Offener Brief an Menem

Die “Großmütter der Plaza de Mayo” suchen Kinder mit diesem Schicksal und verlangen nach einer Aufklärung dieser Fälle, die bis heute, 13 Jahre nach dem Ende der Diktatur, häufig noch im Dunkeln liegen.
Das Absenden des folgenden offenen Briefes der “Großmütter” an Staatsptäsident Menem soll ihre Arbeit unterstützen und einen Beitrag dazu leisten, die Kinder mit ihren Angehörigen zusammenzuführen und ihre wahre Geschichte kennenzulernen.

Sehr geehrter Herr Präsident:
20 Jahre sind vergangen, seit der Militärputsch die offene Verletzung der Menschenrechte des argentinischen Volkes institutionalisiert hat. Tausende von “Verschwundenen”, Ermordeten und politischen Gefangenen kennzeichneten diese Jahre des Terrors.
Hunderte von Kindern wurden systematisch entführt. Schon geborene Babys oder solche, die das Licht der Welt in Konzentrationslagern erblickten, wurden gewaltsam von ihren Eltern getrennt.
Diese Kinder sind die EnkelInnen, die von den “Großmüttern der Plaza de Mayo” gesucht werden. Sie werden “Verschwundene mit Leben” genannt. Sie sind ihren Entführern ausgeliefert, mittlerweile erwachsene Menschen, die immer noch des Rechtes beraubt sind, mit ihrer Geschichte und ihren Angehörigen zusammenzuwachsen und ihre wirkliche Identität zu kennen.
20 Jahre sind vergangen, und was hat der Rechtsstaat für sie getan?
Während die Exekutive ihre Entscheidung und den Willen, diese Kinder zu finden und zurückzugeben, öffentlich äußert, stellen die Entscheidungen der Legislative endlose Hindernisse dar, die letztendlich bewirken, daß die Täter Straffreiheit erhalten.
Wir bitten Sie, Herr Präsident, daß Ihre Regierung ihre ganze Kraft einsetzt, um das Unrecht, das den Unschuldigsten von allen, diesen Kinder, geschehen ist, wiedergutzumachen. Wir danken Ihnen für die notwendige Unterstützung der ehrenhaften Aufgabe der “Großmütter der Plaza de Mayo”.
Hochachtungsvoll

Excmo Sr. Carlos Menem
Presidente de la Nación
Casa Rosada
Capital Federal
Buenos Aires
República Argentina

Excelentísimo Señor Presidente:
Han pasado veinte años del golpe militar que instaló desde el Estado la más flagrante violación de los derechos fundamentales contra el pueblo argentino.

Miles de desaparecidos/as, asesinados/as y presos/as políticos/as marcaron esos años de terror.

Centenares de niños/as fueron secuestrados/as sistemáticamente. Bebés/as ya nacidos/as, o que vieron la luz en los campos de concentración, separados/as violentamente de sus padres.

Esos niños/as son los nietos/as que buscan las Abuelas de Plaza de Mayo. Son “desaparecidos/as con vida”, rehenes de sus captores, hoy adolescentes que siguen despojados/as de su derecho a crecer con su historia y su familia, a conocer su verdadera identidad.
Han pasado veinte años, y que ha hecho el Estado de Derecho por ellos/as?

Mientras el Poder Ejecutivo manifiesta públicamente su decisión y voluntad para encontrarlos/as y restituirlos/as, decisiones de la Justicia están poniendo obstáculos jurídicos indeterminables que tienen como consecuencia, la impunidad en las causas en las que se les reclama.

Le rogamos que su Gobierno ponga todo su empeño por que se haga Justicia para reparar a los/as más inocentes que son los/as niños/as. Agradeciendole su respaldo necesario a la labor tan admirable de las Abuelas de Plaza de Mayo, le saluda

atentamente

Militarisierung der Gesellschaft

Seit 1995, aber vor allem seit Beginn diesen Jahres hat sich die Achtung der Menschenrechte auf verschiedene Weise verschlechtert. Dreierlei läßt sich unterscheiden. Zum einen wird versucht, die politischen, ökonomischen und kulturellen Menschenrechte den sogenannten “höheren” Interessen der Nation unterzuordnen. Zweitens polemisiert die Regierungsseite gegen die unabhängige Menschenrechtsarbeit. AktivistInnen werden verleumdet und diskreditiert. Zum dritten hat sich gezeigt, daß die venezolanische Regierung mit ihrer öffentlichkeitswirksamen Rhetorik, die Strukturanpassungsprogramme des IWF nur mit “menschlichem Antlitz” durchzusetzen, vor allem Schaumschlägerei betrieben hat und die soziale Abfederung der Strukturanpassung üblicherweise dem wirtschaftlichen Erfolg hintangestellt wird. Zusammen haben diese drei Tendenzen in den letzten Monaten zu einem gesellschaftlichen Klima beigetragen, indem die Verletzung von Menschenrechten auf breiter Basis geduldet wird.
Von den Menschenrechtsverletzungen, die 1995 verschiedene NGOs registriert haben, wurde ein großer Teil staatlich legitimiert, indem auf die Aufhebung konstitutioneller Rechte verwiesen wurde. Leitlinie für die Regierungspolitik bildet das Decreto No. 285 vom 22. Juli 1994, indem es heißt, daß “die Aufrechterhaltung des Friedens der Republik … essentielle Pflicht des Staates ist.” Der Erlaß diente zur Rechtfertigung der Suspendierung verfassungsmäßiger Garantien bis zum Juli 1995. In den konfliktbeladenen Grenzregionen zu Kolumbien herrscht der Ausnahmezustand jedoch weiterhin. Von staatlicher Seite wurde und wird davon ausgegangen, daß die venezolanischen BürgerInnen inzwischen an die zunehmenden Menschenrechtsverletzungen gewöhnt sind. Mit einem massiven Protest gegen ein Außerkraftsetzen verfassungsmäßiger Rechte wird deshalb nicht gerechnet.

Höhere und niedere Interessen

Der Schutz der Menschenrechte ist in den vergangenen Jahren von der Regierung zu einem sekundären politischen Ziel degradiert worden. Dabei fügen die “höheren”, “nationalen” Interessen der Bevölkerung eher Schaden zu, als daß sie ihr nützen.
Eines dieser “höheren” Interessen ist die nationale Souveränität. Nach einem Zusammenstoß zwischen kolumbianischen Guerillakämpfern und venezolanischen Marine-Streitkräften im Februar 1995, bei dem acht Soldaten ums Leben kamen, wurde an der Zivilbevölkerung Vergeltung geübt. In Cararabo, einem Ort nahe der kolumbianischen Grenze, wurden dreiundzwanzig Bauern verhaftet und gefoltert – unter dem Verdacht, daß sie die kolumbianische Guerilla unterstützen. Nach Auskunft der militärischen Befehlshaber der Zone handelte es sich um die legitime Verteidigung der nationalen Souveränität. Damit hatte es jedoch nicht sein Bewenden. Die gegen KolumbianerInnen gerichtete Fremdenfeindlichkeit und das permanente Mißtrauen gegenüber den in der Grenzregion lebenden VenezolanerInnen, gipfelte darin, daß hunderte Personen ausgewiesen wurden, und dies ohne vorherige Ankündigung und ohne Rücksicht auf die venezolanische Staatsbürgerschaft vieler Betroffener. Auch hier argumentierte mensch von offizieller Seite mit der Verteidigung der nationalen Souveränität, um die Aussetzung verfassungsmäßiger Rechte, zum Beispiel auf persönliche Freiheit, auf Freizügigkeit und die Unverletzlichkeit der Wohnung, zu begründen. Diese Rechte sind in den sechzehn Verwaltungseinheiten im Grenzgebiet für unbegrenzte Zeit aufgehoben. Nicht ohne Grund erscheint diese Politik großangelegter militärischer Operationen und der Restrukturierung militärischer Gerichtsbarkeit wie eine Neuauflage diktatorischer Willkür.
Die zunehmende Militarisierung der Grenzregionen wird begleitet von zahlreichen Meldungen über Menschenrechtsverletzungen an Zivilisten, die zumeist von Angehörigen irregulärer Einheiten der venezolanischen Streitkräfte begangen werden. Die militärische “Lösung” der vielfältigen Entwicklungsprobleme in den marginalisierten Grenzregionen Venezuelas ist bei deren EinwohnerInnen mehrere Male auf erbitterten Protest gestoßen. Der Bau von Militärbasen an Orten, wo nicht einmal die überlebensnotwendigen Grundbedürfnisse der Bevölkerung befriedigt werden, stößt zunehmend auf Unverständnis und Widerstand.
Die Gewährung “bürgerlicher Sicherheit” dient paradoxerweise als weiteres Argument, die Interessen der Nation den Interessen des einzelnen Bürgers vorzuziehen. Um der steigenden Gewaltkriminalität zu begegnen, wird in jüngster Zeit insbesondere das aus der Diktatur von Marcos Pérez Jiménez stammemde Gesetz von 1956 über “Landstreicher und Gauner” (Ley sobre vagos y maleantes; siehe LN 259) angewendet. Dieses Gesetz erlaubt eine willkürliche Verhaftung ohne festgelegte Haftzeit bei geringfügigen Delikten. Der Justizminister, der Innenminister und der Regierungschef des Zentraldistrikts (Caracas und Umgebung) äußerten Kritik an dem offensichtlich verfassungswidrigen Gesetz – was konsequent überhört wurde.
Natürlich begrenzt sich die platte Logik der Regierung unter dem Motto “Gewalt gegen Gewalt” nicht auf das eine Gesetz. Die Einführung der Todesstrafe, der Bau von Isolationshaftzentren und die Herabsetzung des straffähigen Alters sind in der Diskussion und besitzen für die politische Elite, aber auch für die Öffentlichkeit einige Attraktivität. In den Elendsvierteln von Caracas sind Selbstverteidigung und der Lynchmord an Kleinkriminellen durch die eigenen Nachbarn durchaus gängig. “Schnelle Justiz” wird das genannt.
Auch der Innenminister setzt im Regierungsplan über “integrierte Sicherheit” von Mitte 1995 auf die Repression als Lösung des Kriminalitätsproblems. Es ist symptomatisch, daß sich der Plan nicht mit den Wurzeln und der Vorbeugung von Gewaltkriminalität beschäftigt. Die heftige Kritik, die verschiedene Gruppen deswegen an dem Plan geäußert haben, ist ohne Einfluß geblieben.
Die Tendenz zur Militarisierung und die Anwendung massiver Gewalt hat nicht nur für die individuellen Rechte negative Folgen, sie greift auch in soziale und Arbeitskonflikte ein. Streiks, Landkonflikte und Konflikte mit kleinen Bergbauunternehmen werden immer öfter durch das Militär “befriedet”.
Die Regierung lehnte die Forderungen der venezolanischen ArbeiterInnen nach Lohnerhöhungen, Arbeitsplatzsicherheit und Gewerkschaftsfreiheit in den letzten Jahren mit dem Argument ab, daß das angesichts der komplizierten wirtschaftlichen Lage ungerechtfertigt und nicht durchsetzbar sei. Siehe oben: Grundrechte, die zur Essenz einer Demokratie gehören, werden ausgehebelt, betreffen sie nun das Individuum oder die Arbeitnehmerschaft eines Betriebes. Die Regierung entscheidet, wann die venezolanische Bevölkerung ihre in der Verfassung verankerten Rechte einfordern darf und wann nicht.

Diskreditierung von Menschenrechtsaktivisten

Die Kehrseite der unbekümmerten Repressionspolitik ist, daß die Regierung gegen alle diejenigen polemisiert, die sich dennoch für demokratische Grundrechte einsetzen. Die Tatsache, daß der Regierungschef des Zentraldistrikts, der Innenminister und der Justizminister in der Vergangenheit Posten als Richter des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes bekleideten, schien in den letzten Jahren zunächst eine positive Perspektive für die Zusammenarbeit zwischen NGOs und staatlichen Institutionen zu bieten. Dennoch schaffte es der Generalstaatsanwalt, zugleich Dekan der juristischen Fakultät der katholischen Universität, ein in Ansätzen vorhandenes Klima der Dialogbereitschaft und der Annäherung zwischen staatlichen Stellen und NGO-VertreterInnen zu zerstören. Er hat dazu beigetragen, daß sich in den Regierungsinstitutionen die Ansicht breitmachte, die VertreterInnen der Menschenrechtsorganisationen seien verantwortlich für Situationen, die den “öffentlichen Frieden” gefährden.
Manche Methoden, Menschenrechtsarbeit ins Leere laufen zu lassen, sind altbekannt, auch in Venezuela: Anzeigen werden formal nicht anerkannt – oder schlicht ignoriert. In letzter Zeit wurden nun neue Geschütze aufgefahren: Es werden Hetzkampagnen gegen VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen losgetreten. Dabei ist immer öfter die Beschuldigung zu hören, die AktivistInnen würden die kolumbianische Guerilla protegieren und überhaupt Landesverräter sein, die dem internationalen Ansehen Venezuelas schaden. Selbst die katholische Kirche blieb davon nicht verschont, als VertreterInnen des bischöflichen Menschenrechtsbüros in Puerto Ayacucho, der Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas, die Folterung von Zivilisten durch Angehörige des Militärs anzeigten. Im Venezuela von 1996 ist es gefährlicher denn je, Soldaten oder Polizisten für Folterungen und Tötungen anzuzeigen. Wer dies wagt, muß mit Rufmord rechnen – und mit der Straffreiheit der Verantwortlichen sowieso.
Eine weitere Form der Propaganda gegen die Menschenrechtsarbeit richtet sich gegen die Beobachtung und das Recherchieren von Polizeieinsätzen. Offizielle Stellen vertreten immer wieder die Meinung, daß diese Überwachungsarbeit kontraproduktiv auf die Verbrechensbekämpfung wirke. Ein Parlamentsabgeordneter der Partei Acción Democrática wiegelte die Kritik von Menschenrechtsorganisationen an den repressiven Polizeieinsätzen mit den folgenden Worten ab: “Der Staat kann nicht rücksichtsvoll vorgehen und warten, bis ein Verbrecher aus eigenem Willen entscheidet, ob er weiterhin Verbrechen begeht oder nicht…”
Die schwerwiegendste Konsequenz dieser Auffassung der venezolanischen Regierung ist die Hierarchisierung der Menschenrechte, derzufolge das Leben eines Verbrechers in den Augen einiger RegierungsvertreterInnen nichts zählt.
Auch die Arbeit in internationalen Menschenrechtsforen bleibt von der Mißbilligung der Regierung nicht verschont. Der Juristenkommission der Anden (Comisión Andina de Juristas) beispielsweise wurde vorgeworfen, sie schade dem Ansehen Venezuelas vor den Vereinten Nationen und stelle die Regierung Rafael Calderas in eine Reihe mit blutrünstigen Despoten.
Gerne vergleichen venezolanische Diplomaten die Menschenrechtssituation im Land mit der in anderen Staaten, um zu unterstreichen, daß Venezuela ihrer Meinung nach ein Rechtsstaat ist, in dem gefahrlos die Möglichkeit bestehe, Menschenrechtsverletzungen anzuzeigen. Dabei sind sie aber der Ansicht, daß heutzutage eigentlich gar nichts mehr anzuzeigen sei, denn schließlich sei unter der Diktatur alles viel, viel schlimmer gewesen, und davon hätten die heutigen KritikerInnen keine Ahnung. Sie seien jedenfalls nicht ernst zu nehmen.

Unangenehme Kritik

Daß an dieser Theorie etwas faul ist, bestätigte zu allerletzt ein Menschenrechtsbericht des US-State Department vom März 1996. Darin wird Venezuela in die Reihe der Staaten des amerikanischen Kontinents eingeordnet, in denen die schwersten Menschenrechtsverletzungen registriert wurden. Das Kapitel über Venezuela basiert auf offiziellen wie NGO-Quellen und beruft sich besonders auf Informationen der NGO Provea (Programa Venezolano de Educación – Acción en Derechos Humanos). Die Reaktion der venezolanischen Regierung ließ nicht lange auf sich warten: Provea wurde zur LandesverräterIn abgestempelt. Hinzu kam, daß Provea Erfolg mit einer Klage gegen die venezolanische Regierung vor dem Interamerikanischen Gerichtshof hatte und ein Schuldeingeständnis der Regierung am El Amparo-Massaker sowie die Entschädigung der Angehörigen der Opfer erreichte. (1988 wurden bei einem Massaker in El Amparo an der kolumbianischen Grenze durch Spezialeinheiten der Armee 14 Bauern und Fischer hingerichtet. Die Öffentlichkeit erfuhr davon nur durch den Bericht zweier Überlebender; die Red.) Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch keine Einigung über die Höhe der Entschädigungssumme erzielt worden war, setzten venezolanische RegierungsvertreterInnen Gerüchte in Umlauf, Organisationen wie Provea nutzten internationale Gerichtsverfahren zum Ausbau ihrer finanziellen Kontakte und zur eigenen Bereicherung. Es wurde in der venezolanischen Presse darüber spekuliert, ob ein Teil der Entschädigungssumme für die Angehörigen der Opfer in die Tasche Proveas wandern werde und ob eine mögliche andere Dollarquelle nicht vielleicht sogar der Drogenhandel mit der kolumbianischen Guerilla sei. Derartige Verleumdungskampagnen gegen VertreterInnen von Provea und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen gehören heute in Venezuela zur Tagesordnung.
Die aggressive Haltung gegenüber MenschenrechtsaktivistInnen beschränkt sich nicht auf den Nichtregierungssektor. Internationale ExpertInnen der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (Comisión Interamericana de Derechos Humanos) mußten dies erfahren, als sie den Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) um die Entlassung der venezolanischen Kommissionsvorsitzenden baten, weil sie das Verantwortungsgefühl der Vorsitzenden und die Zusammenarbeit mit ihr als ausgesprochen schlecht beurteilten. Die venezolanische Regierung interpretierte dies als feindselige Strategie, ohne zu berücksichtigen, daß es in dem Fall um einen internationalen Posten ging, bei dem Kompetenz und nicht Nationalität zählt.
Die nationale Debatte über Menschenrechte wurde auch durch den Meinungsumschwung einiger Parlamentarier beeinflußt, die sich lange Zeit auf Regierungsebene als exponierte Verteidiger der Menschenrechtsidee verstanden wissen wollten. Sie sprachen sich beispielsweise dafür aus, die kolumbianische Guerilla wegen dem Tod der acht Armeeangehörigen bei dem Zusammenstoß von Cararabo beim Interamerikanischen Gerichtshof anzuzeigen. Dieser Meinungsumschwung reflektiert eine Haltung, die die Bedeutung internationaler Menschenrechtsstandards verneint und die staatliche Verantwortlichkeit für Menschenrechtsverletzungen relativiert.

Strukturanpassung mit “menschlichem Antlitz”

In der venezolanischen Gesellschaft ist die Debatte um die Durchführbarkeit eines Strukturanpassungsprogrammes eng verbunden mit der Problematik ökonomischer, sozialer und kultureller Menschenrechte. Im Wahlkampf 1993 auf Stimmenfang ging, versprach der heutige Präsident Rafael Caldera ein Programm des ökonomischen Ausgleichs, jenseits der bekannten Schocktherapie des Internationalen Währungsfonds. Von der einstigen Betonung sozial verträglicher Entwicklungsprogramme ist die Regierung Calderas inzwischen dazu übergangen, es vor allem den potentiellen Investoren in der Opposition recht zu machen, ohne die Linie der sozial verträglichen Wirtschaftsreform aufgeben zu wollen.
Seit der Präsentation des ersten Reformplanes (Plan Sosa I) von 1994 über die Venezuela-Agenda von 1995 nimmt der Druck von Seiten der Unternehmer und der internationalen Finanzinstitutionen kontinuierlich zu. Aus der ursprünglichen Distanz zu den “Rezepten” des Internationalen Währungsfonds, Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank wurde eine offensichtliche Annäherung. Die internationalen Finanzinstitutionen empfehlen eine kontinuierliche Steigerung der Brennstoffpreise sowie eine Freigabe der Wechselkurse, vor allem aber eine institutionelle und strukturelle Reform derjenigen Wirtschaftsbereiche, die nicht zur Ölindustrie gehören.
Der Einfluß solcher Empfehlungen offenbarte sich zuletzt vor den Kommunalwahlen im Dezember 1995. Angekündigt und inzwischen verwirklicht wurde die Einführung einer Mehrwertsteuer, die Förderung von Privatinvestitionen, die Integration strategischer Zusammenschlüsse in der Ölindustrie, die Erhöhung der Brennstoffpreise und die zehnprozentige Kürzung der öffentlichen Ausgaben.
Maßnahmen, die sich auf eine Strukturanpassung mit “menschlichem Antlitz” beziehen und in erster Linie der Unterstützung des Agrarsektors und der mittelständischen Unternehmen dienen würden, sind bis heute nicht in Angriff genommen worden. Von der Wirtschaftsreform im Stile Calderas profitieren nur größere Unternehmer und Financiers, während es der Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung eher schlechter als besser geht.
Nicht zuletzt ist ein großer Teil der internationalen Kredite, die für Sozialprogramme vorgesehen waren, nicht zum Tragen gekommen, weil Venezuela seinen Anteil an der Finanzierung solcher Projekte nicht erbrachte. Die Bereitstellung eigener Ressourcen ist jedoch Voraussetzung für die Auszahlung internationaler Kredite.
Unter diesen Umständen rückt die Regierung Caldera von der Verwirklichung des Anpassungsprogrammes mit “menschlichem Antlitz” jedesmal ein Stück weiter ab, wenn die internationalen Finanzinstitutionen sowie die venezolanischen Unternehmer und Finanziers ihre Forderungen erneuern oder ihren Druck erhöhen. Die wirtschaftliche Entwicklung genießt auf unabsehbare Zeit gegenüber der sozialen Gerechtigkeit Vorrang, und die Kompensationsprogramme sind weit davon entfernt, die Last der sozialen Folgekosten einer fehlgeleiteten Strukturanpassung aufzufangen. Die Masse der Menschen, die im heutigen Venezuela in Armut leben, erstreckt sich bereits auf achtzig Prozent der Gesamtbevölkerung.

Die Suche nach den verschwundenen Kindern

Die Flugzeuge kamen kurz nach Son­nenaufgang. Zum Auftakt der später als “Mai-Massaker” in die blutige Geschichte des salvadorianischen Bürgerkrieges ein­gegangenen Militäroperation bombar­dierten Maschinen der Luftwaffe am Morgen des 28. Mai 1982 mehrere Dörfer im Norden der Provinz Chalatenango. Dut­zende BewohnerInnen starben schon bei diesen ersten Angriffen. Die übrigen – Campesinos und ihre Frauen, Alte, Kinder – packten schnell ein paar Habseligkeiten und verließen ihre brennenden Hütten.
Obwohl sie in Chalatenango eine ihrer Hochburgen hatte, war die Rebellenbewe­gung FMLN damals militärisch zu schwach, um die Bevölkerung wirksam zu schützen. Mehr als tausend Soldaten der Vierten Infanteriebrigade sowie der Elite-Bataillone “Atlacatl” und “Ramón Bel­loso” setzten den fliehenden Menschen über den Sumpul-Fluß nach und kesselten sie zwei Tage später auf einem Hügel nahe der Ortschaft Santa Anita ein. Sämt­liche Männer wurden ohne weitere Um­stände erschossen, die Frauen und Kinder in einem Bachbett zusam­mengetrieben. Über Funk forderten Offiziere einen Hub­schrauber an.
Unter den Eingeschlossenen befanden sich auch die damals 19jährige María Magdalena Ramos und ihr sechs Monate alter Sohn Héctor Aníbal. Die Frau erin­nert sich, wie die Soldaten begannen, die schreienden Kinder aus den Armen der Mütter zu reißen und in den wartenden Helikopter zu verfrachten. “Wir wurden mit Gewehrkolben gestoßen und geschla­gen. Mir drehte ein Uniformierter den Arm so fest auf den Rücken, daß er brach, und stieß mich mit einem Fußtritt zu Bo­den.”
Kinder für die Regierung
Trotzdem rappelte sich María Magda­lena Ramos noch einmal auf und rannte zum Hubschrauber, in dem Hector Aníbal und “mindestens fünf­zig” andere Mädchen und Jungen übereinander gestapelt lagen. “Eure Kinder werden zukünftig der Regie­rung gehören”, hatte ein Soldat gebrüllt und sie an­schließend mit dem Gewehr auf den Kopf geschlagen. Die Frau verlor das Bewußtsein. Als sie am nächsten Morgen aus ihrer Ohnmacht erwachte, waren die Truppen abgezogen. “Um mich he­rum”, sagt sie, “lagen hunderte von To­ten.” Mit den wenigen Überlebenden des Massakers floh María Magdalena Ramos nach Honduras, wo sie die nächsten Jahre eingesperrt in einem Flüchtlingslager ver­brachte. Erst 1988 kehrte sie nach El Sal­vador zurück.
Die Suche nach den verschwunden Kindern verlief zunächst ergebnis­los. Die Behörden hätten ihr und anderen Müttern jede Auskunft ver­weigert, Offiziere sie mehrfach aus den Kasernen gejagt, be­richtet Frau Ramos. Das zuständige Be­zirksgericht in Chalatenango-Stadt drohte mit einer Klage wegen Verleumdung. Erst die allmähliche poli­tische Öffnung in El Salvador seit Abschluß des Friedensab­kommens im Januar 1992 ermöglichte ge­nauere Nachforschungen.
“Den ersten Hinweis, daß Héctor Aní­bal Ramos und einige andere der während des ‘Mai-Massakers’ geraubten Kinder in salva­dorianischen SOS-Kinderdörfern le­ben, erhielten wir vom Roten Kreuz”, er­zählt der Jesuiten-Pater Jon Cortina. Ge­meinsam mit ande­ren Geistlichen und ei­nigen RechtsanwältInnen hat Cortina im vergangenen September die Organisation “Asociación Pro-Busqueda de los Niños Desaparecidos” gegründet, die den Eltern bei den Recherchen und Behördengängen behilflich ist. Mitarbeite­rinnen des Roten Kreuzes hätten sich er­innert, wie ihnen Militärs im Sommer 1982 mehrere Dut­zend Kinder übergaben. Sie seien von ih­ren Eltern verlassen und von den Soldaten in Guerilla-Lagern auf­gefunden wor­den, habe der kommandie­rende Offizier damals mitge­teilt. Das Rote Kreuz brachte die Jungen und Mädchen in den SOS-Kinder­dörfern in El Salvador unter.
Leiterin der vier salvadorianischen SOS-Horte ist María de García, die haupt­beruflich als Chefsekretärin in der Deut­schen Botschaft ar­beitet. Eine Bitte der Gruppe um Jon Cortina, den in einem SOS-Heim in der Stadt Santa Tecla unter dem Namen “Juan Carlos” lebenden mut­maßlichen Sohn von María Magdalena Ramos besuchen zu dürfen, lehnte die Leiterin der Kinderdörfer zunächst ab. “So weit wir wissen, wurde Juán Carlos im Alter von ungefähr einem Jahr zu uns ge­bracht”, teilte de García in einem Fax mit, um dann die Behauptungen des Militärs zu wiederholen: “Er befand sich damals in Begleitung von anderen Kindern, die alle in einem Guerilla-Lager von ihren Eltern verlassen worden waren.”
Mütter identifizieren ihre
Töchter und Söhne
Anfang Oktober veröffentlichte die “Asociación Pro-Búsqueda de los Niños Desaparecidos” in der größten Tageszei­tung des Landes, der “Prensa Gráfica”, eine Anzeige, in der nach dem Verbleib von achtzig namentlich genannten Kin­dern gefragt wurde, die das Militär allein in Chalatenango entführt hatte. Andere Medien wie der ehemalige FMLN-Unter­grundsender “Radio Farabundo Martí” griffen das Thema auf, und das SOS-Kin­derdorf stimmte daraufhin einer Gegen­überstellung der “Jugendlichen ungeklär­ter Herkunft” mit ihren wahrscheinlichen Eltern zu. Das von der UN-Beobachter­mission in El Salvador (ONUSAL) und Mitgliedern der sogenannten “Wahrheits-Kommission” – ein Zusammenschluß un­abhängiger Persönlichkeiten zur Untersu­chung von Kriegsverbrechen und Men­schenrechtsverletzungen während der achtziger Jahre – vermittelte Treffen fand drei Wochen später in der Gemeinde Guarjila in Chalatenango statt. Mehrere Mütter identifizierten dabei ihre Söhne und Töchter. Auch María Magdalena Ra­mos war sich ganz si­cher, in “Juan Carlos” ihr eigenes Kind wiedererkannt zu haben. Doch die Kinderdorf-Leitung glaubte der Mutter nicht. “Das war für mich fast ge­nauso schmerzhaft wie der Moment, als die Soldaten mir das Baby wegnahmen”, sagt Frau Ramos.
Durch Blut- und Genanalysen haben US-amerikanische Wissenschaftler jetzt die Identität des angeblichen Waisenkin­des fest­stellen können. Nach den Worten von Dr. Eric Stover, dem Leiter der in Bo­ston ansäs­sigen Organisation “Ärzte für Menschenrechte” (Physicians for Human Rights), besteht an dem Verwandt­schaftsverhältnis zwischen “Juan Carlos” und María Magdalena Ramos “überhaupt kein Zweifel”. Das kom­plizierte Verfah­ren, bei dem zen­trale Bausteine des Erbin­formationsträgers Desoxyribonukleinsäure (DNS) aus wei­ßen Blutkörperchen der untersuchten Per­sonen extrahiert und mit­einander vergli­chen werden, sei “zu 99,81 Prozent” si­cher und werde weltweit von Gerichten als Beweismittel anerkannt. Die Wissen­schaftler hatten die der Mutter und dem Sohn kurz vor Weihnachten ent­nommenen Blutproben in die USA ge­schickt. In ei­nem Laboratorium in Chi­cago wurden sie von dem Erbforscher Dr. Charles Strom ausgewer­tet.
Kinderhandel im Auftrag
der Regierung?
Doch längst nicht alle der im Krieg ge­waltsam entführten Kinder – Jon Cortina schätzt die Zahl insgesamt auf “weit über 200” – befin­den sich noch im Land. Der Pater will von “zahlreichen Fällen” wis­sen, in denen die Jugendlichen bei Adop­tiveltern in Europa wohnen. Allein in Frankreich seien es mehr als fünfzig. Ein Mitglied der “Asociación Pro-Busqueda de los Ninos” habe Ende vergangenen mehrere betroffene Jugendliche in der Nähe von Paris besucht. “Ihnen geht es gut, ihre Adoptiveltern lieben sie, aber sie haben ein Anrecht dar­auf, zu erfahren, wer ihre richtigen Eltern sind.” Andere im Kleinkindalter geraubte Mädchen und Jungen leben nach Cortinas Informationen in England und Italien.
Ungeklärt ist derzeit noch, ob das Mi­litär die Kinder seinerzeit auf eigene Rechnung entführte und später zu verkau­fen versuchte oder im Auftrag der Regie­rung handelte. Die Rechtsanwältin Mirna Perla Anaya will jedenfalls “nicht aus­schließen”, daß sich die salvadorianische Militärführung und Regierungsbehörden damals “bewußt und gezielt am Kinder­handel beteiligt und dabei viel Geld ver­dient haben.” Beweisen läßt sich das bis­lang allerdings nicht. Doch scheint zu­mindest si­cher, daß die zuständigen Mini­sterien für Inneres und Äußeres bei den damaligen Adoptionsverfahren Unterlagen manipuliert haben müs­sen. Einer Adop­tion, zumal durch ausländische Paare, ha­ben auch nach salvadorianischem Gesetz die leiblichen Eltern zuzustimmen. Eine solche Zustimmung hat es jedoch in kei­nem der betreffenden Fälle ge­geben. Des­halb, so Mirna Perla Anaya, “wurden die notwendigen Bescheinigungen entweder gefälscht, oder aber die Regierung hat wahrheitswidrig behauptet, daß die Väter und Mütter gar nicht mehr leben.”
Das vom ehemaligen Präsidenten Al­fredo Cristiani und der rechtsextremen Regierungspartei ARENA kurz nach Frie­densschluß durchgedrückte Amnestiege­setz, das vor allem Offiziere der Regie­rungsarmee und der Polizeieinheiten vor einer Strafverfolgung wegen Menschen­rechtsverletzungen schützt, gilt nicht für die Beteiligung an Entfüh­rungen. Frau Anaya ist deshalb zuver­sichtlich, daß der Kindesraub “irgendwann nicht nur aufge­klärt, son­dern auch straf­rechtlich geahndet wird.”
Um weitere Fälle dokumentieren zu können, erwartet die Rechtsanwältin von den SOS-Kinderdörfern in El Salvador mehr Entgegenkommen. Doch dazu be­steht wenig Bereitschaft. “Juan Carlos” wurde bis auf weiteres nur ein weiteres Treffen mit seiner “angeblichen” Mutter erlaubt. Man fühle sich, erklärte María de García, in dieser Angelegenheit von Me­dien und Men­schenrechtsgruppen “gewaltig unter Druck ge­setzt.” Dabei seien die SOS-Kinderdör­fer “eine unpoli­tische Einrichtung, die nur das Wohl der uns anvertrau­ten Kinder im Auge hat.”
Dabei wird von den betroffenen Müt­tern und Vätern gar nicht angezwei­felt, daß ihre Kinder in der Einrichtung den Umständen entsprechend gut ver­sorgt worden sind. “Man soll uns nur die Kon­taktaufnahme mit unseren Söhnen und Töchtern erlauben”, bittet María Magda­lena Ramos. “Ich verlange ja auch nicht, daß Héctor Aníbal für immer zu mir zu­rückkehrt. Ich möchte ihn nur ab und zu besuchen dürfen, vielleicht einmal im Monat. Wenn er das überhaupt will.”

…und wieder herrscht Krieg

4./5. Februar 1995:
Treffen von ca. 2500 VertreterInnen linksgerichteter Bewegungen zum “Dritten Nationalen Demokratischen Kon­vent” in Querétaro/ Mittelmexiko. Es wur­de der Beschluß gefaßt, die Or­ganisa­ti­onsstrukturen der PRD zu nutzen, um durch deren Parteibasis eine “Nationale Be­freiungsbe­wegung” zu bilden, die einer po­litischen Opposi­tionsbewegung gleich­kommt, aber nicht den Status einer Partei hat. Die Forderungen nach einer Über­gangsregierung und der Abschaffung der PRI als Staatspartei wurden nochmals be­kräftigt.
8. Februar:
Razzien der Polizei in Mexiko-Stadt und Veracruz. Dabei wurden zwei Waf­fenarsenale entdeckt, die laut offiziellen Angaben Granatwaffen, Maschinen­gewehre, Handgranaten und Sprengstoff beinhalteten, laut inoffiziellen nur fünfzehn Waffen verschie­denen Kalibers und zwei Pistolen.
Verhaftungen mehrerer vermeintlicher Guerilla-FührerInnen, darunter Subcom­mandante Elisa, welche das Geheimnis des Subkommandante Marcos und anderer FührerInnen preisgegeben hätte. Elisa er­klärte später, sie sei unter Drohungen ge­zwungen worden, ein vorgefertigtes Ge­ständnis zu unter­schreiben.
9. Februar:
Fernsehansprache Zedil­los, in der die Polizei angewiesen wurde, fünf führende Personen der EZLN festzunehmen, unter ihnen Marcos, dessen Name Rafael Seba­stian Guillén Vicente sein soll.
Beginnende Offensive des Militärs ge­gen die Za­patisten; in einem Kom­munique wiederholen die Zapatisten ihr Dialogan­gebot.
10. Februar:
Etwa 2500 Soldaten der mexikanischen Armee mar­schieren in die von Za­patisten kontrollierten Gebiete ein, unterstützt durch hunderte Mili­tärfahrzeuge und Luft­einheiten. Ungefähr zwölf Orte wer­den durch Pan­zereinheiten besetzt.
Die Zapatisten zogen sich erstmal in unzu­gängliches Gebiet zurück, hunderte von Indígenas flohen aus Angst vor den Regierungstruppen.
11. Februar:
Massendemonstrationen in Mexiko-Stadt. An der größten, auf dem Zócalo, nahmen über 100 000 Per­sonen teil. Unter der Pa­role: “Wir sind alle Mar­cos”, for­derten sie ein sofortiges Ende des Krie­ges, die Freilassung aller bisherigen Gefange­nen und eine friedliche Lösung des chia­panekischen Konfliktes.
Bisherige Opfer seien offiziell ein ge­töteter ranghoher Soldat und ein Offizier des Regie­rungsheeres.
12. Februar:
Nach Angaben der EZLN wurden zwei Dörfer, Mo­relia und Las Guarrachas von vier Kampfhub­schrau­bern bombardiert. Die mexikanischen Behörden bestritten dies, gaben aber trotzdem durch das In­nenministerium bekannt, daß alle wichti­gen Po­sitionen in Chiapas wie­dererobert seien. Mili­tärsprecher sprachen von schweren Gefechten und einigen Toten auf beiden Seiten.
Währenddessen fanden Gouverneurs- und Kommu­nalwahlen im Bundesstaat Jalisco statt, bei denen die konservative Partei der Nationalen Aktion (PAN) die meisten Stimmen verbuchen konnte.
13. Februar:
Subcommandante Marcos meldet sich zurück und bestreitet die Enttarnung sei­ner Person durch die Regierung. Er be­hauptet, nicht Rafael Sebastian Guillén Vicente zu sein.
Inzwischen sind Tausende von Indí­genas auf der Flucht: Nationale Men­schenrechtskommissionen klagen schwere Verstöße gegen die Menschenrechte von seiten der Militärs an, es ist von Folterun­gen, Vergewaltigungen und Erschießun­gen die Rede.
Die guatemaltekische Armee verstärkt ihre Truppen auf 8000 Soldaten an der Grenze zu Chiapas, um Flüchtlingen die Ein­reise zu versperren.
14. Februar:
Der chiapanekische Gou­verneur Eduardo Robledo tritt zurück, formal bat er den Kongress um zeitweilige “Freistel­lung”. Zur selben Zeit verkündet Präsident Zedillo vor Vertretern von Indí­gena-Organisationen, daß es keine weite­ren Offensiven gegen die za­patistischen Gebiete mehr geben würde, sondern das Militär nur noch mit Pa­trouillen gegen Gewalt­taten eingesetzt würde.
16. Februar:
Amnesty international veröffentlicht eine Er­klärung, in der der me­xikanischen Armee schwere Vorwürfe wegen Men­schen­rechtsverletzungen gemacht werden. Mehrere dutzend Menschen seien will­kür­lich verhaftet und ge­foltert worden, ei­nige wären vermißt.
19. Februar:
Die dritte Großkundge­bung in einer Woche findet diesmal vor dem National­palast in Mexiko-Stadt statt. Wieder neh­men mehr als 100 000 Menschen daran teil. Verhandlungslösungen und der Rück­zug der Bun­desarmee werden gefordert.
Während der vergangenen Tage befin­den sich immer mehr Menschen aus chia­panekischen Dörfern auf der Flucht (siehe aus­führlichen Artikel in dieser Ausgabe), die zu­rückgelassenen Dörfer gleichen Geisterorten.
Die Zapatisten fordern ebenfalls den Rückzug der Bundesarmee, als Grund­vor­aussetzung für den Dialog.

Tierra: Umwelt und Mitwelt indigener Völker

Auf der zweiten Weltkonferenz für Menschenrechte, die im Juni 1993 in Wien stattfand, wurden wichtige Ver­pflichtungen für die Vereinten Natio­nen vereinbart: eine Dekade für Indi­ge­ne Völ­ker zu starten und ein vor­aus­sichtlich permanentes Forum ein­zu­richten. Parallel dazu veranstaltete das öster­reichische La­teinamerika-In­stitut ein Symposium zu der Frage nach den Rech­ten indigener Völker, um einen Dialog zwischen Wissen­schaft­lerInnen, indi­genen VertreterIn­nen und Expert­Innen aus Entwick­lungsprojekten zu er­möglichen. In 14 Beiträgen dieses Bu­ches werden die Er­gebnisse dieses Treffens dargestellt.
Der Titel des Sammelbandes greift die zentrale Frage der internationalen Aus­einandersetzung um die Rechte der indi­genen Völker auf. “Tierra”: For­derung nach Land. Tierra, wird uns im Vor­wort erklärt, sei die “Lebens­grundlage eines je­den indiani­schen Vol­kes”, und entspre­chend sei die Forderung nach einer lega­len Basis für territoriale Ansprüche und politi­sche Auto­nomie eng mit der Ökolo­gie und den indigenen Land- und Nut­zungs­rechten verbunden.
Reale und formelle Politik
Seitdem die UNO 1982 die “Arbeitsgruppe für Indigene Völker” ein­setzte, gibt es formelle und regel­mäßige Kontakte mit VertreterInnen indigener Völker. Die Aufgabe dieser UN-Gruppe ist es, wie es im Beitrag von Julian Burger erklärt wird, “Entwicklungen, die die in­digenen Völ­ker beeinträchtigen, zu beob­achten und Standards für den Schutz ihrer Rechte auszuarbeiten”. Wie die Um­setz­ung dieser Standards auf interna­tionaler Ebene vorangeht, zeigt die Tat­sache, daß der Deklarationsentwurf der UN über die Rechte der indigenen Völ­ker, erst im Fe­bruar 1995, zwei Jahre nach seiner Verab­schiedung, von der Menschenrechtskom­mission der UN angenommen wird. Ob diese De­klaration auf die verschiedenen Re­gierungen einwirken wird bleibt noch abzuwarten.
Der tägliche Kampf der indigenen Völ­ker wird in den Beiträgen der Ex­pert­Innen aus Entwicklungsprojekten dar­gestellt. Berichte über Venezuela und Ecuador zeigen, wie die rechtliche Stellung ihrer Reservate den Indígenas keinen Schutz vor der Ausplünderung ihrer Boden­schätze seitens des Staates gibt. Durch die Militarisierung der Zone und die Zerstö­rung ihrer Le­bens­grundlage sind sie stark bedroht. Andere Beispiele dagegen zei­gen, wie in Guatemala und Brasilien sich die Indígenas gegen die Interessen des Staates wehren. In Guatemala erobern die Kekchí-Indianer die Region Petén mit Bauernsiedlungen, in denen ihre tradi­tionellen Strukturen und ihre Identität auf­rechterhalten werden. In Brasilien ist das Gebiet der Zuflüsse des oberen Rio Negro eine der weni­gen Regionen des Ama­zonasbeckens, in dem seit Jahrhunderten verschie­dene indianische Völker nahezu die ein­zigen ständigen BewohnerInnen sind. Wie die 19 Volksgruppen dieses Ge­biets zusammenleben und ihre kul­tu­relle Vielfalt aufrechterhalten, könnte ein Vor­bild für andere Gesellschaften werden…
Menschenrechte und Indianität
Ethnische Rechte der indigenen Völ­ker als speziell begründeter Anspruch inner­halb der Menschenrechte zu be­trachten, erfordert eine Definition der Indianität. Bei Rodolfo Stavenhagen wer­den die konzeptuellen Problem­fel­der, die dadurch entstehen, benannt: Individuelle und kol­lektive Rechte, ethnische Minderheiten und indigene Völ­ker auf der ganzen Welt. Als Ge­gengewicht steht der Beitrag von Leo Gabriel über die “Indianisierung” der Volksbewegungen in Lateinamerika. Er vertritt die These, daß durch die neu­en Transformationsprozesse in diesem Kon­tinent Begriffe wie Ethnie, Rasse und Klasse nicht mehr gültig sind. Als Folge der neoliberalen Wirt­schaftspolitik orga­nisiert sich die Zivil­gesellschaft in Volks­organisationen, um die Armut zu bekämp­fen. Darin ist die indianische Identität der gemeinsame Nen­ner, unter dem sich auch Mestizen und andere benachteiligte Grup­pen finden.
Natur als Mit- und Umwelt
Aus ökologischer Sicht zeigen die Be­richte der Experten über die indige­nen Auseinandersetzungen mit dem Staat eine alternative Lebensweise, in der die Natur als Mit- und Umwelt erlebt wird. Es ist beeindruckend zu er­fahren, wie in den zwei Vorträgen, die von Indianer-Vertre­tern in Wien gehalten wurden, der Kampf um die Um­welt gleichgesetzt wird mit dem Kampf um das eigene Leben. Dieses Natur­konzept ist Gegenstand der Menschen­rechtsdiskussion, weil es ein anderes Rechtsverständnis darstellt als das von Europa in die Kolonien über­tra­gene und heute international gültige. Eine Al­ternative zu diesem juristischen Problem wird von Wolfgang Dietrich analysiert, sowie im Beitrag von Otmar Höll, in dem die juristischen Hinder­nisse zu einer nachhaltigen Entwick­lung gezeigt werden.
Ob die Internationale Dekade der Indi­genen Völker, die im Dezember 1994 be­gonnen hat, dazu beitragen wird, die Lage der Indígenas zu ver­bessern, bleibt noch offen. Was der Sammelband zeigt, ist die Vielschich­tigkeit eines Problems, das durch den europäischen Kolonialismus vor 500 Jahren in den Trikont-Ländern in Gang gesetzt wurde.

Tierra: Indigene Völker, Umwelt und Recht./ Doris Cech u.a., Frankfurt a.M. 1994,. ISBN 3-86099-131-0 (Brandes und Apsel), 180S.,ca 28DM.-

“Wir fordern einen neuen Raum für Partizipation”

LN: Was ist deine Aufgabe bei CONPAZ?
Gerardo González Figueroa: Ich bin Mit­glied der Koordinierungskommission und Repräsentant der Vermittlungskommis­sion von CONPAZ. Die Organisation CONPAZ nimmt an der Koordination der Demokratischen Versammlung des Bun­desstaates Chiapas teil. Im Moment befin­det sich CONPAZ in einem Arbeitsprozeß mit zwei Ausrichtungen: Einerseits die alltägliche Arbeit der Unterstützung der Gemeinden, vor allem in der Konflikt­zone. Hier unterstützen wir Gesundheits-, Produktions- und Ausbildungsprojekte. Außerdem kümmern wir uns um die Ein­haltung der Menschenrechte und ganz be­sonders um die Ernährung der Menschen dort. Andererseits nimmt ein Teil von uns an den unabhängigen Aktivitäten der De­mokratischen Versammlung teil, die sich heute in einem Prozeß des Widerstandes befindet.
Cárdenas sagte nach den Wahlen, der Weg über Wahlen sei nicht länger gang­bar. Bedeutet das, daß das mexikanische System nicht reformiert werden kann?
Hier ist festzuhalten, daß Cárdenas die PRD repräsentiert, die zu den politischen Kräften zählt, die sich in Mexiko artiku­lieren. Die hegemoniale Macht ist die Staatspartei PRI. Andere Kräfte, die sich heute neben der EZLN im Land Gehör ver­schaffen, sind die verschiedenen sozialen Bewegungen, die einen Teil der mexikani­schen Bevölkerung repäsentie­ren, der die Strategie, über Wahlen eine Wende zu er­reichen, mit Mißtrauen beob­achtet, aller­dings ohne der Strategie des bewaffneten Kampfes anzuhängen. Zu­sätzlich existie­ren – vor allem seit dem 1. Januar – kleinere Kräfte, die auf der politi­schen Bühne des nationalen Lebens kein Gewicht haben, die die Option des be­waffneten Kampfes vorschlagen. In diesem letztgenannten Sektor gibt es zwei Strömungen: Eine, die der EZLN nahe­steht und das militärische Kommando von Subcomandante Marcos akzeptiert und generell die politisch-mili­tärische Führung der ZapatistInnen aner­kennt. In diesem Sinne können wir von einer EZLN auf nationaler Ebene spre­chen. Aber es meldet sich auch eine an­dere Kraft zu Wort, die die Position ver­tritt, die Bewegung, inklu­sive der EZLN, sei reformistisch, habe schon gegeben, was sie geben könne und als nächsten Schritt sei es notwendig, den von ihnen so bezeichneten langanhalten­den Volkskrieg zu beginnen. Glückli­cherweise hat diese Strömung keinen signifikanten Einfluß.
Vor einer Woche wurde das Treffen der CND beendet. Dort wurde gefordert, Er­nesto Zedillo solle das Präsidentenamt nicht antreten. Wie soll das erreicht werden?
Zedillo wurde bereits vom mexikanischen Kongreß und von der Abgeordnetenkam­mer, die den Wahlausschluß bestimmt, er­nannt. In diesem Sinne ist es praktisch unmöglich, Zedillo loszuwerden.
Wegen der Charakteristik der Wahl den­ken wir aber, daß es auch nicht möglich ist zu sagen, Cárdenas oder Cevallos von der PAN hätten gewonnen. In Mexiko finden keine demokratischen Wahlen statt. Deshalb will die CND ein Kampfpro­gramm, und das bedeutet: Erstens ist die Staatspartei das größte Hindernis auf dem Weg zu demokratischen Verhältnissen. Zweitens denken wir, daß ein friedlicher Übergang zur Demokratie notwendig ist. Das bedeutet, daß eine neue Verfassung ausgerufen werden muß, die es unter an­derem ermöglicht, demokratische Reprä­sentanten, Gouverneure und natürlich auch den Präsidenten zu wählen. In die­sem weitgesteckten Feld ruft die CND zur nationalen Mobilisierung ab dem 20. No­vember auf, die, wenn die entsprechenden Bedingungen geschaffen werden können, bis hin zur Ausrufung eines nationalen Generalstreiks führen sollen. Wenn Ze­dillo das Präsidentenamt übernimmt, soll er sich darüber klar sein, daß ein großer sozialer Sektor der MexikanerInnen gegen die Bedingungen ist, unter denen Wahlen gestattet werden.
Aber außerdem will Eduardo Robledo Rincòn am 8. Dezember in Chiapas den Gouverneursposten übernehmen. Das ist ganz eindeutig Betrug, er wurde nach nur drei Stunden in Beratung vom Kongreß von Chiapas bestätigt. Dort in Chiapas werden wir ein Wahltribunal des Volkes von Chiapas organisieren, wo die Beweise des Wahlbetrugs öffentlich gemacht wer­den. Das chiapanekische Volk wird den von der Mehrheit gewählten Amado Aven­daño zum Gouverneur ernennen.
In diesem Sinn definiert die CND ein Ak­tionsprogramm für die politische Forde­rung nach Demokratie nach diesem Wahl­prozeß, nimmt wieder den Weg der Mo­bilisierung auf, der nach dem 21. August ins Stocken kam.
Im Gegensatz zu 1988 gab es nach dem 21. August kaum Proteste. War die mexi­kanische Bevölkerung nicht auf den Wahlbetrug vorbereitet?
Es muß bedacht werden, daß von der PRI das Schreckgespenst eines Bürgerkriegs ab dem 22. August an die Wand gemalt wurde. Dies hat bewirkt, daß wichtige Sektoren der mexikanischen Gesellschaft nicht so abstimmten, wie wir uns es ge­wünscht hätten. Im Gegensatz zu 1988, als die Bewegung zu den Wahlen hin immer stärker wurde, fehlte diesmal in diesem Moment die politische Führung. Außer­dem war vor den Wahlen der Eindruck entstanden, diesmal würde es sauberere Wahlen geben, in denen der WählerIn­nenwille respektiert würde. Dies führte zur Demobilisierung der Bewegung. Die Sektoren, die sich seit dem 1. Januar, dem Aufstand der EZLN, organisiert hatten, verstrickten sich zu diesem Zeitpunkt in eine Diskussion, über die Richtung der Mobilisierung. In Wirklichkeit wurde da­durch die Demobilisierung des mexikani­schen Volkes erreicht. Heute denke ich, wir hätten am 21. August auf die Straße gehen müssen, um die Bewegung, die sich heute in der neuen Organisation der CND ausdrückt, stark zu machen.
Gibt es Strukturen zwischen der Bevölke­rung in den Städten und auf dem Land?
Das Problem dieses letzten Sexeniums (6-jährige Amtszeit des Präsidenten Salinas, Anm. d. Red.) war, daß wir in einem ima­ginären Mexiko lebten. Mexiko er­schien wegen seiner geographischen Lage, seiner ökonomischen und politischen Strukturen am 1. Januar so, als würde es direkt in einen Prozeß des Wohlstands eintreten. Wir alle glaubten das. Aber in Wirklich­keit verändert sich Mexiko zu ei­nem Land, in dem eine unglaubliche Kon­zentration des Reichtums stattfindet. 30 Familien konzentrieren einen beeindruk­kenden Reichtum auf sich, während die große Mehrheit in beleidigender Armut lebt. Vor allem die Indígenas leiden. Die Armut wächst rapide, genauso die Ar­beitslosigkeit und die Zahl der Unterbe­schäftigten. Praktisch gibt es zwei Me­xikos: Einmal das im Norden, entwickelt, das man mit “Erstweltländern” verglei­chen kann. Aber wir haben einen Süden, der nicht nur Chiapas ist, sondern ver­schiedene Bundesstaaten, in denen eine enorme Armut herrscht, die sogar noch anwächst. Unter Salinas de Gortari wurde Chiapas der ärmste Bundesstaat der Re­publik. Vollkommen im Widerspruch zu dem ökonomischen Potential, das Chiapas besitzt. In Mexiko leben mehr als 20 Mil­lionen Menschen in extremer Armut. Groe Investitionen sind notwendig, um diesen Menschen eine bessere Schulbil­dung zu geben, eine bessere Infrastruktur etc.
Aber das ist doch genau das, was die PRI seit dem Waffenstillstand in Chiapas macht. Damit will sie ihre politische Macht erhalten, die Amado Avendaño für die PRD beansprucht.
Avendaño ist kein Mitglied der PRD, muß aber wegen des Wahlgesetzes für eine Partei kandidieren. Wir unterstützen nicht die PRD, damit sie an die Macht kommt. Wir sind von keiner Partei, als NGO sind wir Teil der Zivilgesellschaft. Wir fordern einen neuen politischen Raum der Partizi­pation, der auch außerhalb der Logik des Parteiensystems bestehen kann. Heute wissen wir, daß in dieser Welt ein hege­moniales Entwicklungsmodell besteht, das der Hegemonie des Marktes. Aber dieses Modell ist ziemlich unmenschlich. Wir müssen deshalb versuchen, ein anderes Entwicklungsmodell zu kreiieren, das er­laubt, aus einer anderen Perspektive die großen nationalen Probleme zu lösen. Man braucht Investitionen und Ar­beitsplätze, man braucht eine andere Lo­gik in unserer Beziehung zur Natur, man braucht neue Formen bei der Ausbildung von Indígenas und der interkulturellen Beziehungen. Wir brauchen auch eine neue Territorialität und vor allem eine neue politische Kultur.
Was bedeutet neue Territorialität?
Es muß anerkannt werden, daß Mexiko ein multiethnisches und multikulturelles Land ist. Diese Ethnien entsprechen nicht der Entwicklung, das sich das Land bei den Municipios (Verwaltungseinheit von Gemeinden) gegeben hat. Wir haben Re­gionen der Tzoltiles – Flüsse, Berge, Wäl­der – und sie haben Kapazität bewiesen, mit ihren eigenen Ressourcen umzugehen. Das provoziert Autonomieprozesse wie in Chiapas, welches das beste Beispiel für den autonomen Kampf der Völker der Tzotiles, Tojolabales etc. ist. Das bedeutet einen Bruch mit dem rückständigen Me­xiko, aber ich hoffe nicht, daß dieser Bruch zur Assimilation mit der mestizi­schen, westlich geprägten Kultur führt. Wir wollen zumindest ein menschlicheres Entwicklungsmodell vorschlagen können, das anderen Werten und damit den Inter­essen der mexikanischen Bevölkerung entspricht.
Um dieses Ziel zu erreichen, muß die Bewegung in möglichst allen Bundes­staaten präsent sein. Die Staatspartei setzt aber alles daran, den Konflikt zu re­gionalisieren, und auf Chiapas zu begren­zen.
Auch wenn sich der Konflikt bei den In­dígenas, und besonders in Chiapas aus­drückt, ist es weder ein Problem der Indí­genas noch von Chiapas. Armut, Unge­rechtigkeit und Ungleichheit betrifft die ArbeiterInnen in der Stadt genauso wie Indígenas und Campesinos auf dem Land in ganz Mexiko. Das Problem der Demo­kratie und das des Regimes der Staatspar­tei ist ein nationales. Hier stimmen wir mit der EZLN überein. Das, was in Chia­pas passiert, kann genauso in Oaxaca, San Luis Potosí oder anderen Bundesstaaten geschehen, in denen große Armut herrscht. Wir wünschen uns, daß der Kampf für den Übergang zur Demokratie friedlich ist. Das setzt voraus, daß die Staatspartei die vorhandenen Probleme anerkennt. Der letzte Bericht von Salinas de Gortari zur Lage der Nation malt uns ein Mexiko, in dem selbst die EuropäerIn­nen gerne leben würden: Viel Demokratie, eine starke Wirtschaft und eine noch grö­ßere Sta­bilität.
Ist die Bewegung auch in der Arbeiter­schaft präsent?
Sie ist am Wachsen. In der CND ist der Arbeitersektor durch Gewerkschaften vertreten, der Convención Nacional de Trabajadores. Weiterhin gibt es den Na­tionalen Indígena- und Campesinokon­vent, bald wird es den Nationalen Stu­dentenkonvent geben. Die Frauen haben sich schon beim ersten Treffen zusam­mengeschlossen. Auch die “untere Mittel­schicht” in Chiapas fordert inzwischen ihr Recht auf politische Partizipation und ist im CND präsent. Das bedeutet, daß die verschiedenen Sektoren der Gesellschaft in der CND zusammengeschlossen wer­den, damit dieses Land auf friedlichem Weg transformiert werden kann.
Immer mehr Menschen organisieren sich ohne Partei. Wir werden stärker. In der Zone von Las Margeritas an der gua­temaltekischen Grenze, wo Tojolabales leben, und an der Nordgrenze von Chia­pas, zu Tabasco hin, wo Tzotiles leben, wur­den schon autonome Regionen ausgeru­fen.
Wie stehen die Großgrundbesitzer in Chiapas zu einer Verhandlungslösung? Sind sie weiter dabei, ihre “Guardias blancas” (Privatarmeen, die z.T. mit Hilfe des mexikanischen Bundesheeres ausgebildet werden, Anm. d. Red.) aufzu­rüsten?
Wir stehen vor einer schwierigen oder ei­ner einfachen Lösung. Die einfache Vari­ante wäre, wenn alle Sektoren, die es in Chiapas gibt, an Verhandlungen zur Lö­sung der Konflikte teilnehmen würden. Das wäre gerecht. Aber viele wollen nicht und sagen, die PRI solle das Problem mit Gewalt “lösen”. Die “Guardias blancas” bestehen seit vielen Jahren. Die einzige Kraft, die wir haben, ist die der Mobilisie­rung. Wenn wir auf diese Art und Weise etwas erreichen, dann nicht nur für die In­dígenas, sondern für das gesamte Volk von Chiapas. Und was in Chiapas gesche­hen wird, wird sich in ganz Mexiko wi­derspiegeln. Chiapas ist das, was wir “Spiegel der Nation” nennen.

Die Ästhetik der Herrschaft

Eine Untersuchung der verblüffend leicht erreichten Veränderungen während der Amtszeit Menems muß zwei Aspekte be­rücksichtigen: Zum einen haben die kon­kreten Auswirkungen der sozioökonomi­schen Krisensituation weite Teile der ar­gentinischen Bevölkerung dazu gebracht, ein stark geschwächtes Parlament, eine bis in die Reihen des Obersten Gerichts der Regierung untertänige Justiz, sowie eine immer machtvollere Exekutive zu akzep­tieren. Zum anderen ändert sich das Wahrnehmungsverhalten von Politik durch “postmoderne” oder “post-politi­sche” Betrachtungsweisen, die eng mit dem Aufstieg des Fernsehens als politi­schem Medium verbunden sind.
Innenpolitische Befriedung
Menems Vorgänger Raúl Alfonsín war es weder gelungen, dem sich ständig ver­schlechternden Verhältnis zwischen Zivil­regierung und Militär entgegenzuwirken, noch die teilweise galoppierende Inflation in den Griff zu bekommen. Trotzdem schon unter Alfonsín die meisten Verfah­ren gegen die Verantwortlichen der Men­schenrechtsverletzungen unter der Militär­regierung eingestellt worden waren, stellte erst Menem eine innenpolitische Befrie­dung her, indem er auch die im Gefängnis sitzenden ehemaligen Junta-Mitglieder begnadigte. Die Strafverfolgung und die Verurteilung von denjenigen, die verant­wortlich für die brutalste Repression wa­ren, die Argentinien je erlebt hat, war ein überaus bedeutsamer Moment in der Wie­derherstellung eines Gerechtigkeitsideals und des kollektiven Erinnerungsvermö­gens an die Ereignisse unter der Diktatur gewesen. Der plötzliche Abbruch von Hunderten von Gerichtsverhandlungen und vor allem die Begnadigung von verurteil­ten und inhaftierten Militärs aber machten Menschenrechte zu einem Thema von ge­stern, einer Vergangenheit, die Menem hinter sich bringen wollte. Somit leitete er einen Kurs des “Vergessens” ein, von dem das Militär profitierte. Durch das von der Regierung betriebene Zuschlagen der Aktendeckel – die so mit jeder Form von Gerechtigkeitsempfinden brach – wurde die Instabilität des Verhältnisses zwischen Regierung und Militär deutlich verringert. Aber anderseits wurde damit auch die Er­innerung an die Ereignisse des letzten Jahrzehnts stark geschwächt. Die Begna­digungen beenden ein Thema, das nicht nur politisch oder rechtlich bedeut­sam ist, sondern auch eine herausragende morali­sche und kulturelle Relevanz hat.
Preisstabilität geht vor Sozialpolitik
Die Hyperinflation wurde erst einige Mo­nate nach Menems Amtsantritt durch Maßnahmen des Wirtschaftsministers Domingo Cavallo unter Kontrolle ge­bracht. Die wiederkehrenden Wellen von sprunghafter Geldentwertung hinterließen tiefe Eindrücke politischer wie auch kul­tureller Art in der argentinischen Bevölke­rung. Diese haben mittlerweile den Cha­rakter einer Besessenheit gewonnen, so daß öffentlich und privat fortlaufend wie­derholt wird, alles sei besser als eine Wie­derkehr der Inflation. Somit kam es unter weiten Teilen der Bevölkerung zur unaus­gesprochenen Übereinkunft, der Regie­rung Menem einen “Blankoscheck” unter der Bedingung auszustellen, daß eine mi­nimale Stabilität gewährleistet werde.
Auch heute sind die kulturellen Stempel der Inflation deutlich zu sehen. Zunächst setzte sich die Haltung durch, daß alle an­deren ökonomischen und sozialen Forde­rungen hinter der Erlangung von Preissta­bilität zurückstehen müßten, was sogar von den Hauptbetroffenen der neuen Wirtschaftspolitik geteilt wurde. Die Ge­sellschaft in ihrer Gesamtheit war bereit, den Preis zu zahlen, der von der Regie­rung als notwendig dargestellt wurde, um ein erneutes Abgleiten in eine chaotische wirtschaftliche und soziale Lage zu ver­hindern. Somit wurden die Ausführungen von Menem und Cavallo über die Vorzüge des freien Spiels der Marktkräfte und über die negativen Auswirkungen von Staats­eingriffen als Beschreibung einer Realität angenommen, die man zu akzeptieren habe. Die Wirtschaft wurde nicht mehr als Ausdruck veränderbarer sozialer Verhält­nisse gesehen, sondern wurde zu einem Naturereignis, dessen Auswirkungen man eben ertragen müsse.
Außerdem wurde der Bevölkerung einge­redet, man könne zur schnellen Wieder­herstellung von wirtschaftlicher Stabilität nicht alle institutionellen Formalitäten einhalten. Um die Inflation zu überwin­den, müsse man die Entscheidungsbefug­nisse in der Exekutive und nicht im Par­lament konzentrieren. Da man schnell und einheitlich handeln müsse, seien Debatten im Kongreß zu vermeiden, da sonst kost­bare Zeit zur Erlangung wirtschaftlicher Ordnung verloren ginge. So wurde die Rolle des Parlaments im politischen Pro­zeß als ein Hindernis für das Gemeinwohl dargestellt.
In diesem Zusammenhang bot sich Präsi­dent Menem der Rückgriff auf zwei Handlungsweisen. Zum einen konnte und kann er das Parlament durch das verfas­sungsrechtlich bedenkliche Mittel des Er­lassens von Dekreten übergehen. Diese Vorgehensweise hat die Exekutive zu einer legislativen Kraft gemacht und die Funktionen des Parlaments geschwächt. Zum anderen haben sich Menem wie auch Cavallo zu Vermittlern ihrer Politik in den Massenmedien gemacht und ein demago­gisches Verhältnis zur Öffentlichkeit her­gestellt. Der eine wurde so zum charisma­tischen Retter und der andere zum unfehl­baren Technokraten.
Populismus im nationalistischen Stil
Eine neue Form der Herrschaftsstrategie bildet sich heraus, in der sich Wirtschaft­liberalismus mit dem politischen Stil ver­mischt, den Präsident Menem bei den Pe­ronisten gelernt hat. 1989 erwarteten die Menschen vom neugewählten Menem, daß er ein populistisches Programm im nationalistischen Stil durchführen würde. Innerhalb einiger Monate allerdings über­zeugte er viele seiner Anhänger von der Notwendigkeit, einen scharfen Kurswech­sel hin zu einer neoliberalen und moneta­ristischen Politik zu verfolgen, die von Pe­ronisten bisher stets als Ausdruck oligar­chischer und anti-nationaler Haltung an­gesehen worden war. Diese ideologische Wandlung durchzog sowohl die Handlun­gen, als auch das Auftreten der Regierung.
Es ist erhellend, das öffentliche Auftreten Menems als populistischer Führer wäh­rend der Präsidentschaftskampagne 1988 mit seiner Präsenz bei einer Militärparade zwei Jahre später zu vergleichen, um Zei­chen einer einschneidenden kulturellen Neugestaltung zu verfolgen. Ein Wechsel wird deutlich, von Menem, dem Retter und der Hoffnung der Verarmten zu Menem, dem Garanten der Wiedereinset­zung der Mächtigen. Während des ersten Ereignisses stellte Menem alle Attribute eines plebejischen, massenmedialen Po­pulismus zur Schau, während die Symbole der Aussöhnung von Militär und Zivilre­gierung bei der Parade das Militär erhöh­ten und somit die “Operationen” krönten, die mit der Begnadigung begonnen hatten.
Hoffnungsträger der Armen
Die kulturelle Bedeutung des Wechsels von Kulisse und Aussage ist unschätzbar. Die Veranstaltung 1988 im Fußballstadion griff zurück auf die reichhaltigen Symbole der Geschichte des Peronismus. Menem erschien, ganz in weiß gekleidet, als Hoff­nungsträger, um vergangenes Unrecht wiedergutzumachen, als Anwalt der Nie­deren, als Politiker, der, aus dem Inneren des Landes kommend und verwurzelt im Herzen der Massenbewegung, die Bedürf­nisse und Sorgen der Menschen verstehen könne. Er versprach Umverteilung, Voll­beschäftigung und hohe Löhne in nächster Zukunft. Er benutzte Worte, die zur ideo­logischen Tradition seiner Zuhörerschaft paßten: Arbeit, Respekt, Würde, Zufrie­denheit, Gerechtigkeit. Unter Verwendung von populistischer Rhetorik versuchte er, den Platz einzunehmen, der seit dem Tod Perons verwaist ist: ein charismatischer Staatschef; eine Führungspersönlichkeit außerhalb des bürokratischen Apparates; ein Mann aus dem Landesinneren unter Politikern aus Buenos Aires; jemand mit Ehrfurcht vor den historischen Traditionen der peronistischen Bewegung.
Auf dieses Erscheinungsbild, das durch seine körperliche Präsenz im offenen Wahlkampfwagen “menemóvil” noch un­terstrichen wurde, gründete Menem seine Kandidatur und seine Wahlkampagne. Er bot dem politischen Theater seinen Körper an, der als fleischgewordene Verspre­chung seiner Botschaft sichtbar und be­rührbar war. Im Fußballstadion stieg er von Scheinwerferlicht umfangen in sein “menemóvil” – wie ein wahrer Held der volkstümlichen Erlösung, der mit der Ästhetik von Pop und Rock umzugehen weiß. In fluoreszierendem Weiß und von einem einzelnen Lichtstrahl erleuchtet, bewegte sich Menem durch das Stadion auf die Rednerbühne zu. In seiner Kam­pagne vermittelte Menem ständig das Ge­fühl von Nähe: man konnte ihn ankom­men oder vorbeigehen sehen; man konnte ihm folgen.
Aufwertung der Militärs
Während der Militärparade vom 9. Juli 1990 zeigte der neue Menem, nunmehr Präsident, daß sein kulturelles Zitieren des Peronismus der 50er Jahre nicht mehr war als eben ein Zitat, ein fragmentarisches Ereignis, welches in Anführungszeichen gesetzt werden muß.
Der Anblick der Militärparade war be­merkenswert: Die Streitkräfte breiteten sich durch die Straßen der Stadt aus, und auf einem Podium, umgeben vom ge­samten Kabinett, überschaute der Präsi­dent, unbeweglich, das Vorbeimarschieren der Truppeneinheiten. Auch wenn die Streitkräfte formell den Repräsentanten der Republik salutierten, so legitimierten eben jene Vertreter, mit starren Blicken die Parade fixierend, die umstrittenste In­stitution Argentiniens. Menem, der weiß, wie man kulturelle Ereignisse aufbauen muß, wandelte diese Parade in eine Aus­sage zugunsten der Wiederbegründung des Paktes zwischen Gesellschaft und Armee um.
Menem war sich bewußt, daß die Begna­digung alleine nicht ausreichte, da sie sich auf zunächst juristischem und nicht auf kulturellem Gebiet bewegte. Deswegen trug er dafür Sorge, daß die Aufwertung des Militärs in einem innerstädtischen, bedeutsamen Rahmen stattfand. Der noch immer bestehende Konflikt zwischen Ge­sellschaft und Militär benötigte eine alle­gorische Auflösung in Form einer fünf­stündigen Parade, die in einer langen und ermüdenden Übertragung die Fernsehbild­schirme entlangrollte. Die stete visuelle Wiederholung von Panzern, Flugzeugen und marschierenden Einheiten hatte eine tiefgreifende ideologische Bedeutung, da durch die immer gleichen Bilder nur eine Aussage wahrzunehmen war: Die Zeit des Debattierens über die Diktatur ist vorbei. Gleichzeitig wurde zudem deutlich, daß jedwede Diskussion über eine Zukunft, deren Gestalt bereits in ihren Umrissen feststand, ebenfalls nicht erwünscht ist. Die Versöhnung der Regierung Menem mit den Streitkräften nahm andere Allian­zen sowohl mit einheimischen Wirt­schaftskräften wie auch mit den USA vorweg, was sich in der Zusammenkunft von Truppenverbänden, Mitgliedern der Zivilregierung und ausländischen Bot­schaftern deutlich widerspiegelte.
Einfache Lösungen gesucht
In einem Land mit einer starken Prä­sidentschaft wie Argentinien spielt der Staatschef eine bedeutsame Rolle bezüg­lich der Diskursbestimmung. Menems Stil ist auf die Massenmedien zugeschnitten: er verachtet Ideen; er klammert komple­xere Fragen häufig aus; er folgt den Re­zepten für einfache Lösungen; er sieht auf nachdenkliche und beratschlagende Arten der politischen Entscheidungsfindung herab und er weist zynisch alle Werte der peronistischen Tradition zurück, die auf das Ideal einer gerechten Gesellschaft ab­zielen. Dieser Stil hat bedeutendes Ge­wicht in der gegenwärtigen kulturell-poli­tischen Krise.
Die Konsequenzen sind deshalb so be­denklich, weil heutzutage nur vorsichtig abwägende Politikgestaltung, die Unab­hängigkeit der drei Regierungsgewalten sowie das vollständige Funktionieren der politischen Institutionen einem präsiden­tialen Willen Paroli bieten könnten, der ganz und gar an den Interessen der Mäch­tigen ausgerichtet ist. Durch massenme­diale Moral, Ästhetik und Kultur wurden die Grundwerte einer gerechten und ko­operativen Gesellschaft durch einen Wirt­schaftdarwinismus ersetzt, der prägend für eine neue, individualistische Ellenbogen­kultur wirkt.
Audiovisuelle Hegemonie
Ein Aspekt der gegenwärtigen Auseinan­dersetzung zwischen Politik und Gesell­schaft ist die Schwächung der öffentlichen Kultur. Als politische Diskussionen, par­lamentarische Vertretung und andere Formen kollektiver Partizipation weniger bedeutsam wurden, besetzten die Medien und insbesondere das Fernsehen einen entscheidenden Platz zur Herstellung von Öffentlichkeit.
Heute ist es unmöglich, an Politik ohne Fernsehen zu denken. Diese Entwicklung gilt zwar für alle westlichen Länder, hat aber in Argentinien eine andere Bedeu­tung, da eine Bildungskrise sowie stei­gende Analphabetenraten mit einer audio­visuellen Hegemonie über die symboli­sche Dimension des Sozialgefüges zu­sammentreffen. Dieser Prozeß wird von privaten Fernsehkanälen vorangetrieben, die sich einzig an Profitmaximierung aus­richten. Im argentinischen Fernsehen gibt es kein starkes Gegengewicht zum Kapi­talismus: Der einzige Staatssender befin­det sich fest in Regierungshand, und es gibt keinerlei sonstige öffentliche Kanäle. Der Markt entscheidet derzeit alleine über Beschaffenheit, Ästhetik und Ideologie der audiovisuellen Sphäre.
In diesem Raum werden Politik und poli­tische Kultur geformt, lediglich in Reak­tion auf Verschiebungen und Interessen des kapitalistischen Marktes der symboli­schen Güter, ohne daß es Gegengewichte oder Ausgleichsmechanismen gäbe. Eine gemeinsame Kultur wird vorgespiegelt, die Darsteller verbindet, deren symboli­sche und tatsächliche Macht sehr unter­schiedlich sind. Dies mag zwar ein Mini­mum von kulturellem Zusammenhalt ga­rantieren, ist aber nicht im Sinne einer Gemeischaft verbindend.
Politik nach Mediendiktat
Der Diskurs der Massenmedien kompri­miert die Gesellschaft und gibt das Bild einer einheitlichen kulturellen Landschaft vor, in der Widersprüche in einem weit­läufigen Raum vieler Stimmen aufgelöst werden, die sich nicht unbedingt aufein­ander beziehen. Es ist nicht so, daß die Medien besonders demokratisch wären, sondern sie müssen einfach alle Diskurse mit einbeziehen, um einen umfassenden, universalen Raum präsentieren zu können. Dieser Medienästhetik gibt die Politik nach. Die Medien werden als Vertreter der Allgemeinheit akzeptiert. Die Politik nimmt sogar die formalen und rhetori­schen Limitierungen an, die ihnen die Medien auferlegen: Geschwindigkeit, Vielfalt, Redefluß – Eigenschaften, die häufig an eine politische Show oder an akustische Bruchstücke aus den USA er­innern.
Überzeugt von der Bedeutung der Medien bei der Herstellung von Öffentlichkeit, akzeptieren Politiker die Auffassung, daß Ideenaustausch, längere Debatten, kom­plizierte Ausführungen und die Darstel­lung tiefgründiger Positionen nicht fern­sehgerecht seien. Sie pflegen eine mediale Selbstdarstellung, die sowohl auf der Ver­einfachung ihrer Aussagen, wie auch auf der Illusion von Nähe und Vertrautheit ba­siert: “Wir sind nicht anders als ihr; wir repräsentieren euch und umgeben uns gleichzeitig mit Fernseh-Berühmtheiten. Wir vertreten die Menschen durch das, was ihnen am nächsten ist: der Fernseher im Wohnzimmer oder in der Küche.” Da­durch entsteht eine Armut an Meinungen, ein Ausdünnen immer komplexerer Pro­bleme und ein Bilderfluß, in dem das “hier und jetzt” auf Vergeßlichkeit baut. Um zu existieren, brauchen Politiker – die klassi­schen Vermittler zwischen Bürgern und Institutionen – das Fernsehen, um zum Großen Allumfassenden Vermittler zu werden. Sie sind Gefangene der Massen­medien.
Dieser Wechselwirkung ist schwer zu wi­derstehen. Politik wird durch den Nach­richtensprecher aufgebaut, die Nachrich­tensendungen gewichten die eingehenden Meldungen. Die Glaubwürdigkeit wird den politischen Köpfen genommen und nunmehr von den Chefetagen der Mas­senmedien aus verwaltet. Streitkultur wurde durch ein politisches Trugbild ver­drängt, welches nicht in politischen Insti­tutionen gedeiht, sondern in der Welt des Fernsehens beheimatet ist. Politik in den Massenmedien wird den Gesetzen unter­geordnet, die den audiovisuellen Fluß steuern: starker Eindruck, große Mengen undifferenzierter visueller Information und eine künstliche Schwarz/Weiß-Male­rei, die eher an eine Seifenoper als an ein öffentliches Forum erinnert.
Präsident Menem ist fraglos ein Meister der audiovisuellen Kommunikation. Sein Stil hat sich nahtlos dem Stil des Fernse­hens angepaßt. Er hat sein Image nicht durch Darlegung von Ideen begründet, was eine kritische Auseinandersetzung verschiedener Werte und Interessen er­laubt hätte, sondern durch eindrucksvolle Kurzauftritte, die vorsichtig aufeinander abgestimmt sind und in denen ein simples Freund/Feind-Schema präsentiert wird.
Politik braucht Ideen und Bilder
Obwohl es nicht realistisch ist, nostalgisch von der Rückkehr der Politikformen zu träumen, die vor der Kulturrevolution der Massenmedien existierten, ist es doch schwer zu akzeptieren, daß Politik nur in dem von den Medien erlaubten Rahmen besteht. Man kann sich Veränderungen in der Politik der Medien vorstellen. Zwei­fellos sind Fernsehnachrichten nicht über­all so schlecht wie in Argentinien, und müssen nicht alle Korrespondenten sensa­tionssüchtige Agitatoren sein. Es gibt kein mit dem Fernsehen verbundenes Schick­sal, dem man nicht entkommen könnte.
Das Erscheinungsbild der Politiker ent­steht nicht nur in den Medien. Wir können hoffen, daß Politiker ihrem Auftrag ge­recht werden: einem Bedürfnis Ausdruck zu geben, das über das eigene hinausgeht und an deren Ausformung sie mitarbeiten. Politik braucht heute sowohl intellektuelle Perfektion wie auch mediale Vermittlung. Sie braucht Ideen ebenso wie Bilder. Die Ästhetik der audiovisuellen Medien neigt zum Ausschluß von Diskursen mit einem intellektuellen Anstrich. Dieser Konflikt drückt ein tief verwurzeltes Verhältnis aus, das von Intellektuellen und Politikern gleichermaßen angenommen wurde.
Politiker, Intellektuelle und Fernsehkom­mentatoren beziehen zumeist eine neutrale und “beschreibende” Haltung, wenn sie sich mit den Konsequenzen der Hegemo­nie der Massenmedien über die symboli­sche Dimension des gesellschaftlichen Lebens befassen. Einige bezweifeln die negativen Auswirkungen des Fernsehens, da die Öffentlichkeit Nachrichten umdeute und so neue Inhalte produziere. Sie ver­gessen dabei allerdings, daß die Bevölke­rung sich nur begrenzt neue Inhalte schaf­fen kann, da sie mit dem begrenzten Mate­rial arbeiten muß, das ihnen das Fernsehen anbietet. Natürlich werden von dieser Seite keine größeren Veränderungen im Umgang mit den Medien vorgeschlagen und auch nicht befürchtet, daß die Pri­vatinteressen der Medienmogule aus­schlaggebend bei der Bildung der öffentli­chen Meinung sind.
Reformperspektiven
Dieser Meinung, die durch ihren Opti­mismus bezüglich der Ergebnisse des ka­pitalistischen Marktes gekennzeichnet ist, kann man kritische und reformerische Perspektiven entgegensetzen. Intellektu­elle – besonders linke Intellektuelle – kön­nen eine entscheidende Rolle spielen, in­dem sie neue Denkanstöße geben, wie Medien auf eine demokratische, nach­denkliche, phantasievolle und durch­schaubare Weise genutzt werden können. Sicher, diese neuen Ideen würden auf eine enorm konzentrierte Macht treffen. Doch neue ideologisch-kulturelle Perspektiven können ein befriedigendes Echo in den Medien finden, gerade weil diese verplichtet sind, alles von einer gewissen öffentlichen Bedeutung einzubeziehen.
Die jüngsten Wahlen in Argentinien vom April dieses Jahres haben gezeigt, daß man sich Elemente einer politischen Kul­tur vorstellen kann, die nicht zwangsläufig zu Gefangenen der audiovisuellen Ideolo­gie und Ästhetik werden. Die Mitte-Links-Partei Frente Grande wurde in diesen Wahlen zur drittstärksten Kraft. Die Kan­didaten benutzten die Medien mit dem Ziel, vielschichtigere Diskussionen einzu­führen. Die Frente Grande wurde auf so­ziale Bedürfnisse aufmerksam, die weder vom Peronismus noch vom Radikalismus vertreten wurden, und verstanden es, aus den zunehmenden Rufen nach Transpa­renz, Ehrlichkeit und Fähigkeit im politi­schen Leben Vorteile zu ziehen.
Die Situation ist besonders lehrreich. Ei­nerseits bemerkten diese neuen politischen Akteure – einige kamen aus der Men­schenrechtsbewegung, andere aus künstle­rischen und intellektuellen Bereichen – die Macht der audiovisuellen Medien in der Herstellung von Öffentlichkeit. Gleich­zeitig aber lernten sie, mit dem Fernsehen umzugehen, ohne sich allen seinen Ri­tualen zu unterwerfen. Sie schlugen sogar eine neue Art des politischen Diskurses im Fernsehen vor.
Ein anderer politischer Stil, ein bewußt kritischer Umgang mit den Medien ist somit möglich. Grundlage dafür muß die Erkenntnis sein, daß die bedingungslose Akzeptanz der schlechtesten Aspekte der jetzigen massenmedialen Kultur das Her­vortreten neuer Ideen verhindert.

Im Zickzackkurs an den Verhandlungstisch?

Trotz vollmundiger Bekundungen, gegen die Menschenrechtsverletzungen vorzuge­hen und einen Friedensprozeß einzuleiten, ist die Politik der liberalen Regierung Samper, seit August dieses Jahres im Amt, von einer nicht zu überhörenden Doppel­züngigkeit geprägt. Ende September setzte sie im kolumbianischen Senat ein Gesetz durch, demzufolge Zwangsverschleppun­gen durch Soldaten zwar verboten sind, aber als Dienstvergehen weiterhin unter die Militärgerichtsbarkeit fallen. Dies be­deutet faktisch, daß die Streitkräfte nach wie vor für die gerichtliche Verfolgung ih­rer eigenen Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind; der Bock darf weiter­hin den Gärtner spielen.
Gleichzeitig ließ die Regierung in den Militärgarnisionen Büros für Menschen­rechte einrichten. In der Armee wurde ein Schriftstück verteilt, das die Soldaten dar­über informierte, daß sie sich weigern dür­fen, Befehle zu verfolgen, die die Men­schenrechte verletzen. Präsident Samper traf sich zu Gesprächen mit den nationalen Menschenrechtsorganisationen. Amnesty international wurde eingeladen, ein stän­diges Büro in Kolumbien zu eröffnen. Eine Kampagne von amnesty internatio­nal, die alarmierenden Berichte anderer internationaler Menschenrechtsorganisa­tionen und der Besuch von UNO-Sonder­berichterstattern Anfang Oktober in Ko­lumbien verstärkten den äußeren Druck auf die Regierung Samper. In der interna­tionalen Öffentlichkeit wächst das Be­wußtsein darüber, daß in Kolumbien nur auf dem Papier demokratische Verhält­nisse herrschen. Allein seit 1986 fielen schätzungsweise 20.000 Personen dem “schmutzigen Krieg” zwischen Streitkräf­ten, Paramilitärs und Guerilla zum Opfer, bei weitem mehr als in Chile während 17 Jahren Militärdiktatur.
Am 9. und 10. Februar veranstalten die kolumbianische Kampagne “Menschenrechte – Sofort” und europäi­sche Nichtregierungsorganisationen in Brüssel eine internationale Konferenz. Eingeladen sind auch Mitglieder der ko­lumbianischen Regierung, die sich in An­wesenheit von VertreterInnen der UNO und des Europaparlamentes zur Men­schenrechtssituation in Kolumbien äußern sollen. “Diese Regierung will auf keinen Fall – und das ist ein Faktor, der sehr hilfreich sein kann – der Verletzung der Menschenrechte bezichtigt werden”, so Dr. Jaime Prieto Méndez, Koordinator von “Menschenrechte – sofort” gegenüber den Lateinamerika Nachrichten.
“Menschenrechte – Sofort!”
Bei seinem Amtsantritt Anfang Oktober hatte der liberale Präsident Samper ange­kündigt, er wolle den schmutzigen Krieg beenden und sei auch grundsätzlich zu Verhandlungen mit der Guerilla bereit. Damit setzte er sich von der Position sei­nes liberalen Parteifreundes und Amtsvor­gängers Gaviria ab, der nach dem Schei­tern der letzten Friedensverhandlungen 1992 einen kompromißlosen “integralen Krieg” gegen die Aufständischen geführt hatte. Die drei in der “Coordinadora Gue­rillera Simón Bolívar” zusammenge­schlossenen Organisationen FARC, ELN und EPL, die sich im August mitten in ih­rer militärischen Offensive “Abschied für Gaviria” befanden, bekundeten ebenfalls ihre Verhandlungsbereitschaft. Die Regie­rung Samper lehnte ein direktes Dia­logangebot der FARC jedoch mit dem Ar­gument ab, die Guerilla müsse klare Be­weise für ihren Friedenswillen liefern.
Seitdem sind die Auseinandersetzungen auf beiden Seiten von der Koexistenz von verbalen Friedensbekundungen und der unverminderten Fortführung der bewaff­neten Auseinandersetzungen geprägt.
Der von Samper ernannte staatliche “Hochkommissar für den Frieden” Carlos Holmes kam Anfang November zu dem Ergebnis, das Klima sei mittlerweile für Verhandlungen geeignet, man müsse al­lerdings langsam und schrittweise vorge­hen. Immerhin scheint mittlerweile nicht nur die Regierung, sondern auch das Mi­litär widerwillig akzeptiert zu haben, daß die Gespräche auch ohne einen einseitigen Waffenstillstand der Guerilla beginnen. Jaime Prieto Méndez hofft, daß der gesell­schaftliche Druck nicht nur die Kriegs­parteien wieder an einen Tisch zwingt, sondern daß auch über die komplexen Ur­sachen des Konfliktes diskutiert wird: “Bisher haben Regierung und Guerilla immer allein verhandelt. Heute wollen sich viele Sektoren der Gesellschaft, wie zum Beispiel die Kirche, die Gewerk­schaften, die politischen Parteien, die Menschenrechtsgruppen, Intellektuelle, am Friedensprozeß beteiligen.” Ein Zeit­plan für den Beginn von Gesprächen steht allerdings nach wie vor nicht fest.

“Ich ziehe es vor, optimistisch zu sein”

LN: Bis jetzt gibt es immer noch keinen Zeitplan für Friedensverhandlungen, die bewaffneten Auseinandersetzungen zwi­schen Militärs und Guerilla gehen unver­mindert weiter. Stehen die Friedensbe­mühungen vor einem erneu­ten Scheitern?
Méndez: Dies würde ich nicht sagen. Die Verhandlungen werden nicht sofort, also in wenigen Tagen oder Monaten, begin­nen. Man muß in Betracht ziehen, daß es in den vorhergehenden 18 Monaten keine wie auch immer geartete Annäherung ge­geben hatte. Im Gegenteil hatte die Regie­rung Gaviria nach dem Scheitern der Ver­handlungen in Venezuela und Mexiko der Guerilla den “integralen Krieg” erklärt, mit dem Ziel, diese “auszulöschen” oder zu einer vollständigen politischen und mi­litärischen Kapitulation zu zwingen.
Die Regierung Samper öffnet, wenn auch langsam, die Türen. Auf beiden Seiten herrscht eine besonnene Haltung vor, da man weiß, daß man sich nicht gegenseitig die Vorbedingungen für den Verhand­lungsbeginn aufzwingen kann. Man darf sich nicht davon abschrecken lassen, daß nach wie vor bewaffnete Auseinanderset­zungen stattfinden. Ein zu überhasteter Beginn von Friedensverhandlungen könnte zu einem neuen Scheitern führen.
Wie stark ist das tatsächliche Bestre­ben der Regierung, der Gewalt und den Ver­letzungen der Menschenrechte ein Ende zu bereiten? Verhält sie sich nicht sehr widersprüchlich, wenn man zum Bei­spiel an die Verabschiedung des Gesetzes über das “Verschwindenlassen” denkt?
Die gegenwärtige Regierung hat eine dy­namischere, entschiedenere Hal­tung als die vorhergehende. So hat sie bei­spielsweise zugegeben, daß es bisher in Kolumbien keine Politik zum Schutz der Menschenrechte gab. Desweiteren hat sie gesagt, daß es ohne eine Lösung dieses Problems keinen Frieden geben könne. Es hat Willensbekundungen gegeben, die wichtig und bedenkenswert, aber nicht ausreichend sind. Entsprechend muß von den progressiven und demokratischen Sektoren der Gesellschaft Druck auf die Regierung ausgeübt werden, damit den Worten auch Taten folgen.
Bezüglich des “Verschwindenlassen” gab es ständige Gespräche zwischen der Re­gierung und den Menschenrechtsorgani­sationen, damit diese im Senat eine kla­rere Position bezöge. Die Regierung di­stanzierte sich, was das Gesetz angeht, relativ klar von der vorherigen, allerdings nicht ausreichend.
Diese Regierung weiß, daß sie sich nicht mehr so einfach herausreden kann: Mitt­lerweile klagen sogar einige Staatsorgane, wie die “Defensoría del Pueblo” und die Generalstaatsanwaltschaft, die staatliche Verantwortung für die Verletzung der Menschenrechte ein. Der nationale und internationale Druck auf die Regierung muß so groß sein, daß diese sich an die Wand gedrückt fühlt und gezwungen ist, ihr gegenwärtiges ambivalentes Verhalten aufzugeben und klar Position zu beziehen.
Wie ist gegenwärtig die Rolle des Militärs einzuschätzen? Werden sie versu­chen, die Verhandlungen zu torpedieren?
Der Spielraum der Militärs ist enger ge­worden. Neue repräsentative Um­fragen haben ergeben, daß trotz einiger Gue­rillaaktionen, die öffentliche Ableh­nung erfahren haben, mehr als 60 Prozent der Bevölkerung für eine politische Ver­handlungslösung sind. Das betrifft auch die Streitkräfte, die für ihre bisherige strikte Ablehnung von Verhandlungen mit der Guerilla nicht mehr so viel Unterstüt­zung haben wie zu anderen Zeiten. Offen­bar haben die Militärs sich mittlerweile bereiterklärt, mit am Verhandlungstisch zu sitzen. Das würde bedeuten, sie hätten faktisch akzeptiert, daß die Gespräche be­ginnen, ohne daß die Guerilla vorher die Waffen übergibt oder sich an einem be­stimmten Ort festsetzen läßt.
Welche Gefahr geht von der Zu­nahme der Aktivitäten von Todesschwa­dronen aus? Erst im Sommer dieses Jahres wurde Manuel Cepeda, der einzige kom­munistische Parlamentsabgeordnete, er­mordet.
Die Förderung paramilitärischer Aktivitä­ten ist wohl die bevorzugte Form der Mi­litärs, um Druck auszuüben. Indem sie politische und soziale Kämpfer sowie tatsächliche oder angebliche Sympathi­santen der Guerilla eliminieren, versuchen sie, den Friedensprozeß zu verhindern. Der Mord an Manuel Cepeda oder an ei­nigen Gewerkschaftsführern in Antio­quia oder Todesdrohungen gegenüber po­litischen Aktivisten verkomplizieren den Friedensprozeß. Die Regierung weiß, daß es nicht zu Verhandlungen kommen kann, wenn es keine Sicherheitsgarantien sowohl für die Guerillaführer als auch für die sozialen Gruppen gibt, die sich mit re­gierungskritischen Positionen an den Dis­kussionen beteiligen wollen. Das ist wahr­scheinlich der schwierigste Faktor bei zu­künftigen Verhandlungen.
Samper sagte neulich in einem Gespräch mit Menschenrechtsorganisationen, die Regierung müsse langsam und vorsichtig agieren, um zu vermeiden, daß diejenigen Kreise innerhalb des Staatsapparates, die keinen Frieden wollen, diesen nicht torpe­dieren können. Solche Argumente können natürlich auch benutzt werden, um uns zu moderateren Forderungen zu zwingen. Immer wieder wird gesagt: Verlangt keine Veränderungen in den Strukturen der Streitkräfte, verlangt keine Gerechtigkeit bei Menschenrechtsverletzungen, rührt die Vorrechte und die interne Gerichtsbarkeit des Militärs nicht an. Mit solchen Argu­menten wurde schon die ehemalige Gue­rilla und jetzige Partei M-19 Anfang der neunziger Jahre in der Verfassungsgeben­den Nationalversammlung erpreßt. Nach und nach mußte die M-19 immer mehr Forderungen aufgeben.
Man darf sich in diesem Bereich nicht er­pressen lassen, sondern muß die Regie­rung dazu zwingen, die Kontrolle der Streitkräfte und die Beseitigung der Para­militärs als ihre Verantwortlichkeit anzu­erkennen.
Wie ist die gegenwärtige politische Stärke der Guerilla einzuschätzen? Es ist zum Beispiel in der Presse davon die Rede, daß diese bei den Kommunalwah­len im November in etlichen Gemeinden an indirektem Einfluß gewonnen habe.
Nach der Periode des “integralen Krieges” von Seiten der Regierung ist die Guerilla militärisch getroffen, wenn auch nicht in entscheidendem Maße. Einige Führer sind in Haft. Die militärischen Strukturen blie­ben allerdings intakt. Poli­tisch gesehen hat die Guerilla in den großen Städten an Ein­fluß verloren, hält diesen aber in den ländlichen Gebieten, wo sie seit Jahr­zehnten agiert, weiterhin aufrecht. Es gibt Gemeindevertreter, die mit der Guerilla sympathisieren, und es gibt welche, die dies nicht tun, aber wis­sen, daß sie ohne bestimmte Überein­künfte mit ihr nicht re­gieren können. Dies wurde von der Rech­ten immer wieder als Vorwand benutzt, um lokale Autoritäten zu attackieren. Die Regierung muß als Ausgangspunkt für Verhandlungen aner­kennen, daß die Gue­rilla keine Kriminel­lenbande ist, sondern auch politisch agiert.
Wie ist die momentane Stimmung in der Gesellschaft? Sind die sozialen Bewe­gungen, die Gewerkschaften und die lin­ken Parteien in der Lage, den erforderli­chen Druck auf die Regierung aus­zuüben?
Die Situation ist nicht gerade optimal, da die sozialen Bewegungen durch die vielen Jahre des schmutzigen Krieges ziemlich geschwächt sind. Gleichzeitig gibt es ge­genwärtig in der Gesellschaft ein eindeu­tiges Klima für Verhandlungen – sei es, weil die Leute Veränderungen wollen, sei es, weil sie einfach für eine Beendigung des Krieges sind. Viele, die vor anderthalb Jahren noch die Auslöschung der Guerilla ver­langten, haben heute die realistische Ein­schätzung, daß dies mit militärischen Mitteln nicht möglich ist. Bei den sozialen Bewegungen oder den Intellektuellen gibt es das Bewußtsein, daß die Möglichkeit besteht, die Verhandlungen zum Anlaß zu nehmen, um über die gesellschaftlichen Probleme zu diskutieren.
In der Vergangenheit haben Regierung und Guerilla immer allein verhandelt. Heute wollen sich viele Sektoren der Ge­sellschaft, wie zum Beispiel die Kirche, die Gewerkschaften, die politischen Par­teien, die Menschenrechtsgruppen, Intel­lektuelle, am Friedensprozeß beteiligen. Sogar ein so traditionalistischer Bereich wie die Kirche verkündet mittlerweile, daß der Frieden nicht die Frucht der Ab­wesenheit von Krieg, sondern die Frucht der sozialen Gerechtigkeit sei. Auch die Massenmedien haben ihre Position voll­ständig geändert, sind jetzt flexibler in dem Sinne, daß sie fordern, daß Bedin­gungen geschaffen werden, um über eine Reihe von gesellschaftlichen Problemen zu diskutieren. Sie geben mittlerweile der Debatte Raum und rufen nicht mehr, wie in der Vergangenheit, zum Krieg auf. Ei­nige Medien der Alternativpresse, wie etwa “Colombia hoy” und “Utopías”, nehmen aktiv an den Diskussionsprozes­sen teil.
Bemerkenswert ist, daß diese Regierung im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen bereit ist, die Anwesenheit von gesell­schaftlichen Gruppen bei den Friedensge­sprächen zu akzeptieren, beispielsweise der Vertreter der Erdölgewerkschaft, die sich besonders vehement gegen die neoli­berale Politik wehren.
Wichtige Verhandlungspunkte werden die Landverteilung, die öffentlichen Ausga­ben und die Rohstoff- und Umweltpolitik sein. Die Regierung ist sich offenbar dar­über im Klaren, daß sie Zugeständnisse machen muß. Aber auch die sozialen Be­wegungen und die Guerilla müssen ver­stehen, daß der Friedensvertrag, der am Ende der Verhandlungen steht, nicht die “Revolution per Dekret” sein kann. Doch müssen einige solide Grundlagen im wirt­schaftlichen und sozialen Bereich geschaf­fen werden. So muß beispielsweise die Situation der ärmsten Bevölkerungs­schichten deutlich verbessert werden.
Es handelt sich also um einen Prozeß von großer sozialer Dynamik, was mir als weitaus produktiver erscheint, als wenn lediglich die Regierung und die Guerilla sich an einen Tisch setzen würden. Gleichzeitig sind die Entwicklungen kaum vorhersehbar. Ich ziehe es vor, optimi­stisch zu sein.
Gibt es nicht genug Anlaß, skeptisch zu sein? In der Vergangenheit übergaben schon andere Guerillas die Waffen, und später wurden viele ihrer legalen Vertrete­rInnen ermordet. Besteht nicht die Gefahr, daß dies wieder geschieht?
Diese Möglichkeit kann auf kei­nen Fall ausgeschlossen werden. Um un­nötige Ri­siken zu umgehen, ist es wichtig, daß sowohl Guerilla als auch soziale Be­wegungen von der Regierung konkrete Si­cherheitsgarantien verlangen. So müssen die Militärs aufhören, in den Medien poli­tischen Druck auszuüben und gegen die Guerilla zu provozieren, um anschließend ihre Morde rechtfertigen zu können. Auch muß die Regierung klar signalisieren, daß Militärs, die mit den Paramilitärs zusam­menarbeiten, aus den Streitkräften entfernt und die Verbindungen zwischen Militärs und Todesschwadronen zerstört werden. Es ist natürlich schwierig, dies in einem Vertrag festzuschreiben, da es sich hierbei nicht um offizielle, sondern um verdeckte und illegale Verknüpfungen handelt.
Zudem ist von entscheidender Wichtig­keit, daß sowohl auf die Guerilla als auch auf die Regierung Druck ausgeübt wird, daß sie zu der Übereinkunft kommen, die Internationalen Menschenrechte zu ak­zeptieren. Eine internationale Kontroll­kommission könnte dazu beitragen, daß sich das Klima verbessert, würde aller­dings noch keine vollen Sicherheitsgaran­tien gewährleisten. Auch in diesem Be­reich muß man Schritt für Schritt vorge­hen. Die Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien haben komplexe Ursachen und lassen sich daher nicht einfach durch ein Dekret des Präsidenten abschaffen.
Was ist angesichts dieser politischen Entwicklungen die Interessenlage der Drogenhändler?
Auf diese Frage habe ich keine sehr prä­zise Antwort. In der Zeit, als das Medel­lín-Kartell noch stärker war, waren die Verbindungslinien zwischen dem Dro­genkartell und der Aufstandsbekämp­fungspolitik sehr offensichtlich. Einer der politischen Akteure des Drogenhandels, die überlebt haben, ist Fidel Castano, der in Urabá und Cordoba agiert und parami­litärische Gruppen befehligt, die mit dem Militär zusammenarbeiten. Ihm ging es stets nicht nur darum, seinen Drogenhan­del zu schützen, sondern auch die Guerilla und ihr soziales Umfeld zu bekämpfen, indem er beispielsweise gegen Bauern vorging, die Land besetzten. Es ist damit zu rechnen, daß Drogenhändler wie Ca­stano versuchen werden, sich in die Ver­handlungen einzumischen.
Es gibt allerdings keine offene Opposition gegen Verhandlungen, sondern vielmehr Forderungen, daß die Drogenhändler und Paramilitärs in den Friedensprozeß inte­griert werden. Die Regierung hat ange­kündigt, sie wolle die Verhandlungen mit der Guerilla von der Lösung der Probleme des Drogenhandels und der Paramilitärs trennen, da sie letztere nicht als politische Akteure und Gesprächspartner anerkennt. Trotzdem gehe ich davon aus, daß unter der Hand Verhandlungen stattfinden.
Das Kartell von Calí äußert sich selten zu solchen Fragen. Es setzte immer auf Übereinkünfte mit wirtschaftlichen Kräf­ten in der Region Cauca, investierte Geld und mischte sich kaum in die Politik ein. Wenn es paramilitärische “Säuberungsaktionen” durchführte, tat es sie einfach, ohne gleichzeitig Propaganda zu betreiben. Auch wenn das Cali-Kartell den Ruf hat, nicht terroristisch, sondern kultivierter und zivilisierter vorzugehen, waren seine Methoden im Tal von Cauca immer sehr barbarisch. Es ließ zwar keine Bomben legen, massakrierte aber Campesinos und richtete Blutbäder in der Bevölkerung an.
Es ist sehr schwierig abzuschätzen, wie sich die Drogenmafia verhalten wird. Man kann nur sagen, daß sie heute ein weniger komplizierter Akteur ist als in der Ver­gangenheit.
Weil sie so geschwächt sind?
Das Kartell von Medellín ist ge­schwächt, das Cali-Kartell ist an Ver­handlungen in­teressiert, weil sie wissen, daß sich in Zu­kunft der Druck auf sie er­höhen wird. Früher befanden sich die Drogenbosse aus Cali nie im Konflikt mit der kolumbiani­schen Regierung oder der US-amerikani­schen Drogenbekämpfungs­behörde DEA, da diese sich auf das Me­dellín-Kartell konzentrierten. Dabei wurde teilweise auch mit dem Cali-Kartell zu­sammengearbeitet. Jetzt, nach dem Tod von Pablo Escobar, dem Chef des Medel­lín-Kartells, wissen die Bosse in Cali, daß die DEA ihr Augenmerk auf sie gerichtet hat. Deswegen treten sie in Verhandlun­gen mit der Staatsanwaltschaft ein. Einige Drogenhändler haben sich bereits gestellt.
Unterstützen die Menschenrechtsor­ganisationen die Politik des Straferlasses für Drogenbosse, die sich stellen?
Nein. Einige Menschenrechts­gruppen sind der Meinung, daß eine Le­galisierung des Drogenhandels Vorteile hätte. Es ist aller­dings nicht akzeptabel, daß die Menschen­rechtsverletzungen der Drogenhändler straffrei bleiben. Viele von ihnen sind noch dazu in die Aufstandsbe­kämpfung verwickelt. Es ist für uns schwer zu ak­zeptieren, daß die Strafe für diese Verbre­chen zwischen ihnen, der Staatsanwalt­schaft und der Regierung ausgehandelt wird.
Während ein Drogenhändler dann nur zwei oder drei Jahre absitzen muß, werden Gewerkschaftsführer der staatlichen Tele­fongesellschaft Telecom, die kein anderes Delikt begangen haben, als einen Streik zu organisieren, zu acht Monaten Haft ver­urteilt. Viele politische Gefangene sitzen nach wie vor sogar ohne Gerichtsverfah­ren und Verurteilung seit mehr als vier Jahren in Haft. Es gibt eine Politik, die Drogenhändler willkürlich zu bevorzugen und soziale Bewegungen zu kriminalisie­ren.
Gleichzeitig bin auch ich der Meinung, daß man dem Phänomen des Drogenhan­dels nicht nur mit Repression begegnen darf. Es handelt sich um ein gutes Ge­schäft, weil es illegal ist. In dem Moment, wo es legalisiert wird, ist es für die Dro­genhändler weniger lukrativ. Gleichzeitig würde die Gewalttätigkeit zurückgehen, die mit einem illegalen Gewerbe einher­geht. Diese Position wird nicht von allen Menschenrechtsgruppen in Kolumbien geteilt. Meine Organisation vertritt aller­dings die Meinung, daß der Handel mit Drogen und Betäubungsmitteln entkrimi­nalisiert werden muß.
Die kolumbianischen Menschen­rechtsgruppen werden zusammen mit der internationalen Kampagnenkoordination im kommenden Februar einen Kongreß in Brüssel abhalten. Welche Unterstüt­zung erwarten sie sich vom Ausland?
Gerade jetzt, nach der internatio­nalen Kampagne von “amnesty internatio­nal” und der Vorlage des Berichtes der Intera­merikanischen Menschenrechts­kommission, befindet sich die kolumbia­nische Regierung in einer Situation, wo sie klare Zeichen setzen muß, damit die internationale Gemeinschaft ihr abnimmt, daß sie Anstrengungen zur Bekämpfung der Menschenrechtsverletzungen unter­nimmt. Heute kann sich ihr politischer Wille nicht mehr darin erschöpfen, daß sie einige Menschenrechtskurse für Militärs anbietet oder ein Büro für Menschen­rechte im Verteidigungsministerium ein­richtet.
Wir erwarten von der internationalen Ge­meinschaft, daß sie anfängt, die kolum­bianische Regierung nicht mehr als ohn­mächtiges Opfer, sondern als Verantwort­liche für die Menschenrechtsverletzungen und den schmutzigen Krieg anzusehen. Der Fall Kolumbien muß in der UNO-Menschenrechtskommission analysiert werden. Jahrelang war der Blickwinkel der Staaten des Nordens und auch der Vereinten Nationen auf Militärdiktaturen verengt. Dort, wo formale Demokratien existierten, wurden Menschenrechtsver­letzungen als interne Probleme angesehen. Dies hat lange verhindert, daß die interna­tionale Gemeinschaft sich mit der Situa­tion in Kolumbien beschäftigt. Jetzt ist eine unserer Forderungen, daß ein UNO-Sonderberichterstatter für Kolumbien er­nannt wird.
Momentan hat die kolumbianische Regie­rung enorme Angst, durch ihre Verletzun­gen der Menschenrechte einige ökonomi­sche Vorzugsbedingungen im Exportbe­reich zu verlieren, die sie zur Zeit bei der Europäischen Gemeinschaft oder einigen Mitgliedsländern hat. Zwar handelt es sich hierbei mehr um eine Befürchtung als um eine Realität, denn bis jetzt gab es keine offenen Äußerungen, daß die europäi­schen Staaten wirtschaftliche Sanktionen in Erwägung ziehen.
Wichtig ist, daß diese kolumbianische Re­gierung großen Wert darauf legt, was im Ausland von ihr gehalten wird. Der Druck, der von der internationalen Öf­fentlichkeit ausgeht, ist daher von ent­scheidender Bedeutung.

Der zivile Widerstand in Chiapas

1. Das vom “System” der Staatspartei PRI geschaffene soziale Unrecht hat den be­waffneten Aufstand der EZLN am 1. Januar hervorgebracht, und die Wahlfäl­schung der “Salinisten” am 21. August hat dann auch eine unmißverständliche Ant­wort der Indígena-Völker in verschie­denen Gegenden des Bundesstaates Chia­pas – also der ärmsten Bürger des Landes – erhalten. Es ist eine Antwort, die schon jetzt ein breites Programm des zi­vilen Un­gehorsams ankündigt: Sowohl gegenüber der Zentralregierung, als auch gegenüber den illegitimen Autoritäten in Chiapas klagen sie Autonomie ein; sie fordern das Recht, einen von ihnen selbst gewählten Gouverneur zu haben. Die Zentralregie­rung soll ihre verfassungsmäßigen Pflich­ten erfüllen. Da­mit vertieft sich der chia­panekische Kon­flikt, er wird zur nationa­len Angelegen­heit.
Ziviler Ungehorsam
2. Der zivile Widerstand beziehungsweise Ungehor­sam ist bekanntermaßen ein Bün­del von Aktionen, mit denen die Bürger ganz bewußt und zu Recht Gesetze über­treten, um der Einsetzung illegitimer Herrschaft oder dem Erlaß ungerechter Gesetze zu widerstehen. Von John Locke über Gandhi bis Martin Luther King haben die Theoretiker des zivilen Unge­horsams des­sen moralische Berechtigung betont und als einen effektiven und fried­lichen Weg zum Wandel anerkannt. Genau das ist es, was große Teile der chiapa­nekischen Be­völkerung tun: Sie leiten eine Reihe von öffentlichen und friedli­chen Aktionen und Unterlassungen ein, mit denen sie gegen die Po­litik der Zentral­regierung protestieren, die ihnen einen PRI-Gouverneur in ihrem Bundes­staat auf­zwingen will. Sie organi­sieren den wich­tigsten zivilen Ungehor­sam in der Ge­schichte Mexikos mit dem Ziel, sich selbst regieren zu können.
3. Der zivile Ungehorsam hat sich in unse­rem Land als ein Kampfmittel bisher nur erahnen lassen – und auch das nur in Aus­nahmefällen. Daher gewinnt die Entschei­dung der Chiapaneken an Bedeutung. 1985 und 1986 haben verschiedene PAN-Gruppen (der rechten Oppositionspartei Partido de Acción Nacional, d.Red.) nach den Wahlfälschungen in Nuevo León und Chihuahua Aktionen zivilen Widerstands durchgeführt. Brücken und Straßen wur­den blockiert, Steuern nicht bezahlt, um die Maschinerie der Wahlfälschung auf­zuhalten. Sie gaben jedoch dieses Kampfmittel sehr schnell auf. Für die Prä­sidentschaftswahlen 1988 hat der dama­lige PAN-Kandidat Clouthier eine ganze Strategie des Widerstands entwickelt, doch wurde er schon kurz nach den Wah­len am 6. Juli von seiner Parteispitze ge­stoppt. Und im Laufe der Präsidentschaft von Salinas sind nach verschiedenen Wahlfälschungen Aktionen dieser Art ver­sucht worden, aber ihre geringe Resonanz zwang die Oppositionsführer immer wie­der dazu, diese Maßnahmen aufzu­geben. Zum Beispiel haben PRD- und PAN-Poli­tiker vor den diesjäh­rigen Wahlen bekräf­tigt, sie würden Aktionen zivilen Wider­stands gegen die erwartete Wahlfälschung einleiten. Nach den Wah­len am 21. August wurde deut­lich, daß sie gelogen und überhaupt nichts vorbereitet hatten, obwohl sie wissen mußten, was bei den Wahlen geschehen würde. Auch in dieser Hinsicht hat uns Chiapas wieder einmal überrascht.
Ein Beispiel an Zivilcourage
4. Das Szenarium in Chiapas bestimmt daher weiterhin die nationale Politik, und zwar in bisher ungeahntem Ausmaß. Aus Sicht der Bürger ist es bezeichnend, daß es erneut diejenigen, denen die lokale Oligarchie und die technokratische Zentral­macht alle Rechte vorenthalten ha­ben, sein müssen, die dem ganzen Land ein Beispiel an Würde und Zivilcourage geben. Andererseits zwingt die Sturheit der Regierung ihre Bürger dazu, immer radikalere Methoden anzuwenden, um das grundlegende Recht der Indígena-Völker auf Leben, Glück und – selbstver­ständlich – auf die Wahl ihrer eigenen Re­gierung zu verteidigen.
5. Die Besetzungen von Rathäusern, die Blockaden der Landstraßen und die Land­besetzungen auf Großgrundbesitz haben zwar das ganze Jahr 1994 geprägt, doch zu dem Recht auf Verteidigung ihrer Au­tonomie tritt jetzt die Forderung, den­jenigen zum Gouverneur zu haben, den sie auch gewählt haben. Dies haben die 200 Indígenas der CEOIC (des nach dem Januar-Aufstandes gebildeten Dach­verbandes unabhängiger Bauernorganisa­tionen Coordinadora Estatal de Organi­zaciones Indígenas y Campesinas de Chiapas), die die Landstraße nach Tuxtla blockiert haben, in einem Graffiti deutlich zum Ausdruck gebracht: “Von dieser Ge­meinde an beginnt die autonome, freie und souveräne Region Nord-Chiapas”. Die Gruppen der CIOAC (des Bauern­verbandes Central Independiente de Obreros Agrícolas y Campesinos), der PRD (der linken Oppositionspartei Par­tido de la Revolución Democrática) und der Zivilgesellschaft, die die Rathäu­ser von Simojovel, Huitupan und Soyaló be­setzt, die PRI-Bürgermeister verjagt, sie durch plurale Gemeinderäte ersetzt haben und alle Zufahrtsstraßen unter Kontrolle halten, fordern damit in einzigartiger, de­mokratischer Weise eine Regierung her­aus, die während ihrer gesamten sechsjäh­rigen Amtszeit die soziale Realität in un­serem Land mißachtet hat und keine politischen Antworten auf die Forderun­gen der Mexikaner fand.
Der doppelte Diskurs der PRI-Regierung
6. Die Salinas-Regierung hat sechs Jahre lang einen doppelten Diskurs verwendet: einen nach innen, und einen nach außen gerichteten; einen der Worte, und einen der Taten, wie der Fall Chiapas deutlich zeigt. Während eines offiziellen Besuchs in New York im vergangenen Sommer traf der prominente Unternehmer und Wirtschaftsberater von Salinas, Claudio X. González mit den 15 wichtigsten auf Mexiko spezialisierten Journalisten im berühmten “21 Club” zusammen. Dort be­sprach der Magnat nach einem üppigen, mit erlesenen Weinen abgerundeten und selbstverständlich von der mexikanischen Regierung bezahlten Mittagsmahl, das Thema Chiapas – allerdings in einer Weise, wie es die PRI-Rhetorik im In­nern nie zu tun pflegt. Da sich Don Clau­dio X. zur Zeit nicht auf mexikani­schem Boden befand, nahm er sich die Freiheit, den erstaunten Reportern zu er­klären, die Regierung habe einen Plan, um den Chiapas-Konflikt mittels eines Investiti­onsprojektes zu lösen. Ähnlich wie ver­schiedene indianische Verwaltun­gen in den USA plane die mexikanische Regie­rung die Errichtung von Kasinos sowohl im chiapanekischen Hochland als auch im lakandonischen Urwald. Er er­läuterte den immer verdutzteren Journalisten, von den Spielhallen wür­den irgendwann auch die Indígenas profitie­ren, da sie ja Aktien er­werben könnten, genau so wie bei den “Stämmen” im Süden der USA. Ange­sichts der Sprachlo­sigkeit der Reporter bat der Unter­nehmer, noch Stillschweigen über dieses Projekt zu wahren. Hierbei wird deutlich, daß die Technokraten so tun, als ob sie den Willen der Chia­paneken und ihr verfassungsmäßiges Recht auf Land, Wasser, Wälder und auf eine demokra­tisch gewählte Regierung respektieren. Doch gleichzeitig verraten ihre Taten und ihre wenigen ehrlichen Er­klärungen, wie wenig sie die Wirklichkeit dieses Landes kennen und was sie tatsächlich mit ihm vorhaben. Wo bleibt da der Respekt vor den individuellen und kollektiven Men­schenrechten der Völker Chiapas’?
7. Die Regierung von Carlos Salinas hat den “Fall Chiapas” von Anfang an zwei­schneidig behandelt und trägt daher die Verantwortung für die kritische Situation, in der sich der Bundesstaat heute befindet: Sie gab vor, ihren verfassungsmäßigen Pflichten in bezug auf Land, Gesundheit, Wohnung, Gerechtigkeit und Freiheit nach­zukommen, hat dies jedoch nie getan. Ihre Propaganda hat vollmundig sau­bere Wahlen angekündigt und gleichzeitig eine Wahlfälschung unbekannten Aus­maßes begangen, um den Senator Eduardo Robledo als Gouverneur einzu­setzen, einen Helfershelfer früherer Regie­rungen und einen Büttel der Großgrund­besitzer und der korruptesten Politiker Mexikos. Sie hat den Frieden ver­kündet und gleich­zeitig die umfangreichste Kriegsmaschi­nerie der mexikanischen Ge­schichte in einem einzi­gen Bundesstaat zusammenge­zogen – nach Augenzeugen mehr als 50.000 Soldaten. Vor diesem Hintergrund ist die Realitäts­ferne von Jorge Madrazo zu sehen, dem zweiten Unter­händler der Regierung gegenüber dem EZLN, der “noch nie auch nur einen ein­zigen Zapati­sta auf 500 Meter Entfernung erblickt hat”. Mit der Errichtung von drei Beob­achtungs-Camps in der Nähe der Militär­sperren behauptete Madrazo, einen Bei­trag der Regierung “für den Frieden” zu leisten und “eine Verhandlungslösung” für den Konflikt zu suchen (La Jornada, 26. Oktober), wo doch alles auf das Gegen­teil hindeutet. Die abtretende Re­gierung (die anscheinend nicht abtreten will) mußte zwar Anfang Januar dank der Bürgerpro­teste und des Drucks der Weltöffentlich­keit von ihrer Vernich­tungspolitik ablas­sen, verfolgt jedoch wei­terhin dieselben Ziele ihres neoliberalen Programms: sich jeder demokratischen Öffnung zu wider­setzen, das System des Großgrundbesitzes zu stärken, das Kazi­kentum zu konsolidie­ren, die Sozial­ausgaben abzubauen und die Reichtümer Chiapas’ – inklusive seiner Erdöl­vorkommen – den multinationalen Kon­zernen gänzlich auszuliefern.
Autonomierechte zur Konfliktlö­sung
8. Der Konflikt in Chiapas ist nur politisch lösbar, und genau das kann die abtretende Regierung nicht verstehen. Der sozialen Herausforderung, die der Kampf der Indí­gena-Völker Chiapas’ darstellt, kann nur begegnet werden, indem ihnen Auto­nomierechte zugestanden werden – also die Fähigkeit, sich selbst zu regieren, eine eigene Bundesstaatsregierung zu bilden und ihre in der mexikanischen Verfassung verankerten individuellen und kollektiven Menschenrechte wahrzunehmen. Die Re­gierung muß mit Großmut antworten, nicht mit Intoleranz. Doch nach ihrem Verhalten in den letzten sechs Jahren und angesichts der wenigen verbleibenden Zeit ist eine derartige Umkehr nicht mehr zu erwarten. Dadurch werden die Gräben, die das chiapanekische Problem gezogen hat, immer tiefer.
9. Lösungensansätze des Konflikts, die sich in der Situation nach den Wahlen zaghaft abzeichnen, geben kaum Anlaß zu Opti­mismus. Das Chiapas-Problem läßt sich nicht – wie dies die PRI-Kurz­sichtigkeit vorgibt – durch Verhandlungen zwischen Robledo und dem Oppositions­kandidaten Avendaño lösen. Robledo entbehrt jeder Legitimität, um Chiapas zu regieren, nicht nur, weil er ein Büttel der übelsten Inter­essen im Bundesstaat ist, sondern auch, weil er eine Wahlfälschung ungeahnten Ausmaßes, also eine Vielzahl krimineller Vergehen, ausnutzen will, um sich des Gouverneursamts zu bemächti­gen. Es sei nur daran erinnert, daß die Wahlen nach Angaben des “Tribunals des Chiapaneki­schen Volkes”, eines von verschiedenen Organisationen einge­setzten, unabhängi­gen Wahlprü­fungs­gerichtes, in mindestens der Hälfte aller Wahlkabinen gefälscht worden sind (La Jornada, 25. Oktober). Demgegenüber wird Avendaño von real abgegebenen Wählerstimmen getragen, weshalb er Gouverneur von Chiapas wer­den muß, um den Prozeß des demokrati­schen Über­gangs anzuführen: Er allein besitzt die nötige Legitimation, und daher bedarf es – entgegen der Meinung der PRI- und eini­ger PRD-Politiker – keiner Verhand­lungen über diesen Punkt.
Die Fortsetzung des Kampfes mit zivilen Mitteln
10. Aus dieser Situation lassen sich deut­liche Schlußfolgerungen ziehen. Der so­ziale und politische Kampf der Völker Chiapas’, der mit bewaffneten Mitteln be­gonnen hat und jetzt durch neuartige Wege des zivilen Widerstands fortgesetzt wird, ist diese langen Monate hindurch ein Kampf für alle Mexikaner gewesen. Des­halb sind wir verpflichtet, ihnen zu ant­worten. Und ihnen zu antworten be­deutet, auch unser eigenes Recht darauf, Bürger zu sein, zu verteidigen.
Luis Javier Garrido ist Mitglied des kol­lektiven Präsidiums der Demokratischen Nationalen Kon­vention (CND) Mexikos.

Haiti geballt

The Haiti Files – das ist ein Sammelung aus Be­richten, Dokumenten, ver­traulichen Memos, Nieder­schriften und Reportagen. Das Gerüst für die vielen, kurzen Kapitel bilden vier Hauptteile – die Schilde­rung der Ausgangslage, die Ak­teure und die Krise nach dem Militär­putsch im Sep­tember 1991 – komplettiert durch eine Chronologie der Ereignisse.
Eine Ikone des Internationalismus führt in die Tragik des Karibikstaates ein. Noam Chomsky versucht, den roten Faden von der Conquista bis zum heutigen Tag auf­zunehmen – leider gleitet er ihm immer wieder aus den Händen. In der Tradition linker Analyse erscheint Haiti als Tum­melplatz von Kolo­ni­al­mäch­ten und den strategischen Interessen der USA. Die Be­völkerung bleibt in Chomskys Beitrag – entgegen aller Erkenntnisse der Sozialge­schichte – nur in der Rolle des Opfers. Gelungener, weil authentischer, ist ein Beitrag über den Diktator Francois “Papa Doc” Duvalier. “Unser Doc, der Du bist lebenslang im Nationalpalast, geheiligt sei Dein Name jetzt und für alle Zukunft … gib uns heute unser neues Haiti und vergib niemals die Sünden der Anti-Patrioten, die täglich auf unser Land spucken.” Keine Parodie, sondern der Schluß einer von der Diktatur vertriebenen Broschüre mit dem Titel “Katechismus der Revo­lution”.
Haiti – mehr als Militär
und Aristide
Im zweiten Teil des Buches gelingt der Versuch ein Bild von den Kräften zu zeichnen, die in den vergangenen Jahren die Politik in Haiti bestimmt haben: mächtige Familien­clans, das Militär, die haitianische Exilgemeinde in den USA, die Volksbewegungen und na­tür­lich Jean Bertrand Aristide.
In der Weltöffentlichkeit erschien die Krise Haitis seit dem Militärputsch vor drei Jahren als ein Machtkampf zwischen reaktionären Militärs und einem un­gewöhnlichen Präsidenten im Exil. Das wurde dem Einfluß der großbürgerlichen Clans auf Haiti nicht gerecht. Nicht nur, daß die Brandts, die Mevs, die Accras und einige andere den Militärputsch im Sep­tember 1991 unterstützt hatten; sie haben auch bis zur Invasion der USA durch ge­schickte Lobby-Arbeit in Washington die Rückkehr von Aristide hinter­trie­ben. Da­bei stießen sie sogar in höchste Regie­rungskreise vor. Ron Brown, Handelsmi­nister im Kabinett von Bill Clinton, wühlte lange Jahre als Lobbyist für “Baby Doc”, Sohn und Nachfolger von “Papa Doc” Duvalier, in der Machtzentrale Wa­shing­ton. Fast jede Familie hat eine solche Wühlmaus in Washington – Juri­sten, die mit vertraulichen Memos und so­genannten Hintergrund­in­formationen Ein­fluß auf die US-Administration und Kon­greßabge­ord­ne­te nehmen. Detailliert und substantiell wer­fen die Haiti Files Licht auf diese dezent und im Dunklen arbei­tenden Kräfte.
Die sauber recherchierte Information über Struk­tu­ren und Hierarchie ist auch die Stärke des Abschnitts über das haitiani­sche Militär. Gerade auf dem Land, auf dem 75 Prozent der Bevölkerung leben, hatte die Junta durch ein feingesponnenes Netz sogenannter chefs de section eine fe­ste Basis. Brutal und ohne Legitimation durch die Verfassung regierten sie im Stile kleiner Diktaturen ihre Bezirke. Die be­rüchtigten Attachés waren ihre Scher­gen, die sie durch ein ausgeklügeltes Sy­stem von Korruption und Postenschieberei an sich banden. Besonders ein Bericht des in New York ansässigen Lawyers Com­mittee for Human Rights veranschaulicht die Effizienz und Kaltschnäuzigkeit mili­tärischer Hierarchie.
Die unter den Duvalier-Diktaturen be­rüchtigten Tonton Macoutes, eine Art Pri­vatarmee der Duvaliers, waren den Mili­tärs nach dem Sturz von “Baby-Doc” ein Dorn im Auge und wurden 1987 unter der Junta von General Namphy verboten. Wenn auch nicht mehr organisiert, blieben sie das Schreckgespenst der armen Bevöl­kerung, tauchten als Attachés wieder auf und erreichten unter dem Deckmäntelchen einer neuen Partei der Rechten, der FRAPH, beinahe wieder den alten Einfluß. Der Aufbau der Haiti Files erweist sich hier als Manko, die Informationen über Militär, Tonton Macoutes und FRAPH sind reich an Details, die Querverbindun­gen werden aber nur angerissen.
Portraits der Machtlosen
Nur wenig Raum bekommt die haitiani­sche Exilgemeinde in den USA. Nahezu 1,5 Millionen HaitianerInnen leben in der Diaspora, die meisten davon in den USA. Ein erheblicher Anteil des Bruttosozial­produkts in Haiti kommt – ähnlich wie auf Kuba – aus den Geldbeuteln von Ver­wandten und FreundInnen aus den USA. Umso bedauerlicher, daß die Heraus­geber­Innen dem Phänomen der Exil­haitianerInnen nicht einmal zehn Sei­ten wid­men. Die Darstellung bleibt in der Beschreibung von Polit-Machtkämpfen zwi­schen den unterschiedlichen Strömun­gen der Exilgemeinde stecken.
Auch der nächste Block über die Volks­bewegungen Haitis kommt nicht über strukturelle Beschreibungen hinaus. La­valas, die Sturzflut, das ist die heterogene Volksbewegung die den charismatischen Aristide fast über Nacht in den Präsiden­tenpalast geschwemmt hat. Der übrigens bereits in den LN 238 veröffentlichte Ar­tikel von Marx V. Aristide und Laurie Richardson gibt zwar einen Überblick über die strukturelle Vielfalt von Lavalas, läßt die LeserInnen aber im Stich, wenn sie die Antwort auf die Frage suchen: Lebt die Lavalas-Bewegung oder existiert sie nur noch in den Diskussionspapieren der zer­strittenen Strömungen innerhalb der Bewegung?
Der Block über die Akteur­Innen schließt mit Ari­stide selbst. Die Heraus­geberInnen haben sich für die Übernahme eines im Re­portagestil gehaltenen Portraits ent­schieden – eine glückliche Wahl. Das Cha­risma und die Ausstrah­lung des Sa­le­si­a­ner­prie­sters sind im Beitrag von Amy Wilentz greifbar, gleich einem Mes­sias scheint er über allem zu schweben. Seine Stel­lung als Antipode zur Amtskir­che wird jedoch nicht the­matisiert. Hier hätte ein kleiner Ausflug in die zweifel­haften Aktivitäten der Amtskirche wäh­rend der Zeit des Militärregimes das Bild bestimmt abgerun­det.
Der Eiertanz der US-Politik
Die AkteurInnen sind vorgestellt und im dritten Teil steigen die Haiti Files in die Krise ein. Die Krise, das ist die Zeit der Militärdiktatur, das sind die verzwei­felten Versuche von Aristide, dem New­comer auf der politischen Weltbühne, nicht im diplomatischen Ränkespiel unter­zugehen, das sind die permanenten Versu­che des US-Geheimdienstes CIA, aber auch des Pentagons, Aristide als Psycho­pathen zu diffamieren. Der Block über die Metho­den, Motive und Machenschaften der USA ist informativ und sauber geglie­dert. Insbesondere der Beitrag des US-Journali­sten John Canham-Clyne verdeut­licht, wie weit die USA in ihrem Handeln von den pathetisch formulierten Absichts­er­klä­rungen zu Freiheit und Demokratie ent­fernt waren.
Die wirtschaftlichen In­teressen der USA, das Zu­sammenspiel zwischen US-ameri­kanischer Wirt­schaftspolitik und den Empfehlungen der Weltbank nimmt der nächste Part un­ter die Lupe. Hier wagen die Haiti Files, was mensch sonst oft schmerz­lich vermißt: Den Blick in die Zukunft, auf die Weichen, die unabänder­lich gestellt scheinen. Optimi­stInnen re­deten bereits vom “Taiwan der Karibik”. Doch da ist der Wunsch eindeutig Vater des Gedan­ken; Haiti ist zwar Billig­lohnland, der US-Markt nahe, aber das gilt ebenso für jedes andere karibi­sche Eiland. Warum sich ausgerechnet Haiti, das Armenhaus der westlichen Hemi­sphäre, zum Tiger der Karibik mausern sollte, bleibt ein Rätsel.
Auch wenn die unmittelbare Verknüpfung dieses Blocks mit der politischen Situa­tion während der Militär­diktatur nicht unmit­telbar einsichtig erscheint, er­schließt sich den LeserIn­nen ein differenziertes Bild von den Zwängen, mit denen auch ein Jean Bertrand Aristide konfron­tiert sein wird.
Die Haiti-Connection – Drogenhandel und Militär
Haiti ist zunehmend als Drehscheibe im internationalen Drogenhandel ins Gerede gekommen. Mehr als Vermutungen und Gerüchte sind der Öffentlichkeit dabei noch nicht untergekommen. Die Haiti Files schaffen hier Abhilfe. Nüchtern und ohne sich nur auf Verdächtigungen zu stützen, listen sie auf, was bekannt ist und was von Untersuchungsausschüssen des US-Kongresses zusammengetragen wurde – und das belegt, daß hochrangige Vertre­ter des abgedankten Militärregimes tief in den Drogenhandel verstrickt waren. Aus einem Memo des US-Justizministeriums etwa geht hervor, daß der verhaßte Poli­zeichef von Port-au-Prince, Michel Fran­çois, im Drogengeschäft mitgemischt hat. Dabei hatte der CIA wahrscheinlich indi­rekt mitgeholfen: Mitte der 80er baute der US-Geheimdienst eine Anti-Drogen-Ein­heit im haitianischen Militär auf. Jetzt steht diese Einheit im Verdacht, eine der Schaltzentralen des Drogenhandels auf Haiti gewesen zu sein.
Der letzte Block des Krisenteils rollt die Scheinheiligkeit US-amerikanischer Men­schenrechtspolitik auf. Anhand eines Memos der US-Botschaft in Port-au-Prince wird deutlich, daß den Behörden in den USA daran lag, die Menschenrechts­situation in Haiti zu verharmlosen. Die Glaubwürdigkeit selbst solch renommier­ter und anerkannter Organisationen wie amnesty international wurde angezweifelt. Das Problem waren nicht die Menschen­rechte auf Haiti, sondern die Flüchtlinge vor der Küste der USA. Der Abschnitt verdeutlicht eindrucksvoll wie je nach po­litischer Großwetterlage in den USA, die Menschenrechte in Haiti entweder als ga­rantiert oder als verletzt betrachtet wur­den.
Ein Sammelband ist ein Sam­melband ist ein…
Der vierte und letzte Teil des Buches, die Chronologie der Ereignisse, beginnt am 15. Oktober 1990, dem Tag als Aristide seine Kandidatur für das Amt des Präsi­denten bekanntgab. Die Chronologie reißt am 11. Mai 1994, dem Redaktionsschluß für die Haiti Files ab. So sei hier der Lauf der Zeit vervollständigt. Am 15. Oktober 1994, vier Jahre nach seiner Erklärung, Präsident werden zu wollen, kehrt Aristide als solcher wieder nach Haiti zurück. Schade, daß die HerausgeberInnen nicht weiter in die Vergangenheit zurückgegan­gen sind – einige Eckdaten aus der Ge­schichte Haitis wären von großem Nutzen für die LeserInnen.
Als Nachschlagewerk für Hintergrundin­formationen über die politische Entwik­klungen der letzten Jahre hat der Sammel­band eine schmerzliche Lücke geschlos­sen. Jedoch wäre ein Register eine große Hilfe gewesen, gerade weil sich den Le­serInnen darüber die Querver­bindungen zwischen den Beiträgen er­schlossen hät­ten.
Die Haiti Files: 33 AutorIn­nen, 33 Bei­träge, 33 Ansichten, Haiti geballt – we­ni­ger ist manchmal mehr.
Das Latin American Bureau hatte sich an­gesichts der Aktualität des Themas Haiti im Frühsommer ent­schieden, das Buch früher als geplant auf den Markt zu brin­gen – zu Lasten der Aufmachung. Die Bü­cher des Londoner Verlags bestechen im allgemeinen durch ein­fallsreiche Titel­montagen und sauberen, modernen Druck; nicht so die Haiti Files. James Ferguson, Au­tor mehrerer Latin America Bureau-Titel, erklärte ge­genüber den LN auf der Frankfurter Buchmesse, dies sei der Preis für die Aktualität. Dem Verkauf des Bu­ches hat sein Äußeres offenbar nicht ge­schadet. Nach Verlagsan­gabe geht der Sam­melband sehr gut.

The Haiti Files: Decoding the Crisis, hrsg. v. James Ridgeway; Essential Books, Washington D.C., 1994. Latin America Bu­reau, London, 1994. Bezug: LN-Vertrieb, Gneisenaustraße 2, 10961 Berlin. 16,80 DM

Kein Artikel von Gunther Dietz

Seit Juli dieses Jahres untersucht Gunther Dietz im Rahmen eines Dissertationssti­pendiums der Friedrich-Ebert-Stiftung Transforma­tionsprozesse in den Indígena-Gemeinden der Meseta Purhépecha im mexikani­schen Bundesstaat Michoacán. Er arbeitet auch für die Indígena-Nachrichten­agentur AIPIN (Agencia In­ternacional de Prensa India), die auf dem ganzen Kontinent tätig ist und über einen Beobachterstatus bei den Vereinten Na­tionen verfügt. Mit mehre­ren AIPIN-Mit­arbeiterInnen begleitete er einen 60 Ki­lometer langen Protestmarsch der Purhé­pecha-Indígenas nach Morelia, der Haupt­stadt des Bundesstaates Michoacán.
Die Entführung
Nach Abschluß der Indígena-Proteste wurde er am 28. September von drei be­waffneten Männern in Zivil festgenom­men, als er am Busbahnhof von Morelia auf die Rückfahrt nach Purhépecha war­tete. Dietz wurde in ein zweites Auto ver­frachtet, wobei es den Entführern gelang, Rogelio Marcado, Leiter des AIPIN-Re­gionalbüros von Michoacán, abzuschüt­teln, und wurde in die rund 500 Kilometer entfernte Hauptstadt (Mexiko, D.F.) ge­fahren.
Einer der Männer, die ihn verhaf­tet hatten, gab sich als Mitglied der “Nationalen Si­cherheit” (Seguridad Nacional), einer Art Geheimpolizei, aus. Der Hamburger Wissen­schaftler erhielt kei­nerlei Gelegen­heit, sich mit seiner Frau oder mit einem Ver­treter der Deutschen Botschaft in Verbin­dung zu setzen.
Die Verhöre
In der Hauptstadt angekommen, wurde Gunther Dietz in die Einwanderungsbe­hörde (Instituto Nacional de Migración) gebracht, wo ihm zuerst seine Tasche mit persönlichen Papieren und Unterlagen von AIPIN abgenommen wurde. Anschließend begann ein mehrstündiges Verhör durch zehn (!) Männer einer “Grupo Especial”, wobei er permanent gefilmt und seine Aussagen auf Tonband aufgenommen wurden. Obwohl er mehrmals auf den of­fiziellen Charakter seiner Studien hinwies und auch mehrere Kontakte zu Regie­rungsstellen angeben konnte, wurde er le­diglich über politische Kontakte in Mi­choacán ausgefragt und seine Arbeit als subversiv dargestellt.
Nach einer kurzen Pause wurde das Ver­hör weiter intensi­viert und mehrere Stun­den fortgesetzt. Ihm wurde sogar vorge­halten, daß er mit anderen AusländerInnen an einem “Komplott” in der Meseta Pur­hépecha beteiligt sei. Dabei wurden ihm unzählige Fotos von AusländerInnen vor­gelegt, die angeblich “Indios aufstacheln”. Auf vielen der Fotos waren fünf seiner StudentInnen aus Hamburg zu sehen, mit denen er im Juli im Rahmen einer Exkur­sion der Uni­versität Hamburg eine empiri­sche Studie in Michoacán durchgeführt hatte. Je län­ger das Verhör dauerte, um so abstruser wurden die Anschuldigungen: Zwischen­zeitlich rückte er sogar zum Or­ganisator einer In­dígena-Rebellion auf.
Erst am Abend wurde ihm erlaubt, die Botschaft zu benachrichtigen und seine Frau anzurufen, die daraufhin die “Mexikanische Liga für Menschenrechte” einschaltete, welche sich – allerdings ver­geblich – um seine Freilassung bemühte. Auch die Intervention der Friedrich-Ebert-Stiftung und des PEN-International blieb ohne Wirkung.
Statt dessen wurde er um Mitternacht zum dritten Mal verhört. Thema diesmal: Der Aufstand der ZapatistInnen und seine Kontakte zu Volks- und Nichtregierungs­organisationen in Chiapas – dabei war Gunther Dietz noch nie in Chiapas. Erst weit nach Mitternacht und nachdem er die Stimme verloren hatte, wurden die Ver­höre been­det. Ohne die Verhörprotokolle ausrei­chend einsehen zu können, mußte Gunther Dietz diese unterschreiben, bevor er in ein Gefängnis gefahren und bis zum nächsten Morgen in eine Einzelzelle ge­sperrt wurde. Zum ersten Mal nach ein­einhalb Tagen durfte er einige Stunden schlafen.
Die Ausweisung
Am nächsten Tag wurde er zwar von ei­nem Arzt im Gefängnis untersucht, doch weder seine Stimmbänder noch seine Grippe wurden behandelt. Sofort nach dem Arztbesuch wurde er zum internatio­nalen Flughafen gefahren, wo er erneut bis zum Abend eingesperrt wurde. Ein Vertreter der Migrationsbehörde erklärte ihm, daß seine Behörde keinerlei Einfluß auf seinen Fall habe. Die Entscheidung würde von der Geheimpolizei getroffen.
Um acht Uhr abends erfuhr er von einem Luft­hansa-Angestellten, daß er ausgewie­sen und mit der nächsten Maschine eine halbe Stunde später nach Frankfurt geflo­gen werden würde. Dort kam er krank und ohne Geld am nächsten Tag an, und fuhr per Anhal­ter zehn Stunden nach Hamburg.
Erst dort konnte er erneut Kontakt mit sei­ner Frau aufnehmen, die seit dreißig Stun­den keine Nachricht mehr von ihm hatte. Fast unnö­tig anzumerken, daß er weder seine Ta­sche mit den Doku­menten zu­rückerhielt, noch die Papiere, die er unter­schreiben mußte. Bis heute hat er den of­fiziellen Grund seiner Ausweisung nicht erfahren.
Gezielte Repression
Die gesamten Umstände der Verhaftung und Ausweisung von Gunther Dietz weisen darauf hin, daß er Opfer der gezielten Re­pression der mexikanischen Regierung geworden ist. Nicht zum ersten Mal hat die Regierung ihr unliebsame Ausländer­Innen des Landes verwiesen. Wer nicht nach Mexiko kommt, um in die neolibe­rale Wirtschaft zu investieren und Ge­schäfte zu machen oder alte Azte­ken- und Maya-Tempel zu besichtigen und die schönen Strände zu genießen, ist verdäch­tig. Und wer sich für die Lage der Ärm­sten der Armen, der Indígenas, inter­essiert, ist ganz besonders verdächtig. Ins­besondere deren Lage hat sich durch NAFTA, den Freihandelsvertrag mit den USA und Kanada, noch weiter ver­schlechtert. Doch Chiapas hat gezeigt, daß die Indígenas nicht mehr bereit sind, Un­terdrückung und Ausbeutung ohne Ge­genwehr weiter zu akzeptieren. Verände­rung ist angesagt. Doch statt auf Ent­wicklung setzt die mexikanische Regie­rung weiterhin auf Repression. Zeugen, zumal aus dem Ausland, sind da uner­wünscht.

Vom Charme und der Falle

Wie kann der Feminismus die Ereignisse von Chiapas beurteilen? Von einem Traum und von einem Standpunkt aus, die sich nicht darauf beschränken, Gleichheit für Frauen innerhalb des be­stehenden kulturellen Rahmens zu su­chen, der sich auf Aggression, Konkur­renz, Kampf, Kontrolle, Herrschaft, Ne­gation des Ande­ren (der Anderen) stützt. Sondern vorzu­haben, dieses Ge­flecht von Bildern von­einander, von uns selbst und von unserem Verhältnis zur Natur zu ändern – von einem Feminis­mus, der andere Logiken und Ethiken für das Leben sucht?
Für uns ist der Feminismus grundlegend pazifistisch und antikriegerisch. Niemals führt Aggression zu Freiheit und Frie­den, auch wenn wir Feministinnen manchmal aggressiv sind. Der Krieg in allen seinen Formen war immer das Rückgrat der Macht, der Ordnung und der Herrschaft des Patriarchats. Viel­leicht war deswegen der Krieg immer “Männersache”, auch wenn einige Femi­nistinnen gleiche Rechte für Frauen for­dern und dafür kämpfen, zu männlichen Räumen und männlicher Logik zugelas­sen zu werden, also auch zum Militär: Das sind machistische Räume und ma­chistische Disziplin (kein Platz für Schwache, Feiglinge oder solche, die nicht gehorchen können oder die eine ei­gene Meinung haben). Haben Sie be­merkt, daß Waffen immer an einen eri­gierten und ejakulierenden Penis erin­nern? …Die Waffen die Gott ihnen gab, wie Subcomandante Marcos sagt?
Feminismus ist antikriegerisch und pazi­fistisch, obwohl Feminismus grundle­gend rebellisch ist, ein großer Akt der Rebellion. Die rebellischte aller Rebel­lionen. Die sich gegen alle Rechtferti­gungen wendet, um den Anderen, die Anderen, die Andere, zu leugnen, die neue Formen des Zusammenlebens zwi­schen Natur und Kultur sucht. Eine zivi­lisatorische Rebellion, die von Frauen ausgeht, die aber alle betrifft.
Macht durch eigenen und fremden Tod
Der Krieg in Chiapas ist auch rebellisch und besitzt eine Eigenart gegenüber den offiziellen Kriegen: Er erhebt das Wort gegen diejenigen, die es leugnen. Darin ähneln die Indios den Frauen: Sie sind das Andere, das unsichtbar gemacht wird, verschwiegen wird, bestraft wird und unterdrückt wird. In vielen Analysen über die Situation der Indios könnte das Wort “Indio” durch “Frau” ersetzt werden und umgekehrt. Beide interessieren kaum jemanden. Für die Medien sind sie keine Nachricht, für die Behörden sind sie unsichtbar, für die Mehrheit sind sie sowas wie Minderjährige, die man nicht versteht (Marcos hat viele daran erin­nert), die nicht wissen, was sie wollen. Ihre Kultur, ihre Identität ist eine “Andere”, die nichts beiträgt zu “Entwicklung”, “Fortschritt”und “Wissenschaft”, die näher dran ist am “Primitiven”, “Wilden”, “Reproduktiven”, “Natur” als an der “Kultur” und dem “Verstand”.
Die Indios von Chiapas haben gegen die Unsichtbarkeit, die Stille, die Abwer­tung, die tägliche Verachtung und den täglichen Tod rebelliert. Sie haben gegen die Nicht-Anerkennung des Anderen re­belliert. Aber sie haben mit Waffen, Ge­walt und Krieg rebelliert, das heißt mit den Mitteln, die die Situation herbeige­führt haben, die sie bekämpfen. Der Krieg ist der blutige Kampf um die Macht durch den eigenen und fremden Tod. Macht, die auf diese Logik aufbaut, kann sich gleichwertig neben die sie un­terwerfende Macht stellen (so war es bei den zentral- und südamerikanischen Guerillas, die diese Gegenmacht letzten Endes nicht durch Waffen auflösen konnten) oder die Übermacht der einen über die anderen erreichen. Im letzten Fall wird der Sieger, unabhängig von sei­nen “guten Absichten” kurz oder mittel­fristig wieder seine Logik den Anderen aufzwingen und damit den Teufelskreis des Systems weiterführen.
“Entwicklung” um die Menschheit zu zerstören
Der patriarchale Liberalismus hat “den Weg der EZLN-Guerilla” kritisiert, mit der Begründung daß “Gewalt nie der Weg sein kann”. Aber das ist eine heuchlerische Kritik, weil ihre Logik und Ethik selbst die der Gewalt sind. Das Patriarchat hat nicht nur die schlimm­sten Formen der Armut hervorgebracht, der Unterwerfung, der Zerstörung und des Todes, sondern es hat auch aus der “Entwicklung” ein Mittel zur Zerstörung der Menschheit gemacht. Die Technik ist nicht zum Genießen des Lebens ge­macht, sondern zur Kontrolle und Ge­horsam durch die Drohung mit Zerstö­rung und Tod. Das Patriarchat kritisiert die Gewalt nur dann, wenn sie vom An­deren kommt, wenn sie die Herrschaft der einen über die anderen in Frage stellt. Wenn aber Gewalt angewandt wird, um ihre eigene Logik und Herr­schaftsformen durchzusetzen, wird sie unsichtbar gemacht. Es gibt nicht einmal das Bewußtsein über diese Essenz von Gewalt, die das patriarchale System am Leben hält. Innerhalb dieser Logik ist es sehr logisch, mit Gewalt und Krieg zu antworten. Der Aufstand von Chiapas hat das Spiel mitgespielt: Wenn die zer­störerische Macht ausschlaggebend für das Recht ist, dann gibt es kein Recht ohne eine Gegenmacht: “Frieden ist nur möglich, wenn es zwischen den Parteien ein Gleichgewicht von tödlicher Macht gibt”. Der Zweck heiligt die Mittel.
Aber die feministische Kritik greift die Grundlagen dieser beiden Delirien grundlegender und radikaler an. Egal ob von den Mächtigen oder den Entmachteten: Im Namen des Gemeinwohls bleiben die Freiheit und das Leben immer außen vor. Im Gegensatz zu den Rebel­lionen innerhalb des patriarchalen Sy­stems sucht der Feminismus eine andere Dimension des Zusammenlebens. Dabei ist eine Ethik gesucht, die eben nicht da­von ausgeht, daß der Zweck die Mittel heiligt, denn der Gegensatz von Form und Inhalt ist eine der Grundlagen des herrschenden Systems.
Der patriarchale Diskurs der EZLN
Jede Handlung sagt mehr als ihr verbaler Diskurs. Jede Handlung produziert ex­plizite und implizite Symbole und Muster davon, was als möglich und wünschens­wert angesehen wird. Ein kultureller (oder gegenkultureller) Diskurs situiert sich dadurch, daß er Werte schafft, in­dem er Gefühle, Wünsche und Aktionen verbindet. Wir finden den allgemeinen Diskurs der EZLN in zweierlei Hinsicht äußerst patriarchal.
Erstens festigt er die Auffassung, daß Gewalt nur mit Gewalt bekämpft werden kann, und daß Gewalt legitim ist, wenn sie von den Entmachteten und Unter­drückten angewandt wird. Dagegen ha­ben wir Feministinnen schon viel gesagt. Zweitens hat die EZLN mit der gleichen Ethik, die sie zu bekämpfen vorgibt (die der ökonomischen und politischen natio­nalen und internationalen Macht) vor­sätzlich die Rechtfertigung gesucht, um zu töten und zu sterben. Ihre Taktik, eine formale Kriegserklärung abzugeben, ein Gebiet unter ihre militärische Kontrolle zu bringen, in dem ein Alltag gelebt wird, Militäruniformen zu erlangen, zu verteilen und zu präsentieren, traditio­nelle militärische Strukturen und Posten einzuführen usw. – mit all diesen Mitteln hat die EZLN Respekt vor den Regeln des “modernen” Patriarchats gezeigt, die entwickelt wurden, um die schrecklichen Konsequenzen seiner kriegerischen Ob­sessionen zu verharmlosen (die soge­nannte Genfer Konvention); der Respekt sollte dazu führen, nach den gleichen Regeln als “kriegsführende Macht” aner­kannt zu werden. Nach den herrschenden Kriterien ist das ohne Zweifel “eine sehr intelligente Taktik”, aber für uns bedeu­tet das die Anerkennung des Systems des Todes und der Ausrottung, indem die “Notwendigkeit und Gültigkeit” betont wird, den Kriegswahnsinn zu regeln und sich in sie einzuordnen.
Politik als Feld des Pragmatismus
In seinen spezifischen Aspekten er­scheint der Diskurs der EZLN nicht so vereinfachend, sondern viel komplexer. Darum hat er eine weitverbreitete Sym­pathie geweckt. Dennoch muß der Dis­kurs genauer und aus feministischer Sicht analysiert werden.
Zuerst fiel darin auf, daß das neoliberale ökonomische Modell als unhaltbar be­zeichnet wird, daß es nicht das ist, als was es die Regierung verkauft. Daß es ein Modell ist, das trotz seiner wunder­baren makroökonomischen Erfolgszah­len mindestens 40 Millionen Mexikane­rInnen ausschließt und das trotz seiner “Demokratie”-Versprechen diese nur für einige wenige möglich macht. Diese In­formationen sind überhaupt nicht neu, aber der neo-zapatistische Aufstand gibt ihnen eine neue Dimension, die darüber hinausgeht, sie nur immer wieder zu be­nennen. Wir meinen das Recht, gegen das zu rebellieren, was uns verletzt und uns verschwinden läßt.
Mit dem Fall der Mauern und der patri­archalen Utopien ist das Ende dieses Jahrhunderts an eine große Hoffnungs­losigkeit gelangt, an das Fehlen von zivi­lisatorischen Perspektiven, an eine ab­solute Relativierung von Gut und Böse und gleichzeitig an vertiefte fundamen­talistische Moralvorstellungen, an eine verstärkte Gleichförmigkeit und Gleichmacherei, die jede reale Diversi­tät, jede tiefgehende Kommunikation erdrückt. Mit der immer größeren Par­zellierung des Wissens und des Verhält­nisses zum Leben und zur Welt verstärkt sich auch das Gefühl der Unmöglichkeit von Utopien. Dadurch ist die Politik zu einem Feld des Pragmatismus geworden. Auf der einen Seite schien es, als ob die Rebellion ihren Sinn verloren hätte, daß es nur möglich sei, unter der mathemati­schen Kalkulation des Machbaren zu agieren, nur kurzfristig zu handeln ohne den Bezug zum Wünschenswerten zu messen, ohne an eine wünschenswerte Zukunft zu denken, ohne die Phantasie anzuspornen, da ja schon alles wün­schenswerte gescheitert war. Auf der anderen Seite gab es eine verbreitete Praxis, daß nur die Methoden, Formen und Spielräume, die innerhalb des Sy­stems gegeben werden, Fortschritt und Wandel erlauben – es war nicht möglich, aus der Legalität auszuscheren.
Rebellion wieder denkbar
Ein großer Teil der Sympathie und des Erstaunens über die EZLN läßt sich dar­auf zurückführen, daß sie die Möglich­keit zur Rebellion wiedererweckt hat. Aber darüber hinaus hat sie das Recht wiederhergestellt, die Differenz einzu­fordern, sich der Gesetze der Unter­drücker zu entziehen, die Würde auf an­deren Wegen auszudrücken. Das Recht, eigene Alternativen auszuprobieren, das Recht anzuzweifeln, was als Gut gegeben ist, oder was als Wert alles andere aus­schließt. In anderen Worten hat die EZLN eine Hoffnung für die Differenz, die Vielfältigkeit geweckt. Das sind Elemente, die feministischer Phantasie Nahrung geben.
Dann ist da noch der explizite Diskurs der EZLN, der in den Kommuniques zu uns gelangt ist und den wir sehr glaub­würdig finden. Das steht in Verbindung mit dem oben Gesagten, da ein Teil der zivilisatorischen Hoffnungslosigkeit mit der fehlenden Kommunikation zwischen Politik und Individuen zu tun hat. Der Aufstand begann ohne eine absolute Wahrheit oder eine messianische Spra­che im Stil eines Sendero Luminoso. Der Vorschlag war nicht, eine einzige für alle gültige Macht zu installieren, weil die EZLN explizit betonte, nicht die Macht übernehmen zu wollen. Sie erkannten die Pluralität an und redeten und interpre­tierten nur von sich selbst aus, nicht im Namen von anderen. Das ist ohne Zwei­fel neu und viel demokratischer als die traditionellen politischen Diskurse, da­mit unterscheiden sie sich von den Gue­rillas des Kontinents. Aber diese Hal­tung verliert sich von dem Augenblick der Verhandlungen mit der Regierung.
Die ausschließende Macht der Waffen
Bei den Verhandlungen zeigte sich wie­der einmal der traditionelle, formale, selektive und männliche Stil, Politik zu machen: Zwei Kräfte, die als solche nicht das Ganze repräsentieren, verhandeln untereinander das Schicksal von allen. “Alle” können mehr oder weniger sein, aber zumindest in Chiapas gibt es da diejenigen, die die EZLN unterstützen, diejenigen, die gegen sie sind, und dieje­nigen, die auf keiner Seite stehen. Und unter diesen letzten beiden sind nicht nur Viehzüchter und Kaziquen. “Alle” sind die Vielfalt dieser Region. Ein nicht repräsentativer Frieden schließt nur die ein, die die Macht der Waffen besitzen (die offiziellen oder die aufständischen) und ist damit der Wille, keinen Frieden zu erreichen. Das Schicksal einer Region und vielleicht auch der ganzen Nation (denn es ist nur wenig bekannt geworden darüber, was tatsächlich verhandelt wurde) gehört in die Hände der Vielfalt und nicht nur in die Hände derjenigen, die Waffen haben und durch diese Macht zeitweilig die ewig Mächtigen herausfor­dern können.
So zeigen der Krieg und seine Folgen eine Konfrontation, die nichts zu tun hat mit der Diversität und Pluralität, auch wenn diese zum Diskurs und den ehrlich­sten Absichten einer der beiden Parteien gehören. Früher oder später kann der Teufelskreis neu beginnen.
“Wer hat das Recht zu entschuldigen?”
Ein zweiter Aspekt des Diskurses der EZLN ist vielversprechender und wei­terführender. Von den traditionellen Politikern gelangt ein flacher, phanta­sieloser, wiederholender, demagogischer und linearer Diskurs zu uns, in dem sich niemand wiederfindet. Ein Diskurs, der sich nicht an das tägliche Leben richtet und der implizit und symbolisch nichts sagt und sich explizit nur an die Initiier­ten richtet. Der Diskurs des CCRI (Comité Clandestino Revolucionario In­dígena) und besonders die Komuniques des Subcomandante Marcos haben viele Menschen angesprochen. Ihr literari­scher Charakter, vielleicht ein bißchen rethorisch und theatralisch, aber mit ei­ner ständigen Verbindung zwischen Ver­stand und Gefühlen, hat meistens den Alltag berührt, die Fragen, Schmerzen und Hoffnungen des unzufriedenen Indi­viduums; ein Diskurs, der ohne Angst und gegen alle Gewohnheit vom persön­lichen Standpunkt aus spricht und auf diese Weise nicht nur informiert, son­dern kommuniziert und in Dialog tritt, der witzig ist und sogar ironisch. In die­sem Sinn hat er Menschen aus Fleisch und Blut berührt.
Von einer Logik und einer symbolischen Ordnung aus, die nicht feministisch ist, hat er uns eine Lektion erteilt, von der wir lernen können. Diese Art von Kom­munikation war die feministische Utopie von Kommunikation, die sich verloren hat, weil wir irrtümlich glaubten, daß wir nur dann gehört werden, wenn wir die Sprache des Anderen sprechen. Die Sprache hat uns Frauen niemals benannt, und als wir lernten uns zu stammeln, be­gannen wir, den Diskurs nachzuahmen, den wir ändern wollten. Wir sind zu Spe­zialistinnen in Frauenthemen geworden, mit einer Sprache, die nicht mehr kreativ ist, mit symbolischen Codes, die die männliche Vorstellungswelt unterstützen und nichts Neues schaffen, die näher an den Sozialwissenschaften sind als am alltäglichen Leben.
Vier Fragen
Trotz seiner neuen und kreativen Aspekte und trotz all seiner Alternativen und trotz allem was wir von der EZLN lernen können: Wir Feministinnen wis­sen, daß das Patriarchat viele ursprüng­lich schöne Utopien hervorgebracht hat (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Internationalismus, etc.), aber alle sind gescheitert, weil sie die interne Logik nicht angegriffen haben. Und vom Au­genblick an, in dem die EZLN ihre Al­ternative auch innerhalb dieser Logik plaziert hat, und außerdem vom Krieg aus, müssen wir doch ein paar Fragen stellen:
Erstens: Sollen wir so naiv sein, zu glau­ben, daß der Aufstand für die Regierung überraschend kam? In einem so militari­sierten Staat wie Chiapas: Wie sollte das Militär nicht über die Pläne der EZLN informiert sein? Ist es möglich, daß in einem so umfassenden Gebiet sieben- bis zehntausend Personen unterwegs sind, ohne daß die Regierungskräfte es merk­ten? Wenn der Aufstand so gefährlich für die Regierung war, warum haben sie ihn kommen lassen?
Zweitens: Woher werden die Zapatistas finanziert? Zwar hat die EZLN keine großen oder modernen Waffenbe­stände, aber die sie hat, inclusive die über tausend Uniformen, kosten viel Geld, und dieses kommt offensichtlich nicht aus den leeren Beuteln der hun­gernden Aufständischen.
Drittens: Es ist wahr, daß Verhandlun­gen zwischen Kriegsparteien stattfinden müssen, aber gibt es in diesem Konflikt nur zwei Parteien? Sind nur diejenigen Partei, die Waffen haben und die Macht zu töten und zu sterben? Warum werden die Verhandlungen hinter verschlosse­nen Türen geführt? Die Gesellschaft, die sich unglaublich dafür eingesetzt hat, daß die Massaker gestoppt werden, daß Menschenrechte respektiert werden, daß Solidarität mit den Aufständischen ge­zeigt wurde hätte dabeisein müssen. Warum wissen wir nicht einmal, worüber verhandelt wird, was angeboten wird und was geopfert wird? Wir verstehen, daß die Regierung alle Anstrengungen un­ternimmt, um dies als einen lokalen Kon­flikt darzustellen, aber nicht mal auf lo­kaler Ebene wird der Frieden nur zwi­schen zwei Kräften hergestellt werden. Die zivile Gesellschaft hat auch in vielen Formen gekämpft, und die CCRI gibt vor, all diese Formen anzuerkennen. Aber warum hat dieser Kampf keinen Wert mehr, wenn es um Verhandlungen und Abkommen geht? Ist er nur die Un­terstützung der Nachhut für den Krieg? Dies ist nicht nur das Problem der EZLN, auch wenn die Guerilleros im Augenblick die Macht haben, zu relativ gleichen Bedingungen zu verhandeln. Das ist auch ein Problem der Gesell­schaft, die an hierarchische Politikfor­men gewöhnt ist, in der immer irgendwer die anderen repräsentiert, wo man/frau nicht fähig ist, sich selbst zu repräsentie­ren. Hat das nur mit traditioneller Poli­tik zu tun?
Viertens: Ist es möglich, ein konkrete demokratische pluralistische Alternative in einer Gesellschaft aufzustellen, die so autoritär ist wie die chiapanekische? Der Autoritarismus ist in Chiapas nicht im Alleinbesitz der Kaciquen und Reichen. Alle Konflikte in dieser Region wurden mit Gewalt “gelöst”. In Chiapas gibt es über 25.000 aus ihren Gemeinschaften ausgestoßene Indios. Die Grundlage der Beziehungen sind Intoleranz, das einzige Gesetz ist “Du bist mit mir oder gehst oder stirbst.” Können wir in diesem Rahmen an Worte glauben, bloß weil sie schön klingen oder etwas versprechen?
Das revolutionäre Frauengesetz der EZLN
Es ist uns schwer gefallen, das Revolu­tionäre Frauengesetz der EZLN zu be­werten. Allgemein ist es sicher kein fe­ministisches Programm, da es nur einige Frauen-Forderungen aufstellt und kein Vorschlag für die ganze Gemeinschaft aus der kritischen und bewußten weibli­chen Sicht ist. Aus unserer städtischen, westlichen und erleuchteten Sicht und dadurch daß die indianischen Frauen fast unsichtbar sind und der Krieg sie jetzt buchstäblich unerreichbar gemacht hat, ist es fast unmöglich zu beurteilen, ob das Gesetz ein Produkt eines Prozesses unter den Frauen gegenüber patriarcha­len und gewalttätigen Sitten und Ge­wohnheiten ist, oder ob die FührerInnen sich etwas ausgedacht haben, um die Frauen in die traditionell männlichen Aufgaben zu integrieren und ein Bild von interner Demokratie abzugeben. Denn mittlerweise haben grundlegende femi­nistische Forderungen die meisten so­zialen Bewegungen erreicht. Die verbale Wertschätzung von Frauen in Zeiten von Kriegen hat schon Tradition in der Ge­schichte von Guerillas oder in starken nicht-kriegerischen Konflikten, ohne daß sich dadurch die tatsächlichen Lebens­bedingungen von Frauen verbessert hätten.
Daß sich Frauen aussuchen sollten, ob und wen sie heiraten, ist wahrscheinlich das revolutionärste der Gesetze, jeden­falls wenn es nicht nur auf dem Papier steht. Es wäre deshalb so revolutionär, weil es die Bürden und kulturellen Tra­ditionen von Herrschaft und Verfügung über den Körper und die Lust von Frauen angreifen würde.
Die Beteiligung von Frauen in regulären oder irregulären Kriegsapparate er­scheint uns überhaupt kein Gewinn. Ob es Guerilleras oder Soldatinnen gibt, än­dert die Kriege nicht, und zusätzlich be­zieht es die Frauen in die grundlegenden Institutionen der Herrschaft, die der Gewalt und des Todes mit ein. Das Bild einer Frau in Militäruniform mit einer Waffe ist für uns nicht ästhetisch. Das Bild sagt, daß Frauen auch gelernt haben zu töten. Und das ist das hoffnungslose­ste aller Angebote.

Editorial Ausgabe 243/244 – September/Oktober 1994

Haitianische und kubanische Flüchtlinge streiten um den Platz in den Zeltstädten des US-Marinestützpunktes Guantánamo, jenes ehernen Monuments offen imperiali­stischer Zeiten der US-Politik. Kuba und Haiti, zwei Länder, zwei Krisen. Und an beiden sind die USA beteiligt, sowohl heute als auch an ihrer Entstehungsge­schichte.
Das Militär, das bis heute eine demokrati­sche Entwicklung Haitis verhindert, wurde – wie auch in so vielen mittelameri­kanischen Staaten – unter der Ägide der USA aufgebaut. Kubas Revolution kam an die Macht, weil der von den USA unter­stützte Diktator Batista für die Bevölke­rung unerträglich geworden war. Die ur­alte Monroe-Doktrin, nach der außerame­rikanische Mächte keinen Einfluß auf die Hemisphäre ausüben dürfen, setzte sich in den Zeiten der Systemkonfrontation fort, noch dazu ideologisch auf­geladen durch einen fanatischen Anti­kom­munismus. Linke Regie­rung = sow­je­tischer Einfluß, das wurde zur Self-Fulfilling-Prophecy und im nä­chsten Schritt zur Rechtfertigung der Counterinsurgency-Doktrin.
Von außerhemisphärischem Einfluß kann heute keine Rede mehr sein, ebensowenig wie vom weltweiten Kampf gegen den Kommunismus. Hat sich damit die ideolo­gische Grundlage der US-Lateinamerika­politik verändert? Sollten andere Werte heute im Vordergrund stehen, vielleicht gar Menschenrechte und Demokratie, die bislang so offenkundigen Worthülsen, um den Hegemonieanspruch der USA zu be­mänteln?
Wenig spricht dafür. Die US-Politik scheint nur an einem interessiert: Ruhe im Hinterhof – will heißen, keine Aufstände und keine Flüchtlingsbewegungen – und freie Bahn für die eigenen wirt­schaftlichen Interessen. In weiten Teilen des Kontinents scheint es gelungen zu sein: Von Chile bis Mittelamerika herrscht relative Stabilität, und das neoli­berale Modell steht alternativlos da.
Bleiben Kuba und Haiti, die politischen Altlasten von Jahrzehnten US-amerikani­scher Lateinamerikapolitik, für die in Washington hilflos nach Entsorgungskon­zepten gesucht wird. Nur, eben diese feh­len. In Haiti laviert Clinton zwischen Nichtstun und Invasionsdrohungen und verschleppt damit die Krise immer mehr. Das Thema Kuba läßt währenddessen in den USA anachronistische ideologische Reflexe wiederauferstehen. Die Folge: In fataler Wechselwirkung mit der Unbe­weglichkeit des Castro-Regimes wird die Krise durch das Embargo und dessen Ver­schärfung noch geschürt.
Je länger sich die Krisen hinziehen, umso mehr wer­den in beiden Ländern nicht nur Volkswirtschaften, son­dern ganze Gesellschaften zerstört. Wo soziale Strukturen immer brüchiger werden, wo keine Perspektiven mehr sichtbar sind, sondern Angst vor Chaos oder, wie in Haiti, vor brutalem Terror herrscht, den­ken auch die, die gerne bleiben würden, an Flucht. Die US-Politik steckt in einem Dilemma. Worauf eigentlich sollen in Zu­kunft leidlich stabile Demokratien auf­bauen, wenn soziale Strukturen zuvor so nachhaltig zerstört werden? An die Stelle einer Macht, die sich auf ein Minimum an funktionierender Zivilgesellschaft stützt, könnten nur wieder autoritäre Regimes treten. Man sollte in Washington gelernt haben, daß Ruhe im Hinterhof damit auf Dauer gerade nicht zu erreichen sein wird. Es sei denn, den US-Strategen er­scheint dies als kleineres Übel gegenüber der Aussicht, ein geregelter Übergang und stabilere demokratische Verhältnisse könnten in Zukunft auch US-kritischen Tendenzen in Kuba und Haiti politische Spielräume für Veränderungen eröffnen, die sich den von Washington gewünschten Spielregeln entziehen. Altes Denken im Weißen Haus.

Die permanente Invasion

Nun hat der UNO-Sicherheitsrat mit leichtem Zähneknirschen die Clinton-Regierung für eine Invasion in Haiti au­thorisiert. Dies wäre nicht das erste Mal. Bereits 1915 fielen die einschlägig be­rühmten marines in dem Land ein unter dem Vorwand, die haitianische Regierung habe “einige Verpflichtungen nicht einge­halten”. Sie blieben fast 20 Jahre und zo­gen erst 1934 ab. Nach der Amtszeit von Lescot, Estime und Magliore, drei pünkt­lich vom haitianischen Militär gestürzten Präsidenten, setzten die Vereinigten Staa­ten “Papa Doc” Francois Duvalier ein und unterstützten ihn bis zu seinem Tode 1971. Sein Sohn Baby Doc erbte die Prä­sidentschaft, bis er 1985 durch einen wei­teren Militärputsch gestürzt wurde. Unter den Regierungen der beiden Duvaliers herrschte eine grausame Repression. Es wird davon ausgegangen, daß allein unter der Regierung von Baby Doc mehr als 40.000 Personen ermordet wurden. Die Vereinigten Staaten wußten aus guter Quelle, wie auf Haiti mit ihrer tatkräftigen Unterstützung die Menschenrechte ver­letzt wurden.
Mißratener Zögling der USA
Raul Cédras, der gegenwärtige Diktator, der den demokratisch gewählten Priester Jean-Bertrand Aristide durch einen Putsch stürzte, ist lediglich der letzte in der bishe­rigen Reihe von haitianischen Tyrannen. Man weiß nicht genau, warum ausgerech­net er den Vereinigten Staaten so mißfällt, wo sie doch in der Vergan­genheit mit den Duvaliers so gut auska­men. Dem nicht genug, darf man nicht vergessen, daß Cé­dras, wie alle Diktator-Lehrlinge Latein­amerikas, auf einer nord­amerikanischen Militärakademie ausge­bildet wurde.
Die Geschichte Haitis ist wirklich drama­tisch: Der revolutionäre Kampf begann 1791 mit einem Sklaven, dem berühmten Toussaint l`Ouverture. Die Unabhängig­keitserklärung am 28. November 1803 machte Haiti zum ersten entkolonisierten Land Lateinamerikas. Aus dieser histori­schen und politischen Avantgarderolle stieg es zu dem heute ärmsten Land La­teinamerikas und einem der am stärksten geplünderten der Welt ab.
Angesichts des politischen Imageverlu­stes, den jede ihrer Interventionen in ande­ren Ländern nach sich zieht, haben die Nordamerikaner beschlossen, sich für je­den ihrer internationalen Angriffe Partner zu suchen. Die Idealformel ist, daß die Vereinten Nationen sie mit dieser oder je­ner Strafaktion beauftragen, wie sie es beispielsweise beim Golfkrieg erreichten. Aufgrund ihres Insistierens wurden sie schließlich von einigen französischen und englischen Flugzeugen begleitet.
Diplomatische Winkelzüge
Rony Lescouflair, ein haitianischer Dich­ter, der 1967 durch die Polizei Duvaliers ermordet wurde, schrieb dieses kurze Ge­dicht: “Dreimal krähte der Hahn; / Petrus war kein Verräter: / er wurde Diplomat.”
Mit Hilfe eines umfassenden und nach­drücklichen diplomatischen Manövers wollen die USA auch jetzt bei der Inva­sion in Haiti Begleitung haben. Die For­mel ist einfach: Wenn einige Länder zu kleinmütig sind, um Truppen, Schiffe und Flugzeuge zu entsenden, sollen sie zumin­dest applaudieren.
Bei den Regierenden in Lateinamerika kam, wie üblich, der einzige enthusiasti­sche Applaus von Präsident Menem. Bei allen anderen, ob sie jetzt der Rechten, der Mitte oder der Linken angehören, erzeugte die bloße Idee, eine nordamerikanische Invasion zu authorisieren, allergische Re­aktionen.
Nach wie vor mögen einige Arglose oder Einfältige sich fragen, warum das US-State Department nicht die Unterstützung des UNO-Sicherheitsrates erbat, um wäh­rend der Pinochet-Diktatur in Chile zu in­tervenieren, oder während der Videla-Zeit in Argentinien, oder während der Goyo Alvarez-Zeit in Uruguay, oder während der Stroessner-Zeit in Paraguay etcetera. Könnte es daran liegen, daß es sich hier um “befreundete Diktaturen” handelte, wie es Präsident Reagan ausdrückte? Wäre es möglich, daß das Regime Cédras` zufällig eine “feindliche Diktatur” ist? Oder existiert vielleicht ein Motiv, wel­ches nicht öffentlich genannt wird, wie zum Beispiel, daß die geplante Invasion dem ständigen Zustrom haitianischer Flüchtlinge an die Küsten Nordamerikas ein Ende bereiten würde?
Niemand hat das Züchtigungsmittel ver­gessen, das 1990 gegenüber Panama an­gewandt wurde, die sogenannte “Operation Gerechte Sache”. Um einen General gefangenzunehmen, der ihnen lä­stig fiel – er war CIA-Agent gewesen und hatte später mehrfach die Seiten gewech­selt – nahmen sie in Kauf, 2.000 unschul­dige Zivilisten zu töten und ne­benbei ei­nige Viertel der Hauptstadt Pa­namas in Trümmerhaufen zu verwandeln. Damals schrieb ich, daß Panama sich in die absto­ßendste Militäraktion dieses Jahrhunderts verwandelt habe. Man müßte hinzufügen: in die heuchlerischste. Erst 1994 geben einige Medien im Hinblick auf die ange­kündigte Invasion in Haiti zu, daß mehr als 2.000 Todesopfer auf das Konto der “Operation Gerechte Sache” gingen. 1990 dagegen, als das Massaker sich ereignete, war ein Großteil der Me­dien zu schwer­fällig, so viele Leichen zu erwähnen.
Sicherlich ist der Diktator Raoul Cédras nicht vorzeigbar, fügt sich doch sein re­pressives Regime perfekt in die nieder­trächtigsten Traditionen der Duvalier-Dy­nastie ein. Trotzdem scheint eine Invasion auf keinen Fall die adäquateste Lösung zu sein, auch wenn Aristide in den saubersten Wahlen in der Geschichte Haitis gewählt wurde.
Marionetten pflastern den Weg
Der Schlüssel zu dieser Verwirrung liegt wahrscheinlich darin, daß das dichte In­terventions-Curriculum der Vereinigten Staaten weder den Ländern der Dritten Welt allgemein noch speziell denen La­teinamerikas das geringste Vertrauen ein­flößt. Niemand vergißt, daß die USA nach jeder ihrer zahlreichen Invasionen in dem Moment, wo sie einen Rückzug für op­portun hielten, eine Marionettenregierung hinterließen: Somoza in Nicaragua, Bala­guer (immer noch unverwüstlich) in der Dominikanischen Republik, “Quissling” Endara in Panamá – eine Gestalt, deren Ernennung zum Präsidenten beschämen­derweise in einer nordamerikanischen Militärstation stattfand. Nach jeder Inva­sion blieb das jeweilige Land in einem schlimmeren Zustand als vorher zurück, tiefer in seiner Armut versunken, seiner Würde beraubt, in seiner Souveränität verletzt, überbrodelnd vor Groll.
Auch muß bedacht werden, daß es einen zusätzlichen, nicht zu verachtenden Vor­teil gibt, welchen sich die Vereinigten Staaten verschaffen, wenn es ihnen ge­lingt, untergeordnete Verbündete oder Helfershelfer für ihre Militäraktionen zu finden. Wenn sie ohne Alliierte ein Land ihres Hinterhofes angreifen – beispiels­weise Grenada oder Panama, entfallen die hohen Ausgaben für diese Operation not­wendigerweise auf die Posten im US-Haushalt, die für Invasionen, Blockaden und andere Lappalien vorgesehen sind. Heute dagegen, wo es niemand geringeres als der Weltsicherheitsrat ist, der die Ver­einigten Staaten mit der Bestrafung der haitianischen Diktatur beauftragt, handelt es sich um eine kollektive Verantwortung, und der militärische Exekutor muß nur für 25 Prozent der anfallenden Kosten auf­kommen.
Daher handelt es sich für die Vereinigten Staaten um ein rundes Geschäft: Sie füh­ren die geplanten Invasionen durch und kommen billig dabei weg. Zum ersten Mal versucht – und erreicht – es der Imperia­lismus in solch offener Form, daß seine militärischen Aktionen von den direkt oder indirekt untergeordneten Ländern fi­nanziert werden. Vor einigen Jahren gab es den Spruch, daß die Organisation Ame­rikanischer Staaten so etwas wäre wie das Ministerium der nordamerikanischen Ko­lonien. Seit kurzem ist die UNO auf dem Weg, sich in das US-Verteidigungsmini­sterium zu verwandeln.
Folgt die Herde der Stimme des Herrn?
Gibt es nach alldem keine andere Mög­lichkeit als die Kanonenbootpolitik, um die weltweiten Konflikte zu lösen? Die Imaginationskraft der Regierenden ist ge­fragt, um den Dialog als Instrument des Friedens zu nutzen. Während ich diese Zeilen schreibe (in der ersten August­hälfte, Anm. d. Red.), erreicht mich die Nachricht, daß der haitianische Diktator eingewilligt hat, eine Verhandlungskonfe­renz zu empfangen, an der Delegierte von fünf lateinamerikanischen Ländern betei­ligt sind. Hoffen wir, daß daraus eine an­ständige Lösung erwächst.
Auf jeden Fall hat das so konfliktträchtige haitianische Problem einen wichtigen Schritt provoziert: Die lateinamerikani­schen Länder – zumindest diejenigen, die über eine historische Erinnerung verfügen – sind dabei zu lernen, Nein zu sagen an­gesichts des Drucks von “the master`s voice”. Halleluja.

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