Alte Wege verlassen

Unsere Konzepte von Entwicklung und Natur sind kulturell tief verwurzelt, wie konkrete Sachverhalte zeigen. So war 1791 in der ersten Ausgabe der Tageszeitung El Mercurio Peruano, herausgeben in Lima, damals Hauptstadt des Vizekönigreichs Peru der spanischen Kolonie, zu lesen, dass der Bergbau die größte, wenn nicht gar die einzige Quelle des Reichtums von Peru sei. Mehr als zwei Jahrhunderte später scheint die Haltung im Grunde dieselbe zu sein, wenn der peruanische Präsident Ollanta Humala entgegen seinen Wahlversprechen den Bergbau erneut vorantreibt. Er tut dies im Bruch mit einem Großteil seiner Wählerbasis sowie entgegen der Empfehlungen von Fachleuten und Forderungen von Aktivist_innen aus der Linken, und verbündet sich stattdessen mit konservativen und wirtschaftsnahen Kreisen.
Peru ist dabei kein Einzelfall. Das günstige Klima für Bergbau, Erdöl- und Erdgasförderung, Monokulturen in der Landwirtschaft sowie andere Formen von Extraktivismus hat sich auf alle Länder Lateinamerikas ausgedehnt, ob nun unter den konservativen Regierungen Kolumbiens oder Chiles, oder unter progressiven wie in Argentinien, Brasilien oder Venezuela. Sie sind auf Exporte ausgerichtet, ziehen schwerwiegende soziale und ökologische Konsequenzen mit sich und folgen den hohen Rohstoffpreisen wie auch der Nachfrage Chinas und anderer asiatischer Staaten. Der größte Bergbaubetreiber ist, entgegen mancher Erwartung, Brasilien. Von 2001 bis 2011, unter der Mitte-Links-Regierung von Luiz Inácio „Lula“ da Silva, wurde der Bergbau massiv ausgebaut. Das Abbauvolumen der wichtigsten Mineralien beläuft sich auf 410 Millionen Tonnen, mehr als das aller Andenstaaten zusammen.
Die globale Gesamtsituation macht die exportorientierte Bergbau- und Agrarindustrie zu einem einträglichen Geschäft. Die andauernde Wirtschafts- und Finanzkrise in der EU und den USA erklärt, warum das Kapital sich vielerorts dem Primärsektor zuwendet. Selbst Staaten, die bisher nie Großbergbaubetriebe hatten, wollen heute davon profitieren, so etwa Ecuador, wo die Regierung Rafael Correas kürzlich Verträge zur Kupferförderung im großen Stil unterzeichnet hat (Lagerstätte Mirador). Oder Uruguay, wo unter Präsident José Mujica die massenhafte Extraktion von Eisenerz vorangetrieben wird (Aratirí-Projekt). In beiden Fällen sind linke Regierungen an der Macht. Das Gleiche geschieht in Kolumbien, wo der konservative Präsident Juan Manuel Santos das Bild von der „Lokomotive“ Bergbau geprägt hat, die die Wirtschaft des Landes anschieben soll.
So lässt sich eine neue Phase der Ausdehnung des Extraktivismus in ganz Lateinamerika feststellen. Der Begriff Extraktivismus beschreibt die Förderung riesiger Mengen von Bodenschätzen, die hauptsächlich für den Export gedacht sind. Die Bergbau- und Erdölstaaten streben eine Erhöhung der Fördermengen durch intensivere Ausbeutung bereits bestehender Projekte, Eröffnung neuer Förderstätten und die Förderung bisher ungenutzter Rohstoffarten an. Dazu gehören zum Beispiel Lithium in Bolivien oder Schiefergas in Argentinien. Bodenerkundungen finden in immer entlegeneren und schwerer zugänglichen Gebieten sowie unter stetig steigenden Risiken statt, etwa im Amazonas-Regenwald oder auf dem Atlantik-Schelf. Auch die Produktion von Agrarrohstoffen gewinnt einen extraktivistischen Charakter: Monokulturen werden auf riesige Flächen ausgeweitet und weitgehend unverarbeitet exportiert. Das bekannteste Beispiel hierfür ist der Sojaanbau in Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay.
Lateinamerika übernimmt die Rolle des Rohstofflieferanten der Globalisierung. Seit der Kolonialzeit und über die Zeit der Republiken hinweg kehrt diese Funktion immer wieder in abgewandelter Form zurück. Geändert haben sich nur die Gründe, mit denen die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen gerechtfertigt werden. Während sich konservative oder neoliberale Regierungen auf alte Konzepte von der Rolle des Marktes und von ökonomischem Wachstum zur „Ausschüttung“ von Gewinnen für die Gesellschaft beziehen, ist es für Linke schwieriger, den Extraktivismus zu verteidigen, hatten sie diese Form der Rohstoffausbeutung doch unlängst noch kritisiert.
Die Regierungslinke hat jedoch einen grundlegenden Wandel durchgemacht. Sie hat mit dem Extraktivismus nicht gebrochen, sondern ihn reformiert, zur Erfüllung ihrer Wünsche nach Wirtschaftswachstum und Wählerbindung.
Es stimmt, dass die Regierung von Hugo Chávez in Venezuela oder Evo Morales in Bolivien sich deutlich von vorhergehenden Regierungen unterscheiden und dass sie vielfach Erfolge verzeichnen konnten, insbesondere im Kampf gegen die Armut. Man muss aber auch erwähnen, dass diese Fortschritte durch eine Erhöhung der Rohstoffexporte finanziert wurden und den hohen Weltmarktpreisen zu verdanken sind. Der Neue Extraktivismus der progressiven Regierungen geht in einigen Fällen mit einer verstärkten staatlichen Präsenz einher, beispielsweise durch nationale Erdölgesellschaften. Teilweise werden höhere Förderlizenzen oder Steuern verlangt, etwa auf Erdöl und Erdgas in Bolivien, Ecuador und Venezuela. Der Extraktivismus wird als unverzichtbar für die Finanzierung unterschiedlicher Sozialprogramme erklärt, wenngleich diese häufig nicht über monatliche Transferzahlungen hinausgehen. Zweifellos sind diese Hilfszahlungen für die ärmsten Teile der Bevölkerung unabdingbar. Soziale Gerechtigkeit darf sich jedoch nicht auf derartige Zahlungen beschränken.
Soziale Auswirkungen, wie die Umsiedlung von Gemeinden oder die Zerstörung regionaler Ökonomien, sowie ökologische Folgen, wie Entwaldung und Umweltverschmutzung, werden regelmäßig klein geredet oder abgestritten. Diese Situation macht den Ausbruch von sozialen Protesten gegen den Extraktivismus verständlich. Die Konfliktlagen bestehen in allen Teilen des Kontinents, von Patagonien bis zur Karibikküste von Guyana und Surinam und unter jedweder Regierung. Die Kontinuität der Ausbeutung von Natur und des ökonomischen Wachstums ist dermaßen deutlich, dass selbst linke Präsident_innen sich über soziale und ökologische Forderungen lustig machen, Anführer_innen der Proteste kritisieren, sie mit Prozessen verfolgen oder ihre Organisationen attackieren. Man solle den Reichtum der Natur des Kontinents nicht nur wie bisher ausbeuten, sagen sie, sondern diesen Trend sogar verstärken.
Der uralte Mythos von Eldorado wird wiederbelebt, einem Kontinent voll natürlicher Reichtümer, die praktisch unendlich seien und die Nachfrage nicht nur der eigenen Bevölkerung, sondern des gesamten Planeten befriedigen könnten. Ökologische Grenzen der Rohstoffausbeutung und des Tempos, mit dem sie durchgeführt wird, werden nicht respektiert. Selbst wenn Probleme eingestanden werden, wird behauptet, diese könnten technisch gelöst werden, beziehungsweise die wirtschaftlichen Gewinne würden die sozialen und ökologischen Schäden wettmachen. Die massenweise Förderung von Rohstoffen dient einem auf materiellem Wachstum basierenden Entwicklungsmodell, das wirtschaftlichen Wohlstand und steigenden Konsum in den urbanen Zentren Lateinamerikas generiert. In den Städten gibt es riesige Einkaufszentren und marginalisierte Bevölkerungsschichten konsumieren heute in vorher ungekanntem Ausmaß.
Vor diesem Hintergrund kommen in einigen Ländern Debatten über den Ausstieg aus der Abhängigkeit vom extraktivistischen Modell auf. Miteinbezogen wird darin der veränderte politische Kontext. In den Debatten kommt die Forderung auf, dass in der Suche nach Alternativen sowohl eine tiefgreifende Diskussion über Entwicklungskonzepte enthalten sein, als auch der politische Diskurs der progressiven Regierungen eine neue Richtung einschlagen muss, der bisher Extraktivismus als notwendig für die Armutsbekämpfung darstellt. In einem Transitionsprozess werden post-extraktivistische Strategien als Alternativen zum bisherigen Entwicklungsmodell angestrebt. Dringende Maßnahmen müssen umgesetzt werden, um die schwerwiegendsten Auswirkungen von Bergbau- und Erdölprojekten zu verhindern. Dazu gehören beispielsweise die Schließung besonders umweltschädlicher Förderstätten oder die Reform der Besteuerungsgrundlagen, um die Notwendigkeit neuer extraktivistischer Investitionen auszuschließen. Weiterhin ist eine ausgewogene territoriale Nutzung notwendig, sowie die Sichtbarmachung der ökonomischen Kosten von sozialen und ökologischen Schäden. Ökologische und ökonomische, soziale und politische Maßnahmen werden miteinander verknüpft, um die Fokussierung auf den Extraktivismus zu entschärfen und tiefgreifende Veränderungen zu ermöglichen. Akute Maßnahmen müssen dabei mit langfristigen Projekten verbunden werden, um den Ausstieg aus dem gegenwärtigen Fortschrittsmodell zu erreichen.

Widersprüchliche Bilanz

René Ramirez, früherer Planungsminister, schrieb im Jahr 2010 im Hinblick auf Ecuadors Entwicklungsstrategie, dass „das größte Alleinstellungsmerkmal Ecuadors seine Biodiversität ist, und sein größter Wettbewerbsvorteil darin liegt, sie durch ihren Erhalt und den Aufbau von Bio- und Nanotechnologie zu nutzen.” Der derzeit gültige Entwicklungsplan 2009-2013 sieht als Hauptziele eine umverteilende Politik und den Umbau der Wirtschaft zu einem neuen Modell vor.
Wie weit ist dieser Umbau heute, im sechsten Jahr der Regierung von Präsident Rafael Correa, gediehen? Die Förderung und der Export von Öl haben heute wirtschaftlich dasselbe Gewicht wie in der Ära des Erdölbooms der 1970er Jahre. Der Staatshaushalt ist in hohem Maße von diesem Wirtschaftszweig abhängig. 2010 machten Rohstoffe mit etwa 77 Prozent immer noch über drei Viertel des Exportvolumens aus, gegenüber lediglich 23 Prozent exportierter Produkte aus der verarbeitenden Industrie. Tourismus, Dienstleistungen und Landwirtschaft befinden sich, anstatt zu expandieren, eher in einer leichten Rezession. Die Agrarpolitik setzt auf industrielle Produktion für den Export oder für Supermarktketten, und benachteiligt die Kleinbauern und -bäuerinnen.
Anstatt ein neues Wirtschaftsmodell zu entwickeln, weitet die Regierung das alte Akkumulationsmodell aus. Obwohl Ecuador kein Land ist, in dem Bergbau traditionell eine relevante Rolle gespielt hätte, setzt die Regierung Correa nun auf industriellen Tagebau als weitere Einkommensquelle für den Staat. So unterschrieb er Anfang März 2012 den ersten großen Vertrag mit einem kanadisch-chinesischen Konzern. Regierungsmedien wie El Telegrafo feierten den Beginn der Ära des „verantwortlichen Tagebaus”, in dem der Staat eine größere Kontrolle über die Branche ausübe.
Bergbauexperten wie William Sacher oder Alberto Acosta bezweifeln jedoch, dass es einen verantwortlichen Tagebau geben kann. Die Erfahrungen aus ähnlichen Projekten in Lateinamerika sprechen jedenfalls dagegen. Es erscheint fraglich, ob die Regierung eines kleinen Staates wie Ecuador die konkrete Praxis transnationaler Bergbau-Konzerne in Bezug auf Umwelt- und Sozialstandards effektiv kontrollieren kann. Diese wechseln nämlich innerhalb eines hochdynamischen und -spekulativen Markts extrem häufig ihren Sitz und damit ihre Rechtsform, und sind deshalb juristisch kaum haftbar zu machen. So bleibt die Verantwortung für die entstandenen Schäden an der Umwelt und der lokalen Bevölkerung, die nach 25 bis 30 Jahren Tagebau ihre Subsistenzgrundlage verloren haben wird, bei der ecuadorianischen Regierung. Dies macht die Rentabilität des Tagebaus auf lange Sicht zweifelhaft.
Vierzehn weitere Tagebau-Großprojekte stehen auf der Prioritätenliste von Ressourcenminister Wilson Pastor, vier davon sind bereits fortgeschritten. Ebenso vorgesehen ist die Ausweitung der Ölförderung auf den Südosten des ecuadorianischen Amazonasgebiets, der einzigen relativ intakten Regenwaldfläche des Landes außerhalb des Yasuní Nationalparks. Wird dies umgesetzt, würde das statt der Umwandlung des extraktiven Akkumulationsmodells seine Intensivierung und flächenmäßige Ausweitung bedeuten, mit dem entsprechenden Verlust an Biodiversität und an Möglichkeiten für einen nachhaltigen Tourismus als alternative Einnahmequelle. Die Überwindung des Extraktivismus wird innerhalb der politisch recht heterogenen Regierung heute tatsächlich nur noch von einer Minderheitenströmung politisch gewollt. Präsident Correa, die einzige Figur, die diese von links bis rechts reichenden Strömungen zusammenhalten kann, sagte in einer Bilanz der ersten fünf Jahre „Bürgerrevolution“: „Im Grunde machen wir innerhalb desselben Akkumulationsmodells die Dinge einfach nur besser, denn es ist nicht unser Wunsch, den Reichen zu schaden; aber wir haben die Absicht, eine gerechtere und gleichberechtigtere Gesellschaft zu schaffen.” Immer wieder betont der Staatschef, dass es unverantwortlich wäre, „wie Bettler auf einem Sack Gold zu sitzen”, indem man Ölfelder oder Kupfervorkommen nicht ausbeute, und bezeichnet die Gegner des Extraktivismus als „infantil”, „fundamentalistisch” oder gar als „Steinzeitmenschen”.
Die in der Verfassung verankerten Rechte der Natur, ebenfalls Teil der visionären Konzepte, mit denen Ecuador seit Rafael Correa international bekannt geworden war, erfahren eine recht dürftige und höchst widersprüchliche Umsetzung. Zwar sind, wie in allen anderen Bereichen des Staates auch, die Mittel für den Umweltschutz aufgestockt worden, doch funktioniert das größte Waldschutzprogramm Socio Bosque in sehr konventionellen Bahnen. Es bietet Waldbesitzer_innen Kompensationszahlungen gegen vermiedene Entwaldung, ganz in der Logik des grünen Kapitalismus und der Merkantisilierung der Natur, gegen die Correa sich erst kürzlich im Rahmen von Río +20 ausgesprochen hatte. Auch der Erhalt des Yasuní-Nationalparks ist inzwischen weitgehend ein REDD+-Projekt (siehe Kasten).
Deutlichere Erfolge als in der Überwindung des Extraktivismus wurden bezüglich der umverteilenden Rolle des Staates erzielt. Die durch neue Konditionen in der Ölförderung, aber auch durch die hohen Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt erzielten Einnahmen werden in einer Kombination neoliberaler und sozialdemokratischer Instrumente unter die Leute gebracht: Zum einen handelt es sich um an die Ärmsten gerichtete, konditionierte Transferleistungen (der bono de desarrollo humano beträgt beispielsweise 36 US-Dollar pro Monat), die eine Fortsetzung neoliberaler Abfederungsmaßnahmen bedeuten, allerdings in größerem Maßstab. Zum anderen werden aber auch klassisch sozialdemokratische Politiken umgesetzt, wie die Einführung progressiver Steuern und die Erhöhung der Sozialausgaben mit dem universalistischen Anspruch, kostenlose Gesundheitsversorgung und Bildung für alle verfügbar zu machen.
Doch wenn auch in der Sozialpolitik ein Wille zu mehr Gleichheit zu erkennen ist, wirft der Umgang der Regierung mit den teils heftigen Konflikten, die sowohl die Vertiefung des Extraktivismus als auch der Bau von großen Wasserkraftwerken nach sich ziehen, ernsthafte Zweifel an ihrem Willen auf, auch mehr Freiheit für die ecuadorianische Bevölkerung zuzulassen.
Ein im ersten Halbjahr 2012 von Amnesty International veröffentlichter Bericht wirft der Regierung Correa die systematische Kriminalisierung des Rechts auf Protest vor. Die Organisation kritisiert, dass Strafrechtsparagraphen zu extrem interpretierbaren Delikten wie “Terrorismus” und “Sabotage” angewendet werden, die während der Militärdiktatur der 1970er Jahre eingeführt wurden. Zehn Personen sitzen aufgrund von Verurteilungen wegen Terrorismus oder Sabotage bereits Haftstrafen von bis zu 8 Jahren ab, einige sind abgetaucht, und gegen etwa 210 weitere Menschen wird derzeit noch ermittelt. Auch wenn viele dieser Ermittlungsverfahren aus Mangel an Beweisen letztlich eingestellt werden, wirken sie doch einschüchternd und verhindern durch den damit verbundenen hohen Zeit- und Geldaufwand, dass indigene und ländliche Aktivist_innen ihr demokratisches Recht auf Protest wahrnehmen können. Darüber hinaus bemängelt Amnesty, dass Protestierende in aufwendigen Werbekampagnen von der Regierung als undemokratische Destabilisierer und Putschisten diffamiert werden, wie es anlässlich einer großen Demonstration im März 2012 geschehen war (siehe LN 455).
Amnesty International konstatiert weiter: „Der Staat hat das Recht auf Vorabbefragung [der indigenen Gruppen] systematisch missachtet und den Gemeinden wenig andere Auswege als den Protest gelassen”. Analysiert werden vor allem die Verabschiedung des umstrittenen Bergbaugesetzes 2009 und die versuchte Verabschiedung des Wassergesetzes 2010, die beide zu indigenen Aufständen und Demonstrationen, Dutzenden schwer Verletzten und einem Toten führten.
In diesem Zusammenhang hat die indigene Bewegung vor kurzem einen international bedeutsamen Erfolg errungen: Nach zehn Jahren Widerstand verurteilte am 23. Juni der interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof den ecuadorianischen Staat wegen einer Reihe von Rechtsverletzungen an der amazonischen Kichwa-Gemeinde Sarayaku. Dort hatte der argentinische Ölkonzern CGC in den 1990er Jahren Probebohrungen durchgeführt. Die entsprechende Lizenz wurde erteilt, ohne dass die Bevölkerung vorher befragt wurde. Der Konzern hatte die Bewohner_innen schikaniert und vertrieben, und schließlich bei seinem Rückzug erhebliche Mengen von Sprengstoff im Boden hinterlassen. Der ecuadorianische Staat wurde nun zu Reparationszahlungen und zur Entfernung des Sprengstoffs verurteilt.
Für die Zukunft wichtig ist, dass das Urteil die Verpflichtung zur Vorabbefragung indigener Völker betont und Ecuador auffordert, entsprechend gesetzgeberisch aktiv zu werden, was ihm eine Relevanz weit über Ecuador hinaus verleiht. Der Justiziar von Rafael Correa, Alexis Mera, verlautbarte nach dem Urteil, der ecuadorianische Staat werde die Entschädigung zwar zahlen, sich das Geld jedoch von Expräsident Lucio Gutiérrez zurückholen. Die Regelung der künftigen Durchführung von Vorab-Befragungen liegt seit vielen Monaten beim ecuadorianischen Parlament.

Kasten:

Visionäre Idee mit holpriger Umsetzung

Die Idee hat das Potential, die Logik des Extraktivismus grundlegend in Frage zu stellen: Im Nationalpark Yasuní im ecuadorianischen Amazonastiefland lagern in den drei Ölfeldern Ishpingo, Tiputini und Tambococha 846 Millionen Barrel (1 Barrel = 159 Liter) Erdöl – etwa 20 Prozent der gesamten Reserven des Landes. Auf Vorschlag des früheren Erdölministers Alberto Acosta will Ecuador das Erdöl im Boden lassen, sofern von internationaler Seite 3,6 Milliarden US-Dollar aufgebracht werden. Dies entspricht der Hälfte der erwarteten Einnahmen, würde Ecuador das Öl fördern. Das Geld soll nicht in die Staatskasse, sondern in einen Treuhandfonds fließen, welcher der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) unterstellt ist und aus dem unter anderem alternative Energien und Aufforstungsprojekte gefördert werden sollen. Bliebe das Öl wirklich unter der Erde, hätte das positive Auswirkungen für die in dem Gebiet lebenden Indigenen, die Erhaltung der Biodiversität der Region und das Klima. International hat die Yasuní-ITT-Initiative viel Lob erfahren, das finanzielle Engagement potentieller Geber_innen fällt jedoch bescheiden aus. Laut offiziellen Angaben hat Ecuador sein Ziel, bis Ende 2011 100 Millionen US-Dollar einzusammeln, zwar erreicht. In den UN-Treuhandfonds wurden bisher allerdings erst wenige Millionen eingezahlt. Der Rest besteht etwa aus einem Schuldenerlass über 50 Millionen US-Dollar seitens Italien sowie einem Beitrag Deutschlands von gut 45 Millionen US-Dollar (35 Millionen Euro), der aber ausdrücklich nicht für den Fonds vorgesehen ist. Denn die deutsche Bundesregierung torpediert die ursprüngliche Ausrichtung des Projektes. Während der Bundestag der Yasuní-Initiative im Jahr 2008 die Unterstützung zugesichert hat, lehnt der aktuelle Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, eine Beteiligung an dem UN-Treuhandfonds vehement ab. Er setzt stattdessen darauf, den Yasuní-Nationalpark durch klassische Projekte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit und den auf Marktmechanismen basierenden Emissionshandel REDD (Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degregation) zu schützen. Niebel will nicht für das „Unterlassen” einer Handlung bezahlen und spricht offen davon, einen „Präzedenzfall” verhindern zu wollen. Genau diesen wollen die Befürworter_innen des Projektes jedoch schaffen. Die Idee ließe sich potentiell auch auf geplante Bergbau-Projekte anwenden, die als besonders schädlich eingestuft werden.
// Tobias Lambert

„Aus Umbau wurde Kontinuität“

Seit Monaten halten zwei massive Bergbaukonflikte Peru in Atem. Sowohl bei den Protesten gegen das Projekt Conga, das den Ausbau einer Goldmine in Cajamarca vorsieht, als auch bei dem Konflikt um die Kupfermine Tintaya im Verwaltungsbezirk Espinar, waren Tote zu beklagen. Zeichnen sich Lösungen für die beiden Konflikte ab?
Eher nicht, denn der Regierung scheint nicht klar zu sein, welche Tragweite diese Proteste haben. Es fehlt an klaren Analysen, warum es zu immer mehr und deutlich massiveren Protesten und Konflikten in Peru kommt. Exemplarisch für dieses Unvermögen steht die Tatsache, dass angesichts der Proteste gegen das Bergbauprojekt Conga zweimal das Kabinett ausgewechselt wurde. Ich denke, dass es weder eine vernünftige Analyse noch eine Strategie und auch keine politisch relevanten Persönlichkeiten gibt, die nach Kompromissen suchen und den Dialog führen. Die Regierung reagiert, sie agiert nicht, um grundsätzliche Probleme zu lösen.

Mit der Wahl von Präsident Ollanta Humala im vergangenen Jahr waren viele Hoffnungen verbunden, beispielsweise, dass der Bergbau mit der Landwirtschaft vereinbar sein müsse. Humala selbst hat die Bedeutung dessen mehrfach betont. Ein Großteil der betroffenen Landbevölkerung bezeichnet ihn inzwischen als Lügner. Zu Recht?
Ollanta Humala hatte viele Hoffnungen geweckt und angekündigt, die Interessen der Bauern, der Gemeinden und auch deren Zugang zum Wasser zu garantieren. Doch einmal im Amt hat sich die Situation schnell und entscheidend verändert. Anfangs gab es noch den politischen Willen ein Bündel von Reformen durchzuführen, die den peruanischen Staat und das Umweltministerium zu einer ernsthaften Autorität im Lande gemacht hätte.
Doch mit dem Aufkommen der ersten Konflikte, vor allem dem Projekt Conga in Cajamarca, aber auch anderen, nahm die Bereitschaft ab, den Wandel in der Umwelt- und Bergbaupolitik des Landes einzuleiten. Aus der Regierung des Umbaus, der Transformation, wurde die Regierung der Kontinuität, des Stillstands.

Da Sie diese Phase quasi hautnah als Vizeminister im Kabinett miterlebt haben – gibt es einen Punkt, wo der Wille zu Reformen den Präsidenten verlassen hat?
Ja, es gibt verschiedene Schlüsselmomente. Im ökonomischen Bereich war die Nominierung von Wirtschaftsminister José Miguel Castilla ein wichtiger Schritt. Dieser war bereits unter Alan García [neoliberal ausgerichteter Ex-Präsident, Anm. d. Red.] im Wirtschaftsministerium einer der Vizeminister und steht für die Kontinuität einer Wirtschaftspolitik, die sich in den letzten zwanzig Jahren kaum verändert hat. Auch die Bestätigung von Julio Velarde als Zentralbankchef war ein Zeichen in diese Richtung, das sicherlich auch potentielle Investoren beruhigen sollte.
Im Umweltbereich wurde hingegen erst im November klar, wohin es gehen soll. Damals kam der Präsident von einer Tagung aus Hawaii zurück und musste feststellen, dass die Proteste zugenommen hatten.

Wie reagierte Humala?
Sehr überraschend: Er entzog uns im Umweltministerium den Rückhalt für die anlaufenden Reformen und entschied, zentrale Funktionen des Umweltministeriums dem Ministerrat direkt zu unterstellen. So entstand faktisch ein zweites Umweltministerium, eine Parallelstruktur, und dort sollten fortan auch die Umweltgutachten ausgewertet werden – eben auch jenes zum Projekt Conga. Für mich war das der Wendepunkt und ich bin von meinem Posten zurückgetreten. Wenig später folgte dann das ganze Kabinett, angeführt von Salomon Lerner [dem damaligen Ministerpräsidenten, Anm. d. Red.].

Ist das Modell des Extraktivismus in Peru an seine Grenzen gestoßen?
Nun gut, die peruanische Regierung hat sich für ein Wirtschaftsmodell entschieden, das auf der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen fußt. Aber das ist ein Phänomen, welches in ganz Lateinamerika zu beobachten ist. Alle Regierungen, egal welcher politischen Couleur, stützen sich auf den Extraktivismus. Natürlich gibt es Unterschiede. In Peru und Kolumbien ist die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen in den Händen großer internationaler Konzerne, in Bolivien, Venezuela, Ecuador und auch zu großen Teilen in Brasilien ist es der Staat, der bei der Förderung der Rohstoffe die zentrale Rolle spielt. In allen Ländern gibt es allerdings soziale Probleme und Widerstände gegen die Vernichtung von Schutzgebieten wie derzeit das Beispiel des umstrittenen Straßenbaus durch den TIPPNIS-Nationalpark in Bolivien zeigt.
In Peru ist der Bergbau für rund 60 Prozent der Exporte verantwortlich, sorgt aber nur für rund 100.000 Arbeitsplätze. Trotzdem und obwohl er Arbeitsplätze in der Landwirtschaft gefährdet, soll er weiter ausgebaut werden, wenn es nach der Regierung in Lima geht. So gibt es mehrere Großprojekte, die in den nächsten Jahren umgesetzt werden sollen, obwohl der Widerstand zunimmt.

Humala hatte sich im Wahlkampf für die Entwicklung eines Flächennutzungsplans ausgesprochen, um die Konzessionierung von sensiblen Flächen durch den Bergbau zu regulieren. Warum ist von einem derartigen Plan, den Sie im Umweltministerium gefördert haben, nichts mehr zu hören?
Das ist ein zentrales Thema, das in den letzten Monaten unter den Tisch gefallen ist, obwohl die Konzessionierung für den Bergbau immer wieder für Konflikte sorgt. Der Hauptgrund dafür ist, dass keine Gebiete von der Konzessionierung ausgenommen sind und die Bevölkerung erst gar nicht eingeweiht, sondern vor vollendete Tatsachen gestellt wird.
Zudem gibt es viele Konzerne, die sich Konzessionen für die Zukunft gesichert haben und Bergbauprojekte auf Basis dieser vorbereiten; sie haben kein Interesse an einem Flächennutzungsplan. So steigt der Anteil der Flächen, auf die Konzessionen vergeben sind, stetig an, oft ohne Konsultation der lokalen Bevölkerung. Für die Debatte über die Frage, wo Bergbau stattfinden darf und wo eben nicht, wäre ein Flächennutzungsplan das richtige Instrument. Wir brauchen klare Strukturen und es ist sinnvoll eine ganze Reihe von Gebieten zu No-Go-Areas für den Bergbau zu erklären. Aus meiner Perspektive gibt es jedoch kaum politischen Willen diese Diskussion zu führen.

In der Region von Huancabamba, im Norden Perus, wehrt sich die lokale Bevölkerung gegen die Ansiedlung einer Kupfermine. In einem selbst durchgeführten Referendum hat sie deutlich gemacht hat, dass sie auf nachhaltige Landwirtschaftskonzepte setzt. Ist das ein Beispiel, das Schule machen könnte?
Ja, durchaus. Bereits 2002 führte ein Referendum zum Ende eines Goldbergbauprojekts in Tambogrande. Aber auch in Guatemala und Argentinien hat sich das Instrument genauso wie in Peru, in Tía María 2009 und Huancabamba 2007, bewährt. Auch in der Region von Cajamarca, wo das Bergbauprojekt Conga geplant ist, ist über ein Referendum diskutiert worden, aber die peruanischen Gesetze sehen dieses Instrument nicht vor. Dabei könnten Referenden eine Alternative nicht nur für Peru, sondern für ganz Lateinamerika darstellen. Es ist schließlich nötig, neue Mechanismen für die Partizipation der lokalen Bevölkerung zu entwickeln.

Welche Lektionen können internationale Investoren aus den Konflikten von Conga und Tintaya lernen?
Es ist klar, dass die Bergbauunternehmen nicht mehr den Bergbau wie vor zwanzig Jahren durchziehen können. Die lokale Bevölkerung stellt Ansprüche und vier Bergseen auszuradieren ist auch in Peru keine kleine Sache mehr. Früher war das möglich, denn der Bergbau ist von oben durchgesetzt, quasi verordnet worden. Heute ist die Zerstörung von vier Lagunen ein Attentat auf die Gemeinden und deren Grundrechte. Die Parameter haben sich verschoben und wir leben in einer Welt, die von der Klimakatastrophe bedroht ist, die längst spürbar ist.

In Deutschland, aber auch in anderen Ländern Europas, sucht man sogenannte Rohstoffpartnerschaften mit Ländern wie Peru. Was kann eine solche wirtschaftliche Zusammenarbeit für Peru bringen und welche Bedeutung kann sie für die Abbauregionen haben?
Das Problem dieser Partnerschaften ist, dass sie nicht auf Augenhöhe stattfinden und auch nicht unbedingt die nachhaltige Entwicklung des betreffenden Landes im Blick haben. Diese Partnerschaften und auch die Freihandelsabkommen auf multilateraler und bilateraler Ebene gehorchen einem Wachstumsimperativ. Verträge wie das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Peru, welches auch ein Thema beim Besuch von Präsident Humala im Juni in Berlin war, verhindern faktisch, dass Staaten wie Peru ihre Umweltschutzbestimmungen verbessern, weil sie die Investitionsbedingungen verändern. Das ist aber in vielen Verträgen untersagt und von den Konzernen faktisch auch einklagbar. Das ist ein gravierendes Problem, da die Umweltschutzbestimmungen in Peru und anderswo erst am Entstehen sind und dringend erweitert werden müssen, wie die zunehmende Zahl von Konflikten zeigt. Ich denke, dass die Rohstoffpartnerschaften der gleichen Logik folgen.

Kasten:

José de Echave
arbeitet für die regierungskritische Sozial- und Umweltorganisation CooperAcción. Der 54-jährige Ökonom war Vize-Umweltminister unter Präsident Ollanta Humala, dessen Mitte-Links-Bündnis seit Juli 2011 regiert. Ende November 2011 trat de Echave aus Protest gegen die Regierungspolitik zurück.

Im Schatten der Industrie

Im April dieses Jahres wandte sich der kolumbianische Senator Jorge Enrique Robledo in einem offenen Brief an Präsident Juan Manuel Santos. Robledo beklagt, dass es offizielle Politik sei, dass transnationale Bergbauunternehmen, trotz der Umweltschäden die sie hinterlassen, und obwohl sie ihre Abgaben und Steuern nicht ordentlich entrichten, mittlerweile den größten Teil der Schürfrechte in Kolumbien kontrollieren. Gleichzeitig unternehme die Regierung alles, um den Kleinbergbau zu behindern und zu kriminalisieren. Robledos Kritik träfe ebenso auf die anderen Andenländer zu.
Kleinbergbau bezeichnet ein komplexes Gebilde unterschiedlicher Schürf- und Anreicherungspraktiken sowie Organisationsformen und gehört vornehmlich zur „Informellen Ökonomie“. Er ist arbeitsintensiv und bietet Einkommensmöglichkeiten; Kleinbergbau basiert in der Regel auf den Aktivitäten von Kleinstunternehmen, Familien, selbständigen Bergleuten und selten auf freier Lohnarbeit. Kleinbergbau reicht vom klassischen Tunnelbergbau in seinen vielfältigen Formen (maschinell oder nicht-maschinell) bis hin zu Mineraliensammler_innen und Goldwäscherei, sowohl in traditioneller Form als auch unter massivem Maschineneinsatz (Pumpen, Flösse, Schlauchanlagen). 90 Prozent aller vom Bergbau abhängigen Familien in den Andenländern leben vom Kleinbergbau in seinen unterschiedlichsten Formen (siehe Kasten).
Seit dem 19. Jahrhundert haben sich Bergbaugemeinden kaum verändert: Gewalt, Drogen und Prostitution bestimmen das Bild; es besteht ein ausgesprochen hohes Risiko für Frauen und Minderjährige für die schlimmsten Formen der Ausbeutung. Ein weiteres Problem sind lokale Händler in den Gemeinden, oft kontrolliert durch organisierte Banden oder Paramilitärs, die niedrige lokale Preise unter dem Börsenpreis an die Bergleute bezahlen und innerhalb bewohnter Ortschaften Quecksilber „verbrennen“, eine höchst gesundheitsgefährdende Praxis.
Der Tunnelbergbau, den wir zum Beispiel noch im Nariño (Kolumbien), im Sub-Medio (Peru) oder in Zamora oder Porto Bello (Ecuador) finden, enstand oftmals im Zuge des industriellen Bergbaus Seit Ende der 1960er Jahre gingen die Renditen der Edelmetallförderung durch fallende Weltmarktpreise zurück. Viele transnationale Unternehmen ließen Tunnelbergwerke ruhen, die durch sogenannte informelle Bergleute seit Ende der 1970er Jahre „still“ besetzt wurden. Kleinbergbau begann dort vor allem mit Mineraliensammler_innen auf den Abraumhalden und zunehmend durch Übernahme des Tunnelbergbaus. Im kleinen Stil lohnte sich etwa die Goldgewinnung zur Existenzerhaltung.
Obwohl in Lateinamerika in den letzten Jahrzehnten viele Millionen Menschen und ihre Familien zunehmend vom Kleinbergbau abhängig sind, steht diese Entwicklung nur bedingt in einem Zusammenhang mit steigenden Börsenpreisen für Edelmetalle oder mit dem Extraktivismus als Entwicklungsmodell. Erfahrungen der internationalen Assoziation für verantwortungsbewussten Bergbau (ARM) zeigen auf, dass zumindest die hohen Preise für Edelmetalle weitgehend an den Kleinbergleuten vorbeigehen. Die Mineralienpreise, die an lokalen Kleinbergbau bezahlt werden, und die Preise für Werkzeug, Diesel, Ausrüstung, Chemie und Kleinmaschinen sind im nahezu gleichen Verhältnis gestiegen. Zentraler Parameter ist dabei die Entwicklung des Ölpreises, der sich im Verhältnis zum Goldpreis exakt parallel nach oben entwickelt hat. Das Hauptproblem des Kleinbergbaus ist jedoch vor allem die rechtliche Formalisierung seitens der Politik, die parallel zur Begünstigung der Bergbauindustrie zu einer immer höheren Barriere wird.
Seit multinationale Unternehmen Konzessionen horten (Concession Grabbing), wachsen die Gemeinden von Kleinbergleuten vor allem in Räumen, in denen sie „illegal“ die ruhenden Konzessionen der Industrie ausbeuten. Dies führt zu schweren Konflikten zwischen der Industrie mit umliegenden Gemeinden, Umwelt und Landwirtschaft, aber auch mit dem Kleinbergbau.
In Fällen, in denen die Ausbeutung von Konzessionen ein gutes Geschäft verspricht oder neue ertragreiche Konzessionen erworben werden können, wird Druck auf Gemeinden, Landbesitzer_innen, aber auch auf Kleinbergleute ausgeübt, um Konzessionen in deren Gebieten zu erlangen und gegebenenfalls auszubeuten. Das ist etwa der Fall in den afro-kolumbianischen Gemeinden des Chocó in Kolumbien, wo dies mit relativ viel Geld oder direkter Korruption geschieht. Die Industrie hat auch nie vor Vertreibung zurückgeschreckt, wobei sie sich vor allem in Kolumbien in der Vergangenheit wiederholt der Paramilitärs bedient hat, ohne die der Extraktivismus in Kolumbien in der heutigen Form gar nicht denkbar wäre.
Im Chocó, im kolumbianischen Cauca, im peruanischen Madre de Diós oder im brasilianischen Río Branco gilt allerdings das Gleiche für mafiöse Netzwerke von Kleinbergleuten, die mit schweren Maschinen und Flössen vordringen, lokale Goldwäschergemeinden bedrohen, sich ihrer Schürf-
rechte bedienen und dafür auch paramilitärische Gewalt einsetzen.
Ende der 1990er Jahre entstanden in der Auseinandersetzung mit der Industrie und den lokalen Behörden, die Kleinbergleute zu kriminalisieren versuchten, im Sub-Medio in Peru große Organisationen von Kleinbergleuten als Ergebnis des Kampfes um Formalisierung und Legalisierung. In einigen Fällen wurde erreicht, sich legal zu etablieren, die Schürfrechte zu sichern und sich zu formellen Unternehmen in Händen der Kleinbergbauleute zu entwickeln.
Heute hat Tunnelbergbau kaum noch etwas mit industriellem Großbergbau zu tun. Während Kleinbergbau existenzsichernd und arbeitsintensiv ist, trägt die Industrie schlicht ganze Berge ab und verwandelt Landschaften in Baggerwüsten.
Dabei ist wichtig festzuhalten, dass die Industrie insgesamt nur einen sehr kleinen Teil ihrer Konzessionen tatsächlich ausbeutet. So nutzt etwa der britisch-australische Bergbau-Gigant Rio Tinto weniger als fünf Prozent seiner Konzessionen aus, der Rest ist spekulatives Kapital.
Da nach den meisten Bergbaugesetzen Konzessionen nicht über mehrere Jahre ruhen dürfen, stellt die Industrie einen Riesenapparat bereit, um die Bergbauministerien zu bearbeiten und Schürf-rechte beständig zu erneuern. Das ist ein natürliches Einfallstor für Korruption, bei dem Gelder an lokale Funktionäre fließen, die dafür Sorge tragen, dass im Zweifelsfall dem Kleinbergbau Schürf-rechte verwehrt werden. Auch werden erhebliche Mittel eingesetzt, um Lobbyarbeit zur Verabschiedung von begünstigenden Bergbaugesetzen zu betreiben. Gleichzeitig stellt die Formalisierung von Kleinbergbau durch Schürfabgaben (Regalías) und Steuergesetze, Genehmigungsverfahren, Teilgenehmigungsverfahren für Anreicherungsanlagen, Landerwerb usw. eine enorme Barriere dar. In unterschiedlichen Etappen wird dabei bei den Bergbau-, Umwelt-, Steuer- und Lokalbehörden die Hand aufgehalten und ohne Rechtsbeistand ist nicht weiterzukommen. Kleinbergleute und ihre Familien ohne Organisation können sich nie und nimmer diesem Prozess aussetzen. Der größte Teil des Sektors verbleibt deshalb in der Informalität, vor allem dort, wo Bergbau nur eine kurzfristige Aktivität und/oder die wirtschaftlichen Vorteile einer Formalisierung unter den gegebenen Voraussetzungen sehr begrenzt sind. Durch dieses Nadelöhr zu schlüpfen ist – neben der Organisierung – der entscheidende Schritt, den Kleinbergbau nachhaltiger zu machen.
Die Politik der verschiedenen nationalen Regierungen begünstigt die Industrie, kriminalisiert und behindert aber den Kleinbergbau im Prozess der Formalisierung. So erkennt das Bergbaugesetz Kolumbiens Kleinbergbau überhaupt nicht an, sondern verwendet den Begriff „illegaler Bergbau“. Die Bemühungen, im peruanischen Bergbaukodex von 2002 erstmalig Kleinbergbau formell anzuerkennen (unter der Regierung von Präsident Alejandro Toledo), wurden durch die Dekrete gegen den informellen Bergbau 2012 zunichte gemacht und lassen ein gefährliches Vakuum entstehen. Dies zeigt das Beispiel in der peruanischen Amazonasregion Madre de Dios, wo die legale Handhabe mit oder in dem Sektor zu arbeiten durch Dekrete zerstört wurde. Verbesserungen im Kleinbergbau können nur durchgesetzt werden, wenn die formelle Anerkennung eine gesetzliche Grundlage bietet, auf der in Richtung von verbesserten Umweltpraktiken, Sicherheit und Gesundheit und des Schutzes von Frauen und Minderjährigen gearbeitet werden kann.

Kasten:

Die unterschiedlichen Formen des Kleinbergbaus

• Formelle Kleinunternehmen mit und ohne Beschäftigte (andere Selbständige und wenige Lohnarbeiter_innen, die in Mineralien bezahlt werden);
• selbständige Bergleute, oder Gruppen von selbständigen Bergleuten, die unabhängig agieren mit und ohne Lohnarbeiter_innen;
• einzelne Familien, die die Mineralien unter sich aufteilen;
• Informelle Kleinstunternehmen, die beispielsweise Gold anreichern (zermahlen, amalgamieren, schmelzen etc.);
• Mineralsucher_innen auf Abraumhalden (vorwiegend Frauen, die Mineralien auflesen und amalgamieren oder als freies Roh-Gold verkaufen);
• Formelle semi-industrielle Kleinunternehmen, die Zyanid-Laugen-Verfahren semi-industriell organisieren;
• Kooperativen oder Aktiengesellschaften von Kleinbergleuten, die als Konzessionshalter_innen fungieren für Andere;
• Kooperativen oder Aktiengesellschaften von Kleinbergleuten, die sich im Bergbau und in der Anreicherung betätigen und Gold vermarkten;
• Indigene oder afro-lateinamerikanische Gemeinden, die Schürfrechte an der Oberfläche besitzen und Konzessionen verhandeln können nach Sondergesetzgebungen (Puna (Jujuy)/ Argentinien, Chocó/ Kolumbien).

Selbstbestimmung oder Barbarei

Die deutschen Medien verwenden das Schlagwort „indigenes Recht“ in jüngster Zeit zunehmend als Aufhänger für skandalträchtige Radiofeatures, Zeitungsartikel oder Videos. Bolivien scheint sich für solche Reportagen in besonders prägnanter Weise zu eignen. Da versieht der Zeit-Autor Ulrich Ladurner einen Artikel zum Thema mit dem Titel „Wo man Diebe verbrennt“. Er stellt die Frage, ob die formal-rechtliche Gleichstellung der staatlichen Rechtsordnung mit indigenen Rechtssystemen in Bolivien in eine „Barbarei“ münden wird – vergleichbar mit der Terrorherrschaft der Taliban im pakistanischen Swat Tal. Unhinterfragt erweckt der Text den Eindruck, indigene Rechtsausübung wäre quasi eine Form von Lynchjustiz. Oder das Deutschlandradio berichtet von einem bolivianischen Verfassungsrichter, der unter Zuhilfenahme von Koka-Blättern höchstrichterliche Urteile trifft. Titel: „Bolivianischer Richter urteilt mit Hilfe von Koka-Blättern.“ Die Radionachricht sieht von jeglicher Kontextualisierung der Information ab, hat aber noch genug Platz für den despektierlichen Beisatz, wonach Koka-Blätter dem Richter nebenbei auch helfen „mit Pflanzen, Bergen und Flüssen zu kommunizieren“. Angesichts dieser oft oberflächlichen und vorurteilsbeladenen Berichterstattung ist es nicht nur angebracht, sondern höchste Zeit, sich etwas rationaler und fundierter mit der Frage auseinanderzusetzen, worum es eigentlich geht, wenn wir von indigener Justiz in Lateinamerika reden.

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Ausübung indigenen Rechts ein international anerkanntes und zunehmend auch in nationalen Verfassungen verankertes Kollektivrecht indigener Völker darstellt. Auf Protestmärschen, Dialogforen und Verfassunggebenden Versammlungen machten Vertreter_innen indigener Bevölkerungen in den vergangenen Jahrzehnten ihre Forderungen nach Selbstbestimmung laut. In Bezug auf indigene Bevölkerungsgruppen beinhaltet das Konzept der Selbstbestimmung die Möglichkeit, innerhalb der existierenden Staaten gemäß eigenen Vorstellungen von Entwicklung zu leben und sich als Gruppe selbst zu regulieren. Dazu gehört die Aufrechterhaltung eigener Formen kultureller, sozialer, wirtschaftlicher, politischer und rechtlicher Organisation. Auf internationaler Ebene flossen diese Forderungen in das 1991 in Kraft getretene Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ein, wo es unter anderem heißt:

Art. 8.1. Bei der Anwendung der innerstaatlichen Gesetzgebung auf die betreffenden Völker sind deren Bräuche oder deren Gewohnheitsrecht gebührend zu berücksichtigen.
Art. 8.2. Diese Völker müssen das Recht haben, ihre Bräuche und Einrichtungen zu bewahren, soweit diese mit den durch die innerstaatliche Rechtsordnung festgelegten Grundrechten oder mit den international anerkannten Menschenrechten nicht unvereinbar sind.

Die inhaltlich weiter gehende, 2007 verabschiedete Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker bestätigt das Recht auf eigene Rechtsinstitutionen gleich zweifach. An seiner Formulierung waren deutlich mehr Repräsentant_innen indigener Gruppen involviert als an der vorangegangenen ILO Konvention,

Art. 5 Indigene Völker haben das Recht, ihre eigenen politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Institutionen zu bewahren und zu stärken, während sie gleichzeitig das Recht behalten, uneingeschränkt am politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben des Staates teilzunehmen, sofern sie dies wünschen.
Art. 34 Indigene Völker haben das Recht, ihre institutionellen Strukturen und ihre Bräuche, Spiritualität, Traditionen, Verfahren, Praktiken und, wo es sie gibt, Rechtssysteme oder Rechtsgewohnheiten im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsnormen zu fördern, weiterzuentwickeln und zu bewahren.

Die meisten lateinamerikanischen Staaten gehören sowohl zu den Unterzeichnerinnen des rechtlich bindenden ILO Übereinkommens 169, als auch zu den Ländern, die sich bei der Abstimmung der UN-Generalversammlung für die Annahme der Erklärung von 2007 ausgesprochen haben. Entsprechend haben viele dieser Staaten indigenen Bevölkerungsgruppen, die auf ihrem Territorium ansässig sind, im Zuge von Verfassungsreformen das Recht auf die Ausübung eigener Justiz zugesichert. Dazu gehören zum Beispiel Brasilien, Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Mexico, Nicaragua, Paraguay, Peru und Venezuela. Ähnlich wie in den internationalen Normen werden der Ausübung dieses Rechts jedoch Schranken gesetzt, meist durch eine Klausel, wonach diese Praktiken nicht gegen ihre nationalen Verfassung oder die Menschenrechte verstoßen dürfen.

Ein wesentlicher Aspekt im Hinblick auf indigene Justiz bezieht sich auf die Tatsache, dass es sich hierbei keinesfalls um eine homogene Praxis über alle Regionen und indigenen Bevölkerungsgruppen hinweg handelt, sondern vielmehr um eine äußerst vielfältige „Rechtslandschaft“. Rechtsanthropolog_innen in Lateinamerika betonen, dass nicht einmal eine indigene Gruppe (zum Beispiel die Mapuche in Chile) mit einem einheitlichem Rechtssystem gleichgesetzt werden darf. Die Normen und Verfahren einer lokalen Gemeinde können sich durchaus von den entsprechenden Praktiken der Nachbargemeinde unterscheiden, selbst wenn beide ein und derselben Gruppe angehören. Das macht die Suche nach übergreifenden Charakteristiken natürlich nicht einfacher. Diese ist dennoch erforderlich, nicht zuletzt, um klarer abzugrenzen, wo indigene Justiz aufhört und Lynchjustiz, die die Medien oft mit indigenen Rechtspraktiken gleichsetzen, anfängt.

Die Suche nach Elementen, die in einer Vielzahl indigener Rechtssysteme präsent sind, führt zunächst einmal zu den Autoritäten, die die Kompetenz haben, Recht auszuüben. Diese Funktion wird in indigenen Gemeinden nicht von einer beliebigen Person oder einer sich spontan versammelnden Gruppe von Anwohner_innen ausgeübt (wie bei Fällen der Lynchjustiz üblich). In der Regel übertragen Gemeinden diese Kompetenz an spezielle Gemeindemitglieder, wobei die konkreten Verfahren jeweils stark variieren. In einigen Gemeinden ist etwa die Ernennung erfahrener Personen in einen Ältestenrat üblich. Andernorts wählt die Gemeinde Mitglieder, die ein gesellschaftlich und moralisch vorbildliches Verhalten aufweisen, auf bestimmte Zeit in das Amt der Rechtsautorität.

Konflikte, die an indigene Rechtsautoritäten herangetragen werden, beziehen sich typischerweise auf Fragen des Landbesitzes, die Nutzung von natürlichen Ressourcen wie kollektivem Weideland oder Wasser, den Diebstahl von Vieh oder Sachgegenständen oder den Schaden, der durch Vieh auf benachbarten Feldern angerichtet wird. Auch Streitigkeiten zwischen Nachbar_innen und familiäre Konflikte wie Erbstreitigkeiten oder häusliche Gewalt sind Themen. Gelegentlich müssen sich Rechtsautoritäten aber auch mit übersinnlichen Phänomenen wie der Hexerei auseinandersetzen.

Während sich Lynchjustiz an spontanen Willkürakten einer aufgebrachten Menschenmenge festmachen lässt, folgt indigene Justiz Regeln und Verfahren, die meist zwar nicht in einem „Gesetzbuch“ niedergeschrieben, aber dennoch allen Gemeindemitgliedern bekannt sind. Die Verfahren umfassen verschiedene Phasen: Der Auftakt eines rechtlichen Verfahrens besteht oftmals darin, dass die zuständige Rechtsautorität einer Gemeinde von einem Problem oder Konflikt erfährt. Sie wird zunächst versuchen, alle beteiligten Konfliktparteien anzuhören und danach wichtige Details des Falls zu klären. Dies kann durch die Befragung von Zeug_innen, die Einholung von Unterlagen oder die Begehung relevanter (Tat-)Orte geschehen. Im Anschluss bemüht sich die Rechtsautorität um eine mögliche Lösung des Konflikts, wobei sie den Rat von Ältesten oder erfahrenen Gemeindemitgliedern hinzuziehen kann. Oftmals werden die Konfliktparteien selbst dazu aufgefordert, Lösungen vorzuschlagen oder Übereinkünfte zu treffen.

Akte der Lynchjustiz lassen der Suche nach alternativen Lösungsvorschlägen keinen Raum. Die Dynamik der aufgebrachten Masse zielt in der Regel einzig auf die Vergeltung des (vermeintlichen) Rechtsverstoßes durch Tötung, oder zumindest die Absicht der Tötung der Beschuldigten ab, und dies oftmals in einer brutalen und unmenschlichen Art, die der Folter nahekommt. Im Vergleich dazu zielen Sanktionen oder Resolutionen indigener Rechtsautoritäten darauf ab, den entstandenen Schaden wieder gut zu machen und so das aus den Fugen geratene Gleichgewicht in der Gemeinde wiederherzustellen. Personen, die einen Schaden angerichtet haben, sollen über ihr Fehlverhalten reflektieren, den Schaden kompensieren, aber auch die Chance erhalten, sich in die Gemeinschaft zu reintegrieren. Sanktionen werden nicht pauschal ausgesprochen, sondern richten sich nach dem Grad des begangenen Rechtsverstoßes. Zu den typischen Sanktionen im indigenen Recht gehören etwa ein öffentliches Gelöbnis der Verhaltensänderung, die Wiedergutmachung eines Schadens durch Gemeindearbeit, Vergütung in Geld oder anderen materiellen Sachleistungen oder körperliche Strafen. Dies können Bäder im kalten Wasser, aber auch Peitschenschläge mit Brennnesseln oder Viehriemen sein. Gerade letztere rufen häufig Kritiker_innen auf den Plan, die solche physischen Strafen als Verletzung des Menschenrechts auf körperliche Unversehrtheit oder als Folter interpretieren. Expert_innen im indigenen Recht argumentieren hingegen, dass diese Praktiken weder darauf abzielen, die Person ihrer Würde zu berauben, noch die Gesundheit der Person ernsthaft aus Spiel zu setzen. Vielmehr heben sie den Aspekt der spirituellen Reinigung der Person hervor, bei welcher der physische Schmerz Teil des Besinnungsprozesses ist.

Zu weiteren wichtigen Unterscheidungsmerkmalen zwischen Lynchjustiz und indigener Jusitz zählt einmal die Tatsache, dass in vielen indigenen Gemeinden die Möglichkeit besteht, sich an eine höhere Instanz zu wenden, etwa die Dachorganisation der ethnischen Gruppe. Diese kann ein Urteil überprüfen und revidieren, wenn sich dieses erste Urteil als fehlerhaft erweist. Zum zweiten können bei indigener Justiz Wiederholungstäter_innen beziehungsweise Personen, die ihre Strafauflagen nicht erfüllen, durch erneute Rechtsverfahren zur Rechenschaft gezogen werden. Oftmals hat das zur Folge, dass die Sanktionen verschärft werden oder mit der Übergabe des Falls an die staatliche Justiz gedroht wird. Im Übrigen orientieren sich auch sehr weit abgelegene indigene Gemeinden zunehmend an den nationalen Normen ihrer Staaten, weshalb Sanktionen wie die Todesstrafe, die früher in einigen Regionen durchaus bei besonders schweren Vergehen angewandt wurde, in den wenigsten Gemeinden noch zum Repertoire der Rechtsausübung gehört. Stattdessen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten bei der überwiegenden Mehrheit indigener Gemeinden der Ausstoß aus der Gemeinde, und damit der Verlust der Gemeinderechte und des unmittelbaren sozialen Netzes, zur härtesten Strafe entwickelt.

Ein Punkt, bei dem die Grenzen zwischen Lynchjustiz und indigenem Recht schon eher fließend werden, ist die Frage nach den Orten oder Schauplätzen, an denen diese praktiziert werden. Wo die sozialen Netze einer Gemeinde noch dicht und die eigenen Organisationsstrukturen gut aufgestellt sind, finden wir häufig auch eine effektiv funktionierende und von den Bewohner_innen respektierte Verwaltung der eigenen Justiz vor. Allerdings sind viele ländliche Gemeinden längst von temporärer oder dauerhafter Migration gekennzeichnet. Die jüngere Generation sucht nach besseren Ausbildungsmöglichkeiten in Städten und viele Familien haben neben ihrem Standbein auf dem Land und der dort betriebenen Landwirtschaft längst ein zweites Standbein in urbanen Zonen aufgestellt, um so ihre Einkommensquellen zu diversifizieren. Vor diesem Hintergrund wird es zunehmend schwieriger, stabile Strukturen der Selbstregulierung in ländlichen Gemeinden aufrechtzuerhalten. In Regionen, in denen eigene Organisationsstrukturen geschwächt oder abhanden gekommen sind, aber ebenso in semiurbanen Zonen und städtischen Peripherien, ist Lynchjustiz daher eher anzutreffen. So wie auf dem Land, ist auch in diesen Zonen die Präsenz von Polizei und anderen Ordnungskräften minimal. Diese können oftmals nur machtlos dabei zusehen, wenn Bürger_innen „die Justiz in ihre eigenen Hände“ nehmen.

Konstellationen wie die hier beschriebene, in denen staatliches Recht und indigene Justizformen nebeneinander existieren und sich teilweise überlappen, werden gemeinhin unter dem Stichwort Rechtspluralismus diskutiert. Diese Sphären sind freilich nicht voneinander abgeschottet, sondern stehen meist in unbequemen und konfliktträchtigen Beziehungen zueinander. Die Gewichtung, die Vereinbarkeit der normativen Inhalte, aber auch konkreten Zuständigkeiten für Personengruppen, Sachverhalte und geographische Regionen sind unklar.
Eine wichtige Härteprüfung für indigene Justiz in Lateinamerika bildete der mit dem Kolonialismus einhergehende Einzug kontinentaleuropäischer und christlich geprägter Werte und Ordnungsvorstellungen. Je nach den jeweiligen politischen und ökonomischen Interessenlagen der Herrschenden in bestimmten Regionen wurde indigenes Recht geduldet, gewaltsam unterdrückt oder schlicht ignoriert. Die Aufrechterhaltung indigener Rechtsvorstellungen beziehungsweise Versuche ihrer Neukonstituierung über alle Widrigkeiten hinweg, wird heute von indigenen Bevölkerungsgruppen als eine Form von Resistenz gegen jahrhundertelange Diskriminierung verstanden. Doch hat indigene Justiz nicht nur als kulturelle Praxis überlebt, weil sie von indigenen Gemeinden als legitimer Ausdruck ihrer Selbstbestimmung angesehen wird. Sie bildet auch eine effektive Alternative zum staatlichen Rechtssystem, das in Lateinamerika mit enormen Schwächen beladen ist – hohe Kosten, lange Wartezeiten, bürokratische Verfahren, unangemessene Ausstattung, geringe flächendeckende Präsenz, Korruption und Straflosigkeit – um nur einige zu nennen.

Ohne jeglichen Zweifel ist aber auch indigenes Recht nicht frei von Problemen: Neben den bereits erwähnten körperlichen Strafen, die bisweilen schwer mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit vereinbar sind, sind auch diese Systeme nicht vor Missbrauch der handelnden Autoritäten gefeilt. Weil die Ausübung von Recht in den Händen eines Nachbarn beziehungsweise einer Nachbarin oder gar eines Familienmitglieds liegt, kann von Neutralität gegenüber den Konfliktparteien keine Rede sein. Daneben ist indigene Justiz vielerorts eine männlich dominiere Sphäre, die dazu führt, dass sich Frauen seltener mit ihren Problemen an die Rechtsautoritäten wenden, und wenn sie dies doch tun, sie sich oft mit völlig unangemessenen Urteilen konfrontiert sehen. So kann es durchaus vorkommen, dass die sexuelle Vergewaltigung einer Minderjährigen durch die Abgabe zweier Kühe oder eine Heirat mit dem Vergewaltiger beglichen wird.

Zugleich darf nicht übersehen werden, dass indigene Rechtsordnungen nicht fix und unveränderbar sind, sondern sich vielmehr im Laufe der Zeit weiter entwickelten. Sie passten sich an neu in den Gemeinden auftretende Konflikte und Gegebenheiten an. Dabei eigneten sich die jeweils handelnden Akteure auch Elemente aus dem kolonialen und republikanischen Recht an und verwendeten diese nicht zuletzt zur Legitimierung der eigenen Autorität nach innen und nach außen. Insofern besteht zumindest Grund zu der Annahme, dass indigene Rechtsautoritäten auch heute in der Lage sein sollten, Normgehalte jüngeren Datums in ihre eigene Praxis zu übersetzen, sofern sie zu der Überzeugung gelangen, dass diese dem Gemeinwohl aller dienen könnten.
Mit der rechtlichen Anerkennung indigenen Rechts in vielen lateinamerikanischen Staaten ist ein erster wichtiger Schritt zum Dialog zwischen den verschiedenen Rechtskulturen getan worden. Das klassische Nationalstaatsmodell, das dem Staat ein Monopol auf die Rechtsausübung zusicherte, wurde damit zumindest formell überwunden. Nun aber müssen weitere Schritte folgen. Staatliche Institutionen müssen sich für die Aufnahme normativer Wertvorstellungen indigener Herkunft öffnen. Wichtige Rahmengesetzgebungen wie die nationalen Strafgesetzbücher sollten im Hinblick auf die neue Rechtswirklichkeit reformiert werden. Curricula der Rechtsfakultäten sollten um das Thema indigener Justiz angereichert werden. Bei staatlichen Rechtsverfahren, in denen indigene Personen involviert sind, sollte die Hinzuziehung indigener Rechtsautoritäten oder Rechtsanthropolog_innen Standard werden. Die Koordination zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen sollte zumindest in ihren Grundzügen klar geregelt werden. (Das entsprechende Gesetz in Bolivien ist zwar das erste seiner Art, lässt aber zu viel Raum für Kritik und offene Fragen). Staatlichen und indigenen Rechtsautoritäten sollten Räume für Austausch und die Formulierung von Übereinkünften gegeben werden. Auch indigene Autoritäten sollten sich nicht vor der Verantwortung scheuen, sich auf diesen interkulturellen Dialog einzulassen. Es ist notwendig, dass sie sich über nationale und internationale Rechtsstandards informieren und Veränderungen der eigenen Rechtspraxis dort einleiten, wo die gängigen Normen, Verfahren und Sanktionen nicht mehr zeitgemäß erscheinen und Rechte schwächerer Gemeindemitglieder beeinträchtigen. Und wenn die Medien auch nur einen Teil der Energie und Ressourcen, die sie bislang in die skandalisierte Berichterstattung zu indigener Justiz eingesetzt haben, fortan in einen der eben genannten Bereiche investieren würden, wäre schon viel getan.

 

(Download des gesamten Dossiers)

Mit kolonialen Grüßen …

Sich mit den eigenen Privilegien auseinanderzusetzen, mit Weißsein und den eigenen Rassismen, ist für keine_n leicht. Das Weiterwirken kolonialistischer und rassistischer Strukturen, nicht nur in Politiken, sondern auch in Sprache, Medien und Alltagswelt fällt meist denen nicht auf, die dadurch (bewusst oder unbewusst) etwas gewinnen. Dies gilt selbstredend auch für hier sozialisierte Jugendliche oder Studierende, die in Auslandsaufenthalten den Globalen Süden kennen lernen wollen. In Zeiten von „weltwärts“-Aufenthalten, Praktika und Soli-Reisen, wird das Erlebte tausendfach in E-Mails, Bildern oder Blogs wiedergegeben. Zu oft geschieht dies, ohne dass über den eigenen Standort reflektiert wird, ohne dass die eigene Verstricktheit in globale Wirtschafts- und Machtbeziehungen bewusst wird. Die im März veröffentliche Broschüre Mit kolonialen Grüßen … Berichte und Erzählungen von Auslandsaufenthalten rassismuskritisch betrachtet versucht hier, ein Angebot zur Auseinandersetzung zu geben. Sie lenkt den Blick auf „subtilere“ Formen von Rassismus – die für Betroffene das Subtile sicher oft verlieren. Wie bereits bei der 2008 veröffentlichten Publikation Von Trommlern und Helfern (siehe LN 409/410), die sich strukturellem Rassismus in der Entwicklungszusammenarbeit annähert, wird hier der Diskurs des Helfen-Wollens an sich in Frage gestellt und in einem ersten Schritt für die Aufarbeitung des eigenen kolonialen Erbes plädiert. Um sich im zweiten Schritt trotz oder gerade wegen dieser Verantwortung an die gemeinsame und bewusstere Bewältigung der Folgen zu machen. Dabei, so die Autor_innen, geht es nicht darum, die anderen „entwickeln“ zu wollen. Vielmehr halten sie es für unabdingbar, die eigene Definitionsmacht abzugeben und, vor allem, die Ursachen der Probleme dort anzupacken, wo sie wurzeln – nämlich hier. Allzu oft kommt es vor, dass wir unsere Privilegien für selbstverständlich halten, dass wir die Lebenswelt der anderen exotisieren, gar die fremde Armut romantisieren.
Anstatt sich selbst in der Anklage zu gefallen, gestehen die Verfasser_innen offen ein, selbst die Verunsicherung erlebt zu haben, das Abwehrverhalten und die Schuldgefühle zu kennen, die mit einer wirklich kritischen Selbstreflexion untrennbar verbunden sind. In der Broschüre werden auch die allgegenwärtigen Stereotype von „den Lateinamerikaner_innen“ wirkungsvoll dekonstruiert.
Die Broschüre bietet Einsatzmöglichkeiten in der Bildungsarbeit, vor allem als Begleitmaterial für die Vorbereitung auf Auslandsaufenthalte, ist jedoch auch so erhellend für alle, die schon mal Urlaubsfotos in Ecuador geschossen oder Dörfer in Chiapas gesehen haben. Die Erläuterung von Fachbegriffen sowie eine bewusst verständliche Sprache erleichtern den Zugang auch für Jugendliche. Eine Liste relevanter Bücher und Filme zum „Weiterdenken“ und „Weiterhandeln“ runden das Heft ab.

glokal e.V. (Hg.) // Mit kolonialen Grüßen … Berichte und Erzählungen von Auslandsaufenthalten rassismuskritisch betrachtet // Berlin 2012 // 40 Seiten // 2,00 Euro // www.glokal.org

Protest ist kein Putschismus

„Gewalttätige Gruppen wollen heute Quito besetzen, um das Regime zu destabilisieren. Wir werden jedoch gemeinsam die Demokratie verteidigen“, tönt es alle paar Minuten aus dem Radio. An den Landstraßen durch die Anden wurden Werbeschilder mit ähnlichen Botschaften aufgestellt, die zu einer „Mahnwache für die Demokratie“ aufrufen. Auf der Plaza Grande vor dem Regierungspalast in der Altstadt von Quito stehen Zelte, alle vom gleichen Modell, in denen seit ein paar Tagen die Aktivist_innen der Mahnwache nächtigen. Maschinengewehrsalven vom Band bilden die dazugehörige Geräuschkulisse, eine Aufnahme vom Abend des 30. September 2010, als Sondereinheiten den Präsidenten Rafael Correa aus einem Militärhospital befreiten, wo er von aufständischen Polizisten festgehalten wurde. In den Verlautbarungen der Regierung und ihrer Partei Alianza País ist in den letzten Tagen viel von Putschisten und Destabilisierung die Rede. Man werde die Demokratie zu verteidigen wissen. Der Präsident kündigt eine Massenkundgebung zur Verteidigung der Bürgerrevolution am 22. März an, dem internationalen Tag des Wassers.
Was ist nur los in Ecuador? Gibt es wieder einen Putschversuch? Am Morgen des 22. März kommen zahlreiche Busse aus den Provinzen in die Hauptstadt. Die Regierung hat sie geschickt, sie hat die juntas parroquiales, die kleinsten Verwaltungseinheiten, für diesen Tag zu einem Treffen über ländliches Leben in die Hauptstadt geladen. Das „Treffen“ findet ganz zufällig am Kundgebungsort zur Unterstützung der Regierung statt. Ein paar tausend Leute strömen zum Arbolito-Park, um den Präsidenten sprechen zu hören. Viele von ihnen tragen gleiche T-Shirts: Orgullosamente minero – stolz, ein Bergarbeiter zu sein, steht darauf. Oder Kupfer, das neue Zeitalter für Ecuador. Danke, Rafael. Andere tragen gleich brigadeweise nagelneue Bergarbeiterhelme. Sie seien für Bergbau, das sei gut und bringe Arbeitsplätze, sagen sie auf Nachfrage. Vor gut zwei Wochen, am 6. März, wurde mit der chinesischen Firma ECSA der erste Vertrag für ein Mega-Tagebauprojekt im Süden Ecuadors unterzeichnet. Im Gold- und Kupfertagebau, so Präsident Correa, liege die Zukunft der ecuadorianischen Wirtschaft. Im Mai 2011 gab es in Ecuador 2.257 Bergbaukonzessionen, davon sieben Großprojekte, die von der Regierung als strategisch eingestuft werden – darunter das Projekt Mirador mit ECSA. Die wichtigsten involvierten Konzerne kommen aus Kanada, Großbritannien und China.
Sozialministerin Ximena Ponce steht im Arbolito-Park auf der Bühne und spricht von Revolution. Grüne Fahnen werden geschwenkt, die Musikband Pueblo Nuevo, die Band der Regierung – Sänger ist der Generalsekretär von Alianza País, Galo Mora – stimmt „Comandante Che Guevara“ an, und das anwesende Kabinett singt mit. Dann wird skandiert: „¡El pueblo unido jamás será vencido!“ – „Die vereinte Bevölkerung wird niemals besiegt werden“. Eine kichwa-Indigene aus Cotopaxi sagt, sie sei hier, „weil der Präsident uns geholfen hat. Er hat unsere Gesundheitsversorgung, unsere Schulen verbessert und uns Straßen gebaut“. Da sehe sie es als ihre Pflicht an, dem Präsidenten zu danken durch ihre heutige Anwesenheit. Viele wie sie sind hier, weil ihr Alltag leichter geworden ist, es gibt jetzt in Ecuador einen Staat, der selbst in den abgelegensten Winkeln des Landes mit Infrastruktur und sozialen Dienstleistungen präsent ist.
Bereits zwei Wochen zuvor, am 8. März, waren Zehntausende in den Bussen der Regierung in die Hauptstadt gefahren. Danach waren verschiedene Dokumente durch die Medien gegangen, laut denen Menschen, welche in den Genuss von Sozialleistungen verschiedener Art kamen, gezwungen wurden, an der offiziellen Kundgebung teilzunehmen. Verlust des Studienplatzes an einer öffentlichen Universität, Verlust des Arbeitsplatzes im öffentlichen Dienst, Wegnahme des Häuschens aus dem sozialen Wohnungsbauprogramm der Regierung, das sind die Sanktionen, die bei Nichtbefolgung des Aufrufs angedroht worden sein sollen. Hinzu kommen finanzielle Anreize. Ein Mann aus der Provinz Guayas sagt am 22. März schüchtern, ja, er habe 20 US-Dollar bekommen, um heute nach Quito zu fahren. Außerdem sei er noch nie in der Hauptstadt gewesen, das sei für ihn eine gute Gelegenheit.
Steht hier eine demokratische Regierung mit dem Rücken zur Wand und greift zu den allerletzten Mitteln, um das Schlimmste zu verhindern? Oder entwickelt sich die Bürgerrevolution gerade selbst zu ihrem schlimmsten Feind, indem sie aus Kontrollwut eine progressive Sozialpolitik in konditionierten Klientelismus umdefiniert? Rafael Correa genießt laut Umfragen weit über 50 Prozent der Sympathie in der Bevölkerung. Anfang 2013 sollen Wahlen abgehalten werden, aber niemand bezweifelt, dass Correa sie gewinnen wird. Weder die Rechte noch die linke Opposition haben bisher einen auch nur halbwegs überzeugenden Kandidaten.
Wenige Wochen zuvor, am 16. Februar dieses Jahres, musste in Quito der gerade neu zusammengesetzte Oberste Gerichtshof in der letzten Instanz im Fall Rafael Correa gegen die Tageszeitung El Universo entscheiden (siehe LN 453). El Universo ist eine private Zeitung aus Guayaquil, die im Februar 2011 in einem Kommentar geschrieben hatte, Rafael Correa könne aufgrund der Befreiungsaktion am 30. September 2010, wo Militärs unter Inkaufnahme von zivilen Opfern auf ein Krankenhaus schossen, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden. In erster und zweiter Instanz waren nicht nur der Autor des Kommentars, sondern auch die Herausgeber der Zeitung wegen Verleumdung zu insgesamt 40 Millionen US-Dollar Strafe und drei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die Anklage hatte sogar 80 Millionen Schadenersatz gefordert. Während die rechten Medien die Pressefreiheit angegriffen sahen und die Regierung einen Präzedenzfall gegen die privaten Medienoligopole setzen wollte, hat der Fall vor allem Zweifel an der Unabhängigkeit der ecuadorianischen Justiz von der Exekutive, und damit an der Einhaltung eines demokratischen Grundprinzips, geweckt, das gerade in Lateinamerika historische Bedeutung hat. Das Tempo, in dem ansonsten extrem langsame Gerichte diesen Fall bearbeitet haben; die für eine Verleumdungsklage völlig unverhältnismäßige und willkürliche Höhe der Strafe; das massive Polizei- und Militäraufgebot, das bei den Anhörungen aufgefahren wurde; die juristisch schwer erklärbare Mithaftung der Herausgeber des Blattes für einen als Kommentar ausgewiesenen Text, all das sind Indizien, die auf ein Problem jenseits der vordergründigen Konfrontation „linke Regierung gegen private rechte Medien“ verweisen.
Nach der Bestätigung des Urteils durch den Obersten Gerichtshof will El Universo nun vor den interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof ziehen. Die bisher große Legitimität des interamerikanischen Menschenrechtssystems in Lateinamerika als historisch einzige Instanz, vor der auch Regierungen wegen Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden konnten, wird derzeit von Präsident Correa systematisch in Frage gestellt. Es handle sich um eine imperialistische Institution, genau wie die Weltbank und der IWF, Ecuador habe schließlich auch mit letzteren gebrochen, erklärt er in einer Radioansprache. Die interamerikanische Menschenrechtskommission habe ihren Sitz in Washingon D.C., das erkläre doch vieles. Die UNASUR brauche eine andere, von den Interessen des Imperiums unabhängige Menschenrechtsinstanz. Dass Präsident Correa dem letztinstanzlich verurteilen Kommentaristen und den Herausgebern von El Universo kurz darauf in einem öffentlichen Gnadenakt „vergeben“ hat, verweist eher auf das messianische, patriarchale und autoritäre Grundverständnis des Anführers der Bürgerrevolution, als auf eine emanzipatorische, linke Politik.
22. März, im Süden von Quito. Nach 14 Tagen und 700 Kilometern kommt der Protestmarsch Marcha por la vida, el agua y la dignidad de los pueblos in der Hauptstadt an. Am Weltfrauentag war die Demonstration, zu der der indigene Dachverband CONAIE, mehrere Frauenorganisationen, Gewerkschaften und andere linke Gruppen aufgerufen hatten, genau an dem Ort gestartet, wo das erste Tagebauprojekt Ecuadors sich materialisieren soll. Damals verweigerte die nationale Verkehrsbehörde den Demonstrant_innen die Genehmigung für Busse, die sie transportieren sollten. Wer Demonstrant_innen befördere, verlöre seine Personenbeförderungslizenz, hieß es lakonisch. „Dann werden wir eben laufen“, antworteten die Demonstrant_innen. Ihr Anliegen ist die Neuausrichtung des Transformationsprozesses in Ecuador. Sie sind gegen offenen Tagebau, gegen Konzessionen an ausländische Firmen, fordern eine Agrarrevolution auf dem Land und eine Entprivatisierung des Wassers, von dem rund ein Prozent der Nutzer_innen (meist aus der Agroindustrie für den Export) 67 Prozent kontrollieren. Sie verlangen eine breite, nationale Debatte darüber, was Bergbau für die Zukunft des Landes bedeutet, und die verfassungsmäßig vorgeschriebene Vorab-Befragung der betroffenen indigenen Bevölkerung. Die Verfassung von 2008 bildet die Grundlage ihrer Argumente. Sie verbietet Bergbau im Bereich von Quellen und in Schutzgebieten und schreibt die Entprivatisierung des Wassers vor. „Niemand von uns hat die Absicht, die Regierung zu stürzen oder die Demokratie zu destabilisieren“, beteuert Humberto Cholango, Präsident der CONAIE, immer wieder vor laufender Kamera. „Wir kämpfen für dieselben Anliegen, für die wir schon immer gekämpft haben: Für das erfüllte Leben, gegen Freihandelsverträge, gegen den Ausverkauf unserer Naturressourcen an ausländische Konzerne, für eine wirkliche Agrarreform.“ Neunzehn Punkte umfasst der Forderungskatalog insgesamt, unter anderem die Aussetzung der Verhandlungen um ein Assoziierungsabkommen mit der EU, die die Regierung Correa gerade wieder aufgenommen hat. Wahlpolitische Vereinnahmungsversuche der Demonstrant_innen im Verlauf des Marsches wurden konsequent zurückgewiesen, ebenso wie Sympathiebekundungen einiger rechter Politiker.
Doch anstatt die Demonstration als legitimes demokratisches Druckmittel zu betrachten und ihre Forderungen zu prüfen, startete die Regierung eine umfassende Diffamierungskampagne. Dies scheint die Lehre zu sein, die man aus dem 30. September 2010 gezogen hat: In jeder Kritik, in jedem Protest lauert der Putschismus, dem mit offiziell organisierten Gegendemonstrationen, Medienkampagnen und juristischen Mitteln begegnet werden muss. Dennoch – oder auch deshalb – hat der Protestmarsch auf seinem langen Weg nach Quito viel Solidarität erfahren. „¡Esto no es pagado, es pueblo organizado!“, rufen die Demonstrierenden. „Das hier ist nicht von oben bezahlt, das ist echte Organisierung!“ Der Zug von rund 15.000 Leuten schwillt auf dem Weg durch die ärmeren Viertel der Hauptstadt noch erheblich an. Ein weiterer kommt von Norden, ebenfalls in Richtung Arbolito-Park. Die Indigenen aus Cayambe haben über Nacht 60 Kilometer zu Fuß zurückgelegt, nachdem ihre Busse an einer Polizeisperre aufgehalten worden waren. Als die Demonstration ans Ziel kommt, ergießt sich ein riesiger Menschenstrom in den Arbolito-Park. Die Regenbogenfarben der indigenen Huipala und die roten Fahnen der Gewerkschafter sind allgegenwärtig.
Die Bühne steht jetzt etwa 50 Meter weiter links als am Vormittag, Putzkolonnen haben den Müll der Regierungskundgebung bereits beseitigt. „El pueblo unido jamás será vencido“, ruft auch diese Menschenmenge aus voller Kehle. Dabei dürfte die Bevölkerung Ecuadors selten tiefer gespalten gewesen sein. Auch das ist – leider – ein Verdienst der Bürgerrevolution.
Wenig später schickt ein Präfekt eine Namensliste von Beamten an den Präsidenten, die am 22. März nicht auf der offiziellen Kundgebung waren und deshalb aus dem öffentlichen Dienst entfernt werden sollen. Hat eine nominell linke Regierung das Recht, im Namen des Machterhalts das Demonstrationsrecht derartig auszuhebeln und Arbeitsplätze so zu konditionieren? Diese Aufmärsche von Regierungstreuen, das Eingreifen in persönliche Laufbahnen, wo nicht genug politische Loyalität gezeigt wird, das systematische Schließen von Räumen für Kritik und Debatte, die mit der verfassunggebenden Versammlung erst entstanden waren, die hehren Ideale, die Gerichtsverfahren gegen Andersdenkende vor einer Justiz, die Konvenienzurteile fällt – knapp 200 Indigene sind nach wie vor des Terrorismus angeklagt – all das erinnert an ein Repertoire aus vergangenen Zeiten, in denen ebenfalls Linke an der Regierung waren: in Osteuropa. Und verweist darauf, dass (auch) in Lateinamerika eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den politischen Praktiken des Realsozialismus dringend ansteht. Auch wenn sie sich hier mit spezifisch lateinamerikanischen Aspekten des caudillismo und mit einer eindeutig kapitalistischen Wirtschaftspolitik mischen: „Im Grunde machen wir die Dinge auf der Grundlage desselben Akkumulationsmodells einfach nur besser, anstatt dieses zu verändern. Denn es ist nicht unser Wunsch, den Reichen zu schaden, sondern wir streben eine gerechtere und gleichere Gesellschaft an“, so Präsident Correa im Interview mit El Telégrafo.

,,Jeder Elfte hat seinen Dreizehnten“

Inwiefern hat der Putsch die Rolle Chávez‘ in der venezolanischen Gesellschaft geprägt?
Der Putsch hat die Regierung grundlegend verändert. Mehr Bedeutung als der Putsch vom 11. April 2002 hatte allerdings der Versuch der Erdölmanager, die Regierung von Chávez im Dezember desselben Jahres zu stürzen. Ab da hat sich die Regierung zunehmend radikalisiert. Die Opposition wurde als klarer Widersacher erkannt und eine grundlegende wirtschaftliche und politische Transformation des Landes in Angriff genommen. Zwei Jahre später hat sich Chávez dann ja auch zum Sozialismus bekannt.
Eine andere Auswirkung der gescheiterten Umsturzversuche war die absolute Delegitimierung der Opposition. Bis dahin wurde ja gerne behauptet, dass der Präsident keine Unterstützung in der Bevölkerung habe und seine Position jeder Legitimation entbehre. Das wurde durch die massive Positionierung breiter Teile der Bevölkerung gegen den Staatsstreich ad absurdum geführt. Das ist auch heute noch wichtig und wird von Chávez immer wieder aufgegriffen. Der oft verwendete Slogan „jeder Elfte hat seinen Dreizehnten“ bedeutet, dass jeder Versuch der Opposition, Chávez zu stürzen, nicht funktionieren wird.

Ist Venezuela heute, zehn Jahre nach dem Putsch, im Sozialismus des 21. Jahrhunderts angekommen?
Venezuela ist immer noch ein sehr kapitalistisches Land, aber es befindet sich eindeutig im Umbruch. Die große Debatte unter Linken dreht sich darum, ob Venezuela eher sozialdemokratisch oder eher autoritär-staatssozialistisch ist. Oder ob tatsächlich etwas Neues geschaffen wurde, was am ehesten mit einer Art partizipativem Sozialismus beschrieben werden könnte. Meiner Meinung nach ist es die dritte Variante, obwohl in ihr natürlich auch Elemente der anderen beiden enthalten sind.

Inwiefern?
Chávez konzentriert schon ziemlich viel Macht in seiner Person, was allerdings in dieser Phase der Transformation auch absolut nötig ist. Und natürlich gibt es auch sozialdemokratische Elemente, wie die verschiedenen Formen von Sozialprogrammen, die darauf hinauslaufen, dass es eine gerechtere Gesellschaft gibt, ohne jedoch die Systemfrage zu stellen. Es gibt aber Bereiche, in denen es tatsächlich einen Übergang hin zum partizipativen Sozialismus gibt, zum Beispiel die Kommunalen Räte. Und auch in der Wirtschaft werden die Mitbestimmung und die Beteiligung in den staatlichen Unternehmen gefördert. Diese demokratischen, partizipativen Elemente sind einer der Hauptgründe, warum die bolivarianische Revolution so viel Unterstützung von der Bevölkerung bekommt. Natürlich sind auch die Sozialprogramme sehr wichtig für die Zustimmung der Menschen, aber eben nicht alleine.

Wird die Transformation der Bürger_innen hin zu einem politisch-partizipativen Wesen immer noch sehr von oben bestimmt, oder hat eine Verinnerlichung dieser Werte bei den Menschen stattgefunden?
Es kommt zum größten Teil von oben, dadurch dass Chávez und sein innerster Kreis diese Ideen haben. Andererseits gibt es aber auch Druck von unten. Das Problem liegt eher in der Mitte, also beim Staatsapparat und der innerparteilichen Bürokratie, die sich oft gegen Veränderungen sträuben. Das ist das eigentliche Problem und es wird auch als solches gesehen.
Nach Umfragen unterstützt etwa die Hälfte der Bevölkerung den Sozialismus. Die Tatsache, dass die Leute ein sozialistisches Projekt unterstützen, heißt natürlich nicht automatisch, dass sie auch wissen, was es genau bedeutet, beziehungsweise wie man damit umgeht. Ein Beispiel für die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis ist der Umgang mit Macht in den Kommunalen Räten. Dort kommen immer wieder alte Muster zu Tage und Leute werden ausgeschlossen, wenn sie politisch anderer Meinung sind. Es gibt auch immer noch viel Korruption, Klientelismus und viele andere Praktiken, die eine demokratische Partizipation verhindern. Die Regierung weiß um dieses Problem. Es wird viel davon geredet, eine sozialistische Ethik zu entwickeln, aber das Wie ist nicht sehr klar.

Wie ist es denn um die Diskussionen innerhalb der Linken bestellt? Hier hört man ja immer wieder, dass Leute mundtot gemacht und konträre Meinungen nicht akzeptiert werden.
Ich sehe das sehr differenziert. Es kommt auf jeden Fall vor, dass Leute mundtot gemacht werden, wenn sie sehr hart und kritisch gegenüber der Regierung oder der Partei sind. Andererseits gibt es auch sehr offene Diskussionen. Weder Regierung noch Partei sind monolithisch. Es gibt eine sehr aktive Debatte über die Zukunft Venezuelas innerhalb von Partei und Regierung, aber auch mit Leuten, die nicht Teil davon sind.

Wie äußert sich deren Beteiligung an Gesetzesvorhaben denn konkret, gibt es da Beispiele?
Ein gutes Beispiel dafür ist das neue Arbeitsgesetz, das am 1. Mai verabschiedet werden soll [Chávez hat das Gesetz am 30. April per Dekret verabschiedet, Anm. d. Red.]. Dort wird es Belegschaftsräte geben, was den Arbeiterinnen und Arbeitern aller Unternehmen, auch den privaten, einen erheblichen Beteiligungsspielraum geben wird. Zur Entwicklung des Gesetzes wurden viele, viele Diskussionen geführt und Tausende von Artikeln eingereicht. Andererseits – und das ist der Widerspruch – wird das Gesetz nun von Chávez und seinem innersten Kreis entschieden, weil es ihm zu lange dauert. So etwas passiert immer wieder: die basisdemokratischen Prozesse sind so langwierig und kompliziert, dass Chávez dann irgendwann ein Machtwort spricht und vorgibt, wie es weitergehen soll. Aber es ist offensichtlich, dass viel mehr Leute am politischen Prozess beteiligt sind. Nach Umfrage des Latinobarometro ist Venezuela heute das Land Lateinamerikas, in dem sich die meisten Leute für Politik interessieren und sich auch am meisten an ihr beteiligen.

Was für Parallelen und was für Unterschiede sehen Sie zu der Politik der linken Regierungen in Bolivien und Ecuador?
Ich glaube, Venezuela ist ganz anders. Zum einen hat das Land nicht so eine gut organisierte Zivilgesellschaft. Die sozialen Bewegungen in Venezuela sind schon immer sehr fragmentiert gewesen. Die einzigen, die ein Gegengewicht in der Gesellschaft darstellen, sind die Stadtteilorganisationen, aber die sind sehr klein, verstreut und unabhängig, ohne nationales Profil. Das ist ganz anders als in Ecuador oder Bolivien, wo es sehr starke soziale und vor allen Dingen indigene Bewegungen gibt.
Auf der anderen Seite, also auf der Regierungsseite gibt es auch große Unterschiede. Obwohl die Regierungen sowohl in Ecuador als auch in Bolivien sehr viel Spielraum haben, das heißt sehr viel machen könnten, ist bis jetzt nicht wirklich viel passiert. Dagegen hat die Regierung in Venezuela wichtige Unternehmen nationalisiert, die Kommunalen Räte etabliert und massive Sozialprogramme durchgeführt. Die Sozialausgaben in Venezuela haben sich in Verhältnis zum Bruttosozialprodukt mehr als verdoppelt. Es wird heute viel mehr Reichtum umverteilt als früher in Venezuela. Das hat es, glaube ich, in Ecuador und Bolivien noch nicht gegeben. Man wirft die drei Länder zwar immer wieder in einen Topf, aber das ist nicht stimmig.

Im Oktober wird in Venezuela gewählt – welches sind die Befürchtungen und die Hoffnungen in Bezug auf die Wahlen?
Bis jetzt war die ganze Wahlkampagne total überschattet von Chávez Krankheit. Ihm selbst hat das einen gewissen Vorteil gebracht und er hat Sympathiepunkte gewonnen. Der Oppositionskandidat Henrique Capriles Radonski, der aus einer der reichsten Familien Venezuelas stammt, hat dagegen im Moment einen schweren Stand. Und das obwohl er intelligent und ein guter Kommunikator ist und die Opposition vereinter auftritt denn je zuvor. Und obwohl seine Familie die größte private Zeitung des Landes besitzt, schafft er es mit seinen Inhalten nicht in die Medien – nicht mal in seine eigenen, da immer wieder die Krankheit von Chávez Thema ist. Deshalb bescheinigen ihm die Umfragen bis jetzt nur 30 Prozent der Stimmen im Vergleich zu Chávez mit 60 Prozent. Für Chávez‘ Popularität ist die Krankheit also von Vorteil, aber es ist durchaus möglich, dass er die Wahl nicht erlebt.

Wer wird denn überhaupt als Nachfolger von Chávez gehandelt? Wird das öffentlich diskutiert?
Unter Chávez-Anhängern wird das nicht öffentlich diskutiert, denn die Parole ist „Chávez ist unser Kandidat“. Natürlich zirkulieren hinter den Kulissen und auch in der Opposition verschiedene Namen: Die wichtigsten vier Kandidaten sind der Außenminister Nicolás Maduro, der Präsident der Nationalversammlung Diosdado Cabello, der Vizepräsident Elías Jaúa und vielleicht der Bruder von Chávez, Adán Chávez, der jetzt Gouverneur ist. Die größten Chancen haben wahrscheinlich Jaúa oder der Außenminister.
Aber wie gesagt, die beiden haben nicht die Ausstrahlung von Chávez. Und um die Wahlen zu gewinnen, bräuchten sie eine Organisation hinter sich, die sein Charisma ersetzen kann und die gibt es noch nicht. Es gibt schon die Vereinigte Sozialistische Partei von Venezuela, die Chávez vor ein paar Jahren gegründet hat, aber es ist noch kein richtiger Apparat, der seine Person ersetzen könnte.
Es steht auch nicht nur die Wahl auf dem Spiel, sondern auch der Zusammenhalt der Koalition, die Chávez unterstützt. Dass sich das Bündnis fragmentieren könnte, wird noch nicht so richtig diskutiert, aber für mich als Sozialwissenschaftler ist das ziemlich klar. So wie in Argentinien nach Perón.

Wenn Chávez oder einer seiner Vertreter_innen die Wahl gewinnen – was sind die größten Herausforderungen für die bolivarianische Revolution?
Es gibt praktische und es gibt theoretische Herausforderungen. Mit praktisch meine ich die größten sozialen Probleme, die bisher noch nicht in Angriff genommen, beziehungsweise gelöst werden konnten: die Kriminalität und die Wohnungsfrage. Zur Bekämpfung beider Probleme hat Chávez im letzten Jahr riesige Programme gestartet.
Und dann gibt es noch die abstrakteren Probleme. Zum einen muss die Bewegung unabhängiger von Chávez werden, egal, ob er stirbt oder nicht. Weiterhin muss sie eine klarere politische Richtung finden. Wie gesagt, Venezuela will einen partizipativen Sozialismus etablieren, aber es ist immer noch unklar, was das genau bedeutet und wie man dahin kommen soll. Das müsste noch klarer definiert werden und zwar zusammen mit der Bevölkerung.

Infokasten:

Gregory Wilpert
ist Politikprofessor am Brooklyn College und Autor des Buchs ,,Changing Venezuela by taking power“. Er gründete das englischsprachige Nachrichtenportal venezuelanalysis.com mit und war bis vor einem Jahr Projektkoordinator der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Venezuela.

Lernen vom Schüler

„Fast alltäglich waren apagones (Stromausfälle). Wenn der Kühlschrank ausfiel, brach ich die fetten Batzen gefrorenen Wassers aus dem Eisfach, bevor es meine Wohnung fluten konnte. Ich legte sie aufs Fensterbrett und sah zu, wie sich in der Januarhitze Tropfen um Tropfen aus der Masse löste, und wie sie die sechs Stockwerke weit nach unten fielen und auf das Dach der Druckerei platschten.“
Die tiefe Krise Argentiniens mit ihren täglichen Stromausfällen Anfang der 1990er Jahre, die Sebastian Schoepp während eines einjährigen Arbeitsaufenthaltes beim Argentinischen Tageblatt in Buenos Aires miterlebte, ist Ausgangspunkt seiner facettenreichen Beschreibung der aktuellen Entwicklungen in Lateinamerika. Diese fielen in den letzten zehn Jahren überraschend positiv aus, wenn man sie mit den letzten vierzig Jahre des vergangenen Jahrhunderts vergleicht: eine Zeit, die von Militärputschen, Diktaturen, einem „verlorenen Jahrzehnt“ und wiederkehrenden ökonomischen Krisen geprägt war.
„In fast allen Ländern etablieren sich innerhalb weniger Jahre Demokratien, die nicht mehr so leicht ins Wanken zu bringen sind wie ihre Vorläufer. Die Wahlen verlaufen in der Mehrzahl fair und frei. Ja, mehr noch: Manche Regierungschefs erreichen Zustimmungsraten, von denen europäische Politiker nur träumen können. Die Wirtschaft, jahrhundertelang das Hauptproblem Lateinamerikas, boomt nicht nur, sie zeigt sich sogar krisenresistenter als die Europas und Nordamerikas. Die Armut, zwar immer noch das drängendste Problem, wird durch Sozialprogramme signifikant verringert. Der Mittelstand wächst,“ so fasst es Schoepp in seiner Einleitung „Gute Nachrichten aus Lateinamerika“ zusammen. Seit 2005 ist er als außenpolitischer Redakteur der Süddeutschen Zeitung für Spanien und Lateinamerika zuständig.
Anschließend nimmt Schoepp seine Leser_innen mit auf eine Zeitreise durch Ecuador, Bolivien, Peru und Nicaragua vor 2002, in das Argentinien nach der Krise unter Néstor und Cristina Fernández de Kirchner (seit 2003), nach Bolivien, das Morales (seit 2006), und nach Brasilien, das Lula (2003 bis 2011) zum Präsidenten wählte. Seine Analysen der politischen, sozialen und ökonomischen Fakten bettet er ein in Reportagen von zahlreichen Reisen durch den Kontinent, hin und wieder ergänzt von kurzen Interviews, die er mit Schriftsteller_innen, Wissenschaftlern und Politikern führte.
Von Kapitel zu Kapitel entsteht so ein immer vielschichtigeres Bild eines Kontinents im Wandel, bei dem Schoepp kaum einen wichtigen Aspekt auslässt: die indigenen Bewegungen in den Andenländern und die Sozialprogramme Brasiliens, Extraktivismus und Neo-Extraktivismus, das mögliche Ende des Drogenkrieges und die Aufarbeitung der Militärdiktaturen, die Bedeutung der Schriftsteller_innen für den gesellschaftlichen Wandel und die wechselhaften Migrationsflüsse zwischen Europa und Lateinamerika. Besonders eindrücklich ist seine Beschreibung immer dann, wenn der Autor das Land und seine Verhältnisse sehr gut kennt und uns mit seinen Reportagen direkt in das Herz der jeweiligen Gesellschaft führen kann. Wirklich spannend ist auch das Kapitel „Heimkehr in die Fremde“ über Lateinamerikaner_innen in Barcelona, wo Schoepp ebenfalls ein Jahr verbrachte, und das sich der identitätsstiftenden Wirkung des Exils widmet. Auch die Exkurse des Autors in die Geschichte Lateinamerikas sind immer treffend, informativ und bereichern das jeweilige Thema, so erfahren wir zum Beispiel, wie das Erbe der Hidalgos mit dem Extraktivismus und dem Urteil gegen Chevron im Jahr 2011 zusammenhängt.
Doch die größte Stärke von Das Ende der Einsamkeit ist zugleich seine größte Schwäche. Denn in den Kapiteln, in denen die Reportagen die Leser_innen nicht auf eine spannende Reise mitnehmen, bleiben die Analysen recht oberflächlich und sehr auf die Regierungspolitik beschränkt. Schoepps Kapitel über Brasilien „Lula Superstar“ bezieht sich ganz auf diesen und seine Bedeutung für die internationale Politik.
Nicht nur, dass die starken sozialen Bewegungen in Brasilien praktisch nicht erwähnt werden, auch die Analyse der Erfolge Lulas greift zu kurz. Dass wichtige politische Ziele der Regierungspartei PT – wie die Landreform oder der Schutz der indigenen Gebiete – nicht eingelöst wurden, ist nicht nur eine Randnotiz einer ansonsten erfolgreichen Entwicklungsstrategie. Die fehlende Veränderung grundlegender gesellschaftlicher Strukturen – wie die Verteilung des Landbesitzes – birgt die Gefahr, dass die Politik der 1980er und 1990er Jahren von denselben Eliten fortgesetzt werden kann, sobald es ihnen gelungen ist, wieder die Führung des Staates zu übernehmen.
Das Kapitel über Venezuela – das sich über weite Strecken um eine differenzierte Darstellung bemüht und sogar Kritik an der Form der deutschen und internationalen Berichterstattung über Chávez übt – mündet überraschend in eine vernichtende und pauschale Kritik am venezolanischen Präsidenten. „Seine Kollegen in den Nachbarländern denken gar nicht daran, den nebulösen Weg der ’bolivarischen Revolution’ mitzugehen. Sie wissen, dass Chávez’ System in der Praxis nichts anderes ist als der auf Klientelismus basierende Ansatz eines lückenhaften Staatskapitalismus.“ Erstaunlicherweise schließt Schoepp dieses Kapitel dann mit der Feststellung „Trotzdem wäre das ‚neue Lateinamerika’ – vor allem die Umwälzungen in Ecuador oder Bolivien – ohne seine kantigen Reden und seine Petrodollars nicht denkbar gewesen.“
Das Ende der Einsamkeit, dessen Titel ebenso auf den Roman Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez wie auf Das Labyrinth der Einsamkeit von Octavio Paz verweist, endet mit einem optimistischen Ausblick: Ausgerechnet aus Kolumbien kommt in einer der schönsten Reportagen eine weitere gute Nachricht aus Lateinamerika. Fast schade, dass dieses Buch nicht ein Jahr später erschienen ist. Hätte doch Schoepp seine These, dass die Welt von Lateinamerika lernen kann, im Jahr des arabischen Frühlings, der Besetzungen in Spanien und der Griechenlandkrise besonders gut an der Realität überprüfen können.

Sebastian Schoepp // Das Ende der Einsamkeit. Was die Welt von Lateinamerika lernen kann // Westend Verlag // München 2012 // 288 Seiten // 17,99 Euro

Fragwürdiger Fortschritt

Am 14. und 15. Februar ging die Polizei gewaltsam gegen die Bewohner_innen der Gemeinden Paicol und Gigante vor, obwohl deren Proteste friedlich geblieben waren. Nach Ablauf eines Ultimatums zur freiwilligen Räumung vertrieb die Polizei etwa 400 Personen – darunter auch schwangere Frauen und Kinder – mit Tränengasgranaten vom Flussufer. Dabei wurden mehrere Bewohner_innen verletzt, ein Bauer verlor durch das Tränengas sein rechtes Augenlicht. Der Erzbischof der Region, Jaime Tovar, sprach im Anschluss von einem „brutalen Angriff gegen unsere Bauern und unsere Fischer“. Er sei „verwundert, dass in einem Land, das sich demokratisch und rechtsstaatlich nennt, so etwas geschehen kann.“
Über drei Jahre dauert nun schon die Auseinandersetzung um das Projekt für das Wasserkraftwerk El Quimbo, doch mit der Räumung im Februar erreichte sie eine neue Qualität. Im Mai 2009 erteilte die damalige Regierung unter Álvaro Uribe Vélez dem Energieunternehmen EMGESA die Konzession zur Errichtung eines Wasserkraftwerkes am Oberlauf des Rio Magdalena, Kolumbiens längstem und bedeutendstem Fluss.
EMGESA ist ein Tochterunternehmen des privaten spanisch-italienischen Energiekonsortiums ENDESA. Die Firma mit Sitz in Madrid ist der größte private Energieversorger Lateinamerikas. Wird das Projekt umgesetzt, wird El Quimbo das erste private Wasserkraftwerk in Kolumbien. Das Land deckt dank seiner vielen Flüsse rund zwei Drittel der Energieversorgung mit Wasserkraft. Das 900 Millionen Dollar schwere Megaprojekt soll bis 2014 fertig gestellt werden und von da an für einen Zeitraum von 20 Jahren Energie liefern. Ein Teil des produzierten Stroms soll außerdem nach Ecuador, Zentralamerika und in die Karibik exportiert werden.
Doch der Preis für den Eingriff in die Umwelt ist hoch: Durch die Stauung des Magdalena-Flusses wird eine Fläche von 8.500 Hektar vollständig geflutet. Etwa 2.000 Personen müssen deswegen ihre Häuser verlassen, tausende weitere werden ihrer Lebensgrundlage beraubt. Viele von ihnen leben vom Fischfang und vom Ackerbau. Über 5.000 Hektar des Gebietes sind fruchtbares Kulturland, auf dem mehrere genossenschaftlich wirtschaftende Betriebe Nahrungsmittel im Wert von dreizehn Millionen Euro jährlich produzieren. Zudem ist schwer einzuschätzen, wie stark das artenreiche Ökosystem in Mitleidenschaft gezogen wird. Die auch als Macizo Colombiano bekannte Region ist das mit Abstand bedeutendste Wasserreservoir des Landes: Die größten Flüsse wie der Rio Cauca, der Rio Putumayo, der Rio Caquéta und eben der Rio Magdalena haben hier ihren Ursprung. Die Umgebung um El Quimbo ist zudem reich an archäologischen Ausgrabungsstätten präkolumbischer Kulturen. Auch wenn verschiedene Artefakte während der Arbeiten sichergestellt werden konnten, würden die Wassermassen dutzende weiterer Ausgrabungsstätten unter sich begraben.
Dass die Konzessionen für das Projekt 2009 dennoch vergeben werden konnten, ist nicht zuletzt auf die Unterstützung des ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe Vélez und die zuständigen Ministerien zurückzuführen. Nach Angaben des Universitätsprofessors und Wortführers des Protests gegen El Quimbo, Miller Dussán, hat der Präsident das Instituto Nacional de Antropología e Historia beispielsweise dazu gedrängt, die Überflutung der Ausgrabungsstätten ohne weitere wissenschaftliche Untersuchungen für unbedenklich zu erklären. Sehr fragwürdig ist auch die Zustimmung des Umweltministeriums, welches dasselbe Projekt noch 1997 unter Verweis auf die ökologischen Schäden und die Vernichtung des ertragreichen Ackerlandes untersagt hatte. EMGESA verpflichtet sich zwar in dem Vertrag zu kompensatorischen Maßnahmen: Neben der Umsiedlung der Bewohner_innen, Entschädigung für Häuser und Ländereien und einer vermeintlichen Einkommenssicherheit verspricht das Unternehmen die Aufforstung von 7.500 Hektar Wald in einem Naturschutzgebiet. Zynisch klingt dagegen der Vorschlag, den Stausee mit Häfen und einer Fähre zu versehen, um das touristische Potenzial der Region nach dessen Fertigstellung zu erschließen. EMGESA kauft daher Land in großen Stil auf. Über 7.000 Hektar Ländereien sollen bereits in den Besitz der Firma übergegangen sein. Da das Gebiet von der Regierung kurzerhand als gemeinwohlrelevant deklariert wurde, können sich die Bewohner_innen gegen den Aufkauf ihrer Ländereien kaum legal zur Wehr setzen.
Rechtmäßig ist der bisherige Verlauf der Projektumsetzung nicht. EMGESA zeigte von Beginn an, dass man es mit den rechtlichen Vorgaben nicht sehr genau nimmt. So begann die Firma beispielsweise mit den Bauarbeiten bevor alle Auflagen erfüllt waren. Auch während der Arbeiten kam es zu Ungereimtheiten. In einer Anhörung des Senatsausschusses brachte es der Senator des linksalternativen demokratischen Pols, Jorge Robledo, mit der Aussage auf den Punkt, dass „die Lage bei El Quimbo unsere Befürchtungen sogar noch übertroffen hat“. Eine Untersuchung der Umweltorganisation International Rivers belegt die „Nichtbeachtung von Umweltstandards und rechtlichen Verfahren“ durch EMGESA. Das Unternehmen hingegen verweist unermüdlich auf die Unterstützung durch das Umweltministerium.
Die betroffene Bevölkerung hatte früh durchschaut, was mit El Quimbo auf sie und ihre Region zukommen würde. Weit mussten sie nicht gehen, um ein vergleichbares Negativbeispiel zu finden: Nur wenige Flusskilometer stromabwärts befindet sich ein weiteres Wasserkraftwerk am 70 Quadratkilometer großen Stausee Betania. Dieses Großprojekt hat nach der Meinung von Erzbischof Jaime Tovar „unsere Region vernichtet“. Die Furcht, dass sich so etwas wiederholen könnte, hatten sicher auch die Gründer_innen der Gegeninitiative Asoquimbo vor Augen. Nachdem sie 2007 den ersten Dialogveranstaltungen von EMGESA mit den Bewohner_innen der Region beiwohnten und die angebotene Partizipation als Farce entlarvten, begannen sie sich zu organisieren. 2009 folgten Proteste in der Department-Hauptstadt Neiva, im Januar dieses Jahres die Blockade einer Überlandstraße. Dadurch erwirkten die Demonstrant_innen für kurze Zeit eine Dialogbereitschaft des Umweltministeriums. Doch aus dem Dialog folgte wenig. So blieb den Bewohner_innen nichts, als ihren Protests fortzuführen.
Asoquimbo hat bereits zwei Grundrechtsklagen gegen das Infrastrukturprojekt eingelegt. In ihrer Argumentation stützen sie sich auf einen Gesetzesartikel aus dem Jahre 2008, nach dem die Flussufer zu öffentlichem Gut deklariert wurden und damit als unveräußerbar gelten. Doch aufgrund der massiven Unterstützung der Regierung für El Quimbo ist die Aussicht auf Erfolg des Widerstands eher gering, zumal die Bauarbeiten bereits angelaufen sind. Völlig wirkungslos waren die Proteste dennoch nicht: Immerhin musste die Umleitung des Rio Magdalena deswegen um 20 Tage verschoben werden und soll nun am 6. März erfolgen.
Die Protestierenden legen zudem einen Alternative vor: „Kleinbäuerliche Nahrungs- und Landwirtschaftsreserve“ nennen sie ihr Konzept. Es handelt sich um einen eigenständigen Entwicklungsplan für die Region, der unter Einbeziehung der Bewohner_innen und unter Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse eine schonende, ökologisch-soziale Entwicklung favorisiert. Doch die Zeichen in Bogotá und anderswo deuten in eine andere Richtung. Schließlich erklärte Präsident Santos den Minen- und Energiesektor zur „Lokomotive“ der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Ausländischen Unternehmen sollen gute Rahmenbedingungen geboten werden, damit Investitionen in Kolumbien attraktiver werden. Während andere Länder des Kontinents dazu übergehen, den extraktiven Unternehmen einen größeren Anteil ihrer Gewinne zu entlocken, beschreitet Kolumbien den umgekehrten Weg: Nach Angaben des Senators Robledo sind die Abgaben der Unternehmen auf geförderte Rohstoffe zwischen 2002 und 2011 von 20 auf 13,69 Prozent gesunken. Diese Tendenzen entsprechen den Entwicklungs-Leitlinien der Eliten des Landes. Wirtschaftswachstum und Investitionssicherheit sind deren zentrale Interessen. Angesichts der Tatsache, dass die Mordrate von Gewerkschafter_innen in Kolumbien zu den höchsten weltweit zählt, erscheint eine Forderung nach besseren wirtschaftlichen Investitionsbedingungen grotesk.
Die Region um den Macizo Colombiano gerät dabei zunehmend ins Blickfeld. Neben ihrer Rolle als nationale Wasserscheide sind dort auch erhebliche Gold- und Kohlevorkommen zu finden, welche die Aufmerksamkeit der multinationalen Firmen auf sich ziehen. Der Rio Magdalena soll auch jenseits von El Quimbo seiner ursprünglichen Bedeutung als wirtschaftliche Hauptschlagader Kolumbiens wieder angenähert werden: 2010 unterzeichnete die kolumbianische Regierung ein Abkommen mit der Firma Hydrochina über sechs Millionen Dollar, deren Löwenanteil die chinesische Regierung finanziert. Hydrochina soll in den folgenden Jahren den „Masterplan zur Nutzung des Rio Magdalena“ ausarbeiten und das Potenzial des Flusses hinsichtlich Schiffbarkeit, Ackerbau, Fischzucht und Energiegewinnung untersuchen. Weitere Proteste sind vorprogrammiert.
Europa indes scheint blind für die regionalen Verwerfungen in Kolumbien. Am 12. April 2011 stellte der spanische Europaparlaments-Abgeordnete Raül Romeva i Rueda eine schriftliche Anfrage zu El Quimbo. Er wies darin auf die ökologischen und sozialen Folgen sowie auf den Widerstand gegen das Wasserkraftwerk hin und bat die Europäische Kommission um eine Stellungnahme. In ihrer Antwort erklärte diese, dass sie über das Projekt, welches im Einklang mit der kolumbianischen Gesetzgebung stehe, informiert sei. Die entsprechende Genehmigung sei nach einer Umweltverträglichkeitsprüfung erfolgt und es seien kompensatorische Maßnahmen seitens EMGESA vorgesehen. Weiter ist zu lesen, dass die Kommission auch um den Widerstand der Bewohner_innen gegen das Projekt weiß. Sie plädiere daher abschließend für ein Gleichgewicht zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung, den Umwelteinwirkungen und den sozialen Folgekosten von El Quimbo. Die Waage hat sich indessen eindeutig zugunsten des wirtschaftlichen Fortschritts geneigt. Von einem Gleichgewicht kann in Wirklichkeit keine Rede sein.

Unterschriften gegen das Stauseeprojekt El Quimbo können online abgegeben werden unter: http://www.regenwald.org/aktion/849?mt=1303

„Vergeben, aber kein Vergessen“

Dass juristische Verfahren gegen oligarchische Medien in Ecuador Aussicht auf Erfolg haben, ist neu. „Es hat sich gezeigt, dass der medialen Macht der Prozess gemacht werden kann“, heißt es in einer Erklärung des ecuadorianischen Präsidenten Rafael Correa von Ende Februar. Nachdem sich Correa mit dem Politbüro seiner Partei Alianza País, Freunden und seiner Familie beraten hatte, gab er in dem Statement zudem großzügig bekannt, denen „zu vergeben, die es eigentlich nicht verdienen“. Correa ist mit der juristischen Feststellung, dass er verleumdet wurde, zufrieden und begnadigte die drei Herausgeber und einen Kolumnisten der oppositionellen Zeitung El Universo am 27. Februar. Auch gegen die beiden zu Geldstrafen verurteilten Autoren des Buches Der große Bruder ließ Correa Gnade walten und verzichtet auf Vollstreckung.
Der größte Rechtsstreit bezieht sich auf den 30. September 2010, als der Staatschef bei einem Putschversuch von desertierten Polizei- und Militäreinheiten angegriffen, festgehalten und mit dem Tode bedroht wurde. Mehrfach erging über Polizeifunk die Aufforderung, den Präsidenten umzubringen. Auf mit Correa sympathisierende Demonstrant_innen und die Spezialeinheit, die zu seiner Befreiung eingesetzt war, wurde scharf geschossen. Mindestens fünf Todesopfer durch Kugeln der Putschist_innen waren zu beklagen.
Den Ereignissen des 30. September 2010 widmete einer der lautesten Streithähne der oligarchischen Presse, der Redakteur Emilio Palacio, im Februar 2011 einen Kommentar. Der erschien in der Zeitung El Universo mit dem Titel „Keine Lügen mehr“. Darin bezeichnet er Correa nicht nur als „Diktator“, sondern wirft ihm auch „Verbrechen gegen die Menschheit“ vor. Correa habe das Gefecht provoziert, den Putschversuch inszeniert und Todesopfer billigend in Kauf genommen, so Palacio. Demgegenüber berichteten Beobachter_innen von einer aufgeheizten Stimmung, die private Medien unmittelbar vor dem Putschversuch erzeugt hatten; sie waren über die Pläne anscheinend informiert. Der Staatschef erstattete Anzeige wegen Verleumdung.
Palacio sowie die Herausgeber der größten ecuadorianischen Tageszeitung, als Verantwortliche für deren Veröffentlichung, wurden mehrmals aufgefordert, die Vorwürfe zurückzunehmen, sich dafür zu entschuldigen und eine Richtigstellung abzudrucken. Darauf ließen sich weder Palacio noch die Direktoren von El Universo, die drei Brüder Carlos, César und Nicolás Pérez ein. Es schien fast so, als wollten sie verurteilt werden und den Skandal um eine von ihnen unterstellte „Einschränkung der Redefreiheit“ möglichst groß erscheinen lassen.
Am 20. Juli 2011 wurden sie zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Zusätzlich sollten sie insgesamt 40 Millionen US-Dollar Schadensersatz zahlen. Die Angeklagten gingen bis zum Obersten Gerichtshof. Doch der bestätigte das Urteil im Falle Palacios am 28. Dezember letzten Jahres und im Falle der Brüder Pérez am 16. Februar dieses Jahres. „Das Urteil zeigt, dass die Pressefreiheit nicht nur für diejenigen ist, die es sich leisten können, sondern für alle“, verlautbarte Correa und ergänzte, dass er den Prozess nicht wollte, sondern es lieber gehabt hätte, wenn El Universo sich korrigiert hätte.
Palacio war direkt nach dem ersten Richter_innenspruch im August nach Miami gereist, von wo aus er den Prozess verfolgte. Stunden nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofs begab sich auch einer der Herausgeber, Carlos Pérez, in die panamaische Botschaft und beantragte Asyl. Dieses wurde zunächst gewährt, nach der Rücknahme der Strafe aber wieder aufgehoben.
In einem weiteren Gerichtsverfahren wurden am 7. Februar 2012 die beiden Autoren des Buches Der große Bruder (erschienen 2010), Juan Carlos Calderón und Christian Zurita, zur Zahlung von jeweils einer Million US-Dollar Entschädigung an Rafael Correa verurteilt. Im Buch beschuldigten sie den Präsidenten, von der unrechtmäßigen Vergabe staatlicher Aufträge an die Firma seines jüngeren Bruders Fabricio Correa gewusst zu haben. Auch Calderón und Zurita bot das Staatsoberhaupt mehrmals an, die Anschuldigungen zurückzunehmen, damit er die Anzeige fallen lassen könne. Dem kamen die Autoren nicht nach. Die zuständige Richterin bestätigte, dass die Autoren nicht genügend Beweise hätten, um so eine Behauptung aufzustellen. Sie folgte damit Correas Argumentation, dass er als Person und Bürger „moralischen Schaden“ erlitten habe.
Die Prozesse wurden unter großer nationaler und internationaler medialer Aufmerksamkeit geführt. Das Thema ist delikat und dreht sich um die Definition der Pressefreiheit. In einem Kommentar der Washington Post vom 12. Januar wurde der Vorwurf erhoben, in Ecuador würden Journalist_innen verfolgt und die Autoren von Der große Bruder wären wegen der Dokumentation der staatlichen Verträge mit Fabricio Correa verurteilt worden. Dem widersprach Präsident Correa in einer ausführlichen Stellungnahme: „Was die Washington Post nicht schreibt, ist, dass die Autoren zufällig Journalisten sind, die aber wegen der Behauptung verurteilt wurden, der Präsident habe davon gewusst.“ Ecuadors Außenminister Ricardo Patiño sieht die ecuadorianische Regierung als Ziel einer internationalen Medienkampagne, weil ihre Reformen griffen, sie Auslandsschulden reduziere und sich die Kräfteverhältnisse veränderten.
Immer wieder springen die Lateinamerikanische Pressegesellschaft (SIP), Human Rights Watch oder Reporter ohne Grenzen im Namen der Meinungsfreiheit den Medienoligarch_innen bei. Aber selbst Reporter ohne Grenzen riet jüngst mit Bezug zum Fall El Universo, mit Beleidigungen und Bezeichnungen wie „Diktator“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nicht leichtfertig umzugehen.
Palacio und die Brüder Pérez hatten angekündigt, vor den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof zu ziehen. Dieser hatte vorbeugend gefordert, die Strafe gegen El Universo zurückzunehmen. Nach der Aussetzung der Strafe erklärte die Ex-Präsidentin der Institution allerdings, die Befugnisse seien von El Universo überschritten worden. Schließlich habe Correa das Recht, seine Persönlichkeitsrechte zu verteidigen. Maßnahmen sind nun hinfällig. „Hoffen wir, dass die Verurteilten aufhören, sich als Opfer darzustellen“, sagte Correa.
Durch die Entscheidung, die Strafe nicht vollziehen zu lassen, scheint sich der Präsident als gütiger Katholik darstellen und sein Ansehen im internationalen Umfeld aufbessern zu wollen. Innenpolitisch findet die Entscheidung sicher Zustimmung bei moderaten Kräften, kann aber auch als Befriedung vor der Präsidentschaftswahl 2013 gelten: Laufend kommt es zu heftigen Gefechten zwischen Correa und den privaten Medien, die er als „korrupt“ bezeichnet. In einem 2011 veröffentlichten Essayband sieht der Journalist und Kommunikationswissenschaftler Gustavo Abad in Ecuador einen Fight Club, in dem die politische gegen die mediale Macht im Ring steht. Viel zu kurz bei diesen Debatten kommt die Demokratisierung der und das Recht auf Kommunikation, das auch in Ecuador wesentlich durch unabhängige, nicht profitorientierte Organisationen getragen werden muss. Im Wesentlichen betrifft dies kommunitäre Medien, die mithilfe eines Kommunikationsgesetzes Förderung erhalten sollen, damit sie in Zukunft neben privaten und staatlichen Medien einen Anteil von mindestens einem Drittel ausmachen werden.
Die größten Medien Ecuadors befinden sich im Besitz weniger einflussreicher Familien, wie der Familie Pérez, die mit diesen Mitteln ihre liberalen oder konservativen Interessen vertreten und durchsetzen. Bereits in der Verfassunggebenden Versammlung wurden private Medien häufig kritisiert, die ohne Rücksicht auf Wahrhaftigkeit und Persönlichkeitsrechte die politischen Gegner_innen niederschrieben. Mit der Verfassung von 2008 wurde ein neues Kommunikationsgesetz auf den Plan gerufen, das den gesamten Medienbereich umstrukturieren und klare rechtliche Regelungen zu verbotenen Inhalten und deren Sanktionierung festlegen soll. Darunter fallen Jugendschutz, Gewaltverherrlichung, rassistische, sexistische und andere diskriminierende Inhalte. Seit dem Referendum im Mai 2011 ist auch klar: Erstellt und überprüft werden die Richtlinien durch einen Regulationsrat. Erst im November letzten Jahres hat das Parlament die zweite und abschließende Lesung durchgeführt. Die Zustimmung einiger Mitglieder_innen der Regierungsfraktion und anderer Fraktionen wie der indigenen Partei Pachakutik sind nach wie vor nicht sicher. Die Abstimmung wird in diesem Jahr erwartet.
„Wir müssen aus der Gegenwart und aus der Geschichte lernen, für eine echte soziale Kommunikation kämpfen, in der private Geschäfte die Ausnahme sind, nicht die Regel; wo die Redefreiheit ein Recht aller ist und nicht das privilegierter Oligarchen, die eine Druckerei erben und sie auf den Namen von Scheinfirmen auf den Cayman-Inseln anmelden“, schrieb Correa mit Verweis auf das Medienunternehmen El Universo in einem offenen Brief an den Obersten Gerichtshof. Von Angriffen auf die Pressefreiheit zu sprechen, ist nach dem Ausgang der Verfahren auf alle Fälle schwieriger geworden.

Zeitgewinn für die Rettung des Regenwalds

Was halten Sie von der Erfolgsmeldung von Baki, dass die als erstes Etappenziel von der ecuadorianischen Regierung geforderten 100 Millionen Dollar eingegangen sind, obwohl der Treuhandfond nur 2,5 Millionen enthält?

Es wurden zum einen die Beiträge nicht konkretisiert und zum anderen solche genannt, die gar im Widerspruch zur Yasuní-Initiative stehen. Das ist beispielsweise bei den Mitteln der deutschen Regierung der Fall, die für das REDD-Programm gedacht sind. Es gilt zu bedenken, dass die Yasuní-Initiative als Kritik an und Kontrapunkt zu REDD entstanden ist, dass sie sich allein auf das Öl bezieht und nicht auf die Strategien von REDD, die innerhalb und außerhalb des Landes in Frage gestellt werden.

Wie beurteilen Sie die Haltung der deutschen Regierung, die sich letztlich nicht an die Zusagen von 2008, das Projekt zu unterstützen, hält?

Die Position der Mehrheit im Parlament und in der Gesellschaft war, die Initiative zu unterstützen, weil sie für innovativ gehalten wurde – mit wichtigen, positiven Effekten für die Menschenrechte der indigenen Völker, die Biodiversität und das Weltklima. Leider hat der zuständige Minister (des BMZ Dirk Niebel, Anm. der Red.) sich dieser Position nicht angenommen und die Initiative disqualifiziert. Die konservativsten deutschen Kreise ziehen es vor, in Programme wie REDD zu „investieren“ statt Verantwortung gegenüber der globalen ökologischen Krise zu übernehmen. Die deutsche Gesellschaft und die politischen Parteien sollten analysieren, wie sie da vorgehen wollen.

Warum fiel bisher die Unterstützung der Weltgemeinschaft, insbesondere des reichen Nordens, für das Projekt so gering aus?

Allgemein gab es schon eine große Hilfe für die Initiative, nur haben sich die erhofften Beiträge aus einer Reihe von Gründen nicht konkretisiert: Fehlen von Klarheit und Garantien bezüglich des Vorgehens, Fehlen von Glaubwürdigkeit in die Ernsthaftigkeit des ecuadorianischen Vorschlags, Druck in den Länder durch die Sektoren, die ein Interesse am weiteren Bestehen des extraktivistischen Modells haben. Die Strategie, um Mittel aufzutreiben, hat nicht gewirkt, wohl aber die Verbreitung der Initiative. Millionen von Menschen wissen nun, dass Yasuní existiert, dass es eins der letzten Paradiese dieser Erde ist, dass dort indigene Völker leben und vor allem, dass all dies durch die Erdölförderung bedroht wird.

Ist die Verlängerung des Moratoriums ein Mittel, die Initiative am Leben zu erhalten oder nur Wahlkampfstrategie?

Die große Unterstützung der Bürger in Ecuador für die Initiative ist ohne Zweifel ein sensibles Thema für den Wahlkampf. Das Öl zu fördern, wie es der Präsident angekündigt hat, hätte einen hohen politischen Preis.

Alternativen waren bisher, dass Öl im Boden zu lassen, also Plan A, oder die drei Quellen auszubeuten, also Plan B, wenn die entsprechende finanzielle Unterstützung der Weltgemeinschaft nicht zustande kommt. Nun brachte Baki in einem Interview mit der spanischen Zeitung El Pais den sogenannten Plan C ins Spiel. Um welche neue Option handelt es sich dabei?

Darüber gibt es keine Klarheit. Sie hat davon gesprochen, nur eine oder zwei Quellen auszubeuten und dafür die Grenzen des Naturparks zu ändern. Auf jeden Fall ein Vorschlag, um die Initiative zu begraben, denn die sieht ja vor, dieses Öl nicht zu fördern.

Welche Chance hätte ein Referendum, um so die Initiative umzusetzen?

Genau an diesem Szenario arbeiten die sozialen Bewegungen. Eine Volksbefragung könnte durch den Präsidenten, die Nationalversammlung oder von der Gesellschaft, das heißt über 600.000 Unterschriften einberufen werden.

Kasten: Esperanza Martínez

ist Mitbegründerin der größten Umweltorganisation Ecuadors Acción Ecológica, Mitglied von Oil Watch Ecuador und Ex-Beraterin des nationalen Energie- und Bergbauministeriums

Priorität hat das Leben, nicht der Markt

Lateinamerika arbeitet an einer neuen Finanzarchitektur. Können Sie die Grundidee beschreiben?

Die neue Finanzarchitektur hat drei fundamentale Ziele. Zum ersten eine neue Beziehung zwischen der Ökonomie des öffentlichen Sektors, der der großkapitalistischen Privatwirtschaft und der des Klein- und Mittelstandes wie kleinere Unternehmen, Kooperativen, Bauern, Selbstversorger, um den Zusammenhang zwischen Produktion und Konsum wieder herzustellen, ausgehend von den Rechten und Bedürfnissen der Menschen. Das zweite Ziel ist, das Verhältnis zwischen Finanzierung und Produktion generell zu verändern, sowohl im Großen als im Kleinen, bei den Kapitalisten und den Nicht-Kapitalisten. Und das Dritte ist, einen effektiven Raum für Verhandlungen im Rahmen der Internationalen Arbeitsteilung zu schaffen, um die beiden ersten Punkte umzusetzen. Darin muss die Rolle der peripheren Staaten neu bestimmt und aufgewertet werden.

Mit welchen Institutionen wollen Sie diese Ziele erreichen?

Für eine neue Finanzarchitektur bedarf es mindestens dreier Pfeiler. Der erste ist ein neuer Typ einer Entwicklungsbank, was die Bank des Südens darstellen soll – eine neue Bank für eine neue Form der Entwicklung. Der zweite ist, einen unabhängigen, souveränen monetären Raum zu schaffen. Dafür haben wir das Sistema Unitario de Compensación Regional (SUCRE) geschaffen, ein System zur regionalen Handelsabwicklung auf Basis der neuen Währung Sucre. Der Unterschied zur europäischen Konstruktion mit dem Euro ist sehr klar: Anstatt auf dem Währungsaltar die Entwicklungsförderungs- Sozial, Steuerpolitik und anderes zu opfern, soll der Sucre einen Prozess der Vertiefung der Integration vorantreiben. Der Sucre ist eine Art wechselseitige Kreditkarte zwischen den Zentralbanken, die die Dollarnutzung zwischen unseren Ländern vermeidet und so die Dollarisierung und damit die Abhängigkeit vom Dollar in Lateinamerika abbaut. Der dritte Pfeiler ist, ein finanzielles Sicherungsnetz zwischen den Zentralbanken aufzuspannen, einen Fonds des Südens, der die Devisenreserven zusammenfasst und verwaltet und mit dem sich die Staaten gemeinsam gegen die Turbulenzen der internationalen Finanzmärkte zur Wehr setzen können.

Welche Kapazität räumen Sie der Bank des Südens ein, um zu investieren und die Wirtschaft und die Gesellschaft langfristig zu transformieren?

Innerhalb der neuen Finanzarchitektur kommt der Bank des Südens eine bedeutende Rolle zu. Sie ist zwar kein Allheilmittel, aber die Voraussetzung, um die Transformation der Gesellschaft voranzutreiben. Vor allem, weil sie die Rolle der existierenden Entwicklungsbanken verändert. Sie wird zwar nicht alle existierenden Entwicklungsbanken und -institutionen ersetzen, aber sie wird neue Praktiken einführen. Sie wird das Potenzial des Gebrauchs der nationalen Währungen und der Gemeinschaftswährung Sucre erhöhen, indem sie einen souveränen Kreditschöpfungsspielraum schafft.

Können Sie das mit einem Beispiel illustrieren?

Gerne. Ecuador bittet um einen Kredit, und eine Tranche des Kredits käme in Dollar, nur vorgesehen für den Fall, dass Maschinenimporte aus dem Norden notwendig sind; ein anderer Teil kommt in brasilianischen Reais für Importe anderer Waren aus Brasilien und die Beauftragung brasilianischer Unternehmen. Und wieder ein anderer Teil kommt in argentinischen, bolivianischen, uruguayischen Peso, und so weiter.

Und worin besteht die Entwicklungsbank neuen Typs?

Die besteht darin, dass die Bank des Südens über die Prioritäten des Marktes und der Preissignale eigene Prioritäten bei der Kreditvergabe setzt. Der Weltmarkt und die von ihm ausgehenden Signale werden von den transnationalen Unternehmen und den Oligopolen beherrscht. Die Signale, die von der Krise ausgehen, sind destruktiv. Dem setzen wir eine Kreditvergabe entgegen, bei der die Grundbedürfnisbefriedigung der Menschen eine große Rolle spielt. Ein Vorschlag für strategische Richtlinien wird derzeit erarbeitet, nach den Prioritäten, wie sie die lateinamerikanischen Staatschefs benannt haben: Das Leben an die erste Stelle zu setzen, und nicht, was der Markt aus Eigeninteresse vorschreibt. Das umfasst das Konzept der kontinentalen Souveränität bei der Ernährungssicherheit, bei der Gesundheit, der Energie, der Wissensproduktion, den Rohstoffen sowie die Transformation der kontinentalen Infrastruktur in eine, die nicht nur dem Export von Rohstoffen unter Wert dient, sondern insbesondere dem Aufbau und der Vertiefung regionaler und lokaler Märkte. Schließlich geht es darum, Finanz- und andere Instrumente zu schaffen, mit denen den Notwendigkeiten der heterogenen Volkswirtschaften Rechnung getragen wird, insbesondere dem Klein- und Mittelstand, der nach einer anderer Logik als der des Großkapitalismus funktioniert und bisher bei der Kreditzuteilung benachteiligt wurde. Diese Elemente verwandeln sich in die Grundlage für Prozesse der Herausbildung der neuen Beziehung zwischen den verschiedenen ökonomischen Sektoren in den einzelnen Volkswirtschaften. Gleichzeitig erlauben sie, die lateinamerikanische Integration zu vertiefen.

Der Wirtschaftsgigant Lateinamerikas, Brasilien, hat die Quito-Gründungsdeklaration von 2007, mit der die neue Finanzarchitektur auf den Weg gebracht wurde, immer noch nicht ratifiziert. Brasilien verfügt mit der BNDES über eine eigene Entwicklungsbank, die allein 2010 für umgerechnet 96 Milliarden Dollar Kredite vergeben hat. Hat Brasilien überhaupt Interesse an der Bank des Südens und der neuen Finanzarchitektur?

Es ist unbestreitbar, dass es Sektoren gibt, vor allem in Brasilien, die die Idee der Bank des Südens nicht verstehen und Widerstand dagegen leisten. In Wirklichkeit ist die BNDES ein Beispiel für den neuen Typ Entwicklungsbank, den wir schaffen wollen. Nur dass es bei der Bank des Südens nicht um eine nationalstaatliche Entwicklungsbank wie bei der BNDES geht, sondern offensichtlich um die Idee einer regionalen Entwicklungsbank, die einen Raum der Integration von Bruderländern schaffen und die strukturellen Asymmetrien abbauen soll wie zum Beispiel Handelsungleichgewichte. Wir müssen die BNDES wie alle anderen existierenden Entwicklungsbanken und Finanzinstitutionen der alten Finanzarchitektur neu ausrichten, damit sie die Interessen des Südens wahrnehmen.

Spielt Brasilien da mit oder verfolgt Brasília einen eigenen Weg?

Die Präsidenten Lula da Silva als auch seine Nachfolgerin, Dilma Rousseff, haben sich eindeutig für die neue Finanzarchitektur ausgesprochen. Sie sind nicht das Problem. Es gibt allerdings einen Teil der Opposition in Brasilien, der einfach noch nicht verstanden hat, worum es bei der neuen Finanzarchitektur geht und dass die auch Brasilien zupass käme. Das gilt auch für einen Teil der Technokraten, die die Verhandlungen über den Aufbau der neuen Finanzarchitektur führen, aber der alten Finanzarchitektur verhaftet sind, zum Beispiel der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID), dem Internationalen Währungsfonds, der Weltbank etc., und die die neue Vision noch nicht teilen. Wir brauchen Institutionen, die es den Regierungen des Südens ermöglichen, sich souverän den Interessen ihrer Bevölkerung zu verpflichten und mit diesem Mandat gegenüber den internationalen Banken und Finanzinstitutionen aufzutreten, statt sich wie in der Vergangenheit den Vorgaben der internationalen Institutionen zu unterwerfen.

Was haben diese Institutionen in der Vergangenheit falsch gemacht?

Sie haben definiert, was die Prioritäten sind, sie haben definiert, was Entwicklung ist. Lehrreich ist das Beispiel der BID, die ein Fünftel ihres Kapitals in spekulativen Investitionen in den USA verloren hat. Die Frage stellt sich klar: Warum verstrickt sich eine Entwicklungsbank für Lateinamerika in spekulative Geschäfte, wo es doch offensichtlich so viele Bedürfnisse von Menschen gibt, die es zu befriedigen gilt? Für die BID gilt – wie für die alte Finanzarchitektur, an deren Spitze IWF und Weltbank stehen –, dass sie nach wie vor allen Reformbekundungen zum Trotz an der alten neoliberalen Agenda festhalten. Sie legen keine Rechenschaft darüber ab, dass die Früchte dieser Politik eine aktuelle globale Strukturkrise verursacht haben, die auch Lateinamerika bedroht und die ohnehin in Lateinamerika bereits in den letzten 30 Jahren ein Scheitern nach dem anderen verursacht haben. Dort wurde der produktive Sektor und ein guter Teil der Institutionen geschleift.

Wie schätzen Sie die Europäische Investitionsbank (EIB), quasi die Entwicklungsbank der Europäischen Union, ein?

Die EIB blickt auf eine spannende Geschichte zurück. Die EIB hat mit ihrer gezielten Kreditvergabe nach ihrer Gründung 1958 eine sehr wichtige Rolle in den ersten Jahrzehnten der Entstehung der Europäischen Gemeinschaft und der Entwicklung des Gemeinsamen Marktes gespielt. Später geschah mit der EIB dasselbe wie mit den 1944 gegründeten Bretton-Woods-Institutionen IWF und Weltbank, die beide in ihrer Geschichte bei allem Schatten auch Lichtblicke aufweisen: Wie IWF und Weltbank wurde die EIB transformiert und deformiert, indem die neoliberalen Politikansätze verankert wurden. Bei der EIB fand diese Transformation später statt, rund um die Verabschiedung der Maastricht-Kriterien des Stabilitätspaktes im Frühjahr 1992, mit der die Konvergenz bei Haushalt und Fiskalpolitik angestrebt wurde sowie der Spekulation gegen das Europäische Währungssystem (EWS) im Herbst 1992, als die Spekulation gegen das Britische Pfund das EWS beinahe zum Einsturz brachte.

Was bedeutete diese Transformation?

Diese beiden Ereignisse veränderten die Natur und die Ausrichtung der EIB. Aber das zeigt auch, dass es keine Unmöglichkeiten gibt. Die Ausrichtung der EIB ist nicht zwangsläufig vorbestimmt. Es ist keine Aufgabe aus einer anderen Welt, sie neu auszurichten und einen guten Teil der positiven Errungenschaften zurückzugewinnen und sie für die Erfordernisse des 21. Jahrhunderts und die strukturelle Krise auszurichten. Die europäischen Institutionen sind im Prinzip sehr robust, es gibt auch jede Menge talentierte Leute, die die EIB schnell in eine Entwicklungsbank umbauen könnten, die die Vertiefung eines sozialen Europas, die Vertiefung der demokratischen Errungenschaften befördern könnte. Stattdessen wird derzeit den „Erpressungen“ durch die Finanzmärkte gefolgt!

Infokasten:

Pedro Páez war von 2007 bis 2008 Minister für die Koordination der Wirtschaftspolitik in Ecuador. Bis vor Kurzem war er Vorsitzender der ecuadorianischen Kommission für eine neue regionale Finanzarchitektur, die unter anderem das Ziel der Gründung einer “Bank des Südens” (Banco del Sur) als regionale Alternative zum Internationalen Währungsfonds (IWF) beinhaltet. Er ist Ökonom und Autor mehrerer Bücher.

Den Bergbau fest im Blick

Die Straße ist mehr als schlecht. Es würde vieler Leute, schwerer Maschinen und mehrerer Wochen harter Arbeit bedürfen, um sie erst einmal in einen schlechten Zustand zu bringen. Ohne Vorwarnung endet der Asphalt bereits nach zwanzig Minuten Fahrt außerhalb von Cuzco, der Touristenstadt mit ihren 5-Sterne-Hotels und Su-shi-Restaurants. Und das, obwohl mein Ziel, die Stadt Tambobamba, nicht irgendein vergessener Ort im Niemandsland ist. Tambobamba ist die Hauptstadt der Provinz Cotabambas und liegt nur ein paar Fahrstunden entfernt vom massiven Las- Bambas-Kupferprojekt, das sich momentan in der Bauphase befindet.
Normalerweise profitieren Städte, die an Straßen zu Bergbauprojekten liegen, von einer vernünftigen Straßenanbindung – vor allem wenn es die Straße zur Provinzhauptstadt ist. Nicht so Tambobamba. Die Arbeiter_innen des Bergbauunternehmens werden per Hubschrauber eingeflogen und die Straße verbleibt in einem armseligen Zustand.
Das Projekt Las Bambas gehört Xstrata. Das Unternehmen aus der Schweiz will den Abtransport des im offenen Tagebau gewonnenen Kupfererzes über die Straße vermeiden und plant eine 215 Kilometer lange Pipeline in eine angrenzende Region. In drei Jahren soll der Kupferabbau beginnen. Xstrata rechnet mit einer jährlichen Produktion von 400.000 Tonnen. Dadurch würde sich die gesamte Kupferproduktion des Landes um 30 Prozent erhöhen. Aktuell ist Peru weltweit der zweitgrößte Produzent des wichtigen Industriemetalls.
Doch in der Vergangenheit gab es wegen Las Bambas Proteste von lokalen Gemeinschaften, die über mögliche Verschmutzungen der Umwelt besorgt sind und sagen, dass sie bisher nicht die oftmals versprochenen Wohltaten vom Projekt erhalten haben. 2008 verurteilte die peruanische Regierung Xstrata für das verbotene Ablassen von giftigen Substanzen bei Bohrungserkundungen in die Umwelt einer nahe gelegenen Gemeinschaft. Diese Nachricht verursachte Furcht unter den Bauerngemeinschaften der Provinz, die größtenteils von Subsistenzlandwirtschaft leben.
Im Mai dieses Jahres erklärte der unweit von Las Bambas gelegene Distrikt Chalhuahuacho einen Streik gegen die Mine – das Unternehmen musste Personal und Maschinen evakuieren. Bauernführer_innen beklagten, dass nur Gemeinschaften, die nahe der Mine liegen, von dieser profitieren und verlangten mehr Entwicklungsprojekte für die gesamte Region.
Ein Übereinkommen zwischen Xstrata und den Bauernführer_innen wurde im Juni erzielt, der Streik beendet. Seitdem haben Ereignisse auf der nationalen Ebene der Region eine angespannte Ruhe gebracht – eine Pause voller Erwartungen, die in vielen Orten in Peru mit konfliktiven Bergbauprojekten gefühlt wird. Die vorherige Regierung unter Alan García sah sich einer steigenden Anzahl sozialer Konflikte gegenüber – ingesamt 246 waren es nach den Berichten der peruanischen Ombudsstelle für Menschenrechte im letzten Jahr. Allein die Hälfte von ihnen sind Umweltkonflikte infolge der Aktivitäten des extraktiven Industriesektors, der Erdöl, Erze, Erdgas und Holz gewinnt oder abbaut.
Die weit verbreitete Unzufriedenheit mit konservativen Politiker_innen in indigenen und Bauerngemeinschaften brachte im Juli dieses Jahres Ollanta Humala – einen linksorientierten Nationalisten – an die Präsidentschaft. Jetzt warten seine Unterstützer_innen darauf, dass er die versprochene soziale Transformation beginnt. Doch in vielen Teilen des Landes sind die Menschen wenig geduldig.
Ende September brach ein Konflikt in Tacna in der Nähe der Grenze mit Chile auf. Die lokale Bevölkerung versuchte, in eine öffentliche Anhörung für die Expansion eines Bergwerkes der US-Firma Southern Copper zu gelangen und wurde mit Gewalt von der Polizei gestoppt. Regionale Anfüher_innen drohten mit Streik. Anfang Oktober war Humalas Regierung gezwungen, die öffentlichen Anhörungen zu stoppen. Die Menschen schworen, dass sie solange protestieren würden, bis die Erweiterung des Projektes abgeblasen sei.
Am anderen Ende des Landes, in den nördlichen Anden von Cajamarca, braut sich ein anderer Konflikt zusammen: zwischen Bauern und dem Unternehmen Yanacocha, das Lateinamerikas größte Goldmine betreibt. Bauerngemeinschaften protestieren gegen den Plan des Unternehmens, einen heiligen Berg und wichtige Wasserquellen zu zerstören. Die Regionalregierung hat den Berg Quilish zur geschützten Zone erklärt, doch die US-Firma Newmont Mining als Mehrheitseignerin von Yanacocha will mit dem Projekt fortfahren.
Am Endpunkt meiner anstrengenden Tour, in dem kleinen Dorf Asacasi mit nur knapp 400 Einwohner_innen, leicht außerhalb von Tambobamba, haben sich die Sorgen über den Tagebau Las Bambas zum Gegenstand von Alltagsgeprächen entwickelt. Das Dorf hat gerade erst einen Preis für das beste Management seiner Wasserressourcen gewonnen, der vom Centro Bartolomé de las Casas (CBC), einer Nichtregierungsorganisation aus Cuzco vergeben wird, die mit marginalisierten lokalen Gemeinschaften im Andenraum arbeitet. Der Preis besteht darin, den Einwohner_innen in einem Trainingsworkshop das Wissen zu vermitteln, um ihren eigenen Film drehen zu können. Ich kam als Leiterin dieses Workshops nach Asacasi.
Das CBC möchte, dass die Gemeinde sich im Film auf ihren erfolgreichen Wassermanagementplan fokussiert: ein neues Reservoir, ein System zur Chlorung des Wassers und eine Müllhalde, um das Wasser rein zu halten. Aber so sehr ich auch versuche, die Leute beim Thema zu halten – die Bedrohung durch den Tagebau schleicht sich in jede Szene ein.
Die Gruppe beschließt, mit dem Drehen an einem kristallklaren Fluß zu beginnen, der unterhalb ihres Dorfes im Schatten eines hohen Berges fließt. Trotz Trockenzeit ist der Fluss voller Forellen. Estanislao Cuñas, Präsident des Wasserkommittees von Asacasi, führt uns zu einem flachen Teil des Stroms und fischt mit bloßen Händen ein halbes Dutzend Forellen heraus. Obwohl er bisher nie einen Film gemacht hat, scheint Estanislao ein geborener Regisseur zu sein. Er erwischt die dickste Forelle, die er finden kann, und weist den Kameramann an, ihn mit dem Fluss im Hintergrund zu filmen.
“Die Menschen in der Stadt denken oft, dass wir Bauern nicht wissen, wie wir die Umwelt schützen sollen“, sagt Estanislao, „aber wir zeigen ihnen, dass sie falsch liegen.“ Leute von außerhalb seien ihre größte Bedrohung, erzählt er weiter, und drückt die Sorge aus, dass Las Bambas die Umwelt verschmutzen werde, wenn im Tagebau erst einmal die Kupferförderung beginne. Und Las Bambas ist erst der Anfang. Mehr als 54 Prozent der Region Apurímac, in der sich Asacasi befindet, sind für den Bergbau konzessioniert.
Wie die Mehrheit in der Region, leben auch die Menschen in Asacasi weiterhin vom Land. Es ist Perus berühmte Altiplano-Region, eine Hochebene auf mehr als 4.000 Metern über Meereshöhe in den Anden. Auf den ersten Blick erscheint die Umgebung kahl und öde – es gibt hier keine Bäume, nur hohe, dornenartige Gewächse, Berggras und niedrige Buschvegetation. Asacasi liegt auf einer flachen, weiträumigen Ebene, die umgeben ist von imposanten Bergen, mit scharfkantigem, schroffem Gestein. Der Horizont lässt sich aus jeder Richtung erblicken – es ist eine perfekte, endlos scheinende Weite, ungestört durch Gebäude oder Vegetation.
Die Ernährungsgrundlage der Dorfbewohner_innen würde jede_n Nordamerikaner_in aus Bewegungen und Gruppen, die sich für lokal produzierte Nahrungsmittel einsetzen, beschämen. Alles wird im Dorf produziert: Kartoffeln und Kräuter gibt der Boden, Eier die Hühner, Milch und Käse die Kühe, Fleisch kommt von den Meerschweinchen, Schafen und Alpakas und natürlich Fisch, Shrimps und Frösche aus dem Fluss.
Zum Mittagessen werden wir von Gregorio Tarapaqui, dem Sekretär des Wasserkommittees von Asacasi, eingeladen. Im Filmworkshop gibt er einen ausgezeichneten Kameramann. Gregorio bringt eine große Schüssel gefüllt mit dampfenden Kartoffeln und stellt sie scheu zu meinen Füßen. In Peru gibt es tausende Kartoffelvariationen in den verschiedensten Farben, Geschmacksrichtungen und Aussehen. Wir essen kleine runde Kartoffeln, mit einem cremigen Kern und größere ovale, die innen weiß sind und eine dunkle knusprige Schale haben.
Das Hauptgericht ist Forellensuppe. Die Fische wurden beim Filmen am Morgen gefangen. „Was machen wir, wenn unsere Fische verschwinden?“, fragt Gregorio. „Jetzt haben wir genügend, um das ganze Dorf zu ernähren, wir müssen nicht rationieren oder den Fang kontrollieren.”
Bauern- und indigene Gemeinschaften hoffen, dass ein neues Gesetz, das von der Regierung unter Ollanta Humala verabschiedet wurde, ihnen die Möglichkeit gibt, zu entscheiden, ob sie Bergbau-, Öl- oder Gasprojekte auf ihrem Land wollen. Es handelt sich um das Gesetz über vorherige Konsultation, auf dessen Grundlage lokale Gemeinschaften befragt werden müssen, bevor Unternehmen Megaprojekte starten können. Unter den Bauerngemeinschaften bestehen schon jetzt hohe Erwartungen an das neue Gesetz, doch viele Analyst_innen sind vorsichtiger, wenn sie dessen mögliche Auswirkungen beurteilen.
Pater Marco Arana, ein Soziologe mit 20 Jahren Erfahrung bei der Verteidigung der Rechte von Bauerngemeinschaften gegenüber Bergbauunternehmen, sagt, dass viel von den nachgeordneten gesetzlichen Regelungen abhängen werde, die erst noch geschrieben werden müssen. Diese Regelungen werden entscheidend dafür sein, wie das Konsultationsgesetz umgesetzt wird. Werden die lokalen Gemeinschaften dann formelle Referenden abhalten können, bevor neue Konzessionen für ihr Land vergeben werden? Oder werden die Unternehmen nur verpflichtet sein, die Zustimmung der lokalen Anführer_innen zu erreichen? Wird eine Zustimmung überhaupt notwendig sein, oder werden die Unternehmen die Menschen nur konsultieren müssen, ohne jedoch letztlich deren Zustimmung zu benötigen?
Das Konsultationsgesetz hat Befürchtungen auch in den Kreisen der Bergbaubefürworter_innen provoziert. Pater Arana wurde jüngst attackiert, als er nach Huancabamba reiste, in Perus nördliche Andenberge an der Grenze zu Ecuador. Sein Besuch galt den Feierlichkeiten des Jahrestages eines der ersten Referenden zum Bergbau. Die lokale Bevölkerung sprach sich im September 2007 zu mehr als 90 Prozent gegen Bergbauprojekte in ihrer Region aus. Das Auto mit Marco Arana wurde auf dem Weg nach Huancabamba von mehreren Leuten gestoppt, die ihm sagten, sie wollten „Entwicklung“ und seien gegen die Landwirtschaft als Alternative. Nach einer kurzen Unterredung konnte Arana weiterfahren – 30 Minuten später wurde das Auto jedoch von Unbekannten mit Steinen beworfen und mit scharfer Munition beschossen.
Derartiger Ärger ist Marco Arana nicht fremd. Vor ein paar Jahren stand er im Zentrum einer massiven Spionageoperation mit dem Namen „Operation Teufel”. Jeder seiner Schritte wurde über einen Zeitraum von drei Monaten fotografiert und gefilmt. Er und seine Mitarbeiter_innen erhielten Morddrohungen per Telefon. Esmundo Becerra, ein mit Pater Arana befreundeter Bauer und engagierter Umweltaktivist aus der Provinz Cajamarca, der den Kampf gegen die Erweiterung eines Bergwerksprojektes anführte, wurde Anfang November 2006 ermordet.
Die Verfolgung und die Drohungen verängstigten Arana. Dennoch begannen er und seine Mitarbeiter_innen einen Plan zu entwickeln, die Spione auszuspionieren – sie machten Fotos von ihren Verfolger_innen und filmten sie. Arana gelang es schließlich, einen der Spione zu fassen und nachfolgend in den Besitz der Kopien von hunderten Berichten, Fotos und Videomaterial zu gelangen. Dieses Material wurde zum Kern des Dokumentarfilmes „Operación Diablo“ (Operation Teufel), den ich mit Arana und Umweltaktivist_innen drehte.
Wir zeigten den Film in Asacasi, um den Einwohner_innen zu vermitteln, welche Bedeutung es haben kann, wenn sie ihre neue Kamera und die erworbenen Fähigkeiten einsetzen, um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Nach der Aufführung sagte der Bürgermeister des Dorfes, Juan Limaypuma, er hoffe, dass das neue Konsultationsgesetz den Bergbaukonflikten ein Ende setzen werde. Er rief Humalas Regierung dazu auf, sie solle die von Peru im Rahmen der Vereinten Nationen und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ratifizierten internationalen Übereinkommen respektieren, welche die Rechte indigener Gruppen schützen. Limaypuma sagte, dass die negativen Auswirkungen des globalen Klimawandels, wie Wasserknappheit, bereits zu zu spüren seien; er befürchtet, dass neue Bergbauprojekte weitere Umweltverschmutzung bringen werden.
Asacasi mag isoliert liegen, aber die Menschen dort wissen, was um sie herum und auf nationaler Ebene passiert. Eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in Perus südlicher Andenregion stimmte für Humala, und sie erwarten nun, dass er seine Wahlversprechen erfüllt, um ihre Bedürfnisse und Rechte in einem demokratischen Peru zu berücksichtigen, in das sie einbezogen werden.
Sollte Humala scheitern, werden die ganzen sozialen Konflikte, die von der Vorregierung unter Alan García hinterlassen wurden, wieder auftauchen. Eine einfache Ankündigung im Radio durch regionale Anführer_innen kann tausende Bäuerinnen und Bauern von vereinzelt liegenden Dörfern wie Asacasi in Aktion bringen, um Straßen zu blockieren, Flughäfen zu schließen oder das Land wirtschaftlich lahm zu legen.
Große Versprechen produzieren hohe Erwartungen und Perus Bauerngemeinden werden nicht lange warten, bis sie Ergebnisse sehen wollen. Die Zeit läuft gegen Ollanta Humala.

Originalfassung des Artikels erschienen auf: TowardFreedom.com // Dank an Benjamin Dangl. // Die DVD Operación Diablo kann bei autofocus Berlin bestellt werden: www.videowerkstatt.de

Neue Hoffnung für Yasuní

Es geht voran mit Ecuadors visionärem „Dschungel statt Öl“-Projekt: Als „Erfolg auf der ganzen Linie“ wertete Präsident Rafael Correa die Veranstaltung am Rande der UN-Vollversammlung, zu der UN-Generalsekretär Ban Ki Moon Ende September geladen hatte. Kommen genug Mittel von der internationalen Gemeinschaft zusammen, will Ecuador auf die Förderung von Erdöl im östlichen Teil des Yasuní-Nationalparks verzichten, dem nach den drei Ölfeldern Ishpingo, Tiputini und Tambococha benannten ITT-Gebiet. Jahresziel bis Ende 2011: 100 Millionen US-Dollar.
„Die Welt lernt von Yasuní“, sagte Ban Ki Moon, mit Führungsstärke, Kreativität und Engagement sei nachhaltige Entwicklung möglich. Italien zahlt im Rahmen eines Schuldentauschs 35 Millionen Euro in den Treuhandfonds ein, der voriges Jahr unter dem Dach des UN-Entwicklungsprogramms eingerichtet wurde. Nach Chile sagte Kolumbien 100.000 Dollar zu, Peru 300.000 und Australien 500.000 Dollar.
Belgische und französische Regionalregierungen sind ebenfalls mit von der Partie, sogar multinationale Konzerne wie der brasilianische Bauriese Odebrecht. Mit dem Geld sollen 45 neue Naturschutzgebiete ausgewiesen, Wiederaufforstung und erneuerbare Energien vorangetrieben und Forschungsprogramme finanziert werden.
Correa machte aber auch wieder deutlich, dass er persönlich am liebsten das Öl im ITT-Gebiet fördern will, rund 20 Prozent der in Ecuador entdeckten Vorkommen. „Finanziell wäre das für uns besser“, sagte er, zu den heutigen Ölpreisen sei das „schwarze Gold“ 14 Milliarden Dollar wert. Und Ecuador brauche diese Mittel für Straßen, Krankenhäuser, Schulen, Bücher und seine Landwirtschaft. Kritiker_innen in Ecuador werfen Correa mit einigem Recht vor, wegen dieser Ambivalenz sei er der größte Bremser des Projekts.
Der Staatschef erinnerte erneut daran, dass vor allem die Industrieländer den Klimawandel verursacht haben, und erklärte: „Wir möchten gegen die Erderwärmung kämpfen, aber dafür brauchen wir die Mitverantwortung der Welt.“ Durch den Verzicht auf die Ölförderung würde nicht nur das artenreichste Gebiet Amazoniens und der Lebensraum zweier isoliert lebender indigener Völker geschützt, sondern auch direkt das Klima: 410 Millionen Tonnen Kohlendioxid würden der Erdatmosphäre erspart.
Ivonne Baki, die Chefin der Yasuní-Verhandlungskommission, jubelte bereits, der Plan B, also die Ölförderung, sei „auf dem Müllhaufen“ gelandet. Die Türkei, Katar und weitere arabische Staaten sollen folgen, ebenso „ganz Südamerika“, kündigte sie an. Der Pragmatiker Correa, der offen auf umstrittene Öl-, Bergbau- und Agrospritprojekte setzt, will aber erst im Dezember Bilanz ziehen.
In Deutschland, woher in der Anfangsphase ab 2007 die wichtigste Unterstützung kam, machen Umweltgruppen und -politiker_innen mobil. Sogar die Unionsfraktion im Bundestag forderte die Bundesregierung auf, zum Yasuní-Fonds beizutragen. Grüne, Linke und SPD stehen einhellig hinter der ITT-Initiative. Vier Bundestagsabgeordnete flogen im Oktober nach Ecuador, die Grüne Ute Koczy und auch Delegationsleiter Volkmar Klein (CDU) berichteten auf ihren Webseiten. „Insgesamt … ein wirklich begeisternder Besuch, der unterstrichen hat: Die Kooperation mit den Freunden in Ecuador lohnt sich im Interesse unseres weltweiten Naturerbes wirklich“, lautete Kleins Fazit.
Nur die FDP stellt sich weiterhin quer. Da traf es sich gut, dass der ecuadorianische Außenminister Ricardo Patiño in Berlin von Guido Westerwelle empfangen wurde. Bei einem „absolut angenehmen und herzlichen Dialog“ habe er seine Kritik an Westerwelles Parteifreund Dirk Niebel „ganz offen auf den Tisch gelegt“, sagte Patiño. Ecuador könne es nicht hinnehmen, dass es durch Regierungsmitglieder eines anderen Landes „angezählt“ werde.
BMZ-Minister Niebel, der im September 2010 die Kehrtwende der Bundesregierung verkündet hatte, aalt sich seither geradezu lustvoll in seinem „Nein“ zu Yasuní-ITT. Der Spiegel berichtete über den „Zorn“ des selbsternannten „Globalisierungsministers“ wörtlich: „Ausgerechnet Italien, das seine eigenen Schulden in den Griff bekommen müsse, habe Ecuador zugesagt, 35 Millionen Euro an Schulden zu erlassen, kritisierte Niebel. ‚Die europäische Solidarität würde es erwarten lassen, dass Italien erst mal die eigenen Finanzen in den Griff bekommt‘, sagte der FDP-Politiker. ‚Soll Berlusconi das Geld doch aus seinem Privatvermögen bezahlen‘.“
Umwelt- und Nord-Süd-Verbände erhöhen unterdessen den Druck auf Bundeskanzlerin Angela Merkel. Und der BUND Hannover lancierte das Yasuní-Portal www.saveyasuni.eu, die umfassendste deutschsprachige Website zum Thema.
In der taz plädierte Niebel für Marktmechanismen wie das in der Klimadebatte vor allem von westlichen Industrieländern propagierte REDD (Reducing Emissions from Deforestation und Forest Degradation). Über die jüngste Variante des Emissions- oder Ablasshandels soll auf dem kommenden Klimagipfel in Durban weiter diskutiert werden.
Für Alberto Acosta, Correas früheren Freund und ersten Energieminister, ist Yasuní-ITT hingegen auch eine „praktische Kritik an der Kommerzialisierung der Natur“ – es sei sinnlos, Fonds zu gründen, „um Umweltzerstörung an einer Stelle der Welt dadurch zu rechtfertigen, dass woanders Verantwortung wahrgenommen wird.“ Wer REDD fördere, leugne dessen negative Auswirkungen auf die indigenen Gemeinschaften, erwiderte Acosta. Mit REDD werde der Regenwaldschutz zum Geschäft: „Statt den dringend notwendigen Schwenk in Richtung der Post-Erdöl-Zivilisation zu vollziehen und die Atmosphäre von schädlichen Emissionen zu befreien, ist REDD ein Akt blindwütiger Kommerzialisierung“.
„REDD ähnelt den Glasperlen, mit denen europäische Konquistadoren bei der Eroberung Amerikas den Ureinwohnern ihr Gold abluchsten“, sagt Acosta: Es könne in der Praxis sogar ein Anreiz für indigene Gemeinschaften werden, die Ausbeutung der Ressourcen zuzulassen, die sie ansonsten verhindern würden. Rafael Correa hingegen verteidigte die REDD-Mechanismen auf dem Klimagipfel von Cancún, anders etwa als Bolivien. Auch wenn in der innenpolitischen Debatte die Unterschiede zwischen der ecuadorianischen Regierung und ihren Kritiker_innen von links deutlicher zutage treten denn je: Zumindest verbal setzten beide Seiten jetzt ganz auf die „Zivilgesellschaft“, vor allem in den USA und Europa.
Niebel befürchtet zudem einen „Präzedenzfall“: Sollte Yasuní-ITT Erfolg haben, könnten auch andere Länder genauso Geld für unterlassene Umweltzerstörung fordern, meint der Ultraliberale. Dazu sagt Acosta: „Genau das ist unsere Hoffnung. Schaffen wir zwei, drei, viele Yasuní auf der Welt“. Ecuadors Kultur- und Naturerbe-Ministerin María Fernanda Espinosa ist in der Regierung Correa eine der hartnäckigsten Verfechter_innen des Plans A, also der Nicht-Förderung. „Die andauernden Spekulationen über den Plan B führen zur Kritik an der Regierung“, analysiert sie. „Das ist erfrischend, denn dadurch werden diese Gruppen zu Wächtern der Initiative. Indem sie den Präsidenten kritisieren, wenn er den Plan B auch nur erwähnt, erhalten sie die Initiative am Leben. Hinzu kommt der Rückhalt von 80 Prozent der Ecuadorianer“.
All dies hält den Präsidenten nicht davon ab, die Vorbereitungen für die Ölförderung in zwei Dritteln des ITT-Gebiets systematisch voranzutreiben. Typisch der Auftritt in seinem wöchentlichen Liveprogramm Enlace vom 8. Oktober: Zunächst lobte er den Rückhalt der Parlamentarier_innen und tat Berichte über deren Kritik am Verleumdungsprozess gegen die Tageszeitung El Universo als „Lügen“ ab. Dann erwähnte er Studien für die Ölförderung im Tambococha-Block. Dort könnten „horizontale Fördertechniken“ zum Einsatz kommen, sagte Correa. Ähnliches gelte für den Tiputini-Block, der nur zu 10 Prozent innerhalb des Nationalpark liege. „Nur für Ishpingo muss ich das Parlament um Erlaubnis bitten oder eine Volksbefragung ansetzen“, sagt Correa, denn dieses Ölfeld liege „im Herzen des Yasuní“: „Ich habe nicht vor, diesen Block anzutasten“.

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