Die Landfrage bleibt ungelöst

Landwirtschaft ist wieder schwer in Mode. Aufgrund des stetig steigenden Bedarfs an Lebensmitteln und der Begrenztheit der Anbauflächen, verheißt der Agrarsektor auf lange Sicht gute Geschäfte. Regierungen und Unternehmen, Investment- und Pensionsfonds kaufen oder pachten weltweit Ackerland, um das anzubauen, womit gerade Geld zu verdienen ist. Verlierer_innen des globalen Trends sind die kleinbäuerliche Landwirtschaft, die Umwelt und die eine Milliarde hungernder Menschen weltweit. Vom sogenannten Land Grabbing sind vor allem Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika betroffen. Allesamt Regionen, in denen in unterschiedlichem Maße Hunger existiert, also im Jargon der internationalen Organisationen die Ernährungssicherheit nicht garantiert ist.
Ungerechte Strukturen von Landbesitz, die Involvierung internationaler Akteure und die Marginalisierung kleinbäuerlicher Landwirtschaft sind in Lateinamerika alles andere als neu. Seit der Kolonialzeit, der daraus resultierenden Verdrängung indigener Landwirtschaftskonzepte und Enteignungen kommunalen Besitzes, ist die Landfrage auf dem Kontinent von Bedeutung. Das landwirtschaftliche System der Kolonialzeit, wo die haciendas weniger Großgrundbesitzer_innen einen Großteil des Landes umfassten, überstand die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten relativ unbeschadet. Trotz zahlreicher Versuche, Landreformen durchzuführen, hat sich an der ungleichen Landverteilung bis heute wenig geändert.
Schon im 19. Jahrhundert führte die Agrarfrage zu Konflikten. Den ersten tatsächlichen Einschnitt erlitt das hacienda-System aber erst mit der mexikanischen Revolution (1910 bis 1920). Emiliano Zapata führte im Süden Mexikos eine revolutionäre Agrarbewegung an und verteilte Land an jene „die es bearbeiten“. Im Norden konfiszierte Pancho Villa ebenfalls große Ländereien und stellte diese unter staatliche Verwaltung. Die vor allem im Süden stattfindende Agrarrevolution wurde letztlich rechtlich in der Verfassung von 1917 kanalisiert. Kernpunkt war Artikel 27, durch den gemeinschaftlich genutztes Land juristisch anerkannt wurde. Diese so genannten ejidos durften weder verkauft noch geteilt werden. Die in der Verfassung vorgesehenen Reformen kamen allerdings erst unter der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934 bis 1940) in Fahrt, an deren Ende das Gemeindeland knapp die Hälfte der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Mexikos ausmachte. Das hacienda-System verlor somit erstmals in einem lateinamerikanischen Land die Vormachtstellung. Die Agraroligarchie blieb während der Regierungszeit der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) dennoch politisch einflussreich und sicherte sich staatliche Subventionen und Kredite.
Das zweite Beispiel einer bedeutenden Landreform fand ab 1953 in Bolivien statt. Im Rahmen der Revolution wurden massiv Ländereien an Kleinbäuerinnen und Kleinbauern verteilt. Die traditionellen Landrechte der indigenen Mehrheitsbevölkerung wurden jedoch nicht wieder hergestellt. Vielmehr sorgte die Agrarreform für eine kapitalistische Modernisierung des Agrarsektors, der durch ein wirtschaftlich ineffizientes Feudalsystem geprägt war. Das Latifundium an sich blieb weiterhin bestehen, vor allem im östlichen Tiefland. Die reine Verteilung von Minifundien blieb aufgrund einer fehlenden weiterführenden Agrarpolitik unzureichend.
Ein weiterer ambitionierter Versuch einer Landreform scheiterte 1954 gewaltsam. In Guatemala besaß die US-amerikanische United Fruit Company (heute Chiquita) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwa 42 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzflächen und stellte machtpolitisch einen „Staat im Staate“ dar. 85 Prozent der Ländereien ließ das Unternehmen brach liegen. Ab 1944 enteigneten die sozialdemokratische Regierungen unter Juan José Arévalo und Jacobo Árbenz insgesamt ein Fünftel des Agrarlandes. Dem zehnjährigen politischen Frühling setzte der Putsch, der logistisch wie finanziell von den USA unterstützt wurde, ein jähes Ende. Der Agrarreformprozess wurde anschließend rasch umgekehrt, Guatemala leidet bis heute an den Folgen.
Die größten Auswirkungen auf die Agraroligarchien des Kontinents hatte im 20. Jahrhundert die kubanische Revolution von 1959, die eine radikale Landreform in Gang setzte. Großgrundbesitz wurde enteignet und Kleinbäuerinnen und -bauern zur Verfügung gestellt. Um Protesten und Widerstandsbewegungen in anderen Ländern der Region den Wind aus den Segeln zu nehmen und ein Übergreifen der Revolution zu verhindern, machten sich die USA für geordnete Landreformen auf dem Kontinent stark. Im Rahmen der von US-Präsident John F. Kennedy ins Leben gerufenen „Allianz für den Fortschritt“ führten in den 1960er und 1970er Jahren die meisten lateinamerikanischen Länder Agrarreformen durch, wobei sie überwiegend Staatsland verteilten. Zwar konnte der kleinbäuerliche Sektor in einigen Ländern durchaus von den Landverteilungen profitieren, der nachhaltigere Effekt bestand jedoch in einer kapitalistischen Modernisierung der großen Produktionseinheiten. Im Rahmen des hacienda-Systems war die Produktivität zuvor gering gewesen, viel Land lag brach. Um Enteignungen zu verhindern, die rechtlich häufig ab einer bestimmten Größe des Latifundiums möglich waren, teilten einige Großgrundbesitzer_innen ihre Ländereien in mehrere Einheiten unter der Familie auf oder verkauften einen Teil. Es entstand ein zweigeteiltes System aus modernem Agrobusiness und kleinbäuerlicher Landwirtschaft, die zum großen Teil als Subsistenzwirtschaft betrieben wurde.
In den meisten Ländern waren die Agrarreformen darüber hinaus recht oberflächlich. Die weitestgehenden Umverteilungen fanden im 20. Jahrhundert im Rahmen von revolutionären Prozessen statt. In Bolivien und Kuba wurden etwa 80 Prozent des gesamten Agrarlandes umverteilt. In Mexiko, Chile (unter Eduardo Frei und Salvador Allende) , Peru (unter dem linken Militär Velasco Alvarado) und später Nicaragua (unter den Sandinist_innen ab 1979) war es etwa die Hälfte. Zwischen 15 und 25 Prozent des Bodens wurden in Kolumbien, Venezuela, Panama, El Salvador und der Dominikanischen Republik verteilt. In Ecuador, Costa Rica, Honduras und Uruguay und Paraguay waren es noch weniger. In Brasilien kam es erst ab Mitte der 1980er Jahre zu kleineren Umverteilungen, in Argentinien fand hingegen gar keine Landreform statt.
Zwar spielten Bauernbewegungen in vielen dieser Prozesse eine fordernde Rolle und wirkten bei der Ausgestaltung von Landreformen mit. Durchgeführt wurden die in Folge der kubanischen Revolution angeschobenen Reformen aber weitestgehend von Regierungsseite her. Die Agrarfrage konnte letztlich in keinem Land zugunsten der campesin@s gelöst werden. Weitergehende finanzielle und technische Unterstützung für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern blieb in der Regel aus, nach einigen Jahren konzentrierte sich der Landbesitz wieder zunehmend. Durch den Modernisierungsschub profitierte das Agrobusiness von den Reformen weitaus mehr als der kleinbäuerliche Sektor.
Die neoliberale Wende, die fast alle Länder des Kontinents in den 1980er und 1990er Jahren erfasste, sorgte für ein vorläufiges Ende der von oben forcierten Landreformen. Ausgehend von Chile, wo die Militärdiktatur nach dem Putsch gegen Salvador Allende bereits in den 1970er Jahren mit neoliberaler Wirtschaftspolitik experimentierte, sollte die Landwirtschaft nun vor allem dazu dienen, exportfähige Waren zu produzieren. Durch den Anbau nicht-traditioneller Agrargüter wie Blumen, Äpfel oder Nüsse sollten gemäß der Theorie des Freihandels komparative Kostenvorteile ausgenutzt werden. Nach der Schuldenkrise Anfang der 1980er Jahre, verordneten der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die US-amerikanische Regierung den meisten lateinamerikanischen Ländern Strukturanpassungsprogramme. Die staatliche Unterstützung kleinbäuerlicher Landwirtschaft wurde radikal zurückgefahren. Die gleichzeitig einsetzende Handelsliberalisierung fiel für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in ganz Lateinamerika verheerend aus und sorgte für dramatische soziale Folgen. Während ihnen der Zugang zu nordamerikanischen oder europäischen Märkten bis heute weitgehend verschlossen bleibt, konnten sie mit hochsubventionierten Agrarimporten aus dem Ausland nicht konkurrieren. Als Symbol für die neoliberale Zerstörung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft gilt die Gleichstellung des seit 1917 in der mexikanischen Verfassung verankerten ejidos mit Privatland (siehe Artikel von Alke Jenss in diesem Dossier). Um die Auflagen für das Inkrafttretens des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) zu erfüllen, wurde im Jahr 1992 unter der Präsidentschaft von Carlos Salinas de Gortari der entsprechende Verfassungsartikel 27 aufgehoben, so dass ejidos nun geteilt, verkauft, verpachtet oder als Sicherheit bei Krediten verwendet werden konnten. Der neozapatistische Aufstand, der am 1. Januar 1994, dem Tag des Inkrafttretens von NAFTA für Aufsehen sorgte, ist auch in dem Zusammenhang zu sehen.
Unter völlig anderen wirtschaftlichen Vorzeichen als in den 1960er Jahren stieg in den 1990er Jahren die Weltbank in das Thema der Landverteilung ein. Durch die marktgestützte Landreform sollte Brachland aktiviert und ein Markt für Land etabliert werden. Die Idee war, dass unter Vermittlung des Staates willige Verkäufer_innen und Käufer_innen zusammengeführt werden. Dafür notwendige Kredite sollten später aus den Erträgen zurückgezahlt werden. Abgesehen davon, dass die guten Böden in der Regel sowieso nicht zum Verkauf standen, hatten Kleinbäuerinnen und -bauern sowie Landlose nichts von dem Konzept. Weder verfügten sie über Kapital noch über die Aussicht, unter den gegebenen neoliberalen Rahmenbedingungen einen Kredit jemals zurückzahlen zu können. Zur gleichen Zeit begann der US-amerikanische Biotech-Konzern Monsanto seinen Siegeszug von gentechnisch veränderten Organismen in Lateinamerika. Argentinien war 1996 das Einfallstor für den Anbau von Gen-Soja in Südamerika. Fast die gesamte in Argentinien angebaute Soja ist heute Monsantos genetisch modifiziertes Roundup Ready, das gegen das gleichnamige hochgiftige Herbizid resistent ist, welches von Monsanto im Gesamtpaket gleich mitgeliefert wird. Dieses vernichtet Unkraut, Insekten und alles weitere außer der Sojapflanze selbst. Als häufigste Folgen des flächendeckenden Pestizideinsatzes sind bei Menschen unter anderem Erbrechen, Durchfall, Allergien, Krebsleiden, Fehlgeburten und Missbildungen sowie gravierende Schäden für die Umwelt dokumentiert. Seit der Einführung von Gen-Soja in Südamerika ist der Einsatz von Herbiziden drastisch gestiegen. Durch industrielle Landwirtschaft und den damit einhergehenden Monokulturen verschlechtert sich zudem die Bodenqualität, wird Wald abgeholzt, die Artenvielfalt dezimiert und es gehen traditionelle Anbaumethoden sowie die Vielfältigkeit einheimischen Saatguts verloren.
Um sich gegen den fortwährenden Niedergang der kleinbäuerlichen Landwirtschaft zur Wehr zu setzen, begannen Organisationen von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sowie Landlose, eine eigene Agenda zu verfolgen. 1993 gründete sich mit La Via Campesina (Der bäuerliche Weg) ein weltweiter Zusammenschluss kleinbäuerlicher Organisationen, der in den folgenden Jahren zu einem bedeutenden politischen Akteur aufstieg. Einen großen Anteil an der Entstehung und internen Entwicklung von La Via Campesina hatte die brasilianische Landlosenbewegung MST, die bereits 1984 gegründet worden war und in Brasilien bis heute Landbesetzungen durchführt. La Via Campesina kritisiert das herrschende Paradigma der Lebensmittelproduktion in seiner ganzen Breite, angefangen bei der Monokultur über industrielle Großlandwirtschaft bis hin zur Biotechnologie. Während internationale Organisationen meist Ernährungssicherheit propagieren, bei der es ausschließlich darum geht, den Menschen Zugang zu Lebensmitteln zu ermöglichen, egal ob diese importiert werden oder nicht, hat das Netzwerk den Begriff der Ernährungssouveränität entwickelt. Dieser zielt auf Lebensmittelproduktion auf lokaler Ebene ab und sieht vor, dass sich Bauern und Bäuerinnen selbstbestimmt und demokratisch für ihre Formen der Produktion und des Konsums entscheiden. Weitere Bestandteile des Konzepts beinhalten eine integrale Landreform, den Verzicht auf Gentechnik oder die Produktion gesunder Lebensmittel.
Im vergangenen Jahrzehnt haben die Ideen von La Via Campesina sogar Anklang bei lateinamerikanischen Linksregierungen gefunden. Das Konzept der Ernährungssouveränität wird in den Verfassungen von Venezuela, Bolivien und Ecuador explizit als Ziel benannt. Auch das Thema Agrarreform wurde in diesen Ländern von Regierungsseite her wieder aufgegriffen, Enteignungen gelten im Gegensatz zur neoliberalen Ära nicht mehr als Tabu. Den teilweise radikalen Diskursen der Regierenden stehen in der Realität allerdings nur geringe Fortschritte gegenüber (siehe Artikel von Börries Nehe zu Bolivien in diesem Dossier). Die Agrarreformen kommen nur schleppend voran und die betroffenen Großgrundbesitzer_innen und Agrounternehmen wehren sich mit allen Mitteln. So sind etwa in Venezuela im vergangenen Jahrzehnt rund 300 Bauernaktivist_innen ermordet worden. Die in der Justiz verbreitete Korruption und fehlender politischer Wille verhindern fast immer strafrechtliche Konsequenzen. Auch die linken Regierungen in Lateinamerika halten zudem grundsätzlich an einem extraktivistischen, auf höchstmögliche Ausbeutung von Rohstoffen und Land gerichteten Wirtschaftsmodell fest.
Die Rahmenbedingungen für Landreformen haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend verschlechtert. Anstelle der einheimischen, mitunter physisch präsenten Großgrundbesitzer_innen treten nun häufig Unternehmen des Agrobusiness und international tätige Investmentgesellschaften mit teils undurchsichtigen Besitzstrukturen. Internationale Freihandelsverträge und bilaterale Investitionsschutzabkommen erschweren Enteignungen, indem sie hohe und kostspielige Hürden errichten. Die Höhe der bei Enteignungen zu zahlenden „angemessenen“ Entschädigungen liegt in der Regel deutlich über dem Niveau, das nach jeweiligem Landesrecht beziehungsweise den finanziellen Möglichkeiten einer Regierung möglich wäre.
Die Agrarfrage in Lateinamerika ist auch heute nach wie vor ungelöst. Noch immer ist Lateinamerika die Region mit der ungleichsten Landverteilung weltweit. Ein modernes Agrobusiness, das kaum Leute beschäftigt, steht einem marginalisierten kleinbäuerlichen Sektor gegenüber. Dieser gilt in Entwicklungsdebatten häufig als anachronistisch, obwohl er für die Ernährungssicherheit und -souveränität unabdingbar ist. In vielen Ländern hat die kleinbäuerliche Landwirtschaft vor der politisch übergestülpten Handelsliberalisierung einen Großteil der Lebensmittel produziert, die heute importiert werden. Die Landbevölkerung lebt in allen Ländern Lateinamerikas in relativer und häufig auch absoluter Armut. Zudem werden zahlreiche Landkonflikte gewaltsam ausgetragen. Soja- und Ölpalmanbau sorgen für Vertreibungen in Ländern wie Kolumbien, Honduras, Paraguay oder Brasilien. Auch wenn Landreformen alleine nicht ausreichen, sind sie zumindest Grundbedingung, um den kleinbäuerlichen Sektor zu stärken und mehr Menschen ein Auskommen und Nahrung zu ermöglichen. Die bäuerlichen sozialen Bewegungen gewinnen an Stärke. Doch sie stehen einem kapitalistisch-industriellen Agrobusiness gegenüber, das weltweit agiert und hochprofitabel wirtschaftet. Würden die Folgekosten für Umwelt und Gesundheit mit einberechnet, sähe es hingegen anders aus.

Hoffnungssignal aus Peru

Südamerikas progressive Regierungen haben ihre romantische Aufbruchsphase längst hinter sich. Allesamt kämpfen sie mit den Mühen der Ebene. Soziale Bewegungen kooptieren sie zumeist, wirtschaftspolitisch setzen sie auf den Neoextraktivismus, die Ausbeutung von Rohstoffen unter größerer staatlicher Kontrolle als bisher.
Visionären Entwürfen wie der Yasuní-ITT-Initiative in Ecuador wird das Wasser von ganz oben abgegraben; nirgendwo sonst gibt es eine dermaßen starke linke Opposition gegen einen linken Präsidenten. Bolivien, das in der internationalen Klimadebatte von sich reden macht, hat umweltpolitisch wenig vorzuweisen. Und in Brasilien versucht Präsidentin Dilma Rousseff mehr schlecht als recht, dem Durchmarsch der Agrarlobby, die bisher nicht nur eine Landreform verhindert hat, sondern nun auch noch zum ganz legalen Raubbau auf die Primärwälder bläst, etwas entgegenzusetzen.
In diesem Panorama kommt der Wahlsieg Ollanta Humalas in Peru gerade recht. Es ist eingetreten, womit vor Monaten kaum jemand gerechnet hatte: Die durch und durch neoliberale, stark auf die USA ausgerichtete Pazifikachse, die zwei Jahrzehnte lang von Chile über Peru nach Kolumbien bis nach Mexiko reichte, hat einen kleinen Riss bekommen. Unter dem schon jetzt zum Pragmatiker gewandelten Humala wird sich Peru stärker am Projekt einer Integration Südamerikas unter sozialen Vorzeichen beteiligen, das unter der Führung Brasiliens langsam Formen annimmt.

Von der Autokratentochter Keiko Fujimori hatten sich in- und ausländische Kapitalinteressen eine noch autoritärere Version eines Systems versprochen, durch die die Ressourcen des Andenlandes immer ungehemmter verscherbelt wurden. Inzwischen sind nahezu sämtliche Öl- und Bergbaureserven zur Ausbeutung freigegeben, doch bei der Bevölkerung kam von den astronomischen Wachstumsraten kaum etwas an. Kein Wunder daher, dass die Humala-Hochburgen in jenen ländlichen Gebieten liegen, wo man zudem hautnah mit den Folgen der Umweltzerstörung konfrontiert wird.
Wegen ihres neoliberalen Kurses ist die ehedem linke APRA-Partei von Noch-Präsident Alan García so gut wie von der Bildfläche verschwunden. Die drei chancenreichen Kandidaten, die allesamt eine Fortsetzung seines Kurses versprochen hatten, wurden trotz einer massiven medialen Anti-Humala-Kampagne geschlagen. Erneut zeigte sich, wie tief der Wunsch nach einer sozialen Wende selbst in Ländern sitzt, in denen die klassische Restlinke allein keine Chance auf einen Wahlsieg hätte. Dabei kam Humala die Zerrissenheit der Neoliberalen entgegen. Hätten sich die VerteidigerInnen des Status Quo auf eine gemeinsame Kandidatur geeinigt, er hätte in der Stichwahl wohl kaum eine Chance gehabt.

So kam es zu der pikanten Situation, dass Humala ausgerechnet aus dem liberalen Lager um Mario Vargas Llosa und Alejandro Toledo entscheidende Stimmen zum Sieg in der Stichwahl bekommen hat. Schon längst ist Humala klar, dass er sich ähnlich wie sein erklärtes Vorbild Lula Verbündete im bürgerlichen Lager suchen muss, will er überhaupt anfangen zu regieren. Für tiefgreifende Änderungen fehlt Humala schlicht die politische Basis, da er im Parlament keine Mehrheit hinter sich hat.
Und anders als etliche seiner künftigen KollegInnen, hatte er auch nie eine starke soziale Bewegung im Rücken. Er wird zu erheblichen Kompromissen mit den wirklich Mächtigen gezwungen sein. Schon deshalb kann man bestenfalls allmähliche Kurskorrekturen erwarten: mehr Achtung der Menschenrechte, eine Zähmung des exportgetriebenen Kapitalismus durch einen aktiveren Staat, eine etwas gerechtere Verteilung der Rohstofferlöse zugunsten der Armen. Es wäre eine weitere Spielart des sozialdemokratischen Wegs, den Südamerikas Linke im letzten Jahrzehnt eingeschlagen hat. Für weitergehende Veränderungen ist mehr Druck von unten nötig.

„Pelé im Rock“

„Marta ist Pelé“. Dieses Zitat stammt von niemand Geringerem als Pelé, dem König des Fußballs höchst selbst, und sagt einiges über die technische Klasse des brasilianischen Frauenfußballstars Marta. Pelés sogleich nachgeschobene Erklärung hingegen beschreibt das Ansehen des Frauenfußballs in Lateinamerika sehr treffend: „Sie ist allerdings ein Pelé de Saias („Pelé im Rock“) und hat schönere Beine als ich“, findet er. Diese Einschätzung weist nicht nur auf eine offensichtliche Sehschwäche Pelés hin (auch in Brasilien spielen Frauen Fußball vorzugsweise in kurzen Hosen), sondern vor allem darauf, dass machistische Strukturen und Vorurteile von Fans, GeldgeberInnen und auch Verbänden in Lateinamerika den Frauenfußball in seiner Entwicklung behindern. Attraktivität schreiben Viele der Sportart erst in zweiter Linie aufgrund der sportlichen Leistungen zu.
Aus der Reihe fallen die lateinamerikanischen Länder damit allerdings nicht. Kickende Frauen hatten es auf der ganzen Welt seit jeher schwer, sich neben ihren männlichen Kollegen gleichberechtigt zu behaupten. Auch die FIFA wartete bis 1991 mit der Ausrichtung der ersten Frauen-Weltmeisterschaft. Seither machte unter den lateinamerikanischen Teams vor allem Brasilien von sich reden, obwohl der ganz große Wurf noch nicht gelang. Drei unglückliche Niederlagen in den Finals der Olympischen Spiele 2004 und 2008 (jeweils nach Verlängerung gegen die USA) sowie dem der WM 2007 (gegen Deutschland) gingen einher mit dem Aufstieg von Weltstars wie WM-Torschützenkönigin Cristiane und vor allem der alles überragenden fünffachen Weltfußballerin Marta Vieira da Silva.
Die vermutlich beste Fußballerin aller Zeiten ist ein Symbol für den Frauenfußball in Lateinamerika und weltweit und nicht zufällig die erste Frau, deren Fußabdrücke auf dem „Fußball-Walk of Fame“ vor dem legendären Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro in Zement gegossen wurden. Marta ist ein Glücksfall für den Frauenfußball und doch strahlt ihr Glanz bei Weitem nicht in die Nischen, in denen weibliche (National-)Teams in Lateinamerika häufig ihr Dasein fristen oder löst gar die Probleme, mit denen sich Frauen in Fußballteams dort herumärgern müssen. Das zeigen einige typische Fälle aus verschiedenen Ländern: In Panama verloren 2007 SponsorInnen plötzlich mitten in der laufenden Erstligasaison das Interesse am Frauenfußball, drei Teams gingen sofort Pleite. In Chile gab es bis 2003 nicht einmal im regionalen Bereich organisierte Frauenfußballligen. Und in Ecuador wurde erst 2010 zum ersten Mal eine Frau in den offiziellen TrainerInnenstab eines Nationalteams berufen. Qualifiziert war sie dafür mehr als ausreichend: Marlene Ayala hatte zum Zeitpunkt ihrer Berufung zur Co-Trainerin der U 17 –Frauennationalelf bereits 42 TrainerInnendiplome vorzuweisen.
Diese Liste ließe sich problemlos verlängern. Dennoch geht die fußballerische Entwicklung auch außerhalb Brasiliens in den meisten Ländern langsam aber stetig voran. Gute Beispiele dafür sind die Länder, die bei der WM 2011 in Deutschland antreten werden: Kolumbien ist zum ersten Mal für eine Endrunde qualifiziert und setzte sich dabei unter anderem gegen Argentinien durch. Und die Mexikanerinnen zeigten bereits durch einen Sieg in der Qualifikation gegen die USA, dass sie seit der ersten und einzigen Teilnahme 1999 einen großen Schritt nach vorne gemacht haben (damals setzte es drei Niederlagen bei ernüchternden 1:15 Toren). Auch auf Klubebene tut sich etwas: 2009 wurde der kontinentale Klubwettbewerb Copa Libertadores (entspricht der europäischen Champions League) für Frauen eingeführt. Setzt sich der Trend fort, müssen die männlichen Fußballstars in Lateinamerika zwar erst einmal nicht darum fürchten, ihren Status gänzlich zu verlieren. Transparente wie bei der letzten Südamerika-Meisterschaft könnten aber bald öfter zu sehen sein. Dort schrieb ein Fan im Maracanã auf sein Plakat: „Ich habe zwar nie Pelé spielen sehen – aber dafür Marta!“

Kaffeekannen auf Siegeszug

Das erste Mal nahm die kolumbianische Nationalmannschaft der Männer 1962 an einer Weltmeisterschaft (WM) teil. In den 1990er Jahren spielte sie dreimal hintereinander bei Weltmeisterschaften mit, 1996 wurde sie vom Weltfußballverband Fifa gar zur viertbesten Mannschaft erklärt. Aber seitdem hat sich viel verändert: Heute schaffen sie es kaum auf Platz 50 des Rankings.
Währenddessen haben sich die Frauen in den gelb-blau-roten Trikots erfolgreich für die letzten Weltmeisterschaften in allen Kategorien (Damen, U17 und U20) qualifiziert. Auch die Teilnahme bei den Olympischen Spielen in London ist schon gesichert. In Deutschland feiert Kolumbiens Damen-Team seine Premiere bei einer WM. In der Gruppe C geht es am 28. Juni gegen Schweden los.
Angesichts des Nachlassens der alten Idole sind die Tore der Frauen Balsam für die Seele des kolumbianischen Fußballs. JournalistInnen überbieten sich bei den 23 Frauen, die bereits ihre Koffer für die Reise nach Deutschland packen, mit Spitznamen wie Las Cafeteritas („Kaffeekannen“), Niñas de Colombia („Töchter Kolumbiens“), Las Chicas Superpoderosas („die übermächtigen Mädchen“) und Las Guerreras de Hierro („die Kriegerinnen aus Stahl“). Die Startseite des Internetauftritts des kolumbianischen Fußballverbandes zeigt nicht die Herren-Nationalmannschaft, sondern die Frauen zusammen mit Präsident Juan Manuel Santos.
Inzwischen gibt es zahlreiche Facebook-Gruppen, die den Cheftrainer der Männerauswahl auffordern, einige der Frauen zu nominieren. „Obwohl der Fußball traditionell Männersache war, erledigen die Frauen heute das, was die Männer seit Jahren nicht schaffen: uns regelmäßig auf einer Weltmeisterschaft zu vertreten.“ „Sie geben auf dem Platz alles und geben der Mehrheit der mittelmäßigen männlichen Fußballspieler ein Beispiel“ – solche Kommentare kann man in Foren und Blogs vermehrt lesen.
Als schlechtes Beispiel dient hier der Herrenfußball, der im Schatten des Drogenhandels groß geworden ist. Mehrheitsaktionäre von drei der größten Vereine im Männerfußball waren Drogenbosse, die mittlerweile gerichtlich verurteilt und an die USA ausgeliefert wurden.
Mit den sogenannten Barras Bravas (Ultras, Anm. d. Red.) hat die Gewalt inzwischen auch die Stadien erreicht. Wie die Hooligans aus England begannen sich auch in Kolumbien junge Männer bei Schlüsselspielen in den Stadiongängen zu treffen und sich zu Dutzenden mit Stöcken gegenseitig zu verprügeln. Diese Kultur der Gewalt wurde von vielen Fußballstars dieser Zeit auch vorgelebt. Der bekannteste Fall ist der des Faustino „Tino“ Asprilla, dem vielleicht erfolgreichsten Stürmer in der Geschichte Kolumbiens, der einst mit dem italienischen Klub AC Parma vier europäische Titel gesammelt hat, mittlerweile aber in einen Sumpf aus Drogensucht, Straßenschlägereien und Problemen mit der Justiz abgestürzt ist.
Er hatte sich mit seinem Trainer in Italien zerstritten und kehrte nach Engagements in Chile, Argentinien, Mexiko und Brasilien nach Tuluá zurück, seinem Heimatort nahe der Pazifikküste. 2008 wurde er wegen Waffenbesitzes unter Hausarrest gestellt und fiel durch weitere Skandale in der Öffentlichkeit auf. Ihm wird vorgeworfen, in eine Schießerei verwickelt gewesen zu sein.
Im Frauenfußball hingegen lernten die KolumbianerInnen Stadien kennen, in denen es mehr Familien als Barras Bravas gibt, wo Spiele nicht im Verdacht stehen, verschoben zu sein und es wesentlich tauglichere Vorbilder gibt.
Yorely Rincón, die Torjägerin und Nummer 10 des kolumbianischen Teams bei der Copa América (Südamerika-Meisterschaft) 2010 in Ecuador, die auch bei der Weltmeisterschaft eine vielversprechende Rolle spielen wird, hat soeben ein Stipendium der Indiana University in den USA erhalten. Angebote von Profivereinen aus anderen Ländern lehnte sie ab, denn sie wollte, dass ihr der Fußball statt schnellem Geld eine Ausbildung ermöglicht.
„Die Idee ist, dass ich mir mit dem Fußball ein Studium verdiene, ein wichtiges Stipendium in den USA“, sagte die aus Bogotá stammende Rincón im Juni 2010 dem Radiosender Caracol. Ein Plan, den sie bald in die Tat umsetzte.
Yorely hat mit vier Jahren angefangen, Fußball zu spielen. Ihr Vater nähte und verkaufte im Haus der Familie in Piedecuesta in Santander Fußbälle. Der 129.000 EinwohnerInnen zählende Ort liegt mitten in den Bergen nahe der Grenze zu Venezuela. Sie war die einzige unter ihren drei Geschwistern, die so gut mit den Bällen umzugehen lernte.
Aber sie war nicht die Einzige, die dank des Fußballs ihren Träumen ein Stück näher kommen konnte. Sechs weitere kolumbianische Spielerinnen haben den Fußball als Sprungbrett für die Universität benutzt – ein seltenes Privileg. Nur etwa 15 Prozent der Bevölkerung des Landes kommen in den Genuss universitärer Bildung.
Gaitán, die Kapitänin der U20, die übrigens auch in Deutschland bei der Auswahl der Kolumbianerinnen dabei sein wird, hat dank ihrer sportlichen Leistungen ein Stipendium der Universität Toledo im US-Bundesstaat Ohio erhalten. Sie studiert Verwaltung und Wirtschaft und hat einen Notenschnitt von 3,93 bei einer 4 als möglicher Bestnote. Lady Andrade, Torjägerin bei der U-20-WM in Deutschland, hat das Angebot bekommen, in Deutschland zu studieren, wenn sie für das Team von Bayer Leverkusen spielt.
Dank des Fußballs wurde diesen Frauen der Zugang zu höherer Bildung ermöglicht, dank dieser Beispiele haben mehr Universitäten und Gemeinden in Kolumbien ihre eigenen Teams aufgestellt. Gleichwohl hatte diese neue Fußballmanie einige Startschwierigkeiten.
Seit dem Jahr 1994 gibt es regionale Fußball-Ligen für Frauen. Aber erst nachdem die Frauen der U17 2007 die Südamerika-Meisterschaft in Chile gewannen, wurde der Sport ernst genommen. Dieser Triumph ließ dem Frauenfußball die Aufmerksamkeit der Medien und der Regierung zukommen. Letztere war es dann auch, die über den kolumbianischen Fußballverband die Vorbereitung für die WM 2008 in Neuseeland finanzierte.
Trotz dieser Starthilfe kann sich der kolumbianische Frauenfußball nach wie vor nicht selbst tragen. Die Unterstützung durch die Privatwirtschaft ist minimal, es gibt keine Werbeeinnahmen und der Erlös aus dem Ticketverkauf ist kaum der Rede wert.
Es gibt keine professionelle Frauenliga, keine gefestigte Struktur von Klubs und nur wenige Spiele werden im Fernsehen übertragen. Auch ein Transfermarkt für Spielerinnen fehlt. Die jungen Frauen leben von dem Bisschen, das ihnen der Staat gibt. Bei den Turnieren bezahlen der Staat oder die Provinzregierungen den Besten jeder Mannschaft die An- und Abreise, Speisen und teilweise auch die Vorbereitung. Aber außerhalb der Saison sind die Frauen ohne Einkommen.
„Ich glaube, dass ihnen inzwischen aufgefallen ist, dass es talentierte Spielerinnen gibt. Wir haben ein wichtiges Tor einen Spalt weit geöffnet, aber wir brauchen mehr Unterstützung. Hoffentlich hält das Interesse nicht nur während der Weltmeisterschaft an und danach vergessen sie den Frauenfußball wieder“, sagte Yorely Rincón der kolumbianischen Zeitung El Tiempo.
Damit mehr Mädchen eine Zukunft im Fußball haben können, gibt es eine weitere dringende Notwendigkeit: diesen neuen Keim des Fußballs gegen die Gefahren des alten Fußballs zu impfen, der ob der Gewalt so stark abgerutscht ist.

Pyrrhussieg für den Präsidenten

Der Eindruck trog. Wenige Tage vor dem Referendum am siebten Mai schienen die UnterstützerInnen des Präsidenten in der Defensive. In der öffentlichen Debatte, die zunehmend Züge einer Schlammschlacht angenommen hatte, war etwa in der Hauptstadt Quito, eigentlich eine Hochburg der Regierungspartei „Alianza País“, kaum ein „Sí“ zu vernehmen. Dafür überwog in der Bevölkerung ein „Esta vez no“ (diesmal nein) – sowohl kategorisch als auch einschränkend gemeint.
Kategorisch war die Ankündigung, alle zehn Vorschläge des Präsidenten Rafael Correas im Paket abzulehnen, obwohl es sich dabei um völlig verschiedene Themen handelte. Diese reichten von einer Justizreform, einem härteren gesetzlichen Vorgehen gegen Straflosigkeit und Gewalt, medialen Regulierungsmaßnahmen bis hin zum Verbot von Glücksspielen sowie Hahnen- und Stierkämpfen (siehe Info-Kasten).
Einschränkend gemeint war das Nein im Hinblick auf die Position des Staatsoberhaupts selbst. Mit Correas Politik ist die Mehrheit immer noch weitgehend zufrieden: Wenn auch nicht gestärkt wollten viele WählerInnen ihn aber auch keineswegs in Frage gestellt sehen. Vielmehr wollten sie ihm im sechsten Urnen-Gang seit 2007 einen Denkzettel verpassen, aus dem schließlich ein Pyrrhussieg für den Präsidenten wurde.
Einerseits konnte er sich trotz einer breiten und ungewöhnlichen Ablehnungsfront auf eine passive Mehrheit verlassen. Dies entsprach bei diesem Sympathietest zur Restaurierung und Stärkung der präsidialen Macht nach dem vorangegangen Putschversuch am 30. September durchaus seinem Kalkül.
Zum anderen fiel der Erfolg gerade bei den besonders umkämpften Punkten sehr knapp aus. „Bei Berücksichtigung der Enthaltungen und ungültigen Stimmen hat die Hälfte der Bevölkerung mit Nein gestimmt“, rechnet Albert Acosta, Ex-Energieminister und heutiger Kritiker des Präsidenten vor. Hinzu kommt, dass dem Präsidenten auf dem Weg zur Volksbefragung sogar die Mehrheit im Kongress abhanden gekommen war, nachdem einige Abgeordnete der Regierungspartei Alianza País diese aus Protest gegen das umstrittene Verfahren verlassen hatten.
Damit scheinen zumindest die schlimmsten Befürchtungen der Linken – ein Rechtsruck des Präsidenten, die Etablierung eines klassischen Populismus und eine zunehmende Kriminalisierung der außerparlamentarischen Bewegung – vom Tisch zu sein. Correa ist trotz des engen Ergebnisses aber eben auch nicht gezwungen – wie noch im Anschluss an den Putschversuch gemutmaßt – wieder das Gespräch mit den entzweiten Massenorganisationen und sozialen Bewegungen des Landes zu suchen. Dafür präsentierten sich diese politisch einfach zu schwach.
Sie wurden wohl auch dafür bestraft, dass sie sich bis auf wenige Ausnahmen undifferenziert gegenüber dem umstrittenen Referendum positioniert hatten. Aus Sicht der Linken ist eine Verschärfung der Gesetze zur Eindämmung der Gewalt ohne Erforschung und Berücksichtigung ihrer Ursachen wie auch der von Correa angestrebte dreiköpfige „Rat der Gerichtsbarkeit“ abzulehnen. Letzterer wird dem Präsidenten nun eine laut ihrer Meinung unzulässige Kontrolle über die Justiz ermöglichen.
Die Kritik an einer staatlichen Medienkommission ist hingegen weniger nachvollziehbar. Denn was ist schlecht an dem Versuch, gewalttätige, jugendgefährdende, sexistische und rassistische Inhalte in der Presse zu unterbinden oder Medienunternehmen ökonomisch von Privatkonzernen oder Banken zu trennen? Das teilweise religiös anmutende Hohelied auf die ach so gefährdete Pressefreiheit im Vorfeld des Plebiszits war verlogen und peinlich, wozu die oppositionelle Linke weitgehend schwieg und sich damit zum Verbündeten einer völlig inhaltsleeren Rechten machte.
Die fehlende Abgrenzung führte zu ungewöhnlichen Allianzen. Und lenkte von den wahren politischen Gräben ab. Während dem neoliberalen Flügel des Landes selbst die kapitalistische Modernisierung Correas zu weit geht, sind MitgestalterInnen der Verfassung von 2008 enttäuscht über die sozialdemokratische und staatsfixierte Linie des Präsidenten.
Dieser hat insbesondere in den ersten beiden Jahren seiner Amtszeit mit seiner Sozial- und Bildungspolitik, einer Steuerreform, einer weitgehenden Wiederaneignung der Erdöleinnahmen sowie der Förderung der lateinamerikanischen Integration durch die Gründung der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) Pluspunkte in der Bevölkerung gesammelt. Correa versäumte es indes, dem partizipativen Geist von Montecristi, wo die neue Magna Charta von einer zuvor gewählten Verfassunggebenden Versammlung ausgearbeitet wurde, aus der Flasche zu lassen.
Ökonomisch hält die Regierung am extraktivistischen Entwicklungsmodell und so auch der staatlichen Entscheidungsmacht über die Ausbeutung unterirdischer Naturressourcen fest, anstatt ein Vetorecht für die von der Ressourcengewinnung betroffenen Menschen zu etablieren. Dies ist nur einer von vielen Streitpunkten mit Umweltgruppen und insbesondere der CONAIE, dem einflussreichsten Dachverband der Indigenen.
Die Folge ist eine Spaltung der progressiven Kräfte, die sich durch die Volksbefragung und deren Ausgang noch verschärft hat. Als strahlender Sieger ging daraus keiner hervor, als Verlierer die Bürgerrevolution von 2006. Statt Aufbruch dominiert derzeit Streit, was allenfalls einen Aufschub verheißt, bis sich die arg geschwächte Rechte wieder formiert hat. Damit ist ein Projekt gefährdet, das verheißungsvoll begann, nun aber ins Stocken geraten ist. Leisten kann sich das die Bürgerrevolution eigentlich nicht.

Das Referendum
Insgesamt 24 Seiten inklusive Erläuterungen, Gesetzesanhängen und abschließenden Vorschlägen der Regierung, zu denen mit Ja oder Nein zu antworten war, umfasste die bisher umfangreichste und inhaltlich komplizierteste Volksbefragung in Ecuador. 11,2 Millionen BürgerInnen waren aufgerufen, über insgesamt zehn Fragen abzustimmen, die wiederum in zwei Bereiche aufgeteilt waren: Erstens ein Verfassungsreferendum über konkrete Änderungen an der Verfassung von 2008, zweitens ein Volksentscheid über verschiedene Politikvorschläge der Regierung.
Im ersten Komplex wurde über Verschärfungen im Strafrecht wie die Verlängerung der Untersuchungshaft abgestimmt, aber auch über die ökonomische Trennung von Banken und Massenmedien sowie eine Beschleunigung der Justizreform. Letzteres soll durch das Ersetzen eines bisher neunköpfigen Justizrates durch einen „Rat der Gerichtsbarkeit“ von nur noch drei Mitgliedern, ernannt durch die Regierung, das Parlament und den Bürgerrat, erreicht werden.
Zum zweiten Bereich gehörten die Abstimmung über die Etablierung der illegalen Bereicherung als Straftatbestand, die Einführung eines Medienrates zur Überwachung der Inhalte von Presse, Funk und Fernsehen im Hinblick auf bestimmte Inhalte, über das Verbot von Glücksspielen sowie Hahnen- und Stierkämpfen.
Die Regierung erreichte bei ihren Vorschlägen eine durchschnittliche Mehrheit von 6,8 Prozentpunkten, wobei der Vorsprung in den besonders umstrittenen Fragen deutlich kleiner war.

Die Brise des Wandels

In der Symbolik des Kongresses der „Erneuerung“ überwog die Kontinuität: Eingeläutet wurde er mit einer Militärparade auf dem Platz der Revolution zum 50. Jahrestag der Invasion in der Schweinebucht. Fidel Castros Bruder Raúl und José Ramón Machado Ventura sind nun erster und zweiter Sekretär der Partei, des Staats- und des Ministerrats. Das Durchschnittsalter des Politbüros, dem höchsten regulär arbeitenden Parteigremium, liegt bei 67 Jahren. Und auch die Äußerungen Raúl Castros in seinem zentralen Bericht scheinen eher auf Stetigkeit denn auf Wandel hinzudeuten: Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes beispielsweise sei „weit davon entfernt, eine angebliche Privatisierung zu bedeuten”, sondern vielmehr „ein Faktor, der die Herausbildung des Sozialismus in Kuba“ erleichtere.
In den diskutierten Vorschlägen und beschlossenen Maßnahmen überwogen indes die Veränderungen: Fidel Castro ist von allen Posten zurückgetreten. Alle NachfolgerInnen, inklusive seines Bruders Raúl, werden ihre Amtszeit auf maximal zwei Mal fünf Jahre begrenzen müssen. Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Kubas hat seinen Frauenanteil von dreizehn auf 42 Prozent, den der afrokubanischen Mitglieder von zehn auf 31 Prozent erhöht. Insgesamt wurden mehr als die Hälfte der Mitglieder abgewählt. Beschlossen wurde zudem der Rückzug der Partei aus dem Regierungsgeschäft, eine Neu(er-)findung ihrer Rolle wurde angekündigt. Die Partei solle sich, so Raúl Castro, insgesamt mehr auf ihre führende Rolle konzentrieren und durch Dialog und moralische Autorität überzeugen. Den KubanerInnen wurden mehr Rechts- und Vertragssicherheit, eine Stärkung des Marktes, mehr Privatinitiative und eine Differenzierung des Sozialsystem unter Beibehaltung wesentlicher Errungenschaften, vor allem Bildung und Gesundheit, in Aussicht gestellt. Das politische System soll durch Dezentralisierung, die Stärkung lokaler Mechanismen und ihrer Finanzierung durch einen Umbau des Steuersystems verbessert werden. Verschiedene Institutionen wurden eigens dafür geschaffen, die Umsetzung der Maßnahmen regelmäßig zu überprüfen, und eine parteiinterne Konferenz Ende Januar 2012 soll sich ausschließlich mit der Neuausrichtung der Partei beschäftigen.
Die formale Grundlage der auf dem Parteitag verabschiedeten und bisher noch nicht in vollem Umfang veröffentlichten Resolutionen sind die Diskussionen und Änderungsanträge der ursprünglich 291 Leitlinien, die im Laufe einer dreimonatigen Debatte entstanden. Diese Leitlinien waren von einer Programmkommission zusammengetragen worden und basierten wiederum auf zuvor informell und weniger systematisch geführten Konsultationen. Von Anfang Dezember 2010 bis Ende Februar 2011 wurden diese Leitlinien laut offiziellen Statistiken in 163.000 Versammlungen mit insgesamt fast neun Millionen Beteiligten diskutiert. Mehr als die Hälfte der Einwände und Vorschläge zu den politischen Leitlinien bezogen sich auf die Sozialpolitik und die makroökonomische Strategie. Im Ergebnis wurden zwei Drittel der Texte umformuliert, die wiederum zunächst dem Politbüro, dem Ministerrat und den VertreterInnen der Massenorganisationen vorgelegt und erneut abgeändert wurden, bevor sie auf dem Parteitag dann von verschiedenen thematischen Kommissionen behandelt wurden. Von diesen beiden Modifikationsprozessen und ihren konkreten inhaltlichen Eingriffen ist allerdings bisher wenig an die Öffentlichkeit gedrungen. Mariela Castro, Tochter Raúl Castros und Leiterin des Zentrums für Sexualerziehung (CENEX) berichtete jüngst auf dem kubanischen Aktionstag für sexuelle Toleranz, dass ein Gesetz für homosexuelle Ehen vorbereitet werde und die PCC ein Verbot von Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung verhandele. Aus Gewerkschaftsversammlungen wurde bekannt, dass der große Umstrukturierungsprozess des Arbeitsmarktes unter anderem dadurch verlangsamt wurde, dass viele Entscheidungsträger nicht ausreichend vorbereitet waren und es diverse Verfahrensfehler gab, die wiederum zu Beschwerden und Überprüfungen führten.
Im Vorfeld des Parteitags entwickelte sich eine neue Debatte um die Aufgaben und Grenzen staatlicher Fürsorge, ebenso wie die Möglichkeiten und Grenzen privatwirtschaftlicher Aktivitäten. Neben den Veröffentlichungen auf privaten Internetseiten von Insel- und ExilkubanerInnen sind in den offiziellen Medien Diskussionsräume entstanden, die auf eine neue Debattenkultur hindeuten. Die Wochenzeitung der Gewerkschaft, Trabajadores, die traditionsreiche Monatszeitschrift Bohemia sowie die neuere kultur- und ideologiekritische Zeitschrift Temas haben sich alle mit originellen, kritischen und dissidenten Ansichten an der Debatte beteiligt. In der auf den doppelten Umfang gewachsene Freitagsausgabe der Parteizeitung Granma werden in Leserbriefen von Privatpersonen und Berichten aus Versammlungen von Misständen, Korruption und Unregelmässigkeiten berichtet.
ÖkonomInnen vom Zentrum für das Studium der kubanischen Wirtschaft (CEEC) wie Omar Everleny oder Pavel Vidal plädierten dabei beispielsweise für eine Entgrenzung der zugelassenen Privatberufe, eine neue Rolle der Gewerkschaften als wirkliche Interessenvertretung gegenüber dem Staat und eine Minderung der bisher vorgesehenen Steuersätze für NeuunternehmerInnen. Insgesamt begrüßen sie zwar die nun verabschiedeten Maßnahmen, bezeichnen sie aber als „Minimalprogramm“. Andere AutorInnen, wie der ehemalige Diplomat und Linkssozialist Pedro Campos kritisierten vor allem den dirigistischen Charakter der Reformen. Stattdessen gelte es, ähnlich wie in Brasilien oder Ecuador, aktiv Kooperativen und andere freiwillige und selbst bestimmte Formen wirtschaftlicher Aktivitäten zu fördern. Der Regierungsberater Gerardo Ortega mahnt zu einer aktiveren Beteiligung der kubanischen BürgerInnen an den Staatseigentümern, um damit die Zweiteilung in „aktive EntscheidungsträgerInnen“ und passive BürgerInnen zu vermeiden.
Zuerst müsste allerdings jene Mentalität verändert werden, die als „psychologische Blockade am schwierigsten zu überwinden ist, weil sie über viele Jahre dieselben Dogmen und obsoleten Kriterien aufrecht hielt”, so Raúl Castro in seiner Parteitagsrede. Die Klassiker des Marxismus, insbesondere Lenin, hätten davon gesprochen, dass in einer künftigen sozialistischen Gesellschaft der Staat als Repräsentant des Volkes Eigentum an den grundlegenden Produktionsmitteln haben würde. „Wir“, so erklärte Castro schon bei einer Parlamentsrede im vergangenen Dezember, „haben dieses Prinzip verabsolutiert“. Die Entwicklung soll nun in Richtung eines dezentralisierten Modells gehen, in dem zwar Planungselemente dominieren, „aber die Markttendenzen nicht länger ignoriert werden, damit diese zur Flexibilisierung und ständigen Aktualisierung” beitragen könnten.
Die im Herbst 2010 begonnene Flexibilisierung im nicht-staatlichen Bereich sei das Ergebnis grundlegender Überlegungen und dieses Mal gäbe es „keinen Schritt zurück.“ Nach einer durch den Zusammenbruch des europäischen Staatssozialismus erzwungenen Öffnung wurden nach einer ersten wirtschaftlichen Erholung 1996 immer weniger neue Lizenzen für Privatbereiche vergeben, bestehende wurden oftmals nicht erneuert. Im Oktober 2010 war mit nur knapp 100.000 offiziell privat Beschäftigten ein Tiefstand erreicht. Seitdem ist die Zahl der neuen Genehmigungen bereits um 200 Prozent gewachsen. Nach Regierungsangaben geht man davon aus, dass während des nächsten Fünfjahresplans rund 1,8 Millionen KubanerInnen aus dem staatlichen Bereich ausscheiden und in den privaten Sektor wechseln.
In diesem erwartet sie ein sehr progressives Einkommens- und Lohnsteuersystem, das ständig neu abgestimmt wird. Dennoch werden nicht alle dabei Erfolg haben: Die wenigsten der kubanischen JungunternehmerInnen sind mit Erfahrungen oder ausreichend Startkapital versorgt. Die in Aussicht gestellten Mikrokredite wird es angesichts knapper Staatskassen erstmal noch nicht geben. Im Gegenteil ist der Staat bemüht, durch Steuern und Vorabzahlungen einen Teil des auf 25 Milliarden Peso (circa 660 Millionen Euro) geschätzten Privatvermögens (40 Prozent des BIP) abzuschöpfen und produktiv zu investieren. Rechtzeitig vor dem Parteitag verkündete die US-amerikanische Regierung, die Höchstgrenze zulässiger Überweisungen ohne Genehmigung nach Kuba auf 2.000 US-Dollar pro Jahr und Person zu erhöhen, „um privatwirtschaftliche Aktivitäten zu unterstützen.“
Eine wichtige Frage ist deshalb die Neuausrichtung des Sozialsystems. Es soll Abschied genommen werden von einem Modell wie der Lebensmittelkarte, dass von einer homogenen Masse von Menschen ausgeht, die alle das Gleiche erhalten. Stattdessen soll eine stärker differenzierte und an den realen Bedürfnissen ausgerichtete Unterstützung aufgebaut werden.
Begrüßenswert wäre dies allemal: zwar führt das nationale Statistikamt ONE bisher keine offiziellen Armutsstatistiken (auch das soll sich im Zuge der Dezentralisierung und stärkeren Transparenz jetzt ändern), aber die kubanische Soziologin Mayra Espina schätzt die urbane Armut landesweit auf mindestens 15 Prozent. Die Einkommensungleichheit sei seit 1990 um die Hälfte gewachsen, besonders benachteiligt seien Alte, Afro-KubanerInnen und Frauen.

Förderlizenzen im Naturschutzgebiet

Alexandra Almeida ist Mitbegründerin der Yasuní-Initiative und Beauftragte der Umweltorganisation Acción Ecológica (Ökologiscge Aktion), die zur Problematik der Erdölförderung in Ecuador arbeitet.

Wo liegt der Ursprung der Idee, die Anfang der 1990er Jahre im Yasuní-Park entdeckten Erdölvorkommen für eine Kompensation durch die Weltgemeinschaft unangetastet zu lassen?

Dieser Vorschlag ist in den 25 Jahren, in denen wir uns mit den negativen Folgen der Erdölförderung beschäftigt haben, entstanden. Wir haben zunächst die Meinungen der Betroffenen, das heißt vor allem der lokalen Gemeinden in den Fördergebieten, eingeholt. Daraus wurde schnell ein „Nein“ zur von der Regierung geplanten Erweiterung der Erdölfördergebiete, was in die Forderung nach einem Moratorium mündete. Hilfreich war dabei auch eine Publikation mit dem Titel Die post-fossile Wirtschaft, herausgegeben in Zusammenarbeit mit dem Lateinamerikanischen Sozialforschungsinstitut ILDIS im Jahre 2000, die die Notwendigkeit einer Umstrukturierung der Wirtschaft nebst möglichen Alternativen herausstrich. Also weg von der Abhängigkeit vom Öl, hin zu neuen Energieträgern und zur Ernährungssouveränität des Landes.

Wie kam es, dass der Vorschlag letztlich von der Regierung aufgegriffen wurde?

Am Tag der Umwelt 2003 haben wir die Moratoriumsforderung dem damaligen linken Umweltminister in der Gutierrez-Regierung, Edgar Isch, übergeben. Nach dem Zusammenbruch dieser Regierung sowie dem Wahlsieg Correas haben wir die Möglichkeit gesehen, das Moratorium, speziell für die Zone des Yasuní-Parks, auf Regierungsebene zu präsentieren, das dann vom damaligen Energieminister Alberto Acosta vorangetrieben wurde. Der Vorschlag der Kompensationszahlungen duch die Weltgemeinschaft statt dem von uns angedachten symbolischen Verkauf von nicht gefördertem Öl wurde vom Präsidenten hinzugefügt.

Wie waren die ersten Reaktionen im Ausland?

Viele sprachen zunächst von einer Erpressung und einem Geschacher der ecuadorianischen Regierung. Dabei wurde ausgeblendet, dass Ecuador mit seinem Verzicht auf die Hälfte der erwarteten Einnahmen seinen Teil zur Lösung eines weltweiten Problems, dem Klimawandel und dem zunehmenden Verlust der Biodiversität beiträgt. Nun liegt es an der Weltgemeinschaft, insbesondere am reichen Norden, der eine viel größere Schuld an der Umweltmisere hat, ihren Beitrag zu leisten. Allerdings ließ der Präsident selbst Zweifel an seiner Haltung aufkommen, ob er es mit diesem Vorschlag wirklich ernst meinte.

Wodurch?

Erst einmal durch seine fast gleichzeitige Betonung auf einen Plan B, dass die Erdölvorkommen ausgebeutet werden, wenn nicht gezahlt wird. Nur sieben Tage nach der Unterschrift unter den Treuhandfonds am 3. August 2009, stellte Correa diesen Plan B ausführlich vor, ohne dabei wirklich auf Plan A einzugehen. Nur drei Monate später vergab Correa weitere Förderlizenzen im Amazonasgebiet westlich des ITT-Territoriums, was ein klarer Bruch mit dem angestrebten Ausstieg aus dem Extraktionsmodell war. Weiterhin dauerte es sechs Monate, bis die Kommission zur Präsentation und Durchführung des ITT-Projekts zusammengestellt wurde. Die Kommission um Ivonne Baki, die noch nicht einmal Ökologin ist, genießt dabei keineswegs unser Vertrauen. Dazu kam auf internationaler Ebene die Gefahr, dass die Zahlungen in den Fond mit dem internationalen Kohlendioxid-Handel verknüpft werden sollten, was für uns ein Angriff auf unsere ursprüngliche Idee war. Der Versuch nämlich, sich über einen solchen Beitrag für eine weitere Luftverschmutzung in anderen Regionen freizukaufen.

Was ist bisher an echten Zahlungen in den Fonds zu verzeichnen?

Sicherlich weniger als die von Correa geforderten 100 Millionen US-Dollar, um das bis Dezember dieses Jahres reichende Moratorium zu verlängern. Dabei halten wir auch den Vorschlag Italiens, die ecuadorianische Auslandsschuld von 35 Millionen US-Dollar als Fondsbeitrag zu verrechnen, für illegitim.
Das Yasuní-Regenwaldgebiet ist seit 1979 ein geschützter Nationalpark, in dem weder gejagt noch gebaut werden darf. Warum darf dort dann nach Erdöl gebohrt werden? Wäre das im Falle von ITT das erste Mal?
Nein. Dort gibt es bisher schon drei Fördergebiete. Außerdem wurde das ursprüngliche Yasuní-Gebiet vor der Erklärung zum Nationalpark bereits verkleinert, um im ungeschützten Teil weitere Lizenzen erteilen zu können. Die neue Verfassung verbietet eigentlich die Ausbeutung der Ölvorkommen im ITT-Gebiet, es sei denn, der Präsident erklärt diese zu einer Angelegenheit von nationalem Interesse. Dann muss allerdings sein Begehren das Parlament passieren, ehe es zu einer letztlich entscheidenden Volksbefragung darüber kommt. Diesen Weg scheut Correa derzeit noch, denn die öffentliche Meinung scheint gegen eine Ausbeutung zu sein.

Welche Naturvölker sind von einer möglichen Erdölforderung betroffen? Wie stehen die weiter westlich sesshaften Huaorani zu diesem Vorhaben?

Die Huaorani sind gespalten, auch weil es der Regierung gelang, sie mit Arbeitsplatzangeboten und anderen Vergünstigungen auseinander zu dividieren. Direkt betroffen sind die Wandervölker der Tagaeri und Taromenane, die den Kontakt zur Zivilisation meiden und denen das ITT-Territorium als Durchzugsgebiet dient.

Wer sind die Alliierten der Acción Ecológica in dieser Frage?

Die indigenen Bewegungen, die Bevölkerung Amazoniens und die Bauernbewegungen. Darüber hinaus stoßen wir auf viel Unterstützung bei der Jugend des Landes. Ein Erfolg ist auch unsere Kampagne „Der Yasuní hangt von dir ab“, die stark auf Schulen und Hochschulen ausgerichtet ist.

Wie sieht die weitere Strategie aus?

Wir werden unsere Kampagne fortsetzen und uns auf die mögliche Volksbefragung konzentrieren, auch wenn wir sie für ethisch nicht vertretbar halten. Denn wie kann eine Bevölkerung über die Zerstörung des Lebensraums einer anderen Bevölkerung abstimmen? Doch wenn Correa das Öl fördern lassen will, muss er nach Ablauf des Moratoriums das Volk fragen.

KASTEN:

Yasuní in einer „Phase der Unbestimmtheit“
Ex-Energieminister Alberto Acosta, sieht das ITT-Projekt – benannt nach den 1992 entdeckten Quellen Ishpingo, Tambococha und Tiputini (siehe LN 414) – in einer „Phase der Unbestimmtheit“. Einst hatte er den Vorschlag, auf die Förderung von Öl im östlichen Teil des ecuadorianischen Regenwaldes gegen Kompensationszahlungen durch die internationale Gemeinschaft zu verzichten, auf die Regierungsebene gehoben. Dabei sollten etwa die Hälfte der möglichen Einnahmen von acht Milliarden US-Dollar in dreizehn Jahren (350 Millionen US-Dollar jährlich) zusammenkommen.
Acosta macht die Regierung für das bisherige Scheitern des Projektes verantwortlich, der es an einer klaren Position fehle. Diese liegt wohl weniger an dem vom Projekt überzeugten Vize-Präsidenten Lenin Moreno – selbst in Yasuní geboren, als für dessen Chef Rafael Correa, der für Alberto Acosta gleichzeitig der „wichtigste Förderer“ und das „größte Hindernis“ dieses bisher weltweit einzigartigen Vorschlags ist. Dabei hat der ehemalige Mentor des Präsidenten durchaus Verständnis dafür, dass dieser Geld für seine Infrastruktur-, Bildungs-, Gesundheits- und sozialen Maßnahmen braucht. Doch die Reduktion der Ölförderung als einfache Geldquelle „greift viel zu kurz“. Immerhin hat der 900.000 Hektar große Yasuní-Park, seit 1989 UNESCO-Biosphärenreservat, eine immense Bedeutung für das Weltklima. Die Gelder des im August 2010 gegründete UN-Treuhandfonds werden darüber hinaus ausschließlich für soziale und ökologische Zwecke einsetzt.
Besonders enttäuscht ist Alberto Acosta von der deutschen Haltung gegenüber dem ITT-Projekt. Einen „Dolchstoß für das Projekt“ (siehe LN 437) nennt er die Rücknahme der am 26. Juni 2008 vom Bundestag beschlossenen Zusagen von Entwicklungsminister Dirk Niebel. Im Gespräch waren 50 Millionen US-Dollar jährlich, für die Unterstützung des ITT-Projekts. Mit „Kommunikationsschwierigkeiten“ erklärt Ivonne Baki, Chefunterhändlerin der ecuadorianischen Kommission zur Präsentation des Vorschlags, diesen Rückzug. Mittlerweile seien die Gespräche aber wieder aufgenommen worden.
Konkrete Zusagen sind allerdings Fehlanzeige. Frankreich will bis Juni entscheiden, ob es Ecuador für den Fonds die Auslandschuld von 50 Millionen US-Dollar erlassen will. Auf die gleiche, umstrittene Idee ist Italien gekommen, dem Ecuador noch 35 Millionen US-Dollar schuldet. Bisher gingen nur bescheidene zwei Millionen US-Dollar von Chile, Spanien und Belgien ein, was Erdölgewerkschaftler Fernando Villavicencio zu der sarkastischen Einschätzung veranlasst, dass „die Kommission auf ihren bisher 40 Reisen wohl genauso viel Geld ausgegeben wie eingesammelt hat.“
// Ralf Ohm

Häufig gestellte Fragen

Welche Änderungen der Verfassung sah Zelaya vor?

Manuel Zelaya hatte sich dazu nie konkret geäußert. Details sollte erst die Verfassunggebende Versammlung erarbeiten. Zelaya sagte aber, er wolle die Bevölkerung stärker an politischen Prozessen beteiligen. Dazu plante er, am 28. Juni 2009 die BürgerInnen in einer nicht bindenden Meinungsumfrage zu konsultieren. Sie sollten darüber entscheiden, ob bei den kommenden Wahlen gleichzeitig ein Referendum zur Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung stattfinden sollte.
Zelaya forderte einen „sozialistischen Liberalismus“, damit „alle Vorteile des Systems dorthin kommen, wo sie am meisten benötigt werden: zu den Frauen, den Männern, den Kinder, den Bauern, den Produzenten!“ Zelayas Gegner behaupteten, er wolle mit der Volksbefragung und dem darauf folgenden Referendum lediglich seine Wiederwahl erreichen und Honduras in eine Diktatur verwandeln.

Hätte sich Zeleya nach einem erfolgreichen Referendum wiederwählen lassen können?

Nein. Das Referendum, das im Falle der Zustimmung der Bevölkerung gemeinsam mit den Wahlen am 29. November 2009 hätte stattfinden sollen, hätte zunächst eine Verfassunggebende Versammlung einberufen. Diese hätte dann in den Monaten darauf die Aufgabe gehabt, eine neue Verfassung zu erarbeiten.
Brisant dabei ist, dass der honduranische Kongress Mitte Januar 2011 eine Änderung des Artikel 5 der Verfassung vorgenommen hat. Dadurch werden Referenden bezüglich der Wiederwahl des Präsidenten möglich gemacht.

Wer steckt hinter dem Putsch?

Die Verhaftung und Außerlandesbringung Zelayas wurde von Militärs unter Führung von General Romeo Vásquez Velásquez durchgeführt. Zuvor hatte der Oberste Gerichtshof die Verhaftung Zelayas angeordnet, da ihm aufgrund der geplanten Volksbefragung von der Opposition und der Oligarchie des Landes ein Verfassungsbruch vorgeworfen wurde. Schon in den Monaten zuvor hatten die von den Eliten kontrollierten Medien gegen Zelayas linksgerichteten politischen Kurs gewettert. Auch die USA müssen frühzeitig von dem Vorhaben eines Staatsstreiches gewusst haben, denn die PutschistInnen nutzten den US-Militärstützpunkt Palmerola bei Comayagua, um Zelaya auszufliegen.
Am Tag des Putsches wurde im Parlament die Fälschung eines Rücktrittsschreibens Zelayas verlesen sowie Telefonnetz und Rundfunk abgeschaltet. Kurz nach dem Putsch meldete sich auch der honduranische Kardinal und Vorsitzende von Caritas International, Óscar Andrés Rodríguez, zu Wort. Er rechtfertigte die Absetzung Zelayas und vertrat die Meinung, Venezuelas Präsident Hugo Chávez wolle durch Zelaya Kommunismus in Honduras einführen. Ähnlicher Meinung waren auch honduranische Unternehmerverbände, konservative US-Politiker und die FDP-nahe Friedrich-Naumann Stiftung, die in Tegucigalpa ein Regionalbüro unterhält.

Wurden die für den Putsch verantwortlichen Personen in irgendeiner Weise sanktioniert?

Nein. Zwar teilte der US-Botschafter Hugo Llorens einen Monat nach dem Putsch Washington mit, dass es „keinen Zweifel mehr daran (gibt), dass die Amtsübernahme durch Roberto Micheletti illegitim war.“ Er bezeichnete die Vorgänge als einen Putsch und widerlegte die Vorwürfe der PutschistInnen gegen Präsident Manuel Zelaya. Dennoch wurde Putschpräsident Roberto Micheletti der Status eines Abgeordneten auf Lebzeiten und damit ein lebenslanges Monatsgehalt, Immunität sowie Polizeischutz für sich und seine Familie zugesichert. Im März 2010 ernannte Porfirio Lobo den für den Putsch verantwortlichen General Romeo Vásquez Velásquez zum Präsidenten der nationalen Telefongesellschaft Hondutel. Die Putschregierung hatte noch vor der Amtseinführung von Porfirio Lobo damit begonnen, Amnestien für politische Straftaten zu erlassen.

Welche lateinamerikanischen Länder anerkennen die Putschregierung von Porfirio Lobo?

Anerkannt wird die Regierung von Porfirio Lobo bisher von Mexiko, Guatemala, Belize, El Salvador, Costa Rica, Panama, Kolumbien, Peru und Chile. Brasilien, Ecuador, Bolivien, Argentinien, Venezuela und Nicaragua haben die Regierung von Porfirio bisher nicht anerkannt. Weiterhin ist Honduras‘ Mitgliedschaft in der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) suspendiert.

Was macht Manuel Zelaya heute?

Manuel Zelaya lebt seit dem 27. Januar 2010 im Exil in der Dominikanischen Republik. Er ist Hauptkoordinator der Widerstandsbewegung und hofft auf eine baldige Rückkehr nach Honduras. Zelaya wurde von Hugo Chávez zudem die Leitung des „Politischen Rates“ von Petrocaribe übertragen.

Was fordert die Widerstandsbewegung?

Die Widerstandsbewegung fordert unter anderem die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung. In der neuen Verfassung sollen die Prinzipien der partizipativen Demokratie etabliert werden. Weiter wird die Erneuerung des aktuellen Machtapparates, die Rückkehr Manuel Zelayas aus dem Exil und die Rücknahme neoliberaler Arbeitsgesetze gefordert.

„Vertraut mir“

Scheinbar ist in Ecuador der Alltag wieder eingekehrt. Fünf Monate, nachdem Staatspräsident Rafael Correa am 30. September 2010 von Eliteeinheiten unter Lebensgefahr aus dem Polizeihospital von Quito befreit wurde, wo ihn aufständische PolizistInnen festhielten, sitzt er wieder fest im Sattel. Bei genauerem Hinsehen ist jedoch vieles nicht mehr wie zuvor. Während die Gerichts- und Disziplinarverfahren gegen diejenigen PolizistInnen und PolitikerInnen, die der Aufwiegelung und des Putschversuchs beschuldigt werden, noch andauern, kann das politische Resultat auf folgende Formel gebracht werden: Die Polizei, die den Aufstand anzettelte, wurde institutionell geschwächt, das Militär, das am 30. September nach anfänglichem Zögern erst am Nachmittag seine Loyalität zur Regierung bekundete, hingegen gestärkt. Nach einer Gehaltserhöhung für etwa 5.000 Offiziere unmittelbar nach dem Putschversuch wurde im Dezember Admiral Homero Arellano zum Minister für die Koordination der inneren und äußeren Sicherheit ernannt. Zudem wird die Armee in den letzten Monaten zunehmend für Belange der inneren Sicherheit eingesetzt. Sie patrouilliert in der Altstadt von Quito, realisiert schwer bewaffnet Verkehrskontrollen und bewacht nach wie vor das Parlamentsgebäude. Anfang Januar räumten Militärs auf direkte Anweisung von Präsident Correa Landbesetzungen vor der Hafenstadt Guayaquil, nachdem die betreffende Gegend zur Sicherheitszone erklärt worden war.
Die Spannungen zwischen der Regierung und der Polizei als „Hüter der öffentlichen Ordnung“ wurden Ende 2010 von der rechten Opposition genutzt, um eine Medienkampagne zum Thema öffentliche Sicherheit loszutreten. Die Regierung erlaube die Einreise kolumbianischer Krimineller und entlasse Verdächtige aus den Gefängnissen, nur weil sie nach einem Jahr noch nicht verurteilt seien – damit gefährde sie ehrbare BürgerInnen zugunsten der Menschenrechte von DelinquentInnen, so die Argumente der christdemokratischen Köpfe dieser Kampagne.
Beobachter wie der Historiker und Anthropologe Pablo Ospina weisen anhand von Zitaten nach, wie Präsident Rafael Correa in Sachen öffentliche Sicherheit seinen Diskurs nach und nach dem der politischen Rechten angenähert hat – wie also die Kampagne der Opposition gewissermaßen erfolgreich war. Ospina zeigt auch anhand von Statistiken auf, dass der faktische Anstieg der Gewaltkriminalität in den letzten Jahren eher verhalten war: Die Mordzahlen stiegen beispielsweise von 2.625 in 2009 nur geringfügig auf 2.638 in 2010. Dennoch hat die konstante Veröffentlichung von Gewalttaten, die in einigen Medien immer noch andauert, das subjektive Sicherheitsgefühl der EcuadorianerInnen stark beeinträchtigt.
Schließlich lancierte die Regierung, um wieder in die Offensive zu kommen, Anfang 2011 eine Volksbefragung, die eine Reaktion auf die wahrgenommene Unsicherheit der BürgerInnen darstellen und eine Justizreform auf den Weg bringen soll. Die Fristen für Untersuchungshaft sollen wieder ausgedehnt, und die ohnehin geplante Justizreform einer dreiköpfigen Komission übertragen werden, in der der Präsident über einen Vertreter der Exekutive direkten Einfluss auf die Neustrukturierung der Gerichte ausüben kann.
Auch wenn die Rechnung, mit dieser Initiative wieder aus dem politischen Hintertreffen zu kommen, aufgegangen ist – seit Mitte Januar dominiert die Volksbefragung die öffentliche Debatte in Ecuador – so hat sie gleichzeitig das schwerste politische Erdbeben innerhalb der Regierungspartei von Alianza País seit deren Gründung ausgelöst. In den letzten Wochen sagten sich eine Reihe von Parlamentsabgeordneten und ehemaligen Mitgliedern der Verfassunggebenden Versammlung, ehemalige Minister der Regierung Correa wie Gustavo Larrea und Manuela Gallegos, sowie die linksliberale Strömung Ruptura de los 25 von Alianza País los. Die Folge ist, dass der Regierungspartei im Parlament künftig zwölf Stimmen zur absoluten Mehrheit fehlen. Bemängelt wurde vor allem das Fehlen einer internen politischen Debatte. „Auch wenn Ecuador tiefgreifende Veränderungen braucht, können diese nicht auf Kosten von Rechten und Freiheiten durchgesetzt werden”, heißt es in der Austrittserklärung von Ruptura de los 25.
Sowohl die politische Rechte als auch der Präsident selbst behandeln die consulta vor allem als eine Abstimmung für oder gegen die Person Rafael Correa. „Sie können diesem Genossen Präsident vertrauen, der niemals irgendetwas für sich selbst erstreben wird. Nichts für uns, alles für das Vaterland. Deshalb brauchen wir diesen erneuten Vertrauensbeweis“, so Correa, als er die Volksbefragung am 12. Januar lancierte.
Jene dritte Kraft, die sich nicht mit der Rechten gemein machen lässt, sondern eher eine Art linker Opposition darstellt, führt jedoch die Auseinandersetzung um die Volksbefragung auf der inhaltlichen Ebene als einen Kampf um demokratische Grundprinzipien. Nicht die Tatsache an sich, dass ein Instrument der direkten Demokratie angewandt werden soll, erregt die Gemüter – umstritten ist vielmehr der Inhalt, über den nun abgestimmt werden soll, sowie die Art und Weise, wie der Souverän über die anstehenden Entscheidungen informiert wird. Die Fragen zur Justizreform verweisen nämlich auf einen Anhang von mehreren Dutzend Seiten Paragraphen, die zu verstehen für diejenigen, die im anstehenden Referendum eine informierte Entscheidung treffen wollen, fast unmöglich ist. Hinzu kommt, dass die Kommission, welche die Justizreform innerhalb von 18 Monaten vorantreiben soll, prominenten VerfassungsrechtlerInnen zufolge die Gewaltenteilung aushebelt und die Judikative praktisch den Interessen der Exekutive ausliefert.
Rafael Correa selbst reagierte jedoch ungerührt auf die Abwanderung seiner ehemaligen ParteigängerInnen und die damit verbundene Kritik. Jede Revolution habe schließlich ihre VerräterInnen, meinte er lakonisch, und: “Den Illoyalen, den Opportunisten, den Verrätern schicken wir einen brüderlichen Gruß und das Angebot eines neuen Sieges an den Urnen.“ Für Doris Soliz, amtierende Ministerin für die Koordinierung der Politik, hat die Regierung mit der Volksbefragung „einen radikalen, transformatorischen, sicherlich umstrittenen Weg eingeschlagen, um auf die Sicherheitsproblematik zu reagieren.“ Die DissidentInnen hätten hingegen einen reformistischen, institutionalistischen Weg gewählt.
Der Termin für das Referendum wurde schließlich auf den 7. Mai festgelegt. Während praktisch alle politischen Kräfte sowohl rechts als auch links der Regierung – mit Ausnahme der sozialistischen Partei – sich gegen die Volksbefragung ausgesprochen haben, besagen Meinungsumfragen, dass die Regierung, die grundsätzlich immer noch über 60 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung genießt, bei diesem Referendum erstmals das Risiko eingeht, keinen eindeutigen Sieg einzufahren.
Dass Ecuador eine Justizreform benötigt, ist allgemein unumstritten. Dass sie jedoch von Rafael Correa persönlich gestaltet werden soll, anstatt wie geplant in einem transparenten und partizipativen Verfahren von der sogenannten 5. Gewalt, dem Rat für Bürgerbeteiligung, ist der Tropfen, der für einige das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Nach vier Jahren Bürgerrevolution – einer Zeitspanne, die an sich in Ecuador bereits einen Rekord an politischer Stabilität darstellt – ist der mangelnde politische Wille, die BürgerInnen real und auf verschiedenen Wegen an politischen Prozessen zu beteiligen, eines der wichtigsten Merkmale der Regierung Correa. Einer Regierung, die sich in erster Linie die Stärkung und Effizienz des Staatsapparates zum Ziel gesetzt hat, und soziale Mobilisierung oder Protest nicht als legitime Formen politischer Beteiligung wertet, sondern als Anarchie und mangelnden Respekt vor der Obrigkeit.
Partizipation ist für Rafael Correa gleichbedeutend mit unnötiger Verzögerung, so Pablo Ospina. Wenn BürgerInnen etwa zu Mitteln des zivilen Ungehorsams greifen, müssen sie im heutigen Ecuador mit harscher Repression rechnen. Zwischen 2008 und 2010 wurden über 200 EcuadorianerInnen, die beispielsweise Straßenblockaden oder Demonstrationen organisiert hatten, des Terrorismus und der Sabotage angeklagt – auf der Grundlage eines extrem auslegbaren Strafrechtsparagraphen, der im Jahr 1964 von einer Militärdikatur eingeführt worden war. Der Bruch der Regierung Correa mit den Massenorganisationen, die eigentlich die Basis einer fortschrittlichen Regierung darstellen sollten, wie Gewerkschaften und Indigenen, scheint mittlerweile nicht mehr überwindbar.
Für Paco Moncayo, den ehemaligen Bürgermeister von Quito, gibt es nicht eine Bürgerrevolution, sondern zwei: Ein partizipatives, linkes Projekt, das sich in der Verfassung von 2008 materialisiert. Und ein autoritäres, personalistisches Projekt, das in Rafael Correa selbst seine Konkretisierung erfährt. Die Auseinandersetzung um die Volksbefragung muss vor diesem Hintergrund gelesen werden.
Die linken KritikerInnen sehen in der consulta selbst nicht direkte Demokratie, sondern eine Serie von Verfassungsbrüchen und eine weitere Unterhöhlung der Demokratie zugunsten zentralistischer Kontrolle und Effizienz. Manuela Gallegos, ehemalige Ministerin für Bürgerbeteiligung und soziale Organisierung, drückt das so aus: „Ich glaube nicht an vertikale Macht. Ich glaube nicht an Personen, die für mich entscheiden. Für mich war das grundlegende Konzept der Bürgerrevolution die Tatsache, dass man einem Volk die Möglichkeiten, Gelegenheiten und Stärke geben sollte, sich selbst zu regieren.“

Bloß keine Invasion

Für die wichtigsten politischen Akteure gelten die Tage des libyschen de-Facto-Staatsoberhauptes Muammar al-Gaddafi als gezählt. Die USA und die EU setzen offen auf einen Regierungswechsel und schließen mit Hinweis auf die andauernde Gewalt in dem nordafrikanischen Land auch eine Militärintervention nicht aus. Über Fürsprecher scheint Gaddafi auf internationalem Bankett nicht mehr zu verfügen. Die mittlerweile lukrativen Geschäfte mit dem Langzeitherrscher, der seit 1969 an der Macht ist, ließen sich bei politischer Stabilität schließlich mit anderen weiterführen. Laut Medienberichten hat Gaddafi die Kontrolle über einen Großteil des Landes bereits verloren.
Einige der links regierten Staaten Lateinamerikas tanzen jedoch aus der Reihe. Während der nicaraguanische Präsident Daniel Ortega gar offene Solidaritätsbekundungen an Gaddafi übermittelt, vermeiden Länder wie Venezuela, Kuba, Bolivien und Ecuador zumindest eine klare Positionierung. Ihre Hauptsorge gilt einer möglichen militärischen Intervention des Westens. Der kubanische Ex-Präsident Fidel Castro warnte in seinen „Reflexionen“ davor, dass die NATO Lybien besetzen wolle, um sich den Zugang zum Öl zu sichern. Die kubanische Regierung sprach sich klar gegen politische Einmischung in Libyen aus. Die venezolanische Regierung teilt diese Sorge. Einige Tage nach Beginn der gewaltsamen Auseinandersetzungen meldete sich Präsident Hugo Chávez am 24. Februar erstmals zu Wort. „Es lebe Libyen und seine Unabhängigkeit! Gaddafi sieht sich einem Bürgerkrieg ausgesetzt“, ließ der über seinen Twitter-Acount verlauten. Der venezolanische Außenminister Nicolás Maduro äußerte sich zeitgleich während einer Fragestunde im Parlament ausführlicher zu dem Thema. „Wir setzen uns für Unabhängigkeit, Frieden und Souveränität des libyschen Volkes ein“. Derzeit würden in dem nordafrikanischen Land die Konditionen dafür geschaffen, eine militärische Intervention zu rechtfertigen, sagte Maduro.
In seiner Rede verwies er darauf, dass Libyen als ein vitales Mitglied der Organisation Erdölexportierender Länder (OPEC) von einer Zerteilung bedroht sei. Den großen Nachrichtenagenturen warf er vor, Meldungen aus dem Land zu manipulieren. Es werde vielleicht Wochen dauern, bis bekannt würde, was wirklich passiert sei. „Erinnern wir uns daran, wie alle internationalen Agenturen verbreiteten, dass Präsident Chávez ein Mörder sei“, sagte Maduro in Anspielung an den gescheiterten Putsch im April 2002. Damals hatten venezolanische und internationale Medien nachweislich falsch informiert. Die von den PutschistInnen geschickt inszenierten Falschmeldungen dienten unter anderem den USA und der EU als Grundlage für die Anerkennung der Putschregierung unter dem Kurzzeitdiktator Pedro Carmona. Einigen westlichen Regierungen warf der Außenminister zudem Heuchelei und Doppelmoral im Umgang mit Libyen vor. „Warum fordern sie nicht die Bestrafung jener, die Tag für Tag im Irak, in Afghanistan und Pakistan morden?“
Chávez sprach einige Tage später von einem „Netz aus Lügen“, das über Libyen gespannt werde und die Gefahr eines Einmarsches vergrößere. Den USA warf er bewusste „Übertreibungen“ der Situation vor. Eine vorschnelle Verurteilung Gaddafis lehnte er daher ab. „Vielleicht haben Andere Informationen, die wir nicht haben“, sagte er. Aufgrund der unklaren Faktenlage sei es jedoch „feige“ jemanden zu verurteilen, „der lange Zeit unser Freund gewesen ist“, sagte Chávez.
Damit nimmt die venezolanische Regierung gegenüber Libyen eine etwas andere Position ein als zuvor gegenüber den Ereignissen in Ägypten und Tunesien, wo seit Jahrzehnten US-freundliche Herrscher regierten. Venezuela hatte sich zwar auch dort zunächst zurückhaltend geäußert, die Umstürze aber letztlich offen begrüßt. Der ägyptischen Bevölkerung hatte Chávez zu ihrem „friedlichen Triumph“ der „sozialen Rebellion“ gratuliert, die eine „Lektion in demokratischer und politischer Reife“ darstelle. Bei einer rein verfassungsmäßigen Betrachtung habe es sich zwar um einen Staatsstreich gehandelt, so Chávez. Dennoch zeigte er sich mit dem Vorgehen einverstanden, da „die Bevölkerung darüber entscheiden wird“.
Auch andere linke lateinamerikanische Regierungen begrüßten den Umsturz in Ägypten. In den Wochen zuvor hatten Chávez und andere Staatschefs in Lateinamerika wie Evo Morales in Bolivien oder Rafael Correa in Ecuador eine friedliche Lösung ohne Einmischung von außen gefordert. Zu Libyen äußerten sie sich ähnlich und betonten vor allem den Wunsch nach einem Ende der Gewalt, während sie Schuldzuweisungen vermieden.
Die venezolanische Opposition hob ebenfalls den friedlichen Verlauf der Proteste in Ägypten hervor, zog jedoch Parallelen zur politischen Situation im eigenen Land. Ramón Guillermo Aveledo vom Oppositionsbündnis „Tisch der demokratischen Einheit“ (MUD) sagte in Anspielung auf Chávez, alle Gesellschaften sollten „sich im Spiegel betrachten“. Wenn derjenige, der an der Macht sei „sich verewigt und wenn sich die Wege der Partizipation der Gesellschaft verschließen, passieren solche Explosionen und Krisen“.
Chávez wies den Vergleich mit Hosni Mubarak, der fast 30 Jahre lang im Ausnahmezustand regiert hatte, zurück. „Dort gab es tatsächlich eine Diktatur und über die Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut oder extremer Armut“. Mubarak habe niemals die innerhalb der ägyptischen Bevölkerung bestehenden Ungleichheiten korrigiert oder die Probleme der Bevölkerung gelöst. Dies sei die Ursache für seinen Sturz, erwiderte der venezolanische Präsident. Zum Jahrestag der als Caracazo bekannten blutigen Niederschlagung antineoliberaler Proteste am 27. Februar 1989 äußerte sich Chávez abermals zu den Vergleichen. Was in Ägypten passiert sei, habe in Venezuela bereits vor über 20 Jahren stattgefunden. Ob es sich in Libyen nicht um ein ähnliches Phänomen handeln könnte, ließ er offen.
Die Rolle des internationalen bad guys hatte Venezuela in der Libyen-Krise unfreiwillig bereits von Anfang an inne. Einen ganzen Tag lang berichteten Medien weltweit von dem Gerücht, Gaddafi sei vor den Protesten zu seinem „engen Verbündeten“ Hugo Chávez geflohen. Die Information hatte der britische Außenminister William Hague geschickt gestreut, das Dementi der venezolanischen Regierung konnte die klare Konnotation nicht verhindern: Hier ein Diktator, dort ein anderer, und beide führen gute Beziehungen miteinander. Gaddafis wesentlich wichtigere europäische Verbündete hatten zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen, auf Distanz zu dem früheren Feind des Westens zu gehen, den sie in den vergangenen Jahren so fürstlich hofiert hatten. Hague hätte ebenso mutmaßen können, Gaddafi habe sich nach Italien abgesetzt, waren doch die Beziehungen zu Silvio Berlusconi um einiges enger als etwa zu Chávez.
Mit Libyen hat Venezuela über die OPEC bereits seit Jahrzehnten enge Beziehungen. Das einstige Streben Gaddafis nach Unabhängigkeit von westlichem Einfluss und seine Versuche, afrikanische Länder zu vereinen, hält sich bis heute als Mythos. Chávez sah in Gaddafi immer einen Partner für eine multipolare Welt und bezeichnete ihn als „Freund“, wobei er mit dieser Bezeichnung nicht gerade sparsam umgeht. Der neue kolumbianische Präsident Manuel Santos etwa ist mittlerweile Chávez‘ „neuer bester Freund“, wodurch sich die Bezeichnung als pragmatische Floskel entpuppt, die zumindest nichts über ideologische Nähe aussagt. Ähnlich verhält es sich zu den guten politischen Beziehungen die Chávez zu umstrittenen Präsidenten wie Mahmut Ahmadinedschad in Iran oder Alexander Lukaschenko in Weißrussland unterhält. Auf pragmatischer Ebene geht es um wirtschaftliche Zusammenarbeit auf politischer allenfalls um ein antiimperialistisches Freund-Feind-Schema. Dies impliziert schwer verdauliche diplomatische Fehltritte seitens Chávez, wie etwa die Diffamierung der gewaltsam unterdrückten „grünen“ Protestbewegung im Iran 2009, die ihn auch in linken Kreisen Sympathien gekostet hat. Die Innenpolitik der venezolanischen Regierung ist mit jener Libyens, Irans oder Weißrusslands in der Regel jedoch unvereinbar. Letztlich verfolgt Venezuela außenpolitisch eine plumpe, interessengeleitete Realpolitik.
In der venezolanischen Linken ist dies im Falle Libyens nicht unumstritten. Einige Stimmen stellten sich offen gegen den libyschen „Revolutionsführer“. Der arabisch-stämmige Abgeordnete der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), Adel El Zabayar, sagte in einem Radiointerview, Gaddafi sei schon lange kein Antiimperialist mehr und habe praktisch die gesamte Erdölproduktion in die Hände transnationaler Unternehmen gegeben. Nun antworte er auf Proteste mit einem „Massaker“, während die vom Erdöl und Gas abhängigen Staaten Europas nach einer für sie günstigen Lösung suchten.
Die dem linken Flügel der bolivarianischen Bewegung zuzurechnende „Marea Socialista“ (Sozialistische Strömung) erklärte in einem Kommuniqué ihre „kategorische Solidarität mit der libyschen Bevölkerung“. Gaddafi habe ein Massaker verübt, das den Völkern der Welt den Horror zeigt, zu dem „Diktatoren, ob dem Imperialismus zugewandt oder nicht“, fähig seien. Von einem Unabhängigkeitshelden der 1960er Jahre habe er sich zu einem „kapitalistischen Diktator und Partner der EU“ entwickelt. Auf dem chavistischen Basisportal aporrea.org wurde in mehreren Kommentaren sowohl die Ablehnung Gaddafis als auch einer militärischen Intervention zum Ausdruck gebracht.
Ende Februar äußerte Chávez schließlich einen Vorschlag zur friedlichen Beilegung der politischen Krise in Libyen, der eine militärische Intervention verhindern solle. „Ich bin sicher, dass viele Regierungen damit einverstanden sind, eine politische Lösung zu suchen, anstatt Waffen und Panzer gegen das libysche Volk zu entsenden“, sagte er. „Warum schicken wir nicht eine internationale Kommission, die sich friedlich für eine Lösung des Konflikts einsetzt?“. In einem Telefonat mit Gaddafi Anfang März soll dieser dem Vorschlag zugestimmt haben. Die Staaten der Bolivarianischen Allianz für Amerika (ALBA) unterstützen Chávez‘ Anliegen ebenfalls, innerhalb der 22 Mitglieder umfassenden Arabischen Liga wird er diskutiert. Dass die westlichen Staaten sich darauf einlassen, scheint allerdings unwahrscheinlich. Frankreich, England und die USA sprachen sich bereits gegen den Vorschlag aus. Sprecher der Widerstandsbewegung in Libyen lehnen Verhandlungen mit Gaddafi kategorisch ab. Auch Saif al-Islam al-Gaddafi, einer der Söhne des „Revolutionsführers“, zeigte sich wenig erfreut über den Vorschlag. Die Venezolaner seien zwar Freunde, hätten jedoch „keine Ahnung“ davon, was in Libyen passiere.

ETAPPENSIEG FÜR DIE UMWELT

„Die Compañeros aus Amazonien machen Geschichte“, sprach Ecuadors Präsident Correa. Sie seien dabei, „einen riesigen Ölmulti zu besiegen“. Umgerechnet 14 Milliarden Euro soll Chevron an jene Gemeinschaften im nordecuadorianischen Amazonasgebiet zahlen, deren Lebensraum sein Vorgänger Texaco in den siebziger und achtziger Jahren verwüstet hat. So hat es ein ecuadorianischer Richter Mitte Februar entschieden. Die ursprüngliche Summe von sieben Milliarden Euro verdoppelt sich, weil es der US-Konzern erwartungsgemäß ablehnte, sich öffentlich bei den Opfern zu entschuldigen.

UmweltfreundInnen können sich zu Recht freuen: Das Urteil markiert einen wichtigen Etappensieg in einem 17-jährigen Rechtsstreit, den eine eingeschworene Allianz von AktivistInnen und JuristInnen aus Ecuador und den USA führt. In den 90ern steckte der Staat mit Texaco unter einer Decke und ließ sich mit Pseudoreparationen abspeisen, die den Multi lumpige 40 Millionen US-Dollar kosteten. Das letzte Wort ist aber noch nicht gesprochen. Denn Chevron tut das Urteil als „Betrug“ ab, der Rechtsstreit dürfte sich noch jahrelang hinziehen. Und selbst bei einem Sieg in letzter Instanz wird es schwierig, das Geld einzutreiben: Da der Multi in Ecuador nicht mehr präsent ist, entfällt die Möglichkeit, seine Sachwerte zu pfänden. Bis dato handelt es sich „nur“ um einen symbolischen Triumph. Exemplarisch wird durch den Chevron-Prozess ein Schlaglicht auf die Umweltverbrechen transnationaler Konzerne geworfen. Das gleiche Ziel verfolgten prominente UmweltschützerInnen, darunter Vandana Shiva (Indien), Nnimmo Bassey (Nigeria) und Alberto Acosta (Ecuador), als sie im November 2010 BP wegen des Lecks im Golf von Mexiko in Quito vor dem Verfassungsgericht verklagten. In Ecuadors Magna Carta nämlich sind die Rechte der Natur festgeschrieben.

Dennoch: Der Fortschritt im Umweltrecht ist sehr langsam. Lösungen, die in solchen Fällen wirklich greifen, können nur auf internationaler Ebene erzielt werden. Freiwillige Initiativen wie der Global Compact der UNO sind dabei zahnlose Tiger, die primär der Imagepflege der Multis dienen. Biss hingegen hätte eine Maßnahme, die letztes Jahr auf dem Alternativen Klimagipfel in Cochabamba gefordert wurde: die Einrichtung eines Internationalen Umweltgerichtshofs.

Bis es dazu kommt, dürfte noch viel Wasser den Amazonas hinabfließen. Und statt den „Compañeros aus Amazonien“ könnte bis dahin Correa selbst Geschichte schreiben – mit weit weniger Charme. Er scheint die Yasuní-ITT-Initiative, derzufolge die Ölreserven im östlichen Teil des Yasuní-Nationalparks nicht gefördert werden sollen, nur noch pro forma zu verfolgen. „Ecuador wird für niemanden der nützliche Idiot sein“, sagte er auf dem Klimagipfel von Cancún: „Wenn die globale Mitverantwortung nicht funktioniert, werden wir diese Reserven ausbeuten müssen.“ Bis Ende 2011 will Correa die Entwicklung abwarten, bevor der eine Entscheidung trifft. 350 Millionen US-Dollar pro Jahr strebt die Regierung an, die Hälfte der erwarteten Mindesteinnahmen bei einer etwaigen Ölförderung. Bislang enthält der im August 2010 eingerichtete Treuhandfonds aber nur kümmerliche 1,9 Millionen US-Dollar. Ein finanzieller Rückschlag ist vor allem das Verhalten der Bundesregierung. Zwar unterstützt der Bundestag die Yasuní-Initiative fraktionsübergreifend, und noch im Juni 2009 soll das damals noch SPD-geführte Entwicklungsministerium 50 Millionen Euro jährlich in Aussicht gestellt haben. Doch im September 2010 erteilte der neue Entwicklungsminister Niebel (FDP) dem Projekt eine Absage.

Ob Yasuní-Initiative oder Internationaler Umweltgerichtshof: Ohne massiven Druck der „Zivilgesellschaften“ des Nordens und Südens werden sich die Regierenden nicht bequemen, eine Politik einzuleiten, die die Verheerungen durch die Ölförderung begrenzt und den überfälligen Übergang in ein nachfossiles Zeitalter einleitet.

Der imperiale Dreh

Die beteiligten Medienkonzerne gehen es langsam an. Bevor Wikileaks damit begann, die Daten häppchenweise selbst zu veröffentlichen, stellte das Online-Projekt seinen „Medienpartnern“ das gesamte Material zur Verfügung. So blieb die erste Interpretation etwa der US-amerikanischen New York Times, dem britischen Guardian, der spanischen Tageszeitung El País oder dem Wochenmagazin Der Spiegel vorbehalten. Die veröffentlichten in der ersten Woche etwa 1.000 Depeschen, bis zur vollständigen Publikation könnten also weitere 250 Wochen vergehen.
Die Nachrichten geben den diplomatischen Alltag und das Selbstverständnis wieder, das unter Angestellten des Auswärtigen Dienstes der USA herrscht. Von den bisher bekannt gewordenen Depeschen zeugt der größte Teil davon, mit welcher Mühe DiplomatInnen in ihren Einsatzländern potentiell belastende Informationen über PolitikerInnen zusammentragen, die den USA gegenüber kritisch eingestellt sind. Aufgabe von Diplomaten ist es, Informationen zu sammeln, um die außenpolitische Linie ihrer Regierung zu stützen. Das bedeutet auch, dass Sachverhalte, die im Widerspruch zum offiziellen (Selbst-)Bild der US-Außenpolitik stehen, in den Akten kaum zu finden sind. Die Berichte über die von Wikileaks zur Verfügung gestellten Akten dokumentieren also weniger Fakten aus der internationalen Politik als vielmehr den Weltzugang und die Weltsicht der DiplomatInnen im Dienste der „letzten Weltmacht“.
Diese inhaltliche Tendenz der öffentlichen Darstellung wird dadurch bestärkt, dass die veröffentlichenden Medien die Auswahl der Botschaftstelegramme kontrollieren. Der Fokus ihrer Berichterstattung liegt bisher ganz deutlich auf den „Schurkenstaaten“ und Vorgängen, die von der US-Außenpolitik als negativ eingestuft werden. Oftmals finden sich dabei unsichere Informationen, die den DiplomatInnen von GesprächspartnerInnen aus der lokalen Politik zugetragen wurden und vermutlich genau wegen ihrer Fragilität bisher nicht den Weg in die Öffentlichkeit fanden. Durch die oftmals unkritische Wiedergabe durch die so genannten Qualitätsmedien werden sie nun teilweise als Fakten geadelt.
Interessant werden die Berichte in den Fällen, in denen Interessenskonflikte zwischen den Heimatländern der Redaktionen – Deutschland, England, Frankreich und Spanien – und den USA auftreten. Wo die Redakteure die Souveränität ihrer eigenen Länder verletzt sehen, gehen nationale Interessen vor atlantische Verbindlichkeiten und motivieren eine teilweise kritische Auswertung der Botschaftsakten.
Am deutlichsten lässt sich dieser Effekt bisher an der Veröffentlichungspraxis in Spanien nachvollziehen. El País hat bisher Akten zu 40 Themenkomplexen ausgewertet und dazu teilweise die Original-Depeschen veröffentlicht. Bei Themen wie der unpopulären Stationierung spanischer Truppen in Afghanistan und im Irak sowie bei Botschaftsberichten über den rechten Ex-Präsidenten José María Aznar und dessen konservative Volkspartei (PP) dominiert bereits eine deutlich US-kritische Berichterstattung. Offen skandalisierend beschreiben die spanischen JournalistInnen die Einmischung amerikanischer Diplomaten in ein Gerichtsverfahren wegen der Ermordung eines galizischen Kameramanns durch US-Soldaten im Irak. Ebenso skandalisiert El País die Kampagne der USA gegen den Richter Baltasar Garzón und die universelle Gerichtsbarkeit, in deren Zusammenhang unter anderem Verfahren gegen US-Offizielle wegen Guantanamo angestrengt wurden. Selbst die Vertuschung der CIA-Entführungsflüge über Mallorca durch die sozialdemokratische Regierung von José Luis Rodríguez Zapatero, der El País und ihr Mutterunternehmen, die Prisa-Gruppe, eher nahe steht, deckt die Zeitung anhand der von Wikileaks bereitgestellten Akten auf.
Die Verletzung nationaler Souveränität und die Einmischung in innere Angelegenheiten durch die USA thematisiert El País/Prisa allerdings nicht bei der Berichterstattung über Länder, in denen Spanien und sein größter Medienkonzern gemeinsame Interessen mit den USA verfolgen. Hier spiegeln sich die gemeinsamen Interessen der „westlichen Welt“ deutlich in der Linie der außenpolitischen Berichterstattung. Dies betrifft exemplarisch die Auswahl des Datenmaterials zu Lateinamerika. Da kein anderes der beteiligten Medienunternehmen sich bisher Lateinamerika zugewendet hat – außenpolitisch gilt diese Region innerhalb der EU als Spielwiese der ehemaligen Kolonialmacht –, durchliefen alle diesbezüglichen Berichte den Filter der El País-Redaktion.
Vom gesamten Subkontinent sind etwa 30.000 Meldungen aus den US-Botschaften im Wikileaks-Material enthalten. Journalistisch verwertet wurden davon in der ersten Woche etwa 30 Depeschen, also 0,01 Prozent. Von den engsten Verbündeten Kolumbien, Peru und Costa Rica liegen zusammen zwar mehr als 4.000 Meldungen in den Redaktionen, aber kein Journalist hat diesen Stoff bisher öffentlich aufbereitet. Unter wikileaks.de findet sich bisher aus Lima nur die Kopfzeile eines ansonsten zensierten Berichts über die Vorbereitung des Besuchs des israelischen Außenministers, des ultrarechten Avigdor Lieberman, in dem es laut Header um „regionale Spannungen, Iran, gemeinsame Bedrohungen“ geht. Aus Bogotá liegt ein einziger kurzer Bericht über gefälschte kolumbianische Ausweispapiere vor, die von „Libanesen, aber auch Syrern, Palästinensern, Jordaniern, Venezolanern und Kubanern“ genutzt würden. Angesichts der Tatsache, dass die Regierungen in diesen drei Ländern die wichtigsten Kooperationspartner der US-Außenpolitik in der Region sind und zahlreiche gemeinsame wirtschaftliche, militärische und politische Projekte bestehen, kann die Nicht-Berichterstattung durch El País als Schutz gemeinsamer Interessen interpretiert werden.
Stattdessen beschäftigen sich die ersten Berichte mit den Regierungen, denen die USA und die EU ausdrücklich kritisch gegenüber stehen. Alleine aus Caracas liegen 16 von 2.340 Meldungen vor. Zur Besprechung ausgewählt haben die Journalisten von El País verschiedene Berichte über den Einfluss der Kubaner in Venezuela, Depeschen über Kooperationen mit der iranischen Regierung sowie die Beschwerde eines Vertreters der jüdischen Gemeinde über den angeblich angestiegenen Antisemitismus unter der Chávez-Regierung. Diese journalistische Selektion legt es in schon fast karikaturhafter Art und Weise auf die Bestätigung bekannter Propagandamotive an.
Ein weiterer Bericht über die venezolanische Regierung ist ein lesenswertes Protokoll über ein Gespräch mit der früheren Geliebten von Präsident Hugo Chávez, in dem diese private Einschätzungen über dessen Persönlichkeit mitteilt. An Eigenaktivitäten der US-Botschaft dokumentiert eine Depesche allgemeine Maßnahmen zur Spionageabwehr und eine geplante Image-Kampagne durch die Botschaft in Venezuela, um „Anti-US Einfluss und Aktivitäten“ zu beantworten, wobei die Botschaft die venezolanischen Angriffe auf die US-Politik als „gut fundiert“ einschätzt. Während die inhaltliche Ausrichtung genau umrissen ist – vor allem soll an kulturelle und historische Gemeinsamkeiten angeknüpft werden – sind die venezolanischen Kooperationspartner für die Kampagne nur allgemein mit „Kräfte der Zivilgesellschaft, Medienunternehmen“ angegeben. Auch der letzte Absatz bietet Platz für Spekulationen: „Die Botschaft erbittet vom Verteidigungsministerium Unterstützung bei der Umsetzung dieses strategischen Kommunikationsplans.“
Ähnlich wie der kubanische Einfluss in Venezuela, steht der venezolanische Einfluss auf die Regierung von Evo Morales im Mittelpunkt der Berichterstattung über die Depeschen aus La Paz. In einem Bericht, den El País zitiert, untersucht die US-Botschaft mögliche Spaltungstendenzen im bolivianischen Militär. In mehreren Berichten analysiert die Botschaft das Umfeld des Präsidenten und hebt auch hier die Bedeutung von kubanischen und venezolanischen Beratern hervor. Weitere Berichte auf Wikileaks haben die Drogenpolitik der Morales-Regierung zum Gegenstand. Auch der Konflikt um die US-amerikanische Anti-Drogen-Behörde DEA, der die bolivianische Regierung wegen Spionage-Vorwürfen die Zusammenarbeit aufkündigte, ist ansatzweise dokumentiert. Interessant ist weiterhin ein einzelner Bericht, in dem die Botschaft die bolivianische Medienlandschaft untersucht und sich besorgt darüber äußert, dass die Regierung mit venezolanischer Unterstützung den staatlichen Fernsehsender modernisiert. „Mit venezolanischem Geld hat sich ein technisch stärkeres, populistisches, regierungsnahes Medien-Netzwerk in den wichtigsten Städten Boliviens etabliert, genannt Radio y Television Popular.“
Den härtesten Angriff mithilfe der Depeschenauswahl erlebte bisher die FSLN-Regierung in Nicaragua. Aus einem umfangreichen Bericht des Botschafters vom Mai 2006, der mögliche Argumente für eine Schmutzkampagne gegen die FSLN im Präsidentschaftswahlkampf auflistet, wählte El País die Punkte 30 bis 34, in denen nicaraguanische Presseberichte die Sandinisten in zwei Fällen beschuldigen, Schutzgelder vom Drogenhandel zu kassieren und ihre Wahlkampagne aus Drogengeldern zu finanzieren. Der Botschafter verallgemeinert die ohnehin unbestätigten Berichte zu einer Ortega-Narcotráfico-Story. Einer der Angeschuldigten, der Ex-Kommandant Tomás Borge verwies El País auf den Charakter des Materials: „Das sind Informationen, die Botschafter herausgeben, um Personal zu rekrutieren, das genau diese Art von Informationen sammelt.“ Dieser Bericht sei darauf ausgelegt, die FSLN zu schädigen. Dass dies den JournalistInnen nicht selber aufgefallen sein kann, ist angesichts der Deutlichkeit des Botschaftsberichtes allerdings kaum vorzustellen.
Was die Botschaften der links regierten Staaten angeht, stammt die politisch brisanteste Depesche aus Tegucigalpa. Mithilfe eines Putsches, der vorgab, die verfassungsmäßige Ordnung zu schützen, wurde Honduras im Juni 2009 aus dem fortschrittlichen Staatenverbund gelöst. Einen Monat später schickte Botschafter Hugo Llorens eine Bewertung der Vorgänge an das Außenministerium. Der Botschafter teilte Washington mit, dass es „keinen Zweifel mehr daran (gibt), dass die Amtsübernahme durch Roberto Micheletti illegitim war.“ Hugo Llorens bezeichnete die Vorgänge als einen Putsch und widerlegt die scheindemokratischen Vorwürfe der Putschisten gegen Präsident Manuel Zelaya. Brisant ist diese Einschätzung deshalb, weil das US-Außenministerium genau diese Verurteilung als Putsch vermied und stattdessen im Sommer 2009 auf eine Anerkennung der De-Facto-Regierung drängte – ein skandalöser Widerspruch, der bisher weder El País noch einem anderen der beteiligten Medienunternehmen erwähnenswert schien.
Obwohl die bisherige öffentliche Verwertung der Wikileaks-Akten durch El País eher unvorteilhaft für die Staaten der Bolivarianischen Allianz für die Amerikas (ALBA) ausfällt, wurde das Online-Projekt selber von Bolivien, Ecuador und Venezuela deutlich unterstützt. Wenige Tage nach dem Beginn der Veröffentlichung bot der stellvertretende Außenminister Ecuadors, Kintto Lucas, dem Gründer der Internetplattform, Julian Assange, Zuflucht an. „Wir sind bereit, ihn in Ecuador aufzunehmen, ohne Probleme und ohne jedwede Konditionen.“ In Ecuador habe Assange nicht nur die Möglichkeit, seine Informationen frei über das Internet zu verbreiten, er könne auch andere öffentliche Informationskanäle nutzen. Zwar relativierte Präsident Rafael Correa dies am folgenden Tag und betonte, Ecuador werde sich an internationale Gesetze halten, aber Außenminister Ricardo Patiño schloss eine Aufnahme des Wikileaks-Sprechers weiterhin nicht aus. Ein solcher Schritt müsse zunächst juristisch geprüft werden, sagte Ecuadors Außenminister. Aus Ecuador enthält das Material fast 1.500 Depeschen, von denen bisher keine einzige öffentlich ist.
In Bolivien begann das Außenministerium auf einer offiziellen Webseite alle Depeschen zu spiegeln, die Bolivien betreffen. Die Maßnahme solle dazu beitragen, den Zugang zu Informationen zu demokratisieren. Auf http://wikileaks.vicepresidencia.gob.bo sind diese Nachrichten teilweise auf Spanisch übersetzt.
Venezuelas Präsident Hugo Chávez nutzte die Veröffentlichung, um den Rücktritt von US-Außenministerin Hillary Clinton zu fordern. „Das Imperium ist nackt“, stellte Chávez fest und kritisierte die Außenministerin dafür, dass sie Wikileaks angreift. „Dieses Gestrüpp aus Spionen und Verbrechern im State Departement sollte der Welt eine Erklärung für die Vorgänge geben, anstatt weiter zu behaupten, es habe einen Diebstahl gegeben.“
Ob die Kritiker der US-Außenpolitik allerdings einen konkreten Nutzen aus den Wikileaks-Akten ziehen können, wird vor allem davon abhängen, wie die Veröffentlichung sich weiter entwickelt. Solange El País/Prisa die Veröffentlichung kontrollieren, wird sich die Agenda weiter negativ für die linken Regierungen in Lateinamerika entwickeln.

Weitere Informationen zu den Inhalten der von Wikileaks veröffentlichten Depeschen gibt es im Dossier von amerika21 unter:
http://amerika21.de/dossier/wikileaks.

„Eine Alternative zur Entwicklung“

Wie ist die Rücknahme der Zusagen zu Yasuní-ITT von Seiten Dirk Niebels einzuordnen?
Seit der öffentlichen Vorstellung der Initiative im Jahr 2008 erhielt sie viel Unterstützung – aber auch Widerspruch, gerade innerhalb der Regierung. Insbesondere Correa selbst zweifelt immer wieder. Der deutsche Bundestag hat indes sehr wohl und zwar mit Zustimmung aller Fraktionen seine Unterstützung eindeutig beschlossen, es wurde sogar eine Studie der GTZ zur Initiative finanziert. Die – definitiv zugesagte! – Unterstützung Deutschlands war sehr wichtig für die Unterstützer der Initiative.

Sehen Sie eine Chance, dass sich an der Haltung der Bundesregierung noch etwas ändert?
Ich bin ein optimistischer Mensch. Deshalb glaube ich, dass man einen Kampf nicht verloren geben sollte, bevor er zu Ende ist. Vielleicht können wir sie im nächsten Jahr dazu bewegen, die ITT-Initiative zu unterstützen.

Und was ist mit weiteren Geldgebern?
Es gibt natürlich andere Geldgeber, zum Beispiel sind ja die Verhandlungen mit Spanien erfolgreich gewesen. Weiter vorangeschritten sind auch die Verhandlungen mit Italien. Chile hat bereits Geld eingezahlt und wird seinen Beitrag noch erhöhen. Auch Peru hat Mittel angeboten und will die Initiative sogar auf eigene Gebiete ausweiten. Und es gibt weitere Geldgeber, zum Beispiel einige Staaten der OPEC. Verhandlungen gab es wohl auch mit den USA. Aber ich bin ja nicht mehr in der Regierung, also kenne ich nicht den letzten Stand.

Wie ist Ihr Kontakt zur Regierung?
Ich habe selbstverständlich immer noch Kontakt zu Regierungsmitgliedern. Viele sind meine Freunde, oft seit Jahrzehnten. Nicht gesprochen und auch nie wieder getroffen habe ich Präsident Correa.

… der die Politik der Regierung zuweilen ziemlich deutlich bestimmt.
Correa ist Ecuadors Präsident. Vor allem aber erleben wir ein personalisiertes Regierungsprojekt mit ihm als zentraler Figur: Diese Rolle geht schon auf die Zeit zurück, als wir die Kandidatur vorbereiteten. Wir hatten keine Partei oder Organisation. Damals trafen wir uns im Esszimmer meines Hauses: Dort gibt es einen Tisch mit sechs Stühlen – wir brauchten am Anfang nicht alle. Und erst nach seinen 104 Tagen als Finanzminister unter der Vorgängerregierung war Correa ein im ganzen Land bekannter Politiker. Beides zusammen erklärt, weshalb einige Dinge so verliefen: Wir mussten Correa als Identifikationsfigur aufbauen, um mit ihm die Wahlen zu gewinnen, und wir mussten eine Regierung um den neuen Präsidenten organisieren. Seit den Auseinandersetzungen um eine neue Verfassung hat sich die Regierung konsolidiert, nicht aber die politische Bewegung. Alles bewegt sich um Präsident Correa. Das ist eine der Schwächen.

Ist es ein Resultat dieser Schwäche, dass es immer wieder Auseinandersetzungen zwischen Regierung und sozialen Bewegungen gibt?
Unser Programm war nie eine persönliche Agenda. Wir griffen die zuvor von sozialen Bewegungen formulierten Alternativkonzepte auf und erarbeiteten daraus ein Regierungsprogramm. In der Verfassunggebenden Versammlung waren die Forderungen der Indigenen – wie der plurinationale Staat, kollektive Rechte, das Buen Vivir und die Rechte der Natur – maßgeblich vertreten. Die sozialen Bewegungen standen dann auch hinter der neuen Verfassung. Die Spannungen begannen, als es darum ging, die neue Verfassung anzuwenden und konkrete politische Projekte umzusetzen. Es gab dann Momente, in denen die Regierung Correa versuchte, den indigenen Dachverband CONAIE zu spalten. Ein großer Fehler!
Präsident Correa und seine Regierung sind oft nicht in der Lage, Räume für die Beteiligung breiter Teile der Gesellschaft zu schaffen. Nicht als Teil der Regierung, sondern als Teil des politischen Willensbildungsprozesses, in Debatte und Streit. Wir wollen dieses Land gemeinsam konstruieren, also: Lasst es uns auch gemeinsam machen!

Die Verfassung von Montecristi war das große gemeinsame Projekt von sozialen Bewegungen und Regierung. Welche Rolle spielt die neue Verfassung in der politischen Praxis?
Die Verfassung enthält einige sehr innovative Elemente. Sie dient als Referenzpunkt für das, was die Regierung tun muss und wie die Gesellschaft zu organisieren ist. In der politischen Praxis resultieren daraus aber Widersprüche, einige davon finde ich verständlich. Es ist nicht einfach, eine Verfassung über Nacht Realität werden zu lassen – erst recht bei einer wirklich neuen Verfassung, einer mit so revolutionären Punkten. Deshalb gibt es Widersprüche, tiefgreifende Widersprüche.

Trotzdem wecken einige dieser revolutionären Instrumente Hoffnungen, wie das Buen Vivir. Was ist der Hintergrund dieses Konzepts?
Auf der einen Seite steht der lange Prozess des Widerstands gegen den Neoliberalismus. Ecuador wurde – wie der Rest der Region und viele Länder in der ganzen Welt – gezwungen, einer neoliberalen Agenda zu folgen. Die Folge waren soziale und ökonomische Zersetzungsprozesse. Auf der anderen Seite waren die früheren Alternativen in der Praxis am Ende: Spätestens der Mauerfall zerstörte den Glauben an den real existierenden Sozialismus. Auch deshalb begann die Suche nach neuen Alternativen.
In Ecuador führte diese Suche in die indigene Welt und zum Konzept des sumak kawsay, also des Buen Vivir. Die indigenen Weltanschauungen enthalten eine Reihe von sozialen und kulturellen Konzepten mit langer Tradition, die in unseren Gesellschaften immer noch präsent waren. Daran anknüpfend studierten wir – wie es übrigens im gesamten andin-amazonischen Kontext passierte – bereits in den 1990er Jahre gemeinsam mit indigenen Gemeinden die Chancen des Konzepts des Buen Vivir. Dabei wurde es zusammengeführt mit Elementen der okzidentalen Kultur: Zum „Guten Leben“ bei Aristoteles gibt es Anknüpfungspunkte oder auch zu Elementen des Konzepts von Entwicklung nach menschlichem Maß, insbesondere bei Manfred Max-Neef und Antonio Elizalde. Und die menschliche Entwicklung bei Amartya Sen hat unsere Debatten ebenfalls bereichert. Das Buen Vivir ist kein ausschließlich indigenes Konzept und ebenso wenig nur für „die Indigenen“: Es ist ein Alternativkonzept, das von den Marginalisierten der Geschichte formuliert wurde und mit globalen Debatten verbunden ist.

Was folgt daraus?
Das Buen Vivir ist eine Lebensauffassung und eine Möglichkeit der Organisation der Gesellschaft, befindet sich aber im Konstruktionsprozess. Dieser findet konkret in Bolivien und Ecuador statt, wird aber weltweit wahrgenommen, zum Beispiel in der Postdevelopment-Diskussion. Das Buen Vivir ist ja kein alternatives Konzept der Entwicklung, sondern eine Alternative zur Entwicklung. In Bezug auf die globalen Debatten um die Green Economy geht das Buen Vivir in eine gegenteilige Richtung: Es schließt eine weitere Vermarktwirtschaftlichung der Beziehung Mensch-Natur aus. Das ist also auch etwas, was die ecuadorianische Verfassung eigentlich einfordert.

Diese Verfassung war am 30.9.2010 in Gefahr. Wie sind die Ereignisse dieses Tages einzuordnen?
Der 30.9. war ohne jeden Zweifel ein Schlag gegen die Demokratie, ein Schlag gegen den Staat. Einige Fakten sind ziemlich eindeutig: Der Protest von Militär- und Polizeiangehörigen war das Ergebnis einer Verschwörung, der es immerhin gelungen ist, den ecuadorianischen Staat lahm zu legen. Deshalb rede ich von einem golpe al estado. Der Präsident wurde als Geisel festgehalten, misshandelt, geschlagen und gegen Ende des Tages versuchten sie, ihn zu ermorden. Das ist wirklich barbarisch. Die Geschehnisse dieses Tages waren das gewalttätigste politische Ereignis der letzten Jahrzehnte in Ecuador.

Und welche politischen Konsequenzen hat das?
Weitreichende. Es ist klar, dass es eine Regierungskrise gab und dass die demokratischen Institutionen instabil sind. Auch, dass Polizei und Militär anscheinend immer noch im Stande sind, die Verfassung zu verletzen. Die Wiedereinsetzung des Militärs als „Garant der Demokratie“ kommt hinzu – etwas, dass der Verfassung klar widerspricht. Gleichzeitig ist die Regierung politisch schwach: Sie hat die große Fähigkeit, Wahlen zu gewinnen – nicht aber zu politischer Aktion. Am 30.9. hat es keine, und ich meine damit, nicht eine große Demonstration gegeben. Und die Regierung hat mehr als einen Monat danach immer noch keine politische Antwort!
Der 30.9. war vor allem auch ein Schlag gegen die Linke. Die ecuadorianische Linke ist gespalten und uneinig, mehr als je zuvor seit dem Amtsantritt Correas. Ohne zu merken, was sie damit riskierten, beteiligten sich Teile der Linken am Polizeiaufstand. Diesen Gruppen war aber nicht klar, dass sie die neue Verfassung, das mit ihr Erreichte sowie das gesamte politische Projekt der Linken in Gefahr gebracht haben. Jetzt ist die Rechte gestärkt, auch wenn sie nicht unmittelbar Wahlen gewinnen könnte. Akteure der Rechten haben hier und da den Aufstand unterstützt – und sollten sie eine zentralere Rolle gehabt haben, dann kann ihnen das zumindest derzeit niemand nachweisen. Sie haben sich am Rand gehalten, abgewartet. Das ist sehr beunruhigend und wirkt wie ein Testlauf.

Was heißt das für die Regierung?
Die Regierung Correa muss darüber reflektieren, wo es Fortschritte, aber auch, wo es Irrtümer, ja sogar Rückschritte gegeben hat.
Erstens gibt es in Bolivien, Ecuador und Venezuela keinen neuen Weg des Wirtschaftens, keinen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, sondern einen Extraktivismus des 21. Jahrhunderts. Und die exzessive Konzentration des Reichtums wurde in Ecuador nicht beendet, die Armutsrate ist nicht gesunken.
Zweitens ist besorgniserregend, dass es wenig Raum für Partizipations- und Diskussionsprozesse gibt. Vor vier bis fünf Jahren haben wir zusammen mit Correa unser Projekt als Bürgerrevolution umschrieben: Den Staat als einen Staat seiner BürgerInnen zurückzugewinnen. Aber es gibt in dieser Bürgerrevolution einen Mangel an Bürgerschaft, es gibt diesen Raum der Beteiligung nicht. Das ist sehr beunruhigend. Wir haben den personalisierten Charakter der Regierung bereits diskutiert und das ist nicht einfach die Schuld Correas. Aber es sollte anders sein.

Sie bezeichneten sich vorhin als optimistischen Menschen. Was sagt der Optimist? Und: Was wird heute bei ihnen zuhause am Esstisch diskutiert?
An diesen Tisch kommen natürlich Freunde, auch von damals, aber wir haben kein solches politisches Projekt mehr.
Als Optimist würde ich sagen, dass diese Regierung immer noch viel Potential hat. Correa ist sehr beliebt – das ist aber bei weitem nicht genug. Correa muss jetzt die Tür für einen großen Dialog mit den sozialen Bewegungen öffnen. Nicht, um sie direkt an der Regierung zu beteiligen, das ist nicht der Weg. Sondern um Diskussionen zu führen, mit dem Ziel, gemeinsame Vorstellungen für die Zukunft dieses Landes zu entwickeln.

Auf die Spitze getrieben

Am 30. September erschien in guatemaltekischen Tageszeitungen eine Anzeige: „Montana hat die in der Umweltverträglichkeitsprüfung festgelegten Vereinbarungen und die Regelung zur Entsorgung und Wiederverwertung von Abwässern eingehalten. Die Entsorgung wurde auf transparente Art durchgeführt und von den öffentlichen Regulierungsbehörden beaufsichtigt und überwacht.” Bezahlt wurde die Anzeige von Montana Exploradora, Tochterfirma des kanadischen Bergbauriesen Goldcorp Inc. und Betreiberin der Goldmine Marlin im Departamento San Marcos im westlichen Hochland Guatemalas.
Die Veröffentlichung ist beispielhaft für die Versuche Montanas, der Mine Marlin ein sauberes Image zu verschaffen und die öffentliche Aufmerksamkeit von umweltpolitischen Problemen um die Mine abzulenken. Grund dazu hat die Firma allemal: Eine Woche vor Erscheinen der Zeitungsanzeige hatte Montana in einer nächtlichen Aktion gestautes Abwasser in den Fluss Cuilco abgelassen. In der Anzeige erklärt das Unternehmen, es handele sich hauptsächlich um ungefährliches Regenwasser, das sich über den Winter angesammelt habe. Die unangekündigte Entsorgung sei nötig gewesen, da es andernfalls wegen der großen Menge Stauwasser zu Schäden am Damm hätte kommen können. In Anbetracht des monatelang andauernden Regens in Guatemala stellt sich die Frage, wie es möglich ist, dass Montana die nötige Entsorgung des Stauwassers nicht langfristig geplant und frühzeitig hat genehmigen – und beaufsichtigen lassen. ExpertInnen betonen, dass es im offenen Goldtagebau, bei dem das Gold wie in der Mine Marlin durch Auslaugung mit hoch giftigem Natriumzyanid aus dem Gestein gelöst wird, häufig zu Unfällen kommt. Es besteht ein permanentes Risiko für Umwelt und Gesundheit. In der Europäischen Union, Costa Rica, Ecuador, Argentinien, Australien und einigen Bundesstaaten der USA ist der Tagebau zum Abbau von Gold sogar verboten. Eine unsachgemäße Entsorgung der Abwässer in die örtlichen Flüsse scheint also nicht so ungefährlich, wie Montana Glauben machen möchte. Das guatemaltekische Umweltministerium jedenfalls erstattete am 28. September Strafanzeige gegen Montana wegen des Verstoßes gegen die Umweltverträglichkeitsprüfung. Im Nachhinein, so das Ministerium in der Strafanzeige, könne man aber nicht mehr feststellen, ob das Abwasser ordnungsgemäß entsorgt wurde.
Dennoch ist die Regierung vorsichtig mit Anschuldigungen gegen die Betreiberfirma. Schließlich ist Marlin mit 2,4 Millionen Unzen Gold und 40 Millionen Unzen Silber die größte Goldmine Zentralamerikas, und die Gewinnerwartungen liegen deutlich über zwei Milliarden US-Dollar. Eine jüngst vom guatemaltekischen Forschungsinstitut ASIES veröffentlichte Studie zeigt allerdings: Über 86 Prozent des Gewinns werden zu Goldcorp Inc. nach Kanada transferiert.
Marlin ist das erste große Bergbauprojekt in Guatemala seit Ende des internen bewaffneten Konflikts (1960-1996). Wegen der politischen Instabilität hatten beinahe sämtliche internationalen Konzerne spätestens Anfang der 80er Jahre das Land verlassen. So ist der Bergbau in Guatemala heute – einzigartig in Lateinamerika – noch kaum erschlossen, obwohl gerade im weniger fruchtbaren Hochland, wo noch heute ein Großteil der indigenen Bevölkerung lebt, viele wertvolle Mineralien zu finden sind. 1996 unterzeichneten Guerilla und Regierung die Friedensverträge. Kurz vor der Unterzeichnung wurde die erste Lizenz an ein Bergbauunternehmen vergeben – in San Miguel Ixtahuacán und Sipacapa im Departamento San Marcos, wo heute die Goldmine Marlin liegt. 1997 folgte mit der Welle neoliberaler Reformen die Erneuerung des Bergbaugesetzes. Sie sollte internationalen Firmen Anreize schaffen, in Guatemala in den Bergbau zu investieren. Zentraler Bestandteil war dabei die Senkung der Gewinnabgaben der Firmen an den Staat von sechs auf ein Prozent. Auch wurden die allgemeinen Steuern für die Unternehmen gesenkt und das Recht eingeräumt, kostenlos und unbegrenzt Wasser für ihre Abbauaktivitäten zu verwenden. Das neue Gesetz zeigte Wirkung: Für über die Hälfte des guatemaltekischen Territoriums sind mittlerweile Lizenzen an ausländische Unternehmen vergeben worden.
Der kanadischen Goldcorp gehören Marlin und Montana seit 2006. 1999 beauftragte Montana die Firma Peridot S.A. das Land aufzukaufen, auf dem in der Mine Marlin seit 2005 Gold abgebaut wird. Dabei kamen die Käufe unter mehr als zweifelhaften Umständen zustande. Das Land werde für Orchideenzüchtungen genutzt, verbreiteten die Firmen vor dem Beginn der Verhandlungen. Entsprechend der 1996 von Guatemala ratifizierten Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) hätten die betroffenen indigenen Gemeinden vor Vergabe der staatlichen Lizenz informiert und befragt werden müssen. Unter den Befragungen versteht die ILO einen gegenseitigen Informations- und Dialogprozess zwischen Regierung und Gemeinden. Eine solche Befragung fand nie statt. Ironischerweise vergab die Weltbank 2004 einen Förderkredit in Maximalhöhe an Montana und begründete dies neben der „bedeutenden Rückendeckung der lokalen indigenen Kommunen“ damit, dass die „lokale Bevölkerung in ausreichendem Maße konsultiert wurde“. Ein Jahr später revidierte die Weltbank diese Behauptungen. Den Kredit erhielt Montana dennoch.
In San Miguel Ixtahuacán manipulierten Montana und Peridot den Landkauf auf noch dreistere Weise. Der Landtitel von San Miguel Ixtahuacán ist kollektiv auf den Namen des Landkreises festgeschrieben. Die EinwohnerInnen sind nicht EingentümerIn ihrer Parzellen, sondern besitzen lediglich die Nutzungsrechte. Montana und Peridot konnten den einzelnen BewohnerInnen ihr Land also gar nicht abkaufen: Statt dessen hätte der gesamte Landkreis über die Zerteilung des kollektiven Landtitels abstimmen müssen. Bei diesem Vorgehen wäre die Bevölkerung über die geplante Mine informiert worden und hätte Einspruch erheben können. Peridot und Montana taten bei der Registrierung ihres Landbesitzes also, als existierten für San Miguel Ixtahuacán bisher keine Landtitel. Dies ist offensichtlich illegal und wäre ohne die Mitarbeit der Behörden sicher unmöglich gewesen.
Am 27. Juli 2010 zogen daher über 5.000 Personen aus San Marcos nach Guatemala-Stadt, um Jorge Asencio Aguirre und Erick Álvarez Mancilla anzuzeigen, beide juristische Vertreter der Firmen zur Zeit der Landkäufe. Erick Álvarez Mancilla ist heute Präsident des Obersten Gerichtshofs, derselben Instanz, bei der die Klage eingereicht wurde. Er ist nicht das einzige Beispiel für die engen Banden des guatemaltekischen Staates mit dem Privatsektor. Allein im Fall von Montana Exploradora tauchen einige bekannte Namen auf: Der heutige Exekutivdirektor der Mine Marlin, Mario Marroquín, war zuvor Direktor einer Regierungsagentur, die ausländischen Unternehmen Rechtsbeistand und Unterstützung für ihre Investitionen leistete. Der derzeitige Geschäftsführer von Montana, Milton Saravia, war von 2004 bis 2007 Vizeminister für Energie und Bergbau. Heute ist er Präsident des Gremiums für Bergbau, Steinbrüche und Verarbeitungsindustrie (GREMICAP). Der amtierende Bürgermeister von Guatemala-Stadt, Álvaro Arzú, hat ebenfalls enge Beziehungen zu Montana: Unter Arzús Präsidenschaft (1996-2000) wurde 1996 die erste Bodenlizenz an Montana vergeben.
Seit 2004, also schon vor Beginn des tatsächlichen Abbaus, hat sich der Protest gegen die Goldmine in San Marcos organisiert. Nicht nur wurden die Gemeinden völlig ignoriert, es sind auch katastrophale Folgen für die Umwelt und den Gesundheitszustand der Bevölkerung zu befürchten, so die zur Diözese San Marcos gehörige NGO Pastoral Commission Peace and Ecology (COPAE) in einer Studie zur Trinkwasserqualität. Die Universität von Michigan fand in einer Erhebung heraus, dass in Blut- und Urinproben bei EinwohnerInnen der Umgebung toxische Metalle gefunden wurden. In den nächsten Jahren sollen 38 Millionen Tonnen Gestein bewegt und 250.000 Liter Wasser stündlich verbraucht werden.
Doch viele Gemeinden in Miguel Ixtahuacán und San Marcos sind uneins, ob sie die Mine willkommen heißen oder bekämpfen sollen: Aus fast jeder Familie haben Einige in der Mine Arbeit gefunden. Auch indigene AktivistInnen beklagen zunehmend Konflikte in den eigenen Familien. Sie werfen Montana immer wieder vor, die Abhängigkeit der ArbeiterInnen auszunutzen, um sie unter Druck zu setzen: wenn sie nichts unternähmen, die Proteste zu stoppen, werde es in der Mine bald keine Arbeit mehr geben. Die ArbeiterInnen versuchen also, die Protestierenden zur Aufgabe ihrer Forderungen zu bewegen. Die Konflikte in den Gemeinden werden damit nur angeheizt. Menschenrechtsorganisationen dokumentieren seit Jahren Morddrohungen gegen GegnerInnen der Mine und die zunehmende Kriminalisierung des Protests: In den letzten Jahren wurde eine ganze Reihe Haftbefehle ausgestellt. Anfang Juli überlebte Diodora Hernández Cinto, Mitglied der Protestbewegung, einen Mordanschlag nur knapp.
Dennoch trägt der Protest international Früchte: Internationale Organisationen und BeobachterInnen haben wegen der sozialen, ökologischen und menschenrechtlichen Situation immer wieder die Schließung der Mine gefordert. Im Februar 2010 stellte eine von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) entsandte ExpertInnenkommission fest, dass von der Regierung bisher keine einzige Befragung einer indigenen Gemeinde durchgeführt wurde. Die Befragungen seien im nationalen Recht kaum verankert. Daher forderte die Kommission, die Aktivität in der Marlin-Mine müsse sofort ausgesetzt werden, bis die betroffenen indigenen Gemeinden angemessen konsultiert worden seien. Die Ratifizierung der Konvention 169 der ILO verpflichte zum Nachholen versäumter Befragungen. Bei selbstorganisierten Befragungen innerhalb der Gemeinden im ganzen Land wurde der Bergbau von der großen Mehrheit abgelehnt. So auch in Sipacapa am Standort der Marlin-Mine, wo über 98 Prozent der Befragten gegen den Bergbau auf ihrem Gemeindeland stimmten. Inzwischen ist sogar die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) auf den Fall Marlin aufmerksam geworden: Die Vorsichtsmaßnahmen, die sie verordnet hat, sind einzigartig in ihrer Geschichte. 2007 hatten 18 Gemeinden aus San Marcos wegen der von der Betreiberfirma der Marlin-Mine verursachten Menschenrechtsverletzungen bei der CIDH Beschwerde eingereicht. Am 20. Mai 2010 reagierte die CIDH und forderte die sofortige Schließung der Mine Marlin auf unbestimmte Zeit – bis ein endgültiges Urteil über das Gesuch der Gemeinden gefällt ist. Außerdem forderte sie von der guatemaltekischen Regierung, die Wasserquellen zu reinigen, den Zugang zu geeignetem Trinkwasser für alle 18 betroffenen Gemeinden sicherzustellen und ein Gesundheitsprogramm für die Opfer von verseuchtem Wasser zu initiieren. Die Regierung solle Leben und körperliche Unversehrtheit der EinwohnerInnen garantieren. Zusätzlich verlangte die CIDH innerhalb von 20 Tagen umfassende Informationen. Die Regierung soll Dokumente vorlegen über die Schäden an Häusern, die durch die Sprengungen in der Mine verursacht werden, über die Übergriffe auf und Haftbefehle und Gerichtsprozesse gegen GegnerInnen der Goldmine.
Zunächst schien es der Regierung völlig an Umsetzungswillen zu mangeln. Am 24. Juni 2010 kam die überraschende Wende: Die Regierung ließ verlauten, sie werde die Mine schließen und habe den entsprechenden Verwaltungsprozess bereits in Gang gesetzt. Der zieht sich allerdings seit Monaten hin. Die übrigen Forderungen wischte sie jedoch mit der Haltung beiseite, dass keine besonderen Maßnahmen nötig seien: Es gebe weder verseuchtes Wasser, noch Krankheiten oder Bedarf zum Schutz von Personen. Der Sprecher der kanadischen Goldcorp erwartet, „dass wir normal arbeiten können, es gibt keinen Grund die Mine zu schließen“. Mit „wissenschaftlichen“ Studien versucht die Regierung nun nachzuweisen, dass die Vorsichtsmaßnahmen überflüssig seien.
Am 14. September räumte die CIDH der guatemaltekischen Regierung ein Ultimatum von zwei Monaten ein, ihr Informationen über die Situation in den 18 Gemeinden zugänglich zu machen. Von der Bewertung des Regierungsberichts wird einiges abhängen: Carlos Loaraca, der die Gemeinden als Anwalt vor der CIDH vertritt, weist darauf hin, dass das eigentliche Urteil der CIDH noch aussteht. Sollte die Kommission keinen ausreichenden Willen der Regierung erkennen, wird ein Prozess gegen den Staat Guatemala vor dem Interamerikanischen Menschengerichtshof immer wahrscheinlicher. Ein solcher Prozess wäre der erste seiner Art und ein Präzedenzfall – richtungweisend für Bergbauprojekte in ganz Lateinamerika.

Mit Beharrlichkeit und Überzeugung

Herr Pinto Salazar, wer nimmt in Bolivien den Klimawandel überhaupt wahr?
Gegenwärtig sind wir es, die Bauern, die den Klimawandel verstärkt wahrnehmen. Früher war die Regenzeit sehr viel länger. Alles war viel grüner. Aber seit ungefähr 15 Jahren bemerken wir, dass immer weniger Regen fällt. Es ist auch heißer geworden. Früher reichte ein starker Regen zusammen circa zwei bis drei Wochen. Heute reicht die Feuchtigkeit nur noch höchstens für eine Woche oder sogar nur drei Tage. Dann sind die Felder wieder trocken.
Mittlerweile schneit es in tieferen Lagen oder es gibt Unwetter, die zu Erdrutschen führen. Manchmal sind wir im Jahr neun bis zehn Monate ohne Regen. Mein Großvater erzählte mir noch, dass es früher alle 20 Jahre Kälteperioden gab, später kamen die dann alle drei bis vier Jahre. Heute und jetzt haben wir jedes Jahr eine Kälteperiode. Das ist ein extremer Wandel, den wir wahrnehmen.
Was sind aus bolivianischer Perspektive die Ursachen für den Klimawandel?
Die Brandrodungen im großen Stil und die Abholzungen im Amazonas stellen ein sehr großes Problem dar. Je weniger Bäume es gibt, umso extremer wird das Klima. Als kleiner Junge habe ich noch gesagt: „Lasst uns den Wald roden, der ist ja so hässlich. Es ist besser, wenn er gerodet und Pampa ist“. Leider scheint es, dass viele Leute auch heute noch so denken. Aber wenn man das Klima versteht, kennt man den Wert des Waldes und jedes einzelnen Baumes.

Was bedeutet das konkret für das Leben der Bauern und Bäuerinnen?
Heute läuft man immer Gefahr, die gesamte Saat zu verlieren, da der Regen so unsicher geworden ist. Wenn der Regen ausbleibt, wenn der Mais blüht, dann verliert der Bauer alles und ist verschuldet. Aussäen, um zu verlieren? Das macht doch keiner. Deshalb wird nicht mehr so viel ausgesät wie früher.

Wie sieht es in den anderen Bereichen der Gesellschaft aus, wie wird dort der Klimawandel wahrgenommen?
Die indigene Bevölkerung, die in abgelegenen Gegenden lebt, wo es wenig Wasser gibt, die bekommt den Klimawandel natürlich mit. Auch die Viehzüchter nehmen ihn wahr. Wenn das Gras trocken ist und es nicht genug Futter für das Vieh gibt, dann roden sie den Wald, um Gras für die Rinder anzubauen. Aber in der Stadt, da lebt man ja bequem, da merkt man den Klimawandel nicht und lebt unbeeindruckt davon. Und auch die Minenarbeiter, zum Beispiel, ich glaube, die haben kein Bewusstsein für den Klimawandel.
Gibt es in der Bevölkerung denn eine Bewegung zum Schutz des Klimas?
Bis heute versteht man den Klimawandel in Bolivien vielerorts als eine Strafe Gottes. Die Kirchen – die katholische ebenso wie die evangelischen – haben diese Mentalität geprägt: „Wir gehen durch diese Zeit der Trockenheit, Hungersnöte und Krieg. Das ist eine Strafe Gottes!“ Wir als Bauernorganisation sagen hingegen: „Nein, das menschliche Handeln ist die Ursache für den Klimawandel.“
Die Kleinbauern selbst betreiben ja in geringem Maße Brandrodung – und leisten so ihren Beitrag zur Umweltverschmutzung. Auch sie haben kein Bewusstsein für die klimatischen Auswirkungen ihres Handelns. Und wenn es dann nicht mehr regnet, dann geben sie ihre Felder auf und gehen in die Stadt.
Flüsse, Grundwasser und Quellen, die Wälder – nichts davon wird so geschützt, wie es die Gesetzte eigentlich vorschreiben. Es fehlt ein Umweltbewusstsein sowie ein soziales Bewusstsein von der Notwendigkeit dieses Schutzes. Diese Bewusstseinsbildung liegt noch vor uns. Die Arbeit daran ist grundlegend und so wichtig!
Wie kann eine solche Arbeit der Sensibilisierung genau aussehen?
Ich denke, dass Überzeugungsarbeit abhängig ist von der eigenen Haltung. Als wir zum Beispiel 2003 La Paz belagerten, um den Präsidenten zu stürzen, da wurden wir am Anfang von der Bevölkerung beschimpft als Indios, Cambas oder Collas. Nach einer Woche verstummten diese Beschimpfungen. In der nächsten Woche gab es dann schon ein paar Spenden aus der Bevölkerung. Sie brachten uns etwas zu Essen. Am Anfang des Aufstandes blieben wir dort, obwohl wir Hunger litten, weil wir uns unserer Sache ganz sicher waren. Am Ende hatten wir dann Säcke voll Nudeln in unseren Büros – und die öffentliche Meinung auf unserer Seite. So erobert man das Bewusstsein der Bevölkerung, mit Beharrlichkeit und eigener Überzeugung.
Vielleicht ist es so auch bei der Sensibilisierung in Bezug auf den Umweltschutz. In unserem Büro stellen wir mittags oft für zwei Stunden den Strom ab, um Energie zu sparen. Das nervt einige, aber das muss man wohl in Kauf nehmen.

Welche Rolle spielen Regierung, NRO und Wirtschaft im Kampf gegen den Klimawandel?
Die Regierung macht sehr wenig für die Bewusstseinsbildung innerhalb der Bevölkerung. Sie glauben, ein Workshop oder Vortrag pro Jahr reicht aus, damit man informiert ist. Und die NRO im Umweltbereich, die evaluieren und beraten und beraten und evaluieren, aber sie machen nichts wirklich Konkretes.
Der Zivilgesellschaft ist der Klimawandel im Grunde egal. Besonders in der Stadt lebt man auf Kosten der Natur. Man kauft das billigste Produkt und wenn es teurer wird, dann sollte es am besten importiert werden, damit es wieder billiger wird. Am 12. Oktober dieses Jahres habe ich mich einer Demonstration angeschlossen, die aus Ecuador kam. Wir gingen von El Alto nach La Paz zur Plaza Murillo. Auf dem Transparent, hinter dem wir gingen, stand: „Ein geeintes Bolivien gegen den Klimawandel.“ Am Anfang waren wir ungefähr 500 Leute. Als wir auf der Plaza Murillo ankamen waren wir 3.000. Die Bauernführung hatte sich der Demonstration angeschlossen. Menschen aus der Bevölkerung, die nicht organisiert sind, haben sich jedoch nur sehr wenige angeschlossen.
Und die Privatwirtschaft?
Die nimmt nicht Teil am Umweltschutz. Die Privatwirtschaft in Bolivien plündert das Land und ist nicht interessiert am Schutz des Ökosystems. Sie will Gewinn abschöpfen und Punkt. Sie roden mit Planierraupen: 14 Planierraupen machen in zwei Tagen 60 Hektar platt. Es wird zusammengeschoben, getrocknet und verbrannt. Es bleiben keine Schutzmauern gegen den Wind stehen, kein Baum wird stehen gelassen, nichts. Die großen Produzenten haben kein ökologisches Bewusstsein.
Wir Kleinbauern sind zwar viele, aber unsere Eingriffe in das Ökosystem sind bei weitem nicht so gravierend, wie die von den Großproduzenten. Dennoch sehe ich eher bei den Kleinbauern die Möglichkeit, sie zum Schutz des Ökosystems zu bewegen.

Welche Vorschläge und Forderungen haben sie für den bevorstehenden Gipfel von Cancún?
Im April dieses Jahres haben wir den Alternativen Klimagipfel von Cochabamba veranstaltet (siehe LN 431). Die Abschlusserklärung von Cochabamba stellt für uns eine echte Alternative dar. Wir werden in Cancún vorschlagen, diese Abschluss­erklärung als juristisch bindendes Recht von der UN verabschieden zu lassen. Sie beinhaltet ein Gesetz zum Schutz der Mutter Erde, Mutter Natur, Pachamama, oder wie auch immer du sie nennen willst.
Die ökologische Schuld der Länder, die am meisten verschmutzen, muss eine andere Politik zur Folge haben. Deshalb fordern wir die Einrichtung eines Klimagerichtshofs, der in einzelnen Ländern als auch weltweit wirken kann. Wir müssen dafür sorgen, dass der Umweltschutz umgesetzt wird und nicht nur aus leeren Phrasen besteht, denn unsere Erde muss endlich wertgeschätzt werden. Wir sind ja ein Teil von ihr. Wir fordern Respekt für Mutter Erde.

Zurück in die Steinzeit?
Quatsch! Wir sind keine Entwicklungsverweigerer. Wir sind an Entwicklung interessiert und brauchen diese. Wir brauchen auch die Hilfe von internationalen Organisationen. Nur darf sie nicht auf Kosten der Erde geschehen. Ein Gedanke an unsere Enkel führt uns doch das Problem vor Augen.

Wie sehen Sie den Gipfel vom vergangenen Jahr in Kopenhagen?
Kopenhagen war ein Fehlschlag, da dort die wirtschaftlichen Großmächte den Prozess der Verständigung nicht bis zu Ende gehen wollten. Aber auch wenn es einen Fehlschlag gibt, muss man weiter nach Alternativen suchen. Damit meine ich Aufklärung und Sensibilisierung für den Umweltschutz auf der Ebene der Politik. Wir müssen auf die verschiedenen Länder zugehen und Verbündete suchen. Es sind ja nicht alle böse Buben, sondern es ist hier mal ein Ministerium und da mal eine Regierung, die den Umweltschutz ablehnen. Wir müssen eben anfangen, Verbindungen aufzubauen, um Alternativen zu suchen. Zum Beispiel bei der Ölförderung müssen Alternativen gefunden werden, ebenso in der Minenwirtschaft. Das merken wir in Bolivien ganz besonders, da die Minen in unserem Land maßgeblich zur Umweltverschmutzung beitragen.

Sind aber nicht gerade die großen Gipfel sinnlos und eher Zeit-, Geld- und Ressourcenverschwendung?
Nein, ich glaube, jede Möglichkeit, aufeinander zuzugehen und sich gegenseitig für die Probleme zu sensibilisieren, ist gut und notwendig. Aber auch Cancún kann scheitern. Das wäre schlimm. Doch selbst dann bliebe uns nichts anderes übrig, als weiter nach Alternativen zu suchen. Aus dem Grund werden ja zahlreiche Parallelgipfel zu Cancún veranstaltet. Was uns wirklich beunruhigt, ist, dass man sich nicht mal mehr an das Kyoto-Protokoll halten will. Dort sind ja internationale Regeln festgelegt worden. Die muss man verteidigen, und wir dürfen nicht dahinter zurückfallen.

Zurück zu Bolivien, was kann man in der gegenwärtigen Situation konkret machen?
Zum Beispiel fordern wir eine Politik, die den Schutz des Waldes finanziert: Geld für das Nicht-Roden des Waldes. Natürlich gibt es Gesetze, um den Wald zu schützen, aber die großen Holzfirmen halten sich nicht an diese Gesetze. Je mehr sie rausholen können, umso besser. Als ich bei der Regierung illegalen Holzeinschlag angezeigt habe, hat man mich dort einfach ausgelacht. Aber ich werde weiter für die Umwelt kämpfen. Und ich möchte, dass in jeder Ecke auf der Erde gekämpft wird.

Newsletter abonnieren