Die Rückkehr der Vergangenheit

Der oder die Täter ermordeten Bischof Gerardi am Abend des 26. April, als er von einem Familienbesuch in die Pfarrei San Sebastián im Zentrum der Hauptstadt zurückkehrte. Er wurde mit einem schweren Stein niedergeschlagen, anschließend sein Gesicht zertrümmert. Seine Wohnung wurde durchsucht, doch nichts entwendet. Raubmord ist somit auszuschließen. Unklar ist nach wie vor, ob die Tat von nur einer oder von mehreren Personen begangen wurde. Ein Obdachloser, der regelmäßig in der Nähe der Pfarrei schläft, hat die Tat nach eigenen Angaben beobachtet und spricht von einem Täter. Andere Zeugen haben vier Männer gesehen, die am Tatabend stundenlang vor der Pfarrei warteten.

Zweifel an der offiziellen Version

Der internationale Druck auf die Regierung, den Mord aufzuklären, war sofort sehr groß – Bischof Juan Gerardi war einer der prominentesten Kämpfer für die Menschenrechte in Guatemala. Schon nach wenigen Tagen verhaftete die Polizei Carlos Enrique Vielman Viani und präsentierte ihn als vermeintlichen Mörder. Mittlerweile hat die Staatsanwaltschaft Anklage gegen Vielman erhoben, doch fast alles spricht gegen seine Beteiligung an der Tat.
Bei einer Gegenüberstellung mit den Zeugen haben diese ihn nicht wiedererkannt. Außerdem sprachen die Zeugen von einem Täter, der mindestens 1,70 Meter groß ist – doch Vielman mißt nur rund 1,50 Meter. Es ist zudem unwahrscheinlich, daß es ihm, der außerdem eine Behinderung an der rechten Hand hat, gelungen sein könnte, den 1,85 Meter großen Bischof von oben auf den Kopf zu schlagen.
Das Menschenrechtsbüro des Erzbistums (ODHA) ist von der Unschuld Vielmans überzeugt und fordert seine Freilassung. Menschenrechtsaktivisten in Guatemala befürchten, daß mit dem Beharren auf der Schuld Vianis die Suche nach den wahren Mördern und ihren Hintermännern von offizieller Seite verhindert werden soll.
Tatsächlich scheinen die Ermittlungsbehörden nicht gewillt, anderen Spuren mit gleicher Intensität nachzugehen. Es wird befürchtet, daß der Bischofsmord ein weiteres Beispiel für die Straffreiheit von Menschenrechtsverletzungen wird, die Juan Gerardi wiederholt angeklagt hatte.

Der rächende Jaguar

Zwei Wochen nach der Tat wurde ein Bekennerbrief der Todesschwadron Jaguar Justiciero („Rächender Jaguar“) bekannt, der bei Carlos Catú Otzoy einging. Catú ist Bürgermeisterkandidat der linken Oppositionspartei „Demokratische Front Neues Guatemala“ (FDNG) in San Juan de Comalapa im Departement Chimaltenango. „Wir wollen Dein Blut sehen“, steht in dem Schreiben, in dem angekündigt wird, daß alle FDNG-KandidatInnen für die Kommunalwahlen im Juni ermordet würden. Der „Rächende Jaguar“ bekennt sich in diesem Schreiben auch zu den Morden an Bischof Gerardi, an dem früheren Präsidentschaftskandidaten Jorge Carpio Nicolle und am Präsidenten des Verfassungsgerichtes Epáminodas González Dubón vor einigen Jahren.
Diese Todesschwadron existiert vermutlich seit Ende der 80er Jahre. Sie hat gute Verbindungen zu rechtsextremen Kreisen der Armee und rekrutiert sich vermutlich aus Mitgliedern des Militärs. Beweise gibt es dafür allerdings noch keine – nicht zuletzt weil die Regierung sich weigert, die Geheimstrukturen innerhalb der Streitkräfte zu untersuchen und aufzulösen. Laut REMHI-Bericht sind die Streitkräfte für etwa 90 Prozent der Menschenrechtsverletzungen während des Krieges verantwortlich, die Geheimstrukturen innerhalb der Armee sind daran jedoch in besonders hohem Maße beteiligt.
Noch ist unklar, ob das Schreiben authentisch ist. Die Regierung ließ sich von ihrer Einzeltäterversion nicht abbringen, der Staatsanwalt spricht von „einer falschen Spur“.
Nun wird das weitere Anwachsen des Terrors rechtsextremer Gruppen befürchtet. Mehrere Oppositionspolitiker haben in den vergangenen Wochen Todesdrohungen erhalten; am 6. Mai wurde Luis Yat Zapeta ermordet. Er war Mitglied der FDNG und seit einigen Monaten Bürgermeister von Santa Cruz del Quiché, nachdem sein konservativer Amtsvorgänger wegen Korruption abgesetzt worden war.

Neue Drohungen gegen die Kirche

Zugleich nehmen die Angriffe gegen die katholische Kirche – vor allem gegen die MitarbeiterInnen von REMHI – zu. Der italienische Priester Pedro Nota, der seit 1995 im REMHI-Projekt arbeitete, ist ins Ausland geflohen, nachdem ihm ein Ultimatum gesetzt worden war, das Land zu verlassen oder ermordet zu werden. Zugleich erhielten zwei Mitglieder der Abteilung für Exhumierung der ODHA Todesdrohungen. Die Wohnung des Verantwortlichen für die Exhumierungen, Federico Reyes, wurde durchsucht, ein Computer mit wichtigen Daten entwendet. Zuletzt hatte das forensische Team der ODHA ein Massengrab in dem Dorf Pujulil III im Departement Sololá mit sieben Opfern eines Massakers der Armee freigelegt.

Gefährliche Vergangenheit

Das Ziel der Drohungen ist eindeutig: Wer die Vergangenheit nicht ruhen läßt, muß um sein Leben fürchten. Seit kurzem bestimmt die Angst vor einer Rückkehr des Terrors das politische Klima. Die katholische Kirche hat sich hinter die Arbeit von REMHI gestellt, die mit der Veröffentlichung des Berichts ja längst noch nicht beendet ist. Und auch wenn die Regierung dies nach dem Mord an Bischof Gerardi nicht offen sagt, so ist ihr die Arbeit von REMHI doch äußerst unangenehm. Schließlich enthält der Bericht „Guatemala: Nie wieder!“ zahlreiche Forderungen zu politischen und sozialen Reformen und zur Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen sowie zur Entschädigung der Opfer des 36jährigen Bürgerkrieges. Doch viel mehr als schöne Worte möchte die Regierung dafür nicht aufbringen.
Durch die Ereignisse der letzten Wochen erhält auch der Bericht der „Wahrheitskommission“ neue Brisanz, der Ende Juli veröffentlicht wird. Der Leiter dieser im Rahmen der Friedensabkommen zwischen der guatemaltekischen Regierung und der Guerillaorganisation URNG vereinbarten Kommission, der deutsche Völkerrechtler Christian Tomuschat, steht mittlerweile unter verstärktem Polizeischutz.
Zugleich haben sich sofort nach dem Mord an Bischof Gerardi 70 Organisationen zur „Convergencia: Nunca Más!“ zusammengeschlossen, um für ein Ende der Repression in Guatemala und die vorbehaltlose Aufklärung sämtlicher Menschenrechtsverletzungen einzutreten. Die Auseinandersetzung über den Umgang mit der Vergangenheit und den Schutz der Menschenrechte wird in Guatemala ein immer bedeutenderes gesellschaftliches Thema – mit dem sich auch jene, die es gerne totschweigen würden wie Regierung, Parteien und Militärs befassen müssen.

KASTEN

Bischof Juan Gerardi – ein Leben für die Menschenrechte

Mehr als 30 Jahre hat sich Juan Gerardi als Bischof für die Rechte der unterdrückten Indígena-Bevölkerung seines Landes eingesetzt. Nach seiner Ernennung zum Bischof der Diözese von Verapaz im Jahr 1967 lernt er die unmenschlichen Arbeitsbedingungen auf den großen Kaffee- und Kardamomfincas der Region kennen. Zur Unterstützung der mehrheitlich indigenen Bevölkerung, die unter dem Rassismus der weißen und mestizischen Oberschicht leidet, ruft Gerardi 1973 die Indígena-Pastorale ins Leben.
1974 wird er zum Bischof der Diözese Quiché ernannt, wo er sich eindeutig auf die Seite der armen Bevölkerung stellt. Mehrmals muß er sich im Militärquartier von Santa Cruz den Anfeindungen der Militärs stellen, die ihn beschuldigen, die Guerilla zu unterstützen. Bei einer dieser Gelegenheiten sagt er den versammelten Militärchefs: „Sie sind diejenigen, die morden, Sie sind die Feinde des Volkes. Wir müssen auf der Seite der Bevölkerung stehen. Solange Sie sich nicht verändern, kann es keine Übereinstimmung zwischen uns und Ihnen geben.“
Der Quiché ist die Region, die vom Bürgerkrieg, der sich seit Ende der siebziger Jahre verschärft, am stärksten betroffen ist. Mehr als die Hälfte der von REMHI untersuchten Massaker finden hier statt. Der Terror der Armee macht auch vor der Kirche nicht halt. Ein Attentat überlebt Gerardi unverletzt, doch im Sommer 1980 muß er mit seinem gesamten Stab den Quiché verlassen, nachdem mehrere Pfarrer und KirchenmitarbeiterInnen ermordet werden; die Diözese wird aufgelöst.
Nach einer Reise zum Vatikan wird dem Bischof der Wiedereintritt nach Guatemala verwehrt, bis 1984 lebt er im Exil in Costa Rica. Zusammen mit Bischof Rodolfo Quezada Toruña vertritt er ab 1988 die guatemaltekische Bischofskonferenz in der auf Basis des Abkommens von Esquipulas gegründeten „Nationalen Versöhnungskommission“. 1989 gründet Gerardi das „Erzbischöfliche Menschenrechtsbüro“ (ODHA) in Guatemala-Stadt, und von 1995 bis 1998 ist er für das bei der ODHA angesiedelte Projekt REMHI verantwortlich. Bei der Vorstellung des REMHI-Berichts am 24. April in der Kathedrale von Guatemala-Stadt bemerkt Gerardi zur Bedeutung des Berichts „Guatemala: Nie wieder!“: „Wir wollen zum Aufbau eines anderen Landes beitragen. Wir haben mit dem Bericht die Erinnerung des Volkes wiedererweckt. Dieser Weg war und ist voller Risiken, aber die Errichtung des Reiches Gottes ist eine gefährliche Aufgabe.“
Nur zwei Tage später wird Bischof Juan Gerardi ermordet. Er war einer der prominentesten Fürsprecher der indigenen Bevölkerung und Kämpfer für die Menschenrechte in Guatemala.

Die Privatisierung des Terrors

Terrorregime regieren mit den Mitteln der Einschüchterung, der Bedrohung und der Angst. Sie entstehen, wenn sich ein Staat oder die Machthaber bedroht fühlen und zur Sicherung ihrer Privilegien – des status quo – zur Gewalt und systematischen und geplanten Verletzung der Menschenrechte greifen. Sie benutzen dann das Leiden als Mittel der Politik.
Seit Mitte der 70er und insbesondere Anfang der 80er Jahre errichtete der guatemaltekische Staat im Schutze der Straflosigkeit eine Struktur, die zur Grundlage eines der wirksamsten und gefürchtetsten Terrorapparate in der lateinamerikanischen Geschichte wurde. In speziellen Ausbildungszentren im In- und Ausland erhielten tausende militärische wie zivile Sicherheitskräfte Unterricht in den Methoden der Verfolgung, Entführung, Folter und des Mordens, in der Ausübung des Terrorismus und der geheimen wie offenen Repression.
Der Terror hat auf Individuen, gesellschaftliche Gruppen und auf die ganze Gesellschaft unmittelbare und langfristige Auswirkungen: Zu den deutlichsten unmittelbaren Auswirkungen zählten in Guatemala die Vertreibung, der Tod und die Zerstörung von hunderttausenden von Menschenleben und hunderten von Dorfgemeinschaften. Die langfristigen Auswirkungen sind weniger sichtbar, aber keineswegs weniger dramatisch.
Ein wesentlicher Faktor, der dazu beiträgt, daß sich der Terror in einer Gesellschaft fortsetzt und vertieft, ist die Straflosigkeit. Diese ist, gestützt auf die Abwesenheit von Wahrheit und Gerechtigkeit, immer untrennbar mit der Ausübung des Terrors verbunden. Sobald ein Staat die Repression als Machtmechanismus nutzt, bietet er „…jenen, die sie ersinnen und ausüben die volle Garantie dafür, daß ihre Taten ungestraft bleiben … denn eine Bestrafung kann natürlich nicht als Anreiz dienen.“ (Matutes) Nach 36 Jahren bewaffnetem Konflikt und 15 Monate nach der Friedensunterzeichnung versucht die guatemaltekische Gesellschaft heute, eine wirkliche Demokratie zu errichten. Dabei stößt sie auf das überaus heikle Problem, daß der Schaden, den die politische Repression der Diktaturen der vergangenen Jahrzehnte angerichtet hat, behoben werden muß. Nicht nur die Opfer, ihre Angehörigen und Freunde sondern die ganze Bevölkerung sind von der Repression gezeichnet. Sie hinterlässt in den Einstellungen und Verhaltensweisen der Einzelnen ebenso ihre Spuren wie in der Vorstellungswelt der ganzen Gesellschaft.
Eines der Phänomene, welches die GuatemaltekInnen heute am meisten bewegt und ihren stärksten Protest hervorruft, ist die fehlende öffentliche Sicherheit. Die offiziellen Verlautbarungen, die Menschen auf der Straße und auch die Mehrzahl der Medien führen das einfach darauf zurück, daß nicht genügend Strafmaßnahmen ergriffen würden. So gut wie nie wird jedoch darauf hingewiesen, daß dies eine Folge des Terrors ist und in einem viel komplexeren Zusammenhang steht. Neben der staatlichen Verantwortung für die Verbrechensbekämpfung tragen eine Reihe von Faktoren zu der gegenwärtigen Situation der öffentlichen Unsicherheit bei. Dazu gehören die allgemein verbreitete Armut und das (unrechtmäßige) Fortbestehen der Terrorstrukturen, der paramilitärischen Zivilpatrouillen PAC, der zivilen Militärkommissare aus der Zeit der Aufstandsbekämpfung etc. Eine wichtige Rolle spielen schließlich die psychosozialen Folgeerscheinungen der Repression und der Straflosigkeit selbst.
Wichtig ist hier zunächst die Tatsache, daß die große Mehrheit der Gewaltakte und der Verbrechen nicht mehr unter der Kontrolle des Staates ausgeführt werden, sonden auf private Initiative. Vor dem Hintergrund der Tendenz, die staatlichen Aufgaben und Geschäfte zunehmend der Privatinitiative und den Großunternehmen zu überlassen, sind die Überreste der staatlichen Terrorstruktur den zahlreichen und gut ausgestatteten Gruppen des organisierten Verbrechens gewichen. Diese stellen nun diejenigen in ihre Dienste, die nach der Beendigung des bewaffneten Konfliktes „ihre Arbeit verloren“ haben. Gemeine Verbrechen, Diebstahl, Erpressungen, Schmuggel, Drogengeschäfte sowie schwerwiegende Verbrechen wie Vergewaltigungen, Entführungen, Folter und Mord werden weiterhin zu einem großen Teil von jenen „Experten“ verübt, die in der Mehrzahl ehemals oder weiterhin in den zivilen wie militärischen Sicherheitsapparaten tätig sind. Pressemeldungen bestätigen Tag für Tag, in welchem bedeutenden Maße in relativen wie absoluten Zahlen Menschen, die zu diesem Zwecke ausgebildet wurden, an den Verbrechen beteiligt sind. Es ist ein trauriges Paradox, daß auch die Bevölkerungsschichten, die in der Vergangenheit dem Getriebe des staatlichen Terrors beipflichteten oder es sogar tatkräftig unterstützten, heute zu einer Angriffsfläche dieses verwandelten und privatisierten Terrors geworden sind, der seinerseits wiederum zum Geschäft wird.
Auf Grundlage einer Studie, die ein Team argentinischer Psychiater zu Argentinien erstellt hat (EATIP:1998) will ich hier – eingedenk der Differenzen zwischen Argentinien und Guatemala – an einigen konkreten Punkten darstellen, wie sich die Spuren des staatlichen Terrors der 80er Jahre in der heutigen guatemaltekischen Gesellschaft wiederfinden.

Auswirkungen des staatlichen Terros

1. Es herrscht ein Gefühl der Angst, der Verunsicherung und der Schutzlosigkeit. Weite Bevölkerungsschichten leben konstant unter dem Druck dieser Gefühle, die dadurch verstärkt werden, daß die Straflosigkeit die Möglichkeit für erneute Gewaltakte eröffnet. Solange die verantwortlichen Gruppen oder Individuen für ihre Verbrechen nicht bestraft werden – und auch nicht für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die am schwerwiegendsten sind – können sie oder andere weiterhin alle Art von Verbrechen verüben.
2. Die Straflosigkeit wird zum „Gesellschaftsmodell“. Das „Modell“ der Straflosigkeit ist das einer absoluten Omnipotenz – „alles ist erlaubt, für nichts wird zur Rechenschaft gezogen“. Besonders gefährlich ist das für Jugendliche, die sich in einer Entwicklungsphase befinden, in der sie sich in das gesellschaftliche Leben integrieren und klare Werte und Normen darüber aneignen, wie weit man/frau gehen kann, was für ein respektvolles Zusammenleben mit anderen erlaubt, und was verboten ist. Die Straflosigkeit lehrt, daß alles geht: Egal was eineR tut, niemand muß sich um die Konsequenzen kümmern.
3. Der Zuwachs agressiven Verhaltens im sozialen Alltag: In einem quantitativ wie qualitativ unbekannten Ausmaß tritt eine indiskriminierte Gewalt zutage. Beispielhaft dafür stehen die Jugendbanden („maras“), für die Gewalt häufig zur bloßen „Beschäftigung“ wird. Die ausgeübte Gewalt steht dabei in keiner Relation mit dem Tatziel: für einen einfachen Handtaschendiebstahl beispielsweise wird das Opfer schwerverletzt, für eine Taschenuhr oder Sonnenbrille wird getötet, oder das Opfer wird nach Überfällen vergewaltigt.
4. Justiz und „Gerechtigkeit“ werden zunehmend in die eigene Hand genommen. Die Straflosigkeit und der damit verbundene Vertrauensverlust in den Staat führt zum Auftauchen selbsternannter „Vollstrecker des Gesetzes“, die als Einzelne, als Gruppe oder auch in Form aufgebrachter Menschenmengen vermutliche Verbrecher bestrafen wollen. Dies kann sowohl aus eigener Motivation heraus erfolgen, als auch auf Befehl oder Veranlassung durch andere oder durch Gesellschaftsgruppen, deren Ziel es ist, eine gesellschaftliche Stimmung zu schaffen, die eine gewisse Art der „Selbstverteidigung“ befürwortet. Am schlimmsten zeigt sich dieses Phänomen in der „Lynchjustiz“. (1) Hierbei muß man sich vor Augen halten, daß bislang in keinem registrierten Fall irgendeine dieser Taten gegen politische Repressoren verübt wurde.
5. Die Verherrlichung der „Politik der starken Hand“ und der alten Repressoren. Die Straflosigkeit selbst provoziert eine gewisse Sympathie gegenüber dem „harten Durchgreifen“. In einer Situation, in der der Staat seinen Aufgaben als gesellschaftlicher „Gewährsmann“ nicht nachkommt, werden anerkannte Repressoren als Schutzfigur idealisiert: Sie verkörpern den eigenmächtigen und allumfassenden „Vater“, der sich um „Gemeinwohl“ und „Gerechtigkeit“ sorgt.
6. Die Befürwortung der Todesstrafe. Immer wieder werden die Gefühle der Unsicherheit, Verletzlichkeit und des persönlichen Ausgeliefertseins von bestimmten Gesellschaftsgruppen und vom Staat selbst dazu benutzt, die Anwendung der Todesstrafe zu verlangen und zu rechtfertigen. Anders als bei der Verherrlichung der Repressoren stützt sich eine solche Maßnahme auf die Vollstreckung eines Gesetzes, welches an Stelle der einzelnen Person treten soll, die ansonsten eine beispielgebende Bestrafung vorgenommen hätte. (2) Interessant an dem Ruf nach der Todesstrafe ist die Tatsache, daß er noch größere Verwirrung darüber stiftet, was auf dem Gebiet der Tötung eines Menschen erlaubt ist und was nicht. Denn schließlich geht er vom Staat und denjenigen Bevölkerungsgruppen aus, die sich selbst mit Straflosigkeit schützen und in der Vergangenheit für Amnestievorhaben eingetreten sind. Die Auswirkungen der Straflosigkeit dienen hier also als Mittel, um einen Konsens über die Anwendung einer neuerlichen repressiven Maßnahme zu schaffen.
7. Allgemein herrscht ein Gefühl der Aussichtslosigkeit vor. Vor allem Jugendliche stehen einem System gegenüber, in dem jede Anstrengung, eine widrige Situation zu lösen, „zwecklos“ ist. Die Geisteshaltung der Gesellschaft wird von einer generalisierten Skepsis bestimmt. Das Desinteresse am öffentlichen Geschehen und an der Politik fördert zudem die Ausgangsbedingungen für die Straflosigkeit.
Die Auswirkungen des Terrors und der Straflosigkeit werden sich langfristig immer deutlicher zeigen und reproduzieren. Solange eine Gesellschaft die historische Wahrheit ebensowenig erfährt wie Gerechtigkeit – und damit verbunden eine Wiedergutmachung einiger der von der Gewalt angerichteten Schäden – hängt die Gefahr, daß sich die Schreckensgeschichte wiederholt, weiterhin drohend über dem Bau einer tatsächlichen Demokratie. Daher zum Schluß noch einmal Ignacio Martín Baró: „Man muß sich das quantitative und qualitative Ausmaß des Schadens, den die Aufstandsbekämpfungskampagnen und die staatliche Repression angerichtet haben, immer vor Augen führen um zu verstehen, wie falsch es ist, einen Schlußstrich unter diese Geschichte ziehen zu wollen. Die Vergangenheit, die manche hier so überstürzt vergessen wollen, ist nicht nur für einzelne Menschen – seien es Opfer oder Täter – weiterhin präsent. Sie wirkt auch in den Strukturen einer Gesellschaft fort.“

Übersetzung: Helgi Kaissling, Informationsstelle Guatemala

Anmerkungen der Übersetzerin:
(1) In den vergangenen Jahren ist in der Hauptstadt und seit dem letzten Jahr zunehmend auf dem Land Guatemalas die Zahl der sogenannten „gemeinen Verbrechen“ enorm angestiegen. Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens im Dezember 1996 sind neben der weiterhin hohen Zahl von Auftragsmorden zudem Dutzende von Fällen bekanntgeworden, in denen aufgestachelte Bevölkerungsgruppen an vermuteten Verbrechern „Lynchjustiz“ verüben.
(2) Die Todesstrafe ist in Guatemala erlaubt. Im September 1996 wurde sie zum ersten Mal in der Amtszeit von Präsident Arzú vollstreckt: Er ließ zwei Männer, denen die Vergewaltigung und Ermordung eines vierjährigen Mädchens vorgewurfen wurde, trotz zahlreicher Proteste spektakulär vor laufenden Fernsehkameras erschiessen.

Ende der Straflosigkeit?

Als Betina Ruth Ehrenhaus am 5. August 1979 auf dem Heimweg gemeinsam mit ihrem Partner Pablo Armando Lepiscobo verhaftet wurde, war sie gerade zwanzig Jahre alt. Schwerbewaffnete Personen stoppten das Auto, fesselten sie, zogen ihnen Kapuzen über die Köpfe und verschleppten sie getrennt voneinander in zwei Autos. Betina wurde in das geheime Gefängnis in der Mechanikerschule der Marine (ESMA) im Norden von Buenos Aires geschleppt und zwei Tage lang gefoltert. Dann wurde sie freigelassen. Vielleicht hat ihr deutscher Paß sie gerettet. Noch während der folgenden acht Monate hatte Betinas Freund Pablo Telefonkontakt mit seiner Familie, seither fehlt von ihm jede Spur.
Wenn Betinas kleine Tochter heute fragt, wo denn die Militärs sind, die ihr das damals angetan haben, dann bleibt der Mutter keine andere Antwort, als zu erklären, daß die Folterer und Mörder sich auch heute noch unbehelligt in Argentinien bewegen. Dabei sind während der Militärdiktatur etwa 30.000 Menschen unter oft bis heute ungeklärten Umständen ums Leben gekommen. Und direkt nach der Diktatur gab es sogar ein Gerichtsverfahren in Argentinien, in dem die Verantwortung von der Militärjunta und einigen Ausführenden festgestellt wurde. Doch dann wurden unter Präsident Alfonsín auf den Druck der Militärs hin das Schlußpunkt- und das Befehlsnotstandsgesetz verabschiedet, die eine weitere Aufklärung der Taten gestoppt haben. Und alle restlichen Verantwortlichen hat später Präsident Menem begnadigt. Deshalb sitzt heute keiner der Verantwortlichen in Argentinien im Gefängnis. Und die Organisationen der Angehörigen, allen voran die „Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo“, fordern seit nunmehr über zwanzig Jahren die Aufklärung der Verbrechen und die Bestrafung der Täter.
Unter den Opfern der Diktatur waren Männer und Frauen aus 25 Ländern, unter anderem auch 75 Deutsche und Deutschstämmige. In Anbetracht der Straffreiheit in Argentinien sind heute Gerichtsverfahren in den Herkunftsländern der Opfer die einzige Hoffnung der Betroffenen und Angehörigen, den Verbleib der Verhafteten-Verschwundenen zu klären und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen.
Der Fall des verschwundenen Deutsch-Paraguayers Federico Jorge Tatter, von dem es seit seiner Verhaftung im Oktober 1976 keine Spur mehr gibt, und die Geschichte von Betina Ehrenhaus sind zwei von vier Fällen, wegen derer die “Kommission der Mütter und Familienangehörigen der Verhafteten-Verschwundenen Deutschen und Deutschstämmigen in Argentinien” (Comisión de Madres y Familiares de los Detenidos-Desaparecidos Alemanes y de Origen Alemán en la Argentina) am 7. Mai im Bundesjustizministerium in Bonn Anzeige erstattet hat. Vier Fälle aus der Gruppe der über 70 Betroffenen Deutschen und Deutschstämmigen in Argentinien wurden herausgegriffen, die besonders klar und gut dokumentiert sind und so gute Chancen einer Strafverfolgung vor deutschen Gerichten haben. Zur Unterstützung des Verfahrens hat sich hier in Deutschland die Koalition gegen Straflosigkeit – Wahrheit und Gerechtigkeit für die deutschen Verschwundenen in Argentinien gegründet. Sie wird getragen vom Nürnberger Menschenrechtszentrum, der Argentinien-Koordinationsgruppe von amnesty international und einigen weiteren deutschen Menschenrechts- und Argentinien-Gruppen.
Gibt es denn überhaupt die Möglichkeit, diese Fälle hier vor einem deutschen Richter zu verhandeln? „Sofern Deutsche im Ausland von Menschenrechtsverletzungen betroffen sind, besteht die Möglichkeit, dies in Deutschland strafrechtlich zu ahnden“, erklärt Rechtsanwalt Klaus Richter aus Nürnberg, Mitarbeiter der Kanzlei, die das Verfahren hier in Deutschland vertritt. Gemäß Paragraph 7 des deutschen Strafgesetzbuches gilt das deutsche Strafrecht für Taten, die im Ausland gegen einen Deutschen begangen werden, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist. Auch die argentinischen Straffreistellungsgesetze, das Schlußpunktgesetz und das Befehlsnotstandsgesetz, ändern daran grundsätzlich nichts, denn sie wirken wie eine Amnestie und verändern nicht die argentinische Strafnorm. Außerdem werden diese Gesetze als völkerrechtswidrig betrachtet, weil sie den bestehenden Verfolgungs- und Bestrafungspflichten für schwere Menschenrechtsverletzungen nicht nachkommen.
Die Anklage richtet sich gegen einen Kreis von etwa 40 Personen aus dem Militärapparat. Das reicht vom Verwaltungszonen-Kommandeur, der gleichzeitig die politische und militärische Verantwortung für eine Region trug, bis hinunter zu Schergen in den Haftlagern. Die Anwälte rechnen allerdings damit, daß es nur bei einer kleineren Gruppe der Beschuldigten zu einer konkreten Anklage kommen wird. Allerdings gibt es in Deutschland nicht die Möglichkeit, in Abwesenheit eines Angeklagten zu verhandeln. Es ist auch nicht zu erwarten, daß die argentinische Regierung die Täter ausliefert. Doch sollten deutsche Gerichte einen Haftbefehl ausstellen, wäre der international vollstreckbar. Das würde dann bedeuten, daß die betreffenden Personen Argentinien nicht mehr verlassen können, ohne sich in der Gefahr zu sehen, in Deutschland vor ein Gericht treten zu müssen.

Anzeigen als Zeugnisse gegen das Vergessen

Die Anzeigen und Verfahren in ganz Europa haben die argentinische Diskussion um Vergangenheitsbewältigung wieder belebt und den Hoffnungen derer, die nach der Wahrheit suchen, neuen Auftrieb gegeben. „Alle Arten von Gefühlen überkommen mich jetzt hier in Deutschland“, so erzählt Idalina Tatter, Ehefrau des 1976 verschwundenen Federico Tatter. „Diese Aktion hier bringt die schlimmen Erinnerungen der Vergangenheit hoch, aber auch so viel Enthusiasmus und Hoffnung, und immer neue Wut auf die Täter.“ Auch diese haben Reaktionen gezeigt. Sich bisher in Sicherheit wiegend, haben argentinische und chilenische Militärs teilweise heftig gegen die Prozesse protestiert.
Doch nicht nur den Tätern brennt das Thema unter den Nägeln. Auch die argentinische Öffentlichkeit insgesamt nimmt regen Anteil am Fortgang der Verfahren hier in Europa. Die großen Tageszeitungen berichten fast täglich über die Ermittlungen des Richters Baltasar Garzón in Spanien, der dort starkem internen Druck ausgesetzt ist, weil die Untersuchungen die Beziehungen zwischen Spanien und Argentinien belasten. Aber auch über die Anstrengungen, ein Verfahren hier in Deutschland einzuleiten, wurde in Zeitungen und Radio rege Bericht erstattet.
Währenddessen sind im März in einem zweiten Anlauf die Straffreiheitsgesetze in Argentinien für zukünftig nicht mehr gültig erklärt worden. Das bedeutet nicht, daß die Verfahren der Vergangenheit wieder aufgenommen werden, sondern nur, dass in Zukunft Menschenrechtsverletzungen, wie die unter der Diktatur begangenen, nicht straflos bleiben könnten. Ein noch weiter gehender Gesetzentwurf, den sechs Abgeordnete des Mitte-Linksbündnisses FREPASO Anfang des Jahres vorgelegt hatten, führten zu einer Krise in der Mitte Links-Koalition zwischen FREPASO und der früheren Regierungspartei Union Civica Radical (UCR) und war dann abgeschwächt worden.
Obwohl Umfragen zufolge zwischen 60 und 70 Prozent der ArgentinierInnen für eine vollständige Abschaffung der Gesetze sind, ist nun von den Parteien nur ein symbolischer Kompromiß gefunden worden, der zwar ein Beitrag in der Diskussion um die Vergangenheit ist, aber keine Gerechtigkeit für die Betroffenen herstellt.

Langer Atem nötig

Doch auch hier in Deutschland wird es schwierig sein, das Interesse an dem Verfahren aufrechtzuerhalten. Die Koalition gegen Straflosigkeit hatte Anfang Mai zu einem Hearing in den Bundestag geladen, zu dem auch Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel aus Argentinien angereist war. Dabei ist das Anliegen der ArgentinierInnen auf „offene Ohren“ deutscher Abgeordneter gestoßen, so berichtet Betina Ehrenhaus. „Doch werden den Worten Taten folgen? Gibt es in Deutschland den gesellschaftlichen und politischen Willen, das begangene Unrecht aufzuklären und die Täter zu bestrafen?“
Dabei gäbe es auch noch Licht in andere dunkle Ecken der deutsch-argentinischen Geschichte der Vergangenheitsbewältigung zu bringen. Der Vorwurf zum Beispiel, daß die deutsche stille Diplomatie zu Zeiten der Diktatur erfolglos war und die offiziellen VertreterInnen Deutschlands die Angehörigen der Verschwundenen nicht oder nicht genügend unterstützt haben, steht weiter im Raum. Und auch die Beteiligung Deutscher und deutschstämmiger ArgentinierInnen auf der Täterseite ist nie wirklich untersucht worden. Daß deutsche Unternehmer mit den Militärs kooperiert haben, ist eine naheliegende Vermutung. Wie sonst hätten in so kurzer Zeit damals Namenslisten von Gewerkschaftsmitgliedern erstellt werden können, die alle kurz darauf verhaftet wurden und seitdem verschwunden sind? Es gibt auch Berichte darüber, daß deutsche oder deutschstämmige Militärs an den Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren.
Auch wenn der Umgang mit den argentinischen MenschenrechtlerInnen von seiten der Bundesregierung und des Parlamentes heute offen und sogar unterstützend war, hat die Bundesregierung natürlich kein Interesse daran, die diplomatischen Beziehungen zu Argentinien zu belasten. Das Auswärtige Amt hält sich deshalb mit Stellungnahmen zum Verfahren zurück. Und der Bundesgerichtshof muß nun erst einmal eine Zuständigkeit für das Verfahren bestimmen. Dann erst wird diejenige Staatsanwaltschaft, der es letzendlich zugeteilt werden wird, die Ermittlungen aufnehmen. Es gibt keine Zeitvorschrift für dieses Verfahren, so daß die Gefahr besteht, daß sich alles verzögert und das Interesse an dem Vorgang wieder einschläft. Die schwierige Aufgabe der Koalition gegen die Straflosigkeit besteht deshalb nun darin, nicht nur das Gerichtsverfahren selbst vorzubereiten, sondern auch ein Interesse der deutschen Öffentlichkeit an der Aufarbeitung der argentinischen Menschenrechtsverletzungen wachzuhalten.

Kontakt: Dokumentations- und Informationszentrum Menschenrechte in Lateinamerika (DIML), Adlerstr. 40, 90403 Nürnberg, Tel. 0911/ 230 55 50, Fax: 0911/ 230 55 51, Email: DIML@link-n.cl.sub.de

Handlangerdienste für Fujimori

Die Herren des Morgengrauen waren Beamte des Bundeskriminalamtes (BKA) und der Hamburger Polizei. Neun Stunden durchsuchten sie die Wohn- und Arbeitsräume der Velazcos, kopierten die Festplatte ihrer Computer und beschlagnahmten zahlreiche schriftliche Unterlagen, Videokassetten und Arbeitsmaterialien.
Die Bundesanwaltschaft (BAW) wirft den Velazcos vor, von Hamburg aus die Besetzung der japanischen Botschafterresidenz in Lima geplant zu haben und ermittelt wegen Beihilfe zu erpresserischem Menschenraub und Geiselnahme. Isaac Velazco lebt seit vier Jahren als anerkannter politischer Flüchtling in Hamburg. Bei einem Unfall in Peru verlor er das Augenlicht. Unter abenteuerlichen Bedingungen gelang ihm die Flucht nach Kuba und dann in die BRD.

Stimmen gegen die Unterdrückung

Vom 17. Dezember 1996 bis 22. April 1997 waren die Velazcos weltweit vielgefragte Personen. In diesem Zeitraum hatte ein Kommando der MRTA die japanische Botschaft in Lima besetzt gehalten, um die Freilassung ihrer unter unmenschlichen Bedingungen eingekerkerten GenossInnen zu erreichen. Alle Guerilleras/os wurden beim Sturm auf die Botschaft am 22. April von Fujimoris Soldaten ermordet. Immer wieder prangerte Isaac Velazco die Menschenrechtsverletzungen des peruanischen Regimes an. Nicht nur deutsche, auch internationale Medien baten um Gesprächstermine. Norma Velazco war in Peru Menschenrechts- und MRTA-Aktivistin. Nach der Botschaftsbesetzung versuchte auch sie, die Öffentlichkeit für die Verhältnisse in dem Andenland zu sensibilisieren – vor allem über die Situation der Frauen in peruanischen Knästen.

Medien leisten Vorschub zur Kriminalisierung

Die Räume des FDCL waren nicht groß genug für die Medienverterter bei der Pressekonferenz mit Velazco am 22. Dezember 1996 unmittelbar nach der Botschaftsbesetzung. Doch schon damals schienen einige JournalistInnen eher an der Kriminalisierung von Velazco als an Infomationen über die Situation in Peru gelegen.
So hieß es unter dem Kürzel ‘ab’ in der Zeitung Die Welt: „Ein angeblicher Vertreter der Geiselnehmer in Lima hat gestern in Berlin eine Erklärung abgegeben… Der Ort der ‘Pressekonferenz’ war passend: Eine Guerilla-Kämpferin mit Gewehr ist im Flur des ‘Forschungs- und Dokumentationszentrums Chile-Südamerika’ im Kreuzberger Mehringhof an die Wand gemalt.“
Noch deutlicher waren die im Tenor identischen Artikel von Roman Goergen im Januar und Februar 1997 im Tagesspiegel und in den Stuttgarter Nachrichten: „Daß der ‘Combatant’ Velazco für eine Gruppe, die vor Terror nicht zurückschreckt, von den deutschen Behörden unbehelligt Propaganda treiben kann, liegt an seiner guten Kenntnis des Strafrechts in der Bundesrepublik. Er weiß, daß er als Asylant nicht in die politischen Belange der Bundesrepublik eingreifen darf. Auch sonst wählt Velazco seine Formulierungen mit Bedacht – kein Gewaltaufruf kommt über seine Lippen, nur nüchterne Fakten, garniert mit etwas Ideologie.“ Trotzdem hat sich Georgen schon mal bei den Behörden vergewissert. „Eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft bestätigt: ‘Velazco ist nur eine Person. Somit ermitteln wir nicht wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung’. Und solange er auch keine Straftaten begehe, werde nichts gegen ihn unternommen.“
Doch die BAW ermittelte schon gegen die Velazcos. Deren Aktivitäten hatten das Mißfallen der peruanischen Regierung ausgelöst, die in Schreiben an mehrere europäische Regierungen die Unterbindung dieser Aktivitäten verlangte. In Bonn fanden sie schnell Gehör.

Repressionen gegen die Velazcos

Die deutschen Behörden versuchen schon seit längerem, Velazco mundtot zu machen. Ende September 1997 verhängte der Hamburger Innensenat gegen ihn ein partielles politisches Betätigungsverbot. Verboten ist ihm jegliche Äußerung, die „im Zusammenhang mit den Zielen und dem Verhalten der MRTA in Peru die Anwendung von Gewalt befürwortet, rechtfertigt oder ankündigt“. Bei Zuwiderhandeln droht eine Geldstrafe zwischen 1.000 und 5.000 DM oder eine Haftstrafe. In der Verbotsbegründung wurde Velazco vorgeworfen, die Botschaftsbesetzung in Lima gerechtfertigt und damit die außenpolitischen Interessen der BRD „erheblich gefährdet zu haben“. Konkret wurden ihm Äußerungen zur Last gelegt, die er in einem CNN-Interview unmittelbar nach dem Sturm auf die Botschaft sowie in zwei in der Hamburger Monatszeitschrift Angehörigen Info abgedruckten Interviews gemacht haben soll. Velazcos Anwalt Hartmut Jacobi hat Widerspruch gegen die Entscheidung erhoben. Jetzt sei es nur noch ein kleiner Schritt, die Presse zu verbieten, die schreibt, was Velazco sagt, so seine Befürchtung. Schon wenige Woche später sollte die sich bestätigen.
Gegen die presserechtlich Verantworlichen des von den „Angehörigen, Freunden und Freundinnen politischer Gefangener in der BRD“ herausgegebenen Angehörigen Info wurde ein Verfahren wegen Billigung von Straftaten eingeleitet. Grundlagen dieses Verfahrens sind ein Kommuniqué der MRTA, ein nachgedrucktes Radiointerview mit Norma Velazco, eine Liste mit den Namen schwerkranker Gefangener in den Gefängnissen Perus sowie eine Zusammenstellung von Artikeln über den Terror des Fujimori-Regimes.
Daß sich die Staatsanwaltschaft aus der Fülle der Medien, in denen Velazco interviewt wurde, ausgerechnet das Angehörigen Info rauspickte, war sicher kein Zufall – die Publikation wurde schon häufig mit Verfahren überzogen. Nach einigen Monaten wurde dieses Verfahren eingestellt.
Isaac Velazco hielt auf der Internationalen Che-Guevara-Konferenz Ende September 1997 in Berlin eine Rede, in der er die Maßnahmen gegen ihn als Handlangerdienst für das Fujimori-Regime bewertete. Er sei von der MRTA als Europasprecher benannt worden, doch auch andere lateinamerikanische Guerillaorganisationen hätten Sprecher in Europa gehabt. Erinnert sei da nur an die SandinistInnen oder die FMLN aus El Salvador.

Gute Kontakte zwischen Bonn und Lima

Es ist nicht das erste Mal, daß sich die BRD-Regierung auf die Seite des peruanischen Regimes stellt. Als im vergangenen Juni eine Delegation der Angehörigen von peruanischen politischen Gefangenen gemeinsam mit den Madres de la Plaza de Mayo aus Argentinien während einer Rundreise durch die BRD über die Situation der Menschenrechte in Peru informieren wollte, verweigerte das Bonner Außenministerium die Einreise.
Die guten Kontakte der Repressionsorgane sind alllerdings schon älter. 1990 besuchten Vertreter der peruanischen Staatssicherheitsbehörden den Hochsicherheitsknast Köln-Ossendorf. Die peruanischen Vertreter tauschten sich mit den deutschen Behörden über die effektivsten Isolationsmaßnahmen aus.

Solidarität mit Velazco

In Hamburg haben sich Ende letzten Jahres rund 30 Organisationen, wie zum Beispiel die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, der Hamburger Flüchtlingsrat und die Bürgerschaftsfraktion der Grün-Alternativen Liste in einem Aufruf gegen das Betätigungsverbot für Isaac Velazco ausgesprochen. Nach der Razzia haben die Rote Hilfe e.V. in Hamburg und die Chile AG Braunschweig die Initiative ergriffen. Sie sammeln Unterschriften für eine Resolution, in der die Behörden zur unverzüglichen Einstellung aller Verfahren gegen die Velazcos und die Rückgabe der beschlagnahmten Materialien aufgefordert werden. Die Velazcos haben weitere Solidarität dringend nötig, denn die BAW behält sich mit der Erklärung, daß eine Festnahme bisher nicht erfolgt sei, weitere Schritte vor.

Nicht alle Ausländer sind unerwünscht

Auf allen politischen Ebenen unternimmt die Regierung in diesen Wochen den Versuch, internationale Menschenrechtsbeobachtung in Mexiko zu diskreditieren und unmöglich zu machen. Zu diesem Zweck wird eine Medienkampagne geführt und die Anstrengungen auf diplomatischem Parkett verstärkt.
Zahlreiche unabhängige MenschenrechtsbeobachterInnen wurden durch die Behörden bereits ausgewiesen, meist mit der Begründung, sich in innere Angelegenheiten einzumischen, was AusländerInnen laut Artikel 33 der Verfassung untersagt ist. Gleichzeitig verstärkt das Militär den Krieg niedriger Intensität gegen die Zapatistas in Chiapas – mit ausländischer Hilfe.
Anfang Mai haben die mexikanischen Behörden ausländischen MenschenrechtsbeobachterInnen eine Reihe von Kriterien gestellt, die sie in Zukunft erfüllen müssen, um ihrer Arbeit nachgehen zu können. Demnach muß 60 Tage vor der Einreise ein Antrag auf ein Visum gestellt werden. Außerdem verlangen die Behörden eine detaillierte Liste aller Personen und Organisationen, mit denen sich der Beobachter treffen möchte. Desweiteren müssen alle Orte, die besucht werden sollen, benannt werden. Es werden nur Personen zugelassen, die eine Mitarbeit in einer anerkannten Menschenrechtsorganisation nachweisen können. Die Reisezeit ist auf maximal zehn Tage beschränkt, und Delegationen dürfen nicht mehr als zehn Mitglieder zählen.

Regierung verhindert Beobachtung

Auch für den Fall, daß alle Kriterien erfüllt sind, behält sich das Innenministerium vor, innerhalb von 30 Tagen nach der Beantragung des Visums die Einreise zu verbieten. Personen, die das entsprechende Visum nicht erteilt bekommen und dennoch an Menschenrechtsbeobachtungen in Mexiko teilnehmen, werden in Zukunft mit der sofortigen Ausweisung rechnen müssen, so wie über 200 Personen seit Ausbruch der Rebellion in Chiapas Anfang 1994.
Falls die mexikanischen Behörden mit diesem Katalog Ernst machen, wird die unabhängige Beobachtungstätigkeit in Mexiko praktisch ausgeschlossen. Allein die Begrenzung eines Aufenthaltes auf zehn Tage macht eine sinnvolle Arbeit zunichte. Außerdem würde eine Erfüllung der Kriterien, wie die US-Organisation Human Rights Watch befürchtet, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen zusätzlich gefährden. „Menschenrechtsbeobachter dürfen nicht gezwungen werden, die Namen der Zeugen und Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu nennen, um sie interviewen zu dürfen, da sie diese Informationen Repressalien aussetzen könnten. Außerdem könnte eine angekündigte Information über die Orte, die besucht werden sollen, zu einer ernsten Gefahr für die BewohnerInnen dieser Orte führen, da sie Angriffen oder der Beobachtung durch die Behörden ausgesetzt werden könnten“, schreibt Dr. José Miguel Vivanco, der Direktor von Human Rights Watch für Amerika in einem Protestbrief an Präsident Ernesto Zedillo.
Die Verschärfung der Einreisebestimmungen und die Ausweisungswelle von internationalen BeobachterInnen kommt genau zu einem Zeitpunkt, an dem die Präsenz von MenschenrechtlerInnen in Mexiko immer wichtiger wird.
Nach übereinstimmender Einschätzung von internationalen Organisationen wie Human Rights Watch und amnesty international sowie mexikanischen Gruppen wie dem Centro de Derechos Humanos Fray Bartolomé de las Casas oder dem Centro de Derechos Humanos Miguel Augustín Pro-Juárez verschlechtert sich die Menschenrechtslage zusehends. In einem Brief an das Europäische Parlament machen die mexikanischen Gruppen darauf aufmerksam, daß die „Zahl extralegaler Hinrichtungen, das Verschwindenlassen, Folter und willkürliche Festnahmen“ ansteige. Gleichzeitig wachsen die Militarisierung und die von den Behörden geduldeten Aktivitäten von paramilitärischen Gruppen in verschiedenen Teilen des Landes.
In ihrem Brief von Mitte Mai fordern sie das Europäische Parlament daher auf, die Funktion eines Sonderberichterstatters zur Menschenrechtssituation in Mexiko einzurichten. Dieser Repräsentant der fünfzehn Mitgliedsstaaten der EU soll der Delegation der Europäischen Kommission in Mexiko untergeordnet sein und jährliche Berichte abgeben. Die mexikanischen MenschenrechtlerInnen versprechen sich davon, daß nach der Ratifizierung des Kooperationsabkommens zwischen Mexiko und der EU, das letzten Dezember geschlossen wurde, das Europäische Parlament auf die mexikanische Regierung Druck wegen der Einhaltung der Menschenrechte ausübt.

US-Training für mexikanisches Militär

Während Präsident Zedillo durch die internationalen MenschenrechtsbeobachterInnen Mexikos Souveränität bedroht sieht, verstärkt die Regierung mit Hochdruck die militärische Zusammenarbeit mit den USA. Mexiko ist mittlerweile das Land, das die größte Anzahl von Offizieren stellt, die durch das US-Militär in den USA ausgebildet werden. Nachdem am 23. Februar 1995 mit William Perry zum ersten Mal seit 1948 ein US-Verteidigungsminister Mexiko besuchte und im März 1996 eine Reihe von militärischen Kooperationsabkommen geschlossen wurden, ist die Zahl der Offiziere, die in der School of Americas (SOA) in Fort Bragg ausgebildet werden, von 15 (1994) auf 333 (1997) gestiegen. Die SOA ist ein Ausbildungszentrum des Pentagon, in dem Generationen lateinamerikanischer Militärs trainiert wurden, bevor sie in ihren Ländern an führender Stelle in der Aufstandsbekämpfung eingesetzt wurden. Unter ihnen befanden sich zahlreiche Offiziere, die an den brutalsten Menschenrechtsverbrechen der letzten Jahrzehnte in Lateinamerika beteiligt waren, so etwa 48 der 69 Offiziere, die von einer UN-Kommission der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen während des Krieges in El Salvador angeklagt wurden. Neben der SOA bestehen laut Angaben des Pentagon weitere 16 Ausbildungszentren des US-Militärs, in denen zur Zeit mexikanische Offiziere trainiert werden.
Die US-Militärhilfe umfaßt auch umfangreiche Waffenlieferungen, wie John Saxe Fernández, Militärexperte und Universitätsdozent in Mexiko-Stadt, zusammenfaßt: „1997 gab es eine Steigerung von 400 Prozent bei der Lieferung von Militärtechnologie aus den USA an Mexiko, verglichen mit den Vorjahren. Der Haushalt des US-Verteidigungsministeriums für die Ausbildung von mexikanischen Militärs wurde um 800 Prozent gesteigert.“ Diese Zusammenarbeit dient freilich dem Schutz der nationalen Souveränität, wie aus dem mexikanischen Verteidigungsministerium zu vernehmen ist.

Der Krieg aus der Sicht der Opfer

Drei Jahre haben die MitarbeiterInnen von REMHI gearbeitet, um die schwersten Menschenrechtsverletzungen des Bürgerkrieges in Guatemala zu dokumentieren. 600 eigens für dieses Projekt der Katholischen Kirche ausgebildete InterviewerInnen haben dazu mehr als 5.000 Zeugenaussagen gesammelt. „Das wichtigste Ziel unserer Arbeit war, die Geschichte des Krieges aus der Sicht der Opfer darzustellen“, erklärt der für das Projekt verantwortliche Bischof Juan Gerardi, der selbst von der Repression des Militärs betroffen war: 1981 mußte er mit seiner gesamten Diözese die Region des Quiché verlassen. Erst Mitte der achtziger Jahre konnte er aus dem Exil zurückkehren.
Mehr als 150.000 Tote forderte der Bürgerkrieg in Guatemala, der nach 36 Jahren Dauer am Ende des Jahres 1996 durch ein Friedensabkommen zwischen der guatemaltekischen Regierung und der Guerillabewegung URNG beendet wurde. Am schlimmsten war die Repression zu Beginn der achtziger Jahre, als das Militär im Kampf gegen die erstarkende Guerilla eine „Strategie der verbrannten Erde“ anwendete, in deren Verlauf hunderte Dörfer dem Erdboden gleichgemacht, zehntausende Zivilisten ermordet und hunderttausende Menschen vertrieben wurden. Die Täter genießen bis heute Straffreiheit. Seit Verabschiedung eines „Versöhnungsgesetzes“ Ende 1996 sind alle Menschenrechtsverletzungen, die im Rahmen des Krieges begangen wurden, amnestiert.

Keiner Schuld bewußt

Auch Ex-General Efraín Rios Montt, in dessen Amtszeit als Präsident einer Militärregierung 1982/83 unzählige Massaker an der Zivilbevölkerung begangen wurden, muß kaum fürchten, daß ihm für seine Verbrechen jemals der Prozeß gemacht wird. Heute steht er an der Spitze der „Republikanischen Front Guatemalas“ (FRG) und macht sich Hoffnungen, erneut Präsident des Landes zu werden. Die Kandidatur wurde dem Massenmörder bislang verwehrt, da laut Verfassung niemand zum Präsidenten gewählt werden darf, der zuvor durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen war. Doch dies kann sich noch ändern, auch die derzeitige Regierungspartei PAN möchte einen Schlußstrich unter die Vergangenheit ziehen. Oscar Berger, vermutlich der nächste Präsidentschaftskandidat der PAN, sprach sich kürzlich dafür aus, Rios Montt zur nächsten Wahl zuzulassen.
Verdrängen und Vergessen lautet die Devise, die Beschäftigung mit der Vergangenheit liegt nicht im Interesse der Regierung. Auch die offizielle „Wahrheitskommission“, die im Rahmen der Friedensabkommen beschlossen wurde und im Juli ihren Abschlußbericht vorlegen wird, ist für die Regierung von Präsident Arzú nur eine lästige Pflicht.
Diesem Verdrängen soll mit dem REMHI-Bericht entgegengearbeitet werden. Denn für die Opfer und Überlebenden des Krieges ist es enorm wichtig, sich Gehör zu verschaffen. Jahrelang waren sie zum Schweigen verurteilt – es war zu gefährlich, über die Massaker des Militärs auch nur zu sprechen. Weil die InterviewerInnen von REMHI meist selbst aus den betroffenen Gemeinden kamen, konnten sie den Menschen ihre Angst nehmen und sie dazu bewegen, über ihre Erfahrungen zu sprechen.
Die Wunden des Krieges sitzen tief, das Sprechen über die Vergangenheit war aber immerhin ein erster Schritt zur Verarbeitung des Erlebten. Die Tabuisierung der Repression hat die so wichtige Trauerarbeit in den vom Krieg betroffenen Gemeinden lange verhindert: „Oft konnten die Überlebenden nicht einmal die für sie so wichtige Totenwache für ihre ermordeten Angehörigen abhalten. Sie mußten befürchten, daß das Militär in diesem Moment neue Morde begeht“, erzählt der deutsche Anwalt Michael Moerth, der seit 1995 bei REMHI tätig ist.

Das Trauma der Überlebenden

Der Terror gegen wehrlose Männer, Frauen und Kinder hatte System. In rund der Hälfte der mehr als 400 untersuchten Massaker wurden gezielt Kinder ermordet, manche von ihnen noch Säuglinge. Diese Grausamkeit sollte die Überlebenden traumatisieren und den Zusammenhalt der Indígena-Gemeinden zerstören, um die verbleibende Bevölkerung in paramilitärisch organisierten sogenannten „Selbstverteidigungspatrouillen“ dem Willen der Militärs zu unterwerfen. Diese Patrouillen waren ein wichtiges Instrument zur Bespitzelung und Verfolgung der Bevölkerung.
REMHI will die Menschen auch weiterhin begleiten: Sei es durch Projekte zur psychosozialen Betreuung in den Gemeinden, Hilfestellung bei der Exhumierung von Massengräbern oder durch ein Mahnmal an der Kathedrale von Guatemala-Stadt, an dessen Eingang die Namen der mehr als 16.000 Opfer, die im Bericht erwähnt werden, auf Marmorplatten eingraviert werden. „Den Menschen ihre Würde zurückzugeben und das im Krieg zerstörte Netz sozialer Beziehungen neu zu knüpfen“, formuliert Bischof Gerardi als zentrale Herausforderungen für die zukünftige Arbeit von REMHI in den von der Repression betroffenen Gemeinden.
Doch auch Regierung und Staat sollen nicht aus der Verantwortung entlassen werden. Zuallererst, so eine der Forderungen des Berichts, müsse „der Staat öffentlich die Geschehnisse und seine Verantwortung für die massive und systematische Verletzung der Menschenrechte der guatemaltekischen Bevölkerung anerkennen.“ Gleiches wird von der Ex-Guerilla URNG verlangt, die während des Krieges ebenfalls Menschenrechtsverletzungen begangen hat und für mehrere Massaker an der Zivilbevölkerung verantwortlich ist. Das Anerkennen der Schuld seitens der Täter sei die Basis für eine Versöhnung, zu der viele Opfer durchaus bereit seien.
Darüber hinaus solle die Regierung die Opfer materiell entschädigen, schließlich haben die Menschen durch die Zerstörung ihrer Dörfer und die anschließende Flucht oft ihre gesamte Habe verloren. Dazu gehöre auch eine gerechtere Landverteilung, denn auf den großen Fincas, den Landgütern, auf denen die landarme oder landlose Bevölkerung zu arbeiten gezwungen ist, sind Menschenrechtsverletzungen auch heute noch alltäglich.
Es ist nicht zu erwarten, daß die Regierung dem REMHI-Bericht allzu große Aufmerksamkeit schenken wird. Die Empfehlungen des Berichts stehen der neoliberalen Regierungspolitik diametral entgegen und der Schutz der Menschenrechte hat für Präsident Arzú keine Priorität.

Medico International und das INKOTA-netzwerk (zu INKOTA siehe auch den Artikel auf den Seiten 41-44 dieser Ausgabe) haben die Veröffentlichung des REMHI-Berichts mitfinanziert. Für die Weiterarbeit von REMHI in den Gemeinden wird dringend Unterstützung benötigt. INKOTA bittet dafür um Spenden auf das Konto Nr. 155 500 0010 bei der Bank für Kirche und Diakonie (BLZ: 350 601 90). Stichwort: REMHI.

KASTEN:
Fall 2173, Buena Vista, Huehuetenango, 1981:

„Ich betete zu Gott, daß sie mich wenigstens zuerst töten würden, ich wollte nicht ansehen müssen, was sie mit meinen Kindern machen, denn sie machten es immer so: zuerst bringen sie die Kinder um, es war eine Art, die Leute zu foltern, die Eltern, und ich dachte all dies. Aber Gott sei Dank kam es nicht dazu.
Da gab es einen, der mit dem Leben davon kam. Seiner Frau haben sie das Kind rausgeholt, die war noch am Leben, und sie holten ihr das Kind raus, das sie erwartete – vor dem Ehemann und ihren Kindern, und die Frau starb und auch die Kinder. Sie haben sie getötet. Der einzige der überlebte, war der Mann, er entkam.“

Fall 8586, Aldea Ixcahin Nuevo Progreso, San Marcos, 1973:

„Als sie meinen Vater verhafteten, war ich zwölf Jahre alt, ich war das älteste Kind. Wir haben uns nicht getraut, etwas zu sagen, wir waren im Haus und weinten, als sie ihn herausholten. Kurz danach kam mein Vater zurück und sagte: Schau Mario, du mußt nicht weinen, ich komme gleich zurück; es war ungefähr zehn oder elf Uhr nachts, zu dieser Zeit ging ich in die 4. Klasse der Grundschule; am nächsten Tag ging ich in die Schule und sagte der Lehrerin, daß sie meinen Vater entführt haben und daß ich nicht mehr in die Schule ginge, weil es niemanden mehr gäbe, der mir Hefte kauft. Meine Stiefmutter ging nach Pajapita, um Arbeit zu suchen, und so blieb ich allein mit meinem kleinen Bruder. Eine Tante von mir, die Lorenza heißt, hat uns zu essen gegeben und auch die Nachbarn.
Kurze Zeit nach der Entführung meines Vaters, haben sie unser Haus niedergebrannt: in dieser Nacht waren wir zum Haus meiner Tante gegangen, um dort zu essen, und wir spielten mit einem Ball, meiner kleiner Bruder war schon vorausgegangen und als er am Haus ankam, wartete eine Gruppe Männer auf uns, sie hielten ihn am Nacken fest und fragten ihn: Bis Du Mario? Nein? Wir werden auf ihn warten. Ich war noch weiter weg. Sie begannen Benzin auf das Haus zu gießen. Ismael dachte, sie würden uns beide töten und dann dachte er sich, besser sie bringen nur mich um, ich werde laufen. Also stand er auf und sagte ihnen, er ginge pinkeln. Und sie sagten ihm: Bleib hier, pinkle hier vor uns! Und sie faßten ihn, aber er riß sich los, und sie schossen zweimal auf ihn, damit er nicht wegliefe, aber ihm war es egal, ob sie ihn töteten, um mir das Leben zu retten. Und das hat er gut gemacht, denn ich kam schon den Weg entlang. Ich hatte die Schüsse gehört und fragte mich, was da los sei. Da kam er weinend angelaufen, sie hatten ihn nicht getroffen! Ich lief ihm hinterher und fragte ihn: Hey, was ist los? Mario, sagte er, stell Dir vor, da wollen einige Männer mit Dir sprechen, aber sie wollen uns töten. Ich fing an zu zittern, wir waren unschuldig. Wir kehrten zum Haus der Tante zurück; als wir dort ankamen, sahen wir die Flammen, sie brennen unser Haus nieder! Unser Leben als Kind war voller Leid, sie haben uns nichts gelassen.“

Fall 5339, Plan de Sánchez, Baja Verapaz, 1982:

„An diesem Tag kam die Armee. Sie kamen aus dem Militärquartier von Rabinal. Im Morgengrauen gingen sie nach Plan de Sánchez hoch. Als sie die Gemeinde erreichten, sperrten sie die Wege auf beiden Seiten des Dorfes ab. Mitglieder der Zivilpatrouillen gingen jeweils zu zweit von Haus zu Haus und holten die Familien aus ihren Häusern. Als sie in allen Häusern waren, brachten sie die Familien in das Haus von Rosa Manuel, wo sie sie gefesselt haben: Männer, Frauen und Kinder. Alle Personen, die zum Markt gekommen waren: Leute aus Concul, Ixchel, Balanché, Raxjut, Joyá de Ramos, sie hatten ihre Waren dabei und dort blieben sie, tot. Ungefähr 180 Menschen sind an diesem Tag gestorben.
So begangen sie das Massaker: sie trieben alle Personen zusammen, Männer, Frauen, Alte, Kinder, Mädchen. Und da nicht alle in das Haus von Rosa Manuel paßten, holten sie die Mädchen zwischen 12 und 14 Jahren und brachten sie in ein anderes Haus, um sie zu vergewaltigen. Sie vergewaltigten 14 Mädchen, die 14 Jahre alt waren. Der Anführer der Zivilpatrouille war der Kommandant Díaz, der in Chol lebte. Die Kadetten baten beim Kommandanten um Erlaubnis, alle Leute, die sie versammelt hatten, durchsuchen zu dürfen. Sie nahmen ihnen ihr Geld weg, den Frauen alte Halsketten und Ringe, sie packten alles in einen Sack und nahmen es mit. Als sie ihnen alles weggenommen hatten, durchsuchten sie alle Häuser, sie begannen herumzuschießen, warfen eine Granate mitten in die Familien und schossen Maschinengewehrsalven auf sie. Das dauerte ungefähr drei Stunden, danach gossen sie Benzin auf das Haus, und sie zündeten die armen Seelen an.
Wir waren in der Nähe und sahen alles, was sie taten. Wir wurden zwei Jahre lang nach dem Tod unserer Familie verfolgt, und drei Jahre lang hatten wir kein Haus, wir lebten unter Bäumen. Aber hier sind wir. Sie haben unsere Häuser zerstört, unseren Besitz geraubt, die Tiere mitgenommen, das Maisfeld zerstört, sie haben uns Tag und Nacht verfolgt.“

Die Gringos gehen – der Weihnachtsmann kommt

In Albrook, einer der bereits verlassenen Kasernen des Kommando Süd der US-Streitkräfte am Kanal von Panama, hat in einem der zurückgelassenen Verwaltungsgebäude die City of Knowledge Einzug gehalten, panamaisches Prestige-Projekt unter besonderer Fürsorge des Staatspräsidenten Ernesto Perez Balladares. In der Werbebroschüre wirbt die Stiftung für sich als „einzigartiges Projekt“, unter dessen Dach die Koordination internationaler Lehr- und Forschungsinstitutionen betrieben werden soll, mit dem Ziel, Panama als internationalen Forschungsstandort zu etablieren. Zugpferd ist der US-Forschungskoloß Smithsonian Institute, der seit Jahren schon in den tropischen Wäldern Panamas Biodiversitäts-Studien durchführt.
Kürzlich beschloß die EU, innerhalb der City of Knowledge einen Technologie-Park mit 1,1 Mio US-Dollar zu unterstützen. Die Zugangskriterien zur Ciudad del Saber, wie sie wahlweise genannt wird, scheinen zwar hoch (Internationalität, Renomée und Erfahrung, Interdisziplinarität, Kompatibilität, Innovation, etc.), in der Praxis aber reduziert sich die Sache auf das Zur-Verfügung-Stellen von Infrastruktur für jedwedes Unternehmen, das die Standortvorteile Panamas für seine Zwecke, seien es akademische oder privatwirtschaftliche, nutzen will. Im Dezember vom Parlament ins Leben gerufen, wird nun mächtig die Werbetrommel gerührt. Wenn die City of Knowledge Ende nächsten Jahres nach Fort Clayton, zur Zeit noch von US-Amerikanern besetzt, umziehen wird, „hat sie sich“, so hofft Direktor Prof. Jorge Arosemena, Ex-Chef der Universidad de Panama, „international als First-Class-Forschungszentrum etabliert“.

Rückgabe bis zum Jahr 2000

Die City of Knowledge ist das Vorzeigeobjekt Panamas innerhalb der nicht ganz einfachen Aufgabe, die Territorien der nach und nach an die Staatssouveränität übergebenen US-Kasernen an den Ufern des Kanals in den urbanen und ökonomischen Großraum Panama-Stadt zu integrieren. Viel mehr an städteplanerischen Ideen hat sich die Autoridad de la Region Interoceanica (ARI), die für die Verwaltung, Planung und Nutzung der übergebenen Kasernen-Areale zuständig ist, für die zum Teil ziemlich heruntergekommenen Grundstücke und Immobilien noch nicht einfallen lassen.
Auf dem Gelände des ehemaligen Militärflughafens Albrook wird der Regionalflughafen Paitilla, der zur Zeit noch im Herzen der Stadt die Bankentürme säumt, angesiedelt, hier und da hat man sich eine Altenwohnanlage oder ein Ärztezentrum ausgedacht, verschiedene Regierungsinstitutionen sollen hierher umziehen. Der Großteil der Freizeitanlagen, Sozialzentren, Supermärkte, Verwaltungs-, Büro- und Wohnhäuser aber wird schlicht verkauft. Ursprünglich wollte man eine Quote für InländerInnen freihalten, mangels städteplanerischer Visionen wurde dies dann aber obsolet und schließlich vergessen.
Die Kanal-Verträge zwischen Panama und den USA, 1977 von den Präsidenten Torrijos und Carter unterzeichnet, sehen den vollständigen Abzug der US-Truppen aus Panama bis zum 31.12.1999 vor. Nun ist er im vollen Gange, nach und nach werden unter zeremonienschweren Gedenkfeiern die einzelnen Territorien übergeben und die US-Flaggen eingeholt. Im September 1997 begann der offizielle Abzug, zur Zeit verbleiben noch rund 4000 Soldaten mit ihren Familien in den Basen Davis und Espinar an der Atlantikküste, sowie Amador und Albrook am Pazifik.
Von der Mehrheit der panamaischen Bevölkerung wird der Abzug der Gringos begrüßt, in bestimmten Kreisen erzeugt er allerdings durchaus auch Unbehagen. Die Präsenz der US-Armee bedeutete nämlich in dreierlei Hinsicht einen bedeutenden Faktor für die nationale Ökonomie: Sie steigerte den direkten und indirekten Konsum, sei es in Form von Konstruktionen und Reparaturen oder aller Arten von Dienstleistungen. Außerdem ließ Washington sich die Gastfreundschaft Panamas Ausgleichszahlungen von etlichen Millionen US-Dollar kosten, die jährlich direkt in die Staatskassen flossen. Und nicht zuletzt sind der Kanal und die Freihandelszone das wichtigste Standbein der panamaischen Ökonomie.
Die Einnahmen aus dem Export von landwirtschaftlichen Gütern oder Tourismus sind gering, als internationaler Finanzstandort hat Panama in den letzten zehn Jahren stark an Bedeutung verloren. Die US-Amerikaner waren Garant für die „Stabilität“ im Land und die Offenhaltung des Kanals. Was, wenn sie nun weg sind?, fragen sich nicht wenige. Werden wir in der Lage sein, die Sicherheit und Zukunft des Kanals zu schützen?

Das Centro Multilateral Antidrogas (CMA)

So liegt die Idee nahe, nach einer Möglichkeit zu suchen, unter Umgehung der Torrijos-Carter-Verträge weiterhin die Anwesenheit amerikanischer Streit- und Sicherheitskräfte im Land zu gewährleisten – eine Idee, die im State Department schon zu genüge erörtert worden sein dürfte. Folgerichtig hatte man von US-Seite aus schon frühzeitig das Interesse an einer „reduzierten militärischen Präsenz“ auch nach der Erfüllung der Torrijos-Carter-Verträge angekündigt.
1995 begannen die Regierungen Panamas und der Vereinigten Staaten diesbezüglich informelle Gespräche. Rasch war die Idee eines multilateralen Zentrums zum Anti-Drogen-Kampf geboren, das Centro Multilateral Antidrogas (CMA). Der verstorbene Außenminister Panamas, Gabriel Lewis Galindo, bot in nobler und uneigenütziger Geste panamaisches Territorium zur Initiierung des internationalen Anti-Drogen-Kampfes feil, die Vereinigten Staaten brauchten nur noch, ebenso nobel und uneigennützig, die Geste anzunehmen. Wenngleich als ziviles Projekt konzipiert, war die militärische Komponente von Beginn an fundamental. Aufgabe der US-Streitkräfte und Sicherheitsdienste wäre die Überwachung des Luft- und Seeraumes. Das Gespenst des Drogenhandels tat seine Dienste. Am 23. Dezember des vergangenen Jahres kamen die Unterhändler der beiden Staaten zu einer vorläufigen Übereinkunft. Obschon geheim gehalten, veröffentlichte die mexikanische Presse Ende Januar die wesentlichen Inhalte: 2500 (US-)Soldaten sollen vom 1. Januar 2000 an ihre Arbeit aufnehmen, insgesamt spricht man von einem Personalstock von bis zu 3500 Personen. 53,5 Millionen Dollar jährlich werden die USA dem südlichsten Staat Mittelamerikas für die ersten zwölf Jahre zahlen, danach soll der Vertrag alle fünf Jahre neu ausgehandelt werden. 33 Gebäude auf der 1914 erbauten Howard Base stehen für das CMA zur Verfügung. Um die Multilateralität (und Legitimität) des Zentrums zu garantieren, sieht der Vor-Vertrag vor, die Unterstützung und Mitwirkung von mindestens vier weiteren lateinamerikanischen Staaten zu erreichen.

Quarry Heights – Abschied und Kontinuität

Politisch koordiniert werden soll das CMA von einer Außenstelle des Ministerio de Relaciones Exteriores auf der Quarry Heights Base, jener Base, die 84 Jahre lang das logistische Nervenzentrum der Aktivitäten des Kommando Süd der US-amerikanischen Streit- und Sicherheitskräfte darstellte. Unzählige Operationen und militärische Eingriffe in etlichen Staaten Lateinamerikas wurden von hier aus geplant und geleitet. Auch die Invasion im Dezember 1989 gegen das Regime des General Manuel Antonio Noriega, der jahrelang auf der Gehaltsliste der CIA gestanden und eng mit der Reagan-Administration gegen die sandinistische Revolution in Nicaragua gearbeitet hatte, wurde von hier aus durchgeführt. Noriega verbüßt nun in den USA eine Haftstrafe von 40 Jahren. Hunderte von Zivilisten wurden bei der nur wenige Tage andauernden Invasion getötet.
Im vergangenen September wurde die Kommandantur nach Miami verlegt. Am 8. Januar diesen Jahres übergab der Botschafter der Vereinigten Staaten, William Hughes, dem Außenminister Ricardo Alberto Arias offiziell die Verwaltung von Quarry Heights. Der US-Repräsentant hatte es sich bei dieser Gelegenheit nicht nehmen lassen, eine glorienreiche Rede zu halten über den Sieg der Freiheit über totalitäre Ideologien in der Hemisphäre, dank der würdevollen Arbeit tausender Männer und Frauen, die stets vor Ort waren, „wann und wo auch immer sie gerufen waren“.

Anlaß zur Sorge – Beispiel I

Ein nicht unwichtiger Teil der strategischen Arbeit des Comando Sur der USA wird zu Hause erledigt. Georgia, Fort Benning: Escuela de las Americas. Hunderte lateinamerikanischer Militärs erhielten hier Ausbildung in Kriegsstrategie, Aufklärung, Anti-Guerilla-Kampf, Terror, Zensur und Folter. Heute bekleiden sie, wenn sie nicht gerade zufällig im Gefängnis sitzen wie Noriega, hohe Posten innerhalb ihrer Armeen.
Vor wenigen Wochen wurden Friedensrechtler in den USA zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, weil sie es gewagt hatten, die Einfahrt der Escuela de las Americas für einige Stunden zu blockieren und die Militärs Mörder zu schimpfen. Es ist somit ein äußerst heikler Punkt, daß eine Aufgabe des CMA laut Vertragstext „Anti-Drogen-Training für Militärs und Polizisten“ sein wird. Panama hatte nach der Invasion 1989 seine Armee offiziell abgeschafft. Entsprechend wurden seitdem keine Personen mehr nach Georgia gesandt. Nun besteht durchaus Anlaß zur Befürchtung, daß zwar Panamaer nicht mehr nach Fort Benning, Fort Benning aber nach Panama kommen wird.

Anlaß zur Sorge – Beispiel II

Ende des vergangenen Jahres ging ein Kooperationsvorschlag bei der City of Knowledge ein mit dem Ziel, das Tropic Test Center (TTC), ein angeblich ziviles Forschungszentrum, in die Akademie zu integrieren. In der Beschreibung seiner Tätigkeiten wird man dann stutzig. 60 Prozent seiner Arbeit bestehe aus Munitionstests, die man auf speziellem Gelände in Gamboa, Nuevo Emperador oder Fort Sherman durchführe.
Die Friedensorganisation Fellowship of Reconciliation (FOR) gibt Aufschluß über das TTC. Es handele sich um eine militärische Agentur, die seit 30 Jahren Tests mit aller Art von Geschossen, darunter Nervengas und radioaktive Munition, im Auftrag des Pentagons durchführe. „Das TTC versucht in Geheimverhandlungen, auf panamaischem Boden verbleiben zu können“, gibt FOR zu wissen. Da das TTC keine Möglichkeit mehr für eine Angliederung an das multilaterale Drogenzentrum sehe, versuche man nun die Variante über die City of Knowledge (man erinnere sich an den hübschen Euphemismus jener in Klassenzimmer umgerüsteten Baracken und durch Studenten ausgetauschten Soldaten). „Mein Eindruck ist, daß alles (was in Vietnam benutzt wurde)“, so Rick Stauber, Autor eines Pentagon-Berichts über uranhaltige Projektile, „vorher hier in Panama vom TTC unter tropischen Bedingungen an verschiedenen Orten getestet wurde.“ Balladares scheint eine weitere Präsenz des TTC unter bestimmten Bedingungen gewährleisten zu wollen, die Verhandlungen werden auch hier geheim geführt.

Internationale Unterstützung

Für das CMA sucht man nun dringend internationale Unterstützung, sei es zu Zwecken der Legitimation, sei es der Funktionalität des CMA wegen. Die Regierungen El Salvadors und Boliviens haben Zustimmung und Interesse signalisiert, am CMA mitzuwirken.
Bei seinem Staatsbesuch im November des vergangenen Jahres erkundigte sich der spanische Staatspräsident José María Aznar nach dem Stand der Verhandlungen und setzte ebenfalls schon den ersten Fuß in die Tür des High-Tech-Zentrums: „Wir werden die Sache mit höchstem Interesse verfolgen, und in dem Maße, in dem die Gespräche und Verhandlungen fortschreiten, sehen wir die mögliche Beteiligung Spaniens und anderer Staaten der Europäischen Union“. Im Hinblick auf die Dominanz der Vereinigten Staaten in den Anfangsverhandlungen betonte er allerdings die Notwendigkeit, „die Multilateralität des CMA“ zu garantieren. José Ignacio Salafranca, Präsident der Europäischen Volkspartei, versicherte anläßlich einer Delegationsreise von Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die EU sei durchaus in der Lage, das CMA zu unterstützen, sobald denn erstmal seine Parameter definiert seien. Er wies auf die „wichtigen finanziellen Mittel hin“, die die EU in der Vergangenheit „im Subkontinent“ mobilisiert habe, „um dieses Problem zu bekämpfen“ und betonte, die EU könne sich “des Anti-Drogen-Kampfes nicht entziehen“, darum ihr „positiver und aktiver Beitrag“ zum CMA. Es gilt als sicher, daß Kolumbien zu den ersten gehören wird, die sich am CMA beteiligen – zu verlockend ist die Aussicht für die vom Guerillakampf geschundene Armee, Training und Militärhilfe zu ergattern.

Internationale Skepsis

Doch die internationale Zustimmung ist reichlich beschränkt. Die Mehrheit der lateinamerikanischen Staaten steht der Verlängerung US-amerikanischer Präsenz in Mittelamerika eher skeptisch gegenüber.
Mexikanische Sicherheitskreise drücken ihre Ablehnung aus gegen ein „verkleidetes Projekt, das die Vergewaltigung regionaler Souveränitäten legitimiert“. Sergio Gonzales Galvez, bis Februar Außenminister Mexikos (seine Nachfolgerin, Rosario Green, hält gleichwohl nun schon moderatere Töne für das Projekt bereit), bekräftigte die Opposition seines Landes gegen das Projekt, solange sein ziviler und multilateraler Charakter nicht gewährleistet sei und damit die Möglichkeit für die USA ausgeschlossen sei, von dort aus militärische Operationen gegen andere Nationen des Kontinents durchzuführen. Der Vertragstext aber hält sich über die konkreten Aktivitäten des CMA relativ bedeckt. Vom „Einholen und Verarbeiten von Primärinformationen über Wege des Drogenhandels“ ist die Rede, der Koordinierung von Überwachung und Kontrolle in der Region, von humanitären Rettungsaktionen sowie von „weiteren Missionen“ – und hier liegt der Hase im Pfeffer. Als US-Chefunterhändler Thomas McNamara im Februar nach Panama reiste, um die offensichtlich ins Stocken geratenen Verhandlungen wieder aufleben zu lassen, wurde er zu jeder Gelegenheit nach der Bedeutung dieser Formulierung gefragt – und blieb eine Antwort schuldig. Und dies, obwohl seitens der USA bzw. des Pentagons darauf beharrt wird, daß jene Textpassage „unentbehrlich und nicht verhandelbar“ sei: „Ohne das bringt das ganze Projekt nichts“, erklärte ein Pentagon-Funktionär lapidar.
Um was es bei „weiteren Missionen“ letztendlich gehen könnte, läßt das Beispiel Kolumbiens ahnen. Das Bekanntwerden wiederholter Menschenrechtsverletzungen der kolumbianischen Armee, Foltercamps, Massenermordungen und die Zusammenarbeit mit guardias blancas hatten deren Unterstützung im internationalen Rahmen problematisch werden lassen. So war in den letzten zehn Jahren die US-Militärhilfe für die berüchtigte Armee stark zurückgeschraubt worden.
Da es den USA aber mit der Zeit gelungen war, ihrer Militärhilfe durch die strategische Anwendung von Begriffen wie Menschenrechte, Humanismus und eben Drogenhandel ein neues Outfit zu verleihen, konnte im letzten Jahr militärisches Gerät im Wert von mehr als 100 Millionen US-Dollar übergeben werden. Kolumbien ließ sich natürlich nicht lange bitten und beantragte sogleich den Kauf von zwölf Kampfhubschraubern Cobra. (Sollte der Handel von US-Seite genehmigt werden, wäre Kolumbien das erste Land Lateinamerikas, das nach der Aufhebung des US-Embargos gegen den Verkauf von High-Tech-Waffen in die Hemisphäre durch Präsident Clinton Ende vergangenen Jahres solch hochentwickeltes Gerät erhielte.) Ist der Anti-Drogen-Kampf aber erst einmal institutionalisiert und legitimiert, läßt er sich beliebig mit anderen, allzu bekannten Interessen verbinden. „Wir sehen das Problem des Drogenhandels als vorrangig an“, zitiert Ende März die Washington Post einen hohen Pentagon-Funktionär, „aber wir sind sehr sensibel gegenüber der Tatsache, daß es eine Verbindung gibt zwischen Drogenhändlern und den Aufständischen“ (gemeint sind FARC- und ELN-Guerilla). Dann wird er deutlich: Obschon seine Regierung noch (!) nicht „präpariert“ sei, einen militärischen Schlagabtausch direkt zu unterstützen, der nicht mit dem Thema Drogen zu tun hätte, so herrsche doch große Besorgnis angesichts jüngster Niederlagen der Armee und einer wachsenden Feuerkraft der Guerilla.

Nationaler Widerstand

Zur gleichen Zeit regt sich Widerspruch innerhalb des Landes gegen eine verlängerte Präsenz der US-Streitkräfte. „Die Übereinkünfte zwischen Panama und USA, ein Anti-Drogen-Zentrum am Kanal zu installieren“, so Ex-Präsident Guillermo Endara, „sind ein teuflisches Geschenk an die Clinton-Administration“. Kurioserweise ist es eben jener Politiker, den die USA nach ihrer Invasion 1989 als Präsidenten der Republik einsetzten, der heute als einer der vehementesten Wortführer gegen das CMA Front zu machen sucht. Gewerkschaftliche, religiöse und studentische Gruppen rufen zum Widerstand auf gegen das CMA, welches nichts mehr sei als „ein neuer Mechanismus der Kontrolle über die Region“, mit dessen Hilfe und „dem Vorwand des Drogenhandels die USA ihre üblen hegemonialen Interessen im neuen Jahrhundert weiterführen werden“.
Selbst innerhalb der Regierungspartei Panamas, der revolutionären demokratischen PRD, wird das Unternehmen mit verhaltener Kritik begutachtet, war es doch der Gründer der Partei selbst, General Omar Torrijos, der zu seiner Zeit meinte, seine Heimat sei nicht eher souverän, bevor die USA nicht gänzlich das Land verlassen hätten.
Als Staatspräsident Balladares im Februar seine Absicht verkündete, bei den Wahlen 1999 erneut als Kandidat anzutreten, stellte er ein Volksreferendum in Aussicht, bei dem gleichzeitig über eine dazu notwendige Verfassungsänderung und über das CMA-Projekt abgestimmt werden solle. Die Chancen, in beiden Punkten erfolgreich zu sein, stehen nicht allzu schlecht. Obschon eine Mehrheit der Bevölkerung der ökonomischen Situation des Landes und der Außenpolitik der Vereinigten Staaten eher kritisch gegenübersteht und trotz des autokratischen Regierungsstils von Balladares, befürwortet doch eine große Anzahl die weitere Präsenz US-amerikanischer Streitkräfte im Land, und genießt die Opposition des Landes keine große Popularität.
In einer am 23. März veröffentlichten Umfrage (Dichter & Nerira; http/www.prensa.com/encuesta) sprachen sich 60 Prozent der Befragten für das CMA aus. Auf die Frage, ob man zufrieden sei mit der Weise, wie die Regierung die Verhandlungen führe, antworteten allerdings 31 Prozent mit Ja, 48 Prozent mit Nein, 21 Prozent beantworteten die Frage gar nicht. Befragt nach der Erfüllung seines Amtes waren 63 Prozent der Meinung, Balladares erfülle dies gut bis exzellent, bei der Sonntagsfrage schneidet er mit rund 30 Prozent als eindeutiger Sieger ab. Der Regierung stellen 58 Prozent der Befragten ein gutes Zeugnis aus, in Kontrast zum Parlament, dessen Arbeit 64 Prozent mit schlecht oder miserabel bewerten. 58 Prozent der Befragten hält die Opposition des Landes für nicht vorbereitet, ab 1999 die Regierungsgeschäfte zu übernehmen.

Stillstand der Verhandlungen

Doch auch mit diesem demographischen Rückhalt ist die Zukunft des CMA noch ungewiß. Nicht nur inländische Opposition und auswärtige Kritik blasen der endgültigen Verabschiedung eines CMA-Vertrages zwischen Panama und den USA Wind ins Gesicht. Die Verhandlungsbasis der Panamaer ist weder politisch noch ökonomisch souverän, und so hat die Regierung durchaus etwas zu verlieren – bzw. zu gewinnen. Offensichtlich sind sich Balladares und sein Chef-Unterhändler Jorge Eduardo Ritter dessen sehr bewußt, und man ist nicht bereit, sich zu billig zu verkaufen.
Ein Punkt, der die Geister scheidet, ist die Eigentumsfrage über die Einrichtungen des CMA. Panama weigert sich strikt, der Forderung der USA nachzukommen, ihr juristische Verfügung über das Zentrum zu überlassen. In den letzten drei Monaten sind die Verhandlungen praktisch keinen Schritt weiter gekommen. „Ich bin sicher, daß die Vereinigten Staaten ihre Überwachung von einem anderen Ort aus fortführen werden, sollte Panama nicht zu einer Übereinkunft kommen“, meinte spitzfindig Außenminister Ricardo Alberto Arias im vergangenen November. Und im gleichen Ton, befragt nach dem Verhandlungsstand mit den USA, bekräftigte am 26. März Präsident Balladares, daß sein Land keinerlei Eile habe, das Thema einer möglichen Einrichtung eines CMA zu definieren. „Sollte sich dies hinauszögern und kein Referendum vor Ende des Jahres möglich sein, nun dann lassen wir das halt offen“. In jedem Fall dürften die Verhandlungen die Wahlen, die im Mai 1999 abgehalten werden, nicht stören. Und er wurde noch deutlicher: „Wir werden nicht akzeptieren, daß das CMA als Vorwand für die Errichtung einer Militärbasis benutzt wird.“ Es sei nicht einfach, mit den USA zu verhandeln. „Die Geschichte der Beziehungen unseres Landes mit den Vereinigten Staaten ist geprägt von dem Versuch, sich von vornherein unseren Konditionen zu entledigen.“ Während das State Department schon zufrieden sei, daß es eine gewisse US-amerikanische Präsenz in Panama gebe, „hätten die im Pentagon am liebsten, daß das ganze Land eine Militärbasis sei“.
Es bleibt also abzuwarten, wann und unter welchen Konditionen das CMA seine Arbeit aufnehmen wird. Panama, soviel scheint jedenfalls sicher, wird ohne die Mitwirkung anderer Staaten keinen offiziellen Startschuß geben. Und den USA läuft die Zeit davon, nachdem der Versuch, über die Drohung mit Ausweichstandorten wie Miami oder Honduras Druck zu machen, nicht aufgegangen ist.
Nachtrag: Am 29.März erklärte der Botschafter Panamas in Washington, Eloy Aljaro, die Verhandlungen seien bis auf weiteres ausgesetzt, und man warte nun auf den nächsten Schritt, der von Washington kommen müsse.

Allgegenwärtige Bedrohung der Zivilbevölkerung

Die „Internationale zivile Beobachtungskommission für Frieden und Menschenrechte“ bildete sich aus dem Netzwerk, das bei den beiden Interkontinentalen Treffen gegen den Neoliberalismus in Chiapas 1996 und Spanien 1997 entstanden ist. Sie umfaßte etwa 200 Personen aus Europa, Lateinamerika und Kanada. Ungefähr eine Woche vor der Ankunft der Beobachtungskommission begann eine üble Pressekampagne gegen AusländerInnen, die sich angeblich in die inneren Angelegenheiten Mexikos einmischten, die Indígenas aufwiegelten und mit den ZapatistInnen sympathisierten. Die meisten Beiträge endeten in der rituellen Forderung nach sofortiger Ausweisung der „AusländerInnen, die sich nicht an die mexikanischen Gesetze halten“. Diese Kampagne hatte aber auch zur Folge, daß das Medieninteresse an der Beobachtungskommission kräftig geschürt wurde und über ihre Arbeit breit berichtet wurde.

Mexikanische Regierung drohte mit Ausweisung

Die mexikanische Regierung hatte uns unmißverständlich klargemacht, daß jede politische Stellungnahme oder Erklärung unserer Kommission als Einmischung in die inneren Angelegenheiten betrachtet würde und unsere sofortige Ausweisung zur Folge hätte. Damit war der Spielraum für das Programm der Kommission klar begrenzt: Wir mußten uns darauf beschränken, in Gesprächen Informationen zu sammeln, konnten aber ausnahmslos mit allen beteiligten Parteien Kontakt aufnehmen. So trafen wir uns
– mit der betroffenen Bevölkerung: dem Congreso Nacional Indígena, Vertretern von Gemeinden aus der Nordzone von Chiapas, Autonomen Gemeinderäten, Vertretern mehrerer Flüchtlingslager, politischen Gefangenen, religiösen und Frauenorganisationen, der nationalen Vereinigung demokratischer AnwältInnen, mit JournalistInnen und Intellektuellen.
– mit verschiedenen Institutionen und Behörden der Zentralregierung (dem Innenminister, der Außenministerin, dem Generalstaatsanwalt, dem Verhandlungsführer der Regierung und der Präsidentin der nationalen Menschenrechtskommission) und Vertretern der Regierung von Chiapas.
– mit Mitgliedern der chiapanekischen PRI und PAN, mit dem PRI-Abgeordneten Samuel Sánchez Sánchez, der gleichzeitig Vertreter der paramilitärischen Organisation „Paz y Justicia“ ist; mit staatlichen und unabhängigen Menschenrechtsorganisationen; den Vermittlungsinstanzen CONAI und COCOPA; dem mexikanischen Roten Kreuz und der COSEVER, die über die Umsetzung der Abkommen von San Andrés wacht.
Einige andere Treffen konnten hingegen nicht durchgeführt werden: Mit den Militärs der mexikanischen Bundesarmee kam trotz mehrerer Anfragen unsererseits – angeblich aus Termingründen – kein Gespräch zustande. Die Anfrage bei Präsident Ernesto Zedillo blieb unbeantwortet. Die Kommandantur der EZLN mußte unsere Anfrage um einen Gesprächstermin ablehnen, weil sie nicht die notwendigen Sicherheitsgarantien von der Regierung erhielt.
Nach mehreren Treffen in Mexiko-Stadt reiste die ganze Kommission am 17. Februar nach San Cristóbal. Von dort fuhren wir in die entferntesten Winkel von Chiapas. Anschließend trafen wir uns mit verschiedenen Institutionen in San Cristóbal und Tuxtla Gutiérrez. Am 24. Februar fuhr eine erste Gruppe nach Mexiko-Stadt zu Gesprächen mit den mexikanischen Regierungsstellen. Der Rest der Kommission folgte am 25. und 26. Februar. Offizielles Ende der Kommission war der 28. Februar.
Während unseres Aufenthaltes in Chiapas wurde uns auf drastische Weise deutlich, wie ungeschützt die Zivilbevölkerung der allgegenwärtigen bewaffneten Bedrohung ausgeliefert ist: Am 21. Februar traf sich ein Teil der Kommission mit 110 Delegierten von Gemeinden aus dem konfliktreichen Norden von Chiapas. Dieses Gebiet liegt im Einflußbereich der paramilitärischen Gruppe „Paz y Justicia“. Wenige Stunden nach dem Treffen wurde einer der Gemeindevertreter, José Tila López García, auf dem Rückweg in seine Gemeinde in einem Hinterhalt ermordet. Die Überlebenden des Überfalls, darunter der Vater des Ermordeten, machten „Paz y Justicia“ dafür verantwortlich. Beweise gibt es natürlich keine, aber die Botschaft ist klar: Sicherheitsgarantien gibt es zwar für die Kommissionsmitglieder, aber nicht für die mexikanische Bevölkerung, die sich mit der Kommission trifft.

Mord an Gesprächspartner

Wir beschlossen, am 23. Februar unser Programm zu ändern und einen Teil der Kommission nochmals in die Gegend zu schicken, einmal um eine in der Nähe gelegene Ortschaft zu besuchen, die uns dringend darum gebeten hatte, und zum anderen, um der Familie des Ermordeten einen Besuch abzustatten und ihr unser Beileid auszusprechen. Kurz vor dem Ziel wurden die beiden Busse aber von etwa 200 Personen an der Weiterfahrt gehindert und zur Umkehr gezwungen. Nach Auskunft unserer ortskundigen BegleiterInnen handelte es sich dabei um PRI-Angehörige.
Diese beiden Vorfälle sagen einiges über die Überwachung aus, der unsere Arbeit zweifellos unterlag, und sind ein gutes Beispiel für die zweigleisige Strategie der Regierung: Auf der einen Seite zeigte sie sich bei den offiziellen Treffen mit der Kommission gesprächsbereit, während sie gleichzeitig den Volksorganisationen unmißverständlich drohte, die sich mit uns treffen wollten.
Teil der Regierungsstrategie war auch, daß während unserer Anwesenheit sämtliche Militärsperren abgezogen wurden. Auf dem Rückweg von unserem Besuch im Norden von Chiapas sahen wir die Armee bereits wieder mit dem Aufbau ihres kurz zuvor verlassenen Militärpostens beschäftigt. Nachdem die Kommission eigentlich schon wieder nach Mexiko-Stadt abgereist war, fuhren noch ein paar Leute auf eigene Initiative in einige Dörfer und wurden so Augenzeugen der Rückkehr der mexikanischen Armee auf ihre alten Positionen.

Massive Menschenrechtsverletzungen

Auf unserer Reise konnten wir uns davon überzeugen, daß die Menschenrechte in Mexiko andauernd und massiv verletzt werden. Dabei sind in den Einflußgebieten der Paramilitärs vor allem bewaffnete Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung, wie Brandstiftungen, Vertreibungen, Landraub, Morde, Entführungen, aber auch willkürliche Verhaftungen und Folter an der Tagesordnung. Selbst Regierungsstellen geben mittlerweile zu, daß Teile des Bundesstaates „unregierbar“ geworden sind und der Rechtsstaat nicht mehr eingehalten werden kann.
Die unbestrittene Existenz von 7 – 12 bewaffneten paramilitärischen Gruppen (Paz y Justicia, Los Chinchulines, Máscara Roja etc.) ist für die weitere Entwicklung des Konfliktes äußerst folgenschwer. Die Anwesenheit der paramilitärischen Gruppen in den Indígena-Gemeinden führt zu einer Verlagerung des Konfliktes zwischen der EZLN und der Regierungsarmee in die Dörfer. Plötzlich stehen sich die Bewohner des selben Dorfes bewaffnet gegenüber. Dieser Aufbau von paramilitärischen Gruppen ist ein Teil des Aufstandsbekämpfungskonzepts. In einem vor kurzem bekannt gewordenen Strategiepapier des mexikanischen Verteidigungsministeriums (Plan de Campaña Chiapas 94) ist zu lesen, daß zur Unterstützung der militärischen Operationen paramilitärische Organisationen geschaffen und ausgerüstet werden sollten. Weitere Elemente dieses Konzepts sind Desinformation, andauernde Militärpräsenz in den Dörfern mit dem Vorwand, sich um soziale Belange zu kümmern, Abstempelung sozialer Organisationen als Sympathisanten der Aufständischen, Morde und Morddrohungen gegen VertreterInnen von Volksorganisationen, willkürliche Verhaftungen, Folter etc.
So herrschen in den Dörfern und Gemeinden Chaos, Rechtlosigkeit und Willkür. Konflikte entstehen zum Beispiel dadurch, daß Paramilitärs im großen Stil ganze Dorfgemeinschaften vertreiben und ihr Land an andere Familien verkaufen. Diese bezahlen für das Land und fühlen sich gegenüber den Vorbesitzern im Recht. Durch solche Methoden entstehende Auseinandersetzungen werden dann von der Regierung als „interethnische Konflikte“ abgetan. Bei jeder bewaffneten Eskalation hat die Regierungsarmee einen guten Vorwand einzugreifen. Das ermöglicht den Militärs, sich dauernd in der Nähe der Dörfer aufzuhalten. Der immer wieder geäußerte Verdacht, die Armee versuche auf diese Weise, ihr taktisches Ziel – die Liquidierung der EZLN-Führung – zu erreichen, ist nicht von der Hand zu weisen.

Bericht an Parlamente und Organisationen

Angesichts der zugespitzten Situation in Mexiko wird die Kommission ihren Bericht an das Europäische Parlament und an die Länderparlamente übergeben, die in der nächsten Zeit ein Kooperationsabkommen zwischen der EU und Mexiko verabschieden wollen. Diese Unterzeichnung sollte unserer Ansicht nach an die Einhaltung bestimmter Bedingungen geknüpft werden (z.B. die Umsetzung der Friedensverträge von San Andrés). Der Kommissionsbericht soll außerdem bei der jedes Frühjahr stattfindenden UNO-Menschenrechtskommission in Genf vorgestellt werden. Es gibt Überlegungen, eine permanente Delegation der Beobachtungskommission in Chiapas zu installieren.

Lateinamerika: Ein weites Feld

Sie haben in Ihrer Rede in der Paulskirche gesagt, daß die Literatur Entfernungen aufhebe. Die Literatur schlage eine Brücke zum anderen, zum fremdgegangenen „Ich“. Sie mache uns zu „Mittätern“. In Bezug auf die Botschaften, die in Ihrem jüngsten Prosawerk vermittelt werden: Kann Ihr Werk auch Brücken zu den lateinamerikanischen beziehungsweise chilenischen Lesern schlagen? Glauben Sie, daß Ein weites Feld Botschaften auch in Lateinamerika vermitteln kann, Botschaften, mit denen sich der Leser identifizieren kann?

Diese Geschichte, die ich in meinem Roman Ein weites Feld erzähle, ist zwar einerseits eine sehr deutsche Geschichte, aber da der Roman in der letzten Phase der deutschen Geschichte spielt, mit Teilung und Wiedervereinigung, so besteht doch eine Beziehung zu anderen Ländern. Denn es gibt in der Welt eine Vielzahl von Parallelen, bei denen es auch um Trennungen und Teilungen geht – wenn ich mir Südamerika ansehe mit den Grenzen, die die Kolonialmächte willkürlich eingerichtet haben, wie es dort aber zugleich eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Geschichte, Vergangenheit gibt, was die früherern Bewohner Amerikas anbetrifft. Also ist das doch, glaube ich, übertragbar oder auch verständlich zumindest. Umgekehrt sagen mir die Bücher aus Lateinamerika viel. Ich halte sie für wunderbare Romane, die mich vom Stoff her interessiert haben, weil sie mir Fremdes und Fremdanmutendes nahegebracht haben. Ich glaube, daß diese vorzügliche Literatur in den letzten dreißig Jahren weit mehr für Lateinamerika an Werbung gebracht hat, als es Politik jemals schaffen kann, weil hier etwas vermittelt wird, was kein Politiker vermitteln kann. Die halten immer ihre Statements, müssen sie auch halten. Sind ihren Zwängen unterworfen, haben den nächsten Wahltermin und so weiter, während der Schriftsteller doch die sozialen Schichten der Gesellschaft darstellen kann. Er kann mit der Zeit umgehen, ihm ist es auch möglich, wie ich das auch oft mache, Gegenwart mit Vergangenheit zu unterlegen, zu durchmischen, Zukunft erscheinen zu lassen. Das sind alles Möglichkeiten der Literatur, die dazu verhelfen, daß weit entlegene Völker einander über die Literatur annähernd begreifen und verstehen lernen.

Glauben Sie, daß durch Ihren Roman in Lateinamerika ein neues Bild der Deutschen vermittelt wird?

Wovon handeln meine Bücher? Meine Bücher handeln von nicht vorhandener Toleranz und den Folgen. Mein erster Roman, Die Blechtrommel, führt in meine Heimatstadt Danzig, wo Polen, Deutsche, Juden und Kaschuben friedlich zusammenlebten, jahrzehnte-, jahrhundertelang. Und dann bricht die Barbarei aus. Die Toleranz wird aufgekündigt. Es kommt zum Totschlag. Unsere gegenwärtige Geschichte ist voll damit. Das Toleranzedikt wird nicht eingehalten, davon unter anderem handeln meine Bücher. Das betrifft ja nicht nur Ausländer im Umgang mit anderen. Wenn ich wieder auf mein Buch Ein weites Feld zurückkomme, sehen wir, wie sogar die Deutschen im Osten und Westen einander fremdgeworden sind und oft einander nicht tolerieren wollen. Das ist ein durchgehendes Thema. Ich glaube schon, daß das anderswo auch so verstanden wird. Wir stoßen überall, wo immer wir hinkommen, auf dieses Unvermögen, tolerant zu sein. Toleranz ist nicht nur etwas Weiches. Toleranz setzt auch voraus, daß man im sozialen Bereich Grundlagen für mehr Gerechtigkeit schafft. Nicht die Gerechtigkeit. Es sind immer die großen revolutionären Postulate, die im Grunde zu wenig oder zu nichts geführt haben. Aber ein Kampf für immer mehr Gerechtigkeit mit vielen Rückschlägen. Das ist „meine Programmatik“.

Viele gegenwärtige Autoren wie García Márquez oder Vargas Llosa neigen dazu, in ihren Werken bestimmte Elemente wie Figuren oder Landschaften mit ihren ursprünglichen Eigenschaften in immer wieder neuen Zusammenhängen zu verwenden. Gibt es solche durchgängigen Elemente auch in Ihren Romanen, Elemente vielleicht, die schon in der Blechtrommel vorhanden waren?

Ja, ich habe Oskar Matzerath in meinem Roman Die Rättin wieder aufgenommen. In meinen ersten drei Romanen ist ohnehin das „Personal“ immer wieder aus jeweils verschiedenen Perspektiven vorhanden. Mit dem letzten Roman ist es so, daß ich zum ersten Mal einen Berliner Roman geschrieben habe. Nachdem ich über 40 Jahre in Berlin gelebt habe, so lange hat es gedauert. Das ist eine ganz neue Umgebung, ein ganz neues Umfeld, aber dennoch gibt es natürlich Beziehungen zu dem weiten östlichen Raum.

García Márquez hat mehrmals betont, daß er von Ihnen auch gelernt hat. In Bezug auf seine Werke und im Vergleich zu Ihren Werken: Was halten Sie vom realismo mágico? Glauben Sie, daß diese Stilrichtung nur in der lateinamerikanischen Literatur zu finden ist, oder kann man sie auch im europäischen Raum finden? Genauer gesagt, auch in Ihren Werken, wenn man die Figur des Oskar Matzerath in der Blechtrommel bedenkt?

Das ist eine merkwürdige Geschichte. Ich bin in den Jahren 1956–1958 und 1959 in Paris gewesen. In der Zeit war auch García Márquez dort. Wir haben uns nicht getroffen.
Wir waren beide junge Autoren. Ich habe meine Blechtrommel geschrieben, er hat noch journalistisch gearbeitet, aber auch seinen ersten Roman, ich glaube Laubsturm, geschrieben. Er ist in Paris entstanden.
Wenn man genau überlegt, ist unser aller Stammvater in der Art, wie wir erzählen, dieser sogenannte magische Realismus. Er geht natürlich auf Cervantes zurück, auf den pikaresken Roman, auf diese wunderbare Mischung maurischer Erzählweise, also aus der Zeit der Besetzung Spaniens durch die Mauren, mit einer Tradition, die woanders herkam. Diese Art von Mischkulturen sind eigentlich die fruchtbarsten, dieser pikareske Roman ist bis heute virulent, lebendig geblieben – von dem die Spanier behaupten, daß er nur spanischer Herkunft ist, was sie ungerne hören, wenn man nachweist, daß die maurische Zutat zumindest genauso stark ist –. In vielen Literaturen genügt es dem Autor nicht, den sichtbaren, den tastbaren, den darstellbaren, den herkömmlichen Realismus zum Gegenstand zu machen, sondern er weiß, daß unsere Träume, unsere Phantasien, unsere Ängste genauso real sind, daß sie der andere Teil der Realität sind. Das ist in vielen lateinamerikanischen Romanen so. Aber es gibt diese Tradition auch in Europa, von Cervantes herkommend, und da berühren sich die beiden Kulturen.
(…)

In Ihrer Frankfurter Rede haben Sie von einem „latenten Fremdenhaß“ in Deutschland gesprochen, von einer „demokratisch abgesicherten Barbarei“ bei der Abschiebepraxis. Wie tief sitzen die Wurzeln des Faschismus in Deutschland? Haben sie sich wieder durch die Politik der vergangenen Jahre verstärkt? Können Sie sich eine besssere Kommunikation, weniger Reibungen zwischen Deutschen und Ausländern vorstellen, wenn sich die politischen Richtlinien verändern würden?

Ich bin sehr vorsichtig mit dem Gebrauch des Wortes Faschismus. Ich halte diese schlimmen Dinge, die gegenwärtig geschehen, zum Beispiel die Abschiebehaft, nicht für ein Anzeichen des Faschismus. Es ist eine Unduldsamkeit, eine Hysterie aus Fremdenhaß, die zumeist durch die leichfertigen Sprüche von Politikern immer wieder aufgeheizt wird. So was kann vielleicht Ursache mit anderen Ursachen zusammen eines neu entstehenden Faschismus sein, aber das ist weltweit so. Die Tatsache, daß in einem Rechtsstaat 4000 Menschen in Abschiebehaft sitzen, die nichts Kriminelles getan haben, ist ein Unding, darauf habe ich hingewiesen. Deshalb habe ich das eine Barbarei genannt, die mich natürlich erinnert an größere Barbareien, die in Deutschland während der Zeit des Faschismus Ausdruck der Politik waren.
(…)

Es gibt ja nicht nur in Deutschland und Europa rassistische Vorurteile, sondern auch in Lateinamerika, und zwar in erster Linie gegen die indigenen Völker. Wodurch entsteht Ihrer Ansicht nach Rassismus in Lateinamerika? Glauben Sie, daß die Konsumgesellschaft, die von den USA importiert wurde, eine wichtige Rolle dabei spielt?

Das hat jeweils andere geschichtliche Hintergründe, ganz Lateinamerika ist über Jahrhunderte Kolonie gewesen. Der Befreiungskampf von den Kolonialherren hat eine neue Schicht hervorgebracht, die wieder andere unterdrückt hat. Lateinamerika hat einen ganz anderen historischen Werdegang als Europa.
Ich kann mit solchen Schlagwörtern wie Konsumgesellschaft sehr wenig anfangen. Sie sind sehr undifferenziert. Ich kenne die Gefahren, die in der Konsumwerbung stecken. Ich weiß aber auch, daß es Möglichkeiten gibt, sich gegen sie zu wehren. Man muß ja die Werbung nicht wahrnehmen. man kann nach seinen eigenen Bedürfnissen leben und nicht nach dem, was die Werbung vorschreibt.
Wir haben so eine Neigung, die insbesondere im linken Bereich entwickelt worden ist, immer die Verhältnisse für schuldig zu erklären. Das ist eine andere Art der Entmündigung. Wir haben nach wie vor unseren freien Willen. Natürlich üben die Vereinigten Staaten auf Lateinamerika einen ungehörigen und gelegentlich brutalen politischen Druck aus. Es steht aber dennoch in der Verantwortung der lateinamerikanischen Regierungen und damit auch der Bevölkerung, diesem Druck nachzugeben oder sich dagegen zu wehren. Die Verantwortung an den oft desolaten Zuständen in Lateinamerika kann man nicht einseitig den Amerikanern und dem Konsum zuschieben. Da ist zuviel geschehen, was allein auf die Verantwortung der lateinamerikanischen Regierungen zurückzuführen ist. In Afrika ist sicherlich die willkürliche Grenzziehung der Kolonien ein übles Erbe der Kolonialherrschaft. Aber das wissen wir nun mittlerweile seit 50 Jahren, also fällt das in die Verantwortung der Afrikaner und ihrer Regierungen, wenn sie so schlecht miteinander umgehen. Man kann nicht dauernd als bequeme Ausrede den Kolonialismus, der schon längst überwunden ist, politisch zumindest für schuldig erklären und damit seine eigene Ohnmacht manifestieren. Das sind die Widersprüche, die wir haben, und das ist in Europa ja nicht anders. Wir neigen auch zu bequemen Ausreden.

Im Moment ist sowohl in Chile als auch in der Bundesrepublik das Thema der „Colonia Dig-nidad“ sehr wichtig. Man weiß, daß in der Colonia schwere Verletzungen der Menschenrechte begangen wurden. Glauben Sie, daß die Bundesrepublik in der Lage wäre, einen stärkeren Druck auf die chilenischen Behörden auszuüben? Immerhin herrscht in Chile bis jetzt eine eher nur formale Demokratie.

Ich begreife nicht ganz, warum nicht die chilenische Regierung souverän genug sein sollte, von sich aus zu handeln. Sie braucht doch dazu nicht die Zustimmung der Bundesrepublik. Wenn auf dem Boden Chiles seit Jahren so etwas stattfindet und sich das auch nach dem Sturz von Pinochet fortsetzt, liegt es in erster Linie in der Verantwortung der chilenischen Regierung, diesen Terror zu beenden. Wie geschickt oder ungeschickt sich die deutsche Regierung dazu verhält, ist zweitrangig. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn die bundesdeutsche Regierung auch in diese Richtung drängen würde, und wenn sie es nicht tut oder nicht ausreichend tut, ist es Sache der chilenischen Regierung, dort den Leuten einen Prozeß zu machen und das zu schließen und zu beenden.
In Bezug auf die formalen Demokratien: Das trifft auch auf Deutschland zu. Wir sind immer noch auf dem Weg, eine Demokratie zu werden. Es gibt viele Anzeichen dafür, daß die Bundesrepublik nur eine formale Demokratie ist. Wenn ich mich frage, wer regiert in der Bundesrepublik, ist es die Bundesregierung oder ist es die Deutsche Bank, bin ich nicht so sicher, wer die Entscheidungen trifft. Das gibt es in anderen Ländern auch. Mal so oder mal so ausgeprägt.

Glauben Sie, daß Literatur, daß Kunst Maßstäbe im Umgang mit Minderheiten, mit Fremden setzen und in den Köpfen der Menschen etwas verändern kann? Ist das nicht zuletzt auch das Ziel Ihres Werkes?

Das ist sicher die unterschwellige Absicht der Literatur. Ich glaube nicht, daß der Autor sich hinsetzt und sagt, jetzt schreibe ich einen Roman, um den verfolgten Kurden zu helfen oder um für die Sinti und Roma hier in Deutschland mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Ich habe eine Stiftung gemacht zugunsten der Sinti und Roma. Aber ich kann das Thema – damit sind wir am Anfang des Gespräches – Toleranz in den Mittelpunkt meines Schreibens stellen und erzählen, was geschieht, wenn es keine Toleranz gibt. Unsere Geschichte ist leider reich an Beispielen dafür.

“Der Krieg wird in den höchsten Sphären der Regierung geplant”

Wie kann der mexikanische Innenminister Emilio Chauyffet (mittlerweile zurückgetreten, d. Red.) weiterhin darauf beharren, es handele sich bei dem Massaker von Acteal um das Ergebnis von “interkommunitären” Konflikten. Schließlich besteht kaum mehr ein Zweifel daran, daß Mitglieder der Regierungspartei PRI in den Überfall paramilitärischer Gruppen involviert waren?

So soll versucht werden, einen Konflikt zu verdunkeln, der Teil eines umfassenderen, staatlich geplanten Krieges ist. Als religiöses Problem konnte die Situation in der Region Chenalho nicht dargestellt werden, da sowohl der Bürgermeister von Acteal als auch der Bürgermeister der autonomen Gemeinde von Chenalho Presbyterianer sind. Also wird nach einem anderen Vorwand gesucht. Und deshalb wird der Konflikt als interkommunitär dargestellt. Der Innenminister versucht die Regierungsstrategie zu verheimlichen, die darin besteht, nicht die Armee sondern die PRI-Basis auf die EZLN loszujagen, und so Konflikte an der Basis auszulösen.

Die Regierungsstrategie scheint darauf hinauszulaufen, öffentlich zu erklären, daß alle Konfliktparteien, also Paramilitärs und EZLN, “verhandeln” müßten. Das Ergebnis solcher Verhandlungen kann dann natürlich nur die Rückkehr zum vorherigen Status Quo sein. Wie wird die Conai gegenüber einer solchen Strategie reagieren?

In der Geschichte von Chiapas hat es bereits zwei Mal Indianer-Kriege gegeben, die auch Aufstände gegen die Marginalisierung, den Rassismus, die Armut und die Ausbeutung waren. Auch damals wurden von Regierungsseite andere Konfliktursachen vorgeschoben. Heute werden paramilitärische Gruppierungen geschaffen, um sie der EZLN gegenüberzustellen. Die Regierung will dann als Vermittler auftreten, obwohl sie doch die Hauptverantwortung für diese Strategie trägt. Als Conai sprechen wir weder für die Regierung, noch für die EZLN. Wir wollen die Seiten nur einander näherbringen und die Verhandlungen erleichtern. Aber man darf nicht vergessen, daß die EZLN fünf Bedingungen gestellt hat, um die Gespräche mit der Regierung wieder aufzunehmen. Eine davon ist die Auflösung der paramilitärischen Gruppen. Die Verhandlungen sollen mit der Regierung und nicht mit den Paramilitärs stattfinden. Diese Bedingung wurde bisher nicht erfüllt. Und hier ist die Regierung gefragt und nicht die EZLN.

Eine ähnliche Situation existiert auch in Kolumbien, wo die Guerilla es ablehnt, mit den Paramilitärs zu verhandeln, da sie die Gesamtverantwortung bei der Regierung sehen. In den letzten Monaten erinnert die Situation in Chiapas stark an Guatemala und Kolumbien …

Ja, es ist das gleiche Schema, auch wenn sich die Situation in Mexiko doch unterscheidet. Die EZLN ist unter anderen Bedingungen entstanden. Es gab keine Sowjetunion und auch kein sandinistisches Nicaragua mehr. Kuba ist auch keine Unterstützung, die Berliner Mauer ist gefallen, und wir befinden uns mitten in einem Prozeß nationaler und internationaler Neuordnung der Kräfte. Dann spielt natürlich auch die Form eine Rolle, in der sich die EZLN auf internationaler Ebene bewegt hat. Das hat zu einer großen Solidarität geführt, so daß es bisher nicht zu einem Vernichtungskrieg wie anderswo gekommen ist, und wie es die Regierung ursprünglich vor hatte. Diese Bedingungen schaffen für die Zivilgesellschaft Möglichkeiten zu intervenieren. International wird von der Solidaritäts-Bewegung etwa versucht, Mexikos Ökonomie zu treffen. Zum Beispiel wird versucht, Druck auszuüben, damit die Staaten der EU sich gegen die Ratifizierung des Abkommens mit Mexiko aussprechen, wenn es nicht eine minimale Respektierung der Menschenrechte gibt.

Wie sieht die “Kriegsführung niederer Intensität” in Mexiko genau aus?

Zentral ist, daß die Regierung natürlich nicht zugibt, daß Krieg herrscht. Zudem kann man beobachten, daß die Paramilitärs genau in den Gebieten der EZLN auftauchen und geographisch eine Barriere Richtung Küste und dem Gebiet der geplanten interozeanischen Verbindung bilden. (Siehe LN 283) Dort sind die besseren Böden und in dieser Region sollen auch Freihandelszonen entstehen. Daher soll es dort, wo die unmittelbaren ökonomischen Interessen stark sind, ruhig bleiben, während es ansonsten egal ist, ob sich die Indios umbringen. Hier wird das ganze Gebiet vom Aufbau paramiltärischer Gruppen erfasst. Wenn wir uns die Karte anschauen, so stellen wir fest, daß überall erst die Nationalpolizei Seguridad Publica Präsenz zeigt. Sie schürt die Konflikte in den Gemeinden. Irgendwann tauchen dann Leichen auf und die Polizei präsentiert der Öffentlichkeit die Situation als Gemeindekonflikt, Hexerei oder anderes. Alldem liegen natürlich politische Konflikte zugrunde: Die Leute sind aufständisch geworden, sie wollen diese Regierung nicht mehr, aber auch nicht den Krieg. Es ist offensichtlich, daß dieser Krieg in den höchsten Sphären der Regierung geplant wird, und so dienen auch viele Regierungsumbildungen einzig dem Ziel, diese Kriegsführung zu verfeinern. Es wurde bereits nachgewiesen, daß jede paramilitärische Gruppe an einen Abgeordneten gebunden ist. Man sieht also, es handelt sich um ein gut durchdachtes Schema, mit dem die PRI-Gemeinden militärisch organisiert werden. Das ganze läuft in direkter Verbindung mit einer zunehmenden Militarisierung der Region. So findet sich dann auch unter dem Dokument, das die paramilitärische Gruppe Paz y Justicia von Seiten der Regierung mehrere Millionen Pesos für “Anbau und Viehzucht” zukommen läßt, keine einzige Unterschrift aus der zuständigen Behörde. Dafür aber die des Oberbefehlshabers der 7. Militärregion, Mario Renan Castillo. Die paramilitärischen Gruppen sind der Vorhang, hinter dem sich die Armee versteckt. Militär und Polizei bilden die Paramilitärs für den Krieg gegen die zapatistischen Gemeinden aus, tauchen aber selbst nicht auf und können so für die Taten nicht angeklagt werden. Daß die PRI-Gemeinden sich die Hände schmutzig machen, oder der Bürgermeister von Chenalho inhaftiert wird, ist ein tragbares Opfer, solange Polizei und Armee sauber bleiben. Dieses Vorgehen ist einerseits die Folge davon, daß Armee und Polizei in bestimmte Gebiete nicht mehr eindringen konnten und – auf Kosten der 45 Toten – andererseits der Vorwand, um jetzt genau dort hinein vorzudringen. Das System und die Regierung tauchen nicht mehr auf. So soll verhindert werden, daß man sie verantwortlich machen kann.

Alte Probleme für den neuen Mann

Am 27. Januar tritt Carlos Flores Facussé sein neues Amt als Präsident von Honduras an. Flores, der als Kandidat der Liberalen Partei die Präsidentschaftswahlen am 30. November 1997 für sich entschieden hatte, übernimmt damit das Erbe des vorangegangenen liberalen Präsidenten Carlos Roberto Reina. Zwar gehören beide Politiker derselben Partei an, vertreten jedoch in zwei verschiedenen Flügeln unterschiedliche soziale und wirtschaftliche Gruppen des Landes. Während der Akademiker Reina sein Kabinett aus einem breiten Spektrum von Unternehmern, Finanzleuten und Wissenschaftlern zusammensetzte, wird der aus der Unternehmergruppe stammende Flores seine Minister vermutlich nach den Interessen des Unternehmer- und Finanzsektors rekrutieren. Allerdings waren bis 7 Tage vor der Amtsübernahme die Namen der 13köpfigen MinisterInnenriege noch unbekannt.
Nach Angaben des von Alcides Hernández geleiteten Colegio de Economistas de Honduras fürchten führende Ökonomen, daß die neue Regierung dem seit 1990 auferlegten Strukturanpassungsplan für Honduras strikt entsprechen wird. Bereits die Regierung Reina hat ihr Wahlversprechen „reajuste del ajuste“, die Revision der Anpassung, nicht eingelöst. Das heißt für die honduranische Wirtschaft, Mittel für die Schuldenrückzahlung weiterhin aus der nicht-traditionellen Exportgüterproduktion zu erwirtschaften, für den Staat, seine Ausgaben im Bereich Soziales radikal zusammenzustreichen und für die HonduranerInnen, erhöhte Ausgaben für elementare Dienstleistungen, wie Wasser und Strom, hinzunehmen.
Daß sich das honduranische Volk erneut für einen neoliberalen Präsidenten und damit für die Fortsetzung und Vertiefung der unsozialen Strukturanpassungsprogramme entschieden hat, mag auf den ersten Blick verwundern. Weder unter Präsident Reina noch unter seinem konservativen Vorgänger Leonardo Callejas (1990-1994), der die Programme durchzusetzen begann, löste die Strukturanpassung die dringendsten wirtschaftlichen Probleme des Landes. Im Gegenteil, die Maßnahmen verschärften noch die ohnehin prekäre soziale Lage der armen Bevölkerungsteile. Trotz alledem verzeichnete Reina einige Fortschritte, die die HonduranerInnen honorierten, indem sie ihre Stimme erneut einem liberalen Kandidaten gaben.

Reinas Erbe

So gelang es der Regierung, den Menschenrechten besser zur Geltung zu verhelfen, die Institutionen der Zivilgesellschaft zu stärken und der Kontrolle der Militärs zu entziehen, Korruption und Steuermißbrauch zu verringern und entsprechende Gesetze zu verabschieden. Einige Verantwortliche für Menschenrechtsverletzungen wie Folterungen und Morde, vor allen an linken Oppositionellen, wurden namentlich zur Verantwortung gezogen. Obwohl diese Aspekte der Politik von Präsident Reina bei den HonduranerInnen auf breite Zustimmung stießen, besteht nichtsdestotrotz eine tiefe Unzufriedenheit wegen der schlechten Lebensbedingungen unter großen Teilen der Bevölkerung (vgl. statistische Angaben im Kasten). Mit diesem Erbe wird die neue Regierung zweifellos umzugehen haben.
Ein weiteres Problem, dem sich die Regierung Flores stellen muß, ist das neoliberale Gesetz zur landwirtschaftlichen Modernisierung (LMA). Hauptziel des 1992 unter Callejas verabschiedeten Gesetzes ist, das quantitative Wachstum der Landwirtschaft anzukurbeln. Die Verteilung der zu erwartenden Gewinne bleibt jedoch ungeregelt. Dieses aus dem Strukturanpassungsplan hervorgegangene und auf den kapitalintensiven Exportsektor zugeschnittene Gesetz schließt größtenteils kapitalschwache Kleinbauern, die die Mehrheit der landwirtschaftlichen Produzenten darstellen, von technologischer Hilfe, Saatgut, Krediten und Vermarktung aus. Wegen der Ausgrenzung der Grundnahrungsmittelerzeuger entstanden Engpässe bei der Lebensmittelversorgung auf dem Binnenmarkt. Aufgrund fehlender Maßnahmen zur Sicherung der Nahrungsmittelproduktion fordern die im Organisationsrat für Bauernorganisationen (COCOCH) zusammengeschlossenen Bauern von der neuen Regierung, das neoliberale Agrargesetz in all jenen Artikeln zu überarbeiten, die die Interessen kleiner landwirtschaftlicher Produzenten beeinträchtigen. Eine Forderung, die bereits in der vorangegangenen Regierung auf taube Ohren stieß.
Die größte Herausforderung der neuen Regierung besteht jedoch hauptsächlich darin, den chronischen Konflikt zwischen nationalem Interesse und internationalen Verpflichtungen gegenüber Gläubigern zu regeln. Einerseits wird Flores die von internationalen Finanzinstitutionen wie Weltbank, Interamerikanischer Entwicklungsbank und IWF oktroyierten Strukturanpassungspläne durchsetzen müssen. Andererseits muß sich der neue Präsident jedoch auch dem internen Problem der zurückgebliebenen sozialen Entwicklung stellen. Flores wird vor allem Maßnahmen treffen müssen, um den von Strukturanpassung verursachten sozialen Niedergang aufzuhalten. Die gravierendsten Probleme – Armut, Arbeitslosigkeit, Nahrungsmittelversorgung und Inflation – brauchen Lösungsansätze. Ob dem farblos wirkenden neuen Mann dazu mehr einfällt als seinem Vorgänger, bleibt mit Skepsis abzuwarten.

Übersetzung: Katrin Neubauer

KASTEN:
Stichworte zur sozialen und wirtschaftlichen Lage in Honduras

– 68% der honduranischen Bevölkerung lebt unter der offiziellen Armutsgrenze.
– 40% der ärmsten Haushalte erhalten weniger als 10% des Nationaleinkommens, während 10% der reichsten Haushalte 50% des Nationaleinkommens auf sich vereinigen.
– Das monatliche Pro-Kopf-Einkommen betrug 1980 298 US-Dollar und 1994 nur noch 53 US-Dollar. Die Abwertung der Familieneinkommen ist eine eindeutige Konsequenz der Strukturanpassungspläne.
– Die Wachstumsrate des Bruttoinlandprodukts (BIP) lag 1995 bei 3,6% und 1996 bei 3,0%
– Während die HonduranerInnen 1988 für zwei Lempira noch einen US-Dollar erhielten, waren 1997 bereits 13 Lempira für einen US-Dollar zu bezahlen. 1987 zur Unterzeichnung des Friedensplanes für Zentralamerika, verzeichnete das Land eine Inflationsrate von 2,9%, 1990 stieg sie auf 36,4 % und 1996 betrug sie immer noch 23,8%.
L. M.-Sp.

Kleine Erfolge einer neuen Linkspartei

Die Partei der Demokratischen Vereinigung (UD), die 1997 erstmals an Wahlen teilnahm, erlangte einen Abgeordnetensitz im Nationalkongreß und stellt künftig den Bürgermeister der 20.000 EinwohnerInnen zählenden Departementshauptstadt La Paz. Der Präsidentschaftskandidat der UD, Matías Funes, schätzte dieses Ergebnis als „zutiefst befriedigend“ ein, da sich damit die Partei als neue politische Kraft im Lande konsolidieren wird.
Die UD ist die erste dezidiert linke Partei, die seit dem Ende der Militärdiktatur 1982 in Honduras bei einer Wahl antritt. Eine Mitarbeit in den Wahlgremien wurde ihr allerdings nicht erlaubt – weil sie noch nicht lange genug bestehe. Ihren Mitgliederstamm rekrutierte die UD vorwiegend aus linksoppositionellen Gruppen, die in den 80er Jahren die Einhaltung der Menschenrechte eingeklagt hatten und von deren Verletzung sie selbst betroffen waren.
LN

Drogenkrieg im Chapare

Ein Tag wie jeder andere in Chimoré, dem Hauptort des Chapare und Sitz der von der USA trainierten Drogenpolizei UMOPAR (Unidades Móviles de Patrullaje Rural). Um sechs Uhr morgens startet eine Kolonne von 19 Militärfahrzeugen. Etwa 400 Polizisten von UMOPAR und von der „ökologischen Polizei“, die für die eigentliche Kokazerstörung zuständig ist, sowie Repräsentanten der zivilen Kokakontrollorgane DINACO und DIRECO (Konversionsbehörde) nähern sich der kleinen Ortschaft Litoral, 70 km nördlich von Chimoré. Die schon früh morgens auf den Feldern arbeitenden Bauern werden vollkommen überrascht. Die Polizisten, zum Teil schwer bewaffnet und martialisch gekleidet umstellen eine Gemeinde von 100 wehrlosen, allenfalls mit Macheten bewaffneten Bauern, um der „ökologischen Polizei“ den Weg zu ihrer täglichen Arbeit frei zu machen: Die Kokazerstörung in Erfüllung der von den USA diktierten jährlichen Zerstörungsziele kann beginnen. 1997 sollen bis August 8.000 ha Kokapflanzungen zerstört werden, nachdem 1996 das Soll von 6.000 ha erreicht wurde.
Auf Proteste der Bauern wird wenig Rücksicht genommen. Vor dem Hintergrund des jährlichen US-Solls verschwimmen menschliche Einzelschicksale, werden irrelevant. Der Polizeiapparat handelt wie eine Maschine. Wenn es dabei auch zu Ungerechtigkeiten kommt, dann seien dies, so Polizeivertreter, Einzelfälle, die man hinzunehmen habe. Die Argumentation erinnert an das zu Zeiten der Aufstandsbekämpfung übliche: „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“. Doch was die einen als Einzelfälle bezeichnen, ist für die anderen Normalität. Kokapflanzungen – eigentlich erlaubt im Rahmen des traditionellen Anbaus und Konsums – werden gegen den Willen der Bauern ebenso regelmäßig zerstört wie sogar legale alternative Pflanzungen von beispielsweise Platanen und Zwergpalmen.
Die gesetzlich vorgesehenen Entschädigungen für die Zerstörung von Kokapflanzungen in Höhe von 2000 US-Dollar pro Hektar werden nicht, oder erst nach Druck der Bauern verspätet gezahlt. Nicht selten wird die Zahlung zurückgehalten, um die Bauern zu weitergehender Kokazerstörung zu drängen. Daß dies illegal ist, muß auch der Direktor der zuständigen Konversionsbehörde (DIRECO) zugeben: „Aber sehen Sie, ich bin kein Jurist, ich bin Agronom“. (Diese Zahlungen sind von der neuen Regierung Banzer völlig abgeschafft worden, Anm. d. Red.)

Die Polizei sucht wie immer den Konsens

Die Bauern sind verbittert. „Die Polizei“, so einer der Führer des Dorfes Litoral noch unter dem Eindruck der erwähnten Operation, „provoziert uns ständig. Die spritzen Tränengas, schlagen uns, schießen in die Luft und nehmen keine Rücksicht auf unser Eigentum“. Eine andere Version liefert der zuständige Polizeikommandant: „Wir haben, wie immer, den Konsens gesucht. Es gab keine Gewalt. Wir haben unsere Aufgabe, wie immer, friedlich erledigt.“ Ähnlich äußern sich auch andere Vertreter der Drogenkontrollorgane. „Wir erfüllen nur unsere Pflicht“ erklärt der Direktor von DIRECO den Vertretern des Menschenrechtsbüros des Justizministeriums. „Hier gibt es keine Koordination“. Während er dies sagt, ist die Drogenoperation in Litoral schon fast zu Ende. Kein Wort davon in seinen Erklärungen. Gibt es wirklich keine Koordination?

Polizeiliche Übergriffe ohne Ende
In einer Bauernversammlung in Alto San Pablo, 25 km südlich von Chimoré, lassen die Bauern ihrer Verbitterung freien Lauf. Einige der kürzlich in einer Drogenoperation Festgenommen erzählen, wie sie von der Polizei mißhandelt wurden. Ein Ehepaar berichtet unter Tränen, daß seine Tochter nach einer Vergewaltigung durch die Polizei von zu Hause weggelaufen sei. Der Vater habe nur einen Brief seiner Tochter erhalten, in dem sie geschrieben habe, daß sie sich schäme, ihm nochmal unter die Augen zu treten. Ein anderer Bauer beschreibt, wie die UMOPAR tagtäglich agiert: „Sie beschimpfen und schlagen uns. Sie nehmen nicht einmal auf unsere Frauen Rücksicht, stoßen und schlagen sie“. Er unterbricht seine Erklärungen, weil er vor ohnmächtiger Wut zu weinen beginnt. Eine ältere Bäuerin tritt vor und zeigt einen alten Kokastrauch, jammernd, daß die Polizei nicht nur ihre traditionelle Koka zerstört, sondern sogar von ihr verlangt habe, die tiefsitzende Wurzel mit eigenen Händen herauszureißen: „Nur dann erhältst Du die Entschädigung“ tönen die Polizisten.
Andere Bauern melden sich und erzählen weitere Geschichten. Wie die UMOPAR in ihre Häuser eindringt und ihre ohnehin spärlichen Habseligkeiten mitgehen läßt. Wie sie wie Tiere, nicht aber wie Menschen mit einer entsprechenden Würde behandelt werden. Die Zeugnisse der Bauern machen deutlich, wie wichtig eine zivile und rechtsstaatliche Kontrolle der Drogenkontrollaktivitäten in der Region ist. Das im Dezember 1995 vom Justizministerium eingerichtete Menschenrechtsbüro ist angesichts der ständigen und überall stattfindenden Exzesse völlig überfordert. Seine Repräsentanten, ein Arzt und ein Jurastudent, tun zwar, was sie können, indem sie die Vorwürfe der Bauern entgegennehmen und an die zuständigen Stellen weiterleiten. Doch es ist unmöglich, mit zwei Personen die Polizeioperationen auf einer Fläche von 24.000 qkm mit 240.856 Einwohnern zu überwachen. Trotzdem ist das Büro die einzige staatliche Stelle, zu der die Bauern – mehr und mehr – Vertrauen gewinnen, weil es in zahlreichen Fällen zur Verteidigung ihrer Menschenrechte eingeschritten ist.

Willkürliche Festnahmen und unmenschliche Haftbedingungen

In der Kaserne der UMOPAR in Chimoré werden die während der Drogenoperationen Festgenommenen „aufbewahrt“. Es handelt sich um eine „Aufbewahrungsstelle, nicht um ein Gefängnis“, so der zuständige Kommandant. Die Bedingungen entsprechen allerdings denen anderer lateinamerikanischer Gefängnisse: 200 Inhaftierte bei einer Maximalkapazität von 50 Personen, bis zu 25 Personen in einer Zelle, 3 Toiletten und 3 Duschen, eine erbärmliche Hitze und stickige Luft, die selbst in der Nacht nicht verschwindet und so das Schlafen fast unmöglich macht. Hier befinden sich nur Kokabauern, pisacocas (Kokatreter, sie stampfen die Kokablätter zusammen mit Chemikalien zu einem Brei, die erste Stufe der Kokainproduktion) und allenfalls Kleintransporteure. Von wirklichen Drogenhändlern keine Spur. Die meisten Inhaftierten kennen den Grund ihrer Haft überhaupt nicht. Sie befinden sich schon seit Monaten hier, ohne einen Richter gesehen zu haben.
Die zur Verteidigung sozial Schwacher eingerichtete „Defensa Pública“ ist nur mit einem Anwalt vertreten und dementsprechend überfordert. Diese „Marktlücke“ füllen skrupellose freie Rechtsanwälte und bieten ihre Dienste zu horrenden Preisen an: ein einseitiger „Schriftsatz“ kostet zwischen 100 bis 500 US-Dollar und wird aus den überwiegend hilflosen und unwissenden Bauern unter dem (falschen) Versprechen sofortiger Freilassung herausgepresst. Besonders eine Rechtsanwältin wird von den Vertretern des Menschenrechtsbüros des Justizministeriums und der Defensa Pública angegriffen. Bei einem nachfolgenden Gespräch mit den Inhaftierten in Anwesenheit der zwei zuständigen Drogenstaatsanwälte verläßt die betreffende Anwältin das Gefängnis erst nach zahlreichen Aufforderungen der Staatsanwälte und der Vertreter des Menschenrechtsbüros. Dann brechen die Vorwürfe aus den Inhaftierten heraus: Viele Anwälte versprächen ihnen die sofortige Freilassung und verlangten dafür unglaubliche Gebühren, wollten dann aber von diesen Versprechen nichts mehr wissen. Vielmehr drohten sie ihnen vielfach mit harten Strafen und härteren Haftbedingungen, sollten sie es wagen, sich zu beschweren. Die Staatsanwälte wiesen ihnen sogar häufig diese Art von Anwälten zu, ohne daß sie sich dem widersetzen könnten. Die Haftbedingungen seien unerträglich, der Zellenschluß sei zu früh, Ausgang zu wenig, Verwandtenbesuch kurz und mit erheblichen Wartezeiten verbunden.

Von Menschenrechten und Staatsgewaltigen

Die Drogenstaatsanwälte nehmen die Anzeigen kühl und distanziert auf. Im nachfolgenden Gespräch beim zuständigen UMOPAR-Kommandanten kommt es zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen den Vertretern des Menschenrechtsbüros und der Defensa Pública auf der einen, sowie den Staatsanwälten und der Polizei auf der anderen Seite. Weder Polizei noch Staatsanwälte wollen die Verantwortung für die Unregelmäßigkeiten in der „Aufbewahrungsanstalt“ übernehmen. Erst auf Druck der Vertreter des Menschenrechtsbüros und der Androhung disziplinarischer Schritte verpricht einer der Staatsanwälte, die Fälle zu untersuchen.
Die Sonne ist schon lange untergegangen. Es ist 21.00 Uhr. Unser Besuch in der Kaserne der UMOPAR – man sollte vielleicht besser sagen in der Haftanstalt auf dem Kasernengelände – hat länger gedauert als geplant. Die Inhaftierten haben den Strohhalm ergriffen, den wir ihnen anbieten konnten. Es ist kein Zufall, daß wir sie zuletzt besuchen. Hier schließt sich der Kreis: Der Drogenkrieg im Chapare beginnt am Morgen mit Polizeieinsätzen gegen wehrlose Bauern und endet vielfach mit ihrer Verhaftung oder Inhaftierung der mulas, der bäuerlichen Transporteure von geringfügigen Mengen an – nicht registriertem – Koka, Kokapaste oder manchmal auch Kokain. Die großen Fische sitzen in den Handelsmetropolen und Kokainumschlagplätzen Kolumbiens, Venezuelas, Mexikos, der USA und Europa, einige auch in Bolivien, in Cochabamba und Santa Cruz. Doch von ihnen ist hier nicht die Rede. Der Drogenkrieg im Chapare ist ein von den USA auf dem Rücken der Bolivianer geführter symbolischer Krieg ohne Auswirkungen auf die Nachfrageseite in den Industrieländern.
Im Rahmen der Zuständigkeit des bolivianischen Justizministeriums für die Wahrung und Förderung der Menschenrechte wurde am 6.12.1995 in Chimoré das erste Menschenrechtsbüro (Oficina de Derechos Humanos-ODDH) eröffnet.Weitere Menschenrechtsbüros sollen, so der „Nationale Menschenrechtsplan“, in Challapata (Potosí), Monteagudo (Chuquisaca) und Riberalta (Beni) eröffnet werden. Das Büro von Chimoré hat seinen Sitz in einem schlichten Haus, in dem auch die Filiale der staatlichen Pflichtverteidigung (Defensa Pública) untergebracht ist, und besitzt eine technische Mindestausstattung (Computer, Drucker, Telefon, Fax). Von Chimoré aus soll das gesamte Gebiet des Chapare kontrolliert werden, was natürlich ein Ding der Unmöglichkeit ist. Bei Kenntnis eines Drogeneinsatzes informieren die Bauern umgehend die ODDHH, deren Mitarbeiter, sofern möglich, sofort zum Einsatzort fahren, um zwischen Sicherheitskräften und Bauern zu vermitteln und größere Gewaltausbrüche zu verhindern. De facto garantiert die Präsenz der ODDHH zwar einen größeren Respekt der Menschenrechte durch die Sicherheitskräfte, doch kommen seine Vertreter häufig wegen der großen Entfernungen und der Unzugänglichkeit der Kokaanbaugebiete zu spät oder auch gar nicht (wenn etwa mehre Operationen gleichzeitig stattfinden). Wenn die ODDH allerdings rechtzeitig eintrifft oder bei den Sicherheitskräften und den Drogenstaatsanwälten vorspricht, wird seine große Autorität als Vertreter der Exekutive deutlich.

Anträge an das BMZ

Aufgrund der Probleme seiner Arbeit wegen der Größe des Chapare und des Ausmaßes der Menschenrechtsverletzungen hat das Büro, das inzwischen von der Schweiz, Kanada und der Bundesrepublik unterstützt wird, weitere Unterstützungsanträge an die EU-Kommission und das BMZ (Bundesministerium für wirtschafliche Zusammenarbeit) gerichtet. Es will mehrere „Unterbüros“ einrichten und die Bauern selbst zu Beschützern ihrer Menschenrechte ausbilden. Es ist zu hoffen, daß die entsprechenden Anträge positiv beschieden werden.

„Versöhnung ist nur eine Utopie“

Nach 36 Jahren Bürgerkrieg unterzeichneten die guatemaltekische Regierung und die URNG am 29. Dezember 1996 ein Friedensabkommen. Wie hat sich die Menschenrechtssituation seitdem entwickelt?

Wenn wir uns auf eine traditionelle Definition der Menschenrechte beschränken, also vor allem auf die politischen und individuellen Rechte, ist die Quantität der Menschenrechtsverletzungen zurückgegangen. Qualitativ hat es längst nicht so viele Fortschritte gegeben. Noch immer werden Menschen aus politischen Gründen ermordet. Zum Beispiel wurde vor kurzem im Departement Quiché ein Maya-Priester getötet, der sich um die Freilegung eines Massengrabes mit Opfern eines Massakers des Militärs bemüht hatte.
Betrachten wir die Menschenrechte hingegen umfassender, also unter Einschluß der ökonomischen und sozialen Rechte, deren Verletzung eine wichtige Kriegsursache war, so sind wir nach wie vor sehr weit von der Einhaltung der Menschenrechte entfernt. Das Friedensabkommen hat an den ungerechten sozio-ökonomischen Strukturen gar nichts verändert. Im Gegenteil: Durch die neoliberale Regierungspolitik verschlechtert sich die Lage der armen Bevölkerungsmehrheit noch weiter.

Wie können die „Organisationen der Zivilgesellschaft“, wie es in Guatemala so schön heißt, auf diese Situation Einfluß nehmen?

Einerseits sind die unterschiedlichsten sozialen Sektoren und Organisationen an verschiedenen Kommissionen beteiligt, die im Rahmen des Friedensprozesses gebildet wurden. In diesen erarbeiten wir Vorschläge, wie die Friedensabkommen umgesetzt werden oder neue Gesetze aussehen sollen. Aber andererseits haben wir Angst, daß auf unsere Vorschläge kaum eingegangen wird und die Reformen oberflächlich bleiben. Insgesamt sind wir damit überfordert. Die sozialen Bewegungen sind nicht ausreichend auf die Veränderungen und die Arbeit, die der Friedensschluß mit sich brachte, vorbereitet.

Es gab einigen Streit um das Teilabkommen über die Wiedereingliederung der Guerilla und das Versöhnungsgesetz, das gegen Ende der Verhandlungen im Eiltempo verabschiedet wurde. Wie wurde das Gesetz bislang gehandhabt?

Das Abkommen und vor allem das Versöhnungsgesetz waren in der Tat sehr umstritten. Das Teilabkommen über die Versöhnung war schon unzulänglich. Das anschließend in nur drei Tagen im Parlament durchgepeitschte Versöhnungsgesetz begünstigt das Militär gegenüber der Guerilla URNG [das Gesetz sieht vor, daß alle Menschenrechtsverletzungen, die direkt im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg begangen wurden, amnestiert werden; die Red.]. Besonders wenn man an den Zustand unseres Justizsystems denkt, bestand zu Recht große Angst, daß es für eine allgemeine Amnestie eingesetzt wird. Bislang kam es allerdings besser als erwartet. Immerhin wurden rund 50 Amnestiegesuche von Militärs abgelehnt. In drei Fällen wurde URNG-Mitgliedern die „Wiedereingliederung ins Zivilleben“ ermöglicht.
Diese insgesamt positive Entwicklung wurde nicht zuletzt durch die Proteste der „Allianz gegen die Straffreiheit“ erreicht, die sich gegen die Amnestie von Menschenrechtsverletzungen einsetzt. [Die alianza contra la impunidad ist ein Zusammenschluß von Menschenrechtsorganisationen und kirchlichen Einrichtungen, dem auch die Stiftung Myrna Mack angehört; die Red.]

Wie erklärst Du Dir, daß die URNG das Amnestiegesetz akzeptiert hat?

Schließlich wird durch das Gesetz die strafrechtliche Aufarbeitung der allermeisten Menschenrechtsverletzungen der Kriegszeit unmöglich.
Die URNG war zum Ende der Verhandlungen in einer Position der Schwäche. Während der Verhandlungen über das Abkommen zur Wiedereingliederung der URNG wurde die Entführung der Señora de Novella aufgedeckt. [Entführung der Industriellen-Greisin Olga de Novella im Herbst 1996 durch ein angeblich autonom agierendes Kommando der URNG-Teilorganisation ORPA, die von einer Sondereinheit des Militärs beendet wurde. Der Verantwortliche der Aktion, Comandante Isaías, wurde bei der Aktion verhaftet und nach geheimen Absprachen zwischen URNG und Regierung, die den Verhandlungsprozeß nicht gestört sehen wollten, wieder freigelassen. Nachdem der ganze Fall in der Öffentlichkeit bekannt wurde, kam es zu einer vorübergehenden Unterbrechung der Verhandlungen. Schließlich mußte Rodrigo Asturias, einer der historischen Führer der URNG, aus der Verhandlungskommission zurücktreten. Der politische Schaden für die URNG war enorm; die Red.]
Durch den Fall Novella hatte die URNG keine moralische Autorität mehr, um sich klar gegen eine Amnestieregelung auszusprechen. Auch anderweitig protestierte kaum jemand gegen die Amnestieregelung, und die es taten, wurden heftig angefeindet. Als „Allianz gegen die Straffreiheit“ wurden wir sogar beschuldigt, gegen den Friedensprozeß zu sein. Dabei ging es uns gerade darum, den Gehalt des Friedensprozesses zu retten und die Amnestie von Menschenrechtsverletzungen zu verhindern.
Die Verhandlungsparteien haben uns zwar angehört und zumindest einige unserer Forderungen in den Abkommenstext aufgenommen. Aber es gehörte schließlich zum vereinbarten Verhandlungsmechanismus, daß die Organisationen der Asamblea de la Sociedad Civil („Versammlung der Zivilgesellschaft“) offiziell Vorschläge an die Verhandlungsparteien unterbreiten können.

Die Auseinandersetzung mit der URNG ging nach dem Amnestiegesetz ja noch weiter…

Da ging es vor allem um den „Fall Mincho“. Mincho war an der Entführung von Frau Novella beteiligt und wurde von dem Spezialkommando der Armee verhaftet und später zu Tode gefoltert. Die Guerilla machte die Verhaftung von Mincho nicht öffentlich. ORPA-Chef Rodrigo Asturias hatte anfangs sogar dessen Existenz geleugnet. Es gibt die These, daß Mincho noch einen ganzen Monat nach seiner Verhaftung lebte. Der Fall wurde lange Zeit heruntergespielt. Das Verhalten der Guerilla-Führung war für viele, auch für die eigene Basis, eine große Enttäuschung.
Schließlich hat die „Allianz gegen die Straffreiheit“ bei der Staatsanwaltschaft eine Anzeige wegen des Verschwindenlassens von Mincho eingereicht. Die Geschichte hat gezeigt, daß unser Justizsystem nicht funktioniert. Denn das Verteidigungsministerium, das für das Verschwinden von Mincho verantwortlich ist, gibt die Unterlagen nicht frei. Im gesamten Fall Novella-Mincho geht es um die Straffreiheit, sowohl der Regierung als auch der Guerilla.

Kommen wir zurück zu den Menschenrechtsverletzungen während des Krieges. Im Rahmen des Friedensprozesses hat mittlerweile unter der Verantwortung der Vereinten Nationen die „Wahrheitskommission“ ihre Arbeit aufgenommen. Wie beurteilst Du ihre Chancen, zur Aufarbeitung der Vergangenheit in Guatemala beizutragen?

Das Abkommen, auf dessen Grundlage die „Wahrheitskommission“ eingerichtet wurde, grenzt ihre Möglichkeiten stark ein. Zum einen ist sie auf sechs Monate befristet, mit der Möglichkeit einer sechsmonatigen Verlängerung. Das ist einfach zu kurz, um einen umfassenden Bericht vorzulegen. In unserer Gesellschaft herrscht eine Kultur des Terrors: Die Menschen haben große Angst, über das zu sprechen, was sie erlitten haben. Da reicht es nicht aus, daß die Kommission einige Anzeigen veröffentlicht, und schon kommen die Leute und sprechen über ihre Erfahrungen.
In den Gemeinden, die vom Terror des Krieges betroffen waren, wurden die Menschen zudem nicht auf die Arbeit der Kommission vorbereitet. Das führt dazu, daß die Aussagen der Menschen oberflächlich bleiben. Nach all den Jahren der Unterdrückung haben die Menschen kein Vertrauen, wenn jemand kommt, den sie nicht kennen, noch dazu oft aus dem Ausland, und der sie über ihre Erlebnisse während des Krieges befragen will.
Ein weiteres Problem für die Kommission waren ihre finanzielle Schwierigkeiten. Anfangs war die Kommission vor allem damit beschäftigt, Geld aufzutreiben, um geeignetes Personal einzustellen. Dadurch blieb keine Zeit, um eine adäquate Methodologie für die eigene Arbeit zu diskutieren. So sind die ersten zwei Monate vergangen. Als Folge wurde in jeder Region anders verfahren, was es sehr schwer machen wird, die Aussagen zu systematisieren und auszuwerten.

Und wie sieht es mit der Zuarbeit seitens der Armee und der URNG aus?

Keine der beiden Seiten hat der Wahrheitskommission bislang ihre Dokumente zur Verfügung gestellt. Die Armee meint, sie müsse erst noch analysieren, welche Dokumente sie der Kommission übergibt. Diese Informationen werden dann sehr lückenhaft sein. Und die URNG sagt, sie habe ihre Dokumente im Ausland. Aber auch die USA haben ihre Dokumente noch nicht freigegeben. Und im April wird die Kommission ihre Untersuchungen bereits abschließen.
In Guatemala gab es sehr hohe Erwartungen an die Wahrheitskommission. Aber ich glaube, daß die Enttäuschung am Schluß sehr groß sein wird. Es wird ein akademisches Dokument rauskommen, das so etwas wie die offizielle Geschichte des Krieges werden wird. Aber ich glaube nicht, daß der Bericht sein ursprüngliches Ziel erreichen kann: einen Beitrag zur Versöhnung zu leisten, vor allem in den Gemeinden auf dem Land.

Was hältst Du von dem Projekt „Wiedererlangung des historischen Bewußtseins“ (REMHI), einer Art alternativer Wahrheitskommission der katholischen Kirche?

REMHI macht eine sehr seriöse Arbeit. Es ist eine wirkliche Alternative zur offiziellen Wahrheitskommission. REMHI hat sich viel Zeit genommen und über 20.000 Zeugenaussagen gesammelt und analysiert. Außerdem ist für die Zeit nach der Veröffentlichung des Berichts [im kommenden April; die Red.] geplant, den Menschen die Ergebnisse der bisherigen Arbeit „zurückzugeben“ und durch konkrete Arbeit in den Gemeinden zum Prozeß der Versöhnung beizutragen.

Was kann ein Bericht in der Gesellschaft und der Politik Guatemalas bewirken, der keinen offiziellen Charakter hat und nicht von den Verhandlungsparteien vereinbart wurde, sondern von der katholischen Kirche stammt?

Zunächst wird es wohl einige Kritik von Guerilla und Regierung geben, die mit den Ergebnissen des Berichts nicht einverstanden sein werden. Die katholische Kirche gehört jedoch zu den wenigen Institutionen in Guatemala, die noch Glaubwürdigkeit besitzen. Der Bericht wird sicherlich gelesen und diskutiert. Ich habe die große Hoffnung, daß der Bericht von REMHI für das Land von großem Nutzen sein wird.
Vielleicht wird er nicht die gleiche Bedeutung für das offizielle politische Leben haben wie der Bericht der Wahrheitskommission, aber er wird sicherlich großen Einfluß auf die Gesellschaft haben.

Ein Ziel von REMHI war es, die Geschichte des Krieges aus der Sicht der Opfer zu schreiben. Was müßte der Staat Deiner Meinung für die Opfer des Krieges tun?

Zunächst einmal: Die Bedürfnisse der Opfer sind je nach Person und Gemeinde sehr verschieden. So haben einige Gemeinden sehr detailliert die Schäden ausgerechnet, die ihnen während des Krieges zugefügt wurden, und wollen dafür Wiedergutmachung. Anderen geht es vor allem um die moralische Anerkennung ihres Leids. Die Regierung steht, unabhängig davon, was sie zu leisten bereit ist, vor dem Problem, daß sie nicht weiß, wie sie dies finanzieren soll. Die Empfehlungen der Wahrheitskommission werden aber großen Einfluß auf das Entschädigungsgesetz haben, das verabschiedet werden soll.

Im Zusammenhang mit der Entschädigung der Kriegsopfer stellt sich die Frage der Versöhnung. Wie kann diese Deiner Meinung nach erreicht werden?

Es klingt vermutlich sehr negativ, aber für mich ist Versöhnung in Guatemala eine Utopie. Es ist eine Utopie, weil sich nichts wirklich ändert. Das System und die Menschen sind noch nicht reif für Versöhnung.

Was bedeutet für Dich Versöhnung?

Versöhnung heißt für mich, daß die Wahrheit bekannt und Gerechtigkeit geschaffen wird. Und genau dies wird es nicht geben. In Bezug auf den Mord an meiner Schwester Myrna heißt das, daß die Verantwortlichen verurteilt werden. Das Problem ist natürlich, daß die Wahrheit eines Gerichtsverfahrens nicht unbedingt dem entspricht, was tatsächlich geschehen ist. Ich bin überzeugt davon, daß es noch weitere Verantwortliche für die Ermordung von Myrna gibt. Aber ich werde sie niemals vor Gericht bekommen, weil die Militärs einen Schweigepakt geschlossen haben. Mir geht es nicht um materielle Entschädigung, ich will die Verurteilung der Mörder meiner Schwester.

Die Grundlage für Versöhnung ist also die Verurteilung aller, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben?

Für mich ja. Aber andere Menschen können selbstverständlich ganz andere Forderungen haben. Einigen reicht es bereits, wenn anerkannt wird, daß sie zu unrecht verfolgt wurden, oder daß sie erfahren, wo das Grab ihres Angehörigen ist. Ich habe nicht das Recht, für andere zu sprechen. In den vergangenen Jahren habe ich aber mit sehr vielen Opfern gesprochen, für die es schon ein großer Schritt wäre, wenn die Verantwortlichen der Menschenrechtsverletzungen ihre Schuld eingestehen und sich bei den Opfern entschuldigen würden. Es gibt jedoch eine unglaubliche Arroganz von Seiten der Täter.
Daran hat sich genauso wenig geändert wie an den Strukturen, die für die Aufstandsbekämpfung geschaffen wurden und noch weitestgehend intakt sind. Und die wirtschaftlichen und sozialen Reformen, die viele erhofft hatten, sind ebenfalls ausgeblieben. Wie kann es da Versöhnung geben?

In Südafrika wurde ein anderer Weg eingeschlagen. Die dortige Wahrheitskommission geht davon aus, daß…

…die Gesellschaft nicht dazu in der Lage ist, Gerechtigkeit zu schaffen…
…und die Gesellschaft den Versuch, all jene zu bestrafen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, gar nicht aushalten würde.
In Südafrika wurden die Erfahrungen aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas aufgenommen. Wer vor der Wahrheitskommission aussagt und seine Schuld anerkennt, der soll amnestiert werden. Aber so einfach ist es nicht. Viele Opfer wollen auch Gerechtigkeit, wenn sie die Wahrheit erfahren haben. Sie wollen nicht, daß die Täter nun, da sie an die Öffentlichkeit gehen, amnestiert werden, obwohl sie dies sonst vermutlich niemals getan hätten.
Auch das, was in Südafrika versucht wird, ist kein verallgemeinerbarer Weg. Positiv ist, daß in Südafrika das Thema intensiv in der Öffentlichkeit behandelt wird. Die Vergangenheit darf nicht in Vergessenheit geraten, damit sie sich nicht wiederholt.

Wird dem Thema in Guatemala denn genug Bedeutung beigemessen?

Auf keinen Fall. Dies liegt nicht im Interesse der ehemaligen Kriegsparteien.

Neben Regierung, Armee und URNG gibt es aber noch viele andere Organisationen, die für die politische und gesellschaftliche Diskussion des Landes große Bedeutung haben…

Die sind zur Zeit aber sehr schwach, da sie noch keine neue Identität und Zielrichtung für die Zeit des Friedens gefunden haben. Meines Erachtens gibt es in Guatemala zur Zeit überhaupt keine richtige Opposition. Von der URNG und den ihr nahestehenden Organisationen ist nur sehr wenig zu merken. Die URNG ist mit dem Aufbau der eigenen Partei beschäftigt. Aber es gibt zahlreiche andere Organisationen, die diese Aufgaben schon heute übernehmen könnten. Zudem ist die URNG beim Thema der Wahrheit so passiv, weil sie ihm keine so große Bedeutung beimißt und weil sie Angst hat, daß dann auch ihre eigenen Menschenrechtsverletzungen thematisiert würden.

Die mangelnde Beschäftigung mit der Menschenrechtsthematik und das Amnestiegesetz sorgen ja dafür, daß die jahrzehntelange Straffreiheit bestehen bleibt. Welche Reformen am Staat und am Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Regierung beziehungsweise Armee fordert die „Allianz gegen die Straffreiheit“, um die Straffreiheit in Zukunft zu beenden?

Die Armee hat sich im Laufe des Krieges stark verändert. Gemeinsam mit Zivilisten aus den unterschiedlichsten sozialen Sektoren – auch aus der Regierung – ist sie in die organisierte Kriminalität verwickelt: Schmuggel, Drogenhandel, Entführungen. Diese Verbindungen machen es sehr schwer, dagegen vorzugehen. Präsident Arzú hat ja versucht, etwas gegen diese Strukturen zu unternehmen, aber bis heute ist kein einziger der „Großen“ belangt worden. Als 1996 das Teilabkommen über die „Stärkung der Zivilgesellschaft“ unterzeichnet wurde, ist der „Fall Moreno“ bekannt geworden. Bis heute ist jedoch gegen keinen einzigen der Offiziere, die in diesem Fall als Anführer dieser Schmuggler- und Autoschieberbande bezeichnet wurden, angeklagt worden. Das gleiche gilt für die Entführungen, an denen immer wieder Militärs beteiligt sind: Kein einziger Militär wurde vor Gericht gestellt.
Wie ist das möglich? Diejenigen, die für die Entführungen verantwortlich sind, und jene, die die Ermittlungen leiten, gehören zum selben Geheimdienstapparat, der bereits in der Aufstandsbekämpfung aktiv war. Sowohl die Entführungen als auch ihre Untersuchungsmethoden sind illegal, doch sie genießen noch immer Autonomie. Solange diese Strukturen fortbestehen, sind auch keine wirkliche Verbesserungen im Justizsystem möglich. Dies gilt sowohl für die Polizei als auch für die Staatsanwaltschaft und die Gerichte.

„Todesschwadrone werden aufgebaut“

Hat sich die Arbeit des Menschenrechtsbüros seit der Gründung verändert?

Ja. Insbesondere seit der Militäroffensive der Regierungstruppen gegen die Zapatistische Befreiungsarmee EZLN im Februar 1995 haben sich neue Aufgaben ergeben. So bestand ein Großteil unserer Arbeit ab Mitte 1995 in der Gründung und Betreuung der verschiedenen Friedenscamps in der Konfliktzone. Diese waren notwendig, um durch die Präsenz mexikanischer und internationaler BeobachterInnen die Zivilbevölkerung vor Übergriffen der Regierungstruppen zu schützen. Gleichzeitig wurden in den indigenen Gemeinschaften Alphabetisierungskampagnen durchgeführt. Vor allem die schulische Ausbildung von Frauen ist auch weiterhin eine wichtige Tätigkeit des Zentrums. Allerdings muß angefügt werden, daß wir uns momentan in Diskussionen befinden, welchen neuen Aufgaben und Zielen wir uns zuwenden werden. Dabei geht es vor allem um die Suche nach effektiverer Arbeit zur Verteidigung der Menschenrechte. Eine besondere Rolle werden die politische Analyse und Öffentlichkeitsarbeit spielen.

Derzeit ist der Friedensdialog zwischen Regierung und EZLN unterbrochen. Gibt es Hoffnungen auf eine politische Lösung des Konfliktes und welche Rolle könnte das Menschenrechtszentrum dabei spielen?

Die Regierung weigert sich nach wie vor, den 1996 in San Andrés von ihr unterzeichneten Vertrag über indigene Rechte und Kultur in die Tat umzusetzen. Aus diesem Grund hat die EZLN den Friedensdialog unterbrochen, da es ihrer Ansicht nach keinen Sinn macht, mit einer Delegation zu verhandeln, die nicht gewillt ist, die geschlossenen Kompromisse einzuhalten. Die Repression durch die Regierungstruppen und paramilitärische Gruppen nimmt täglich an Intensität zu. Armut und Hunger haben drastische Ausmaße angenommen und die Zahl der Vertriebenen steigt rasant an. Allein im Landkreis Chenalhó befinden sich etwa 4000 Menschen auf der Flucht. Diese Situation hat zu enormen Spannungen innerhalb der Dorfgemeinschaften geführt und erschwert die Arbeit des Menschenrechtszentrums. Wir bemühen uns, den politischen Druck auf die Regierung zu erhöhen, um diese konfliktreiche Lage zu entschärfen. Dies geschieht unter anderem dadurch, daß wir durch die Einschaltung der Vereinten Nationen die Geschehnisse öffentlich machen und – zusammen mit anderen Nichtregierungsorganisationen – auf die Einhaltung des Abkommens von San Andrés drängen.

In einem Kommuniqué hat der Sprecher der Zapatistas, Subcomandante Marcos, den katholischen Klerus scharf angegriffen, die Arbeit des Vorsitzenden der Friedensvermittlungsorganisation CONAI, Bischof Samuel Ruíz, aber ausdrücklich gewürdigt. Besteht zwischen seiner Kritik und den Attentaten auf Bischof Samuel Ruíz ein Zusammenhang?

Nein. Auch wenn ich die Formen und Ansichten des EZLN-Sprechers nicht grundsätzlich teile, sehe ich zwischen seinem Schreiben und den Attentaten keinerlei Zusammenhang. Am 4. November wurde auf das Auto von Bischof Samuel Ruíz geschossen. Dieser Anschlag war vorbereitet. Dabei wurden drei seiner Begleiter verletzt. Am folgenden Tag wurde die Schwester von Samuel Ruíz bei einem Mordanschlag schwer verletzt. Es gibt Hinweise darauf, daß der Attentäter für seine eigentliche Absicht, die Ermordung des Bischofs, Geld erhalten hat. Daß zwischen den Anschlägen und dem Brief der EZLN in der Presse Zusammenhänge hergestellt werden, ist Teil der Regierungsstrategie. Durch derartige Äußerungen will die Staatspartei PRI von ihrer eigenen Rolle ablenken und als neutraler Faktor erscheinen, der schlichtend in Konflikte eingreift, mit deren Ursachen die politischen Machthaber nichts zu tun haben. Für uns steht fest, daß die Verantwortlichen für die Gewalt in Chiapas in der Regierung zu suchen sind. Hinter den Anschlägen stehen paramilitärische Gruppen, die die volle Unterstützung der Armee und der Regierung besitzen. Sie sind die Drahtzieher der Hinterhalte, Morde und Anschläge. Wir sehen uns mit einer Situation konfrontiert, in der bewaffnete Banden zu Todesschwadronen aufgebaut werden.

Wie bewerten Sie die Ausbrüche von Gewalt, die in den letzten Wochen in Chenalhó zu beklagen sind?

Dieser Konflikt hat seinen Ursprung in einem seit Mai 1997 schwelenden Machtkampf zwischen zapatistischer Basis und AnhängerInnen der PRI. Dabei geht es einerseits um die Kontrolle eines Kieswerkes, der wichtigsten ökonomischen Einnahmequelle der Region, und andererseits um die politische Vormachtstellung. Dieser Konflikt hat sich ausgeweitet und mittlerweile über 20 Menschenleben gekostet. Dennoch muß betont werden, daß hinter all dieser Gewalt die PRI-Regierung, insbesondere Gouverneur Ruíz Ferro, steht. Es ist bekannt, daß die paramilitärische Gruppe Paz y Justicia (Frieden und Gerechtigkeit) von PRI-Politikern bewaffnet und geleitet wird. Außerdem wird sie nicht nur von der Polizei und der Armee geduldet, sondern sie agieren auch gemeinsam.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, zu einer friedlichen Lösung zu kommen? Kann die Wiederaufnahme der Gespräche zwischen EZLN und Regierung zu einer Beendigung der Gewalt beitragen?

Dies kann nur über direkte Gespräche der Konfliktparteien geschehen. Denken und Handeln von PRI-Regierung und zapatistischen Gemeinschaften stehen sich frontal gegenüber. Bisher gibt es keine Möglichkeit, die sich nirgendwo berührenden Logiken der PRIistas und der Zapatistas zusammenzubringen. In zahlreichen Regionen haben wir gesehen, daß die indigenen Gemeinschaften sehr gut in der Lage sind, ihre Konflikte untereinander und friedlich beizulegen. Daß dies in Chenalhó bisher nicht der Fall ist, liegt daran, daß die lokalen PRI-Machthaber von der Landesregierung aufgestachelt werden. Über Gespräche zwischen Regierung und EZLN – abgesehen davon, daß sie derzeit nicht wahrscheinlich sind – läßt sich diese verfahrene Situation in Chenalhó nicht lösen.

In vielen Regionen von Chiapas kommt es zu blutigen Kämpfen zwischen regierungstreuen und oppositionellen Gruppen. Indígenas kämpfen gegen Indígenas. Wie beurteilen Sie dieses Phänomen?

Diese Vorkommnisse stehen in Zusammenhang mit der von der Regierung verfolgten Strategie, gegen die EZLN und ihre SympathisantInnen einen „Krieg niedriger Intensität“ zu führen. Indem Leute aus den Dörfern bewaffnet und gegen andere aufgehetzt werden, kann die Armee in der Öffentlichkeit als friedensstiftender Faktor auftreten. Das Anstiften von Zwistigkeiten innerhalb der Dorfgemeinschaften ist Teil der staatlichen Aufstandsbekämpfungsstrategie und führt einzelne Regionen an den Rande des Bürgerkriegs. Nur internationaler Druck auf die Regierung, die jede Verantwortung leugnet und zudem behauptet, daß es keine paramilitärischen Banden gäbe, kann diese Situation entschärfen.

Der große Quinoa-Raub

Zwei amerikanische ProfessorInnen besitzen das Patent für den bolivianischen Quinoa, den traditionellen ‘Anden-Reis’. Zumindest für einen speziellen Teil einer speziellen Sorte Quinoa. Vertreter von bolivianischen Quinoa-Bauern haben bei den Vereinten Nationen dagegen protestiert und werden dabei von Organisationen im In- und Ausland unterstützt.

Derzeit gibt es viele Diskussio
nen über das geistige Eigentum an lebendem Material. Patente sollen genetische Erfindungen gegen Kopien schützen. Darüber werden Verträge abgeschlossen, unter anderem innerhalb der Europäischen Union. Zahllose Organisationen in der ganzen Welt machen jedoch gegen diese Patente mobil.
Die Diskussion über Patentrechte spiegelt die Problematik der Beziehungen zwischen Norden und Süden wieder. Den reichen Industrieländern wird vorgeworfen, genetisches Material von Entwicklungsländern zu stehlen. Ursprünglich traditionelle Pflanzen werden von großen Saatgutfirmen aus den industrialisierten Ländern patentiert. Die Folge: Bauern in den südlichen Ländern können ohne Genehmigung kein Saatgut von ihrer eigenen Ernte verwenden, wenn es ein Patent darauf gibt. Man spricht auch vom Neo-Imperialismus und Biopiraterie.
Ein Beispiel für diese Entwicklung ist, sogenannte große Quinoa-Raub: Zwei amerikanische ProfessorInnen haben 1994 ein Patent auf eine bestimmte Quinoa-Sorte beantragt. Es handelt sich hierbei um eine sehr spezielle Form der Sorte ‘Apelawa’, die aus der Umgebung des Titicacasees in Bolivien stammt.
Der Vorsitzende des bolivianischen Vereins von Quinoabauern Anapqui, Luis Oscar Mamani, hat im Juni bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Unrechtmäßigkeit des Patents angeklagt. Er brachte seine Klage gegen das Patent als Mißbrauch der Menschenrechte vor den Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte. „Unsere Großeltern haben seit Hunderten von Jahren Quinoa für das extreme Andenklima und den dortigen Boden angebaut und veredelt. Die Techniken hierfür haben die Wissenschaftler aus Amerika nicht gefunden. Das Patent hat zur Folge, daß wir unser Quinoa nicht frei produzieren können, mit allen Folgen für die Lebensmittelproduktion,“ erklärte Mamani.

Information via Internet
Die Rural Advancement Foundation International (RAFI), eine internationale Nichtregierungsorganisation aus Kanada, machte zum ersten Mal die Öffentlichkeit auf dieses Patent aufmerksam. Ausgehend von einem Pressebericht im Internet hat die Organisation die Diskussion eröffnet. Der Pressebericht meldete: „Das ist ein erschütterndes Beispiel von Biopiraterie. Das Patent erhebt nicht nur Anspruch auf Apelawa-Quinoa, sondern auch auf alle anderen Kreuzungen, die von Apelawa stammen. Darunter fallen viele traditionelle Sorten, die in Bolivien, Ecuador und Peru angebaut werden. Der Export von Quinoa in die Vereinigten Staaten kann hierdurch erschwert werden. Die US-amerikanischen Wissenschaftler sehen in dem Patent eine Chance, Quinoa auf der nördlichen Halbkugel kommerziell anbauen zu können,“ so RAFI.
Sarah Ward, eine der US-amerikanischen ProfessorInnen und Besitzerin des Patents, bestritt über Internet die Angriffe von RAFI. Sie stellte nachdrücklich klar, daß das Patent in keiner Beziehung zu den Quinoa-Kulturen in Bolivien stehe. Das Patent betreffe nur ein sehr spezifisches Zytoplasma, das in der Apelawa-Sorte gefunden wurde und US-amerikanischer Herkunft ist. Die Patentrechte schließen keine Quinoapflanzen oder Kreuzungen ein, die nicht dieses Zytoplasma enthalten. Ward stellte auch in Abrede, daß das Patent kommerziellen Wert habe. Das genetische Material befinde sich im Gefrierschrank der Universität Colorado und diene keinem besonderen Zweck. Außerdem sei es nach US-amerikanischer Patentgesetzgebung unmöglich, daß ein Patentbesitzer den traditionellen Anbau oder den Import in die Vereinigten Staaten verhindern kann.
Die Aufregung um Quinoa ist nur ein Beispiel für die Diskussion, die um das internationale Patentrecht auf lebendes Material geführt wird. Für die genetische Forschung ist es notwendig, über möglichst viele Pflanzenarten zu verfügen. Eine unbedeutende Art kann plötzlich einen Millionenwert besitzen, wenn darin ein Gen mit Resistenzverhalten vorkommt. Immer mehr Saatgutfirmen patentieren deshalb genetisches Material aus Entwicklungsländern. Etwa 80 Prozent der Bauern in den Entwicklungsländern produzieren ihr eigenes Saatgut. Falls sie dies nicht für den weiteren Anbau der eigene Kreuzungen verwenden dürfen, da es patentiert ist, werden künftig nur noch kapitalstarke Betriebe in der Lage sein, Pflanzen weiter zu veredeln.
Jeroen Breekveldt von NoGen, einer Organisation, die ein Archiv über Biotechnologie verwaltet, sagte hierzu: „Unser Protest gegen das Quinoa-Patent ist eine frühzeitige Warnung. Dieses Patent ist ein weiteres Beispiel, daß der Westen sich der Kontrolle der Biodiversität in den südlichen Ländern bemächtigt. Die amerikanischen ProfessorInnen erklären jetzt, daß sie kein besonderes Ziel mit diesem Patent verfolgen, aber was werden sie morgen damit tun? Vielleicht wird dann ein Multi das Patent besitzen. Im übrigen ist patentiertes Pflanzenplasma nicht von der westlichen Wissenschaft erfunden worden. Es handelt sich um Kenntnisse, die über Jahrhunderte hinweg in der einheimischen Bevölkerung gewachsen sind. Sollten diese Völker nicht wenigstens eine Entschädigung für die Verwendung ihrer Kenntnisse erhalten? Das hat mit Gefühlen zu tun. Das Patentieren von einheimischen Material ist wie ein Schlag ins Gesicht. Sicherlich werden die Menschen in Lateinamerika denken: Ist nun endlich Schluß mit dem Raub unserer Reichtümer? Es geht um Respekt, um die Verfügungsgewalt über das eigene Land und die Lebenswelt.“
Im Grunde wurde schon immer genetisches Material aus den Entwicklungsländern in den Norden importiert, wie zum Beispiel die Kartoffel und der Mais. Viele Pflanzen, die heute in den Industrieländern wachsen, stammen ursprünglich aus Lateinamerika. Und die Freiheit, Pflanzenarten der Südhalbkugel im Norden zu züchten, wird auch weiter fortbestehen. Jedoch sollten von der Verwendung genetischen Materials aus autochthonen Züchtungen auch die Züchter aus den Entwicklungsländern profitieren.

gekürzt aus: Alerta, Oktober 1997. Übersetzung aus dem Niederländischen: Petra Wessels.

KASTEN

Was ist Quinoa?

Quinoa, auch Anden-Reis genannt, ist das wichtigste Grundnahrungsmittel in den Anden-Ländern. Es ist ein hirseähnliches Getreide und zweimal so nahrhaft wie Mais oder Reis. Quinoa wird auch in Europa und Amerika immer populärer. Der Export von Quinoa aus Bolivien ist in den letzten Jahren stark angestiegen. 1995 brachte der Export von Quinoa mehr als 1,5 Millionen US-Dollar ein, womit der Exportwert innerhalb der letzten fünf Jahre um das Fünffache gestiegen ist. Ein Drittel davon wurde in die Vereinigten Staaten exportiert, zehn Prozent nach Deutschland, weitere zehn Prozent nach Frankreich.

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