eines neuen gesellschaftlichen Projekts zu sehen, wirft er Indigenen, Gewerkschaften und anderen legitimen Interessengruppen vor, sie würden eine eigene Agenda verfolgen und hätten das Gemeinwohl nicht im Blick. CONAIE, Gewerkschaften und linke Intellektuelle fordern dagegen, ihr ehemaliger Hoffnungsträger möge endlich das Versprechen einer wahrhaft partizipativen Demokratie einlösen, in der gesellschaftliche Mitsprache auf allen Ebenen und auf verschiedene Arten stattfinden kann.
Unterdessen denkt die politische Bewegung Alianza País darüber nach, wie sie sich in eine durchstrukturierte Partei umwandeln könnte. Im vergangenen Sommer wurden in einigen Landesteilen „Komitees zur Verteidigung der Revolution“ nach kubanischem Vorbild gegründet, eine „Organisierung von oben“, die bei vielen EcuadorianerInnen auf Ablehnung stieß. Generell scheint der Präsident den BürgerInnen in seinem politischen Projekt wenig mehr Souveränität als die Rolle von WählerInnen zuzuweisen. Noch sind dies nur Tendenzen – und es ist momentan schwer zu sagen, was die nächsten Monate Ecuador bringen werden. Die Regierung ist sich offenbar bewusst darüber, dass sie sich auf unsicherem Terrain bewegt. Daher versucht sie, an manchen Fronten zu beschwichtigen. So wurde zum Beispiel hinter verschlossenen Türen Zugeständnisse an die Indigenen gemacht, sodass diese vorerst von Mobilisierungen absehen wollen. Delfin Tenesaca, der neugewählte Sprecher der Indigenen aus dem Hochland, bringt auf den Punkt, was auch viele Linke denken: „Wir wollen nicht, dass Correa abtritt, aber wir wollen, dass er seinen Regierungsstil ändert.“
Manch einer geht auch davon aus, dass Rafael Correa der vertrackten Situation am liebsten durch einen neuen Wahlkampf entgehen will. Er selbst erwähnte bereits die Möglichkeit, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen einzuleiten, oder ein Referendum zum Yasuní-Projekt durchzuführen. Dies würde die Öffentlichkeit von manchen Problemen ablenken und Correa stünde wieder auf der Bühne, auf der er am besten glänzen kann.

Öl für die Unabhängigkeit

Für den Präsidenten Brasiliens, Luiz Inácio „Lula“ da Silva, ist die Sache klar: „Wir feiern eine neue Unabhängigkeit!“ Und diese neue Unabhängigkeit Brasiliens habe einen Namen, einen Inhalt und eine Form, ergänzt er. „Der Name ist ‚pré-sal‘ der Inhalt sind die gigantischen Öl- und Gasfelder, entdeckt in den Tiefen unseres Meeres, und die Form sind die Gesetzespakete, die wir vor einigen Tagen dem Nationalkongress vorgelegt haben“, sagte Lula am 7. September, dem Tag der Unabhängigkeit Brasiliens, in einer Fernsehansprache den BrasilianerInnen. Diese Gesetze „werden garantieren, dass dieser Reichtum richtig verwendet wird, für Brasilien und für alle Brasilianer“, so Lula.
„Pré-Sal“ bezeichnet die gefundenen Erdöllagerstätten vor der brasilianischen Küste. Auf einer Länge von 800 Kilometern, vom Bundesstaat Espírito Santo bis nach Santa Catarina erstrecken sich die Ölfelder, bis zu 350 Kilometer vor der Küste – das heißt, sie befinden sich noch in dem Bereich, auf den Brasilien alleine Anspruch hat. In einer Wassertiefe von über dreitausend Metern und unter einer zwei bis drei Kilometern dicken Salz- und Gesteinsschicht – daher der Name „pré-sal“, „vor dem Salz“ – liegen schätzungsweise bis zu 100 Milliarden Barrel Öl sowie riesige Mengen an Erdgas.
Lula hatte dem Kongress Ende August vier Gesetzespakete zur Debatte und Verabschiedung vorgelegt – zunächst unter höchster Dringlichkeitsstufe: Abgeordnetenkammer und Senat hätten so 45 Tage Zeit zur Debatte, für Änderungsvorschläge und die Ratifizierung. Doch nach Protesten der Opposition hatte Lula dann die Dringlichkeit reduziert, Regierung und Opposition einigten sich auf den 10. November als Tag der Abstimmung. Doch Mitte Oktober wurde klar, dass auch dieser anvisierte Termin nicht einzuhalten wäre, wenn weiterhin diese Fülle an Änderungsvorschlägen der Abgeordneten eingehen. Deshalb schlugen Abgeordnete der Regierungskoalition vor, die Dringlichkeitsstufe erneut zu erhöhen. Wie genau weiter verfahren wird, stand zu Redaktionsschluss noch nicht fest.
Die vier Gesetzespakete sollen das weitere Vorgehen des Staates bei der Ausbeutung der Ölfelder regeln. Erstens soll das bisherige Konzessionssystem durch ein Verteilungssystem ersetzt werden, zweitens soll eine Staatsfirma – die Petro-Sal – geschaffen werden, die den Staat bei den bevorstehenden Verhandlungen mit Erdölunternehmen vertreten soll. Drittens soll ein Sozialer Entwicklungsfonds gegründet werden, in den die zu erwartenden Ölmilliarden fließen sollen. Das vierte und letzte Gesetzespaket soll die Kapitalerhöhung des Ölkonzerns Petrobras regeln.
Die zu gründende Petro-Sal soll der Gesetzesvorlage der Regierung zufolge nicht selbst die Ölförderung betreiben, sondern den Ölsektor regeln und die Unternehmen auswählen, die dann gemeinsam mit der Petrobras das Öl fördern werden. Dem neuen Staatsunternehmen kommt also die Aufgabe zu, die staatlichen Interessen zu vertreten. Der Soziale Entwicklungsfonds soll aus den Anlagegewinnen – so der Wunsch der Regierung – Bildung, Gesundheit- und Sozialausgaben finanzieren.
Dieses Modell für die Ausbeutung der neuen Ölfelder, das die Regierung vorschlägt, weicht somit stark von der bisherigen Praxis der Konzessionsvergabe in der Ölbranche ab. Gegenwärtig erwerben Ölkonzerne in Brasilien die Konzessionen und zahlen Royalties je Barrel geförderten Öls. Dies bleibt auch so bei allen brasilianischen Ölfeldern, die nicht im Pré-Sal liegen. Doch für das Pré-Sal will die Regierung neue Regeln einführen, da das Küstengebiet nicht durch das alte Erdölgesetz juristisch abgedeckt werde. „Das Konzessionsmodell, das 1997 angenommen wurde, passt nicht zu dieser neuen Situation“, meint Lula. Es wäre ein schwerer Fehler, erklärte er in seiner Fernsehansprache, dieses Regelung auch im Pré-Sal beizubehalten, denn „die Regelung wurde eingeführt, als wir noch nichts von den großen Vorkommen wussten, und das Land keine Kapazitäten hatte, sein Öl zu fördern.“
Nun plant die Regierung, dass der staatliche Konzern Petrobras mit jeweils mindestens 30 Prozent an der Ausbeutung jedes Feldes beteiligt wird. Diejenigen Ölkonzerne, die für die restlichen 70 Prozent dem Staat den höchsten Anteil zusagen, sollen bei den Ausschreibungen den Zuschlag erhalten. Das unternehmerische Risiko der Investition bei der Förderung soll nach Vorstellung der Regierung bei dem Unternehmen liegen, aber anteilig über das dann sprudelnde Öl wieder ausgeglichen werden – jedoch „im Rahmen vorab festgelegter Höchstgrenzen je Periode“, so der Regierungsentwurf.
Gegenwärtig sind neben der Petrobras mehrere Konzerne an den Prospektionen im Pré-Sal beteiligt. So hält zum Beispiel die britische BG Group 25 Prozent am Feld Tupi, an dem die portugiesische Galp ihrerseits einen Anteil von zehn Prozent hat. Allein die Vorkommen im Feld Tupi werden auf zwischen zwölf und dreißig Milliarden Barrel Erdöl geschätzt. So nimmt es nicht Wunder, dass sich die Industrie mit einem ausgefeilten juristischen Gutachten zu Worte meldete. Das Brasilianische Petroleum-Institut IBP, eine Lobbyorganisation, der 200 Firmen aus der Ölbranche angehören, wirft in dem Gutachten der Regierung vor, die freie Markttätigkeit einzuschränken, den freien Wettbewerb und die Gleichberechtigung aller Marktteilnehmer zu untergraben. Die Anhänger des Marktliberalismus der Oppositionspartei PSDB folgen diesem Gutachten und behaupten, dass das vorgelegte Gesetz einen enormen Rückschritt bedeute. Als die PSDB mit Präsident Fernando Henrique Cardoso an der Regierung war (1995-2002), initiierten sie eine „Modernisierung“ der brasilianischen Erdölindustrie – es handelte sich um eine weitgehende Privatisierung der Branche. Die Vertreter von PSDB und der Lobbygruppe IBP argunmentieren nun, dass es der Petrobras als halbstaatlichem Unternehmen an Kapazitäten mangeln würde, um die Felder im Pré-Sal auszubeuten.
Dem widerspricht der Präsident der in der Petrobras arbeitenden Ingenieure, Fernando Leite Siqueira. In einem Interview mit der Zeitschrift Democracia e Política erkläre er, dass die Petrobras alleine 30 Jahre lang vor der Küste Brasiliens nach Öl suchte. Auch die erfolgreiche Bohrung der ersten Quelle im tiefen Wasser sei mit brasilianischer Technologie erfolgt und habe die Petrobras alleine 260 Millionen US-Dollar gekostet. Leite Siqueiras Meinung nach ist die Kritik der Konzerne und der Opposition lediglich der Versuch, eine der erfolgreichsten Firmen der Welt in Verruf zu bringen. Für ihn stehen politische Gründe für die Ablehnung der PSDB im Vordergrund. Er vermutet, die Opposition befürchte, dass die Ankündigung der Regierung, das zu erwartende Geld in Sozialprogramme und Bildung zu investieren, der Arbeiterpartei zur erneuten Wiederwahl verhelfen würde.
So geht die Lobbyorganisation IBP noch weiter und wirft der Regierung vor, Verfassungsbruch zu betreiben, wenn sie die Gesetzgebung ohne vorherige Änderung der Verfassung ändern wolle. Denn 1995 war die Verfassung geändert worden, um das alte Erdölgesetz aus dem Jahre 1953 abzuschaffen. Dieses Gesetz von 1953 hatte der damalige Präsident Getúlio Vargas nach einer nationalistischen Kampagne eingeführt. Der Slogan dieser Kampagne hieß schmissig „O petroleo é nosso!“ – „das Erdöl gehört uns!“ Das Gesetz von 1953 war die Voraussetzung für die Gründung des Staatskonzerns Petrobras gewesen, der ein Monopol garantiert bekam. Außerdem verbot das Gesetz den Verkauf von Aktien der Petrobras an Ausländer. Dieses Gesetz wurde 1997 dann von der Regierung Fernando Henrique Cardoso verändert. Nun können Petrobras-Aktien an der Börse Bovespa in São Paulo und an der New York Stock Exchange gekauft und verkauft werden. Inzwischen ist Petrobras „der achtgrößte Konzern der Welt. In ganz Europa gibt es keinen Konzern dieser Größe“, wie auch Präsident Lula anlässlich seiner Rede zur „neuen Unabhängigkeit“ Brasiliens stolz sagte.
Aber diese Teilprivatisierung der Petrobras – in wichtigen Fragen kann die Regierung mit ihren Anteilen immer ein Veto in der Aktionärsversammlung einlegen – ist sehr unbeliebt in Brasilien. Sie erinnert zu sehr an die komplette Privatisierung des Bergbaukonzerns Companhia Vale de Rio Doce, inzwischen nur noch Vale. Der Wert dieses Unternehmens hat sich in den ersten zehn Jahren nach der Privatisierung um mehr als 1.200 Prozent gesteigert. Inzwischen ist die Vale das größte Eisenerzbergbauunternehmen der Welt und eines der größten Bergbauunternehmen überhaupt.
So gewann nach der Entdeckung der Pré-Sal auch die alte Debatte um Privatisierung und Wiederverstaatlichung an Fahrt. Etliche soziale Bewegungen sowie eine Reihe linker Gruppen und Parteien fordern eine komplette Verstaatlichung der Petrobras und die Wiedereinführung des Monopols für Erdölförderung. In Anspielung auf die Kampagne von 1953 fordern sie: „Pré-Sal muss unser sein!“. Solche Forderungen nach Wiederverstaatlichung der Petrobras bereiten den AktionärInnen und den VerfechterInnen freier Marktwirtschaft ein Grausen.
Eine Gefahr für die Wirtschaft sieht gleichwohl auch die Regierung, aber von einer anderen Warte aus betrachtet. Der Finanzminister Guido Mantega, sprach sich dafür aus, die zu erwartenden Petrodollars in einen Fonds fließen zu lassen, der einen großen Teil im Ausland investiert. Dies soll den Devisenfluss besser kontrollieren. Ansonsten drohe die Gefahr der so genannten „holländischen Krankheit“: In den sechziger Jahren flossen auf Grund des Erdgasbooms in den Niederlanden viele Devisen ins Land. Dies wertete die Landeswährung auf, wodurch die Exporte sich verteuerten und das Land anfing, zu viel aus dem Ausland zu importieren. So wurde die Inlandsproduktion in Mitleidenschaft gezogen. „Wir werden die holländische Krankheit in Brasilien nicht dulden“, bekräftigte Mantega und fügte hinzu, dass er für die Zukunft einen Anstieg der brasilianischen Dollarreserven auf bis 500 Milliarden Dollar sehe.
Für Präsident Lula ist all dies ein Grund, „die Zukunft zu feiern“. Für seine alte Weggefährtin und Ex-Ministerin, die Senatorin Marina Silva, ist all dies weniger ein Grund zu feiern. Vor allem die Geschwindigkeit, mit der die Regierung die neuen Gesetze durch den Kongress bringen wolle, sei fragwürdig. „Die Hochdringlichkeit für eine solch komplexe Angelegenheit ist nicht der beste Weg. Es braucht für den Kongress ausreichend Zeit für die Debatte und ausreichend Zeit dafür, dass die Gesellschaft sich äußern kann“, so die künftige Präsidentschaftskandidatin der Grünen Partei PV im Interview mit der Agência Brasil. Und ihr Parteikollege, der Senator Fernando Gabeira, beklagt, das bei den vier Gesetzesvorschlägen der Regierung keiner sich mit den ökologischen Folgen der Ölförderung befassen, was in Zeiten einer bevorstehenden Klimakatastrophe nicht mehr zeitgemäß sei.
João Alfredo Telles Melo, Abgeordneter der PSOL, Professor und vormals Berater von Greenpeace Brasilien, weist darauf hin, dass gar nicht berechnet werde, welche Mengen an Kohlendioxid durch die Förderung des Öls freigesetzt werden würde. Die Nutzung der Ölreserven würde Basilien zwar 40 Jahre lang von Importen unabhängig machen, so Telles Melo weiter, aber gleichzeitig auch zu einem der größten Kohlendioxid-Verschmutzer der Welt machen. Er geht davon aus, das Brasilien jährlich circa 1,3 Milliarden Tonnen Kohlendioxid mehr emittieren würde, was eine Verdoppelung des gegenwärtigen Ausstoßes dieses Gases bedeuten würde. Darin noch nicht einmal einberechnet ist die Energie, die notwendig sein wird, um das Erdöl zu fördern.
Ein ganz anderer Ansatz wäre das, was der Journalist Danilo Pretti Di Giorgi in der Zeitschrift Correio da Cidadania schon im September 2008 für den Pré-Sal vorgeschlagen hatte: „Mein Vorschlag ist, dass wir die neuen Vorkommen im Pré-Sal in Frieden lassen, da, wo sie schon seit Hunderten von Millionen Jahren sind.“ Die gleiche Idee – aus Ecuador kommend – macht mit dem Erdöl im Yasuní Karriere. Pretti Di Giorgi fragt: „Wie viel wäre eine brasilianische Entscheidung, das Pré-sal nicht anzurühren, wohl wert?“

Schmusekurs nach Anmache

Auf den ersten Blick wirkte die Szenerie an diesem 5. Oktober martialisch. Um den Präsidentenpalast waren Dutzende Polizisten in Kampfmontur aufmarschiert, als ein Demonstrationszug auf dem Unabhängigkeitsplatz in Quitos kolonialer Altstadt eintraf. Über 2.000 Indígenas aus verschiedenen Teilen Ecuadors waren in die Hauptstadt gekommen. Viele trugen Holzspeere, Stirnbänder oder Federschmuck. Manche hatten Kriegsbemalung aufgelegt.
Im Palast kam es zu einem vielfach als historisch bezeichneten Treffen. Zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt Anfang 2007 empfing Staatschef Rafael Correa 130 Vertreter der einflussreichen Indianerorganisationen Ecuadors zu einem offenen Schlagabtausch. Die Indigenen machen rund ein Drittel der Bevölkerung aus und stellen seit den neunziger Jahren den kämpferischsten Teil der sozialen Bewegungen. So trugen sie maßgeblich zum Sturz der Präsidenten Abdalá Bucaram (1997) und Jamil Mahuad (2000) bei, 2006 verhinderten sie ein Freihandelsabkommen mit den USA.
Doch die Indígenabewegung hat ihre frühere Stärke längst eingebüßt. Während der „langen neoliberalen Nacht“ (Correa) wurde durch „Entwicklungsprogramme“ unter der Regie von Weltbank und Interamerikanischer Entwicklungsbank Zwietracht gesät, ebenso wie durch Aktivitäten zahlreicher Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Im Amazonasgebiet gelang es Ölfirmen häufig, Nachbargemeinschaften gegeneinander aufzubringen. Der größte Schlag allerdings war die siebenmonatige Regierungsbeteiligung der Indígenapartei Pachakutik unter Lúcio Gutiérrez 2003 sowie jene von Antonio Vargas, einem früheren Vorsitzenden des Dachverbands CONAIE, ein Jahr später. Zahlreiche Indígenas ließen sich von der rechten Gutiérrez-Regierung kooptieren und korrumpieren, andere riefen zu seinem Sturz auf.
Die Quittung kam bei den Wahlen 2006: Anders als vier Jahre zuvor entschied man sich für eine eigene Kandidatur, der CONAIE-Chef und Ex-Minister Luis Macas kam aber nur auf zwei Prozent. Wohl auch deswegen meinte der strahlende Wahlsieger Correa, die Indígenaorganisationen links liegen lassen zu können. Immerhin konnten diese die 2008 angenommene Verfassung in der grundsätzlichen Ausrichtung prägen, das „gute Leben“ (auf Quechua „sumak kawsay“) wurde zum Leitprinzip. Doch Ausnahmebestimmungen und die klaren Mehrheiten des Präsidenten erlaubten es ihm, Anfang 2009 ohne Debatte ein Bergbaugesetz durchzupeitschen, das klar im Widerspruch zum Geist der Verfassung steht. Durch Demonstrationen ließ er sich nicht beeindrucken, im April wurde er mit 52 Prozent im ersten Wahlgang wiedergewählt.
Ende September rief die CONAIE zu landesweiten Protesten gegen das Wassergesetz auf, die recht schleppend begannen. Dass sie CONAIE-Chef Marlon Santi ohne Rücksprache bereits am ersten Tag abblasen wollte, brachte ihm die Empörung der Basis und die Androhung einer traditionellen Strafe ein: Einige Frauen wedelten mit Brennnesseln, mit denen in manchen Andengemeinschaften ungezogene Kinder gemaßregelt werden. Correa qualifizierte die anhaltenden Demonstrationen mehrfach als „fremdgesteuert“ ab. Am 30. September kam es bei einer Straßensperre in der Amazonasprovinz Morona Santiago zu einem blutigen Gefecht zwischen DemonstrantInnenen und der Polizei. Der Lehrer Bosco Wizuma vom Volk der Shuar starb durch Schrotkugeln, die Identität des Todesschützen ist bislang unbekannt.
Daraufhin erklärte sich Correa schließlich zu dem Treffen bereit. Einer der Streitpunkte war das geplante Wassergesetz. „Dadurch will die Regierung die Privatisierung ermöglichen, unsere traditionellen Wasserräte werden entmachtet“, sagte Mario Yaucén Remachi aus der Andenprovinz Chimborazo. Schon jetzt verbrauchten wenige GroßgrundbesitzerInnen und BananenfarmerInnen einen Großteil des Wassers in der Landwirtschaft.
In Ecuador gibt es rund 3.500 kommunitäre Wassersysteme, die von der Bevölkerung selbst mit Hacke und Schaufel angelegt wurden. Nach dem Regierungsentwurf ist künftig eine zentralstaatlichen Kontrollinstanz vorgesehen. Außerdem werden die Wasserreserven durch große Minenprojekte bedroht, die große Wassermengen schlucken und das Grundwasser verseuchen.
Nicht Privatisierung, sondern effektive staatliche Kontrolle sei die Zielrichtung des Gesetzes, erklärte indessen der Präsident vor der Runde der skeptischen Indigenen. „Wir müssen unsere Ressourcen verantwortungsvoll nutzen“, sagte Rafael Correa im Hinblick auf Bergbau- und Erdölprojekte, die ebenfalls auf heftigen Widerstand stoßen.
Auch beim Bau von Wasserkraftwerken gehe die Regierung ohne Rücksicht auf AnwohnerInnen und Umwelt vor, kritisierte Alfonso Morquecho aus der südlichen Provinz Ca, der zusammen mit 120 Gleichgesinnten angereist war, um den UnterhändlerInnen den Rücken zu stärken.
Wie die meisten DemonstrantInnen warf Morquecho dem Präsidenten, der die UreinwohnerInnen wiederholt als „infantil“ oder „verrückt“ bezeichnet hatte, fehlenden Respekt vor. Die prominente Aktivistin Blanca Chancoso meinte: „Wie kann sich jemand selbst als Revolutionär bezeichnen, der dauernd sein eigenes Volk beschimpft?“
Auch auf der hitzigen Sitzung im Palast wurde Correa mit Zitaten aus seinen samstäglichen Rundfunksendungen konfrontiert, etwa mit dem Satz, dass die Indígenas nur zwei Prozent der Bevölkerung seien. „Wer ist der Dummkopf, der das gesagt hat?“ fragte er. „Sie selbst, Herr Präsident“, sagte Marlon Santi unter großem Gelächter.
Vier Stunden nach Gesprächsbeginn entspannte sich auch auf dem Platz die Stimmung. Drinnen hatte man sich auf eine Fortsetzung des Dialogs in diversen Arbeitsgruppen geeinigt, etwa über die zweisprachige Erziehung. Auch über die umstrittenen Bergbau- und Wassergesetze soll nun verhandelt werden – ein echtes Novum.
BeobachterInnen sehen nun übereinstimmend die Indígenabewegung gestärkt. Das Entgegenkommen der Regierung bedeute einen gewissen Linksschwenk, meinte der Soziologe Franklin Ramírez. Ex-Minister Alberto Acosta freute sich, dass sich Correa zum ersten Mal zu einem Gespräch gezwungen sah, bei dem nicht er die Bedingungen diktierte.
Bei den Indígenas ist die Grundskepsis gegenüber Correa natürlich nicht über Nacht verschwunden. Allzudeutlich hat der Präsident immer wieder gemacht, dass die Ausbeutung der Bodenschätze ein zentrales Element seiner Entwicklungsstrategie ist – „sumak kawsay“ hin oder her. Auch ob er künftig seinen autoritären, konfrontativen Regierungsstil ändert, bleibt abzuwarten.
Humberto Cholango, der einflussreiche Chef der Andenorganisation ECUARUNARI, gab sich verhalten optimistisch: „Es war ein gespannter Dialog. Wie die Regierung sind wir ja an einem Wandel in Ecuador interessiert“, meinte er, „aber ganz wohl fühlen wir uns noch nicht. Unser Kampf geht weiter“.

Waffen in der Friedenszone

Die südamerikanische Staatengemeinschaft UNASUR, die letztes Jahr gegründet wurde, sieht ihren Kontinent als eine „Friedenszone“; durch diese Organisation sollen zwischenstaatliche Konflikte friedlich gelöst werden, Kriege soll es so auf dem Subkontinent nie mehr geben. Doch nach Angaben des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstitut SIPRI haben sich die Rüstungsausgaben in Lateinamerika von 2003 bis 2008 um 91 Prozent erhöht. Und in den letzten Monaten verstärkten sich die Spannungen zwischen Kolumbien und Venezuela. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez nannte das Abkommen zwischen Kolumbien und den USA vom 14. August, das die Nutzung von sieben kolumbianischen Basen durch das US-Militär vorsieht, eine „Kriegserklärung“ (siehe LN 424).
Wenig später, am 14. September, verkündete Chávez auf einer öffentlichen Veranstaltung in Caracas ein neues Rüstungsabkommen mit Russland. Für die neuen Waffenkäufe bekam Venezuela von Russland einen Kredit über 1,5 Milliarden Euro. Von diesem Geld will Chávez 92 Panzer des Typs T-72 kaufen sowie eine nicht genannte Zahl von S 300 Luftabwehrsystemen. Dies führt die bisherige Rüstungskooperation zwischen Russland und Venezuela weiter. Seit 2005 gab Venezuela insgesamt etwa 3,6 Milliarden Euro für russische Waffen aus. Die US-amerikanische Außenministerin Hillary Clinton zeigte sich sofort „besorgt“ über die Waffenkäufe Venezuelas.
Die neuesten Waffenkäufe legitimierte Chávez mit der Bedrohung durch die Militärbasen in Kolumbien, die demnächst von den US-Streitkräften benutzt werden dürfen. „Wir wollten keine Waffen kaufen, aber was sollen wir machen, wenn die Yankees sieben Basen dort bauen? Wir statten uns für die Verteidigung aus. Damit niemand auf die Idee kommt, sich mit uns anzulegen!“, sagte Chávez. Die neuen Waffen seien für rein defensive Zwecke, er bekenne sich zur „Friedenszone Südamerika“. Doch Venezuela habe große Erdöllagerstätten, die vor dem Zugriff des „Imperiums“ geschützt werden müssten. Dabei nannte Chávez auch die 4. US-Flotte als mögliche Bedrohung, die Mitte letzten Jahres reaktiviert wurde, nachdem sie seit 1950 stilllag. Die 4. US-Flotte hat die Aufgabe, US-Interessen in der Karibik und vor den südamerikanischen Küsten zu schützen.
Ähnlich wie Chávez erklärte auch sein brasilianischer Amtskollege, Luiz Inácio „Lula“ da Silva, seinen neuesten Waffendeal mit Frankreich. Die Investitionen in die Rüstung seien nötig, um die Grenzen Brasiliens, insbesondere im Amazonasgebiet, zu schützen. Doch auch die im vergangenen Jahr gefundenen Ölfelder vor der brasilianischen Küste gelte es zu schützen. In diesen Feldern werden über 50 Milliarden Barrel Erdöl vermutet – mehr als doppelt so viel, wie in allen brasilianischen Lagerstätten, die bisher gefunden wurden. Sollten sich die optimistischsten Prognosen als real erweisen, würde Brasilien in den Kreis der zehn Länder mit den größten Erdölreserven weltweit aufsteigen. Mit den Erlösen aus dem Öl soll ein Fonds zur Finanzierung von Bildungs- und Sozialmaßnahmen geschaffen werden. Bei seiner Fernsehansprache zum Unabhängigkeitstag am 7. September präsentierte Lula diese Pläne der Bevölkerung. „Dieser 7. September läutet unsere neue Unabhängigkeit ein“, sagte Lula pathetisch.
Es war gewiss kein Zufall, dass der Ehrengast bei den diesjährigen Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag der französische Präsident Nicolas Sarkozy war: Der große Waffendeal mit Frankreich sollte wohl Lulas Anspruch auf eine „Neue Unabhängigkeit“ unterstreichen. Auf dem Treffen am 7. September vereinbarten die beiden Präsidenten den Vertrag über die große Rüstungskooperation.
Für 1,9 Milliarden Euro sollen 50 Hubschrauber französischen Designs im Bundesstaat Minas Gerais von der Firma Helibras hergestellt werden. Helibras gehört zur einen Hälfte dem europäischen Rüstungs- und Flugzeugkonzern EADS, zur anderen dem brasilianischen Flugzeugkonzern EMBRAER. Sarkozy will im Gegenzug die C-130 Transportflugzeuge der französischen Armee durch KC-390 Flugzeuge von Embraer ersetzen.
Für 6,6 Milliarden Euro will Brasilien seine U-Boot-Flotte modernisieren. Drei französische U-Boote will die brasilianische Marine kaufen; Kernstück des Projekts ist aber der gemeinsame Bau eines nuklearbetriebenen U-Boots durch französische und brasilianische TechnikerInnen (siehe LN 411/412).
Es ist dieser Technologietransfer, der die Kooperation mit Frankreich für Brasilien so interessant macht. Deshalb werden den französischen Bewerbern auf die brasilianische Ausschreibung für 36 neue Jagdflugzeuge auch die besten Chancen gegeben. Derzeit versuchen die US-amerikanische Boeing mit dem Jagdflugzeug F-18 Super Hornets, die schwedische Saab mit dem Gripen NG und die französische Dassault mit dem Rafale den Auftrag über 2,7 Milliarden Euro zu bekommen. Dassault bot an, dass EMBRAER die Flugzeuge unter Lizenz bauen und vertreiben könnte. Das technologische Wissen soll dabei an die brasilianische Firma weitergegeben werden. Nun versuchen Boeing und Saab, sich mit noch attraktiveren Angeboten zu überbieten. Saab bot bereits zwei Gripen zum Preis von einem an. „Bald kriegen wir die Flugzeuge noch umsonst“, witzelte Lula dazu. Eigentlich wollte sich Brasilien am 21. September entschieden haben, doch wurde die Frist bis zum 2. Oktober verlängert, in dem die verschiedenen Anbieter ihre Vorschläge einreichen konnten.
Am 6. Oktober erklärte der brasilianische Verteidigungsminister Nelson Jobim, dass er weiterhin den französischen Vorschlag am besten findet. Um seine eigenen Bewerberchancen zu erhöhen, war am Tag zuvor der Vizepräsident des F-18 Programms von Boeing, Robert E. Gower, nach Brasilien gereist, um sich mit Jobim zu treffen. Er versprach ebenfalls einen Technologietransfer. „Wir sind entschlossen, den notwendigen Technologietransfer an Brasilien zu ermöglichen“, erklärte Gower auf einer Pressekonferenz. „Das Wort ‚notwendige‘ Technologietransfers macht mich stutzig“, erklärte Jobim nach dem Treffen. Wer wisse schon vorher, was „notwendig“ ist und was nicht, sinnierte vor Journalisten der ausgebildete Jurist Jobim. Bereits zuvor hatte Jobim erklärt, dass er von Flugzeugtechnologie wenig verstehe; dafür um so mehr von Wirtschaftsverträgen – und deshalb könne er sagen, dass das französische Angebot das interessanteste sei.
Mit diesen Rüstungsplänen versucht Brasilien, in den Kreis der Weltmächte aufzusteigen. Wer, wie Brasilien, einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat anstrebe, brauche auch eine moderne und starke Armee, erklärte der brasilianische Verteidigungsminister Nelson Jobim. Für Brasilien bedeutet der Vertrag mit Frankreich das größte Rüstungsvorhaben seit seinem Eintritt in den zweiten Weltkrieg 1942. Doch Lula betonte wie Chávez den rein defensiven Charakter des Deals. Er bekannte sich zur „Friedenszone“ Südamerika, nannte aber auch die 4. US-Flotte als mögliche Bedrohung für die Ölfelder.
Viele Linke in Lateinamerika begrüßen die aktuelle Aufrüstung als Emanzipation von den USA. So kommentiert Raul Zibechi, Mitherausgeber der linken uruguayischen Wochenzeitung Brecha, auf der chavistischen Internetplattform Aporrea, dass die jüngsten Waffenkäufe in Lateinamerika das Ende der US-amerikanischen Hegemonie auf dem Subkontinent bedeuteten. Mit der Autonomie in der Rüstung höre die Region endlich auf, „der Hinterhof der USA“ zu sein. Offenbar sollen ausgerechnet Waffen die „Friedenszone Südamerika“ schaffen. Doch einige, wie etwa Uruguays Präsident Tabaré Vázquez, lehnen offen die wachsenden Rüstungsausgaben ab.
Von einem neuen Wettrüsten in Südamerika zu reden, ist jedoch übertrieben. Im internationalen Vergleich ist Südamerika noch immer schwach gerüstet. Etliche RüstungsexpertInnen sehen die jüngsten Waffenkäufe Venezuelas und Brasiliens als ohnehin notwendige Modernisierung ihrer recht veralteten Streitkräfte an – so „notwendig“ Waffenkäufe eben sein können. Dem Friedensforschungsinstitut Bonn International Center for Conversion BICC zufolge belegen fast alle lateinamerikanischen Länder eher die hinteren Plätze in der Liste der militarisiertesten Länder der Welt. Das BICC berechnet den Grad der Militarisierung, den Global Militarization Index, indem es mehrere Vergleiche anstellt: die Rüstungsausgaben eines Landes mit dem Bruttoinlandsprodukt, die Rüstungsausgaben mit den Gesundheitsausgaben, die Anzahl der Ärzte mit der Anzahl von paramilitärischen Truppen und offiziellen Soldaten sowie die Anzahl der schweren Waffen im internationalen Vergleich.
Daraus ergibt sich eine Liste aller Länder nach dem Grad ihrer Militarisierung. In Südamerika liegt Venezuela mit der Nummer 107 auf dem drittletzten Platz; nur Argentinien und Paraguay sind auf dem Subkontinent noch weniger militarisiert. Argentinien nimmt Platz 137 ein, Paraguay den 109. Schon weiter vorne liegen dagegen Ecuador (48. Platz) und Kolumbien (44. Platz), darauf folgen Peru (63. Platz), Brasilien (87. Platz) und Bolivien (91. Platz). Unangefochtener lateinamerikanischer Spitzenreiter ist Chile auf Platz 29.
Hillary Clinton zeigte sich indes lediglich über die venezolanischen Waffenkäufe „besorgt“. Offenbar misst sie mit verschiedenen Standards, eben ob eine Regierung den US-Interessen in den Kram passt oder nicht. Im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt gibt kein Staat in Südamerika so viel Geld für Rüstung aus wie Chile – dies scheint das US-State Department nicht zu beunruhigen. Doch diese hohen Militärausgaben will die Regierung Chiles nun ändern. Die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet will ein Gesetz kippen, dass zehn Prozent aller Einnahmen aus dem Kupferexport automatisch den Militärausgaben zuschlägt. Man kann nur hoffen, dass dies einen Trend für Südamerika einleitet. Denn welche Friedenszone braucht schon Waffen?

Vorsicht mit den fremden Mächten

„Vorsicht walten lassen und Suppe essen hat noch niemandem geschadet!“ Der brasilianische Präsident Luis Inácio „Lula“ da Silva liebt es, seine politische Position in der Form von Sprichwörtern auszudrücken. Und so erklärte er auch seine Skepsis gegenüber dem „Abkommen über Kooperation in militärischen Fragen“ zwischen Kolumbien und den USA vom 14. August mit einer so genannten Volksweisheit. Grund für die Vorsicht sieht Lula in der langen Grenze im Amazonasgebiet, die Brasilien mit Kolumbien teilt. Er wies darauf hin, dass Industrienationen an den natürlichen Ressourcen in der Region interessiert sein könnten.
Mit dem Abkommen bekommt das US-Militär Zugang zu drei Luftwaffenstützpunkten der kolumbianischen Luftwaffe, zwei Stützpunkten der Armee, sowie zu zwei Marinestützpunkten. Offiziell ist es „nur“ eine Ausweitung des Plan Colombia aus dem Jahr 2000, mit dem die USA Kolumbien bei der Bekämpfung von Drogenhandel und der Guerilla Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (FARC) helfen wollten. Doch schon der Plan Colombia hat vehemente Kritik aus allen Teilen der Welt, insbesondere natürlich in Lateinamerika, hervorgerufen.
So verwundert es nicht, dass die Skepsis gegenüber der militärischen Kooperation zwischen den USA und Kolumbien nicht nur von Lula ausging. Auf dem außerordentlichen Gipfel der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR), der am 28. August in San Carlos de Bariloche tagte, äußerten sich fast alle anwesenden Regierungschefs kritisch über die wachsende Präsenz US-amerikanischer Militärs in Kolumbien.
Insbesondere die Präsidenten Ecuadors und Boliviens, Rafael Correa und Evo Morales, verurteilten das Kooperationsabkommen. Evo Morales verlangte, dass die UNASUR generell den Aufbau von fremden Militärbasen in Südamerika unterbinden solle. „Wenn hier niemand eine Militärbasis will, warum können wir nicht einfach hier und jetzt ein Dokument unterschreiben, das besagt, dass die südamerikanischen Präsidenten keine ausländischen Basen akzeptieren?“ fragte er. Wohl um Kolumbien nicht zu eindeutig zu verärgern, einigte man sich im Abschlussdokument der Konferenz auf die diplomatischere Formel, dass Südamerika eine „Friedenszone“ bleiben solle und fremde Basen zu verurteilen seien, die den Frieden der Region gefährden könnten.
Kolumbiens Präsident Álvaro Uribe verteidigte auf dem Treffen in Bariloche den Deal mit den USA. Er richte sich ausschließlich gegen Drogenhändler und die FARC-Guerilla. Und schließlich sei nichts Besonderes dabei. Immerhin seien seit 1952 US-Truppen in Kolumbien anwesend. Darauf fragte Lula, wie effizient denn dann diese Militärhilfe sei: „Wenn uns unser Kollege Uribe zeigt, dass die US-Basen bereits seit 1952 in Kolumbien existieren, dann will ich – ganz liebevoll – sagen, dass, wenn die Basen seit 1952 existieren und es noch immer keine Lösung für die Probleme gibt, wir über eine andere Möglichkeit nachdenken sollten, um die Probleme zu lösen.“
Uribe verwies auch darauf, dass laut dem Abkommen zwischen den USA und Kolumbien die Kontrolle der Basen bei den kolumbianischen Streitkräften verbleiben würde. „Was auch immer der Inhalt des Vertrags zwischen den USA und Kolumbien besagt, die kolumbianische Verfassung erlaubt nicht, dass [von diesen Basen aus] Truppenverschiebungen getätigt werden“, erklärte er weiter. Es gehe also, so Uribes Schlussfolgerung, keine Gefahr für die anderen südamerikanischen Ländern von der US-Militärpräsenz in Kolumbien aus.
Dagegen hielt Rafael Correa, dass Kolumbien dies nicht kontrollieren könne. Er verwies auf eine Klausel im Abkommen zwischen den USA und Kolumbien, wonach Mitglieder der US-Streitkräfte nicht von einem kolumbianischen Gericht verurteilt werden dürften. Wenn ein US-Militär gegen geltendes Recht verstoße, müsse er, nach dem Vertrag vom 14. August, in den USA verurteilt werden. So sichert sich das US-Militär – trotz der so sehr betonten kolumbianischen Kontrolle der Stützpunkte – extraterritoriale Gerichtsbarkeit für ihre Angehörigen. Wenn nun, so spekulierte Correa, von den US-Basen in Kolumbien Ecuador oder ein anderes Land angegriffen werden sollte, könnten die Militärs ebenfalls nicht von einem lateinamerikanischen Tribunal verurteilt werden.
Ebenso sieht der venezolanische Präsident Hugo Chávez sich von der wachsenden US-Militärpräsenz bedroht. Er fühle sich „im Blickpunkt der Basen“, sagte er, als am 14. August die Nachricht über das neue Abkommen veröffentlicht wurde. Er glaube, dass die Basen der Auslöser für einen Krieg in Südamerika sein könnten.
Die Spannungen zwischen Venezuela und Kolumbien haben sich zusätzlich verstärkt, als Kolumbien Venezuela beschuldigte, die Guerilleros von der FARC mit schwedischen Waffen ausgestattet zu haben. Daraufhin rief Caracas seinen Botschafter in Bogotá zurück – inzwischen veröffentlichte der südamerikanische Fernsehsender Telesur Videoaufnahmen, die belegen, dass kolumbianische Guerilleros von dem Nationalen Befreiungsheer ELN die Waffen von venezolanischen Grenztruppen erbeutet hätten. Wie sie danach zur FARC gekommen sind, ist aber immer noch ungeklärt.
Die anderen südamerikanischen Staatschefs haben durchaus Recht zu hinterfragen, ob sich die US-Militärpräsenz nur gegen die Guerilla FARC und den Drogenhandel in Kolumbien richtet. Insbesondere der venezolanische Präsident Hugo Chávez verwies auf eine veröffentlichte Studien des Aerial Mobility Command der USA. In diesem Papier werden die kolumbianischen Stützpunkte als wichtige Posten für strategische Flugzeuge genannt. Zwar seien die Basen gar nicht für größere Truppenverschiebungen ausgelegt, aber auf dem Weg nach Afrika und in andere Regionen Südamerikas könnten strategische Transportflugzeuge des Typs C 17 von den Basen aus aufgetankt werden. Und solche Tankstellen brauchen die USA derzeit. Im November läuft nämlich das Nutzungsabkommen zwischen Ecuador und den USA über den Militärstützpunkt Manta aus und wird nicht verlängert, da die neue ecuadorianische Verfassung ausländische Militärbasen in dem Andenstaat verbietet. Wollen die USA nicht ihre militärische Mobilität auf der Südhalbkugel verlieren, brauchen sie also dringend Ersatz. Kleinere „Expeditionsbasen“ wie die in Kolumbien, können dabei also von Nutzen sein. Überhaupt plant das US-Militär eine Verschiebung ihrer Strategie, weg von großen Basen überall auf der Welt, hin zu mehr Mobilität. Dadurch wächst gerade die Bedeutung kleinerer Basen wie der in Kolumbien.
Solche Veröffentlichungen aus den Führungskreisen des US-Militärs selbst verstärken natürlich die Skepsis der südamerikanischen Staatschefs, ob die Basen wirklich nur für den Gebrauch innerhalb Kolumbiens gedacht sind. Deshalb forderten mehrere Staatschefs, darunter Lula und Correa, dass Präsident Obama sich mit den Präsidenten der UNASUR treffen und seine Pläne für die Lateinamerikapolitik erklären sollte. Zusätzliche Spannung in das Thema bringt die Tatsache, dass Uribe regelmäßig die Regierungen Ecuadors und Venezuelas beschuldigt, die Guerilla FARC zu unterstützen. Auf dem Gipfel in Bariloche behauptete er erneut, dass zwei hochrangige FARC-Funktionäre sich in Venezuela aufhalten würden. Die Nachbarn Kolumbiens befürchten nun, dass die vorgebliche Unterstützung der FARC den USA als Anlass dienen könnte, sie von den kolumbianischen Basen aus anzugreifen. Deshalb wies auch Rafael Correa die Vorwürfe, Ecuador biete der FARC einen sicheren Hafen, vehement zurück: Die Präsenz der FARC in der Grenzregion sei ein kolumbianisches Problem, sagte er auf dem Gipfel. Er verlangte dagegen, dass Kolumbien gefälligst die Grenzen besser bewache.
Obwohl die Staatschefs sich über sieben Stunden in Bariloche austauschten, blieb es am Ende bei dem besagten Abschlussdokument, dass nur indirekt das Abkommen zwischen USA und Kolumbien verurteilte. Schuld daran, dass keine endgültige Lösung für den Konflikt gefunden wurden, sei die Tatsache, dass die Verhandlungen im südamerikanischen Fernsehen direkt übertragen wurde, meinte Lula. Alle Staatschefs wären zu sehr darum bemüht gewesen, in ihren jeweiligen Ländern den richtigen Eindruck zu hinterlassen, anstatt wirklich auf eine Lösung hinzuarbeiten. „Wenn alles übertragen wird, sagen die Leute nicht, was sie wirklich denken“, meinte der brasilianische Staatschef.
Doch auch ohne verschlossene Türen zeigte sich, wie isoliert der engste Verbündete der USA in Lateinamerika, Álvaro Uribe, inzwischen auf dem Subkontinent ist. Seine Stimmung wird sich bestimmt nicht verbessert haben, als er kurz nach dem Treffen an der Schweinegrippe erkrankte. Vielleicht hört er ja auf Lulas Rat: Hühnersuppe soll sehr gut bei grippalen Infekten helfen.

Gegenöffentlichkeit schaffen

Informationen aus Lateinamerika sind wieder gefragt. Nachdem das fälschlicherweise ausgerufene „Ende der Geschichte“ Anfang der 1990er Jahre die meisten sozialen Bewegungen des amerikanischen Kontinents in eine Art kollektiver Schockstarre versetzt hatte, schrumpfte auch hierzulande das Interesse an Lateinamerika zunächst rapide. 1994 vermochten die ZapatistInnen mit ihrem „Ya Basta“ vom Süden Mexikos aus das Schweigen zu brechen. Doch erst Ende des letzten Jahrtausends kehrten soziale Bewegungen massiv ins politische Geschehen zurück. Hatten sich viele Bewegungen während der neoliberal dominierten 1990er Jahre auf spezifische Politikfelder zurückgezogen, gewannen nun wieder Forderungen nach tief greifender politischer Transformation die Oberhand. Damit einher gingen neue Machtperspektiven, die, angefangen in Venezuela 1999, in zahlreichen Ländern des Kontinents zur Etablierung progressiver, häufig durch soziale Bewegungen gestützte Regierungen führten. Seitdem wird auch in hiesigen Medien wieder verstärkt über Lateinamerika berichtet. Besonders was Venezuela angeht, dominiert allerdings ein einseitiger Diskurs, der von Schlagworten wie „Populismus“ oder „Autoritarismus“ geprägt ist, während interessante politische Prozesse oft wenig Beachtung finden. Um die deutschsprachige Informationslandschaft zu Lateinamerika inhaltlich zu bereichern, gründeten einige Journalisten und Lateinamerika-Experten im Juli 2007 das ehrenamtlich betriebene Internetportal amerika21.de. „Wir haben in Venezuela erlebt, welche positiven Entwicklungen im Bildungsbereich, bei der Gesundheitsversorgung und in der Arbeitswelt in kurzer Zeit erreicht wurden“, berichtet Redaktionsmitglied Malte Daniljuk. „Besonders in den riesigen Armenvierteln dieses reichen Landes erlebt man eine unglaubliche politische Beteiligung. Diese sehr wichtigen Erfahrungen wollen wir auch anderen zugänglich machen.“ Die Seite bietet täglich aktualisierte Nachrichten und Hintergrundartikel, die teilweise auch aus anderen linken Medien stammen. Somit stellt sie eine Ergänzung zu bereits länger existierenden Periodika zu Lateinamerika dar. Berichtete amerika21 zunächst fast ausschließlich über Venezuela, finden mittlerweile auch regelmäßig Nachrichten zu regionaler Integration oder anderen links-regierten Ländern wie Bolivien und Ecuador Platz. Die Schwerpunkte variieren dabei je nach Ereignislage. Nach dem Putsch in Honduras im Juni dieses Jahres etwa rückte das zuvor wenig beachtete Land in den Vordergrund der Berichterstattung. Vorwürfe von KritikerInnen, wonach die Seite die linken Regierungen Lateinamerikas uneingeschränkt in Schutz nehme, weist Daniljuk zurück: „Wir berichten ganz klar aus der Perspektive der sozialen Bewegungen, und damit auch oft genug kritisch gegenüber einzelnen Maßnahmen der jeweiligen linken Regierungen.“ Da amerika21 einen Beitrag zur Gegenöffentlichkeit leisten wolle, hieße das aber eben auch, der häufig auf Falschmeldungen basierenden Berichterstattung der kommerziellen Medien Paroli zu bieten. „Damit kommen wir automatisch in eine Logik der Gegeninformation, bei der wir scheinbar immer die Position derjenigen einnehmen, die von den bürgerlichen Medien angegriffen werden“, resümiert Daniljuk. Die gravierendsten Fälle werden von der Redaktion in einem Media-Watch-Blog kommentiert. Darüber hinaus bietet das Portal ein Forum für die Vernetzung von Solidaritätsgruppen, Terminankündigungen und seit Anfang des Jahres auch eine spanischsprachige Unterseite. In Zukunft möchte amerika21 die Berichterstattung auf weitere Länder des Kontinents ausweiten.

www.amerika21.de

Klare Fronten vor der Präsidentschaftswahl

Seit 1998 sind in Lateinamerika in mindestens zehn verschiedenen Ländern linksgerichtete Regierungen gewählt worden (Venezuela, Brasilien, Chile, Argentinien, Bolivien, Ecuador, Uruguay, Paraguay, Nicaragua, El Salvador). Mal mehr, mal weniger links, immer aber wurden explizit rechte Regierungen abgewählt. Ein ehemaliger Metallarbeiter in Brasilien, ein Aymara-Indígena in Bolivien, ein ehemaliger Militär in Venezuela, eine im Exil politisierte Kinderärztin in Chile, ein Befreiungstheologe und laizierter Bischof in Paraguay, ein keynesianischer Ökonom in Ecuador, ein Onkologe in Uruguay, ein Fernsehjournalist in El Salvador: Nachdem über Jahrzehnte in vielen Ländern die sprichwörtlichen Caudillos und Vertreter urbaner konservativer Eliten mit ihren rechten beziehungsweise Mitte-Rechts-Parteien die Politik dominierten, ist das politische, soziale und professionelle Profil der Personen ebenso neu und ausdifferenziert, wie das politische Spektrum der Parteien und Bewegungen in Lateinamerika heute.
Aber ist der Linksrutsch vorbei, bevor sich in einigen Ländern tatsächlich strukturelle Veränderungen durchgesetzt haben? Kommt jetzt wieder die rechte Welle? Oder polarisiert sich der Subkontinent in zwei klare Blöcke mit einem mächtigen Brasilien als Regionalmacht irgendwo dazwischen? In Argentinien sieht es so aus, als ob die Uhr für die Kirchners abläuft, in Panama wurde im Mai 2009 ein rechter Millionär zum Präsidenten gewählt, in Chile, wo im Dezember 2009 Wahlen anstehen, stehen die Chancen für das Mitte-Rechts-Bündnis gut und eine Prognose für die Zeit in Brasilien nach Dezember 2010, die Post-Lula-Ära, traut sich heute kaum jemand zu.
In Uruguay ist diese Polarisierung seit den Vorwahlen vom dem 28. Juni offiziell. Mit dem 75-jährigen José „Pepe“ Mujica und „Cuqui“, dem 67-jährigen Luis Alberto Lacalle, stehen sich zwei Personen mit völlig unterschiedlichen politischen Konzepten und Biografien gegenüber. Der ehemalige Tupamaro Mujica, der insgesamt 14 Jahre seines Lebens im Kerker verbrachte, ist Senator und Anführer der Bewegung für die Beteiligung des Volkes (MPP). Der ungelernte Blumenzüchter, der eine direkte und mitunter auch „blumige“ Sprache spricht und der besonders bei den einfachen Leuten sehr beliebt ist, sitzt seit 1995 im Parlament. Auf der anderen Seite tritt mit dem konservativen Lacalle ein Vertreter jener Klasse an, die seit der Staatsgründung im Jahr 1828 die Politik in Uruguay bestimmt hat. Während seiner Präsidentschaft von 1990 bis 1995 stand er für eine neoliberale Privatisierungspolitik. Die wurde allerdings in seinem „eigenartigen Land“, wie der am 17. Mai diesen Jahres verstorbene uruguayische Dichter Mario Benedetti es in einem Artikel vom 30. November 1994 für die spanische El Pais nannte, vom Volk gestoppt: „ … 1992, als die ganze westliche Welt von einer Privatisierungswelle erfasst wurde und Präsident Lacalle bereit war, den internationalen Entscheidungen mit Freude nachzugeben, vernichtete eine weitere Volksabstimmung überlegen diese Privatisierungsgebärden.“ Trotzdem steht die Regierungszeit von Lacalle für unzählige Korruptionsfälle (vor allem bei der Privatisierung von staatlichen Banken), mehrere Mitglieder seiner Regierung sowie verschiedene seiner Geschäftspartner wurden angeklagt. Der Jurist Lacalle selbst vergrößerte sein privates Geldvermögen und seinen Landbesitz während seiner Regierungszeit um ein Vielfaches. Mit Bankenskandalen kennt sich Lacalle also aus, vielleicht ist gerade das in Zeiten der Krise, die mit einigen Monaten Verspätung auch in Uruguay angekommen ist, mit ein Grund dafür, dass er den Vorwahlkampf seiner Partei für sich entschied. Eigentlich ist es schwer vorstellbar, dass nach all diesen Erfahrungen eine Mehrheit der UruguayerInnen Lacalle wieder wählt. Aber in Italien regiert auch wieder Berlusconi und in Buenos Aires wurde Ende 2007 der rechte Unternehmer Mauricio Macri zum Bürgermeister gewählt, insofern ist auch in Uruguay gar nichts auszuschließen. So konkurrieren mit Mujica und Lacalle zwei sehr unterschiedliche Kandidaten darum, nach einem Wahlsieg im Oktober am 1. März 2010 die Nachfolge des amtierenden Mitte-Links-Präsidenten Tabaré Vázquez anzutreten, der laut Verfassung nicht wiedergewählt werden kann.
Einen ersten Fingerzeig, wohin die Reise geht, lieferten die Vorwahlen am 28. Juni. Diese dienen in erster Linie dazu, die parteiinternen PräsidentschaftskandidtInnen zu ermitteln, geben aber auch gleichzeitig einen Hinweis auf die Kräftekonstellationen zwischen den Parteien. Allerdings nur einen verzerrten, denn im Gegensatz zu den „richtigen“ Wahlen gibt es keinen Wahlzwang und somit auch eine wesentlich niedrigere Wahlbeteiligung. Bei diesen stimmten 41 Prozent der WählerInnen für die Kandidaten des seit März 2005 regierenden Mitte-Links-Bündnisses Frente Amplio (Breite Front). Innerhalb des Bündnisses konnte sich Mujica mit 59 Prozent deutlich gegen den wirtschaftsliberalen Danilo Astori, bis August 2008 Wirtschafts- und Finanzminister, durchsetzen. Überraschend konnte Mujica schon zwei Tage nach der Wahl den Unterlegenen zur Kandidatur für die Vizepräsidentschaft überreden. Welche Kompromisse er eingehen, welche „Kröten“ er schlucken muss, wie er das selbst nennt, um die Mittelschicht in Land, die nicht für ihn stimmte, zu gewinnen, wird noch verhandelt. Ohne personelle und programmatische Zugeständnisse wird es nicht gehen. Denn obwohl Mujica fast gebetsmühlenartig immer und immer wieder die Einheit der Frente Amplio beschwört, tun sich doch zwischen den Positionen des Astori-Blocks und Mujicas MPP, den Kommunisten und anderen linken kleineren Parteien innerhalb der Frente Amplio tiefe Gräben auf. Die radikalen linken Parteien und Bewegungen Uruguays sind ohnehin fast alle bereits während der Regierungszeit von Vázquez aus der Frente Amplio ausgetreten, der sie teilweise seit deren Gründung im Jahr 1971 angehörten. Die gemäßigten Linken, die in der Frente Amplio die Mehrheit stellen, sympathisieren mit Chávez, Morales und natürlich der Kubanischen Revolution, wollen die ausländischen Direktinvestitionen im Land an Bedingungen knüpfen und die Abhängigkeit von den internationalen Finanzinstitutionen verringern. Zudem soll wieder eine staatliche Fleischindustrie aufgebaut werden, nachdem in den letzten Jahren die wichtigen Industriezweige komplett in die Hände ausländischer, vor allem brasilianischer und argentinischer Unternehmen fielen. Astori will das alles nicht, sieht vielmehr im weiteren Öffnen der Märkte und in ausländischen Investitionen die Zukunft für Uruguay, ist US-freundlich und kritisch gegenüber dem Gemeinsamen Südamerikanischen Markt Mercosur orientiert.
Das Schachern um politische Schlüsselpositionen, vor allem im Wirtschafts- und Finanzbereich, den der Astori-Sektor als eine Art Erbhof betrachtet, ist jetzt voll im Gange. Nach einem Jahr gegenseitiger Blockade, in dem es in einem personalisierten Vorwahlkampf fast ausschließlich nur um Mujica oder Astori ging, haben nicht wenige Sektoren der Frente Amplio aber jetzt genug davon: „Wir wollen eine Politik der Frente Amplio, nicht eine von Mujica und Astori“, so ein Mitglied der MPP. Tatsächlich hat „Pepe“ nur mit der Unterstützung Astoris gute Chancen, Präsident zu werden. Allerdings darf er die linken Basiskomitees der Frente nicht weiter verprellen, von denen viele nach der Regierungszeit des populären, aber wegen seiner autoritären Entscheidungen auch in der Frente selbst umstrittenen Präsidenten Vázquez enttäuscht sind. Die blieben nämlich in unerwartet großer Zahl bei den Vorwahlen zu Hause und sorgten so dafür, dass Lacalles Nationalpartei mit 46 Prozent besser als die Frente abschnitt, die eigentlich mit ihren hunderten von Basiskomitees viel besser organisiert ist. Obwohl einige KommentatorInnen die für den Rio de la Plata ungewöhnliche Winterkälte mit Temperaturen um den Gefrierpunkt als Grund für das Fernbleiben von mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten von den Wahlurnen ausmachten, gehen ernsthafte politische Analysen etwas tiefer. So spricht Juan Castillo, Mitglied im Führungsgremium des Gewerkschaftsdachverbandes PIT-CNT sowie der Kommunistischen Partei innerhalb des Mitte-Linksbündnisses, von „strukturellen und organisatorischen Fehlern, die wir gemacht haben“. Im Klartext heißt das: Die traditionell starke Basis ist frustriert, fühlt sich von „ihrer“ Regierung missachtet und ist heute viel schwerer zu motivieren als zu der Zeit, als die „Breite Front“ in der Opposition war.
Allerdings könnte die Kandidatenkür des politischen Gegners für eine künftig größere Motivation der Linken sorgen: Bei der Nationalpartei, den Blancos, erhielt Luis Alberto Lacalle 55 Prozent und schlug somit seinen Konkurrenten Jorge Larrañaga deutlich. Das Dream Team für die Präsidentschaftswahl stand hier schon am Wahlabend fest: Lacalle, der für den Neoliberalismus der 1990er Jahre steht und diese Rezepte auch heute noch für die geeigneten hält, bot dem als innerparteilichen Reformer gehandelten, IWF-kritischen Larrañaga die Vizepräsidentschaftskandidatur an, was dieser ohne Bedingungen akzeptierte. Wie das alles programmatisch zusammengeht, weiß zwar keiner, aber das ist zweitrangig. Zuerst geht es darum, die Linken zu schlagen und vor allem Mujica zu verhindern. Dazu will auch die dritte Kraft im Lande beitragen, die rechtsliberale Colorado-Partei. Die schnitt mit zwölf Prozent nicht so schlecht ab, wie prognostiziert. Und das trotz oder wegen Pedro Bordaberry. Der Sohn des ehemaligen Diktators Juan María Bordaberry (1972-1976) gewann die Vorwahl seiner Partei mit 71 Prozent. Summiert man die zwölf Prozent Stimmen für die Colorados mit den 46 Prozent der Blancos ergibt das Ergebnis vom Sonntag eine klare Tendenz: Die Frente Amplio wäre abgewählt gewesen. Für die Wahl am 25. Oktober 2009 bedeutet das nichts Gutes. Falls dann weder Mujica noch Lacalle mehr als 50 Prozent erhalten, könnten die Colorados dem Duo Lacalle-Larrañaga bei der Stichwahl einen Monat später die entscheidenden Stimmen zum Sieg verschaffen. Und Lacalle würde mit Bordaberry eine Koalitionsregierung bilden, der nicht zum Parteiestablishment gehörende Larrañaga hätte seine Schuldigkeit getan. Beide „Traditionsparteien“, wie Blancos und Colorados bis zum Erstarken der Frente Amplio in den 1990er Jahren genannt wurden, werden alles und jeden mobilisieren, um das Linksbündnis zu schlagen. Schon die Niederlage im Oktober 2004 war für sie eine Katastrophe. Würde es die Frente Amplio ein zweites Mal schaffen, die Regierung zu stellen, wären alle die Pfründe und Erbhöfe vielleicht ja auf Dauer verloren.
In den vier Monaten bis Oktober ist ein harter polarisierter Wahlkampf zu erwarten, alles sieht nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen aus. Doch am Ende könnte sich mit José „Pepe“ Mujica eine weitere schillernde Persönlichkeit in die Riege der lateinamerikanischen Präsidenten einreihen. „Wir müssen daran denken, dass die Welt sich geändert hat, weil ein Schwarzer in den USA regiert, weil Lula in Brasilien dran ist und Evo in Bolivien. Ich will, dass alle wissen, dass ich die vertrete, die unten sind und ich empfinde Stolz und Verpflichtung dabei“, so Mujica nach Bekanntgabe der ersten Ergebnisse. Und für „El Pepe“, der sich als Freund von Chávez bezeichnet, ist das brasilianische Modell das Vorbild, mehr noch: „Mein Modell für Uruguay ist Lula. Lula hat eine Revolution erreicht. Er hat erreicht, dass eine große Anzahl von Menschen die Leiter emporklettern konnte“.
„Pepe“ hat in seiner Chacra, seinem kleinen Bauernhof, auf dem er heute noch Blumen züchtet, ein Foto von Che Guevara an der Wand und eine Fahne von Kuba an der Tür hängen. Hugo Chávez, die Castro Brüder und Evo Morales wird das sicher freuen. Der 25. Oktober 2009 könnte aber auch der Anfang eines „Rechtsrutsches“ sein, wenn in Uruguay mit Lacalle eine Figur aus dem Laboratorium des Neoliberalismus der 1990er Jahren im Jahre 2010 wieder den Dienst antritt.
Am 25. Oktober wird noch eine weitere Abstimmung in Uruguay stattfinden. Zeitgleich mit der Wahl wird ein Referendum darüber entscheiden, ob das „Gesetz über die Hinfälligkeit des Strafanspruchs des Staates“ von 1986, das allen Polizei- und Militärangehörigen Straffreiheit für vor dem 1. März 1985 begangene Menschenrechtsverletzungen zusichert, abgeschafft wird. Ein erstes Referendum dazu scheiterte 1989, begleitet von Drohungen der Militärs kurz nach dem Ende der Diktatur. Doch dieses Mal stehen die Chancen gut, dass, ganz gleich wer der nächste Präsident sein wird, auch in Uruguay die Straflosigkeit definitiv ein Ende findet, weil die Bevölkerung es mehrheitlich so entscheidet. Wie so oft in Benedettis „eigenartigem Land“.

Blutroter Teppich für Investoren

Den eigenen Augen war nur schwer zu trauen. In einem Interview Mitte Juni mit der regierungsfreundlichen Zeitung El Comercio äußerte sich Premierminister Yehude Simon: „Hätten wir vom ersten Tag an mit wirklicher Stärke agiert, dann hätte es 500 Tote gegeben.“ Ein paar Tage zuvor, am 5. Juni, hatte eine mehrere hundert Mann starke Sondereinheit der Polizei im Norden des Landes, im Departamento Amazonas, eine friedliche Straßenblockade von tausenden Indigenen mit Tränengas und scharfer Munition brutal aufgelöst (siehe Kasten). Die offiziellen Zahlen der staatlichen Ombudsstelle (Defensoría del Pueblo) sprechen von insgesamt 33 Toten: 23 Polizisten, fünf Indigene und fünf Einwohner von Bagua Chica. Um die zweihundert Indigene und Polizisten trugen schwerste Verletzungen durch den Einsatz von Schusswaffen davon. Noch immer werden zahlreiche Angehörige indigener Gemeinschaften vermisst, die an den Protesten teilnahmen, bisher aber nicht in ihre Heimatgemeinden zurückgekehrt sind. Vermisst wird weiterhin auch ein Polizist.
Simon trat sein Amt erst im Oktober des letzten Jahres an. Noch im Juli will er es nach eigener Aussage wieder aufgeben. Die Geschehnisse in Bagua fordern dann doch Tribut. Seinen Ausstieg bereitet Simon kontrolliert vor, denn spätestens für den Wahlkampf der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2011 will er die politische Bühne wieder betreten. Die eigene Partei trägt den vielversprechenden Namen Partei Humanistische Bewegung.
Ein interessanter Satz fand sich am 5. Juni in einem Artikel der Tageszeitung La Republica: „Während das Amazonasgebiet kurz vor der Explosion steht, verschieben die Abgeordneten im Parlament jede Möglichkeit einer Lösung des Konfliktes.“ Was wie eine Prophezeiung für den Gewaltausbruch am selben Tag klang, war im Kern auf eine Sitzung des Parlamentes in Lima vom Vortag gemünzt. Teile der politischen Elite spielten mit den Interessen und Rechten der EinwohnerInnen des peruanischen Amazonasgebietes. Nach langen Verhandlungen zwischen Regierung, Parlament und den Verhandlungsführern von AIDESEP, der amazonischen Dachorganisation der Indigenen, sollte im Parlament über den Widerruf eines der zentralen Regierungsdekrete, dem Forst- und Wildtiergesetz, abgestimmt werden. Gegen dieses hatte sich seit Anfang April wieder massive Proteste im Amazonasgebiet geregt. Nach mehreren Monaten war die parlamentarische Kommission für Verfassungsfragen zu der Erkenntnis gekommen, dass dieses Dekret verfassungswidrig sei. Doch zur Debatte kam es nicht. Mit einer trickreichen Eingabe gelang es der Fraktion der regierenden APRA-Partei von Präsident Alan García, eine Entscheidung zu vermeiden. Die Mehrheit der Stimmen aus APRA und Fujimori-Block reichte aus, um das Gesetz an einen außerparlamentarischen Runden Tisch verweisen – erneut weg von der Entscheidungsebene des Parlamentes. Indigene Interessen wurden so erneut zum Spielball zwischen Exekutive und Legislative.
Der Streik und die Proteste in großen Teilen des peruanischen Amazonasgebietes blieben seit Anfang April weitestgehend friedlich. Zehntausende Angehörige indigener Gemeinschaften waren mobilisiert. Sie blockierten Straßen und sogar Flüsse, besetzten Förderstationen von Erdöl- und Erdgasleitungen. Große Teile des Landes waren dadurch lahm gelegt, die Versorgungslage gestaltete sich vielerorts schwierig. Im Mai erklärte die Regierung per Dekret für mehrere Gebiete den Ausnahmezustand. Damit sollten explizit auch wirtschaftliche Interessen von Unternehmen geschützt werden, während Grundrechte der Bevölkerung ausgehebelt wurden. Das Militär erhielt dadurch das Mandat zu intervenieren und löste unter anderem Flussblockaden gewaltsam auf, um den Ölunternehmen freie Fahrt zu ermöglichen.
Mit ihren Aktionen und Blockaden protestierten die indigenen Gruppen gegen jene Regierungsdekrete, die in der ersten Hälfte des Jahres 2008 von der Regierung direkt verabschiedet worden waren. Das Parlament hatte ihr Ende Dezember 2007 für einen Zeitraum von 180 Tagen direkte Gesetzgebungskompetenzen zuerkannt. Diese Möglichkeiten, Gesetze im Schnellverfahren zu produzieren, sollte die Regierung nutzen, um in verschiedenen Bereichen den nationalen gesetzlichen Rahmen entsprechend den Erfordernissen des Freihandelsabkommens mit den USA anzupassen. Unter anderem kam es so auch zur Gründung eines – allerdings chronisch unterfinanzierten – peruanischen Umweltministeriums. Doch die Regierung ging zuweilen über das erteilte Mandat und sogar über die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten hinaus, wie eine Studie des Verfassungsrechtlers Fernando Eguiguren aus dem August 2008 belegt.
Am Ende entstand ein Gesetzeswerk von mehr als 100 Dekreten. Viele von ihnen berührten indigene Territorien und die Rechte indigener Gemeinschaften, ohne dass diese zuvor konsultiert oder informiert wurden. Und dies obwohl Peru die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorgansiation (ILO) über die Rechte indigener Völker 1993 ratifiziert hat: Die Umsetzung in nationales Recht steht noch immer aus. Auch das Parlament wurde trotz einer bestehenden Vereinbarung mit der Regierung nicht wie geplant über die kreierten Gesetze informiert.
Eine Gesamtschau der Regierungsdekrete vermittelte den Eindruck, hier gehe es größtenteils um reine Investitionsförderung. Zustimmungsquoten für den Landverkauf bäuerlicher und indigener Gemeinschaften sollten reduziert, die Zustimmung von Gemeinden, die Firmen einholen müssen, wenn sie auf dem Gebiet der Gemeinden Rohstoffvorkommen erkunden oder Rohstoffe fördern wollen, sollte hinfällig werden. Das neue Forst- und Wildtierdekret wiederum bezog auch indigene Territorien mit ein und schloss dort den Nutzungswechsel von Wald- zu landwirtschaftlicher Nutzung explizit nicht aus, wenn es um Projekte nationalem Interesses geht. So liesse sich produktive Waldfläche beispielsweise für den Anbau von Agrokraftstoffen umnutzen.
Die Liste der beanstandeten Regierungsdekrete war lang. Die ersten Proteste flammten bereits im August des letzten Jahres auf. Es folgte ein elftägiger Streik im Amazonasgebiet, der einen Teilerfolg brachte: Zwei der Dekrete, die den Erwerb von gemeinschaftlichem Land – bäuerlicher und indigener Gemeinden – für Investoren erleichtern sollten, wurden vom Parlament zurück genommen. Nur war mit der Rücknahme von nur zwei Dekreten der Konflikt nicht gelöst. Die Forderungen wurden aufrecht erhalten, doch die Verhandlungen zwischen den Parteien stockten immer wieder oder wurden verzögert. Als Druckmittel wurde schließlich Anfang April der zweite Amazonienstreik aufgerufen, der Anfang Juni im Blutbad von Bagua seinen negativen Höhepunkt fand. Wenige Tage später wurde er nach hektisch angesetzten Verhandlungen zwischen Regierung und mehreren VertreterInnen regionaler indigener Organsationen Amazoniens beendet. Alberto Pizango, Vorsitzender von AIDESEP saß da übrigens nicht mehr mit am Verhandlungstisch. Nachdem gegen ihn ein Haftbefehl wegen angeblicher Anstiftung zum Aufruhr während des Streiks veranlaßt wurde, konnte er sich noch in die nicaraguanische Botschaft flüchten, um Tage später in das politische Asyl des mittelamerikanischen Landes zu fliehen. Ein Auslieferungsbegehren der peruanischen Regierung ist jedoch wahrscheinlich.
Wer dachte, dass der brutale Polizeieinsatz ein Umdenken bei Regierung und Präsident in Lima auslösen würde, sah sich getäuscht. Zwei Tage nach dem Massaker in Bagua legte diese vielmehr nach. In einem perfiden Fernsehspot wurden die protestierenden Indigenen masiv herabgewürdigt. Sie seien Extremisten und Wilde, die Polizisten umgebracht hätten und aus dem Ausland – gemeint waren in erster Linie Venezuela und Bolivien – gesteuert würden. Einen friedlichen Dialog würden sie weder praktizieren können noch wollen. Präsident Alan García verstieg sich in einem Fernsehinterview sogar zu der Formulierung, die indigenen EinwohnerInnen des Amazonastieflandes seien eben keine BürgerInnen erster Klasse. Perus Präsident führte damit seinen rassistischen Diskurs fort, den er im Namen der Investitionsförderung bereits Ende 2007 aufnahm. In drei langen Artikeln in seinem damaligen Hausblatt El Comercio legte er dar, wie die indigenen EinwohnerInnen geizig auf ihren Bodenschätzen hocken, nicht wollen, dass andere sie fördern und selbst nicht in der Lage sind, sie zu entwickeln oder Investitionen zu tätigen.
Ein Schuldeingeständnis des Präsidenten gibt es bis heute nicht. In seiner Rede an die Nation Mitte Juni sprach er von Fehlern und einem Neustart, der gemacht werden müsse. Aber da war auch wieder der präsidiale Finger, der auf vermeintliche ausländische Agitatoren und Demagogen verwies, die die Proteste angeheizt und den eigentlichen Sinn der Dekrete – den Schutz (!) des Amazonasgebietes vor Entwaldung (so nannte es Garcia wirklich) – verzerrt dargestellt hätten.
Die beiden Dekrete, Auslöser für den jüngsten Amazonienstreik, wurden mittlerweile vom Parlament zurückgezogen. Während Umweltminister Antonio Brack nun am Jammern ist, das man ein neues Forstgesetz entwerfen müsste und bis dahin das Freihandelsabkommen mit den USA gefährdet sei, meldete sich jüngst der neoliberale Hardliner und ehemalige Ministerpräsident, Pedro Pablo Kuczynski, auf überraschende Weise zu Wort. Er äußerte, dass sich das Blutvergießen in Bagua mit einer rechtzeitigen Rücknahme der Dekrete hätte vermeiden lassen. Das Freihandelsabkommen mit den USA, das seit dem 1. Februar in Kraft ist, sieht er zwar nicht gefährdet, mahnt die politische Klasse aber zur Einheit und neuen Gesetzesentwürfen. Man darf gespannt sein, denn die Liste kritisierter Regierungsdekrete aus dem letzten Jahr ist noch immer nicht vollständig abgearbeitet.
Die weiteren Beratungen über die noch in der Diskussion stehenden Dekrete werden nun von einer neuen Kommission bearbeitet. Beteiligt sind neben verschiedenen Ministerien die regionalen Strukturen indigener amazonischer Organisationen. Inwiefern diese Stuktur arbeitsfähig ist und eine wirkliche Einbeziehung der indigenen Interessen leisten kann, muss sich erst noch erweisen. Bisher hat die Regierung keinen Nachweris erbracht, dass sie die vielen sozialen Konflikte im Land wirklich nachhaltig lösen will und kann. Erst in den letzten Tagen reiste noch-Minister­präsident Simon von Konfliktherd zu Konfliktherd: Es brennt an anderen Orten nämlich lichterloh weiter. Und das Vertrauen in die mit der jeweiligen Regierungsdelegation geschlossenen Übereinkünfte von Seiten der betroffenen Gruppen ist sehr gering.
Der Popularitätsfanatiker García ist unterdessen auf einem neuen Tiefpunkt angelangt. Nur noch rund 20 Prozent der PeruanerInnen unterstützen infolge der blutigen Ereignisse in Bagua nach jüngsten Umfragen seinen Regierungsstil. Die peruanische Ökonomie, die García noch im letzten Jahr als unanfällig für die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise gepriesen hatte, ist im Abwärtstrend. So war der April von einer Rezession von zwei Prozent gekennzeichnet. Und gesunde Vorsicht ist angebracht, wenn Alan García Fehler eingesteht und einen Neubeginn verkündet: Es könnten nämlich sehr leicht wieder die alten Fehler werden.

Kasten:
Die Ereignisse vom 5. Juni im Überblick
Um die zweitausend Indigene hatten seit Ende Mai in Höhe von Kilometer 200 der Fernstraße Belaunde Terry eine Straßenblockade errichtet. Der Streckenabschnitt liegt im Departamento Amazonas unweit der Kleinstadt Bagua (Chica). Die Straße ist eine wichtige Transportroute, welche die nördliche Küstenzone um Chiclayo mit dem nördlichen Amazonastiefland verbindet.
Am 5. Juni rückte in den frühen Morgenstunden eine Sondereinheit der Polizei gegen die Blockade vor. Die auf der Straße und im angrenzenden Feld nächtigenden Menschen wurden überrascht, denn noch am Vorabend waren zwischen Polizei, Indigenen und lokalen Kirchenvertretern Absprachen getroffen worden. Die Blockade sollte gegen zehn Uhr von den Protestierenden aufgelöst werden.
Die circa 500 Mann starke Polizeieinheit setzte Tränengas aus Schusswaffen und von Hubschraubern aus ein. Verschiedene Zeugen sagten, dass scharfe Munition aus Maschinenpistolen zum Einsatz kam (und nicht etwa Gummigeschosse) als die Tränengasgranaten aufgebraucht waren. Unter den Indigenen kam es dadurch zu zahlreichen Verletzten und auch Toten. Viele der Protestierenden flüchteten sich in das hügelige Gelände jenseits der Straße. Dort setzten sich die Kämpfe fort. Auch Polizisten wurden erschossen, unter welchen Umständen ist unklar. Die Indigenen sagten aus, nur mit Speeren bewaffnet gewesen zu sein. Dies ließe darauf schließen, dass sie Polizisten entwaffnet haben und diese dann mit deren eigenen Waffen töteten. Die Polizei hingegen behauptet, die Indigenen hätten von Anfang an Schusswaffen gehabt. Entlang der Verbindungsstraße gingen die Kämpfe weiter: Die Polizei setze weiter Tränengas ein, verfolgte Menschen im Gelände, verhaftete und verprügelte sie. Die Auseinandersetzungen zogen sich bis in den Nachmittag des 5. Juni.
Im wenige Kilometer entfernten Bagua wandelten sich am selben Tag friedliche Proteste in gewalttätige Auseinandersetzungen, als die Menschen von den Geschehnissen an der Verbindungsstraße hörten. Fotos und Videos dokumentieren, dass eine Polizeistation umzingelt wurde. Polizisten sind zu sehen, wie sie vom Dach in die Menschenmenge schießen. Im knapp 100 Kilometer von Bagua entfernten Imacita spielten sich dramatische Ereignisse an der Erdölförderstation Nr. 6 von Petroperú ab. Die Station war seit April durch indigene Gruppen besetzt, während eine kleine Polizeieinheit die Anlagen vor Ort schützte. Zwischen Polizisten und Indigenen gab es ein Übereinkommen, dass die Anlage nicht angegriffen würde. Dieses wurde von den Indigenen aufgekündigt, nachdem sie von der blutigen Ereignissen an der Fernstraße Belaunde Terry erfuhren. Zwölf Polizisten wurden von einigen Indigenen mit Speeren getötet, während andere Indigene weiteren Polizisten zur Flucht verhalfen.
// Mathias Hohmann

IV. Gipfel der Indigenen Völker am Titicacasee in Puno
“Wir sind hier, um für die Verteidigung unserer Territorien zu kämpfen.” Die Aussage des kurzen Werbespots war unmissverständlich. Zum IV. Gipfel der Indigenen Völker der Amerikas strömten für fünf Tage Ende Mai rund 7.000 VertreterInnen indigener Völker und sozialer Bewegungen aus allen Ländern des Kontinentes auf das Altiplano nach Puno. Eröffnet wurde das Treffen mit einem Ritual für pacha mama (Mutter Erde) am Ufer des Titicacasees.
Im Jahr 1990 traf sich zum ersten Mal eine Allianz der Indigenen Völker der Amerikas im ecuadorianischen Quito. Anlass der damaligen Zusammenkunft war das Gedenken an 500 Jahre des Widerstandes, den indigene Völker seit der Conquista 1492 geleistet hatten. Zugleich sollte damit den 500 Jahr-Feierlichkeiten der UnterdrückerInnen etwas entgegengesetzt werden.
Selbstbestimmung und Autonomieforderungen waren bereits in Quito die Forderungen der indigenen Völker und sind es noch immer. Während des Gipfels in Puno ließ sich anhand des heftigen Konfliktes im peruanischen Amazonasgebiet beobachten, wie indigene Völker weiterhin ihrer Rechte beraubt werden und sei es durch die „eigene” Regierung. Doch das Selbstbewusstsein der indigenen Bewegungen ist mittlerweile deutlich gestiegen. Dabei helfen auch die gegenwärtigen diversen globalen Krisen des kapitalistischen Systems, die mehr als dringend Alternativen erfordern.
Miguel Palacín, Vorsitzender der Andinen Koordination der Indigenen Organisationen (CAOI), betonte in seiner Eröffnungsrede, dass „jetzt der Moment gekommen ist, die eigene Unsichtbarkeit gegenüber den Staaten aufzugeben und mit eigenen Vorschlägen unsere Rechte als indigene Völker zu wahren.” Im Kern ging es in den Sitzungen und zahlreichen Arbeitstischen um die zentralen Forderungen nach plurinationalen Staaten und einem Guten Leben (buen vivir).
Mit Hugo Blanco war auch eine Symbolfigur des Kampfes der peruanischen Kleinbauern und -bäuerinnen vor Ort. Der 73-jährige, der in den 1960er Jahren Bauernaufstände für Land in der Region Cusco anführte, äußerte: „Die Bedeutung des Treffens liegt nicht einmal so sehr in den Übereinkommen, die getroffen werden. Viel wichtiger ist es, dass Indigene aus allen Ländern der Amerikas hierher kommen, um ihre Erfahrungen auszutauschen.” So könne er durchaus noch sehr viel von jungen Mapuche und ihren aktuellen Kämpfen lernen.
Parallel zum großen Gipfel wurden weitere kleine Gipfel absolviert: für indigene Jugendliche, Kinder und Frauen. Letztere hielten zum ersten Mal ein eigenes Treffen ab. “Es ist wichtig hier zu sein, um die Stimmen der Frauen hörbar zu machen, ihre Perspektive einzubringen und ihre Rechte zu verteidigen”, so Blanca Chancoso von der Kichwa-Organisation Ecuarunari aus Ecuador. „Ohne Frauen gibt es keinen Wandel, ohne Frauen gibt es keine Demokratie”, ergänzte Leonilda Zurita, Vertreterin der Vereinigung der bolivianischen Kleinbäuerinnen. Ein wichtiges Ergebnis des Treffens ist die Gründung der Kontinentalen Koordination der indigenen Frauen.
Die gemeinsame Abschlusserklärung des IV. Gipfels, die Declaración de Mama Quta Titikaka vom 31. Mai, schließt mit den Worten „Die Erde gehört uns nicht, sondern wir gehören der Erde!” Sie fasst insgesamt 17 Übereinkommen zusammen. Gefordert werden unter anderem die Gründung einschließender plurinationaler Staaten, in denen die ursprünglichen indigenen Territorien wieder hergestellt werden und die Umsetzung internationaler Normen über indigene Rechte in jeweiliges nationales Recht. Auch die globale Klimadebatte fand Berücksichtigung: So fordert die Deklaration den Aufbau eines internationalen Tribunals zu Klimagerechtigkeit und die Einrichtung eines Internationalen Gerichtshofes über Umweltstraftaten. Parallel zum UN-Klimagipfel in Kopenhagen im Dezember 2009 soll es einen Alternativen Gipfel der Indigenen Völker geben. Für den V. Gipfel der Indigenen Völker der Amerikas geht es 2011 nach Bolivien.
Die Lage des Tagungsortes Puno unweit der Grenze zu Bolivien ließ erwarten, dass Präsident Evo Morales auftaucht. Der ließ sich jedoch wegen Arbeitsüberlastung entschuldigen. Vielleicht waren es aber auch die seit längerem angespannten Beziehungen mit der peruanischen Regierung, die ihn auf einen Auftritt verzichten ließen. Doch schon sein offener Brief an die TeilnehmerInnen des Gipfels löste paranoide Reaktionen und beschuldigendes Fingerzeigen bei Regierung und Präsident in Lima aus. Dabei äußerte Morales im Brief lediglich Kritik an Freihandelsabkommen – die peruanische Regierung sah jedoch schon darin eine Einmischung und Ansätze zur Aufstachelung der zehntausenden Indigenen, die im peruanischen Amazonasgebiet seit Anfang April protestierten. Wie bitte sollen diese denn ohne Unterstützung von außen ihre Forderungen entwickelt haben? So wird in Regierungskreisen in Lima sehr laut und geringschätzig über indigene Völker gedacht.
// Mathias Hohmann

Historischer Sieg mit bitterem Beigeschmack

Es war ein historischer Sieg, den der alte und neue Präsident Ecuadors am letzten Sonntag im April erzielte. Zum ersten Mal seit der Rückkehr des Andenstaates zur Demokratie vor 30 Jahren wurde das Staatsoberhaupt im ersten Wahlgang gekürt. Correa erzielte knapp 52 Prozent der Stimmen, auf den zweiten Platz gelangte Ex-Präsident Lucio Gutiérrez mit 28 Prozent. Doch kaum jemand im Land zelebrierte wirklich dieses Ereignis. Den überwiegend konservativen Medien war die Wiederwahl zuwider, sie wollten daher die negativen Begleitumstände hervorheben. Und die gab es zur Genüge, so dass auch unter den AnhängerInnen Correas nur verhaltene Freude aufkommen wollte.
Zum einen waren die vorgehenden Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung und die Abstimmung über die neue Verfassung weit strahlender für Correas sogenannte Bürgerrevolution ausgefallen als diese Wahl. Gravierender war aber, dass sich Gutiérrez als bedrohlicher Konkurrent positioniert hat. Der ehemalige Oberst war Anfang 2003 mit Unterstützung linker Kräfte und der Indigenen gewählt und kaum zwei Jahre später von aufgebrachten Massen der Hauptstadt aus Amt und Land gejagt worden. Alle Versprechen einer souveränen Sozial-, Wirtschafts- und Außenpolitik hatte er nach den ersten Gesprächen mit den USA vergessen und grundlegende demokratische Regeln verletzt.
Aber dies hat im politisch bewussten Quito weit mehr Bedeutung als in den entlegenen und verarmten Gebieten der Amazonasregion und des Hochlandes. Hier kann Gutiérrez nicht nur auf seine Kontakte in der einflussreichen Armee zurückgreifen. Er hat ein breites klientelistisches Netzwerk aufgebaut, und konnte damit Correa bei den Wahlen zum Teil überflügeln. Beide Regionen sind mehrheitlich von Indigenen bewohnt. Deren Dachverband CONAIE zählt zu den deutlichsten Gegnern neoliberaler Politik und hat sich darüber mit Correa überworfen. Interessanterweise haben ein Teil der Basis der CONAIE und evangelikale Indigene dennoch für den neoliberalen Rechtspopulisten Gutiérrez gestimmt. Der Zorn über die teils rassistisch verbrämten Repliken Correas auf die Kritik der Bewegung an seiner Bergbaupolitik und über die Auflösung autonomer indigener Entwicklungsbehörden hat seine Spuren hinterlassen. Gleichzeitig scheint die Partei Pachakutik, der politische Arm der CONAIE, bei den Wahlen seine regionalen Hochburgen gehalten und teils sogar ausgebaut zu haben. Gemäß bislang vorliegender Ergebnisse kann Pachakutik auf fünf Provinzpräfekten und mehr als zwei Dutzend BürgermeisterInnen im zentralen Andenhochland hoffen. Auch in der neuen Nationalversammlung dürfte sie ihre Stärke gehalten haben. Das Wahlverhalten der indigenen Bevölkerungsgruppen war in unterschiedlichen Landesteilen von regionalen Entwicklungen geprägt und lässt eindimensionale Erklärungsmuster nicht zu. Immerhin sah sich Correa nach der Wahl zu erneuter Kontaktaufnahme mit der CONAIE genötigt.
Die Auszählung der Wahlen verlief chaotisch und blieb auch nach einem Monat (bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe) unvollständig. Der Oberste Wahlrat war mit den parallelen Wahlen auf lokaler und nationaler Ebene völlig überlastet und konnte nicht die gesetzlichen Vorgaben einhalten, innerhalb von zehn Tagen die Ergebnisse zu präsentieren. Diese Verzögerung trug in verschiedenen Städten zu teils gewalttätigen Konflikten bei. Es scheint, dass einige ehemalige BürgermeisterInnen im teils von mafiösen Strukturen dominierten Küstentiefland den demokratischen Prozess nicht akzeptieren wollten. Sie mobilisierten ihre Basis zum Aufruhr, als sich ihre Niederlage gegen die der Regierung nahe stehenden Kräfte abzeichnete. Zwar gewaltlos, aber politisch nicht weniger schmerzhaft verlief der Konflikt in Cotacachi, einer mehrheitlich von Indigenen bewohnten Stadt nördlich von Quito. Sie gilt als Paradebeispiel alternativer Sozial- und Wirtschaftpolitik und zog Entwicklungsgelder von Cuba bis Deutschland auf sich. Ihr langjähriger Bürgermeister Auki Tituaña wollte nicht wahrhaben, dass die größte indigene Basisorganisation ihm – als Quittung für zunehmend selbstherrliches Auftreten – die Unterstützung entzogen hatte und ihr Kandidat Alberto Andrango eine deutliche Mehrheit erzielt zu haben scheint.
In der zukünftigen Nationalversammlung, wie das Parlament gemäß der neuen Verfassung heißt, dürfte die Präsidentenbewegung Alianza País mit etwa 60 Abgeordneten zwar erneut stärkste Kraft geworden sein, aber ihre absolute Mehrheit an den 124 Sitzen verloren haben. Die Sozialpatriotische Partei von Lucio Gutiérrez geht auch im Parlament als zweite Kraft hervor, dort zukünftig geführt von dessen Bruder Elmar. Alianza País kann auf eine Reihe nicht parteipolitisch gebundener Abgeordneter setzen, zum Teil auch auf die leicht gestärkte ex-maoistische Partei MPD, die allerdings zunehmend in Konflikt mit der Regierung geraten ist. In jedem Fall dürfte das Regieren für Correa nicht einfacher werden.
Hierzu tragen auch der mehr als deutliche Wahlsieg von Jaime Nebot zum Bürgermeister der Küstenmetropole Guayaquil und der knappe Erfolg von Jimmy Jairala – gegen die Präsidentenschwester Pierina Correa – als neuer Präfekt von Guayas bei. Bei den Lokal- und Provinzwahlen haben die beiden langjährigen politischen Führer der Rechten stark auf regionalspezifische Besonderheiten gesetzt, eine vermeintlich neue Bürgerbewegungen erfolgreich positioniert und so die abgehalfterte Rechte „modernisiert“.
Es kündet von der Schwäche der demokratischen Substanz in Ecuador, dass die extreme Verzögerung der Wahlergebnisse und auch vereinzelte Hinweise auf Unregelmäßigkeiten in diesem Prozess keinen der politischen und moralischen Führer des Landes zu einer Stellungnahme bewegten. Wahlen haben in dem Andenstaat in erster Linie mit Machterhalt zu tun, nur wenig mit demokratischer Kultur.
Der 26. April war als historischer Schnitt in der Bürgerrevolution Correas projiziert worden. Während die letzten zwei Jahre eine permanente Kampagne zum Machtausbau darstellen, sollen sich nun die Strukturen der neuen Politik stärker zeigen. Correa sprach am Wahlabend davon, seinen „Sozalismus des 21. Jahrhunderts“ vertiefen zu wollen. Was in erster Linie heißen dürfte, den Zugang der Armen zu Gesundheit und Erziehung zu verbessern. Dafür müssen die Staatseinnahmen erhöht werden; in Zeiten der Krise kein einfaches Ziel. Ecuador kann bislang allerdings deren Auswirkungen relativ gut kontrollieren.
Erdöl ist das wichtigste Exportgut des Landes und sein hoher Preis hat in den vergangenen beiden Jahren den massiven Ausbau der Sozialpolitik ermöglicht. Letztlich ist der Preisverfall für Ecuador eine Medaille mit zwei Seiten: weit geringere Einnahmen, aber auch niedrigere Ausgaben. Der Andenstaat exportiert aufgrund viel zu geringer Raffineriekapazitäten Rohöl, muss anschließend teures Benzin und Diesel einführen und diese dann noch hoch subventionieren. Sollte sich der Preis für ecuadorianisches Rohöl bei etwa 60 US-Dollar stabilisieren, halten sich Verlust und Gewinn die Waage.
Die führenden Agrarexportprodukte Bananen, Blumen und Krabben sind von den geringeren Absätzen in den USA, Russland und der EU betroffen. Allerdings kann von einem echten Einbruch bislang nicht die Rede sein. Dramatischer ist der Rückgang der Überweisungen von drei Millionen MigrantInnen, die sich in erster Linie auf die USA (45 Prozent), Spanien (41 Prozent) und Italien (8 Prozent) verteilen. Die mehr als drei Milliarden US-Dollar, die auf diese Weise im Jahr 2007 ins Land kamen, stellen die wichtigste finanzielle Unterstützung für viele ärmere Familien dar. Soeben hat die Zentralbank für das erste Vierteljahr einen Rückgang von 27 Prozent gegenüber den Vergleichsmonaten in 2008 bekannt gegeben. Aber jedwede fühlbare Verschlechterung der sozialen Situation schadet Correa. Deshalb hat seine Regierung zu Jahresanfang drastische Einschränkungen von Importen verhängt, um das Handelsdefizit nicht zu weit auseinanderklaffen zu lassen und die einheimische Produktion zu fördern.
Um den finanziellen Handlungsspielraum zu vergrößern, hat Correa auch die Beziehungen zu Venezuela, Iran und China ausgebaut, was bislang allerdings nur wenig spürbar ist, wenn man von dem Direkthandel Rohöl-Diesel mit Caracas absieht. Nicht ungeschickt bewegt sich das Regime in Fragen der Auslandsverschuldung. Nachdem ein Teil davon – die Bonds 2012 und 2030 – im vergangenen Jahr von einer internationalen Kommission als „illegitim“ eingestuft wurden, verhängte die ecuadorianische Regierung ein Zahlungsmoratorium, woraufhin ihr Marktpreis drastisch absackte. Kürzlich machte die Regierung den Inhabern der Bonds das Angebot, die Schuldentitel für 30 Prozent ihres nominellen Werts zurückzukaufen. Damit könnte Ecuador ein Drittel seiner Außenschuld zu relativ günstigen Konditionen tilgen, ohne einen massiven Konflikt mit der internationalen Finanzwelt zu provozieren. Dies würde nicht zuletzt auch neue Kreditaufnahmen erleichtern.
Die direkt nach der Wahl verkündete Übergabe von unter staatlicher Kontrolle stehenden Ländereien an landlose Bauern und Bäuerinnen, könnte in Richtung stärkerer struktureller Reformen verweisen – eine zentrale Herausforderung in der extrem ungerechten Gesellschaft Ecuadors. Die ersten vier Haciendas wurden kürzlich an organisierte Gruppen von Bauern und Bäuerinnen übergeben. Es wird spekuliert, dass die Regierung noch in diesem Jahr ein Landreformgesetz präsentiert, das sich an dem Ziel der Umverteilung des Zugangs zu produktiven Ressourcen, wie es die neue Verfassung vorsieht, orientiert.
Wie in den anderen Wirtschaftssektoren kann nicht mit einem radikalen Umbauprogramm gerechnet werden, zumal auch die Organissationen der Bauern und Bäuerinnen während der Jahrzehnte der neoliberalen Dominanz dem Thema wenig Aufmerksamkeit gewidmet haben. Doch selbst bescheidene reformistische Ansätze, jenseits der vielfach noch dominanten Marktideologie der Weltbank, könnten den Charakter der Bürgerrevolution ändern: weniger Modernisierung von oben, mehr struktureller Wandel an der sozialen und ökonomischen Basis. Ebenso dringend wäre, Alianza País in eine Partei mit demokratischen Strukturen und Regeln zu überführen, statt sie als allein auf den Machterhalt des Präsidenten orientierte Bewegung zu belassen.

Keine Wahl für die Bevölkerung

Der enorme Popularitätsverlust der argentinischen Regierung wurde in der letzten Zeit immer deutlicher. Besonders bei den Industrieverbänden und der ArbeiterInnenbewegung schwand die Unterstützung für Cristina Kirchner. Deren massive Proteste und Straßensperrungen gegen die Erhöhung der Exportsteuern im Agrarsektor hatten die Regierung an den Rand der Regierbarkeit geführt. Zudem spitzt sich mit Verschärfung der Wirtschaftskrise und den zunehmenden Auswirkungen auf das südamerikanische Land die Situation auf dem Arbeitsmarkt immer mehr zu. Insgesamt gab es in den letzten Monaten mehr als 50.000 Entlassungen. Die Auseinandersetzungen zwischen UnternehmerInnenverbänden, Gewerkschaften und ArbeiterInnen nehmen stetig zu. Auf die politische Instabilität und die Wirtschaftskrise im Land reagierte Cristina Kirchner nun mit dem Vorziehen der Wahl von SenatorInnen und Abgeordneten von Oktober auf Juni dieses Jahres.
Das Zerwürfnis zwischen der Präsidentin und den mächtigen Agrarverbänden Argentiniens wird derweil immer offensichtlicher. Die Vorverlegung der Parlamentswahlen und der Druck der UnternehmerInnenverbände, die bisher nur einen Konsens mit den regierungstreuen Gewerkschaften erzielt haben, war somit Auslöser für einen politischen Konflikt, der bis heute andauert. Daher haben einige Gewerkschaften den Vorschlag der Nationalen Industrieunion Argentiniens (UIA) angenommen, die Debatte über Gehaltserhöhungen, die eigentlich bereits im März stattfinden sollte, in die zweite Jahreshälfte zu vertagen.
Juan Lascurain, Präsident der UIA, begründete diesen Vorschlag mit den sich verschlechternden Produktionsbedingungen und erklärte, dass bestimmte Sektoren in Zukunft an Produktivität verlieren werden und es nicht mehr möglich sein werde, die Gehälter früherer Zeiten aufrecht zu erhalten. Im selben Sinne äußerte sich auch der stellvertretende Vorsitzende der UIA, Osvaldo Rial: „Es ist nicht der Moment, um sich an den Verhandlungstisch zu setzen.“ An den so genannten paritarias, Verhandlungsrunden zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, werden normalerweise jedes Jahr ab März Gehaltserhöhungen für die ArbeiterInnen ausgehandelt, je nach Inflation und Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel. Angesichts der Krise und um Auseinandersetzungen mit sowie Proteste der ArbeiterInnen vor den Wahlen zu vermeiden, sind einige regierungstreue Gewerkschaften nun auf den Kurs der UIA eingeschwenkt.

Ausbrechende Arbeitskämpfe gibt es momentan viele in Argentinien.

In einem im April erschienenen Bericht bekräftigte die UIA, dass die industrielle Produktion im Gegensatz zum Februar 2008 um 12,2 Prozent zurück ging. Die Regierung spricht hingegen lediglich von einem Rückgang von 1,5 Prozent und bezieht sich dabei auf Daten des Nationalen Statistikinstitutes INDEC. Der Rückgang der Produktion führt zu steigender Arbeitslosigkeit. Der Konflikt zwischen UnternehmerInnen und regierungstreuen Gewerkschaften sowie ArbeiterInnen auf der anderen Seite dehnen sich auf immer mehr Sektoren aus: von der Automobilindustrie über das Bauwesen und die Metallindustrie bis hin zu den Tiefkühlwaren und der Schuhindustrie. Die Unternehmensgruppe Grupo Techint, der zahlreiche Ingenieurs- und Baufirmen angehören, traf beispielsweise eine Abmachung mit den regierungstreuen Gewerkschaften über eine Arbeitsstundenminderung von 50 Prozent und einen Gehaltsnachlass von 22 Prozent.
Ausbrechende Arbeitskämpfe gibt es momentan viele in Argentinien. In der Provinz Rio Negro streikten LehrerInnen 40 Tage für eine Gehaltserhöhung und die Verteidigung des öffentlichen Erziehungswesens. Sie wurden dabei vom Staatlichen UnternehmerInnenverband ATE sowie von ArbeiterInnen des Gesundheitswesens und der Justiz unterstützt. Die Angestellten der U-Bahn von Buenos Aires riefen angesichts der Drohungen und der Untätigkeit der regierungstreuen Leitung der Gewerkschaft UTA und des UnternehmerInnenverbandes der U-Bahn-Betriebe Metrovías, die ArbeiterInnen zu einem Referendum auf und gründeten eine neue Basisorganisation.
Laut dem Arbeitsministerium wurden in den ersten Monaten dieses Jahres Arbeits- und gewerkschaftliche Konflikte in insgesamt 125 Unternehmen im Ballungsraum Buenos Aires festgestellt. In der Provinz Córdoba reichten mehr als 100 Betriebe das so genannte präventive Krisenverfahren ein, ein administratives Vermittlungsverfahren, welches noch vor den Entlassungen und Absetzungen im Nationalen Arbeitsgesetz festgelegt wurde. Der Gewerkschaftsdachverband CTA bestätigte, dass es in Córdoba 9.000 Absetzungen sowie 10.000 Entlassungen und 5.000 erwerbslose ArbeiterInnen des Baugewerbes gab. 40 Prozent der ArbeiterInnen Argentiniens befinden sich in einer prekäre Situation: Schwarzarbeit, keine Sozial- oder Arbeitslosenversicherung. Und auch die Arbeitslosenorganisationen protestieren. Am 12. März zogen sie einem heterogenen massiven Demonstrationszug vor das Arbeitsministerium und forderten neben würdige Arbeit einen Plan für öffentliche Bauvorhaben und eine Unterstützung für alle Arbeitslose in Höhe von 540 Peso (circa 111 Euro).
Angesichts der prekären Lage vieler ArbeiterInnen und Erwerbslosen hat die Regierung Kirchner nur sehr bescheidene soziale und ökonomische Maßnahmen getroffen. Sie kündigte bis dato die Erweiterung der Sozialprogramme um zwei Milliarden Peso sowie die Schaffung von 1.000 Klein-Kooperativen für Arbeitslosenorganisationen an und hob die Rente um zwölf Prozent an. Cristina Kirchners Kommentar zu den sozialen Missständen beschränkte sich auf die Erklärung, dass „Jene, die mehr haben, den Rest der Gesellschaft unterstützen müssen.“ Nur so könne sozialer Frieden gewährleistet werden. „Ansonsten enden wir wieder wie Ende 2001.“
Die tiefe ökonomische und politische Krise Ende 2001 / Anfang 2002 in Argentinien, die das Jahrzehnt der Privatisierungen beendete und die die sozialen Ungleichheiten in Argentinien massiv verschärfte, brachte eine tiefe politische und repräsentative Krise mit sich – sowohl in Bezug auf politische Parteien als auch auf die traditionellen Gewerkschaften. Die schwachen Bündnisse, die seitdem aufgebaut wurden, unterstreichen diesen Zusammenbruch der politischen Konstellationen von damals. Die Unbeständigkeit und das ständige Auswechseln von PolitkerInnen und politischen Führungspersonen war auch Bestandteil der gegenwärtigen Regierung. Besonders deutlich wurde dieses Hin und Her der politischen AmtsträgerInnen, als der ehemalige Vizepräsident Julio Cobos aus seiner eigenen Partei UCR ausgestoßen wurde, als er das Regierungsvorhaben zur Erhöhung der Exportsteuern auf Agrarprodukte nicht unterstützte.
Wegen der massiven „Flucht“ von Mitgliedern der Regierung Kirchner aus den eigenen Reihen, wurden nun angesichts der bevorstehenden Wahlen eilig die KandidatInnenlisten gefüllt. So genannte candidatos testimoniales wurden sozusagen als Lückenfüller aufgestellt, das heißt, dass Personen auf den Listen für die Parlamentswahlen geführt werden, die bekanntermaßen die Regierung Kirchner unterstützen, aber nicht unbedingt der Partei angehören. Es ist klar, dass diese Personen nicht die Posten antreten werden, für die sie kandidieren. Mit diesem zwar legalen, aber deutlich demagogisch-opportunistischen Schachzug, versucht die Regierung, sich in einem Moment der ex- und internen Krise schnellstmöglich für die Wahlen aufzustellen. Genau wie in den Jahren 2003 und 2007 werden die diesjährigen Wahlen in einem internen Streit der Peronistischen Partei PJ ausgetragen, die immer mehr zersplittert. Diejenigen die schließlich die Posten übernehmen werden, sind den WählerInnen bisher gänzlich unbekannt. Diese geben sozusagen bloßen „Pappfiguren“ ihre Stimme.
Innerhalb der Opposition lassen sich für die anstehenden Wahlen neokonservative Bündnisse erahnen, die den UnternehmerInnenverbänden des Agrarsektors nahe stehen. Hier lassen sich Persönlichkeiten finden wie der Bürgermeister von Buenos Aires, Mauricio Macri, oder Felipe Solá, ehemaliger Minister für Landwirtschaft und Fischerei unter der Regierung von Saul Menem und ehemaliger Gouverneur der Provinz Buenos Aires. Oppositionelle Parteien aus dem linken Spektrum haben noch keine eigene Alternative und daher auch keine Chance durch Wahlen an die Macht zu gelangen.

Das Zerwürfnis zwischen der Präsidentin und den mächtigen Agrarverbänden Argentiniens wird immer offensichtlicher.

Am 25. Februar dieses Jahres veröffentlichte der Leiter des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA, Leon Panetta, einen Bericht, in dem er ankündigte, dass die Weltwirtschaftskrise in einigen Ländern Lateinamerikas politische Instabilität hervorrufen könnte, „vor allem in Argentinien, Ecuador und Venezuela”. Angesichts dieser „Warnung” luden Präsidentin Kirchner und ihr Vize Jorge Taiana am 27. Februar den nordamerikanischen Botschafter Earl Anthony Wayne zur Erläuterung dieser Aussagen vor. Mitte März begannen daraufhin bekannte FernsehmoderatorInnen des Landes das argentinische Fernsehpublikum auf einen neuen öffentlichen Sicherheitsdiskurs einzuschwören, in dem öffentlich mit Aussagen wie „Wer tötet, muss sterben” für mehr Sicherheit gehetzt wird. Am 18. März riefen sie zu einer Demonstration auf dem zentralen Platz in Buenos Aires, der Plaza de Mayo, auf. Organisiert wurde die Demonstration von der Nichtregierungsorganisation Bessere Sicherheit, die von Constanza Gugliemi geleitet wird, Tochter des Generals Alejandro Gugliemi, dem vorgeworfen wird, während der letzten Militärdiktatur (1976 bis 1983) an Vorgängen in dem geheimen Folterzentrum El Campito beteiligt gewesen zu sein.
Das Thema der Auseinandersetzungen zwischen den Agrarverbänden und der Regierung wurden vom aufsteigenden Sicherheitsdiskurs verdrängt. Angestoßen wurde dieser von Ex-Präsident Néstor Kirchner, der bei der Bekanntgabe der vorgezogenen Wahlen erklärte: „Argentinien muss die Regierbarkeit zurück erlangen.“ Am 27. März präsentierte die Regierung dann ihren neuen Plan für die Öffentliche Sicherheit. Der Minister für Justiz, Sicherheit und Menschenrechte, Aníbal Fernández, sagte, dass der Plan sich im ersten Abschnitt auf 38 Gemeinden der Großräume von Buenos Aires, Mar del Plata, Bahía Blanca und Gran Mendoza konzentrieren würde. Der Plan beinhaltet die Bereitstellung von 400 Millionen Peso, die für neue Ausstattung, die Mitbestimmung der BürgerInnen und die Installierung von Kameras verwendet werden sollen. Außerdem werden mindestens 4.000 Mitglieder der Ordnungs- und Sicherheitskräfte, die aus dem Dienst entlassen worden waren, wieder eingegliedert. Noch wurde aber nicht bekannt gegeben, wer genau wieder in den Dienst zurück kehren wird. Menschenrechtsorganisationen protestieren gegen diese Maßnahme, da sie befürchten, dass ehemalige Mitglieder der Streitkräfte, die wegen Menschenrechtsverbrechen beschuldigt wurden, wieder aufgenommen werden könnten. Aníbal Fernández verkündete darüber hinaus die Schaffung von so genannten Städtischen Operationszentren COM, die „zentral dafür sein sollen, zu wissen was in allen Bezirken vor sich geht”.
In den ärmsten Provinzen des Landes Misiones, Chaco, Formosa und Corrientes, den am stärksten von Hunger und Denguefieber geplagten Gebiete, wurden im Rahmen dieses Plans schon 1.000 Browning-Pistolen mit Zusatzmagazinen verteilt. Der Justizminister kündigte gleichzeitig an, dass in Kürze nochmals 1.000 Pistolen nach Jujuy, Salta, Catamarca, Tucumán, Santiago del Estero, Río Negro und Chubut ausgeliefert würden. Außerdem sollen im gesamten Nordosten und Nordwesten Argentiniens Schießplätze gebaut und eine „fortwährende Ausbildung” der Polizei garantiert werden.
Die Ankündigung des Sicherheitsplans im Kontext einer sich verschärfenden sozialen Krise und von einer Regierung, die innerhalb so wie außerhalb ihres „Industriezusammenschlusses” an Legitimität verliert, kann nichts anderes zum Ziel haben, als den Status quo und die Regierbarkeit im Land aufrecht zu erhalten, um die Krise unbeschadet zu überstehen. Und wer in Zeiten der Krise, die Bevölkerung „in Schach halten“ muss und den „sozialen Frieden“ garantieren soll, kann in Argentinien vielleicht auf dieselbe Straffreiheit hoffen, die der ehemalige Präsident Fernando de la Rúa genießt. Dessen Verfahren wegen Mordes an fünf Demonstranten während der Massenproteste der Bevölkerung am 19. und 20. Dezember 2001 wurde am 7. April diesen Jahres vom Bundesrichter Claudio Bonadío eingestellt.

„Rechtsverletzungen müssen ein Ende nehmen“

Wie würdest du ganz allgemein die Situation von Transleuten in Kolumbien beschreiben?
Es ist uns in den letzten Jahren gelungen, mehr Anerkennung für die Rechte von Transmenschen zu erreichen. Unsere Rechte als Bürgerinnen und Bürger werden zunehmend geschützt. Abgesehen davon gibt es nach wie vor sehr hartnäckige gesellschaftliche und kulturelle Probleme, die langfristig gelöst werden müssen. In Städten wie Bogotá, Medellín und Cali müssen wir vor allem darum kämpfen, dass die Rechtsverletzungen durch Polizei und Armee ein Ende nehmen. Innerhalb dieser Gruppen gibt es immer noch eine unglaubliche Transphobie. Immer wieder ereignen sich Übergriffe. Zumindest in Bogotá arbeiten wir allerdings gut mit der Stadtverwaltung zusammen. Dort regiert der Alternative Demokratische Pol, der auch eine LGBT-Gruppe hat, den Rosa Pol. Die Partei ist wirklich sehr progressiv und setzt sich für die bedingungslose Durchsetzung der Menschenrechte ein – auch bei Diskriminierungen aufgrund der geschlechtlichen Identität oder der sexuellen Orientierung.

Gibt es denn Statistiken über die Zahl transphober und homophober Hassverbrechen?
Die offiziellen Statistiken führen diese Verbrechen nur als ganz normale Straftaten oder „Verbrechen aus Leidenschaft“ und nicht als Hassverbrechen. Es gibt allerdings eine Studie von GerichtsmedizinerInnen, die aufgrund bestimmter Merkmale die Toten als Opfer von Hassverbrechen identifiziert. In Bogotá und Cali zusammen wurden im Jahr 2007 insgesamt 52 eindeutige Hassverbrechen an Transfrauen registriert. Bei dieser Zahl sind jedoch viele Fälle nicht berücksichtigt, bei denen andere Tatmotive nicht ausgeschlossen werden können. Im letzten Jahr gab es zumindest in Bogotá dann weniger Fälle, da sich Militär und Polizei etwas zurückgehalten haben. Dies ist vermutlich eine Folge der bewussten Menschenrechtspolitik durch die Stadt. In Cali ist das allerdings nicht so. Allein in der ersten Jahreshälfte 2008 wurden dort 19 Transmenschen ermordet.

Wie ist die Situation von Transmenschen auf dem Arbeitsmarkt?
Ich glaube, unsere Situation ist überall auf der Welt sehr komplex, und das ist in Kolumbien nicht anders. Erst einmal ist es meistens so, dass wir, wenn wir nach außen so sein wollen, wie wir sind, in Kolumbien im Prinzip auf zwei Sphären beschränkt werden: entweder du arbeitest als Hure oder als Friseurin. Oder du trittst vielleicht noch in LGBT-Szenelokalen bei Shows auf. Denn selbst wenn du in einem Beruf ausgebildet bist, gibt es viele Diskriminierungen bei der Stellensuche. Es gibt auch immer wieder Fälle, in denen Leute eine Arbeitsstelle haben und sie dann im Zuge ihrer Geschlechtsanpassung verlieren.

Welche Strategien wendet ihr dagegen an?
Wir haben in Zusammenarbeit mit verschiedenen kommunalen Verwaltungen versucht, Bildungsprogramme zu starten. Dazu gehören das Nachholen des Abiturs, aber auch Berufsausbildungen: als Friseurin, Sekretärin, Bildungs- oder Gesundheitspromotorin. Im Bereich Sicherheit haben wir in Bogotá Kontakte zu den zuständigen Behörden, bei denen wir nicht nur Anzeige erstatten, sondern diese auch für die Situation von Transmenschen sensibilisieren und Schulungen anbieten.

Die Politik auf nationaler Ebene wird ja von der Mitte-Rechts-Koalition und dem Hardliner Álvaro Uribe bestimmt. Wie läuft es da?
In einigen Städten und Departamentos haben wir Erfolge erzielt, auf nationaler Ebene ist das schwieriger. Wir mussten oft den Weg über das Verfassungsgericht nehmen, wo wir Klagen zur Durchsetzung von Grundrechten angestrengt haben: Ermöglichung von Schulbesuch, Sozialversicherung, Bewegungsfreiheit in bestimmten Landesteilen und auch Operationen. Die Regierung Álvaro Uribe öffnet sich dafür natürlich nicht von selbst. Immerhin hat das kolumbianische Außenministerium ein Kulturprojekt von Transkünstler_innen unterstützt. Auch dies haben wir durch Lobbyarbeit erreicht. Gesetzentwürfe zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften oder zur vereinfachten Personenstandsänderung in Dokumenten sind bislang vom Parlament nicht verabschiedet worden. Die Regierung stellt sich der Durchsetzung solcher Rechte vehement entgegen.

Welche Regelungen gelten für geschlechtsangleichende Operationen?
Intersexuelle wurden früher aufgrund der Entscheidung von Ärzten oder Eltern schon nach der Geburt operativ an das männliche oder das weibliche Geschlecht angepasst. Wir haben erreicht, dass, sofern das Leben des Kindes nicht gefährdet ist, diese Operation erst nach Erreichen der Volljährigkeit – selbstbestimmt und nur auf eigenen Wunsch – durchgeführt werden kann. Für Transsexuelle sind, abgesehen von Projekten in einzelnen Departamentos, geschlechtsangleichende Operationen und die Hormonbehandlung nicht durch das Sozialversicherungssystem abgedeckt. Die Behandlung ist dermaßen teuer, dass viele die Eingriffe nicht von ausgebildeten MedizinerInnen vornehmen lassen. Dies führt oft zu schweren gesundheitlichen Schäden.

Wie sichtbar sind Transmänner in Kolumbien?
Generell ist es erst einmal so, dass Schwule oder Lesben, deren Äußerlichkeiten den Geschlechterstereotypen entsprechen, eher akzeptiert sind. Alles, was diesen sozialen und kulturellen Normen nicht entspricht, erfährt Diskriminierungen. Transfrauen haben sich in den letzten Jahren schon eine recht große Präsenz erkämpft. Es gibt auch Transmänner, die öffentlich für ihre Rechte eintreten, vor allem in Bogotá. Für sie ist allerdings die Hürde sich zu outen viel größer, weshalb viele ihre Identität weiterhin verstecken: in ihrer Familie, ihrem Umfeld – und sogar in der LGBT-Szene. Es liegt natürlich auch an uns, Transmänner noch offener aufzunehmen und ihnen zu zeigen, dass wir für ihre Anliegen sensibilisiert sind.

Welchen Stellenwert hat das Thema Intersexualtität in Kolumbien und Lateinamerika?
Das ist eine sehr aktive Bewegung. In Bogotá arbeitet in dem Bereich beispielsweise die Kolumbianische Vereinigung der Ausprägungen von Intersexualität. Auch in Brasilien und Argentinien gibt es zahlreiche Gruppen. Transorganisationen arbeiten bereits gut mit Intersexuellen zusammen, es gibt allerdings noch viel zu tun. Es muss noch mehr Sichtbarkeit und mehr Räume für Auseinandersetzung geben.

Die linken Regierungen, etwa von Venezuela, Bolivien oder Ecuador, öffnen sich in ihren neuen Verfassungen für die Rechte von LGBT. Wie bewertest du diese Entwicklung?
Ich freue mich sehr, dass Präsidenten wie Hugo Chávez oder Evo Morales die Notwendigkeit erkannt haben, sich auch mit uns an einen Tisch zu setzen und unsere staatsbürgerlichen Rechte zu schützen. Trotzdem sind die Verlautbarungen mit Vorsicht zu genießen. Die Ernsthaftigkeit des Engagements wird sich erst zeigen, wenn den Ankündigungen konkrete Maßnahmen und Haushaltsmittel folgen. In Venezuela kritisieren viele zudem, dass einige Chávez-AnhängerInnen innerhalb der LGBT-Bewegung glauben, Rechte seien verhandelbar. Es besteht der Vorwurf, sie trieben die politische Vereinnahmung der Bewegung voran und erhielten im Gegenzug Posten zugeschanzt. Die Situation für Transmenschen ist aber unverändert schwierig, es ist von Doppelzüngigkeit die Rede. In Bolivien scheint es dagegen wirklich voranzugehen.
Welche begrifflichen Konzepte verwendet ihr, wenn ihr von eurer Bewegung sprecht?
Das kommt immer auf den jeweiligen Zusammenhang an. Eigentlich bezeichnen wir uns als LGBT, was die konkreten Personen, um die es geht, sichtbarer macht: Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transmenschen. Für die Öffentlichkeit ist es jedoch einfacher, von „Sexueller Vielfalt“ zu sprechen. Der Begriff wurde von uns aufgegriffen, wir klammern uns nicht an die Form, sondern legen Wert auf die Inhalte: gleiches Recht für alle.

Gibt es Kontakte zur Frauenbewegung?
Wir Transfrauen arbeiten punktuell mit feministischen Gruppen zusammen, laden uns gegenseitig zu unseren Aktionen ein. Einige Transfrauen sind auch in feministischen Gruppen präsent. Im Gegensatz zur schwulen Szene sind wir in der Frauen- und Lesbenbewegung sehr akzeptiert.

Wie verhalten sich die Schwulen?
In Bogotá bekommen wir sehr viel Unterstützung, anderswo – in Medellín, Santander oder an der Atlantikküste – gibt es deutliche Widerstände der Schwulenbewegung, mit uns Bündnisse einzugehen. Es wird dann immer behauptet, wir hätten kein Interesse an der Zusammenarbeit. Das Problem ist aber ihre Unfähigkeit, eine breitere Perspektive zu entwickeln, in der auch wir einen Platz haben.

// Interview: Sebastian Henning

Kasten:
Charlotte Schneider Callejas
arbeitet für den Verein für das Recht auf kulturelle und geschlechtliche Identität von Transgendern in Kolumbien (Asociación por el Derecho a la Identidad Cultural y Sexual de los Transgeneristas en Colombia, kurz: Asociación Transcolombia). Außerdem ist sie in verschiedenen Netzwerken zum Thema „Trans“ aktiv: Unter anderem im Kolumbianischen Netzwerk von Transmenschen (Red Colombiana de Personas Trans), beim Nationalen Runden Tisch der LGBT-Bewegung (Mesa Nacional del Movimiento LGBT Colombia), dem Runden Tisch LGBT Bogotá (Mesa LGBT Bogotá). Sie ist Kolumbien- und Transverantwortliche des Lateinamerikanischen und Karibischen Bündnisses der Künstler_innen und Aktivist_innen im Bereich HIV/AIDS (Frente Latinoamericano y del Caribe de Artistas Activistas con Trabajo en VIH y SIDA).

Glossar:
Intersexuelle // Menschen, die aufgrund verschiedener körperlicher Merkmale (von Geburt an) nicht eindeutig dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind.
LGBT // (engl.) Abkürzung für Lesbian-Gay-Bisexual-Transgender = Lesbisch-Schwul-Bisexuell-Transgender.
Transgender // (Oberbegriff) = (engl.) Person, die sich nicht oder nur teilweise mit den ihrem anatomischen Geschlecht zugewiesenen sozialen Rollen und Praktiken identifizieren kann.
Trans // Der Terminus wird hier als Oberbegriff verwendet. Er umfasst dabei ausdrücklich sowohl Transgender im engeren Sinne, die das Überwinden von Geschlechterkategorien anstreben, als auch Transsexuelle, die eine Geschlechtsangleichung innerhalb der gegebenen Kategorien wünschen.
Travesti // (span.) Subkulturelle Selbstbezeichnung für Transgender mit ursprünglich männlicher Zuordnung, die selbstbestimmt ihre geschlechtliche Identität leben und definieren sowie teilweise ihre Körper modifizieren, etwa mittels der Einnahme weiblicher Hormone und der Injektion von Silikon.
_innen // Schreibweise, die im Gegensatz zur Schreibung mit großem „I“ in Texten auch jene Personen sichtbar machen will, die „zwischen den Geschlechtern“ existieren.

Bürgerrevolution ohne BürgerInnen?

„Die Bürgerrevolution ist im Gang“, heißt es jeden Montag am Ende der offiziellen Fernsehsendung, die auf allen Kanälen die Erfolge von Correas Politik aus der vorherigen Woche zeigt. Die Bürgerrevolution ist scheinbar nicht zu bremsen. Rafael Correa und seine Partei Alianza País werden im April die fünfte Wahl in Folge gewinnen, zumindest auf nationaler Ebene. Den rechten Parteien haftet der Ruch des Ewiggestrigen an. Expräsident Lucio Gutiérrez (2003 bis 2005) darf zwar wieder kandidieren, liegt aber in den Umfragen bei nur um die 9 Prozent. Álvaro Noboa, Correas Widersacher in den Wahlen von 2006, ist mit circa 14 Prozent auch derzeit sein stärkster Konkurrent.
Die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) hat Ecuador für 2008 ein Wirtschaftswachstum von 6,5 Prozent attestiert, allerdings auch eine Inflationsrate von 9,9 Prozent. Nachdem die Regierung die internationalen Erdölkonzerne seit 2007 per Dekret gezwungen hatte, in neu verhandelten Verträgen 90 Prozent der Mehreinnahmen durch hohe Ölpreise auf dem Weltmarkt an den Staat zu zahlen, ging die private Ölproduktion angeblich nur um 4,2 Prozent zurück. Vor kurzem erst lenkte die spanische Repsol ein, die des Landes verwiesen werden sollte, weil sie 444 Millionen US-Dollar solcher Steuern schuldig geblieben war. Diese sollen jetzt in Raten abbezahlt werden.
Dennoch sagen ExpertInnen voraus, dass die weltweite Wirtschaftskrise das Land am Äquator noch hart treffen wird. Die Überweisungen von MigrantInnen aus den USA und Europa sind bereits stark zurückgegangen und der niedrige Ölpreis hat die gesamte Haushaltsplanung der Regierung empfindlich getroffen. Sie hatte ihr Budget auf einer Grundlage von 85 US-Dollar pro Barrel kalkuliert, in den letzten Monaten liegt der Preis aber bei 40 bis 50 US-Dollar. Umso verbissener will die Regierung nun den Bergbau im Land forcieren. Im Januar wurde vom Übergangsparlament, in dem Alianza País die Mehrheit hat, ein neues Bergbaugesetz verabschiedet. Ungeachtet der derzeitigen Tiefstpreise auch für Kupfer und andere Erze auf dem Weltmarkt war man bemüht, wieder Rechtssicherheit für ausländische InvestorInnen zu schaffen, wobei diese sich eher zurückhaltend zeigen.
Laut dem ehemaligen Bergbauminister Alberto Acosta verstößt das neue Bergbaugesetz in mehreren Punkten gegen die neue Verfassung. Unter die Räder kommen dabei die indigenen Gemeinden. In den meisten Fällen soll in traditionell indigenen Gebieten abgebaut werden. Nachdem Correa in der Verfassung bereits durchgesetzt hatte, dass die Ergebnisse der international vorgeschriebenen Vorabbefragung der AnwohnerInnen über Entwicklungsprojekte und Ausbeutung von unterirdischen Naturressourcen für die Regierung nicht bindend sein müssen, hat er jetzt nur noch Worte der Verachtung übrig für die Indigenen und UmweltschützerInnen, die seinem Vorhaben im Weg stehen. Mit Vorliebe nennt er sie „infantil“. Als die größte indigene Organisation, die Konföderation Indigener Nationen Ecuadors (CONAIE) und Umweltnetzwerke am 20. Januar landesweit gegen das neue Gesetz mobilisierten, schickte er die Polizei, um die Straßenblockaden gewaltsam zu räumen – eine Repression, die bisherige Regierungen sich in Ecuador politisch nicht so einfach leisten konnten. Dieser Vorfall versinnbildlicht, dass sich am Entwicklungsmodell, welches in der Verfassunggebenden Versammlung so leidenschaftlich diskutiert wurde, nichts verändert hat. Es geht nach wie vor um das „extraktive Modell“, also um den Ausverkauf von Naturressourcen. Neu ist, dass die Einnahmen daraus nun etwas gerechter verteilt werden.
Die international anerkannte Umweltorganisation Acción Ecológica wurde Anfang März von der Regierung in Kenntnis gesetzt, dass ihr der Vereinsstatus und damit die rechtliche Grundlage für ihr Tun aberkannt worden sei. Die Organisation ist eine der wenigen, die sich grundsätzlich gegen jegliche In-Wert-Setzung des amazonischen Regenwalds ausspricht, auch in Form von Naturschutzgebieten. Die Regierung ließ eilig verlautbaren, es handle sich dabei lediglich um einen administrativen Vorgang, da die Organisation beim Gesundheitsministerium registriert war, aber Umweltthemen bearbeite und deshalb beim Umweltministerium angesiedelt sein müsse. Dennoch liefen viele AktivistInnen und Nichtregierungsorganisationen (NRO) Sturm gegen diese Maßnahme. Als Acción Ecológica in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre gegründet wurde, existierte in Ecuador noch kein Umweltministerium. Die Aktion wurde als Ausdruck dafür angesehen, dass die Regierung, anstatt mit den sozialen Bewegungen, denen sie letztlich die Macht verdankt, den Austausch zu suchen und neue Impulse von ihnen aufzunehmen, diese nur noch als missliebige Opposition bekämpft. Zwei Wochen später musste die Maßnahme allerdings zurückgenommen werden, Acción Ecológica hat nun wieder einen provisorischen Rechtsstatus, bis in knapp zwei Monaten gerichtlich entschieden werden soll.
Nach der Implosion der organisierten Rechten ist es vor allem eine linke Opposition, die sich in Ecuador zu Wort meldet. Auch sie ist jedoch schwach und zersplittert. „Bürgerrevolution ohne Bürger?“ parodierte vor einigen Wochen das Politik-Magazin Vanguardia den offiziellen Slogan und stellte die These auf, die sozialen Bewegungen seien seit dem Amtsantritt Rafael Correas empfindlich geschwächt worden. Wo früher in den Medien Indigene, Frauenbewegte oder Jugendliche sich in Debatten um Lösungen einbrachten, sei heute fast ausschließlich die Meinung des Präsidenten vertreten.
Diese These ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Rafael Correa zieht mit seinem Charisma, seiner provokanten Eloquenz, aber auch seinem Regierungsstil, der durchaus etwas Autokratisches hat, einen Großteil der öffentlichen Aufmerksamkeit auf sich. Linke OppositionskandidatInnen wie Martha Roldós, die Tochter des Expräsidenten Jaime Roldós (1979 -1981), haben es schwer, aus Correas Schatten zu treten, und wirken in ihrer Kritik schnell hölzern und negativ. Roldós bewegt sich je nach Umfrage zwischen 1,5 und 7,7 Prozent der Wahlabsichten.
Die CONAIE-nahe Partei Pachakutik schickt diesmal gar nicht erst einen Präsidentschaftskandidaten ins Rennen und konzentriert sich auf lokale Kandidaturen. Bis zum letzten Moment wartete sie auf Alberto Acosta als ihren Spitzenkandidaten, obwohl dieser bereits mehrfach geäußert hatte, nicht gegen Correa antreten zu wollen, und ging so ganz leer aus. Nachdem Pachakutik auf nationaler Ebene politisch irrelevant geworden ist, demontiert die Regierung auch die anderen Einflusssphären, die CONAIE sich seit 1990 im Land aufgebaut hatte. So hat sie vor Kurzem das Amt für interkulturelle Bildung DINEIB, das bisher institutionell autonom, politisch aber stark von der CONAIE kontrolliert worden war, in die Hierarchie des Erziehungsministeriums eingebunden und damit unter Correas politische Kontrolle zurückgeführt.
Ein weiterer Angriff der Correa-Regierung auf die indigene Institutionalität war Ende Januar gegen den Nationalen Rat für die Entwicklung der Nationalitäten und Völker Ecuadors (CODENPE), gerichtet, der staatlichen Instanz für indigene Angelegenheiten, dessen Existenz erst 2007 per Gesetz konsolidiert worden war. Nachdem Lourdes Tibán, die damals amtierende Direktorin des CODENPE, öffentlich die CONAIE-Proteste gegen das Bergbaugesetz am 20.Januar unterstützt und die Regierung kritisiert hatte, strich letztere dem CODENPE seinen kompletten Jahreshaushalt und verdammte ihn damit zur Untätigkeit. In der neuen Architektur der staatlichen Institutionen sollen nun sowohl CODENPE als auch CONAMU, der nationale Frauenrat, degradiert werden, indem ihnen nur noch Kompetenzen bei der Beratung anderer Ministerien zugestanden werden. Ein Budget zur Durchführung eigener Projekte oder Politiken bekommen sie nicht mehr. Das kommt, historisch betrachtet, in beiden Fällen der faktischen Abschaffung von wichtigen Errungenschaften sozialer Bewegungen Ecuadors gleich. Denn beide Räte waren Instanzen, deren Direktorien paritätisch von Zivilgesellschaft und Regierung besetzt waren, und insofern echte Orte der Mitbestimmung.
Auch in Sachen Mitbestimmung wird der Staat umgebaut: Die neue Verfassung schreibt eine sogenannte fünfte Gewalt vor (neben Exekutive, Legislative, Judikative und der Wahlbehörde), den Rat für Bürgerbeteiligung und soziale Kontrolle (CPCCS). Es handelt sich um ein siebenköpfiges Gremium mit ebenso vielen StellvertreterInnen, das unter anderem Bürgerkomitees zusammenstellen soll, um verschiedene Ämter zu besetzen, die Kontrollfunktionen ausüben sollen: Ombudsstelle für Menschenrechte, Generalstaatsanwalt oder -anwältin, Bankenüberwachung, Wahlgericht. Derzeit gibt es einen provisorischen CPCCS, der vor allem ein Gesetz über die Modalitäten der Mitbestimmung entwerfen soll. Die fünf Jahre lang amtierenden endgültigen Mitglieder sollen ebenfalls am Superwahltag 26. April gewählt werden. Als im Februar die Mitglieder des provisorischen CPCCS per öffentlicher Ausschreibung und anschließendem Auswahlverfahren in einer von Alianza País dominierten Parlamentskommission bestimmt wurden, gab es so viele Unstimmigkeiten, dass einige Mitglieder von vornherein wieder von ihrem neuen Amt zurücktraten, und andere gerichtlich angefochten wurden und ebenfalls gehen mussten. Kein guter Auftakt für ein Gremium, bei dem es in erster Linie um Transparenz und BürgerInnenvertrauen gehen soll. Das Verfassungsmandat des CPCCS ist zwar auf mehr BürgerInnenbeteiligung und weniger Parteienfilz in öffentlichen Ämtern zugeschnitten ist. Dennoch bleibt abzuwarten, ob das Gremium nicht am Ende von der Regierung dazu genutzt werden wird, andere Formen von zivilgesellschaftlicher Partizipation, die nicht diesen offiziellen Weg beschreiten, sondern beispielsweise mehr auf öffentlichen Protest und Widerstand setzen, zu diskreditieren und zu kriminalisieren. Mit „sozialer Kontrolle“ (control social) ist diese Doppeldeutigkeit bereits im Namen der fünften Gewalt angelegt.
Im Prozess der staatlichen Umstrukturierung schwingt viel Progressives mit. Viele FunktionärInnen der Regierung Correa sind bemerkenswert jung und experimentieren mit Visionen von sozialer Gerechtigkeit. Doch von einer Tendenz zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel, also zur Stärkung kollektiver, kooperativer oder traditionell indigener Eigentumsformen, ist trotz der offiziellen Rhetorik vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Ecuador wenig zu spüren. Vielmehr ist eine progressive Verstaatlichung der Gesellschaft zu beobachten, und die Entscheidungen über den künftigen Kurs des Landes werden nicht zwischen verschiedenen progressiven Kräften ausgehandelt, sondern kommen aus dem Politbüro von Alianza País.
// Leonie Fuhrmann

Von Wandel keine Spur

Bei seiner Amtseinführung Mitte August des letzten Jahres sang Fernando Lugo in der Nacht ein Ständchen mit Hugo Chávez: „Cambia, todo cambia“ (Es ändert sich, alles ändert sich). Die Erwartungen in der Bevölkerung und den sozialen Bewegungen, dass schnelle Veränderungen eintreten würden, waren hoch. Mit Ecuador als Vorbild, träumten nicht wenige von einer verfassunggebenden Versammlung in Paraguay. Nach knapp acht Monaten Amtszeit ist jedoch nichts von dem erwünschten Wandel zu spüren. Die erwartete Allianz zwischen der Exekutive und den sozialen Bewegungen ist ausgeblieben. Die sozialen Bewegungen rechneten fest mit ihr, da Präsident Lugo eine Mehrheit im Parlament fehlt. Im Gegenteil sind jedoch viele alte und korrupte Kräfte weiterhin im politischen und Justizapparat verankert: Mitglieder der Colorado-Partei und der Partei UNACE, Ex-Militärs und Ex-Putschisten wie Lino Oviedo. Selbst Lugos wichtigste Verbündete, die liberale Partei PLRA, ist mittlerweile gespalten.
Anstelle von Wandel gibt es widersprüchliche politische Signale. Mit seinem sozialdemokratischen Innenminister Rafael Filizola reiste Lugo nach Chile und Kolumbien, wo Sicherheitsabkommen unterzeichnet wurden, in denen es um eine Kooperation auf dem Gebiet der Aufstandsbekämpfung geht. Beide Abkommen wurde in Paraguay nicht öffentlich diskutiert. Lugo besuchte auch noch den scheidenden US-Präsidenten George W. Bush. Dann aber wieder war Paraguays gewählter Präsident einer der Stargäste bei den Feierlichkeiten des Jahrestages der sandinistischen Revolution am 19. Juli 2008 in Managua.
Vielleicht hätte ein nüchtern-kritischer Blick auf Lugos MinisterInnenriege genügt, um die hohen Erwartungen von vornherein zu dämpfen. Das Kabinett entsprach nicht wirklich den strategischen politischen Zielen wie Landreform, Gesundheitsversorgung und Ausbildung für alle, die er in seinem Wahlkampf versprochen hatte. Es folgte in vielen Fällen eher einer klientelistischen Vergabepolitik. Der Pharmaunternehmer Martín Heisecke hatte Lugo in seinem Wahlkampf offen unterstützt, indem er ihm sein Privatflugzeug gratis zur Verfügung gestellt hatte. Heisecke erhielt nach Lugos Amtsantritt das Ministerium für Handel und Industrie. Zentrale Ministerien mit großen Budgets wie Verkehr und Landwirtschaft gingen an die liberale Partei. Für das Finanzministerium entdeckte Lugo Dionisio Borda neu. Der hatte unter Lugos Vorgänger Nicanor Duarte Frutos schon einmal dasselbe Amt inne, musste allerdings nach Massenprotesten zurücktreten, da er die neoliberalen Rezepte von Internationalem Währungsfonds und Weltbank durchsetzen wollte.
Zentral sind aus heutiger Sicht vor allem die Ministerien für Landwirtschaft und Gesundheitswesen. Die Berufung von Cándido Vera Bejarano als Landwirtschaftsminister provozierte ein erstes Donnergrollen innerhalb der sozialen Bewegungen, das vor allem von Seiten der Kleinbauernorganisationen kam. Vera Bejarano stammt aus einer alteingesessenen Familie aus San Pedro del Ycuamandyju, der Hauptstadt des Departamentos San Pedro, wo Lugo bis 2007 Bischof war. Die Vera Bejaranos sind Liberale, allerdings gehören sie zum reaktionären Flügel der Partei, der die Interessen der GroßgrundbesitzerInnen repräsentiert. Gesundheitsministerin wurde eine scheinbar progressive Kraft, Esperanza Martínez von der linken Volksbewegung Tekojoja. Doch ausgerechnet sie sollte diejenige werden, welche die offene Konfrontation zwischen der Regierung und den sozialen Bewegungen auslöste.
Ernsthafte Schritte in Richtung einer Landreform sind bis heute nicht in Sicht. Zwar erkämpfte das breite Basisbündnis Frente Social y Popular mit einer Massenmobilisierung Anfang November 2008 in Asunción die Gründung einer zentralen Koordinationsstelle für die Landreform CEPRA. Der neu geschaffenen Institution fehlen jedoch Gelder, um ihre Arbeit ernsthaft aufzunehmen. Es stellt sich immer mehr die Frage, ob es der Regierung wirklich noch um eine Landreform im eigentlichen Sinne geht. Anfang Februar dieses Jahres äußerte Alberto Andrade, Minister für ländliche Entwicklung, dass es in der staatlichen Landreforminitiative weniger um die Neuverteilung von Land als vielmehr um ländliche Entwicklung gehe: landesweite direkte Unterstützung für 5.500 Familien in einem ersten Schritt und Infrastrukturmaßnahmen wie der Bau von Straßen, Schulen und Kliniken.
Kleinbäuerliche Armut und Landlosigkeit im Kontrast mit Großgrundbesitz kennzeichnen die Departamentos San Pedro und Concepción, die nördlich der Hauptstadt Asunción im mittleren Teil des Landes liegen. Trotz der Nähe zur Hauptstadt sind sie Beispiele für vom Staat völlig vernachlässigte Gebiete. Der Großteil der bäuerlichen Bevölkerung lebt dort in extremer Armut. Es blüht vor allem der Anbau von Marihuana. Paraguay ist der größte Marihuanaproduzent Lateinamerikas. In der Region gibt es viele GroßgrundbesitzerInnen: ParaguayerInnen, die sich der extensiven Viehzucht und dem Holzschlag widmen, und BrasilianerInnen, die auf den agroindustriellen Anbau und die Produktion von gentechnisch manipulierter Soja setzen. Der Regierungswechsel in Asunción führte vermehrt zu Landstreitigkeiten zwischen ländlichen Gemeinden und GroßgrundbesitzerInnen. Mit Lugo als Hoffnungsträger mobilisierten sich die Kleinbauern und -bäuerinnen sowie die Landlosen. Sie errichteten Zeltlager am Rande von umstrittenen Latifundien, die in einigen Fällen auch direkt besetzt wurden.
Die territoriale Kontrolle in den genannten Regionen wird jedoch von einer Mafia ausgeübt, die aus den korrupten Teilen von Polizei und Justizapparat, alteingesessenen PolitikerInnen und UnternehmerInnen besteht. Teil dieser Kontrolle sind die Morde an BauernführerInnen, die auch unter Lugo nicht gestoppt wurden. So erschossen im Januar dieses Jahres zwei Unbekannten Martín Ocampos, Direktor der Radiostation von Hugua Ñandú und Kleinbauernführer in Concepción.
In San Pedro und Concepción soll offiziellen Angaben nach zudem das Paraguayische Volksheer EPP agieren, eine Kleingruppe von bewaffneten Leuten um ehemalige Mitglieder der Partei Patria Libre. Paraguayische Medien behaupten, die EPP trage die Verantwortung für einige Entführungsfälle in der Gegend. Der bekannteste war der von Luis Lindstroem, Großgrundbesitzer und Ex-Bürgermeister von Tacuatí, der nach der Bezahlung einer enormen Lösegeldsumme wieder freigelassen wurde. Zum letzten Jahreswechsel wurde darüber hinaus der Militärposten von Tacuatí von vermummten und bewaffneten Personen überfallen. Der Posten steht auf dem privaten Land von Maris Lloren, Großgrundbesitzerin und Direktorin der paraguayischen Exportkammer REDIEX. Angeblich wurden nach dem Überfall Flugblätter des EPP gefunden. Auf den Überfall folgte eine massive mediale Kampagne im Land, deren Druck Fernando Lugo letztlich nachgab und den „Plan Jerovia“ in Gang setzte. Hunderte von SoldatInnen, PolizistInnen und StaatsanwältInnen fielen daraufhin in den Distrikten Tacuatí und Horqueta im Departamento Concepción ein, um die vermeintlichen Guerilla-KämpferInnen festzunehmen. Zimperlich ging man dabei nicht vor: Türen wurden eingetreten, Einrichtungsgegenstände und Nahrungsmittel gestohlen und viele Leute misshandelt. Auch Fälle von Folter wurden denunziert. Der bekannte Arzt und Menschenrechtsaktivist Joel Filartiga untersuchte betroffene Bauern und konnte unter anderem Abdrücke von Fingernägeln an ihren Hoden nachweisen. Die Gefolterten gaben an, dass die Militärs sie zwingen wollten, bekannte BauernführerInnen des Gebiets mit der vermeintlichen Guerilla in Verbindung zu bringen. Auch der ermordete Martín Ocampos wurde in die Ecke der EPP gerückt. Gegenüber einer Delegation von MenschenrechtsaktivistInnen, darunter die Nationale Menschenrechtskoordination von Paraguay CEDHUPY, sagten Mitte Januar etliche Kleinbauern und -bäuerinnen aus, dass sie sich nicht mehr trauen, aufs Feld arbeiten zu gehen aus Angst vor Schlägen, Verhaftungen und Verschleppungen.
Die gesammelten Zeugenaussagen wurden Präsident Lugo und dem Innenminister persönlich vorgetragen. Beide räumten zwar ein, dass es in Einzelfällen zu Folterungen gekommen und dies abscheulich sei. Doch würden sie sich nicht beirren lassen und die militärischen Aktionen fortsetzen. Da jedoch bis heute keine „Guerrilleros“ verhaftet werden konnten, verlagerte sich der Schwerpunkt der Aktionen darauf, Marihuanapflanzungen kurz vor der Ernte in schwer zugänglichen Gebieten zu vernichten.
Anhand von San Pedro lässt sich zeigen, wie sehr der von Lugo besungene Wandel auf sich warten lässt. Die alten Strukturen bestehen weiter und so befindet sich die Hauptstadt des Departamentos San Pedro immer noch fest in der Hand der Familie Vera Bejarano. Pastor Vera ist Bürgermeister der Stadt und des Distriktes, Ángel Vera Direktor des regionalen Krankenhauses und Cándido Vera, ein weiterer Bruder, ist Lugos Landwirtschaftsminister. Da Paraguay ein sehr zentralistisch verwalteter Staat ist, kommt nur relativ wenig Geld in den Departamentos an. Und das wenige Geld, das in San Pedro für das Gesundheitswesen bestimmt ist, verwaltet Ángel Vera, der sich lieber seiner Privatklinik als den Dienstzeiten im öffentlichen Spital widmet. Die staatlichen Mittel bleiben fast gänzlich im urban geprägten Distrikt San Pedro, das öffentliche Gesundheitswesen im Rest des Departamentos ist nahezu inexistent.
Als Gesundheitsministerin Esperanza Martínez bei Amtsantritt beschloss, einige wenige, sehr häufig verschriebene Medikamente gratis abzugeben, begannen die offenen Auseinandersetzungen zwischen Establishment und sozialen Bewegungen. Da die Veras die Apotheken in der Stadt kontrollieren, sahen sie ihr Geschäft in ernster Gefahr. Zu ihrem Unmut berief Ministerin Martínez auch noch die Ärztin Raquel Rodríguez zur Gesundheitsdirektorin von San Pedro. Rodríguez gilt als sehr kritische Ärztin mit einer ganzheitlichen Vision von Gesundheit. Sie begann eng mit dem Team des sehr populären Gouverneurs von San Pedro, José „Pakova“ Ledesma, zusammenzuarbeiten, mit dem sie ununterbrochen ländliche Gemeinden besuchte. In spontanen Versammlungen wurden dort die geplanten Konzepte vorgestellt und abschließend gemeinsam mit den BewohnerInnen eine Diagnose zum Gesundheitszustand der Bevölkerung von San Pedro erstellt. Eines der Resultate dieses Austauschs war ein äußerst kritischer Bericht für das Gesundheitsministerium über den negativen Einfluss der in den Sojamonokulturen eingesetzten Pestizide auf die menschliche Gesundheit. Dieser Bericht dürfte Landwirtschaftsminister Cándido Vera überhaupt nicht gefallen haben, denn er und seine Familie besitzen in San Pedro Tausende von Hektar Land, auf denen Soja angebaut wird.
Es kam daraufhin zu Auseinandersetzungen in der Stadt San Pedro. Ángel Vera organisierte mit anderen planilleros/as (BeamtInnen, die nur auf dem Papier in einer öffentlichen Institution arbeiten) aus dem Gesundheitswesen eine Demonstration von etwa Hundert Leuten zum Sitz der regionalen Gesundheitsdirektion, wo sie eindrangen und Raquel Rodríguez massiv einschüchterten und bedrohten. Polizei und Staatsanwaltschaft sahen dem Treiben tatenlos und halb belustigt zu. Am folgenden Tag demonstrierten 2.000 Bauern und Bäuerinnen für das Verbleiben von Rodríguez im Amt und strukturelle Veränderungen im Departamento San Pedro. Einige Zeit später riefen dann wiederum die alteingesessenen BeamtInnen des Gesundheitswesens zum Streik auf und zogen nochmals zur Gesundheitsdirektion. Dort wurden sie jedoch von der Polizei zurückgehalten und es kam zu einem kurzen, aber heftigen Schlagstock- und Tränengaseinsatz. Zum ersten Mal seit dem Machtwechsel erfuhren VertreterInnen der Oligarchie, was die arme Landbevölkerung seit Jahrzehnten gewohnt ist.
Während die Regierung Lugo bei Fällen von Repression gegen oder sogar Morden an BäuerInnen stets versuchte, die Schuld den Opfern zuzuschreiben, berief sie nun eine Untersuchung über die Amtsführung von Raquel Rodríguez ein und setzte diese befristet ab. Die sozialen Bewegungen reagierten im Rahmen eines neu geschaffenen, politischen Raumes, dem Espacio Unitario Popular del Departamento San Pedro, und mobilisierten innerhalb von acht Tagen insgesamt 17.000 Menschen. Nach einer Woche verkündete Gesundheitsministerin Martínez die Wiedereinsetzung von Raquel Rodríguez und die Protestierenden kehrten in ihre Dörfer zurück. Drei Tage später wurde Rodríguez jedoch erneut abgesetzt. Nun hat sie einen Posten im Gesundheitsministerium, der ihr den permanenten Kontakt zur ländlichen Bevölkerung unmöglich macht.
Die Verwerfungen zwischen Rodríguez und Martínez sind überraschend. Während des Wahlkampfes bildeten sie noch ein starkes Gespann bei der Ausarbeitung des nationalen Gesundheitsplans. Der Bruch mag persönliche Gründe haben, da Rodríguez aufgrund ihres Engagements viel, möglicherweise zu viel Zuspruch erhielt. Doch daneben gibt es wichtigere politische Gründe: Beide Ärztinnen arbeiteten viele Jahre für die Nichtregierungsorganisation CIRD, die Beratungen für die Gesundheitsprogramme von USAID durchführte. USAID, die staatliche Behörde der USA für Internationale Entwicklung, ist ein klassisches Instrument für US-amerikanische Einflussnahme. Doch Raquel Rodríguez begann seit ihrer Ankunft in San Pedro, sehr eng mit der regionalen Regierung von José Ledesma zusammenzuarbeiten. Diese wiederum ist bolivarianisch ausgerichtet und an lateinamerikanischer Integration interessiert. USAID ist im Gesundheitssektor von San Pedro mit Programmen und Projekten sehr präsent. Die Absetzung von Rodríguez und das Zurückdrängen des bolivarianischen Einflusses können als Bedingungen gesehen werden, um die Pläne von USAID in die Tat umzusetzen. Lugo scheint sich geopolitisch deutlich gegen die ALBA-Länder zu stellen. Darauf weist auch seine verstärkte Nähe zur US-Botschafterin Liliana Ayalde in Paraguay hin. Diese war „zufälligerweise“ vorher USAID-Direktorin in Kolumbien.
Lugo riskiert damit, von den sozialen Bewegungen nicht mehr als ein Partner für ein neues politisches Projekt angesehen zu werden. In einer Stellungnahme ruft der Espacio Unitario Popular die Bevölkerung von San Pedro dazu auf, den politischen Raum, der mit dem Wahlsieg am 20. April 2008 erobert wurde, zu verteidigen.

// Reto Sonderegger

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