Die Gegenwart ist virtuell

Die letzten Jahre vergingen schnell. Aufbaustimmung, Gründungsfieber und der Gedanke an die neuen Chancen prägten den politischen Diskurs. In der Politik ist das Wort “Versöhnung” ein abgenutztes Schlagwort geworden, seitdem sich die Meinung durchgesetzt hat, daß sowohl Wahrheit als auch Gerechtigkeit “im Rahmen des Möglichen” – so die wichtigste Maxime der chilenischen Politik – geschaffen worden seien. Die Diskussion um die demokratische Transformation Chiles wurde seit dem Amtsantritt von Technokraten-Präsident Eduardo Frei 1994 durch eine Debatte um die Konsolidierung und ökonomische Modernisierung abgelöst. Wenig überraschend, daß sich ein Wunschdenken entwickelte, nachdem die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nur noch den Schritt zur Versöhnung benötigte, um abgeschlossen zu werden.
“Die neue Demokratie beginnt ihr Leben als virtuelle Realität. Die Vergangenheit ist nicht zuletzt deshalb schwer bearbeitbar, weil sie zum Teil Gegenwart bleibt” schrieb 1996 der chilenische Psychologe David Becker. Er weiß, wovon er spricht.
Tagtäglich hat er mit den Folgen einer nichtbearbeiteten Vergangenheit zu tun, denn er betreut Folteropfer im Lateinamerikanischen Institut für Menschenrechte und psychische Gesundheit (ILAS) in Santiago. Nicht nur die traumatischen Erlebnisse der Folter machen dabei nach seinen Erfahrungen das Leiden der Opfer aus. Denn die ausbleibende gesellschaftliche Anerkennung des Opferstatus vergrößert den Schmerz. Die krankhaft auf Konsens ausgerichtete Politik der jungen Demokratie hat daran ihren Anteil. “Wie Seismographen”, so Bekker, reagierten die Patienten auf politische Vorkommnisse, etwa, wenn wieder einmal die Straflosigkeit der Folterer durch ein Gericht bestätigt wird. “Zur Zeit haben wir im ILAS mehr Anfragen nach therapeutischer Hilfe als vor fünf Jahren”, resümiert der Psychologe.
Dabei hatte alles vielversprechend begonnen, als im März 1991 der Kommissionsbericht, der nach seinem Vorsitzenden Raúl Rettig auch den Namen “Rettig-Bericht” trägt, vorgelegt wurde. Zum ersten Mal war von einer offiziellen Stelle anerkannt worden, daß während Pinochets Diktatur Menschen verschwanden, ermordet und gefoltert wurden. 2279 Menschen, so der Bericht damals, seien der Gewalt zwischen 1973 und 1990 zum Opfer gefallen. Breit wurde die Studie in der Öffentlichkeit diskutiert, die Zeitungen druckten die 1352 Seiten als Sonderausgabe nach. Die Militärs befanden sich, trotz Drohgebärden und Säbelrasseln, in der Defensive.

Politik: Suche nach Wahrheit

Doch für die neue Regierung war mit dem Bericht offensichtlich jegliche Schuld beglichen. Einen Monat nach der Veröffentlichung wurde der rechtsgerichtete Senator Jaime Guzmán auf offener Straße ermordet,was der Regierung einen willkommenen Anlaß bot, das Thema der Menschenrechte und des Kommissionsberichtes zu begraben. Tatsächlich hatte der Regierungsminister schon Tage vor dem Mord erklärt: “Wir betrachten die institutionelle Debatte als beendet.” Der Rettig-Bericht wurde somit zum ersten Verschwundenen der neuen Regierung.
Der Bericht hinterließ dennoch seine Spuren. In der Politik wurden umstrittene Versuche einer weiteren Wahrheitsfindung gemacht. Tatsächlich versuchte sowohl Präsident Aylwin, als auch sein Nachfolger Eduardo Frei, das Thema der Menschenrechtsverletzungen per Gesetz endgültig aus der Welt zu schaffen. Doch sowohl die Ley Aylwin (1993, LN Nr. 231/232) als auch die Ley Figueroa/Otera (1995, LN Nr. 259) scheiterten im Parlament. Zu deutlich war in den Gesetzesentwürfen, daß alles letztendlich auf die Bestätigung der Straffreiheit der Militärs hinausgelaufen wäre – im Austausch für Informationen über die letzte Ruhestätte der noch immer Verschwundenen. Ein hoher Preis für die Wahrheit.
Die Zahl der Opfer stieg indessen an, denn die Corporación de Reparación y Reconciliación, so hieß die Nachfolgeorganisation der Rettig-Kommission, recherchierte weiter. Im Frühjahr 1995 übergab die Organisation Eduardo Frei eine Liste mit weiteren 899 Fällen von Verschwundenen, was die Zahlen der Rettig-Kommission um fast 40 Prozent nach oben korrigierte. Doch die Liste wurde totgeschwiegen, eine Neuauflage der Debatte um die Menschenrechtsverletzungen ist eindeutig nicht erwünscht. “Ich glaube, diese Liste wird nie veröffentlicht werden”, so eine Mitarbeiterin der Corporación. Die Schließung der Regierungsorganisation ist indes bereits beschlossenen Sache, im Laufe des Jahres 1997 müssen die Schreibtische geräumt werden.
Und auch die Arbeit vieler unabhängiger Menschenrechtsorganisationen steht vor dem Aus, soweit sie nicht schon – wie die Vicaría de la Solidaridad 1992, dichtgemacht haben (LN Nr. 229/230). Noch dieses Jahr wird die chilenische Menschenrechtskommission (CCDH) ihre Arbeit einstellen. Zudem halbierte sich das aus dem Ausland für Nichtregierungsorganisationen gespendete Geld nach der Redemokratisierung innerhalb eines Jahres von 60 auf 30 Millionen US-Dollar. Inzwischen dürfte es noch weniger sein. Von der Regierung ist keine Hilfe zu erwarten. Sie will keine weitere Wahrheitssuche.

Justiz: Suche nach Gerechtigkeit

Bruna Truffa: Diese Wunde, die nie aufhört zu bluten. Acryl, 1989
Juristisch, sagen viele, sei einiges erreicht worden bei der Behandlung des Menschenrechtsthemas. Tatsächlich: materielle Wiedergutmachungsleistungen wurden ausgezahlt, Wiedereingliederungsprogramme für rückkehrende Exilierte aufgestellt, politische Gefangene freigelassen. Aber die Leistungen der Regierung werden von vornherein auf die Dauer von fünf jahren beschränkt. Und auch das Rückkehrbüro (Oficina de retorno) setzte bereits im Sommer 1994 einen Schlußstrich unter seine Arbeit, nachdem von offiziell 250.000 Exilierten rund 40.000 mit ihrer Hilfe zurückgekehrt waren. Doch schon verlassen die ersten Rückkehrer Chile wieder in Richtung ihres früheren Exils, weil sie mit dem Leben in ihrer verändertet Heimat nicht mehr zurechtkommen.
Eine Reform des noch von Pinochet-Getreuen durchsetzten Justizsystems ist nach wie vor überfällig, und so verdient die Rechtsprechung oft nicht einmal ihren Namen. Immerhin 220 Verfahren gegen Menschenrechtsverletzer konnten aufgrund der Informationen der Rettig-Kommission wiederaufgenommenen werden. Einige wenige Folterer wurden zu Haftstrafen verurteilt. Die prominentesten wie Ex-Geheimdienstchef Manuel Contreras und sein Adjutant Pedro Espinoza können ihre Strafen in einem eigens für sie gebauten Gefängniskomplex in Punta de Peuco bei Santiago absitzen (wobei die Verurteilungen wohl auch auf den außenpolitischen Druck der USA zurückgehen, mit denen man gerade über eine – später gescheiterte – Aufnahme in die NAFTA verhandelte).
Hoffnung für das chilenische Rechtssystem und die Zuerkennung von Gerechtigkeit nährt sich hauptsächlich aus dem erwarteten Generationenwechsel der Richterschaft. Mit Hilfe einer Aufstockung der finanziellen Mittel für die Gerichte schleuste die Regierung Aylwin eine große Anzahl junger Juristen in die Behörden, die dem Rechtsstaatprinzip aufgeschlossenener gegenüberstehen als ihre älteren Kollegen. Doch auch die Besetzung des Obersten Gerichtshofes, Hort der Pinochet-hörigen Richterschaft, wird eine Veränderung erfahren: Laut Verfassung muß die Hälfte der noch von Pinochet eingesetzte Robenträger im März 1997 ausgetauscht werden. Aber die von Pinochet ernannten acht Spezialsenatoren werden bis Dezember im Parlament ihre Arbeit weiter verrichten, und ob der greise Obermilitär wie vorgesehen im März 1998 sein Amt niederlegen wird, steht noch in den Sternen.
So ist Skepsis weiterhin angebracht: Die Vereinten Nationen berichten in einem Chile-Bericht im Frühjahr 1995 von 210 Folterfällen durch chilenische Sicherheitsbeamte seit 1990. Die Methoden unterscheiden sich nicht von denen der Diktaturzeit: Elektroschocks, Vergewaltigungen, Scheinhinrichtungen, Schlaf- und Nahrungsmittelentzug sowie Beinahe-Ersticken. Am Abend des 23. Jahrestages des Putsches vom 11. September 1973 kam es zu Ausschreitungen, in deren Verlauf mindestens 38 Menschen verletzt wurden und 222 Anti-Pinochet-Demonstranten festgenommen wurden. Und auch der Anfang Februar 1997 veröffentlichte jährliche Menschenrechtsbericht des US-State-Departments greift neue Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen auf. So sollen innerhalb des letzten Jahres mindestens drei Menschen wegen unangebrachter Gewalt der Polizei gestorben seien. Die Haftbedingungen sind nach wie vor schlecht. Die Regierung wiegelt nach wie vor ab, spielt sogar ein wenig beleidigt und spricht von “bedauerlichen Einzelfällen”, die allen Polizeiorganisationen der Welt unterkämen. Die rechten Parteien – bis hin zu den an der Regierung beteiligten Sozialisten – sekundieren. Gleichzeitig ist wieder einmal eine heftige Debatte um die innere Sicherheit und den Linksterrorismus losgetreten worden, nachdem Ende Dezember 1996 die vier mutmaßlichen Mörder Jaime Guzmáns mit Hubschrauberhilfe spektakulär aus ihrem Gefängnis entwischen konnten.

Gesellschaft: Suche nach Versöhnung

Wohl kein Wort ist in der chilenischen Rhetorik so vergewaltigt worden wie das der “Versöhnung”. Der Ursprung des Wortes ist religiöser Natur. Die Übertragung dieses auf das Individuum ausgerichteten Konzeptes auf Politik und Gesellschaft wirft viele Schwierigkeiten und Fragen auf, denn was “Versöhnung” bedeutet, bleibt angenehm nebulös. Und so wird “Versöhnung” in Chile zu einem Schutzbegriff für eine ausbleibende Beschäftigung mit der Vergangenheit. Es wundert nicht, daß oft das Wort “verzeihen” unmerklich an Stelle von “versöhnen” tritt: Verzeihen kann man allein, Versöhnung findet zwischeneinander statt. Die Opfer sind einsam wie nie, und niemand will sich mit ihnen versöhnen, sie sollen verzeihen.
Das deutlichste Symbol einer versuchten Versöhnung ist nach wie vor der Rettig-Bericht. Der fünfjährige Jahrestag der Veröffentlichung im März 1996 war allerdings keiner der großen Tageszeitungen auch nur eine Zeile wert. Sicher, ein Monument mit den eingravierten Namen der Verschwundenen wurde auf dem Zentralfriedhof errichtet. Nicht vergessen ist allerdings, daß das Projekt immer wieder an angeblichen Geldproblemen der Regierung zu scheitern drohte. Zur Einweihung 1993 fand sich ein einziger Regierungsvertreter auf dem Friedhof ein.
Das Desinteresse der Öffentlichkeit an den Opfern ist eindeutig. Bücher über die Diktatur verkaufen sich schlecht, soweit sie überhaupt geschrieben werden. Regimekritische Zeitschriften und Zeitungen wie Cauce, Fortin Diario, Análisis, Apsis, El Siglo oder Punto Final, auf die sich zu Plebiszitzeiten alle Hoffnungen einer unabhängigien Presse richteten, erscheinen gar nicht mehr oder im besten Falle seltener. Auch die Sozialwissenschaften sind in einer mißlichen Lage, und das nicht nur, weil sie in der privatisierten Universitätslandschaft nicht mehr nachgefragt werden. Der chilenische Philosoph Jorge Vergara stellt fest: “Die Produktion von vielen Zentren sozialwissenschaftlicher Forschung wird zwar publiziert, aber kaum gelesen. Die Geschichtsinterpretation der Militärs, die besagt, daß der Putsch durch das Chaos unter Allende zwingend notwendig wurde, setzt sich so unmerklich durch und bleibt weithin unwidersprochen. Pinochet kann in einem Interview auch noch im September 1996 behaupten: “Ich war kein Diktator.”
Die allgemeine geschichtliche Apathie zeigt Wirkung. Immer mehr Chilenen und Chileninnen wollen die schmerzlichen Abschnitte der Vergangenheit endgültig hinter sich lassen. Während sich in einer Umfrage 1992 nur 13 Prozent der Befragten dafür aussprachen, die Diskussion um die Menschenrechtsverletzungen zu beenden, waren es 1993 schon 17,4 Prozent und 1994 bereits 24,5 Prozent. David Becker hat die Lehren aus diesem Schauspiel für den chilenischen Fall gezogen: “Ohne Haß keine Versöhnung” überschreibt er einen seiner Artikel, der für die berechtigte Wut der Opfer Partei ergreift. Wo die Vermeidung von Konflikten zum Programm wird, entsteht keine neue, hoffnungsvolle Gesellschaft. “Um eine neue Diktatur zu vermeiden, verzichtet man am besten gleich auf den Wunsch nach einer echten Demokratie”, und das betrachtet Becker als Fehler. Insofern war auch der Rettig-Bericht nützlich, denn er war konfliktgeladen. Doch der potentiell reinigende Konflikt wurde zugunsten der Konsenspolitik vermieden.
Und dennoch: Mit der Wahrheitskommission in Chile entstand das erste zugkräftige Exportprodukt. Je nach Zählweise kommt man heute weltweit auf bis zu 60 dieser Kommissionen, doch der kleinste Teil legte schon vor 1991 Ergebnisse vor. Erst die Arbeit José Zalaquetts, chilenischer Rechtsanwalt, Mitglied der Rettig-Kommission und ehemaliger Präsident von amnesty international, entwarf ein Konzept für Wahrheitsfindungskommissionen, das nun in Ländern wie Südafrika oder Guatemala als Vorbild genutzt wird. In Chile entstand kein offener Konflikt, und die Opfer hielten weitgehend still – das ist wohl der Haupterfolg der Kommission, der sie so nachahmenswert für andere Nationen macht.

Ankläger argentinischer Absurditäten

“Er schrieb nicht für die Schriftstellerzirkel, für die Kritiker oder den literarischen Hühnerstall. Er schrieb für die Menschen und handelte nicht mit Populismus”, resümiert der Publizist José Pablo Feinmann über Soriano. Er war der Komplize der LeserInnen und sie vertrauten ihm. In den Contratapas, der Rückseite der von ihm mitgegründeten Tageszeitung Página /12, kommentierte er die Absurdität der tagespolitischen Vorfälle in Argentinien, mit besonderer Vorliebe die lokale Fußballszene oder schrieb über seinen Vater: Ein Don Niemand, wie Soriano erklärte, ein Angestellter bei den städtischen Wasserwerken, den schließlich alle LeserInnen liebten. Nichts war nicht tiefsinnig, jede kleine Begebenheit konnte er in eine Geschichte verwandeln.
Durch Soriano sei das Leben der Antihelden heroisch geworden, formulierte der Drehbuchautor Antonio Skármeta treffend. Soriano brachte das Leben von Marginalisierten der Gesellschaft und den Gescheiterten aufs Papier. Bezeichnenderweise war der Argentinier ein großer Fan von Stan Laurel und Oliver Hardy, dem er wohl seinen Spitznamen El Gordo – Dicker zu verdanken hat. Beide Darsteller von “Dick und Doof” sind als White Trash, als arme verachtete Weiße gestorben. Soriano, der Laurels Geschichten schätzte, weil sie die Gesellschaftsordnung und das Eigentum angriffen, brachte die beiden 1973 in seinem ersten Roman, Triste, solitario y final unter. Diese urkomische und eigenartige Geschichte des Scheiterns war von Anfang an ein Bestseller. “Heute scheint es einer der großartigsten und begrüßenswertesten Momente jener verkrampften Epoche zu sein”, blickt Sorianos Kollege von Página/12, Juan Forn, zurück. Der in der lateinamerikanischen Literatur neuartige Stil dieses Buches begründete das Género menor.
Soriano verstand die argentinische Seele wie kein anderer. Er beherrschte die Umgangssprache der Leute, kannte ihre Sitten und ihren Humor, den Tango und die Politik. Argentinien bedeutete für ihn eine leicht verrückte Heimat, auf die man sich keinen Reim machen kann. Der Journalist Jacobo Timmerman erklärt: “Soriano verstand diese Nation gut, die in vielen Aspekten absurd erscheint, weil er mit dem Absurden umzugehen wußte. Er hatte Symbole, Ausdrücke, Figuren, Gespenster geschaffen, und das war die Weise, in der er uns die Schwierigkeit, in Argentinien zu leben, verständlich machte. Und die Sehnsucht, in Argentinien zu leben.”

Diktatur, Exil, Rückkehr

Soriano wurde am 6. Januar 1943 in Tandil, einer Stadt in der Provinz Buenos Aires, geboren. In seinem Geburtsort hatte er als Sportreporter bei dem Blatt “El Eco” angefangen und war mit 26 Jahren zum Schreiben nach Buenos Aires gezogen. Primera Plana, die Zeitung, die er zunächst aufsuchte, wurde kurze Zeit später von der Militärregierung Juan Onganías verboten. Bei der linken Zeitung La Opinión wurde er bald darauf zum Starredakteur für gesellschaftliche Angelegenheiten. Für seine Historias de la vida wählte er die Kolumnenform, damit ihm niemand reinreden konnte. 1978, zwei Jahre nach dem Militärputsch, zog Soriano über Brüssel nach Paris. Dort lernte er seine spätere Frau Catherine kennen.

Die Zeit im Exil

Während seines Exils arbeitete er unter anderen für Le Monde, Libération, Le Canard Echaine, Panorama und für Il Manifesto. Soriano war ein “Sozialist ohne Partei”, wie ihn sein Freund Pasquini Durán nannte. Er verteidigte die Freiheit und die Utopie einer glücklichen Gesellschaft, die ihn vor Zynismus bewahrte. Die Menschenrechte sah er als unerläßliches Fundament des Zusammenlebens.
Aus dem Exil heraus klagte er die Verbrechen der Militärregierung in Argentinien an. Sin Censura hieß die Exilzeitung, in der Soriano mit anderen politischen Flüchtlingen wie Carlos Gabetta und dem Schriftsteller Julio Cortázar über die Verbrechen von General Videla aufklärte. Wenn vor argentinischen Botschaften demonstriert wurde, war Soriano dabei, Flugblätter trugen seine Unterschrift.
Sein Einsatz gegen die Grausamkeit der argentinischen Politik spiegelt sich auch in seinen Werken wider. Er war der erste, der diese literarisch darstellte, besonders in No habrá mas penas ni olvido und Cuarteles de Invierno. Ersteres hatte er noch in Argentinien beendet, konnte es jedoch erst 1980 in Madrid veröffentlichen. Darin thematisiert Soriano die politischen Auseinandersetzungen zwischen Links- und Rechtsperonisten in den 70er Jahren. Der auf diesem Buch beruhende Film von Héctor Olivera erhielt den Silbernen Bären auf der Berlinale.
“Mit Soriano sterben die Träume einer Generation, die auf ein gerechteres und würdigeres Argentinien vertrauten”, schrieb der Schriftsteller Tomas Eloy Martinez.
Soriano trug wesentlich zur Veränderung der argentinischen Presselandschaft in der Demokratie bei. 1984 kehrte er nach Buenos Aires zurück und gründete die inzwischen wieder eingegangene Wochenzeitung El Periodista und später die Tageszeitung Página/12. Schließlich zählte Soriano zu denen, welche die Vereinigung zur Verteidigung des Unabhängigen Journalismus, PERIODISTAS, ins Leben riefen. An dem Tag, an dem Soriano starb, stand seine Unterschrift neben 22 weiteren unter einer Erklärung an die argentinische Regierung. Darin versicherte PERIODISTAS, daß die argentinische Presse den vor kurzem ermordeten Fotografen José Luis Cabezas nicht vergessen wird und dessen Mörder zur Verantwortung gezogen werden müssen.

Sorianos literarisches Werk

Seit seiner Rückkehr beglückte Soriano seine Fangemeinde mit vier weiteren Romanen. Für A sus plantas rendido un león, die Geschichte über einen argentinischen Konsul, der zur Zeit des Malvinenkriegs in Afrika steckt und in dessen Verlauf die afrikanischen Soldaten Gardel mit dem argentinischen Präsidenten verwechseln, erhielt der Autor eine in Argentinien unübertroffene Vorauszahlung von 120.000 US-Dollar. Es folgten Una sombra ya pronto serás (1990), El ojo de la patria (1992) und La hora sin sombra (1995). Auch brachte er vier Bücher mit gesammelten Zeitungsartikeln heraus.
Ob Buch oder Artikel – Soriano fiktionalisierte die Wirklichkeit, humorvoll und übertrieben, das Imaginäre stand nicht im Gegensatz zur Wahrheit.
In Argentinien wurde Soriano, jedenfalls von offizieller Seite, so gut wie ignoriert. Doch gestraft fühlte er sich wegen ausbleibender Preise nicht: “Es ist besser so. So ein Preis kompromittiert Dich. Du gehst hin, um ihn zu empfangen und mußt wer weiß welcher unerwünschten Gestalt die Hand geben.”

Anerkennung im Ausland

Dafür fand der Argentinier im Ausland umso mehr Anerkennung. Seine Bücher wurden in 15 Sprachen übersetzt. Besonders in Italien und Deutschland ist man von ihnen begeistert. 1993 erhielt der Raymond Chandler Verehrer Soriano die in Europa höchste Anerkennung für Kriminalautoren, den Raymond Chandler Preis. Für seine Artikelsammlung Cuentos de los años felices überreichten ihm die Italiener den Scanno Preis. Auf die Frage, was er mit den gewonnen drei Kilo Gold gemacht habe, erklärte der Geehrte: “Was in solchen Fällen angebracht ist: Ich habe sie auf einer Insel vergraben.” Erfolg und Geld interessierten ihn nicht. Während seines Exils erhielt Soriano lukrative Angebote von vielen großen italienischen Zeitungen, um ihn von Il Manifesto abzuwerben. Erfolglos, er blieb bei der linken Zeitung.
Osvaldo Sorianos Fan-Gemeinde würdigt seine unvergleichliche Art zu erzählen, von den einfachsten Dingen, stundenlang. Ein Mensch, der, wie Stan Laurel, andere zum Lachen bringen konnte, während er anklagte.

Ein Alptraum voller Realität

Angela Delli Santes Buch “Nightmare or Reality. Guatemala in the 1980s” ist eine nachdrückliche Anklage. In unermüdlicher Detailtreue analysiert die US-amerikanische Professorin die Mechanismen, Hintergründe und sozialen Folgen der politischen Repression in Guatemala. Unerbittlich zeigt sie Verantwortlichkeiten auf, nennt Entscheidungsträger, Akteure und Kollaborateure, klagt Schuldige an. Dabei verläßt sie sich nicht allein auf die moralisch-ethische Kraft ihres erhobenen Zeigefingers, sondern stützt ihre Anklagen auf die Verletzung nationalen wie auch internationalen Rechts. So ist Guatemala offizieller Unterzeichner der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der UN-Folterkonvention und der UN-Konvention über den Genozid. Dem steht allerdings in der Realität eine schaurige Bilanz hunderttausender ziviler Opfer staatlicher Repression gegenüber, Konsequenz einer nahezu fanatischen Politik der Vernichtung jedes potentiellen Gegners. “Zerstörung ländlicher Strukturen” und “Umsiedlung, Kontrolle, Militarisierung”, so hießen die Programmstufen des systematischen Staatsterrorismus, welcher der bewaffneten Opposition die wachsende gesellschaftliche Basis untergraben sollte. Ihren traurigen Höhepunkt erreichten die 50 Jahre der Repression in den 80er Jahren mit der Auslöschung ganzer Dörfer, extralegalen Hinrichtungen, Folter und der Systematik des “Verschwindenlassens”.

Die Verantwortlichen der Repression

Als Hauptakteure und Verantwortliche nennt die Autorin Armee, Polizei, Geheimdienst, die Zivilen Patrouillen zur Selbstversteidigung (PACs) und verschiedene paramilitärische Gruppen, aber auch zivile Entscheidungsträger, insbesondere die auf die Militärregierung folgenden Regierungen von Venicio Cerezo Arévalo, Jorge Serrano Elías und Ramiro de León Carpio, die kein Ende der Menschenrechtsverletzungen bewirkten. Zur Verantwortung zieht Delli Sante jedoch ebenso weite Kreise der internationalen Staatengemeinschaft, ohne deren militärische, wirtschaftliche und logistische Unterstützung der Ausbau und die Aufrechterhaltung des polizeilichen und militärischen Überwachungs- und Repressionsapparates in diesem Maß nie durchführbar gewesen wäre. Besonders hart ins Gericht geht sie mit Entscheidungsträgern in den USA und Israel, denen sie die größte Bedeutung bei der ideologischen Indoktrinierung und militärischen Unterstützung zuspricht. Als Kollaborateur von Format nennt sie aber auch das ehemalige Westdeutschland, aus dem vor allem als Entwicklungshilfe getarnte Gelder zum Ausbau des guatemaltekischen Terrorapparates flossen. Ihre Thesen und Argumentationen stützt die Autorin dabei nicht auf Gerüchte, sondern auf genauestens recherchierte Aussagen und Dokumente, die sowohl von Menschenrechtsorganisationen und zivilen Augenzeugen, als auch von Regierungsseite und den Militärs stammen.

Das Leid der Flüchtlinge

Der Schwerpunkt des 400-Seiten Buches liegt indes nicht auf den Akteuren des Bürgerkrieges oder den Helden des Widerstandes, sondern auf den Überlebenden des Staatsterrors, die sich hinter so abstrakten Begriffen wie ‘Exodus’ und ‘Hinterbliebene des Völkermords’ verbergen.”We all have this ability to cease to see”, zitiert sie V.J. Steiner und so widmet sie ihr Buch vor allem jenen, die leicht in Vergessenheit geraten. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Flüchtlingen und Vertriebenen, die, von panischer Angst getrieben, ihr Heil in Mexiko und den Vereinigten Staaten suchten – und es nur selten fanden. Dokumentiert werden in diesem Zusammenhang die Konsequenzen der erbarmunslosen Abschottungspolitik, die die USA und Mexiko trotz eindeutiger Hinweise auf umfassende Menschenrechtsverletzungen in Guatemala gegenüber den Bürgerkriegsflüchtlingen praktizierten. Die Aberkennung eines Status als bona fide Flüchtlinge, sowie aller damit verbundenen Schutz- und Aufenthaltsansprüche, bedeutete in jedem Fall ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, im Falle der USA auch die klare Nichteinhaltung ihrer Verpflichtungen als Unterzeichner der UN-Flüchtlingskonventionen. Für die Flüchtige bedeutete dies oftmals die traumatische Wiederdurchlebung bereits erlittener Repressionen, die Fortsetzung eines Lebens in permanenter Angst und für die Mehrzahl von ihnen sogar ein Leben im Untergrund, ständig auf der Flucht vor drohender Deportation.

Eingefrorener Schrecken

“Nightmare or Reality” – so lautet der Titel von Agela Delli Santes Buch, und hier klingt bereits an, daß die beschriebenen Zustände der Beklemmung noch lange in der Psyche ihren Nachhall haben: Schlaflosigkeit, Depressionen, Schuldgefühle und krankhaftes Mißtrauen sind nur einige der weitverbreiteten Symptome der psychischen Zerrissenheit. Die hohe Anzahl von Selbstmördern – in der Mehrzahl mißbrauchte Frauen – und das Zusammenbrechen sozialer Gefüge in den Flüchtlingscamps sind die sichtbarsten Alarmsignale dieses Elends. Als größtes Hindernis auf dem Weg zur Rehabilitierung nennt die Autorin das Fehlen jeglicher Behandlungs-und Beratungsstellen, insbesondere für die Gefolterten und den fortbestehenden inneren und ihnen von außen auferlegten Zwang zum Schweigen. Frozen grief heißt die Bezeichnung für diesen Zustand des gelähmten Schreckens, in dem sich die Opfer des Bürgerkriegs befinden.
Angst vor Repressionen, die soziale Isolierung der Opfer, ihre Schuldgefühle und Sprachlosigkeit, sowie das permanente Abstreiten des angetanen Leids von Seiten staatlicher Institutionen verhindern das Aufbrechen dieser Eisschicht und damit einen effektiven nationalen Dialog. In einem größeren Rahmen bezieht sich dies nicht nur auf die Vertriebenen und Opfer, sondern auch auf die Täter, die oftmals durch systematische Indoktrinierung zum Dienst in den berüchtigten PACs (Zivile Einheiten zur Aufstandsbekämpfung) gezwungen wurden, sowie Angehörige des Militärs. Auch hier beschränkt sich die Autorin nicht auf bloße Fakten, sondern stellt das unmenschliche Ausmaß an Gewalt in den Kontext einer psychologisch-ideologischen Manipulierung, mit Hilfe derer grundlegende Veränderungen in der Persönlichkeitsstruktur der Täter vollzogen wurden.

Perspektiven

Denkmuster und Bewußtseinsformen lassen sich nicht einfach ablegen. Aus dieser grundsätzlichen Einsicht zieht Angela Delli Sante im Hinblick auf den guatemaltekischen Friedensprozeß die Konsequenz, daß moralischer Druck allein nicht ausreicht, um ein Aufbrechen der repressiven Strukturen zu erzwingen. Stattdessen fordert die Autorin die Einstellung jeglicher direkter und indirekter Unterstützung der guatemaltekischen Ordnungs- und Sicherheitskräfte und die Verhängung von Sanktionen im Falle einer Rebellion des Militärs. Ohne ausländische Unterstützung, so ihre feste Überzeugung, könne sich das repressive Regime nicht lange halten. Ein Einlenken der Weltwirtschaftspolitik auf here Prinzipien erhofft sie jedoch kaum. Optimismus schöpft sie vielmehr aus dem sichtbaren Erstarken der Zivilgesellschaft, in Guatemala selbst und auf internationaler Ebene.

Umfassende und differenzierte Darstellung

Insgesamt hält sich Angela Delli Sante jedoch sehr mit Spekulationen und Thesen zurück. Sie nimmt Partei, versteht es aber, ihre Wissenschaftlichkeit zu wahren. Es ist wohl ihre größte Leistung, trotz persönlicher Betroffenheit und Hingabe, Opfer und Täterrollen zu durchleuchten und polemische oder gefühlsgeladene Aussagen zu vermeiden. Zehnjährige aufwendige Forschung, die Auswertung von Statistiken, Kongressen und selbstgeführten Interviews machen das Buch zur wohl umfangreichsten Quelle dokumentarischen Materials über die politische Situation Guatemalas in den 80er- und frühen 90er-Jahren. Nicht zuletzt das ausführliche Quellenverzeichnis, Fundstelle für die oft mehrfachen Belege der Aussagen der Autorin, ist für Guatemala-Interessierte eine Leistung von unüberschätzbarem Wert. Es ist der Autorin auf diese Weise gelungen, in ihrer Monographie das Leid eines großen Teiles der guatemaltekischen Bevölkerung umfassend darzustellen, die von staatlicher Seite lang geleugnete Realität der alptraumartigen Flüchtlingsberichte hieb und stichfest zu belegen und eindeutige Verantwortlichkeiten aufzuweisen. Darüber hinaus gewinnt das Buch durch die interdisziplinäre Verflechtung von historischen, politischen, soziologischen, ethnologischen und psychologischen Erkenntnissen nicht nur an Breite, sondern auch an Tiefe. Wünschenswert, um den umfassenden Einblick in die Problematik abzurunden, wäre noch ein Kommentar dazu gewesen, wie die Autorin die Auswirkung der von ihr analysierten psychischen Folgen auf die von der Zivilbevölkerung in den letzten Jahren gebildeten Organisationen einschätzt, die ihr Grund zu einem gewissen Zukunftsoptimismus geben. Eine interessante Frage wäre in dieser Hinsicht, welche Bevölkerungsgruppen sich aufgrund erlittenen Unrechts und eines gestörten Gesellschaftslebens von solchen Mobilisierungstendenzen in der Zivilbevölkerung ausschließen, und welche Personen dagegen aus der gemeinsamen Erfahrung der Vergangenheit Mut zur Solidarität und politischer Aktivität schöpfen.

Überunterschriftenchaos

Negative Kritik ist jedoch bezüglich der Gestaltung angebracht. So wird den LeserInnen in der Fülle dokumentarischen Materials oft der rote Faden fehlen. Die Monographie gleicht an manchen Stellen einem etwas überstürzt veröffentlichten Forschungsbericht, in dem selbst vom Text gefangene LeserInnen über orthographische Behinderungen des Leseflusses stolpern. Direkt aus der Forschungsarbeit übernommen wurde wohl auch die grobe Einteilung der Hauptkapitel in die Phasen direkter militärischer Kontrolle, indirekter militärischer Kontrolle und ein Update zum Aufbruch der 90er Jahre. Angesichts der Tatsache, daß weitaus mehr die Kontinuität alter Repressionsmuster und Verantwortlichkeiten demonstriert wird als die Gegenüberstellung unterschiedlicher historischer Abschnitte, erscheint diese chronologische Einteilung seltsam und führt zu einer gewissen Frustration der LeserInnen, die sich nach über hundert Seiten wieder in alte Zusammenhänge einarbeiten müssen. Unzählige Unter- und Unterunterüberschriften , die zudem optisch schlecht hervorgehoben sind, tragen zu weiterer Verwirrung bei.
Wenn diese kosmetischen Aspekte jedoch letztendlich zugunsten der Aktualität geopfert werden mußten, so sei dieses Kavaliersdelikt verziehen – denn kommt das Buch in mancher Hinsicht auch zu spät, so doch zumindest nicht in jeder. Gerade in Hinblick auf den vollzogenen Friedensschluß und das umstrittene Amnestiegesetz, sowie die Pläne für einen nationalen Wiederaufbau haben Bücher wie Nightmare or Reality ihren Stellenwert. Stetig neue gewaltsame Zusammenstöße zwischen Militär und Bevölkerung, insbesondere den Repatriierten, führen vor Augen, daß sich hinter auch noch so automatisierten Repressionsapparaten Menschen verbergen, die ihre Mentalität und Überzeugung nicht durch bloße Veränderung verfassungsmäßiger Machtkonstellationen ändern. Das Buch zeigt sehr deutlich, daß die überlebenden Opfer der Repressionen nicht allein durch Gesetze in die Normalität zu integrieren sind. Ein (inter-)nationaler Dialog muß deshalb auch das Schweigen über vergangenes Unrecht brechen, sonst werden für viele dieser Menschen ihre Alpträume weiterhin die Realität bestimmen.

Blutige Zusammenstöße in Goldminen

Am 17. Dezember hatten, Bergarbeiter und Bauern die Miin Amayapampa und Capasirca in der PrBustillos, Departement Potosi, besetzt. Bergarbeiter und Bauern be-gründeten die Besetzung der Minen mit der Befü, der neue Eigentümer Vista Gold, eine kanadische Bergbaugesellschaft, werde für das geschürfte Gold -sind 11 kg monatlich geplant -die festgelegten Abgaben Departement Potosi zahlen. Dabei sind die Abgaben für Erze, ins-besondere für Gold, im Vergleich zu anderen Bodenschätzen wie Öl und Gas ohnehin schon sehr niedrig. Die Revidierung der viel zu geringen Abgabesätze könnte Gegenstand des neuen Bergbaugesetzes sein, das schon seit Monaten auf seine Verabschiedung durch den Senat wartet und nun im endlich diskutiert werden soll.
Die schweren Zusammenstösse , als zwei Tage nach Beginn der Besetzung Spezialeinheiten der Polizei, unter-stützt durch Truppen der Armee. besetzten Goldlagerstätten äum. Bei der Verder Besetzer sollen Polizei und Armee “aus nächster Nähe in die
Menge gefeuert haben, ohne auf Frauen, Kinder und AlRückzu nehmen”, so ein Augen-zeuge. Nachdem die Armee über Nacht Gebiet besetzt hatte, weiteten sich die Auseinandersetzungen am äcTag auf die nahegelegene Stadt Llallagua mit 20 000 aus. Von Seiten der Armee und Polizei wurden Gummigeschosse, großkalibrige Waffen, Maschinengewehre und Gasgranaten eingesetzt. Die mineros und carnpesinos wehrten sich mit Dynamitstangen und Gewehren, die zum Teil noch aus den Zeiten der Revolution (1952) und des Chaco-Krieges (1932-35) stammten. aber auch mit moderneren Schußwaffen. Während der vier Tage andauernden Unruhen waren etwa 2.000 Polizei-und Armeekräfte im , die Gein das verlegt worden waren. wenn sich die Regierung nicht veranlaßt , Ausnahmezustand über die Minzuerhängen, so die vollständige Militarisierung gesamten Gebietes von Norte dennoch zu einem faktischen Ausnahmezustand geführt: Versammlungen wurden verboten,
die Bewohner konnten ihre Dörund Siedlungen nicht verlassen, Journalisten wurde der Zu-tritt zu den Minengebieten untersagt-
Erst am Abend des 22. Dezember, nach vier Tagen immer wieder aufflammender Schiessereien, konnte der Konflikt bei-gelegt werden. Die traurige Bilanz: neun Tote unter den auf-ständischen Minenarbeitern und Bauern und mindestens 50 Verletzte auf beiden Seiten. Das zehnte Opfer war der Chef der Spezialgruppe für Sicherheit bei der Polizei. Womöglich sind den Schießereien aber noch mehr Menschen zum Opfer gefallen. Ein Rechtsanwalt des Gewerk-schaftsdachverbands COB will Beweise dafür haben, daß die Regierung den Tod von mindestens sechs Soldaten geheimhält
Besitzer und Besetzer
Die mineros und campesinos hatten die Goldminen besetzt, um “den Staatsbesitz und die nicht-erneuerbaren Ressourcen als nationales Eigentum zu verteidigen”, wie es der Generalsekretär des Gewerkschaftsverbandes der bolivianischen Bergarbeiter FSTMB, Jaime Solares, ausdrückte. Die kanadische Vista Gold hatte bereits mehrere Versuche unternommen, mit der Ausbeutung zu beginnen, war aber immer wieder auf den erbitterten Widerstand der Bergarbeiterkooperativen gestoßen (siehe auch Kasten).
Die Besetzer der Goldminen forderten die Zahlung von Abgaben für das geschürfte Gold an das Departement und soziale Leistungen durch den ausländischen Konzessionär. Der vorherige Eigentümer hatte -so klagen die Bergarbeiter -nicht die gesetzlich festgelegten Abgaben entrichtet. Außerdem forderten die Besetzer, daß der Ex-Eigentümer für die von ihm verursachten Umweltschäden zur Verantwortung gezogen wird.
Regierung unter
Rechtfertigungsdruck
“Die Armee ält diese Gegend sauber, und basta!” war der zynische Kommentar des Verteidigungsministers Kreidler zu den tragischen Vorfällen in Norte de Potosi. Die Regierung hatte -wegen ihres brutalen Vorgehens gegen die Minenbesetzer unter starken Druck geraten -schon bald die “wahren” Schuldigen des Konflikts ausgemacht: Die Gebrüder Mansilla (Mario alias “Comandante” oder “General” und sein Bruder Gerardo) seien die Nutznießer des illegalen Goldabbaus, der bisher in den Minen von Amayapampa und Capasirca stattfand, erklärte Informationsminister Mauricio Balcázar. Mit den Gewinnen aus der “heimlichen” Schürfung hätten sie Waffen und Munition gekauft und die Mineros zur Verteidigung der Minen angestiftet. Einige dieser Waffen, darunter ein Scharfschützen-Gewehr neuester Technologie samt Zielfernrohr, seien wahrend der ämpfe beschlagnahmt worden.
Doch damit nicht genug: Eine speziell für militärOperaausgebildete subversive
Gruppe soll maßgeblich an den Auseinandersetzungen um die Minen beteiligt gewesen sein. Als ein Indiz für diese Behauptung wurde die Art und Weise gewertet, wie der Kommandeur der Polizei-Spezialeinheiten zu Tode kam: Das gerichtsmedizinische Gutachten der Leiche er-gab, daß der Todesschuß zwischen die Augenbrauen des Opfers nur aus einem “militärisch organisierten Hinterhalt” und von Heckenschützen mit speziellen Präzisionswaffen abgegeben worden sein kann, erklärt der Staatssekretär für innere Ordnung und Polizei, Marco Tufino. Als ebenfalls “subversiv“ so Verteidigungsminister Kreidler -wurde die katholische Radiostation “Pio XII” in Siglo XX eingestuft, die die ersten Nachrichten über die heftigen Zusarnmenstöße hatte. Konkrete Beweise für al Behauptungen konnten Regiund Polizei- und ührung bisher nicht vorlegen. Präsident Sánchez de Lozada ließ sich in seiner Neujahrsansprache sogar zu der Andeutung hinreisen, die Minen seien durch Terrorgruppen besetzt worden.
Der Regierungsversion. wo-nach terroristische Gruppen den Konflikt in Amayapampa und Capasirca provoziert hätten, widersprach der Präsident der Menschenrechtskommission der Abgeordnetenkammer, Juan Del Granado der Koalitionspartei MBL (Bewegung Freies Bolivien), energisch. Unter seiner Leitung war kurz nach dem Ausbruch der Unruhen eine Parlamentskommission in die Minen- gebiete gefahren, um zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln. “Ich glaube, es hat keinen Sinn, über Aktivitäten mit terroristischem oder subversivem Charakter zu spekulieren”, er-klärte der Abgeordnete. Während der Zusammenstöße seien keinerlei Hinweise auf eine subversive Gruppe in den Reihen der mineros und campesinos zu beobachten gewesen. Daß die mi-neros in dieser Region über Schußwaffen verfügen, sei nicht weiter verwunderlich, nachdem es in der Vergangenheit mehrere Massaker in den Minen von Sig- 10 XX, Uncía und Llallagua ge-geben habe, sagte Del Granado. Er sprach von einem erneuten “Massaker” an den Mineros.
Die Ständige Versammlung für Menschenrechte in Bolivien gibt denn auch der Regierung die alleinige Schuld für die Toten und Verletzten des “Weihnachtsmassakers”, wie es inzwischen von Politikern der Opposition bezeichnet wird. Die Schuldigen für die traurigen Ereignisse dürften nicht unbestraft bleiben, fordert der Präsident der Organisation, Waldo Abarracin.
Das Friedensabkornmen
In der von der Regierung, COB und FMSTB unterzeichneten Vereinbarung zur friedlichen Lösung des Konflikts vernichteten sich die mineros zur Übergabe aller in ihrer Hand befindlichen Waffen und zum Verzicht auf jegliche gewalttätige Aktivität. Die Regierung, vertreten durch Innenminister Anaya und Verteidigungsminister Kreidler, verpflichtete sich ihrerseits. das Arbeitsministerium und das Staatliche Bergamt in die Verhandlungen zwischen Bergarbeitergewerkschaft und den Besitzern der Capasirca-Mine einzubeziehen sowie geltendes Recht durchzusetzen, wo-nach den Departements Abgaben für die abgebauten Bodenschätze zustehen. Die Armeeführung ordnete den allmählichen Abzug ihrer Truppen aus den kontrollierten Gebieten an. Die Mine in Capasirca blieb jedoch weiterhin unter Polizeiaufsicht.
Justiz und Parlament sollen, so sieht es der letzte Punkt des Friedensabkommens vor, Untersuchungen zur Aufklärung der Vorfälle einleiten. Die Regierung kündigte daraufhin die Bildung einer Untersuchungskommission an, bestehend aus Polizei und Sicherheitskräften. “Die Polizei kann doch nicht gegen sich selbst ermitteln”, kritisierte der Abgeordnete Jorge Medinacelli der Oppositionspartei MIR (Bewegung der Revolutionären Linken) diese Entscheidung und forderte, statt dessen eine unabhängige Kommission aus Vertretern mehrerer Parteien und Organisationen einzusetzen.
Genauere Erkenntnisse über die Vorfälle in den Goldminen sollte ein Bericht der Menschenrechtskommission der Abgeordnetenkammer geben. Dieser wurde am 10. Januar 97 dem Parlament vorgelegt und sollte in eine parlamentarische Anfrage an Innenminister Anaya, Verteidigungsminister Kreidler, Wirtschaftsminister Villalobos und Informationsminister Balcázar über die tragischen Vorfälle in Norte de Potosi münden. Zu dieser Anfrage im Parlament kam es jedoch noch nicht, da jedesmal zu wenige Parlamentarier anwesend waren. Diese parlamentarischen Bemühungen wurden al-lerdings überschattet von den Er-eignissen am Cerro Rico in der Stadt Potosi, wo seit dem 10. Januar etwa 5.000 Minenarbeiter den Berg besetzt halten und einige privatisierte Minengebiete von der Regierung zurückfordem.
Nach ein paar Tagen Verhandlungen sieht es so aus, als ob sich eine Lösung des Konfliktes anbahnt, und diesmal ist es Innenminister Sanchez Berzaín. der die Fäden zieht. Es wird jetzt nicht mehr von einem Konflikt zwischen Minenarbeitern und der Regierung gesprochen, sondern es handele sich um Interessenskämpfe zwischen den Minen-Kooperativen, gegründet von entlassenen Arbeitern der staatlichen Minengesellschaft COMIBOL, und den Eigentümern der Mine Pilaviri.
Aber der richtige “Schlag” der Regierung kam am 16. Januar, als der Innenminister eine “Konspiration” gegen Staat und Regierung verkündete. Dieses “gewerkschaftlich-politische Komplott”, wie er es nannte, werde von mehreren politischen Parteien der extremen Linken gesteuert und verfüge über “operative Einheiten”, die sich aus terroristischen Gruppen formierten, auch aus der peruanischen MRTA. Den Beweis dafür sollen Dokumente liefern, die der Staatsanwaltschaft von La Paz in einer Pressekonferenz am
21. Januar vorgelegt wurden. Darunter befindet sich eine Liste von 36 Personen, die unter anderem des bewaffneten Aufstandes beschuldigt werden. Die ersten Festnahmen von Gewerkschaftlern sind aus La Paz zu vernehmen.
Bolivien kommt unweigerlich in eine sehr gespannte und unruhige Phase, und das nicht nur wegen der bevorstehenden Wahlen im Juni 1997, sondern
auch weil nach 12 Jahren Demokratie weite Teile der Bevölkerung, und dazu gehören insbesondere die Minenarbeiter, immer mehr in die Armut gedräng wurden. Diese Gebiete brauchen den Bergbau, aber mit fairen Verträgen und Investitionen. Auch wenn sich die Minenarbeiter vom Staat alleingelassen fühlen, führen bewaffnete Aufstände für die mineros und ihre Familien sicher zu keiner befriedigen-den Lösung. Es gibt andererseits keinerlei Rechtfertigung für das übertrieben harte Vorgehen von Polizei und Militär, bei dem auch unschuldige Familienmitglieder erschossen wurden. Will die Regierung ihre Glaubwürdigkeit bewahren, muß sie auf eine rasche und vollständige Aufklä­rung der Vorfälle, vor allem von Seiten der Sicherheitskräfte, drängen.

aus: BOLIVIA-sago Informationsblatt Nr. 115

Sandinisten akzeptieren Wahlergebnis

Nachdem der Oberste Wahlrat am 22. November die teilweise Anfechtung der Wahlen vom 20. Oktober 1996 abgewiesen und den 50-jährigen Arnoldo Alemán Lacayo als Sieger proklamiert hat­te, blieb den Sandinisten nichts anderes übrig, als das Er­gebnis zu akzeptieren. 51 Pro­zent der gültigen Stimmen waren nach der offiziellen Auszählung auf den liberalen Caudillo ent­fallen, 37,7 Prozent auf seinen sandinistischen Rivalen Daniel Ortega. Da half es nichts, daß in manchen Wahllokalen, wo 150 Personen ihre Stimme abgegeben hatten, über 700 Stimmen für die Liberalen gemeldet wurden, 2522 Akten ohne Unterschriften, mit illegalen Korrekturen oder Schmierereien in der Rechenzen­trale ein­trafen und 500 Urnen schlicht unauffindbar blieben. In einem Lokal in Jinotega, wo 230 Stimmberechtigte gemeldet wa­ren, wurden gar 1085 Voten für die Liberale Allianz gezählt. In einem Lokal in Condega “verlor” die FSLN bei der telegraphi­schen Durchgabe der Daten 50 von 53 Stimmen. Der Oberste Wahlrat annullierte zwar eine Anzahl von Teilergebnissen, ur­teilte aber, daß die zahlreichen Unregelmäßigkeiten das Gesamt­er­gebnis nicht veränderten. Zwar ver­suchte Vilma Núñez, die Vor­sitzende des unabhängi­gen Zen­trums für Menschenrechte, CENIDH, durch eine Be­schwer­de vor der Interamerika­nischen Menschenrechtskom­mission in Washington den Skan­dal warm­zuhalten. Doch selbst Mariano Fiallos, der san­dinistische Ex-Präsident des Wahlrates, der 1990 einen unta­deligen Ablauf der Wahlen orga­nisiert hatte, glaubt nicht, daß der Betrug das Gesamtergebnis verändert hat.
Der offensichtlich systema­tisch vorbereitete Wahlschwin­del wird dennoch nicht ohne Auswirkungen auf die politische Moral in Nicaragua bleiben. Wie schon 1989/90 hatten die Sandi­nisten darauf vertraut, der Geg­ner würde sich an die Spielregeln halten, und wurden hereingelegt. Damals ließ sich Präsident Da­niel Ortega von den zentralame­rikanischen Präsidenten überre­den, die Wahlen vorzuverlegen und der Opposition alle Freihei­ten zu gewähren. Die Gegenlei­stung, nämlich die Entwaff­nung der Contras vor den Wahlen, fand aber nicht statt. Während Violeta Chamorro mit dem Frie­densticket Wahlkampf machte und die Contras in ihrem Ein­flußgebiet alle sandinistischen Wähler mit dem Tode bedrohten, konnte Ortega sich nicht ent­schließen, den unpopulären Wehr­dienst ab­zuschaffen. Die Fol­gen sind bekannt. Auch diesmal spielte der Gegner mit gezinkten Karten, allen voran Kardinal Obando y Bravo, der unmittelbar vor dem Wahltag in seiner Messe den Kandidaten Arnoldo Alemán das Evange­lium verlesen ließ. Deutlicher konnte der Oberhirte seine Präfe­renz nicht ausdrücken. Verbittert resümierte Daniel Ortega später in einem Interview: “Ich glaube, wir müssen uns zuerst fragen, welchen Sinn die demokrati­schen Spielregeln überhaupt ha­ben. Und ob die fortschrittlichen Kräfte in der Bevölkerung, die Kräfte der Linken, darin über­haupt einen Platz haben oder ob das demokratische Spiel nur für das Kapital, für die Kräfte der Rechten da ist? Denn diese ha­ben die Gesetze ganz offensicht­lich gebrochen. Ich beziehe mich vor allem auf die Haltung der Kirche, des Privatunternehmer­verbandes COSEP und des State Department, die durch ihre Ein­flußnahme den Geist der Demo­kratie bei diesen Wahlen verletzt haben.”

Amoklauf im Parlament

Diese Frustration über den schlechten Lohn für das Fair Play mag den Amoklauf der san­dinistischen Parlamentsfraktion er­klären. Sekundiert von einer Anzahl Kleinparteien, die durch die Wahlen von der politischen Landkarte gefegt wurden, ver­wandelte sie die alte National­versammlung in einen Komö­dienstadel. Nach Beginn der Parlamentsferien am 15. Dezem­ber wurden kurzerhand außeror­dentliche Sitzungen anberaumt, bei denen ohne Quorum, ohne Tagesordnung und ohne Saalmi­krophone nicht weniger als 81 (!) Gesetze und Legislativdekrete durchgepeitscht wurden. Die meisten zielten darauf ab, die Macht und die Handlungsspiel­räume des neuen Präsidenten zu beschneiden. So wurde die Be­stellung des Generalstaatsan­waltes und des Zentralbankchefs vom Präsidialamt in die Natio­nalversammlung verlagert, meh­rere verstaatlichte Unternehmen wurden zugunsten sandinisti­scher Gruppen privatisiert, und für sich selbst beschlossen die Abgeordneten eine Abfindung von je 10.000 Dollar sowie die Verlängerung der parlamentari­schen Immunität. Zum Zentral­bankpräsidenten bestellten sie ausgerechnet den politischen Verwandlungskünstler Alfredo Cesar, der 1982 bereits in dieser Funktion von der san­dinistischen Re­gierung abgesprungen war und später zu einem der politi­schen Führer der Contras avan­cierte. Nach mehrmaligen Alli­anzenwechsel während der Chamorro-Jahre gründete er schließlich das Parteienbündnis UNO-96, das am 20. Oktober weniger als ein Prozent der Stimmen erzielte.
Violeta Chamorro war von dieser Gesetzesflut derart über­wältigt, daß sie gar nicht erst ihr Veto einlegte, sondern das Paket schnurstracks an den Obersten Gerichtshof weiterleitete. Der fand denn auch am 7. Januar, daß alle nach dem 22. November be­schlossenen Gesetze verfas­sungs­widrig und daher null und nichtig seien. “Diese Entschei­dung kommt einem Staatsstreich gleich”, tobte der sandinistische Abgeordnete Rafael Solis in ohnmächtiger Wut.
Zwei Tage später folgte im neuen Parlament bereits die nächste Kraft­probe: Um die Wahl des erzkonservativen Anwalts Iván Escobar Fornos zum neuen Parlaments­präsidenten zu ver­hindern, beantragten die Sandini­sten eine – geschäftsordnungs­wi­drige – geheime Abstimmung. Als die Liberale Mehrheitsfrak­tion erwartungsgemäß ablehnte, zog die FSLN-Fraktion ge­schlossen aus dem Plenum aus und boykottierte die Wahl. Da­mit verzichtete sie auch auf ihr zustehende Posten im Parla­mentsvorsitz und machte die le­gislative Staatsgewalt neuerlich zum Gespött der Nation. Gleich­zeitig forderte Daniel Ortega die Bevölkerung auf, den Rechts­staat “mit allen möglichen Kampf­mitteln” zu verteidigen und kündigte Protestaktionen für den Tag der Amtsübergabe an.

Kaum Proteste bei Alemáns Amtseinführung

Doch im Baseballstadion, wo Alemán am 10. Januar vor tau­senden geladenen Gästen seinen Amtseid ablegte, blieben zwar die für die sandinistische Oppo­sition reservierten Ränge frei, doch sonst passierte nichts. Acht lateinamerikanische Staatspräsi­den­ten und Inneninister Bruce Babbit in Vertretung von Bill Clinton legitimierten mit ihrer Anwesenheit die Amtsübergabe von Violeta Chamorro an Ar­noldo Alemán. Wer Massenpro­teste vor dem Stadion erwartet hatte, wurde enttäuscht: Das gi­gantische Polizeiaufgebot, das den Schauplatz der Zeremonie und die wichtigsten Hotels vor unerwünschten Zwischenfällen schützen sollte, blieb eindrucks­volle Dekoration. “Die Sandini­sten hören nicht mehr auf ihre Führer”, frohlockte der frischge­backene Präsident, “Daniel und Humberto Ortega sollten Jünge­ren Platz machen”. Und auch der linke Ökonom Oscar Rene Var­gas meinte in einem Kommentar: “Der Sandinismus hat viel von seiner Fähigkeit, die Massen zu Protesten auf die Straße zu rufen, verloren. Wenn die Partei sich nicht erneuert, wird sie noch mehr verlieren.”
Alemán konnte sich als strahlender Triumphator in die Pose des Landesvaters werfen, die revanchistischen Töne aus dem Wahlkampf ad acta legen und in seiner anderthalbstündi­gen Ansprache allen Kleinhäus­lern, die während der Revolution ein Dach über dem Kopf be­kommen hatten, versichern, daß sie nichts zu befürchten hätten. Den Sandinisten bot er großmü­tig die Hand der Versöhnung an: “Das historische Gedächtnis soll uns nicht verleiten, alten Haß wie­derzukäuen, Leidenschaften und Rachegelüste aufzuwärmen. Vielmehr müssen wir nachden­ken und die Zukunft entwerfen. … Laßt die Vergangenheit zu­rück! Begehen wir nicht diesel­ben Fehler noch einmal!” Die freiwillig Exilierten, denen Vio­leta Chamorro nicht radikal ge­nug mit den Überresten des San­dinismus aufgeräumt hatte, for­derte er zur Rückkehr auf.

Technokraten und Ideologen

Die Erklärungen zur Wirt­schaft lassen noch wenig Rück­schlüsse auf die tatsächliche Po­litik zu. In seinem Kabinett hat sich Alemán jedenfalls mit ge­standenden Neoliberalen wie Mario de Franco, der von Violeta Chamorros Team nach einem Jahr abgesprungen war, und Francisco Lainez (Wirtschaft und Entwicklung), Zentralbank­chef unter Somoza, umgeben. Die Arbeitslosigkeit will er vor allem durch die Förderung der transnationalen Fertigungsindu­strien in den Freihandelszonen bekämpfen.
An den Grundsätzen der Marktöffnung und Privatisierung auf allen Ebenen wird sich nicht viel ändern. Wie teuer die An­passungspolitik der Regierung Chamorro gewesen ist, geht aus dem Geschäftsbericht hervor, den der Minister für Zusam­menarbeit, Erwin Krüger, An­fang Januar vorlegte. Von 4,47 Milliarden Dollar ausländischer Hilfe (54 Prozent als Schenkun­gen gekommen, der Rest in Form von Krediten) seien nicht weni­ger als 43 Prozent für den Schul­dendienst und die Stabilisie­rungspolitik aufgewendet wor­den während nur 21 Prozent in den produktiven Sektor flossen. Das Kreditvolumen für die Bau­ern, im besonderen die Klein­produzenten, ist von Jahr zu Jahr knapper geworden. Erfolge sind aber bei der Verhandlung der Außenschuld zu vermelden. Die­se wurde von mehr als zehn Milliarden Dollar im Jahre 1990 durch Umschuldung und Zah­lungserlaß auf 3,86 Milliarden reduziert. Der Schuldendienst beträgt aber immer noch 258 Millionen Dollar jährlich – mehr als 40 Prozent der Exportein­nahmen.
In den übrigen Ministerien und Institutionen hat in den letz­ten Wochen offenbar die schon traditionelle Selbstbedie­nung statt­gefunden. Von den 71 Be­hörden hat weniger als die Hälfte ihre Abschlußberichte beim Rechnungs­hof abgegeben. In vielen In­stitutionen, so eine Sprecherin des obersten Prü­fungsbüros, fehlen Fahrzeuge, Computer und sogar Häuser, “die im Inventar aufscheinen aber nicht physisch vorhanden sind.”
Die neue Regierungsmann­schaft ist eine Mischung aus Techno­kraten und Ideologen. Mit Wilfredo Navarro und Car­los Quiñónez stehen dem Ar­beits- und Gesundheitsressort alt­bewährte Sandinistenfresser vor. Der konservative Außenmi­ni­ster Emilio Alvarez Montal­ván, als Senior des Teams, ga­rantiert einen Kurs ohne außen­politische Kapriolen. Mit Jaime Cuadra Somarriba hat Nicaragua wieder einen Verteidigungsmini­ster – ein Amt, das Violeta Cha­morro auf Druck der Sandinisten unbesetzt gelassen hatte. Einzi­ger überlebender aus dem alten Kabinett ist Unterrichtsminister Humberto Belli, ein ehemaliger Trotzkist, der zum charismati­schen Katholiken bekehrt wurde und seit vielen Jahren die Inter­essen Kardinal Obandos wahrt. Mit dem ehemaligen Vorsitzen­den der Kaffeepflanzervereini­gung, David Robleto, fand Ale­mán für das Ministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit einen Parteilosen, in dem die ausländischen Geldgeber un­zweifelhaft einen kompetenten Gesprächspartner haben werden. Für das mittel- und bedeutungs­lo­se Kulturministerium gewann der Präsident gar die rührige Blan­ca Rojas, deren Zentralame­ri­ka­nische Vereinigungspartei zwi­schen den Extremen aufge­rieben wurde. Tourismusminister ist der ältere Chamorro-Sohn Pe­dro Joaquín, der sich zwar weder politisch noch journalistisch als große Leuchte profiliert hat, aber einige Kompetenz zur Insel Ome­tepe beanspruchen kann, seit er vor vielen Jahren im Fa­milienblatt La Prensa seine erste Reportage über dieses Naturpa­radies im Nicaraguasee veröf­fentlichen durfte.

Sandinisten gehen zum Dialog über

Als sich die von den Sandini­sten angedrohten Ungewitter als harmloses Wetterleuchten ent­puppten, ließen Daniel Ortega und seine Leute die Drohgebär­den fallen und schritten zum Dialog. Wenige Tage nach Amtsantritt konnte Arnoldo Ale­mán in seinen Amtsräumen die Gebrüder Ortega empfangen. Während Daniel noch immer spröde von Gesprächen “mit Dr. Alemán” berichtet, hat der prag­matische Ex-Armeechef Hum­berto keine Hemmungen, den übergewichtigen Wahlsieger als “Präsident” anzusprechen. Erstes Ergebnis der Verhandlungen ist die zügige Vergabe von Eigen­tumstiteln an 51.000 Familien, die während der Revolution Häuser bekamen. Weitere 7000 Anträge sind bei der von Violeta Chamorro geschaffenen Prü­fungskommission noch anhän­gig, 1200 wurden zurückgewie­sen. Wer größere Villen zu deut­lich niedrigen Preisen erworben hat, darunter die meisten coman- dantes und sandinistischen Funktionäre, soll die Differenz zum Marktpreis nachzahlen. Wo Rückgabe nicht möglich ist, werden die Opfer von Konfiszie­rungen angemessen entschädigt.
Auch den Rechtsstaat will Daniel Ortega nicht mehr “mit allen Kampfmitteln” verteidigen. Eine biedere Kommission unter Vizepräsident Enrique Bolaños und dem FSLN-Abgeordneten Bayardo Arce soll sich darum kümmern.
Mit Arnoldo Alemán und Da­niel Ortega haben sich zwei Männer gefunden, die die großen Entscheidungen lieber im Hin­terstübchen auf höchster Ebene fällen, als sie den Institutionen zu überlassen. Unter diesen Um­ständen wird sich die prekäre In­stitutionalität Nicaraguas schwer­lich festigen können. Dementsprechend lächerlich bleibt auch die Rolle der Natio­nalversammlung. Momentan gibt es dort offenbar keine wichtige­ren Fragen zu klären als die Be­kleidungsordnung. Parlaments­präsident Iván Escobar Fornos versuchte das Tragen von Schlips und Anzug, das er seinen Mannen zwecks Hebung der Würde des Hohen Hauses ver­ordnet hat, auch gesetzlich zu verankern. Er scheiterte aller­dings an der Sperrminorität der Sandinisten, die sich zumindest im Habitus weiterhin lieber tro­pisch geben: Sie erscheinen nach wie vor in bunten Hemden oder bestenfalls weißen Guayaberas.

Menschenrechte ja – aber nicht für Schwule

Laercio, 22, und Mariquinhos, 30, wohnten in Rios armseliger Nordzone in einem simplen Häuschen, waren beliebt und gal­ten als hilfsbereit, fröhlich. In einer Novembernacht werden sie von einem der berüchtigten “Kom­mandos zur Jagd auf Gays” überwältigt – fünf Kapuzenmän­ner stoßen die beiden bis zur na­hen Bahnlinie, dann krachen Pi­stolenschüsse. Anwohner finden Laercio und Mariquinhos in ih­rem Blut, stellen erschüttert Ker­zen auf.
Luiz Mott erläutert: “In Bra­silien sind mindestens vierzehn Todesschwadronen hinter Ho­mosexuellen her. Seit 1980 wur­den über 1300 Schwule ermor­det, 1996 waren es bisher 85, aber unsere Statistik ist sehr un­vollständig.” Das stimmt, denn von den Serienmorden der letz­ten Wochen in Rio wußte Mott zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Hinzu kommt, daß Angehörige wegen der bestehenden Vorur­teile gegen die Schwulen oftmals die Natur des Verbrechens ver­schweigen.
Universitätsprofessor Mott, 50 Jahre alt, Präsident der Grupo Gay do Bahia (GGB) und Se­kretär für Menschenrechte der Bra­silianischen Vereinigung für Gays, Lesben und Transvestiten (ABGLT), lehrt in der nordost­brasilianischen Küstenmetropole Sal­vador da Bahia – auch dort werden Schwule diskriminiert, ver­folgt und ermordet. Mott spricht von “Opfern des Ma­chismus”, die Täter gingen ge­wöhnlich straffrei aus. So seien bei über vierzig Prozent der Schwulenmorde die Täter er­mittelt worden, nur zehn Prozent kamen jedoch letztlich vor Ge­richt und wurden dann fast im­mer freigesprochen.

Archiv über Homosexualität

Ein schönes Kolonialhaus in Salvador da Bahia beherbergt im ersten Stock den kleinen Sitz der Grupo Gay do Brasil mit dem immerhin größten lateinameri­kanischen Archiv über Homose­xualität. Die GGB ist die älteste und aktivste Homosexuellenver­einigung in Lateinamerika. Nach dem Klingeln schaut der Leiter zunächst prüfend auf den Besu­cher und wirft danach den Schlüssel hinunter. Oben kann man sich eine Ausstellung über homosexuelle Männer und Frauen ansehen, von Platon, Leonardo da Vinci, Shakespeare, Cleopatra und James Dean bis hin zu der berühmten Sängerin der Musica Popular Brasileiro, Maria Bethânia. Man wird höf­lich zu den zwei wöchentlichen Versammlungen eingeladen, an denen auch Bi- und Heterosexu­elle teilnehmen. Vor dem Ab­stieg über die steile Holztreppe teilt der GGB-Leiter Präserva­tive, “Camisinhas”, aus – schließlich ist die Gruppe beson­ders aktives Mitglied in der vom Gesundheitsministerium geführ­ten Nationalen Kommission zur AIDS-Bekämpfung.
In der Stadt selbst machen die Homosexuellen drastisch auf sich, ihre Freuden und Probleme aufmerksam. “Liebe mit Vor­sicht – suche Deine amantes bes­ser aus”, steht groß auf Schauta­feln, und “Laß Dich nicht von AIDS ins Jenseits befördern, aber laß Dich auch nicht ermor­den!” Die Warnung ist nicht un­begründet, druckte doch gar eine große lokale Zeitung regelmäßig folgende Anzeige: “Halte Salva­dor sauber – töte jeden Tag einen Homo!”

Erscheinungsebene – Wirklichkeit

Brasiliens Schwulenszene prä­sentiert sich anders als zum Beispiel jene in San Francisco oder gar in Deutschland. Gays fallen viel mehr auf, haben ihre Kneipen, Discos, Strände, Zeit­schriften. Der Terror gegen Schwule existiert indessen wei­ter, scheint sogar stark zuzuneh­men. Motts Grupo Gay do Bahia hat deshalb ein “Über­le­benshandbuch” publi­ziert, das zahl­reiche praktische Tips zur Selbstverteidigung gibt. Mott hat das Handbuch in Brasi­lia, Belo Horizonte, Curitiba und Recife vorgestellt. In jeder Stadt gab er die Namen der dort in den letzten Jahren ermordeten Schwulen be­kannt. Die meisten Verbrechen ereigneten sich aber in Rio de Janeiro, Sâo Paulo und Salvador da Bahia.

Umfragen und Machismus

Daß Schwule diskriminiert werden, zeigen neue repräsenta­tive Umfragen: So würden 36 Pro­zent der BrasilianerInnen ei­nem Homosexuellen selbst dann nicht eine Arbeit geben, wenn er der bestqualifizierte Bewerber wäre. JedeR Fünfte würde sich von einem homosexuellen Kol­legen bewußt fernhalten, 56 Pro­zent würden zumindest ihr Ver­halten ändern. 79 Prozent, im Nordosten sogar 87 Prozent, ak­zeptierten auf gar keinen Fall, daß ihr Sohn mit einem Ho­mosexuellen ausginge. Und 62 Prozent meinen, daß Eltern die Änderung der homosexuellen Orientierung ihrer Söhne er­zwingen müßten.

Politisches Asyl für Schwule

Gay-Menschenrechtsgruppen in San Francisco prangern seit Jahren die Zustände in Brasilen an. 1993 gewährten die USA erstmals einem brasilianischen Schwulen politisches Asyl. Der Begünstigte heißt Marcelo Teno­rio, Luiz Mott trat in dem Asyl­verfahren als Zeuge auf und wurde dafür zuhause in den Me­dien niedergemacht. Das Asyl, hieß es, basiere auf einer Lüge über Brasilien; Schwule würden nicht systematisch getötet. In den letzten Wochen erhielten zwei weitere Homosexuelle Asylsta­tus, wollen aber anonym blei­ben, aus Angst, daß Familienan­ge­hö­ri­ge in Brasilien Repressa­lien er­lei­den könnten. Eine un­bekannte Zahl brasilianischer Homo­sexu­el­ler lebt illegal in den USA. Mög­licherweise werden jetzt wei­tere einen Asylantrag stellen.

KASTEN

Staatstrauer für Ex-Diktator

Nach dem Tod des Ex-Generalpräsidenten Ernesto Geisel im Sep­tember 1996 ordnete Fernando Henrique Cardoso per Dekret acht Tage Staatstrauer an. Geisel war von 1974 bis 1979 der dritte Generalpräsident der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985). Geisel war bereits zur Amtseinführung von Cardoso gela­den worden. 1995 traf sich der Präsident mit dem EX-Diktator und wollte dies ausdrücklich als “Würdigung” verstanden wissen.
Die Homenagem weckte in der Tat Aufmerksamkeit. Denn bei Gei­sel und seinem ebenfalls im Regimeapparat dienenden Bruder Or­lando handelte es sich um Vertreter der “harten Linie”, die kei­nes­wegs nur militante Diktaturgegner rücksichtslos verfolgen, fol­tern und ermorden ließen. Dies hat gerade ein wichtiger Zeit­zeuge bestätigt: Reserveoberst Jarbas Passarinho, Mitautor der berüchtigten Ausnahmegesetze von 1968 und Minister unter drei Dik­taturgenerälen, sagte im brasilianischen Fersehen, daß ein Groß­teil der Greueltaten an Linken in Geisels Regierungszeit be­gangen worden seien. Die Medien pflegten dagegen stets dessen Amts­vorgänger Emilio Garrastazzu Medici die Verantwortung für die größten Schlechtigkeiten des Militärregimes aufzubürden.

Castro contra Aznar

Die Regierung Aznar vom konservati­ven Partido Popular (PP) tut sich schwer mit der Ausübung der traditionellen Vorreiter­rolle Spa-niens in der Beziehung Kuba – eu­ropäische Außenpolitik. An den seit 1993 ent­standenen joint-venture-Un­ternehmen auf kuba-nischem Bo­den, vorwie-gend in der Tou­ristenbranche, ist mehr-heitlich spanisches Kapital be­teiligt. Die BewohnerInnen der ibe­rischen Halb­insel machen auch einen Großteil der Urlau-berInnen auf dem Antillen-Ei-land aus, das ehedem von ihnen “entdeckt” wurde. Die Regierung Aznar fühlt sich jedoch sichtlich der etwas weiter nördlich gelten­denden Argumentationsweise verpflichtet und unter­breitete in diesem Sinne dem politischen Au­ßenminister­kommitee der EU eine Textvorlage, in der zu einer gemeinsam zu verabschie­denden härteren Vorgehensweise gegen­über Kuba aufgefordert wurde. Knackpunkte die­ses Textes wa­ren die bereits bei vorange­gangenen Gelegenheiten aufs Tapet gebrach­ten Forderungen nach Demokratisierung, Re­spektierung der Menschenrechte und wirt­schaftlicher Öffnung, und – als Novum – die Aufforde­rung, die Türen der jeweiligen Bot­schaften der 15 Mitglieds­staaten sollten “jederzeit der (kubanischen) Opposition” of­fenstehen.
Letzteres brachte auf kubani­scher Seite das Faß zum Über­laufen und führte dazu, daß Ca­stro am 26. Novem­ber 1996 dem neu designierten Botschaf­ter der spanischen Re­gierung, José Co­derch, das Diplomatenplazet ent­zog. Eine Vorgehensweise, die einerseits als Über­reaktion, als ein Zei­chen wachsender Nervo­sität Castros gedeutet wird, ande­rerseits aber auch als improvisa­to­rische Geste eines alten Gueri­llero-Hasen: Angriff und Ver­tei­digung zu­gleich.

Remis oder schachmatt?

Die Interpretation der EU-Vorlage von ku­banischer Seite fiel denkbar leicht, paßt doch alles ins vorgestrickte Schema: Es han­dele sich um eine “Blaupause” der Empfeh­lungen des Sonderbeauftragten der US-Re­gierung, Stuart Eizenstadt, was sonst ? In einer ersten Erklä­rung, die dem noch amtie­renden spanischen Botschafter Edualdo Mira­peix, den Coderch Mitte Dezember hätte ablö­sen sollen, überbracht wurde, heißt es unmißverständ­lich, die spanische Regie­rung habe sich “in die Speerspitze der nordamerikani­schen Interessen im Rahmen der EU” verwandelt. Um den aktu­ellen bila­teralen Zu­stand der beiden Länder ins rechte Licht zu rücken, bezeich­nete Castro Aznar als “Pferdchen”, das mit der Karibik­insel wohl eine Schach­partie führen wolle.
Die Begründung Havannas für den Ent­zug des Diplomatenpas­ses für Coderch grün­det auf drei Argumenten: Die Einmischung in in­nere Angelegenheiten Ku­bas, die “grobe Will­kür”, eine derartige Eskalation der Span­nungen herbeizuführen, und die Verletzung der Normen der Wiener Konvention über diplo­matische Be­ziehungen – so ein Kommuniqué des ku­banischen Außenministeriums.
Provokationen spanischer Diplomatie
Coderch selbst, der zum be­treffenden Zeitpunkt ja noch gar nicht Amtsinhaber war, ist hier eher als “Zugpferdchen” in ei­nem ohnehin schwelenden Kon­flikt zu sehen. Dennoch wurde seine Erklärung in einem ABC-Inter­view, “jede Botschaft habe zwei Türen”, von Kuba als Pro­vokation wie auch Drohung auf­gefaßt, erin­nerte sie doch an die sogenannte “Botschaftskrise” vom Juli 1990, als sich zahlrei­che kubanische Dissidenten in die spanische Botschaft in Ha­vanna flüchteten. In ähnlicher Weise ist die Gründung der “His­pano-Kubanischen Stiftung” in Madrid durch den Hardliner Mas Canosa und PP-Politiker noch nicht verwunden, die Kuba als Akt der offenen Feind­se­lig­keit und als Komplizenschaft der spa­nischen Regierung mit der “an­ti­revolutionären Mafia” be­zeich­nete.
Coderch provozierte zudem mit einer Anspielung auf das histori­sche Datum 1898. Damals “verlor” Spanien Kuba im Krieg an die USA, was mittlerweile als koloniale “Un­abhängigkeit” ge­feiert wird. Coderch äußerte den frommen Wunsch, das 100-jäh­rige Ju­biläum in zwei Jah­ren möge in einem de­mokratischen Kuba gefeiert wer­den. Natürlich Wasser für die rhetorische Mühle Castros: Da­mals wie heute sei man an den Yankee-Im­perialismus ausgelie­fert wor­den.
Das kubanische Außenminis­terium von Ro­berto Robaina legte indes Wert darauf, das Pro­blem als ein bilaterales darzu­stellen, und lud alle europäischen Bot­schafterInnen ausschließlich des spanischen zu einer Erklä­rung. In dieser betonte Vizemini­sterin Isabel Allende, die derzei­tige Eskalation sei für beide betei­ligten Länder kontrapro­duktiv und nutze allein der “antikubanischen Mafia in Miami”. Es wurde Dialogbereit­schaft signali­siert und die indi­rekte Zusage gemacht, man werde einem neu vorgeschla­genen Bot­schafter nicht die An­erkennung verwei­gern – dies habe man schließlich bisher nie getan. An Aznar erging dennoch die Auffor­derung, unter dem Vorzeichen der Nicht-Einmi­schung noch ein­mal alles zu überdenken. Insgesamt eine ku­banische Haltung, die Rücken­deckung ausgerechnet von den spanischen Investoren auf Kuba erfährt. Besonders die Hotel­ branche zeigt sich indig­niert: ei­ner von 450 spani­schen Unter­nehmern, der an einer interna­tionalen Handelsmesse in Ha­vanna teilnahm, sprach von einer “unglaublichen Fehlein­schätzung eines Marktes”, den die spani­schen Unternehmer schließlich geöffnet hät­ten, hier­bei Hürden für andere in­vestitions­willige Staaten aus dem Weg räumend. In der Tat sitzen potentielle In­vestoren, al­len vo­ran Mexiko, in den Startlöchern, sollten sich die ku­banisch-spanischen Beziehun­gen nach­hal­tig verschlechtern.

Stürmische Liebe

Die jetzige ist nicht die erste Bezie­hungskrise in besagtem bi­lateralen Verhältnis. Es gab be­reits seit Castros ersten Regie­rungsjahren teilweise heftige Auseinander­setzungen mit Spa­niens damaligem Franco-Re­gi­me, zu dem Castro jedoch nie Ge­genposi­tion bezog – bis heute nicht. Im Gegenteil: auf die spa­nische EU-Vorlage vom 16. No­vember folgte drei Tage später der Aus­spruch Castros, Franco habe mehr Würde be­sessen als Aznar, da er dem amerikani­schen Druck widerstanden habe.
Das Franco-Regime seines Zeichens stand Anfang der 60er Jahre der neuen kubani­schen Führung mit einer Mischung aus Vor­sicht und Hoffnung ge­genüber. Bald entstand eine ern­stere Krise, ausgelöst durch einen Fernsehauftritt in Kuba, bei dem sich der spanische Bot­schafter Lojendio und Castro ge­genseitig mit Verbalinjurien be­schuldigten, eine Diktatur auf­rechtzuerhal­ten. Das diplo­ma­tische Niveau wurde darauf­hin auf Handelsbeziehun­gen he­run­ter­ge­schraubt. Zu einem Eklat kam es dann, als Castro die auf der Insel tä­tigen etwa 700 spani­schen Pries­ter vor die Al­ternative stellte, entweder Zuk­kerrohr zu schneiden, oder nach Hause zu fahren – die Wahl fiel dann doch eher zu­gunsten der Heimat aus. Dieser Faux Pas Ca­stros ist wohl mittlerweile durch seine Papst­au­dienz im November ausge­merzt.
Trotz der Eklats stellte sich das Franco-Regime jedoch nie auf die Seite der USA und ihrer Strategie des Wirtschaftsembar­gos. 1973 wur­den die vollen di­plomatischen Beziehungen wie­derhergestellt, und als Franco 1975 starb, ord­nete Fidel Castro eine dreitägige Volkstrauer an.
Francos demokratisch ge­wählter konser­vativer Nachfol­ger Suarez war dann auch der er­ste westli­che Staatschef, der 1978 Kuba be­suchte. Mit dem sozialisti­schen Präsidenten Gon­zález ge­stalteten sich die Beziehungen später ohnehin un­komplizierter – seit 1993 setzten schließlich die spanischen Di­rekt­investi­tio­nen in Form von joint-ven­tures in großem Um­fang ein.

Spielsüchtige Duz-Freunde

Mit Aznar jedoch herrscht ein anderes Klima – aller Duzerei und der Geste des Kra­wattentauschs auf dem ibero­amerikanischen Gipfel im No­vember in Chile zum Trotz. Hier redete Aznar Tacheles: “Ich habe nichts ge­gen Kuba, aber ich habe alles gegen Dein Regime”, sagte er zu Ca­stro, und tags drauf: “Wenn Castro eine Schachfigur bewegt, wird auch Spanien eine bewegen”.
Während Castro am 2. De­zember mit Pomp und der nach zehn Jahren ersten Militärparade den 40. Jahrestag der Ab­fahrt des Revolu­tionsschiffs Granma be­ging, verabschiedete die EU zeitgleich die strittige Resolu­tion. Dies jedoch in einer stark abge­mil­derten Form, die nicht wesentlich von der bisherigen Kuba-Position der Gemeinschaft ab­weicht.
Die EU-Linie in der Kuba-Politik un­terschied sich seit jeher von der US-ameri­kanischen da­hingehend, daß Funktionalismus und Empfehlungen vorherrschen – “sanfter” Druck ohne Anschuldi­gungen. So wird auch in der jetzt ver­abschiedeten Re­solution die Forde­rung nach Demokratisie­rung, Öffnung und der Einhal­tung der Menschen­rechte ledig­lich positiv akzentu­iert, und ohne Terminangabe – “in dem Maße, wie Refor­men auf Kuba voran­schreiten” – eine über huma­nitäre Hilfe hinausge­hende wirt­schaftliche Hilfe in Aussicht ge­stellt. Von den ur­sprünglichen spanischen Forde­rungen, die – so die Kritik vor al­lem von schwedischer, belgi­scher und französischer Seite – fast sklavisch an der US-amerikani­schen Rhetorik orien­tiert waren, ist in dem Dokument nicht mehr die Rede. Anzu­mer­ken ist auch, daß die “gemein­sa­me Position” nicht vom Mini­ster­rat, sondern vom Ausschuß für Wirtschaft und Finanzen ver­ab­schiedet wurde, im Vor­der­grund standen also eher wirt­schaft­liche als politische Inter­essen.
Spa­nien machte schließlich auch nicht von seinem Recht Ge­brauch, den Entwurf noch einmal zu disku­tieren. Hierin ist wohl eine Re­aktion auf die scharfe Kritik aus den eige­nen Reihen zu sehen. Denn nicht nur die spani­schen Unterneh­mer, die auf Kuba inve­stieren, zeigten ihr Be­fremden, auch PP-Mitbegründer Manuel Fraga, der Gouverneur von Gali­zien, machte sich für eine ver­söhnliche und de-es­kalie­rende Kuba-Politik stark. Er beklagte, Aznar befände sich auf einem “emotionalen Irrweg”.

Demokratisierung – auf wessen Rücken?

Gerade mit der galizischen Provinz ver­binden viele Kubaner “familiäre Bande”, nicht nur die Castros. Dies ist jedoch nicht der alleinige Grund für Fragas Di­stanz zu Aznars Politik. Fraga, der von 1962 bis 1969 Minister unter Franco war, gehört zu der Generation, die den spanischen Übergang zur Demokratie aktiv und nicht wie die Altersgenossen Az­nars als passive Zuschauer mitbekommen ha­ben, von daher ist die Sichtweise eine an­dere und differenziertere.
Die spani­sche Zeitung El País kommen­tierte die Überreaktion Aznars ge­genüber dem Castro-Regime als eine Art Kompen­sation für die eigenen “weißen Sei­ten” in der politischen Bio­gra­phie, was De­mokratisie­rungs­pro­zesse angeht. Eine He­ran­ge­hensweise, für die letztendlich die um Demokratie bemühten Ku­ba­nerInnen die Ze­che zu zah­len hätten. Gerade das Bei­spiel Spa­niens habe gezeigt, wie die Demon­tage eines dikta­torischen Systems vonstatten ge­hen könne: Ohne eine Invasion von außen, einen bewaffneten Aufstand oder einen Bür­ger­krieg, vielmehr durch ausge­handelte Überein­künf­te zwischen reformistischen Kräf­ten des alten autoritären Re­gimes und der de­mo­kratischen Op­po­sition. Unter Aus­schluß der mi­litanten Flügel beider Gru­p­pie­rungen sei damals die Basis für einen politi­schen Konsens ge­legt worden, der trag­fähig war, die Konflikte ge­mäß den Regeln ei­nes Rechts­staates aufzulösen.

Wie gehabt: David gegen Goliath

Die Reaktion Castros auf Az­nars Affront war in ge­wisser Weise vor­aus­seh­bar. Bereits die Tat­sa­che, daß es ganze zwei Mo­nate dau­erte, bis Coderch das be­an­trag­te Diplomaten-Pla­zet über­haupt bekam, zeug­te von ei­ner ge­stör­ten politischen Be­zie­hung. Ein ge­fähr­li­cher Schachzug war dann der Entzug der di­plo­mati­schen Aner­ken­nung al­le­mal, da er Spa­nien durchaus in Kon­fron­ta­tion mit der EU hätte brin­gen kön­nen, die kein Inter­esse hat, von ih­rer nicht US-ame­ri­ka­nischen Po­si­tion ab­zu­rücken. Nun aber bleibt die Krise zwi­schen Spa­nien und Ku­ba vorerst auf bi­late­ra­ler Ebene.
Außenminister Jor­ge Matutes deutete be­reits unmittelbar nach dem Entzug des Pla­zets für sei­nen Unter­ge­benen an, man wer­de moderat vorge­hen, sich Zeit lassen. Bis auf weiteres wird sich die Auf­ent­haltsdauer des am­tierenden Bot­schaf­ters Mira­peix verlängern, Co­derch kann sich um seine Di­plomatenschule in Madrid küm­mern. Matutes freut sich, daß die EU endlich zu ei­ner einstimmi­gen Außenpo­litik ge­genüber Ku­ba gefunden hat, während sein Amts­kol­le­ge Ro­baina betont, ei­nen neu ge­fun­denen Bot­schaf­ter-Kan­dida­ten werde Kuba wohl anerkennen.
Für Cas­tro ist diese Schach­partie letztendlich alles andere als er­folglos, macht es sich doch im­mer wieder gut in der Rolle des David, für den ohnehin durch das Helms-Burton- Ge­setz mit der Verschär­fung des US-Em­bargos eine gro­ße Sympathie­wel­le in Latein­amerika losge­tre­ten wur­de. Dies zeigte sich erst kürz­lich auf dem chile­nischen Gip­fel. Auch in­nerhalb der spa­ni­schen Gesell­schaft überwiegt nach Umfragen neueren Datums die Solida­rität mit Kuba gegen­über einem Verständnis für Az­nars Hardli­ner-Politik.
Die anti­castristische Haltung ist sicher nicht der beste Weg, eine Demokrati­sie­rung in Kuba zu beschleuni­gen. At­tacken von au­ßen erwec­ken Na­tionalismus und bieten sich an, in autori­tärem Sinne ausge­schlachtet zu wer­den. Tou­ristische und sonstige wirt­schaftliche Pro­jekte sind wesent­lich besser geeignet, eine Öff­nung nach außen zu erzielen, was zwischen­zeit­lich bis hin zur Papstau­dienz von Castro ge­führt hat. Was auch immer man davon halten mag, so hat auch das Recht auf Religi­onsausübung zu­min­dest irgendetwas mit Freiheit zu tun.

Nationaler Dialog als Strukturanpassung

Oktober 1996: Bereits seit dem 20. März schweigen die Waffen, eine Guerillaeinheit kommt nach Quetzaltenango, der zweitgrößten Stadt des Landes. Die Guerilleros ziehen durch die Innenstadt, durch ein Einkaufszentrum, reden mit Passanten, geben Radio- und Fernsehsendern Interviews. Nach dem Auftritt werden sie im Ehrensaal des Stadtpalastes von einer Abordnung der Stadtregierung empfangen. Schließlich ziehen sie sich wieder zurück. Die lokale Armeeeinheit war vorher unterrichtet worden, alles blieb ruhig. Das zunehmend öffentliche Auftreten von URNG-KämpferInnen im Land kündigt an, daß diese sich – nach mehr als 35 Jahren bewaffneten Konfliktes – in naher Zukunft in das zivile Leben integrieren wollen. Die Angaben über die Anzahl der aktiven KämpferInnen schwanken, die niedrigste liegt bei 3000. Sie kommen in eine Gesellschaft, die trotz der gerade beschriebenen Episode nach wie vor von Gewalt und Polarisierung, von massiven Menschenrechtsverletzungen und krasser ökonomischer und sozialer Ungerechtigkeit geprägt ist. Und sie werden mit den Auswirkungen der jahrelangen Regierungspropaganda konfrontiert, die sie als Terroristen diffamiert hat.

Die guatemaltekische Linke im Umbruch

Gleichzeitig wird die URNG, und mit der Gesamtorganisation auch die einzelnen KämpferInnen, auf eine guatemaltekische Linke treffen, in der sie sich neu verorten muß. Seit ihrer Gründung am 9. Februar 1982 ist die URNG, beziehungsweise in den vorangegangenen Jahren deren einzelne Teilorganisationen, die wichtigste oppositionelle Kraft. Die Guerilla war über lange Zeit in der Lage, auf militärischen und diplomatischen Wege politische Freiräume zu eröffnen sowie national und international als legitime Stimme der Unterdrückten aufzutreten. Innerhalb der erkämpften Spielräume konnten sich Volksorganisationen wie zum Beispiel die Gruppe für gegenseitige Hilfe (GAM), die Witwenbewegung CONAVIGUA oder die “Gemeinden der Bevölkerung im Widerstand” (CPR) bilden. In dieser sozialen Bewegung organisierten sich vor allem die Opfer der staatlichen Repression, aber auch Campesina/o-Gruppen und Gewerkschaften. Ziel war es, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, für die Demilitarisierung des Landes zu kämpfen und so Einfluß auf die nationale Politik zu gewinnen. Mit der Entschärfung der Kriegssituation konnte sich in den letzten Jahren allerdings ein weites oppositionelles Spektrum bilden, in dem linke AktivistInnen im Land u.a. die Politik der URNG hinterfragten. So wurden 1994 nach der Unterzeichnung des Teilabkommens zur Frage der Menschenrechte durch Guerilla und Regierung erstmals Stimmen laut, die sich von den schwachen Verhandlungsergebnissen enttäuscht zeigten und die URNG deswegen heftig kritisierten.
Eine wichtige Etappe im Prozeß der Differenzierung innerhalb der guatemaltekischen Opposition waren die Querelen um die Gründung des Frente Demócratico Nueva Guatemala (FDNG) im Sommer 1995. Im FDNG hatten sich RepräsentantInnen von Basisorganisationen zu einer Partei zusammengeschlossen und bei den Kongreßwahlen im letzten November auf Anhieb sechs Mandate errungen. Nach den Wahlen bezeichneten URNG-Kommandanten die FDNG immer wieder als ihre Schöpfung und kündigten an, sich nach Friedensschluß in die Partei zu integrieren. Die Distanzierungen seitens der FDNG-PolitikerInnen ließen nicht lange auf sich warten und lassen sich nicht allein mit der Angst erklären, in der guatemaltekischen Öffentlichkeit mit der URNG identifiziert zu werden und daher mit Repression rechnen zu müssen. Vielmehr entwickelt die Linke im Land gegenüber der URNG ein stärkeres Selbstbewußtsein und hinterfragt zunehmend den Avantgardeanspruch der URNG. Der FDNG ist nicht die einzige Organisation, in deren Verhältnis zur URNG Veränderungen sichtbar werden. Deutlich zu beobachten sind sie auch innerhalb des Spektrums der progressiven NGOs, unter Flüchtlingsorganisationen, Indígena- und Campesina/o-Gruppen.

Neuer Integrationskurs von Arzú

Mittlerweile hat die URNG bekanntgegeben, daß sie nach ihrer Eingliederung in das zivile Leben nicht in den FDNG eintreten, sondern eine eigene Partei gründen wird. Mit diesem Schritt kann die Hoffnung verbunden werden, daß die URNG den Übergang von einer politisch-militärischen Organisation, die in klandestinen Strukturen arbeitet, zu einer zivilen, linken Kraft vollzieht. Es steht aber zu befürchten, daß sich die guatemaltekische Linke weniger wegen inhaltlicher Differenzen, sondern eher wegen Streit um Organisationsfragen und wegen interner Machtkämpfe nach dem Friedensschluß aufsplittert, wie es schon in El Salvador und Nicaragua zu sehen war. Zeitgleich mit diesen Entwicklungen wird die Opposition durch die Politik des Präsidenten Arzú vor neue Herausforderungen gestellt.
Nach seinem Amtsantritt im Januar diesen Jahres machte Alvaro Arzú sofort deutlich, daß der schnelle Abschluß der Friedensverhandlungen eine Grundbedingung seiner Politik ist. Geschickt agiert er seitdem auf der politischen Bühne, im Machtgefüge zwischen Guerilla, Volksbewegung, Militär, Unternehmern und den internationalen Akteuren wie dem IWF (Internationaler Währungsfond) und den darin vertretenen Mächten. Dabei versucht er, die guatemaltekische Linke als Verbündete zu gewinnen. Der URNG kam er auf der diplomatischen Ebene weit entgegen. Noch nie zuvor hatte ein Präsident vor seinem Amtsantritt direkte Kontakte zur Guerilla aufgenommen oder gar einen URNG-Dissidenten zu seinem Verhandlungsführer ernannt. In Bereichen wie dem Kampf um die Einhaltung der Menschenrechte und die Entmilitarisierung des Landes zeigt er immer wieder guten Willen. Direkte, wenn auch gescheiterte Gespräche mit Abgeordneten des FDNG über die Einrichtung eines Indígenasekretariats, zeugen von Arzús Bereitschaft bei einzelnen Themen das Gespräch mit RepräsentantInnen der Volksbewegung zu suchen. Eröffnet dies einerseits neue Einflußmöglichkeiten, stellt es die Volksbewegung andererseits vor neue Schwierigkeiten: Protestierte sie bisher immer gegen die “Schweinereien”, die von den Mächtigen begangen worden sind, wird sie jetzt – wenn auch an der Ernsthaftigkeit gezweifelt werden muß – von Regierungsseite in Entscheidungsprozesse miteinbezogen. Die Opposition steht vor dem Problem, eigenständige Vorschläge in die Politik einbringen zu müssen. Zur Durchsetzung ihrer Forderungen nach kultureller Anerkennung und deren praktischen Umsetzung sind Indígena-Organisationen hierzu auch in der Lage. In der praktischen Umsetzung der entsprechenden Vereinbarungen des Friedensabkommens werden sie besonders auf dem Land eine wichtige Rolle spielen. Schwieriger wird es bei der Entwicklung von Vorschlägen zur Wirtschaftspolitik, repräsentiert die Volksbewegung doch gerade die Bevölkerungsgruppen, die unter den ökonomischen und politischen Verhältnissen im Land besonders gelitten haben. Daher fehlt es ihnen oft an entsprechenden Kapazitäten. Am ehesten verfügen noch progressive NGOs, die im Entwicklungsbereich tätig sind, über solche Ressourcen. Das Verhältnis zwischen Volksorganisationen, die politischen Druck aufbauen können, und NGOs ist aber häufig gespannt. Das gegenseitige Mißtrauen vor Manipulation und Ausnutzung ist groß.
Innerhalb der guatemaltekischen Opposition wird die URNG – trotz der geschilderten Auseinandersetzungen – weiterhin eine zentrale Rolle spielen: aufgrund der Vergangenheit, in der sie immer wieder richtungsweisend für politische und soziale Kämpfe im Land war; aufgrund dessen, daß sie als Verhandlungspartei ein Gegengewicht zur Regierung bilden kann; aufgrund ihrer langen politischen, militärischen und diplomatischen Erfahrung. Neben den schon länger kämpfenden Volksorganisationen drängen neue Akteure auf die politische Bühne, erstarkende Campesino-Organisationen und zahllose lokale Initiativen, die für die direkte Verbesserung ihrer Lebensbedingungen kämpfen, eine Schule, einen Gesundheitsposten oder Trinkwasserversorgung. Es ist zu hoffen, daß die verschiedenen Gruppen die politische Polarisierung, die Guatemala prägt und ein schwieriges Klima für Einigungsprozesse hat entstehen lassen, zusammenfinden können. Denn eine starke linke Opposition nach dem Friedensschluß tut not. So ergeben sich aus dem Friedensprozeß zwar politische Spielräume, an der ökonomischen, patriarchalen und rassistischen Unterdrückung für einen Großteil der GuatemaltekInnen hat sich kaum etwas verändert.

Strukturanpassung in Guatemala

Vor noch gar nicht allzu langer Zeit wäre ein Präsident undenkbar gewesen, der die Volksbewegung nicht mehr nur mit Repression kleinhält und sich mit der Guerilla trifft. Er hätte es, zumindest politisch, nicht überlebt. Der Grund für die Aufgeschlossenheit Arzús ist sicherlich nicht, daß der schwerreiche Zuckerhändler ein herausragender Philantrop ist. Eher entspricht seine politische Haltung dem ökonomischen Projekt der neoliberalen Strukturanpassung. Das erklärte Ziel von Arzú – der die Interessen eines kleinen Kreises von finanzkräftigen, modernen UnternehmerInnen vertritt – ist es, Guatemala auf den Weltmarkt auszurichten, also über freie Marktmechanismen größere Standortattraktivität und Investitionssicherheit für internationales Kapital zu schaffen. Um dies durchzusetzen, wird die Regierung Arzú wohl drei Handlungslinien verfolgen: erstens die Beendigung des internen, bewaffneten Konfliktes, zweitens die Zurückdrängung von reaktionären Machtgruppen im Land, die durch eine Weltmarktintegration um ihre “traditionellen” Privilegien fürchten, und drittens die Verschlankung des aufgeblähten, unfähigen Staatsapparates sowie die Deregulierung der nationalen Wirtschaft.

Geld von außen

Dem ersten Ziel scheint die Regierung nahe zu sein, ist doch in absehbarer Zukunft mit dem Abschluß der Friedensverhandlungen zu rechnen (s. Kasten). Mit der “Befriedung des Landes” öffnen sich immense Finanzquellen. Bereits im letzten Jahr wurde über die “Entwicklungshilfegelder” verhandelt, die nach Friedensschluß von internationalen GeberInnen zur Umsetzung der ausgehandelten Abkommen ausgeschüttet werden. IWF, Weltbank und die Europäische Union haben angekündigt, Fonds in Höhe von insgesamt über einer Millarde US-Dollar ins Land fließen zu lassen, zu 90 Prozent in Form von Krediten. Mit diesen internationalen Institutionen verbindet die Regierung Arzú das gemeinsame Interesse an neoliberalen Wirtschaftsstrukturen in Guatemala. Hierfür benötigt die Regierung Geld von außen, da über die Steuern nicht genug in die Staatskasse fließt.
Die zweite Linie stellt ein deutlich schwierigeres und längerfristiges Problem dar: alteingesessene Machtcliquen in ihrem Einfluß einzudämmen. Zum einen ist da das omnipräsente Militär, das sich hemmungslos an allem bereichert, was ihm über den Weg läuft und für zahllose Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist. Dieser Apparat entwickelte im Laufe der Jahre eine Art Eigenleben. Jeglicher Kontrolle entzogen, baute das Militär einen “parallelen Staat” auf. Es besetzte Schlüsselpositionen in Bereichen wie der Telekommunikation, in der Errichtung und dem Unterhalt von Infrastruktur sowie in staatlichen Institutionen. Erste Erfolge im Rückbau dieses eigenen Staates kann Arzú bereits vorweisen: Nach mehreren Säuberungswellen im Staatsapparat erschütterte in den letzten Wochen die Zerschlagung eines großangelegten Schmuggler- und Korruptionsnetzes die guatemaltekische Öffentlichkeit. Auch wenn dieser Schlag gegen die organisierte Kriminalität nur die Spitze des Eisberges enthüllte, wird der Stellenwert dieser Aktion an zwei Dingen deutlich: Es wurden Machenschaften von hohen Persönlichkeiten des militärischen Geheimdienstes, die bisher als Unberührbare galten, ans Licht der Öffentlichkeit gezogen. Die Einflußmöglichkeiten dieser mafiösen Organisation waren in Guatemala ein offenes Geheimnis. Sie hatte eine Machtfülle erreicht, daß sich kein Unternehmen ihren Regeln entziehen konnte – keine guten Voraussetzungen für freies Unternehmertum.
Die andere Machtgruppe bilden die reaktionären GroßgrundbesitzerInnen, die ihre Vorgehensweise in der Vergangenheit mit den Militärs abstimmten. Es widerspricht ihren wirtschaftlichen Interessen, Guatemalas Märkte noch weiter als bisher für internationales Kapital zu öffnen. Es würde eine bedrohliche Konkurrenz für sie entstehen. Arzú ist allerdings klug genug, sich nicht auch noch mit ihnen anzulegen. Zwar möchte er deren Machtdünkel bekämpfen, gleichzeitig gibt es aber auch gemeinsame wirtschaftliche Interessen, deren Opfer – wiedereinmal – Campesina/os sind. So gab es dieses Jahr schon mehrere Tote zu beklagen, nachdem Polizeieinheiten gegen Campesina/o-Gruppen vorgingen, die zur Durchsetzung ihrer Landrechte Fincas von GroßgrundbesitzerInnen besetzt hatten. Durch die äußerste Härte, mit der die Sicherheitskräfte bei diesen Räumungen vorgingen, zeigt die Regierung, daß ihre Liberalität durchaus ihre Grenzen hat, nämlich dort, wo die ökonomischen Privilegien der Reichen in Gefahr geraten. Dies stellte sie auch im Mai unter Beweis, als die Regierungsdelegation bei den Friedensverhandlungen mit der URNG beim Thema Wirtschaft durchsetzte, daß keinerlei Beschränkungen oder gar eine soziale Verantwortung für Privateigentum gelten sollen.

Neoliberale Strukturanpassung

Auch bei der Durchsetzung der dritten Leitlinie zeigt die Regierung Entschlossenheit. Parallel zum Vorantreiben der Friedensverhandlungen und dem Machtkampf mit dem Staat im Staate begann die Regierung in den letzten Monaten mit der Strukturanpassung: Antistreikgesetze für den öffentlichen Dienst, die Entlassung tausender Beschäftigter staatlicher Institutionen, die Erhöhung der Strompreise mit anschließender Privatisierung des Elektrizitätssystems. Die Maßnahmen lesen sich wie aus einem Leitfaden liberaler Regierungspolitik.
Guatemala befindet sich mitten in einem Transformationsprozeß am Schnittpunkt verschiedener sich kreuzender Entwicklungen, die immer wieder für Verwirrung und Erstaunen sorgen. Da ist zum einen der Übergang von der Zeit des bewaffneten, internen Konflikts zu der nach dem Friedensschluß. Dieser Prozeß ist eingebettet in die Zurichtung der bisher von einer nationalen, willkürlich agierenden Führungsclique dominierten Wirtschaft und Politik auf die Bedingungen des liberalen Weltmarktes. Irritierenderweise geht die ökonomische Liberalisierung mit einer politischen einher, ja sie unterstützt sie sogar. Diejenigen Kreise, die massive Menschenrechtsverletzungen als Instrument zur Durchsetzung ihrer Interessen benutzen, werden in ihrer Macht beschnitten. In einem Land, das unzählige Tote durch die Folgen staatlicher Repression zu beklagen hat und in dem Oppositionelle kaum Möglichkeiten hatten, ihren Widerstand auch nur verbal zu artikulieren, bedeutet dies einen nicht zu bestreitenden Fortschritt. Das politische Leben wird in Guatemala sicherer werden. Für die mehr als dreiviertel der insgesamt ca. 10 Millionen GuatemaltekInnen, die in Armut leben – mehr als die Hälfte von diesen wiederum in extremer Armut -, muß aber befürchtet werden, daß das Überleben unter der Strukturanpassung noch schwieriger wird.

Der Friedensprozeß – eine schwierige Geburt

Die Friedensverhandlungen in Guatemala – sie schienen nicht zum Abschluß kommen zu wollen. Jetzt aber sind die wesentlichen Teilabkommen unterschrieben, die nach der Unterzeichnung des endgültigen Friedensvertrages in Kraft treten sollen: das Abkommen zu den Menschenrechten vom März 1994 und das Abkommen zu Identität und Rechten der indigenen Völker vom März 1995. Nach über einem Jahr Verhandlungen und dem Präsidentenwechsel vom anfänglichen Hoffnungsträger de León Carpio auf den geschickt taktierenden Unternehmer Alvaro Arzú, wurde im Mai 1996 das Teilabkommen zur “Sozioökonomischen Aspekten und Agrarsituation” besiegelt. Nur vier Monate später folgte das nächste Dokument zur Rolle des Militärs in einer zukünftigen Gesellschaft und zur Stärkung der Zivilgesellschaft.
Zwar steht die Klärung einzelner Fragen noch aus, zum Beispiel die nach den Modalitäten für die Reintegration der URNG-KämpferInnen in die Gesellschaft und die Frage nach Amnestieregelungen. Die Frage des Ortes für die Unterzeichnung des abschließenden Abkommens wird aber bereits diskutiert. Bis Silvester diesen Jahres soll es soweit sein, nachdem die noch ausstehenden Teilabkommen im Rahmen einer Europatournee der Verhandlungsparteien in Oslo, Stockholm und Madrid unterschrieben werden sollen. Mit dem Akt in Madrid kehren die Parteien in die Stadt zurück, in der das erste Treffen zwischen VertreterInnen der URNG und der guatemaltekischen Regierung stattgefunden hatte. Im Mai 1986, also vor über 10 Jahren, legte die URNG erstmals einen Vorschlag zu direkten Verhandlungen mit der Regierung vor. Die Situation war günstig: Aus einer großen Offensive der Armee gegen die Guerilla war diese eher gestärkt denn geschwächt hervorgegangen, das Militärregime sollte die politische Macht an einen “bewachten” Parlamentarismus übergeben, die mittelamerikanische Friedensinitiative war auf ihrem Höhepunkt angelangt. Aber erst nach Abschluß des Friedensvertrages Esquipulas II durch die mittelamerikanischen Präsidenten konnte die guatemaltekische Regierung nicht mehr anders, war man doch übereingekommen, schnellstmöglich die internen, bewaffneten Konflikte auf dem Verhandlungsweg zu beenden: Also fuhr eine Regierungsdelegation zu ersten Gesprächen mit der Guerilla nach Madrid. Das war im Oktober 1987.
Je nach politischen Interessen der Verhandlungsparteien, immer abhängig von der internationalen Konjunktur, mal mißtrauisch beäugt, meist aber unterstützt von der guatemaltekischen Opposition, torpediert von den Reaktionären im Land, ging es am Verhandlungstisch auf und ab. Daß gerade die reaktionären Kräfte immer noch versuchen, den Friedenschluß zu behindern, wurde und wird immer wieder deutlich. Nach einem Versuch im Sommer 1994, mit einer Steuerreform die Unternehmer stärker zur Kasse zu bitten, wurden schnell Putschgerüchte laut, die nach Rücknahme der Maßnahmen wieder verstummten. Im Oktober vergangenen Jahres ermordeten Soldaten in Xamán elf aus Mexiko zurückgekehrte Flüchtlinge; ein Massaker, das unter anderem darauf abzielte, die Friedensverhandlungen massiv zu stören.
Daß die Reaktionäre immer noch große Erfolge verbuchen können, zeigte die jüngste Aussetzung der Friedensverhandlungen. Der Auslöser: Ohne Kenntnis der Führung hatte ein ehemaliges Kommando der ORPA, einer der vier URNG-Teilorganisationen, vor einigen Wochen die einfluß- und schwerreiche Unternehmerin Olga de Novella entführt. Nachdem die Entführung selbst bereinigt worden war, nutzten die Hardliner in Militär und Unternehmerkreisen diesen Anlaß zu einer Kampagne gegen den Verhandlungsfortgang im allgemeinen und die URNG im speziellen. Aufgrund des sich entwickelnden Druckes wurden die Verhandlungen am 28. Oktober ausgesetzt, woraufhin heftige Aktivitäten einsetzten: Weite Kreise der Bevölkerung, die Regierungen der “Gruppe der mit Guatemala befreundeten Länder” sowie UN-Institutionen drängten die Verhandlungsparteien, die Gespräche möglichst schnell wiederaufzunehmen. Nach einigen Tagen des Schweigens veröffentlichte die URNG-Führung schließlich ein Kommunique, in der sie verlautbarte, die Entführung sei zwar ohne ihr Mitwissen geschehen, sie übernehme aber trotzdem die politische Verantwortung. Einige Tage später erklärte Gaspar Ilom, Mitglied der Generalkommandantur für die ORPA, seinen Rückzug von der Verhandlungsdelegation der URNG. Zugleich kündigte er an, daß die ORPA in Kürze einen neuen Verhandlungsführer benennen werde. Gaspar Ilom, der mit bürgerlichem Namen Rodrigo Asturias heißt und der Sohn des guatemaltekischen Literaturnobelpreisträger Miguel Angel Asturias ist, galt bis zu diesem Zeitpunkt als derjenige URNG-Kommandant mit dem höchsten internationalem Ansehen und der größten Reputation im Land und wurde als durchaus aussichtsreicher Kandidat für die Präsidentschaft im Jahr 2000 gehandelt.
Es scheint, daß der Rücktritt von Ilom den Weg zur Wiederaufnahme der Verhandlungen freigemacht hat, denn am 9. November trafen die Delegationen wieder zusammen. Vereinbart wurde, daß die Gespräche mit einer veränderten Tagesordnung weitergeführt werden. Vor der Unterbrechung hatten sich die Verhandlungen an der Frage der Amnestieregelungen festgefahren, die in der guatemaltekischen Öffentlichkeit heiß diskutiert werden. Dieses Thema wurde nun auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Statt dessen werden jetzt die Bedingungen für einen endgültigen Waffenstillstand und die anschließende Waffenabgabe durch die Guerilla besprochen. Die Konsequenzen für die Machtbalance am Verhandlungstisch sind erkennbar. Die URNG wird gezwungen sein, eines ihrer Druckmittel, eben ihre militärische Stärke, preis- und aufzugeben, noch bevor wichtige Teilaspekte des endgültigen Friedensabkommens behandelt worden sind.

Auf dem Weg in die Zivilgesellschaft

Anders als seine Nachbarn Guatemala, El Salvador und Nicaragua hat Honduras in den achtziger Jahren keinen Bürgerkrieg durchlitten. Nach Zehn- oder Hunderttausenden zählende Ermordete, Verschwundene oder Flüchtlinge blieben diesem Land damit erspart. Dennoch konnte von funktionierender Demokratie keine Rede sein, und mit der Einhaltung der Menschenrechte nahmen es Militär und Polizei nicht ernster als anderswo.
Honduras lag aus Sicht der USA strategisch ideal, um von dort in die Konflikte in Nicaragua und El Salvador einzugreifen. Das Land nahm im Konzept der Nationalen Sicherheit, das die Reagan-Administration in Zentralamerika durchzuführen versuchte, einen wichtigen Platz ein. Die honduranischen “Sicherheitskräfte” standen dabei in direktem Auftrag der nordamerikanischen Kollegen und setzten deren Vorgaben um. Damit war klar: Jede Opposition, die die Legitimität des Militärs in Frage stellte und es einer zivilen Macht untergeordnet sehen wollte, wurde rücksichtslos bekämpft. Politische Gegner, vor allem aus der Linken, verschwinden zu lassen, zu foltern und/oder zu ermorden, gehörte daher auch in Honduras zur Tagesordnung.
Die Aufarbeitung konkreter Fälle von Menschenrechtsverletzungen durch Militärs ist dem Engagement einzelner Gruppen und Personen zu verdanken und hat juristisch und, was für die honduranische Gesellschaft insgesamt vielleicht noch wichtiger ist, moralisch einige bemerkenswerte Konsequenzen nach sich gezogen. Aufsehenerregend war, daß das unabhängige honduranische Menschenrechtskomitee Codeh unter seinem Leiter Ramón Custodio 1988 beim Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof einen Prozeß gegen das Land Honduras wegen Entführung und Ermordung zweier Personen in Gang brachte – und Honduras tatsächlich verurteilt wurde. Es war das erste Mal, daß vor diesm Gericht ein Land wegen Menschenrechtsverletzungen der Armee für schuldig befunden wurde. Das Urteil, in dem Honduras zur Bestrafung der Täter und zur finanziellen Entschädigung der Opfer verpflichtet wurde, blieb zwar in der Praxis weitgehend wirkungslos. Auf die Verfolgung der Täter wurde stillschweigend verzichtet, und die festgesetzte Entschädigungssumme brauchte nach einer Geldentwertung nur teilweise gezahlt zu werden. Insofern ist zu Euphorie kein Anlaß. Aber dieses Urteil war erst der Anfang.
Leo Valladares und sein Büro hatten ganze Arbeit geleistet. Der 1992 ins Amt berufene Menschenrechtsbeauftragte der honduranischen Regierung legte im Dezember 1993 einen tausendseitigen Bericht vor, in dem belegt wurde, daß zwischen 1979 und 1989 184 Menschen “verschwanden”. Der Impuls, der von diesem Bericht ausging, war enorm. Daß er nicht von oppositioneller Seite kam, sondern vom Beauftragten der Regierung selbst, erhöhte die Chance, mit dem Bericht Druck auf die Justiz und das Militär ausüben zu können. Und er war und ist Grundlage für die tatsächliche strafrechtliche Verfolgung der Täter.

Tausend Seiten Aufklärung

Der Codeh, das unabhängige Menschenrechtsbüro unter Ramón Custodio, hat den Bericht von Valladares als einen Anfang anerkannt – und dokumentiert seinerseits 140 Fälle von “Verschwundenen”, die auf das Konto des inzwischen aufgelösten Sonderbataillons 3-16 der Armee gehen. Die Verbrechen, wegen derer Honduras 1988 angeklagt wurde, sind zwei dieser 140 gewesen.
Ohne daß von Regierungsseite Bereitschaft signalisiert worden wäre, irgendwelche Untersuchungen und Verfahren gegen Militärs zuzulassen, wäre der Aufklärungsprozeß insgesamt allerdings kaum denkbar und noch viel weniger politisch machbar gewesen. Insofern war es ein Glücksfall, daß Carlos Roberto Reina Anfang 1994 sein Amt antrat. Reina war vorher am Internationalen Gerichtshof in Den Haag tätig und hatte für seine Präsidentschaft eine “moralische Revolution” versprochen. Er brachte jene notwendige Bereitschaft mit und hat sich in den bereits angestoßenen Reformprozeß eingeklinkt, in dem die Macht des Militärs begrenzt und wenigstens eine gewisse Rechtsstaatlichkeit auf den Weg gebracht werden sollte.

Militärs vor dem Zivilgericht

Wichtiger Meilenstein in diesem Prozeß war noch vor Reinas Amtszeit der Parlamentsbeschluß vom 29. Juni 1993, der eigentlich nichts weiter tat, als geltendes Recht zu bestätigen – Recht jedoch, das bis dahin stets mißachtet worden war. Es ging um die Amnestierbarkeit von Menschenrechtsverbrechen, die die Militärs begangen hatten. Und damit um genau den Knackpunkt, an dem schon mehrere Versuche der strafrechtlichen Aufarbeitung solcher Verbrechen in anderen lateinamerikanischen Ländern gescheitert sind. Kern des Parlamentsbeschlusses ist, daß bereits ausgesprochene Amnestien für Armeeangehörige keine Gültigkeit haben, wenn es sich bei den Verbrechen um “gewöhnliche”, also zivilrechtliche handelt. Aus dem zivilrechtlichen Rahmen fallen nur politische Delikte, die auf Beseitigung oder Gefährdung der Staatsmacht abzielen. Bei den Menschenrechtsverletzungen war das jedoch nie das Ziel der Täter. Damit ist der Weg frei für die Diskussion um den Charakter einzelner Straftaten und – bei deren Anerkennung als “gewöhnliches” Delikt – ihre Aufarbeitung vor einem zivilen Gericht.
Einige dieser Prozesse sind in den letzten Jahren tatsächlich in Gang gekommen. Begonnen hatte es mit zwei Prozessen schon im Sommer 1993: In einem wurde ein ranghöherer Militär vor Gericht gebracht, der die Verantwortung für ein Massaker trug, im anderen ein Urteil gegen einen Oberst und einen Hauptmann wegen Vergewaltigung eines Mädchens gefällt.
Im Juli 1995 wurde dann das bislang spektakulärste Verfahren gegen 10 Offiziere des erwähnten Batailons 3-16 eröffnet, die in die Entführung und Folterung von sechs HonduranerInnen im Jahre 1982 verwickelt sind. Die Militärspitze ließ zwar nach Prozeßbeginn als Drohgebärde Panzer durch die Hauptstadt Tegucigalpa rollen, streute Putschgerüchte und nahm ihre damals noch in Dienst befindlichen “Kameraden” in Schutz. Dennoch scheint sie letzten Endes den juristischen Prozeß im besonderen und die Demokratisierung im allgemeinen hinzunehmen. Zumindest hat sie sich trotz aller Hindernisse, die sie der Verbrechensaufklärung in den Weg legt, im Prinzip zur verfassungsmäßigen Ordnung bekannt.
In der Aktualität findet ein Tauziehen zwischen den verschiedenen politischen Kräften statt.
Dadurch wird einerseits ein Fortschreiten der Aufklärung immer wieder gebremst. Beispiel dafür sind die Morde an führenden Militärs, die über Einzelheiten von konkreten Fällen Bescheid wissen; man nennt sie auch “menschliche Akten”. Mit ihnen gehen wichtige Zeugenaussagen verloren, so daß die Vermutung naheliegt, daß die Morde von denjenigen Militärs in Auftrag gegeben werden, die sich gefährdet sehen. Für diese Annahme spricht vor allem auch, daß die Morde in zwei Wellen stattfanden: die erste im Oktober 1995, als die Haftbefehle im erwähnten Prozeß gegen die zehn Offiziere erlassen wurden, die zweite im Juni und Juli 1996, gleichfalls im Kontext von Haftbefehlen aus einem 96er Prozeß.
Die Aufklärung dieser Morde geht schleppend voran. Der Codeh wirft Präsident Reina vor, sich nicht ernsthaft um die Aufklärung zu bemühen und generell zu lasch gegen jüngst begangene Menschenrechtsverletzungen vorzugehen.
Auch an anderer Stelle kam die Aufarbeitung kürzlich ins Stocken. Menschenrechtsombudsmann Leo Valladares hatte versucht, Licht in den Hintergrund der Verbrechen von Anfang der achtziger Jahre zu bringen. Damals waren neben US-amerikanischen Militärs auch dreizehn argentinische Spezialisten für Aufstandsbekämpfung in Honduras tätig gewesen. Die argentinische Regierung hat Mitte Oktober abgelehnt, Informationen über die Verwicklung ihrer Landsleute an Honduras weiterzugeben.
Trotz all dieser Erschwernisse gibt es jedoch zahlreiche positive Tendenzen. So haben Dokumente, die Valladares vom US State Departement erhalten hat, einige Erkenntnisse gebracht. Ihnen zufolge könnten mehr als die bisher bekannten 184 Fälle von “Verschwundenen” dokumentarisch nachweisbar sein.
Weiterhin haben seit 1995 Exhumierungen von außergerichtlich Ermordeten in Honduras stattgefunden. Diese zogen nicht nur erste juristische Konsequenzen nach sich, sondern riefen auch in der Bevölkerung Entsetzen hervor.
Honduras ist demzufolge längst in Bewegung geraten. Das Geflecht von Spannungen und Interessen, das sich dabei herausgebildet hat, ist zwar nicht leicht durchschaubar, und Prognosen sind nur schwer zu treffen: Offen ist, was passieren würde, wenn Präsident Reina bei einem Machtwechsel von einem weniger reformwilligen Politker abgelöst werden sollte. Offen ist auch, ob sich die Armeeführung tatsächlich auf Dauer die Beschneidung ihrer Macht gefallen läßt, die Reina zur Zeit mit aller Konsequenz betreibt. Mit Sicherheit lässt sich aber feststellen, daß Honduras mit seinen Menschenrechtsgruppen über einen Motor verfügt, der wichtige, fundamentale Arbeit geleistet hat und von dem noch viel zu erhoffen ist.

KASTEN:
Zum Thema Straflosigkeit

Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen, auch impunity oder impunidad, bedeutet etwa, daß die russischen Bombenangriffe auf die Zivilbevölkerung in Tschetschenien keine strafrechtlichen Folgen für die Täter haben. Weder für den Oberkommandierenden der russischen Streitkräfte, Boris Jelzin, noch für die – häufig nur Befehlen gehorchenden – Täter. Oder, daß der Oberbefehlshaber und politische Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, trotz eines internationalen Haftbefehls bis heute noch nicht vor dem Haager Jugoslawien-Gerichtshof steht. Impunidad bedeutet auch, daß staatlich gedeckte, initiierte oder geförderte Menschenrechtsverletzungen oder Menschlichkeitsverbrechen ungesühnt bleiben. Straflosigkeit hat schließlich auch eine rein persönliche Seite: Ehemalige Opfer treffen auf ehemalige Täter in Zeiten demokratischer Normalität, sei es auf der Straße oder anderswo; sie fühlen sich ohnmächtig und wütend.
Die Gründe der impunidad sind vielfältig und komplex. Menschenrechtsverbrechen werden regelmäßig nicht verfolgt, weil es am Verfolgungswillen und -interesse der darin verwikkelten Staatsführung fehlt. In vielen lateinamerikanischen Ländern behindern die staatlichen Sicherheitskräfte etwa massiv zivile Ermittlungen, indem sie Zeuginnen einschüchtern, Beweismittel vernichten etc., oder sie erschweren die Ermittlungen schon dadurch, daß sie die Taten anonym begehen (Benutzung von Fahrzeugen ohne Kennzeichen, Tragen von Zivilkleidung). Über diese faktischen Ursachen der Nichtverfolgung hinaus gibt es jedoch auch normative Ursachen. Entweder werden umfassende Generalamnestien oder amnestieähnliche Regelungen erlassen (so in Peru, Chile und Argentinien) oder die extensive Zuweisung von Verfahren wegen Menschenrechtsverletzungen – so es denn überhaupt zu Verfahren kommt – an die Militärgerichtsbarkeit erweist sich als zentraler Faktor der Straflosigkeit. Einzelne strafrechtliche Regelungen, etwa die Anerkennung des Handelns auf Befehl als Strafausschlußgrund, runden das Bild ab.
Die beschriebenen nationalen Straflosigkeitsmechanismen stehen freilich in krassem Gegensatz zum geltenden Völkerstrafrecht. Zwar existieren noch keine völkervertraglichen Bestrafungspflichten, doch folgt aus einer Analyse des Völkergewohnheitsrechts und der allgemeinen Rechtsgrundsätze, daß bestimmte schwere Menschenrechtsverletzungen, insbesondere Folter, extralegale Hinrichtungen und das sogenannte Verschwindenlassen von Personen, Verfolgungs- und Bestrafungspflichten unterliegen. Für diese Auffassung lassen sich nicht nur eine beträchtliche Zahl völkerrechtlicher Quellen anführen (vor allem Beschlüsse von UN-Organisationen und Staatenvertretern) sondern auch eine umfassende völkerstrafrechtliche Spruchpraxis. Sie reicht vom Nürnberger Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher bis zum jüngsten Beschluß des Haager Jugoslawien-Gerichtshofs im Fall Tadic.
Demzufolge sind Amnestien oder amnestieähnliche Regelungen zwar nicht unter allen Umständen ausgeschlossen – Art.6 Abs.5 des zweiten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen erlaubt sie etwa nach Beendigung der Feindseligkeiten zum Zwecke der nationalen Versöhnung. Doch unterliegen sie relativ klaren völkerrechtlichen Schranken. So kann eine umfassende Amnestie von schweren Menschenrechtsverletzungen (Verletzungen des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit), die zudem die eigenen Sicherheitskräfte begünstigt, nur als völkerrechtswidrig bezeichnet werden. Ebenso gebietet das geltende Völkerstrafrecht eine Reform der Militärgerichtsbarkeit. Nur noch ausschließlich militärische Dienstvergehen dürfen danach in die Zuständigkeit der Militärgerichtsbarkeit fallen, während allgemeine Straftaten, zu denen Menschenrechtsverletzungen zählen, vor die zivilen Strafgerichte gehören.
Das Völkerstrafrecht allein wird Menschenrechtsverletzungen sicherlich niemals verhindern können. Es enthält jedoch schon heute Regeln, die die Verantwortlichen als internationale Verbrecher stigmatisieren und ächten können. Diese zum großen Teil noch ungeschriebenen Regeln müssen zusammengeführt und in einem für alle Rechtsordnungen tragbaren Regelwerk kodifiziert werden. Mit der Verabschiedung eines Entwurfs für einen Internationalen Strafgerichtshof im Jahre 1994 und eines internationalen Strafgesetzbuchs im Jahre 1996 durch die ILC sowie entsprechende Alternativ-Entwürfe wurde entsprechende Vorarbeit geleistet. Es geht nun darum, sie zu verbessern.

Kai Ambos

Von Kai Ambos ist erschienen: Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen. Zur impunidad in südamerikanischen Ländern aus völkerstrafrechtlicher Sicht. edition iuscrim, Freiburg i.Br., 1996, ISBN 3-86113-987-7.

Sprinter Kohl in Lateinamerika

Die erste Station: Argentinien
Zwölf Jahre nach seinem ersten Argentinien-Besuch traf Bundeskanzler Kohl am 14. September in Buenos Aires ein. In Argentinien wurde dieser Besuch als der bedeutendste seit der Visite des damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten, George Bush, im Jahr 1990 gehandelt.
Seit 1989 richtete sich der Blick der deutschen Wirtschaft hauptsächlich gen Osten. An den ersten großen Privatisierungswellen in Argentinien wurde nur beobachtend teilgenommen. Telefon-, Flug-, und Erdölgesellschaft wie auch die Wasser-, Gas-, Stromversorgungsunternehmen sind nun in spanischer, französischer oder nordamerikanischer Hand, die sich daran eine goldene Nase verdienen. Die bevorstehende Privatisierung der argentinischen Flughäfen soll nun nicht ohne deutsche Beteiligung geschehen. Der Prozeß der Wiedervereinigung und die Ostorientierung der deutschen Wirtschaft soll einem Engagement in Argentinien nicht mehr im Wege stehen. Rechtssicherheit, die Investitionen auch mittel- und langfristig sichern, wirtschaftlich stabile Rahmenbedingungen und politische Kontinuität werden nun seitens der Wirtschaft besser eingeschätzt als noch vor Jahren, müssen aber nichtsdestotrotz weiterhin ausgebaut werden. Fragen der Verteilungsgerechtigkeit sind nur indirekt von Belang, der soziale Frieden und damit die politische Stabilität darf durch eine allzu ungleiche Verteilung nicht aufs Spiel gesetzt werden.

Internationale Unterstützung

Nur eine Woche nachdem der Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) Camdessus und der Präsident der Welthandelsorganisation (WTO) Ruggero in Buenos Aires die jüngste wirtschaftliche Entwicklung Argentiniens lobten, ordnete sich Kohl in diese illustre Reihe ein. Er bezeichnete den seit Anfang der neunziger Jahre verfolgten neoliberalen Wirtschaftskurs als sehr mutig und empfahl Menem ihn beizubehalten. Die Argentinier sollten sich in “Sturmzeiten” in Geduld üben, da letztendlich die Reformen ihre Wirkung zeigen und sich die Opfer auszahlen würden.
Die Parallelen zu der deutschen Wirtschaftssituation liegen für Kohl auf der Hand. Aus diesem Grund vertrat er die Meinung, daß in der heutigen Zeit, in der Globalisierung und die Standortkonkurrenz die Realität beherrschen, es keine Alternative – weder für Argentinien noch für Deutschland – zu einer Politik der Kostenreduktion, der Arbeitsflexibilisierung und der Neudefinition des Sozialstaates gäbe.
Nur mit gleichwertigen Partnern wie Argentinien, mit denen mensch viel gemeinsam habe, unter anderem die Vorliebe für die Marktwirtschaft, könnten die globalen Herausforderungen – Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Armut – gemeinsam gemeistert werden.
Menem kann die Unterstützung durch Kohl derzeit gut gebrauchen: Seine Popularität und damit auch die seiner Politik hat einen Tiefpunkt erreicht. Die Geduld der Bevölkerung, auf deren Rücken die Anpassungsmaßnahmen durchgeführt werden, geht zu Ende. Bisher war es Menem gelungen, dank des “Inflationsbekämpfungsbonus” die Menschen immer wieder zu vertrösten. Die Zeiten der Hyperinflation Ende der achtziger sind noch sehr gut im Gedächtnis. Um die gewonnene Stabilität nicht aufs Spiel zu setzen wurden viele Opfer in Kauf genommen. Das letzte Sparpaket aber (siehe LN 266/267) brachte das Faß zum überlaufen. Der Generalstreik am 8. August legte das Land fast vollständig lahm – die OrganisatorInnen sprachen von einer neunzigprozentigen Streikbeteiligung. Damit nicht genug. Am 26. und 27. September erfolgte der nächste Generalstreik. 36 Stunden wurde gegen die Austeritätspolitik der Regierung protestiert. Auf der Plaza de Mayo, vor dem Regierungsgebäude, versammelten sich 70.000 DemonstrantInnen, die größte Demonstration seit 1989. Bemerkenswert ist, daß zu dem Streik der regierungsnahe Dachverband der Gewerkschaften aufrief und sowohl von dem Oppositionsdachverband als auch den Oppositionsparteien unterstützt wurde.

Allgegenwärtige Wirtschaft

So wie die wirtschaftlichen Probleme die Alltagssorgen der ArgentinierInnen dominieren, beherrschten wirtschaftliche Interessen den Kanzler-Aufenthalt. Und zwar auch dann, wenn der öffentliche Auftritt gar nicht im Zeichen der Wirtschaft stand. So geschehen beim Empfang der deutsch-argentinischen Gemeinschaft in der 1897 gegründeten Goethe-Schule. In der mit etwa 2000 Gästen überfüllten Turnhalle genoß Kohl ein Bad in der Menge. In Deutschland wäre ein solches Unterfangen an jenem Wochenende – nachdem die Kanzlermehrheit das Kürzungspaket im Bundestag endgültig verabschiedet hatte – wohl nicht sehr ratsam gewesen. Doch hier, in geschlossener Gesellschaft, etwa 30 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt in einem wohlhabenden Wohnbezirk und abgeschottet von jeglichen sozialen Spannungen, war dieses gefahrlos möglich. Seine zum Ärger mancher Presseleute nicht ins Spanisch übersetzte Rede stand im Zeichen des deutsch-argentinischen Kulturaustausches, an dem die deutschen Schulen einen großen Anteil hatten. Ganz in seinem Sinne wurde die deutsch-argentische Freundschaft kulinarisch besiegelt. Dabei war es sicher kein Zufall, daß er sich zum Abschluß medienwirksam mit einem Becher Warsteiner erfrischte, hat doch Warsteiner kürzlich in ihre argentinische Tochtergesellschaft Isenbeck 80 Millionen Dollar investiert. Diese avancierte so zu einer der größten Brauereien des Landes. Die Rückfahrt erfolgte in einem von Mercedes Benz an die argentinische Regierung gestifteten Bus. Es war zwar kein Sprinter, aber der gute Stern auf allen Wegen war dabei nicht zu übersehen.
Claudia Martínez/Martin Spahr

Zweite Station: Kohl in Brasilien

Dreißig Stunden Staatsbesuch sind nicht viel Zeit, aber es reicht allemal, um sich ein wenig als Regenwaldbewahrer ins Rampenlicht zu rücken. Deutschland ist in dieser Disziplin nämlich führend unter den G-7-Nationen, wie die Brasilianer im September aus berufenem Munde erfuhren: “Alle reden, während wir zahlen”, brüstete sich Helmut Kohl bei einem Frühstück mit Industrievertretern in Brasilia. Gemeint hat er damit unter anderem die 187 Millionen US-Dollar, die Deutschland für ein kürzlich bewilligtes EU-Pilotprojekt in Amazonien ausgeben will. Mit dem Geld sollen nachhaltige Entwicklungsmodelle im größten Regenwaldgebiet der Erde finanziert werden. Brasilien probt derweil den schlanken Staat. Nachdem im Juni eine Studie ergab, daß der Regenwald im Moment schneller abgeholzt wird als noch zur Zeit des Erdgipfels in Rio 1992, wurde als Gegenmaßnahme das Abholzen einiger Edelholzarten verboten – eine überaus schlanke und kostengünstige Maßnahme. Dabei sollten die Beamten in Brasilia doch wissen, daß in Amazonien das Gesetz nicht viel wert ist. Immerhin mußte die Sicherheit der Gemeindewahlen Mitte Oktober dort mit Hilfe der Bundesarmee sichergestellt werden, weil sonst Großgrundbesitzer und kleine Industrielle mit bewaffneten Milizen für einen genehmen Wahlausgang sorgen. Die Soldaten ziehen nach dem Urnengang wieder ab, und mit ihnen vermutlich die staatliche Indianerstiftung FUNAI (Fundacao Nacional do Indígena), die im Zuge der Verminderung des Staatsdefizits aufgelöst werden soll. Ihre Aufgabe war es bislang, die Indianer vor der Gier der Goldsucher und Holzfäller und vor dem nackten Überlebenswillen von landlosen Siedlern zu schützen. Man braucht gar nicht darauf zu warten, daß das EU-Pilotprojekt in dieser Hinsicht etwas bewirkt.
Aber sicherlich hat Helmut Kohl recht, wenn er sagt, daß es Industriestaaten gibt, die weniger für Umweltschutz in Brasilien bezahlen als Deutschland. Brasilien selbst zum Beispiel, das in weiten Teilen ein Industriestaat ist und im Moment andere Probleme als den Raubbau im Dschungel meistern muß. Einige sind ganz ähnlich gelagert wie bei uns: Brasilien wie Deutschland wollen unbedingt einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, ein hohes außenpolitisches Ziel, für das sich die Diplomaten Staatsbesuch um Staatsbesuch gegenseitige Unterstützung zusichern. Das brasilianische Staatsdefizit (3,72 Prozent des BIP) ist wie das deutsche zu hoch, und hier wie dort will die notwendige Reform des Sozialversicherungssystems nicht so recht gelingen. Wenn Brasiliens Staatsoberhaupt Fernando Henrique Cardoso in seiner Begrüßungsrede für Kohl dessen Erfolg bei der Reform des Renten- und Krankenversicherungssystems lobt, so nur, um seinem Kongreß ein wenig Beine zu machen. Denn für eine Reform des Staates braucht es jedesmal eine Verfassungsänderung, also eine Drei-fünftel-Mehrheit in beiden Kammern. Und diese Reformen sind nach Meinung von vielen WirtschaftsanalytikerInnen der einzige Weg, um Präsident Cardosos bislang erfolgreiche Antiinflationspolitik – die einer Regierungsstudie zufolge seit der Währungsreform im Juli 1994 die Zahl der Armen in den Ballungsgebieten um zwanzig Prozent vermindert hat – in einen nachhaltigen wirtschaftlichen Boom umzuwandeln. Ein wenig boomt es jetzt schon. 5 Prozent Wachstum für 1996 sind nicht umwerfend viel, auch wenn einige ganz zufrieden sein können: etwa der deutsche Elektrokonzern Siemens, der Telefonanlagen und Kraftwerkturbinen verkauft, und dessen Gewinn in Brasilien im Vergleich zum Vorjahr um satte 400 Prozent gestiegen ist. In den nächsten fünf Jahren, so weissagt die deutsch-brasilianische IHK, werden jährlich Direktinvestitionen in der Höhe von einer Milliarde US-Dollar nach Brasilien fließen. Ganz vorne mit dabei: die Automobilhersteller Volkswagen und Mercedes, die in Europa keine wachsenden Märkte mehr sehen und den Anschluß an den Mercosur nicht verpassen wollen. Brasilien wird in Zukunft das einzige Land außer Deutschland sein, in dem Mercedes die legendären Luxusautos mit dem Stern anfertigen läßt. “Die Qualität der Produktion”, so ein Sprecher von Mercedes Benz do Brasil selbstbewußt, “ist in Brasilien so gut wie in Deutschland.” Den Reichen, die sich auch im Mercosur angemessen fortbewegen möchten, bietet Brasilien noch zwei weitere Chancen für deutsches Geld: eine Reihe von Staatsunternehmen stehen zur Privatisierung an, aus so lukrativen Sektoren wie Rohstoffabbau, Telekommunikation und Häfen. Und schließlich ist da noch die “Industrie der Zukunft”, wie Helmut Kohl betonte: Umweltschutz-Technik aus Deutschland, nicht im Regenwald, sondern dort, wo die Industrialisierung bereits mit Wucht zugeschlagen hat. Gewinn für Deutschland verspicht nicht der Regenwald, sondern die riesigen Müllhalden der Großstädte und die ungeklärten Abwässer der Industrie.
Martin Virtel

Lateinamerika-Konzept der Bundesregierung

Das Bundeskabinett beschloß am 17. Mai 95 das Lateinamerika-Konzept. Dieser Maßnahmenkatalog, der nicht nur das Engagement der deutschen Wirtschaft in Lateinamerika, sondern auch die technische und politische Zusammenarbeit fördern soll, wurde vom Auswärtigen Amt, dem Wirtschaftsministerium und dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit gemeinsam mit dem Bund der Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen Industrie- und Handelstag (DIHT) und dem Ibero-Amerika-Verein (IAV) erarbeitet. Diese Art der Zusammenarbeit zwischen Bundesregierung und Industrie ist nicht neu: Eine ähnliche Initiative war schon 1993 ins Leben gerufen worden, als die Asien-Strategie in Zusammenarbeit mit dem Asien-Pazifik-Ausschuß der deutschen Wirtschaft entstand. Im Gegensatz zu Asien kann im Fall Lateinamerika auf eine jahrzehntelange Präsenz aufgebaut werden.
Als Anlaß für die konzertierte Aktion wird ein Brief der deutschen Wirtschaftsverbände an Kanzler Kohl gesehen, in dem davor gewarnt wurde, daß die Deutschen den wirtschaftlichen Anschluß in Lateinamerika verpassen würden. Dabei sei das verlorene Jahrzehnt in Lateinamerika doch vorbei und der Subkontinent auf dem besten Wege zu einer politisch und ökonomisch stabilen, wachstumstarken Region. Obwohl es noch Nachholbedarf bei der sozialen Lage und der Menschenrechtssituation der indianischen Völker gebe, seien Fortschritte im Demokratisierungsprozeß, beim Aufbau von rechtstaatlichen Systemen und der Wahrung der Menschenrechte zu verzeichnen. Zusätzlich bemühten sich die Regierungen der jungen Demokratien – mit freundlicher und tatkräftiger Unterstützung der Wirtschaftsexperten des Internationalen Währungsfonds (IWF) – wirtschaftspolitische Veränderungen in Richtung Marktwirtschaft nach neoliberalem Vorbild durchzuziehen: Stabilisierungsmaßnahmen zur Bekämpfung der Inflation, Deregulierung der Märkte, Liberalisierung der Handel- und Kapitalströme. Zudem werden durch die Privatisierung der maroden Staatsbetriebe Anstrengungen unternommen, die Staatshaushalte zu konsolideren. Klare Zeichen dafür, daß die Reformen ernst gemeint sind und die jahrzehntelange Binnenorientierung vorbei ist. Hinzu kommt der offene Integrationsprozeß (NAFTA, Mercosur, Andenpakt), der zu einer Ausweitung des intraregionalen Handels geführt und damit einen Beitrag zum Erfolg der Wirtschaftsentwicklung geleistet hat.
Die deutsche Wirtschaft hat diesen Prozeß beobachtet, ohne sich aber stark an ihm zu engagieren: an den Privatisierungen waren überwiegend die Nordamerikaner, Franzosen, Spanier und Italiener beteiligt. Marktanteile gegenüber den Japanern, dessen Engagement in Lateinamerika schon vor einigen Jahren stieg, ging verloren. Zwar leisteten im Jahr 1995 die deutschen Tochtergesellschaften in Brasilien und Mexiko fast 15 Prozent der nationalen Industrieproduktion, die Exporte in die Region sind aber nur unterproportional gegenüber den Exporten in Richtung Süd-Ost-Asien und Osteuropa gewachsen. Die deutsche Wirtschaft befürchtet nun, daß durch den Wandel neue Wirtschaftsbeziehungen entstehen, die mittel- und langfristig auf Kosten der deutschen Lieferanten gehen. Um diesem Trend entgegenzuwirken soll nun Vater Staat der deutschen exportorientierten Wirtschaft unter die Arme greifen. Kräfte sollen gebündelt werden und politischen Rückhalt für die Rückgewinnung verlorenen Terrains erhalten: Durch Regionalkonferenzen mit Beteiligung deutscher Regierungsvertreter, Entsendung von Wirtschaftsdelegationen und einer aktiven Messepolitik sollen den Latinos die Produkte “Made in Germany” wieder schmackhaft gemacht werden. Gute Chancen werden in den Bereichen der Umwelt- und Verkehrstechnologie, Kraftwerkbau, Stromverteilung und Telekommunikation gesehen. Besondere Unterstützung bei der Vermarktung ihrer Produkte soll der deutsche Mittelstand erfahren, dessen Angst vor wirtschaftspolitischen Rückschlägen noch nicht ganz genommen werden konnte. Er soll in besonderem Maß durch einen verbesserten Informationsservice über potentielle Wirtschaftpartner von dem engen Netz bilateraler Handelskammern profitieren.

Mogelpackung Lateinamerika-Konzept

Die vorangigen Bemühungen der Bundesregierung beschränken sich derweil aber nur auf die Erweiterung bestehender, beziehungsweise der Erschließung neuer Märkte auf dem Subkontinent, der 450 Millionen Menschen beherbergt und ein Bruttosozialprodukt von über 1 Billion Dollar aufweist: Ein riesiger Absatzmarkt, der nicht allein den anderen Industrienationen überlassen werden soll. Laut Angaben der Vereinten Nationen sind aber vierzig Prozent der Bevölkerung an dem jetzigen wirtschaftlichen Aufschwung nicht beteiligt. In einem Interview mit der argentinischen Tageszeitung La Nación anläßlich der Konferenz in Buenos Aires im Juni 1995 bekannte Rexrodt Farbe: im Mittelpunkt der Analyse seien die ökonomischen Aspekte. Damit werden andere wie politische Kooperation, Entwicklungshilfe und Umweltschutz mal wieder diesem Ziel untergeordnet. Bei der Lektüre des dritten Kapitels des Lateinamerika-Konzeptes über Entwicklung und Umwelt stechen hochgesteckte Ziele hervor, die zur Zeit anscheinend in Vergessenheit geraten sind: die Länder Lateinamerikas sollen “auf ihrem Weg zu einer friedlichen und nachhaltigen Entwicklung” unterstützt werden. Dieses sei nur in einem “entwicklungsfördernden Umfeld”, mit einer marktwirtschaftlichen und sozialen Wirtschaftsordnung in ökologischer Verantwortung möglich. Entwicklungsorientiertes staatliches Handeln, die Achtung der Menschenrechte, die Beteiligung der Bevölkerung am politischen Entscheidungsprozeß und Rechtssicherheit müsse ebenfalls gewährleistet werden. Schwerpunkte seien dabei unter anderem die Bekämpfung der Armut und die Entwicklung des Ressourcen- und Umweltschutzes. Wenngleich Kohl während seiner Reise auch immer wieder auf die sozialen Aspekte hinwies, die im Wachstumsprozeß nicht außer acht gelassen werden dürften, war sein Schwerpunkt ein anderer. Er lobte die mutigen Stabilisierungs- und Anpassungsprogramme. Die hohen sozialen Kosten blieben nachgeordnet, die weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich ebenso. Die tendenziell kapitalintensiven deutschen Investitionen, insbesondere aus der Autobranche, haben relativ geringe Beschäftigungseffekte. Der Beitrag zur Verbesserung der Beschäftigungssituation und damit der soziale Situation bleibt schwach. Somit verkommt das Lateinamerika-Konzept zu einem simplen Exportförderungspaket.
Martin Spahr

Dritte Station: Mexiko

Mariachi-Musik, jede Menge wohlklingender Reden und begeisternd kreischende Schulkinder – vom Kanzler Besuch in Mexiko bleibt vor allem Stimmung. Ansonsten fällt die Bilanz von insgesamt 10 öffentlichen Kohl-Auftritten in nur zwei Tagen mager aus: konkret vereinbart wurde nichts. Der Bundeskanzler versicherte seinen Gastgebern, daß die deutsche Fixierung auf die Einheit nun vorbei sei. Die Bundesregierung werde nun auch in Richtung Lateinamerika wieder aktiver – mit Mexiko als einem Schwerpunktland. Mexikos Präsident Ernesto Zedillo empfing den Kanzler als den Architekten der deutschen Vereinigung und größten Europäer. Er lobte die Rolle der deutschen Investoren, die 1995 mehr Geld in Mexikos Wirtschaft pumpten (eine Milliarde DM) als in jedes andere Schwellenland der Welt. In so gut wie allen Nachrichtensendungen des nationalen Fernsehens war die Kohl-Visite der Aufmacher. Die völlig überfüllte Pressekonferenz des Kanzlers wurde in einem Kanal sogar live übertragen. Dem deutschen Regierungschef, schon 14 Jahre an der Macht, schlug offene Bewunderung entgegen. Viele Mexikaner sahen den mächtigen Mann, der ihren eigenen Präsidenten um mehr als Haupteslange überragte, als Repräsentanten von Europas größter Wirtschaftsmacht und als eine Möglichkeit, sich von der erdrückenden Abhängigkeit von den USA zu befreien. Mexiko drängt seit langem schon auf ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union (EU) und hofft dabei auf deutsche Unterstützung. Diese hatte Außenminister Kinkel bei seinem Besuch im April auch zugesagt, sich jedoch anschließend bei der Agrarlobby in Brüssel eine blutige Nase geholt. So gab es denn die absehbare herbe Enttäuschung. “Wir verhandeln nicht mehr über ein Freihandelsabkommen”, hieß es während der Kanzler-Visite von deutscher Seite. Für die nun im Oktober beginnenden Verhandlungen zwischen EU und Mexiko wurde hastig ein neuer Begriff erfunden: Progressive Handelsliberalisierung. Im Klartext: Die Zölle sollen runter, aber nur für Waren, die keinem weh tun. Heikle Produktgruppen wie mexikanischer Honig, Bananen oder gerösteter Kaffee werden ausgeklammert und weiterhin an den Zollhürden der EU scheitern. Dennoch versicherte der Kanzler: “Wir wollen ein europäisches Haus errichten, keine Festung.”
Ein weiterer Mißerfolg: wie zuvor schon Klaus Kinkel konnte auch Helmut Kohl das lange schon avisierte Investionsschutzabkommen nicht mit nach Hause bringen. Denn Bonn beharrt auf der Änderung einer Enteignungsklausel in der mexikanischen Verfassung und damit ist vor den Parlamentswahlen nächstes Jahr nicht zu rechnen.
Kohls erster Mexiko-Besuch seit dem Endspiel um die Fußball-Weltmeisterschaft 1986 blieb im wesentlichen eine Werbetour für die Lateinamerika-Initiative der Bundesregierung und ihre Beteuerungen, zukünftig nicht mehr nur nach Osteuropa und Asien zu schielen, wenn es um wirtschaftliche Wachstrumsregionen geht. Die Chemie bei diesem Besuch jedoch stimmte. Bei der Grundsteinlegung für den Neubau der deutschen Schule in Puebla bereiteten hunderte Jungs und Mädels dem Kanzler einen euphorischen Empfang, führten folkloristische Tänze auf und sangen auf deutsch das Lied: Die Gedanken sind frei. Und Präsident Zedillo, ein ernster Mann, nahm sich ungewöhnlich viel Zeit für seinen Gast, traf sich insgesamt dreimal mit ihm. Im Volkswagen-Werk in Puebla zwängte er sich schließlich sogar gemeinsam mit ihm in einen handgearbeiteten Prototypen des Käfer-Nachfolgers New Beetle hinein. VW (mit 12 000 Beschäftigten größter deutscher Arbeitgeber in Mexiko) und Zulieferer wollen sich den Aufbau dieser Produktion insgesamt rund 1,5 Millarden DM kosten lassen. Das neue Auto soll nur in Mexiko gebaut und von hier aus in die ganze Welt exportiert werden. Bundeskanzler Kohl bezeichnete Mexikos Präsidenten bei einer Tischrede als ungewöhnlich offen und sympathisch, äußerte Bewunderung für die von ihm eingeschlagene Politik in den ersten 20 Monaten seiner Amtszeit. Zedillo hat Mexikos Wirtschaft in der schwersten Krisensituation seit über 60 Jahren übernommen und fährt seither einen harten Anpassungskurs mit hohen sozialen Kosten. Tags darauf, beim Frühstück mit deutschen und mexikanischen Unternehmern, mahnte Kohl, mehr auf den inneren Frieden im Lande zu achten. Der Abstand zwischen Arm und Reich im Land der Azteken ist so groß wie fast nirgendwo sonst. In der Forbes-Weltrangliste der US-Dollar-Milliardäre steht Mexiko auf Platz 5 – gleichzeitig aber leben hier 50 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze.
Luten Peer Leinhos

Militarisierung der Gesellschaft

Seit 1995, aber vor allem seit Beginn diesen Jahres hat sich die Achtung der Menschenrechte auf verschiedene Weise verschlechtert. Dreierlei läßt sich unterscheiden. Zum einen wird versucht, die politischen, ökonomischen und kulturellen Menschenrechte den sogenannten “höheren” Interessen der Nation unterzuordnen. Zweitens polemisiert die Regierungsseite gegen die unabhängige Menschenrechtsarbeit. AktivistInnen werden verleumdet und diskreditiert. Zum dritten hat sich gezeigt, daß die venezolanische Regierung mit ihrer öffentlichkeitswirksamen Rhetorik, die Strukturanpassungsprogramme des IWF nur mit “menschlichem Antlitz” durchzusetzen, vor allem Schaumschlägerei betrieben hat und die soziale Abfederung der Strukturanpassung üblicherweise dem wirtschaftlichen Erfolg hintangestellt wird. Zusammen haben diese drei Tendenzen in den letzten Monaten zu einem gesellschaftlichen Klima beigetragen, indem die Verletzung von Menschenrechten auf breiter Basis geduldet wird.
Von den Menschenrechtsverletzungen, die 1995 verschiedene NGOs registriert haben, wurde ein großer Teil staatlich legitimiert, indem auf die Aufhebung konstitutioneller Rechte verwiesen wurde. Leitlinie für die Regierungspolitik bildet das Decreto No. 285 vom 22. Juli 1994, indem es heißt, daß “die Aufrechterhaltung des Friedens der Republik … essentielle Pflicht des Staates ist.” Der Erlaß diente zur Rechtfertigung der Suspendierung verfassungsmäßiger Garantien bis zum Juli 1995. In den konfliktbeladenen Grenzregionen zu Kolumbien herrscht der Ausnahmezustand jedoch weiterhin. Von staatlicher Seite wurde und wird davon ausgegangen, daß die venezolanischen BürgerInnen inzwischen an die zunehmenden Menschenrechtsverletzungen gewöhnt sind. Mit einem massiven Protest gegen ein Außerkraftsetzen verfassungsmäßiger Rechte wird deshalb nicht gerechnet.

Höhere und niedere Interessen

Der Schutz der Menschenrechte ist in den vergangenen Jahren von der Regierung zu einem sekundären politischen Ziel degradiert worden. Dabei fügen die “höheren”, “nationalen” Interessen der Bevölkerung eher Schaden zu, als daß sie ihr nützen.
Eines dieser “höheren” Interessen ist die nationale Souveränität. Nach einem Zusammenstoß zwischen kolumbianischen Guerillakämpfern und venezolanischen Marine-Streitkräften im Februar 1995, bei dem acht Soldaten ums Leben kamen, wurde an der Zivilbevölkerung Vergeltung geübt. In Cararabo, einem Ort nahe der kolumbianischen Grenze, wurden dreiundzwanzig Bauern verhaftet und gefoltert – unter dem Verdacht, daß sie die kolumbianische Guerilla unterstützen. Nach Auskunft der militärischen Befehlshaber der Zone handelte es sich um die legitime Verteidigung der nationalen Souveränität. Damit hatte es jedoch nicht sein Bewenden. Die gegen KolumbianerInnen gerichtete Fremdenfeindlichkeit und das permanente Mißtrauen gegenüber den in der Grenzregion lebenden VenezolanerInnen, gipfelte darin, daß hunderte Personen ausgewiesen wurden, und dies ohne vorherige Ankündigung und ohne Rücksicht auf die venezolanische Staatsbürgerschaft vieler Betroffener. Auch hier argumentierte mensch von offizieller Seite mit der Verteidigung der nationalen Souveränität, um die Aussetzung verfassungsmäßiger Rechte, zum Beispiel auf persönliche Freiheit, auf Freizügigkeit und die Unverletzlichkeit der Wohnung, zu begründen. Diese Rechte sind in den sechzehn Verwaltungseinheiten im Grenzgebiet für unbegrenzte Zeit aufgehoben. Nicht ohne Grund erscheint diese Politik großangelegter militärischer Operationen und der Restrukturierung militärischer Gerichtsbarkeit wie eine Neuauflage diktatorischer Willkür.
Die zunehmende Militarisierung der Grenzregionen wird begleitet von zahlreichen Meldungen über Menschenrechtsverletzungen an Zivilisten, die zumeist von Angehörigen irregulärer Einheiten der venezolanischen Streitkräfte begangen werden. Die militärische “Lösung” der vielfältigen Entwicklungsprobleme in den marginalisierten Grenzregionen Venezuelas ist bei deren EinwohnerInnen mehrere Male auf erbitterten Protest gestoßen. Der Bau von Militärbasen an Orten, wo nicht einmal die überlebensnotwendigen Grundbedürfnisse der Bevölkerung befriedigt werden, stößt zunehmend auf Unverständnis und Widerstand.
Die Gewährung “bürgerlicher Sicherheit” dient paradoxerweise als weiteres Argument, die Interessen der Nation den Interessen des einzelnen Bürgers vorzuziehen. Um der steigenden Gewaltkriminalität zu begegnen, wird in jüngster Zeit insbesondere das aus der Diktatur von Marcos Pérez Jiménez stammemde Gesetz von 1956 über “Landstreicher und Gauner” (Ley sobre vagos y maleantes; siehe LN 259) angewendet. Dieses Gesetz erlaubt eine willkürliche Verhaftung ohne festgelegte Haftzeit bei geringfügigen Delikten. Der Justizminister, der Innenminister und der Regierungschef des Zentraldistrikts (Caracas und Umgebung) äußerten Kritik an dem offensichtlich verfassungswidrigen Gesetz – was konsequent überhört wurde.
Natürlich begrenzt sich die platte Logik der Regierung unter dem Motto “Gewalt gegen Gewalt” nicht auf das eine Gesetz. Die Einführung der Todesstrafe, der Bau von Isolationshaftzentren und die Herabsetzung des straffähigen Alters sind in der Diskussion und besitzen für die politische Elite, aber auch für die Öffentlichkeit einige Attraktivität. In den Elendsvierteln von Caracas sind Selbstverteidigung und der Lynchmord an Kleinkriminellen durch die eigenen Nachbarn durchaus gängig. “Schnelle Justiz” wird das genannt.
Auch der Innenminister setzt im Regierungsplan über “integrierte Sicherheit” von Mitte 1995 auf die Repression als Lösung des Kriminalitätsproblems. Es ist symptomatisch, daß sich der Plan nicht mit den Wurzeln und der Vorbeugung von Gewaltkriminalität beschäftigt. Die heftige Kritik, die verschiedene Gruppen deswegen an dem Plan geäußert haben, ist ohne Einfluß geblieben.
Die Tendenz zur Militarisierung und die Anwendung massiver Gewalt hat nicht nur für die individuellen Rechte negative Folgen, sie greift auch in soziale und Arbeitskonflikte ein. Streiks, Landkonflikte und Konflikte mit kleinen Bergbauunternehmen werden immer öfter durch das Militär “befriedet”.
Die Regierung lehnte die Forderungen der venezolanischen ArbeiterInnen nach Lohnerhöhungen, Arbeitsplatzsicherheit und Gewerkschaftsfreiheit in den letzten Jahren mit dem Argument ab, daß das angesichts der komplizierten wirtschaftlichen Lage ungerechtfertigt und nicht durchsetzbar sei. Siehe oben: Grundrechte, die zur Essenz einer Demokratie gehören, werden ausgehebelt, betreffen sie nun das Individuum oder die Arbeitnehmerschaft eines Betriebes. Die Regierung entscheidet, wann die venezolanische Bevölkerung ihre in der Verfassung verankerten Rechte einfordern darf und wann nicht.

Diskreditierung von Menschenrechtsaktivisten

Die Kehrseite der unbekümmerten Repressionspolitik ist, daß die Regierung gegen alle diejenigen polemisiert, die sich dennoch für demokratische Grundrechte einsetzen. Die Tatsache, daß der Regierungschef des Zentraldistrikts, der Innenminister und der Justizminister in der Vergangenheit Posten als Richter des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes bekleideten, schien in den letzten Jahren zunächst eine positive Perspektive für die Zusammenarbeit zwischen NGOs und staatlichen Institutionen zu bieten. Dennoch schaffte es der Generalstaatsanwalt, zugleich Dekan der juristischen Fakultät der katholischen Universität, ein in Ansätzen vorhandenes Klima der Dialogbereitschaft und der Annäherung zwischen staatlichen Stellen und NGO-VertreterInnen zu zerstören. Er hat dazu beigetragen, daß sich in den Regierungsinstitutionen die Ansicht breitmachte, die VertreterInnen der Menschenrechtsorganisationen seien verantwortlich für Situationen, die den “öffentlichen Frieden” gefährden.
Manche Methoden, Menschenrechtsarbeit ins Leere laufen zu lassen, sind altbekannt, auch in Venezuela: Anzeigen werden formal nicht anerkannt – oder schlicht ignoriert. In letzter Zeit wurden nun neue Geschütze aufgefahren: Es werden Hetzkampagnen gegen VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen losgetreten. Dabei ist immer öfter die Beschuldigung zu hören, die AktivistInnen würden die kolumbianische Guerilla protegieren und überhaupt Landesverräter sein, die dem internationalen Ansehen Venezuelas schaden. Selbst die katholische Kirche blieb davon nicht verschont, als VertreterInnen des bischöflichen Menschenrechtsbüros in Puerto Ayacucho, der Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas, die Folterung von Zivilisten durch Angehörige des Militärs anzeigten. Im Venezuela von 1996 ist es gefährlicher denn je, Soldaten oder Polizisten für Folterungen und Tötungen anzuzeigen. Wer dies wagt, muß mit Rufmord rechnen – und mit der Straffreiheit der Verantwortlichen sowieso.
Eine weitere Form der Propaganda gegen die Menschenrechtsarbeit richtet sich gegen die Beobachtung und das Recherchieren von Polizeieinsätzen. Offizielle Stellen vertreten immer wieder die Meinung, daß diese Überwachungsarbeit kontraproduktiv auf die Verbrechensbekämpfung wirke. Ein Parlamentsabgeordneter der Partei Acción Democrática wiegelte die Kritik von Menschenrechtsorganisationen an den repressiven Polizeieinsätzen mit den folgenden Worten ab: “Der Staat kann nicht rücksichtsvoll vorgehen und warten, bis ein Verbrecher aus eigenem Willen entscheidet, ob er weiterhin Verbrechen begeht oder nicht…”
Die schwerwiegendste Konsequenz dieser Auffassung der venezolanischen Regierung ist die Hierarchisierung der Menschenrechte, derzufolge das Leben eines Verbrechers in den Augen einiger RegierungsvertreterInnen nichts zählt.
Auch die Arbeit in internationalen Menschenrechtsforen bleibt von der Mißbilligung der Regierung nicht verschont. Der Juristenkommission der Anden (Comisión Andina de Juristas) beispielsweise wurde vorgeworfen, sie schade dem Ansehen Venezuelas vor den Vereinten Nationen und stelle die Regierung Rafael Calderas in eine Reihe mit blutrünstigen Despoten.
Gerne vergleichen venezolanische Diplomaten die Menschenrechtssituation im Land mit der in anderen Staaten, um zu unterstreichen, daß Venezuela ihrer Meinung nach ein Rechtsstaat ist, in dem gefahrlos die Möglichkeit bestehe, Menschenrechtsverletzungen anzuzeigen. Dabei sind sie aber der Ansicht, daß heutzutage eigentlich gar nichts mehr anzuzeigen sei, denn schließlich sei unter der Diktatur alles viel, viel schlimmer gewesen, und davon hätten die heutigen KritikerInnen keine Ahnung. Sie seien jedenfalls nicht ernst zu nehmen.

Unangenehme Kritik

Daß an dieser Theorie etwas faul ist, bestätigte zu allerletzt ein Menschenrechtsbericht des US-State Department vom März 1996. Darin wird Venezuela in die Reihe der Staaten des amerikanischen Kontinents eingeordnet, in denen die schwersten Menschenrechtsverletzungen registriert wurden. Das Kapitel über Venezuela basiert auf offiziellen wie NGO-Quellen und beruft sich besonders auf Informationen der NGO Provea (Programa Venezolano de Educación – Acción en Derechos Humanos). Die Reaktion der venezolanischen Regierung ließ nicht lange auf sich warten: Provea wurde zur LandesverräterIn abgestempelt. Hinzu kam, daß Provea Erfolg mit einer Klage gegen die venezolanische Regierung vor dem Interamerikanischen Gerichtshof hatte und ein Schuldeingeständnis der Regierung am El Amparo-Massaker sowie die Entschädigung der Angehörigen der Opfer erreichte. (1988 wurden bei einem Massaker in El Amparo an der kolumbianischen Grenze durch Spezialeinheiten der Armee 14 Bauern und Fischer hingerichtet. Die Öffentlichkeit erfuhr davon nur durch den Bericht zweier Überlebender; die Red.) Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch keine Einigung über die Höhe der Entschädigungssumme erzielt worden war, setzten venezolanische RegierungsvertreterInnen Gerüchte in Umlauf, Organisationen wie Provea nutzten internationale Gerichtsverfahren zum Ausbau ihrer finanziellen Kontakte und zur eigenen Bereicherung. Es wurde in der venezolanischen Presse darüber spekuliert, ob ein Teil der Entschädigungssumme für die Angehörigen der Opfer in die Tasche Proveas wandern werde und ob eine mögliche andere Dollarquelle nicht vielleicht sogar der Drogenhandel mit der kolumbianischen Guerilla sei. Derartige Verleumdungskampagnen gegen VertreterInnen von Provea und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen gehören heute in Venezuela zur Tagesordnung.
Die aggressive Haltung gegenüber MenschenrechtsaktivistInnen beschränkt sich nicht auf den Nichtregierungssektor. Internationale ExpertInnen der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (Comisión Interamericana de Derechos Humanos) mußten dies erfahren, als sie den Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) um die Entlassung der venezolanischen Kommissionsvorsitzenden baten, weil sie das Verantwortungsgefühl der Vorsitzenden und die Zusammenarbeit mit ihr als ausgesprochen schlecht beurteilten. Die venezolanische Regierung interpretierte dies als feindselige Strategie, ohne zu berücksichtigen, daß es in dem Fall um einen internationalen Posten ging, bei dem Kompetenz und nicht Nationalität zählt.
Die nationale Debatte über Menschenrechte wurde auch durch den Meinungsumschwung einiger Parlamentarier beeinflußt, die sich lange Zeit auf Regierungsebene als exponierte Verteidiger der Menschenrechtsidee verstanden wissen wollten. Sie sprachen sich beispielsweise dafür aus, die kolumbianische Guerilla wegen dem Tod der acht Armeeangehörigen bei dem Zusammenstoß von Cararabo beim Interamerikanischen Gerichtshof anzuzeigen. Dieser Meinungsumschwung reflektiert eine Haltung, die die Bedeutung internationaler Menschenrechtsstandards verneint und die staatliche Verantwortlichkeit für Menschenrechtsverletzungen relativiert.

Strukturanpassung mit “menschlichem Antlitz”

In der venezolanischen Gesellschaft ist die Debatte um die Durchführbarkeit eines Strukturanpassungsprogrammes eng verbunden mit der Problematik ökonomischer, sozialer und kultureller Menschenrechte. Im Wahlkampf 1993 auf Stimmenfang ging, versprach der heutige Präsident Rafael Caldera ein Programm des ökonomischen Ausgleichs, jenseits der bekannten Schocktherapie des Internationalen Währungsfonds. Von der einstigen Betonung sozial verträglicher Entwicklungsprogramme ist die Regierung Calderas inzwischen dazu übergangen, es vor allem den potentiellen Investoren in der Opposition recht zu machen, ohne die Linie der sozial verträglichen Wirtschaftsreform aufgeben zu wollen.
Seit der Präsentation des ersten Reformplanes (Plan Sosa I) von 1994 über die Venezuela-Agenda von 1995 nimmt der Druck von Seiten der Unternehmer und der internationalen Finanzinstitutionen kontinuierlich zu. Aus der ursprünglichen Distanz zu den “Rezepten” des Internationalen Währungsfonds, Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank wurde eine offensichtliche Annäherung. Die internationalen Finanzinstitutionen empfehlen eine kontinuierliche Steigerung der Brennstoffpreise sowie eine Freigabe der Wechselkurse, vor allem aber eine institutionelle und strukturelle Reform derjenigen Wirtschaftsbereiche, die nicht zur Ölindustrie gehören.
Der Einfluß solcher Empfehlungen offenbarte sich zuletzt vor den Kommunalwahlen im Dezember 1995. Angekündigt und inzwischen verwirklicht wurde die Einführung einer Mehrwertsteuer, die Förderung von Privatinvestitionen, die Integration strategischer Zusammenschlüsse in der Ölindustrie, die Erhöhung der Brennstoffpreise und die zehnprozentige Kürzung der öffentlichen Ausgaben.
Maßnahmen, die sich auf eine Strukturanpassung mit “menschlichem Antlitz” beziehen und in erster Linie der Unterstützung des Agrarsektors und der mittelständischen Unternehmen dienen würden, sind bis heute nicht in Angriff genommen worden. Von der Wirtschaftsreform im Stile Calderas profitieren nur größere Unternehmer und Financiers, während es der Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung eher schlechter als besser geht.
Nicht zuletzt ist ein großer Teil der internationalen Kredite, die für Sozialprogramme vorgesehen waren, nicht zum Tragen gekommen, weil Venezuela seinen Anteil an der Finanzierung solcher Projekte nicht erbrachte. Die Bereitstellung eigener Ressourcen ist jedoch Voraussetzung für die Auszahlung internationaler Kredite.
Unter diesen Umständen rückt die Regierung Caldera von der Verwirklichung des Anpassungsprogrammes mit “menschlichem Antlitz” jedesmal ein Stück weiter ab, wenn die internationalen Finanzinstitutionen sowie die venezolanischen Unternehmer und Finanziers ihre Forderungen erneuern oder ihren Druck erhöhen. Die wirtschaftliche Entwicklung genießt auf unabsehbare Zeit gegenüber der sozialen Gerechtigkeit Vorrang, und die Kompensationsprogramme sind weit davon entfernt, die Last der sozialen Folgekosten einer fehlgeleiteten Strukturanpassung aufzufangen. Die Masse der Menschen, die im heutigen Venezuela in Armut leben, erstreckt sich bereits auf achtzig Prozent der Gesamtbevölkerung.

Offener Brief an Menem

Die “Großmütter der Plaza de Mayo” suchen Kinder mit diesem Schicksal und verlangen nach einer Aufklärung dieser Fälle, die bis heute, 13 Jahre nach dem Ende der Diktatur, häufig noch im Dunkeln liegen.
Das Absenden des folgenden offenen Briefes der “Großmütter” an Staatsptäsident Menem soll ihre Arbeit unterstützen und einen Beitrag dazu leisten, die Kinder mit ihren Angehörigen zusammenzuführen und ihre wahre Geschichte kennenzulernen.

Sehr geehrter Herr Präsident:
20 Jahre sind vergangen, seit der Militärputsch die offene Verletzung der Menschenrechte des argentinischen Volkes institutionalisiert hat. Tausende von “Verschwundenen”, Ermordeten und politischen Gefangenen kennzeichneten diese Jahre des Terrors.
Hunderte von Kindern wurden systematisch entführt. Schon geborene Babys oder solche, die das Licht der Welt in Konzentrationslagern erblickten, wurden gewaltsam von ihren Eltern getrennt.
Diese Kinder sind die EnkelInnen, die von den “Großmüttern der Plaza de Mayo” gesucht werden. Sie werden “Verschwundene mit Leben” genannt. Sie sind ihren Entführern ausgeliefert, mittlerweile erwachsene Menschen, die immer noch des Rechtes beraubt sind, mit ihrer Geschichte und ihren Angehörigen zusammenzuwachsen und ihre wirkliche Identität zu kennen.
20 Jahre sind vergangen, und was hat der Rechtsstaat für sie getan?
Während die Exekutive ihre Entscheidung und den Willen, diese Kinder zu finden und zurückzugeben, öffentlich äußert, stellen die Entscheidungen der Legislative endlose Hindernisse dar, die letztendlich bewirken, daß die Täter Straffreiheit erhalten.
Wir bitten Sie, Herr Präsident, daß Ihre Regierung ihre ganze Kraft einsetzt, um das Unrecht, das den Unschuldigsten von allen, diesen Kinder, geschehen ist, wiedergutzumachen. Wir danken Ihnen für die notwendige Unterstützung der ehrenhaften Aufgabe der “Großmütter der Plaza de Mayo”.
Hochachtungsvoll

Excmo Sr. Carlos Menem
Presidente de la Nación
Casa Rosada
Capital Federal
Buenos Aires
República Argentina

Excelentísimo Señor Presidente:
Han pasado veinte años del golpe militar que instaló desde el Estado la más flagrante violación de los derechos fundamentales contra el pueblo argentino.

Miles de desaparecidos/as, asesinados/as y presos/as políticos/as marcaron esos años de terror.

Centenares de niños/as fueron secuestrados/as sistemáticamente. Bebés/as ya nacidos/as, o que vieron la luz en los campos de concentración, separados/as violentamente de sus padres.

Esos niños/as son los nietos/as que buscan las Abuelas de Plaza de Mayo. Son “desaparecidos/as con vida”, rehenes de sus captores, hoy adolescentes que siguen despojados/as de su derecho a crecer con su historia y su familia, a conocer su verdadera identidad.
Han pasado veinte años, y que ha hecho el Estado de Derecho por ellos/as?

Mientras el Poder Ejecutivo manifiesta públicamente su decisión y voluntad para encontrarlos/as y restituirlos/as, decisiones de la Justicia están poniendo obstáculos jurídicos indeterminables que tienen como consecuencia, la impunidad en las causas en las que se les reclama.

Le rogamos que su Gobierno ponga todo su empeño por que se haga Justicia para reparar a los/as más inocentes que son los/as niños/as. Agradeciendole su respaldo necesario a la labor tan admirable de las Abuelas de Plaza de Mayo, le saluda

atentamente

Die Suche nach den verschwundenen Kindern

Die Flugzeuge kamen kurz nach Son­nenaufgang. Zum Auftakt der später als “Mai-Massaker” in die blutige Geschichte des salvadorianischen Bürgerkrieges ein­gegangenen Militäroperation bombar­dierten Maschinen der Luftwaffe am Morgen des 28. Mai 1982 mehrere Dörfer im Norden der Provinz Chalatenango. Dut­zende BewohnerInnen starben schon bei diesen ersten Angriffen. Die übrigen – Campesinos und ihre Frauen, Alte, Kinder – packten schnell ein paar Habseligkeiten und verließen ihre brennenden Hütten.
Obwohl sie in Chalatenango eine ihrer Hochburgen hatte, war die Rebellenbewe­gung FMLN damals militärisch zu schwach, um die Bevölkerung wirksam zu schützen. Mehr als tausend Soldaten der Vierten Infanteriebrigade sowie der Elite-Bataillone “Atlacatl” und “Ramón Bel­loso” setzten den fliehenden Menschen über den Sumpul-Fluß nach und kesselten sie zwei Tage später auf einem Hügel nahe der Ortschaft Santa Anita ein. Sämt­liche Männer wurden ohne weitere Um­stände erschossen, die Frauen und Kinder in einem Bachbett zusam­mengetrieben. Über Funk forderten Offiziere einen Hub­schrauber an.
Unter den Eingeschlossenen befanden sich auch die damals 19jährige María Magdalena Ramos und ihr sechs Monate alter Sohn Héctor Aníbal. Die Frau erin­nert sich, wie die Soldaten begannen, die schreienden Kinder aus den Armen der Mütter zu reißen und in den wartenden Helikopter zu verfrachten. “Wir wurden mit Gewehrkolben gestoßen und geschla­gen. Mir drehte ein Uniformierter den Arm so fest auf den Rücken, daß er brach, und stieß mich mit einem Fußtritt zu Bo­den.”
Kinder für die Regierung
Trotzdem rappelte sich María Magda­lena Ramos noch einmal auf und rannte zum Hubschrauber, in dem Hector Aníbal und “mindestens fünf­zig” andere Mädchen und Jungen übereinander gestapelt lagen. “Eure Kinder werden zukünftig der Regie­rung gehören”, hatte ein Soldat gebrüllt und sie an­schließend mit dem Gewehr auf den Kopf geschlagen. Die Frau verlor das Bewußtsein. Als sie am nächsten Morgen aus ihrer Ohnmacht erwachte, waren die Truppen abgezogen. “Um mich he­rum”, sagt sie, “lagen hunderte von To­ten.” Mit den wenigen Überlebenden des Massakers floh María Magdalena Ramos nach Honduras, wo sie die nächsten Jahre eingesperrt in einem Flüchtlingslager ver­brachte. Erst 1988 kehrte sie nach El Sal­vador zurück.
Die Suche nach den verschwunden Kindern verlief zunächst ergebnis­los. Die Behörden hätten ihr und anderen Müttern jede Auskunft ver­weigert, Offiziere sie mehrfach aus den Kasernen gejagt, be­richtet Frau Ramos. Das zuständige Be­zirksgericht in Chalatenango-Stadt drohte mit einer Klage wegen Verleumdung. Erst die allmähliche poli­tische Öffnung in El Salvador seit Abschluß des Friedensab­kommens im Januar 1992 ermöglichte ge­nauere Nachforschungen.
“Den ersten Hinweis, daß Héctor Aní­bal Ramos und einige andere der während des ‘Mai-Massakers’ geraubten Kinder in salva­dorianischen SOS-Kinderdörfern le­ben, erhielten wir vom Roten Kreuz”, er­zählt der Jesuiten-Pater Jon Cortina. Ge­meinsam mit ande­ren Geistlichen und ei­nigen RechtsanwältInnen hat Cortina im vergangenen September die Organisation “Asociación Pro-Busqueda de los Niños Desaparecidos” gegründet, die den Eltern bei den Recherchen und Behördengängen behilflich ist. Mitarbeite­rinnen des Roten Kreuzes hätten sich er­innert, wie ihnen Militärs im Sommer 1982 mehrere Dut­zend Kinder übergaben. Sie seien von ih­ren Eltern verlassen und von den Soldaten in Guerilla-Lagern auf­gefunden wor­den, habe der kommandie­rende Offizier damals mitge­teilt. Das Rote Kreuz brachte die Jungen und Mädchen in den SOS-Kinder­dörfern in El Salvador unter.
Leiterin der vier salvadorianischen SOS-Horte ist María de García, die haupt­beruflich als Chefsekretärin in der Deut­schen Botschaft ar­beitet. Eine Bitte der Gruppe um Jon Cortina, den in einem SOS-Heim in der Stadt Santa Tecla unter dem Namen “Juan Carlos” lebenden mut­maßlichen Sohn von María Magdalena Ramos besuchen zu dürfen, lehnte die Leiterin der Kinderdörfer zunächst ab. “So weit wir wissen, wurde Juán Carlos im Alter von ungefähr einem Jahr zu uns ge­bracht”, teilte de García in einem Fax mit, um dann die Behauptungen des Militärs zu wiederholen: “Er befand sich damals in Begleitung von anderen Kindern, die alle in einem Guerilla-Lager von ihren Eltern verlassen worden waren.”
Mütter identifizieren ihre
Töchter und Söhne
Anfang Oktober veröffentlichte die “Asociación Pro-Búsqueda de los Niños Desaparecidos” in der größten Tageszei­tung des Landes, der “Prensa Gráfica”, eine Anzeige, in der nach dem Verbleib von achtzig namentlich genannten Kin­dern gefragt wurde, die das Militär allein in Chalatenango entführt hatte. Andere Medien wie der ehemalige FMLN-Unter­grundsender “Radio Farabundo Martí” griffen das Thema auf, und das SOS-Kin­derdorf stimmte daraufhin einer Gegen­überstellung der “Jugendlichen ungeklär­ter Herkunft” mit ihren wahrscheinlichen Eltern zu. Das von der UN-Beobachter­mission in El Salvador (ONUSAL) und Mitgliedern der sogenannten “Wahrheits-Kommission” – ein Zusammenschluß un­abhängiger Persönlichkeiten zur Untersu­chung von Kriegsverbrechen und Men­schenrechtsverletzungen während der achtziger Jahre – vermittelte Treffen fand drei Wochen später in der Gemeinde Guarjila in Chalatenango statt. Mehrere Mütter identifizierten dabei ihre Söhne und Töchter. Auch María Magdalena Ra­mos war sich ganz si­cher, in “Juan Carlos” ihr eigenes Kind wiedererkannt zu haben. Doch die Kinderdorf-Leitung glaubte der Mutter nicht. “Das war für mich fast ge­nauso schmerzhaft wie der Moment, als die Soldaten mir das Baby wegnahmen”, sagt Frau Ramos.
Durch Blut- und Genanalysen haben US-amerikanische Wissenschaftler jetzt die Identität des angeblichen Waisenkin­des fest­stellen können. Nach den Worten von Dr. Eric Stover, dem Leiter der in Bo­ston ansäs­sigen Organisation “Ärzte für Menschenrechte” (Physicians for Human Rights), besteht an dem Verwandt­schaftsverhältnis zwischen “Juan Carlos” und María Magdalena Ramos “überhaupt kein Zweifel”. Das kom­plizierte Verfah­ren, bei dem zen­trale Bausteine des Erbin­formationsträgers Desoxyribonukleinsäure (DNS) aus wei­ßen Blutkörperchen der untersuchten Per­sonen extrahiert und mit­einander vergli­chen werden, sei “zu 99,81 Prozent” si­cher und werde weltweit von Gerichten als Beweismittel anerkannt. Die Wissen­schaftler hatten die der Mutter und dem Sohn kurz vor Weihnachten ent­nommenen Blutproben in die USA ge­schickt. In ei­nem Laboratorium in Chi­cago wurden sie von dem Erbforscher Dr. Charles Strom ausgewer­tet.
Kinderhandel im Auftrag
der Regierung?
Doch längst nicht alle der im Krieg ge­waltsam entführten Kinder – Jon Cortina schätzt die Zahl insgesamt auf “weit über 200” – befin­den sich noch im Land. Der Pater will von “zahlreichen Fällen” wis­sen, in denen die Jugendlichen bei Adop­tiveltern in Europa wohnen. Allein in Frankreich seien es mehr als fünfzig. Ein Mitglied der “Asociación Pro-Busqueda de los Ninos” habe Ende vergangenen mehrere betroffene Jugendliche in der Nähe von Paris besucht. “Ihnen geht es gut, ihre Adoptiveltern lieben sie, aber sie haben ein Anrecht dar­auf, zu erfahren, wer ihre richtigen Eltern sind.” Andere im Kleinkindalter geraubte Mädchen und Jungen leben nach Cortinas Informationen in England und Italien.
Ungeklärt ist derzeit noch, ob das Mi­litär die Kinder seinerzeit auf eigene Rechnung entführte und später zu verkau­fen versuchte oder im Auftrag der Regie­rung handelte. Die Rechtsanwältin Mirna Perla Anaya will jedenfalls “nicht aus­schließen”, daß sich die salvadorianische Militärführung und Regierungsbehörden damals “bewußt und gezielt am Kinder­handel beteiligt und dabei viel Geld ver­dient haben.” Beweisen läßt sich das bis­lang allerdings nicht. Doch scheint zu­mindest si­cher, daß die zuständigen Mini­sterien für Inneres und Äußeres bei den damaligen Adoptionsverfahren Unterlagen manipuliert haben müs­sen. Einer Adop­tion, zumal durch ausländische Paare, ha­ben auch nach salvadorianischem Gesetz die leiblichen Eltern zuzustimmen. Eine solche Zustimmung hat es jedoch in kei­nem der betreffenden Fälle ge­geben. Des­halb, so Mirna Perla Anaya, “wurden die notwendigen Bescheinigungen entweder gefälscht, oder aber die Regierung hat wahrheitswidrig behauptet, daß die Väter und Mütter gar nicht mehr leben.”
Das vom ehemaligen Präsidenten Al­fredo Cristiani und der rechtsextremen Regierungspartei ARENA kurz nach Frie­densschluß durchgedrückte Amnestiege­setz, das vor allem Offiziere der Regie­rungsarmee und der Polizeieinheiten vor einer Strafverfolgung wegen Menschen­rechtsverletzungen schützt, gilt nicht für die Beteiligung an Entfüh­rungen. Frau Anaya ist deshalb zuver­sichtlich, daß der Kindesraub “irgendwann nicht nur aufge­klärt, son­dern auch straf­rechtlich geahndet wird.”
Um weitere Fälle dokumentieren zu können, erwartet die Rechtsanwältin von den SOS-Kinderdörfern in El Salvador mehr Entgegenkommen. Doch dazu be­steht wenig Bereitschaft. “Juan Carlos” wurde bis auf weiteres nur ein weiteres Treffen mit seiner “angeblichen” Mutter erlaubt. Man fühle sich, erklärte María de García, in dieser Angelegenheit von Me­dien und Men­schenrechtsgruppen “gewaltig unter Druck ge­setzt.” Dabei seien die SOS-Kinderdör­fer “eine unpoli­tische Einrichtung, die nur das Wohl der uns anvertrau­ten Kinder im Auge hat.”
Dabei wird von den betroffenen Müt­tern und Vätern gar nicht angezwei­felt, daß ihre Kinder in der Einrichtung den Umständen entsprechend gut ver­sorgt worden sind. “Man soll uns nur die Kon­taktaufnahme mit unseren Söhnen und Töchtern erlauben”, bittet María Magda­lena Ramos. “Ich verlange ja auch nicht, daß Héctor Aníbal für immer zu mir zu­rückkehrt. Ich möchte ihn nur ab und zu besuchen dürfen, vielleicht einmal im Monat. Wenn er das überhaupt will.”

…und wieder herrscht Krieg

4./5. Februar 1995:
Treffen von ca. 2500 VertreterInnen linksgerichteter Bewegungen zum “Dritten Nationalen Demokratischen Kon­vent” in Querétaro/ Mittelmexiko. Es wur­de der Beschluß gefaßt, die Or­ganisa­ti­onsstrukturen der PRD zu nutzen, um durch deren Parteibasis eine “Nationale Be­freiungsbe­wegung” zu bilden, die einer po­litischen Opposi­tionsbewegung gleich­kommt, aber nicht den Status einer Partei hat. Die Forderungen nach einer Über­gangsregierung und der Abschaffung der PRI als Staatspartei wurden nochmals be­kräftigt.
8. Februar:
Razzien der Polizei in Mexiko-Stadt und Veracruz. Dabei wurden zwei Waf­fenarsenale entdeckt, die laut offiziellen Angaben Granatwaffen, Maschinen­gewehre, Handgranaten und Sprengstoff beinhalteten, laut inoffiziellen nur fünfzehn Waffen verschie­denen Kalibers und zwei Pistolen.
Verhaftungen mehrerer vermeintlicher Guerilla-FührerInnen, darunter Subcom­mandante Elisa, welche das Geheimnis des Subkommandante Marcos und anderer FührerInnen preisgegeben hätte. Elisa er­klärte später, sie sei unter Drohungen ge­zwungen worden, ein vorgefertigtes Ge­ständnis zu unter­schreiben.
9. Februar:
Fernsehansprache Zedil­los, in der die Polizei angewiesen wurde, fünf führende Personen der EZLN festzunehmen, unter ihnen Marcos, dessen Name Rafael Seba­stian Guillén Vicente sein soll.
Beginnende Offensive des Militärs ge­gen die Za­patisten; in einem Kom­munique wiederholen die Zapatisten ihr Dialogan­gebot.
10. Februar:
Etwa 2500 Soldaten der mexikanischen Armee mar­schieren in die von Za­patisten kontrollierten Gebiete ein, unterstützt durch hunderte Mili­tärfahrzeuge und Luft­einheiten. Ungefähr zwölf Orte wer­den durch Pan­zereinheiten besetzt.
Die Zapatisten zogen sich erstmal in unzu­gängliches Gebiet zurück, hunderte von Indígenas flohen aus Angst vor den Regierungstruppen.
11. Februar:
Massendemonstrationen in Mexiko-Stadt. An der größten, auf dem Zócalo, nahmen über 100 000 Per­sonen teil. Unter der Pa­role: “Wir sind alle Mar­cos”, for­derten sie ein sofortiges Ende des Krie­ges, die Freilassung aller bisherigen Gefange­nen und eine friedliche Lösung des chia­panekischen Konfliktes.
Bisherige Opfer seien offiziell ein ge­töteter ranghoher Soldat und ein Offizier des Regie­rungsheeres.
12. Februar:
Nach Angaben der EZLN wurden zwei Dörfer, Mo­relia und Las Guarrachas von vier Kampfhub­schrau­bern bombardiert. Die mexikanischen Behörden bestritten dies, gaben aber trotzdem durch das In­nenministerium bekannt, daß alle wichti­gen Po­sitionen in Chiapas wie­dererobert seien. Mili­tärsprecher sprachen von schweren Gefechten und einigen Toten auf beiden Seiten.
Währenddessen fanden Gouverneurs- und Kommu­nalwahlen im Bundesstaat Jalisco statt, bei denen die konservative Partei der Nationalen Aktion (PAN) die meisten Stimmen verbuchen konnte.
13. Februar:
Subcommandante Marcos meldet sich zurück und bestreitet die Enttarnung sei­ner Person durch die Regierung. Er be­hauptet, nicht Rafael Sebastian Guillén Vicente zu sein.
Inzwischen sind Tausende von Indí­genas auf der Flucht: Nationale Men­schenrechtskommissionen klagen schwere Verstöße gegen die Menschenrechte von seiten der Militärs an, es ist von Folterun­gen, Vergewaltigungen und Erschießun­gen die Rede.
Die guatemaltekische Armee verstärkt ihre Truppen auf 8000 Soldaten an der Grenze zu Chiapas, um Flüchtlingen die Ein­reise zu versperren.
14. Februar:
Der chiapanekische Gou­verneur Eduardo Robledo tritt zurück, formal bat er den Kongress um zeitweilige “Freistel­lung”. Zur selben Zeit verkündet Präsident Zedillo vor Vertretern von Indí­gena-Organisationen, daß es keine weite­ren Offensiven gegen die za­patistischen Gebiete mehr geben würde, sondern das Militär nur noch mit Pa­trouillen gegen Gewalt­taten eingesetzt würde.
16. Februar:
Amnesty international veröffentlicht eine Er­klärung, in der der me­xikanischen Armee schwere Vorwürfe wegen Men­schen­rechtsverletzungen gemacht werden. Mehrere dutzend Menschen seien will­kür­lich verhaftet und ge­foltert worden, ei­nige wären vermißt.
19. Februar:
Die dritte Großkundge­bung in einer Woche findet diesmal vor dem National­palast in Mexiko-Stadt statt. Wieder neh­men mehr als 100 000 Menschen daran teil. Verhandlungslösungen und der Rück­zug der Bun­desarmee werden gefordert.
Während der vergangenen Tage befin­den sich immer mehr Menschen aus chia­panekischen Dörfern auf der Flucht (siehe aus­führlichen Artikel in dieser Ausgabe), die zu­rückgelassenen Dörfer gleichen Geisterorten.
Die Zapatisten fordern ebenfalls den Rückzug der Bundesarmee, als Grund­vor­aussetzung für den Dialog.

Tierra: Umwelt und Mitwelt indigener Völker

Auf der zweiten Weltkonferenz für Menschenrechte, die im Juni 1993 in Wien stattfand, wurden wichtige Ver­pflichtungen für die Vereinten Natio­nen vereinbart: eine Dekade für Indi­ge­ne Völ­ker zu starten und ein vor­aus­sichtlich permanentes Forum ein­zu­richten. Parallel dazu veranstaltete das öster­reichische La­teinamerika-In­stitut ein Symposium zu der Frage nach den Rech­ten indigener Völker, um einen Dialog zwischen Wissen­schaft­lerInnen, indi­genen VertreterIn­nen und Expert­Innen aus Entwick­lungsprojekten zu er­möglichen. In 14 Beiträgen dieses Bu­ches werden die Er­gebnisse dieses Treffens dargestellt.
Der Titel des Sammelbandes greift die zentrale Frage der internationalen Aus­einandersetzung um die Rechte der indi­genen Völker auf. “Tierra”: For­derung nach Land. Tierra, wird uns im Vor­wort erklärt, sei die “Lebens­grundlage eines je­den indiani­schen Vol­kes”, und entspre­chend sei die Forderung nach einer lega­len Basis für territoriale Ansprüche und politi­sche Auto­nomie eng mit der Ökolo­gie und den indigenen Land- und Nut­zungs­rechten verbunden.
Reale und formelle Politik
Seitdem die UNO 1982 die “Arbeitsgruppe für Indigene Völker” ein­setzte, gibt es formelle und regel­mäßige Kontakte mit VertreterInnen indigener Völker. Die Aufgabe dieser UN-Gruppe ist es, wie es im Beitrag von Julian Burger erklärt wird, “Entwicklungen, die die in­digenen Völ­ker beeinträchtigen, zu beob­achten und Standards für den Schutz ihrer Rechte auszuarbeiten”. Wie die Um­setz­ung dieser Standards auf interna­tionaler Ebene vorangeht, zeigt die Tat­sache, daß der Deklarationsentwurf der UN über die Rechte der indigenen Völ­ker, erst im Fe­bruar 1995, zwei Jahre nach seiner Verab­schiedung, von der Menschenrechtskom­mission der UN angenommen wird. Ob diese De­klaration auf die verschiedenen Re­gierungen einwirken wird bleibt noch abzuwarten.
Der tägliche Kampf der indigenen Völ­ker wird in den Beiträgen der Ex­pert­Innen aus Entwicklungsprojekten dar­gestellt. Berichte über Venezuela und Ecuador zeigen, wie die rechtliche Stellung ihrer Reservate den Indígenas keinen Schutz vor der Ausplünderung ihrer Boden­schätze seitens des Staates gibt. Durch die Militarisierung der Zone und die Zerstö­rung ihrer Le­bens­grundlage sind sie stark bedroht. Andere Beispiele dagegen zei­gen, wie in Guatemala und Brasilien sich die Indígenas gegen die Interessen des Staates wehren. In Guatemala erobern die Kekchí-Indianer die Region Petén mit Bauernsiedlungen, in denen ihre tradi­tionellen Strukturen und ihre Identität auf­rechterhalten werden. In Brasilien ist das Gebiet der Zuflüsse des oberen Rio Negro eine der weni­gen Regionen des Ama­zonasbeckens, in dem seit Jahrhunderten verschie­dene indianische Völker nahezu die ein­zigen ständigen BewohnerInnen sind. Wie die 19 Volksgruppen dieses Ge­biets zusammenleben und ihre kul­tu­relle Vielfalt aufrechterhalten, könnte ein Vor­bild für andere Gesellschaften werden…
Menschenrechte und Indianität
Ethnische Rechte der indigenen Völ­ker als speziell begründeter Anspruch inner­halb der Menschenrechte zu be­trachten, erfordert eine Definition der Indianität. Bei Rodolfo Stavenhagen wer­den die konzeptuellen Problem­fel­der, die dadurch entstehen, benannt: Individuelle und kol­lektive Rechte, ethnische Minderheiten und indigene Völ­ker auf der ganzen Welt. Als Ge­gengewicht steht der Beitrag von Leo Gabriel über die “Indianisierung” der Volksbewegungen in Lateinamerika. Er vertritt die These, daß durch die neu­en Transformationsprozesse in diesem Kon­tinent Begriffe wie Ethnie, Rasse und Klasse nicht mehr gültig sind. Als Folge der neoliberalen Wirt­schaftspolitik orga­nisiert sich die Zivil­gesellschaft in Volks­organisationen, um die Armut zu bekämp­fen. Darin ist die indianische Identität der gemeinsame Nen­ner, unter dem sich auch Mestizen und andere benachteiligte Grup­pen finden.
Natur als Mit- und Umwelt
Aus ökologischer Sicht zeigen die Be­richte der Experten über die indige­nen Auseinandersetzungen mit dem Staat eine alternative Lebensweise, in der die Natur als Mit- und Umwelt erlebt wird. Es ist beeindruckend zu er­fahren, wie in den zwei Vorträgen, die von Indianer-Vertre­tern in Wien gehalten wurden, der Kampf um die Um­welt gleichgesetzt wird mit dem Kampf um das eigene Leben. Dieses Natur­konzept ist Gegenstand der Menschen­rechtsdiskussion, weil es ein anderes Rechtsverständnis darstellt als das von Europa in die Kolonien über­tra­gene und heute international gültige. Eine Al­ternative zu diesem juristischen Problem wird von Wolfgang Dietrich analysiert, sowie im Beitrag von Otmar Höll, in dem die juristischen Hinder­nisse zu einer nachhaltigen Entwick­lung gezeigt werden.
Ob die Internationale Dekade der Indi­genen Völker, die im Dezember 1994 be­gonnen hat, dazu beitragen wird, die Lage der Indígenas zu ver­bessern, bleibt noch offen. Was der Sammelband zeigt, ist die Vielschich­tigkeit eines Problems, das durch den europäischen Kolonialismus vor 500 Jahren in den Trikont-Ländern in Gang gesetzt wurde.

Tierra: Indigene Völker, Umwelt und Recht./ Doris Cech u.a., Frankfurt a.M. 1994,. ISBN 3-86099-131-0 (Brandes und Apsel), 180S.,ca 28DM.-

Newsletter abonnieren