Der Che lebt!

Die diesjährig in Frankreich erschienene CD „EL CHE VIVE !“(Last Call / Arcade) fällt einem beim Durchstreifen der Plattenregale unweigerlich ins Auge. Die für den Che typische, von Alberto Korda 1960 aufgenommene, Portraitfotografie ziehrt auf rotem Hintergrung das Cover des Silberlings. Im innenliegenden Begleitheft finden sich neben der deutschen Übersetzung der „Botschaft an Ernesto Guevara“ von Herausgeber Egon Kragel auch die Liedtexte in französischer und spanischer Sprache. „Die Musik hat die Macht, unseren Eifer, unsere Überzeugungen und unsere schönsten Träume unbeschadet zu befördern“, schreibt Egon Kragel in seiner „Botschaft“ an den Che und stellte eine 15 Lieder umfassende Sammlung zusammen.
So wie auch der Che sich mehr als „Lateinamerikaner“ als Argentinier oder Cubaner sah, so stammen auch die Lieder auf der CD, neben Griechenland und Frankreich, zum Großteil aus diversen Ländern Lateinamerikas. Allesamt preisen sie den unentbehrlichen Robin Hood und leidenschaftlichen Wortführer des Antiimperialismus. Jedes auf seine Art.

„Hasta Siempre“ als Motto der CD

Gleich zu Beginn wird der Hörer mit der Ode an den Comandante, „Hasta Siempre“, beglückt. Es ist das wohl bekannteste Lied über Che Guevara. So erstaunt es nicht, daß es auf dieser CD gleich drei Mal erscheint. Gerade die unterschiedlichen Interpretationen verdeutlichen auch unterschiedliche Herangehensweisen an diesen Mythos. Carlos Puebla y sus Tradicionales zum Beispiel präsentieren das Lied als typische kubanische Guajira, einen Musikstil, der noch heute zu den populärsten des Landes zählt. Das Lied selbst ist eine reine Liebeserklärung an Che Guevara und wird von Puebla mit einer Inbrunst vorgetragen, wie es wohl nur ein Cubaner kann.
Soledad Bravo aus Venezuela steht mit ihrer Version des „Hasta siempre“ Carlos Puebla keineswegs nach. Im Gegenteil, mit Abstand ist ihre Interpetation die eindrucksvollste der vorliegenden CD. Sie singt mit einer solchen Hingabe und Leidenschaft, daß man unweigerlich eine Gänsehaut bekommt. Dabei erinnert sie ein wenig an die nordamerikanische Protestsängerin Joan Baez, wobei Bravo jedoch nicht als simple Kopie derer, sondern eher als lateinamerikanisches Pendant gelten kann.
Eine weitere Ausführung dieses Stückes, ebenfalls von einer Frau vorgetragen, beendet dann auch die CD. Maria Farantouri aus Griechenland nähert sich dem Lied recht poppig und jazzig und besonders im Refrain mit einer Prise Rock. Eine sicherlich interessante Version, wobei mir jedoch der Gehalt des Textes und die musikalische Interpretation zu weit voneinander entfernt scheinen.
Interessant wird diese CD vor allem auch durch die musikalische Spannbreite. Nicht nur geographisch ist ganz Lateinamerika vertreten, auch musikalisch. Kubanische Guajiras finden sich genauso wie die Musik der Andenvölker. Manche Lieder sind melancholisch oder klagend, andere animieren zum Mitsingen. Fast jede Instrumentierung ist vertreten, von einfacher Gitarrenbegleitung über den Einsatz einer Streichergruppe wie bei „Su nombre ardio como un pajar“ des Chilenen Patricio Manns bis hin zu spannenden Synthesen aus Folk, Pop und traditioneller Musik. Diese ist in den Stücken des Argentiniers Miguel Angel Filippini „Siembra tu luz“ und „Alma morena (El sueño del Che)“ zu hören. Bei beiden live aufgenommenen Liedern verschmelzen Piano, Bass und Keyboards mit Andeninstrumenten wie Quena und Charango sowie diversen Percussionsinstrumenten.
Atahualpa Yupanqui dagegen, ebenfalls Argentinier, ehrt den Che mit einfühlsamen, fast zaghaft wirkendem Gitarrenspiel und ausdrucksstarkem Gesang. In seinem Lied „Nada mas“ umgibt er den Zuhörer mit einer warmen, intimen Atmosphäre.
Zwei weitere Interpretationen beschränken sich auf einfache Gitarrenbegleitung, die von Victor Jara sowie das Stück des Uruguayer Daniel Viglietti. Victor Jara, seinerzeit chilenischer Protestsänger, besingt in seiner „Zamba del Che“ dessen Ermordung und klagt die Verletzung der Menschenrechte in Lateinamerika und das „mörderische Verhalten des Militärs“ an. „San Guevara“, so Jara, gab Kuba Glorie und Freiheit und folgte dem Weg, den Bolivar ihm gab. Der Sänger selbst wird später unter dem Pinochet-Regime im Fußballstadion in Santiago de Chile ebenfalls umgebracht.
Daniel Vigliettis Lied von 1967 dagegen ist ein Lied des Aufbruchs, welches den bei den meisten anderen Liedern vermißten „Funken“ Optimismus enthält. Er greift Guevaras Theorie vom „neuen Menschen“ auf. Auf metaphorische Art beschreibt er dessen Erstellung: Der Körper aus Tonerde, das Blut der über Jahrhunderte hinweg Hungernden und Ängstlichen und natürlich das Herz Che Guevaras. Dies erinnert an ähnliche Beschreibungen bei Miguel-Angel Filippini in dessen „Siembra la luz“. Er vergleicht den Che mit „einem Fluß, der zu einem Meer verschmilzt, mit einem Vulkan, der niemals schläft. Er nahm den Schlüssel der zahlreichen Schlösser mit in den Tod, so daß jetzt diejenigen schreien, die noch hinter diesen Schlössern gefangen sind.“
Che Guevara animiert auch heute noch Dichter und Musiker. Angel Parras „Guitarra en duelo mayor“ entstand erst 1996. Es ist eine Anklage, keine Predigt, auch wenn dies erst nicht so scheinen mag. Mit dynamischem und melancholischem Gesang spricht er zu einem bolivianischen Soldaten mit US-amerikanischem Gewehr, den er geringschätzig „soldadito“ nennt und beschuldigt, für den sogenannten „Mister Dollar“ seinen Bruder zu töten. „Kennst Du nicht den Toten, Soldat?“, fragt Parra. „Es ist der Argentinier und Kubaner Che Guevara.“ Unzweifelhaft gehört sein Beitrag zu einem der Höhepunkte der CD.

Che ein Heiliger?

Phantasie und Realität liegen bei vielen Texten nicht weit auseinander. Gerade die Lieder des Kubaners Carlos Pueblas lassen einen Mythos entstehen. In „Lo eterno“ aus dem Jahr 1968 beschreibt er Che Guevara als unsterblich und verallgemeinert dies auf alle, die sich wie der Comandante verhalten würden. Es wird deutlich, daß Guevara für ihn, und sicherlich für viele andere auch, mehr als „nur“ ein Mensch, nämlich ein „Heiliger“ ist. Er ist ein „unsterbliches Licht, welches die Nacht aufhält und in die Morgenröte führt.“ Der Einfluß Guevaras auf die Menschen Lateinamerikas ist und bleibt zeitlich ungebunden und prägt sie fort. Carlos Puebla beschäftigte sich viel mit dem Leben und Wirken des kubanischen Revolutionärs. Alle seine Stücke sind sicherlich hörenswert, aber vier, bei einer Gesamtzahl von 15 Liedern, ist eindeutig zuviel.
Bei „Che Esperanza“ meldet sich dann der Herausgeber der CD, Egon Kragel, selbst musikalisch zu Wort. Das 1996 in Frankreich aufgenommene Stück ist hauptsächlich mit Andeninstrumenten eingespielt worden. Textlich nähert sich Kragel in seinem Lied dem Mythos Guevara auf ganz besondere Art und Weise. Er läßt zwei Protagonisten, Großmutter und Kind, in einer Schlaflied-Situation, zu Wort kommen läßt. (ähnlich Father & Son/Cat Stevens) Die Großmutter beruhigt das Kind, es solle schlafen, denn der Che sei da. Daraufhin fragt das Kind, wer der Che sei, was auch gleichzeitig den Refrain darstellt. Die Großmutter antwortet schließlich in bildlich formulierten Phrasen, der Che sei „das Weinen des Windes und die Hoffnung, die Seele der Revolution und ein neuer Mensch, der immer in ihrem Lied fortleben wird.“ Mit eindringlicher Stimme stellt Kragel die Großmutter-Kind-Situation dar und steigert das Lied bis hin zum finalen Refrain. („Que siempre, siempre vivirá en mi canción“). Ohne Frage, Poesie und Melodie machen dieses Lied zu einem Lichtblick der CD.

Kritik fehl am Platz

Die CD „El Che vive!“ ist eine Huldigung Guevaras, kein Zweifel. Obwohl ich positiv überrascht gewesen wäre, auch kritische Töne hören zu, kann ich die doch sehr einseitige Darstellung Guevaras einigermaßen nachvollziehen.
Doch auch derjenige, der mit dem Namen Che Guevara weniger anfangen kann, lateinamerikanische Musik aber zu schätzen vermag, wird mit diesem Silberling seine Freude haben, denn die musikalische Bandbreite reicht von cubanischen Guajiras bis hin zu modernen Folk-Pop Liedern.
Als 16. Stück findet sich auf „El Che vive!“ die Rede Che Guevaras vor der UNO aus dem Jahr 1964. Besser als in jedem Lied kommt hierbei seine Leidentschaft für die Revolution, der eiserne Wille gegen Unterdrückung der Bauern und Indiginas zu kämpfen und sein Traum vom „freien“ Lateinamerika zum Ausdruck. In diesem kurzen Ausschnitt wird deutlich, welche Bedeutung Che Guevara für Lateinamerika hatte und noch hat. Seine Sensibilität für die Ungerechtigkeit und sein Mut dagegen anzugehen und für sein Ideal zu sterben, machen ihn zu einem Märtyrer, dessen Legende ungebrochen fortwirkt.

Produktive Verunsicherung

Tarzan steht für diejenigen, die schon immer oder immer wieder die Antwort auf die Weltprobleme hatten. Tarzan kennt keine Zweifel, sondern er ‘ist’ die Lösung und macht damit Widersprüche einfach platt. Gegen dieses Denken wenden sich die Herausgeber und wollen damit eine Diskussion über die Grundlagen des Internationalismus anregen. Der Band mit seinen zwanzig Beiträgen ist sehr heterogen und verfolgt keine strikte Fragestellung, sondern deckt facettenreich unterschiedliche Themen ab.
In einer Art Einleitungsbeitrag schreiben Andreas Foitzik und Athanasios Marvakis „Von guten Menschen und anderen Widersprüchen“. Sie gehen von zwei schmerzhaften Erfahrungen aus: „Uns droht die Freude an der politischen Arbeit verloren zu gehen, Durchhalteparolen und nicht Glückserfahrungen bestimmen unseren politischen Alltag.” Außerdem habe der Internationalismus innerhalb der Linken an Bedeutung verloren und der Blick sich national verengt. Sodann gehen die Herausgeber, sich immer wieder mit zentralen Argumenten des gesamten Bandes auseinandersetzend, jüngste Entwicklungen durch, um für vielfältige „Orientierungen in Widersprüchen“ zu plädieren. Entscheidend sei heute, daß linke Orientierungen nicht moralisieren dürften, sondern begründbar und sozial vermittelbar sein müßten: „Gewohnt auf der sowieso richtigen Seite zu stehen, haben wir uns zu wenig Mühe gemacht zu begründen, warum wir da stehen und nicht woanders.” Claudia Koppert untersucht die „Widersprüche des kollektiven Wir“ und stellt fest, daß Identitätspolitik („wir Frauen“) zu kurz greifen kann. Zeitweilige kollektive Identität wechsle nämlich ihren Charakter, „wenn sie nicht mehr im Kontext mit Veränderung, mit konkreten und übergeordneten Zielen gedacht wird, und wenn eine Identität und Gemeinschaft zum Zweck von Politik werden. „Dem stellt sie den Begriff eines politischen Identitätsbewußtseins gegenüber, wobei es nicht darum geht, lediglich die eigene Unterdrückung zu thematisieren, sondern darüber hinausgehend das Beherrschungsprinzip im allgemeinen. Es geht also durchaus um „kollektive Wirs“, aber nicht um ihrer selbst Willen, sondern in gesellschaftsverändernder Perspektive. Etwas Ähnliches gilt auch für die Solidaritätsbewegung, die ja auch um kollektive Identitäten nicht herumkommt.

Handeln heißt anfangen

Hannah Arendt, die von Koppert herangezogen wird, bildet auch die Grundlage für Überlegungen von Christina Thürmer-Rohr. Ihr Beitrag „Handeln heißt Anfangen“ knüpft an Arendts Handlungskonzept an, das gerade nicht von eindeutigen Richtlinien und Orientierungen ausgeht. Handelnde fangen immer an, sind AnfängerInnen, denn sie wissen nicht im voraus, was aus ihrem Handeln wird. Und: „Das Anfangen setzt eine Freiheit voraus, die von Lebensnot und -notstand unabhängig ist. Kriterium und Prüfstein einer freien Handlung ist die Entscheidung, sie zu wollen. „Dieses Konzept grenzt sich gegen die neuerdings wieder stärker Gehör findenden Verelendungsthesen ab, die entweder den Kapitalismus an sich selbst verrecken sehen oder aber in den vielfältigen sozialen Ausgrenzungs- und Spaltungsprozessen den Humus für kritisches und revolutionäres Bewußtsein. Trotz aller Probleme mit dem Arendtschen Freiheitsbegriff sei für alles Anfangen (und Scheitern) entscheidend, daß Handeln zwischenmenschlich und nicht individuell zu verstehen sei und damit perspektivisch der totalitären Utopielosigkeit etwas entgegengesetzt werden könnte.
Insgesamt, diesen Eindruck hinterläßt das Buch „Tarzan – was nun?“ mit weiteren Beiträgen von Christa Wichterich und Susanne Maurer, scheinen feministische Kritik und Praxis am fruchtbarsten, um herkömmliche Vorstellungen internationaler Solidarität zu überdenken. Aber auch andere Beiträge regen zum Nachdenken an.
So zeigt Erika Feyerabend mit Michel Foucault anhand der rasanten Entwicklungen der Gentechnik, wie sich Machtverhältnisse nicht nur globalisieren, sondern auch miniaturisieren. In der „Bio-Gesellschaft“ geht es um die – genetisch begründete, das heißt der Definitionsmacht der Biowissenschaften unterworfene – Überwachung von Körper und Verhalten, um die Normierung von Menschen. Demgegenüber sieht Feyerabend das vereinheitlichende Element der Oppositionen (im Plural) zu diesen Entwicklungen in ihrer Unmittelbarkeit: „Es geht weniger um den ‘Hauptfeind’, sondern mehr um den ‘unmittelbaren Feind’, der im Alltag spürbar ist…. Brennpunkt politischer Auseinandersetzung ist heute – neben ökonomischen Ausbeutungsverhältnissen – jene Macht, die durch ein Regime des Wissens gekennzeichnet ist. Diese Experten-Monopole erzeugen jedoch keine einheitliche Konfrontation. „Auch beim Kampf um das Recht, anders sein zu dürfen, gehe es darum, sich verschiedene Widersprüche zu vergegenwärtigen.”
Ähnlich argumentiert Joachim Hirsch, der die aktuellen Globalisierungsprozesse aus polit-ökonomischer Perspektive skizziert und die widersprüchlichen sozialen Situationen und Bewußtseinslagen zum Anlaß nimmt, die Frage der Demokratie ins Zentrum zu stellen. Was verbindet die verarmte lateinamerikanische Bäuerin mit dem Angestellten eines multinationalen High-Tech-Konzerns? „Möglicherweise vor allem dies: der Fähigkeit zur Gestaltung des eigenen Lebens immer nachhaltiger beraubt zu werden.” Eine internationale Solidaritätsbewegung sei mehr denn je nur noch als Bewegung für eine radikale Demokratie denkbar.

Ökologie – ein Herrschaftsdiskurs?

Dagegen wird es bei Armin Stickler und Christoph Spehr in ihrem Beitrag zum Thema Nachhaltigkeit dann doch „tarzanmäßig“. Sie kritisieren den dominanten, an Technologie und Naturwissenschaften orientierten Begriff von Nachhaltigkeit, wenngleich ihr Argument nicht ganz einleuchtet, daß es sich beim Thema Ökologie um einen „Herrschaftsdiskurs“ handelt. Ist es nicht viel eher der – recht aussichtlose – Versuch, dem neoliberalen Standortgehorsam etwas von linksliberaler (und technikgläubiger) Seite entgegenzusetzen? Für die beiden Autoren nicht, denn es ist alles dasselbe außerhalb der eigenen Meinung und Szene. Deshalb können sie auch in Gestalt der „Abwicklung des Nordens“ eine „programmatische Alternative“ formulieren, die mit flotten Floskeln daherkommt und damit gegen die übrigen Beiträge steht, in denen es um die Widersprüchlichkeiten heutiger Verhältnisse geht. Ähnlich „gesichert“ argumentiert nur Eleuterio Fernández Huidobro in seinem Aufsatz. Was der „erneuerte antihegemoniale Gegendiskurs“ (Stickler/Spehr) bedeuten soll, bleibt ziemlich offen. Daß solche „Gegendiskurse“ folgerichtig den Anspruch auf „Wahrheit“ innerhalb des eigenen politischen Spektrums wie des BUKO haben und damit andere Positionen ausgrenzen, sei nur am Rande erwähnt.
Die verschiedenen Beiträge lassen sich mit vielen unterschiedlichen Argumenten, die Widersprüche internationaler Solidarität besser verstehen zu können, erfassen. Rassismus, Patriarchat, Nationalismus, Anti-Kapitalismus – das sind allzu oft Etiketten einer aufgeklärten linken Debatte, die hier genauer durchleuchtet werden. Paradoxerweise werden – bis auf wenige Ausnahmen – Begriffe wie Klassen oder Staat kaum aufgegriffen. Handelt es sich dabei um veränderte Realitäten oder um blinde Flecken einer linken Debatte?

Suchbewegungen der Dritte-Welt-Gruppen

Das zweite Buch „Dritte-Welt-Gruppen auf der Suche nach Solidarität“ nimmt einen radikalen Perspektivwechsel vor. Ludger Weckel und Michael Ramminger führten an der Universität Münster eine Studie durch, um die Probleme von Dritte-Welt-Gruppen in Nordrhein-Westfalen genauer zu untersuchen. Es geht ihnen nicht um eine Analyse der sich verändernden politischen Rahmenbedingungen oder um „die“ Solidaritäts-Szene schlechthin. „Dritte-Welt-Gruppen auf der Suche nach Solidarität“ stellt die Ergebnisse von Interviews mit 20 Gruppen vor, wobei sie ihre Neugierde in zwei Richtungen formulieren: Die (Selbst-) Erkenntnisse hinsichtlich der innengerichteten, identitätsorientierten Bedürfnisse sollen Hinweise zur Neuorganisation der jeweiligen Gruppen geben, die außen- beziehungsweise aktionsorientierten Bedürfnisse sollen mit einer Klärung der Handlungsperspektiven zusammengeführt werden.
Dritte-Welt-Gruppen, das sind für Weckel/Ramminger einerseits „selbstorganisierte“ Gruppen, die in keinem institutionellen Zusammenhang wie Kirchen, Parteien, Gewerkschaften oder andere Verbände arbeiten (obwohl sich viele der befragten Gruppen unter dem Dach von Kirchen gründeten und teilweise auch heute noch dort arbeiten). Andererseits sei ihr gemeinsames Merkmal, daß sie vor dem Hintergrund einer Stellvertreterfunktion agierten. Einem kurzen Abriß über die Geschichte der bundesdeutschen Dritte-Welt- und Solidaritätsbewegung und einer Skizze der methodischen Vorgehensweise folgt im Hauptteil die Darstellung und Interpretation der Interviews und abschließend die sich nach Meinung der Autoren daraus ergebenden Konsequenzen.
Das Buch präsentiert anregende und überraschende Ergebnisse hinsichtlich der Arbeits- und Aktionsschwerpunkte, der Bedeutung internationaler Begegnungen und Projektarbeit, der Motivation der Gruppenmitglieder, der Rolle von Öffentlichkeits- und Bewußtseinsarbeit sowie der Stärken und Schwächen von Professionalisierung. So wird etwa ausdrücklich der Anspruch bei den allermeisten Gruppenmitgliedern erhoben, „Politik zu machen“ und Außenwirkung zu erzeugen – mit allem damit verbundenen Frust. Erst im weiteren Verlauf der Interviews und auf genaueres Nachfragen wurde deutlich, daß die Gruppen eben auch einen wichtigen sozialen Zusammenhalt für die einzelnen Mitglieder darstellen. Nicht nur die Sachebene, sondern auch die der Beziehungen spielen unbewußt offenbar eine wichtige Rolle, sich in einer Dritte-Welt-Gruppe zu organisieren. Wie Christina Thürmer-Rohr in dem Tarzan-Band verdeutlichen die Interviews mit Dritte-Welt-Gruppen, daß es zuvorderst um Selbstklärungs- und Politisierungsprozesse geht, nicht um objektive soziale Bedingungen.
Die „Suchbewegungen von Dritte-Welt-Gruppen“, um ihre abnehmende politische Bedeutung aufzufangen, führen zu verschiedenen „Notnägeln“. Einerseits werden neue inhaltliche Arbeitsschwerpunkte gesucht und gesetzt, andererseits unter dem neuen Zauberwort „Vernetzung“ Bündnisse aufgebaut, um aus einer schwächeren Position gemeinsam aktiv zu werden. Zudem fördert die Studie zutage, daß viele Gruppen intern sehr konfliktscheu sind, nicht zuletzt aus Angst davor, den noch verbliebenen Zusammenhalt zu gefährden.
Allerdings läuft die Fragestellung der Studie Gefahr, wichtige Umorientierungen aus dem Blick zu verlieren. Der Fokus Dritte-Welt-Gruppen und die dort verbreitete Resignation problematisiert nicht, daß möglicherweise im Zusammenhang mit der Diskussion um „Umwelt und Entwicklung“, die auch kurz angesprochen wird, umweltpolitische Gruppen sich hin zu Fragen internationaler Solidarität öffnen. Und auch im gewerkschaftlichen Spektrum wird mitunter das Argument ernst genommen, daß Sozialabbau nicht nur innerhalb der Bundesrepublik bekämpft werden kann, sondern grenzübergreifende Strategien wichtiger werden. Vielleicht stehen bei einer Weitung des Objektivs über das Dritte-Welt-Spektrum hinaus die Chancen ja gar nicht so schlecht, internationale Solidarität als Grundbedingung bestimmter politischer Inhalte zu stärken, was wiederum die thematischen Schwerpunkte und Politikformen von Solidaritätsgruppen beeinflussen könnte.
Weckel und Ramminger, die die Studie am Institut für Theologie der Universität Münster durchführten, beschränken sich in ihrem Untersuchungsgegenstand, was allerdings die Qualität der Studie nicht schmälert. Die Autoren wollen eingreifend wirken und in solidarischer Absicht die „Selbststeuerungsfähigkeit“ der selbstorganisierten Gruppen erhöhen.

Der Dschungel der Widersprüche ohne NROs

Beide Bücher greifen politische Verunsicherungen auf und versuchen, mit ihnen umzugehen. Zuerst einmal ist erfreulich, daß keine „großen Würfe“ vorgegaukelt werden, mit denen gleich wieder neue Generalpläne und historische Subjekte ausfindig gemacht werden. Insofern gilt die Metapher vom Dschungel der Widersprüche nicht nur für „Tarzan – was nun?“, sondern auch für die Studie über Dritte-Welt-Gruppen. Deutlich wird auch, daß internationale Solidarität viel mit politischem Engagement im eigenen Lebensumfeld zu tun hat, und daß gerade die Projektion von Emanzipationswünschen in andere Länder und auf andere Menschen immer – und vielleicht auch notwendigerweise – enttäuscht wurde.
Beide Bücher lassen allerdings ein interessantes Phänomen der letzten Jahre fast vollständig außen vor. Den Mißerfolg von „5 Jahre Rio“ im vergangenen Juni hin oder her, man kommt nicht daran vorbei, eine zunehmende Bedeutung der Nichtregierungsorganisationen (NRO) festzustellen. Vielleicht, und das müßte bei der Suche nach international solidarischer Politik beachtet werden, sind diese „neuen Akteure“ und ihr Anspruch, Menschheitsinteressen wie Menschenrechte, Umweltschutz und Armutsbekämpfung zu vertreten, ja ein Ausdruck der Globalisierung und der Notwendigkeit, global Politik gegen das herrschende neoliberale Modell zu betreiben. Bei aller berechtigten Skepsis ist eine eingehendere Beschäftigung mit den NROs, ihrer großen Unterschiedlichkeit und, aus der Perspektive der heutigen Bedeutung internationaler Solidarität, ihrem Bezug zur Solidaritäts- und Dritte-Welt-Bewegung vonnöten. Sind NROs, oder zumindest manche von ihnen, nun die Nachfolger (neuer) sozialer Bewegungen, sind sie ihr professionalisierter Teil oder das Gegenteil, indem sie sich in der Regel sehr stark auf den Staat beziehen und keine anti-staatliche Politik verfolgen, wie es in Teilen der neuen sozialen Bewegungen der Fall war?
Unter dem unscharfen Begriff Globalisierung werden aktuelle Veränderungen gefaßt. Diese führen zu wachsenden Chancenungleichheiten innerhalb von Gesellschaften und zwischen ihnen zu „passiven Revolutionen“, um mit Antonio Gramsci zu sprechen. Ein reformulierter Begriff von internationaler Solidarität soll dem Anspruch der beiden Bücher zufolge diese Veränderungen aufnehmen. Begriffe, gerade solche mit einer langen Geschichte, sind somit Teil sozialer Auseinandersetzungen, verändern ihre Bedeutung und geben Orientierung. Beide Bände sind interessante Momente des Überdenkens und Reformulierens.

Andreas Foitzik, Athanasios Marvakis (Hg.): Tarzan – was nun? Internationale Solidarität im Dschungel der Widersprüche, Verlag Libertäre Assoziation, Hamburg 1997, 270 Seiten.
Ludger Weckel, Michael Ramminger: Dritte-Welt-Gruppen auf der Suche nach Solidarität. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 1997, 150 Seiten.

Den arbeitenden Kindern nützt nur, was sie selbst wollen

In Lateinamerika, Westafrika und Südostasien sind seit einigen Jahren Organisationen arbeitender Kinder im Entstehen. Ihre Vorstellungen und Forderungen zur Kinderarbeit decken sich oft nicht mit dem, was Regierungen und internationale Organisationen wie ILO und UNICEF verkünden. Vor allem wenden sie sich dagegen, jede Arbeit von Kindern in Bausch und Bogen zu verdammen und abschaffen zu wollen. Statt dessen verlangen sie, Armut und Ausbeutungsverhältnisse ins Visier zu nehmen und die Kinder dabei zu unterstützen, bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen und in Würde und freier Entscheidung arbeiten zu können. Die Kinder wollen weiter ihre Familien unterstützen und eine aktive anerkannte Rolle in ihren Gesellschaften spielen.
Die Osloer Konferenz näherte sich ein Stück weit den Vorstellungen der Kinderorganisationen, indem sie sich auf die besonders ausbeuterischen und riskanten Formen der Kinderarbeit konzentrierte. Sie blieb aber meilenweit von den Erwartungen der Kinder entfernt, indem sie die internationalen und strukturellen Ursachen der Ausbeutung von Kindern ignorierte und sich wie eh und je auf gesetzliche Verbote und Boykottappelle kaprizierte. Eine neue Strategie, die wirklich den arbeitenden Kindern zugute käme und ihre Situation verbesserte, kam auf der Osloer ILO-Konferenz nicht in Sicht.
Die 300 MinisterInnen und ExpertInnen von ILO, UNICEF, Gewerkschaften, Unternehmensverbänden und Kinderhilfsorganisationen, die sich auf der Konferenz die Köpfe heiß redeten, duldeten sage und schreibe drei (3) handverlesene Kinder unter sich und störten sich auch noch daran, daß die anderen ihr Forum verließen und vor der Tür ihrer luxuriösen Konferenzstätte demonstrierten. In Oslo waren es vor allem einige Gewerkschaften und Regierungen, die sich die Mitwirkung und Kritik der Kinder verbaten.
Ihre Sturheit und Arroganz wurde selbst innerhalb der UNICEF, die die Konferenz mitveranstaltete, mit Empörung quittiert. Immerhin: In einem Brief an die norwegische Regierung erklärte Bill Myers, einer der profiliertesten UNICEF-Experten zur Kinderarbeit:
„Allein pragmatische Erwägungen erfordern, die arbeitenden Kinder gerade in dem Moment, in dem wir Maßnahmen zu ihrem Schutz beschließen, mitwirken zu lassen und uns ihnen zu stellen. Jedes Mal mehr erkennen die Experten, daß ein wirksamer Schutz der Kinder gegen den Mißbrauch am Arbeitsplatz nicht von oben gegen den Willen der Bevölkerung dekretiert werden kann, vor allem in Ländern mit einem hohen Anteil armer Familien, deren Kinder mehrheitlich in der Landwirtschaft, im Haushalt und im informellen Sektor arbeiten.“
In Oslo wurde die Chance verpaßt, neue Wege im Kampf gegen die wirtschaftliche Ausbeutung und den sozialen Ausschluß zusammen mit den direkt betroffenen Kindern zu suchen. Um so wichtiger ist es, die Kritik, Vorschläge und Forderungen der sich organisierenden Kinder selbst einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

KASTEN

Erklärung des V. lateinamerikanischen und karibischen Treffens
arbeitender Kinder an die internationale Gemeinschaft

Für Arbeit in Würde und eine Gesetzgebung, die uns schützt und anerkennt

Die VertreterInnen der Bewegungen und Organisationen arbeitender Kinder Lateinamerikas und der Karibik (NATs) sowie anwesende VertreterInnen der arbeitenden Kinder Afrikas und Asiens, die sich auf dem V. lateinamerikanischen und karibischen Treffen aller organisierten arbeitenden Kinder versammelt haben, geben hiermit im Namen von weiteren Millionen von arbeitenden Kindern dieser Regionen folgende Erklärung an die internationale Öffentlichkeit ab:
Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen hat für uns Kinder die Rechte, angehört zu werden (Art. 12), uns zu organisieren (Art. 15) und beschützt zu werden (Art. 32) festgelegt. In unserem tagtäglichen Leben, in unserer Arbeit, in unseren Organisationen und auf diesem lateinamerikanischen Treffen haben wir NATs jedoch feststellen müssen, daß diese Rechte nicht ausreichend sind, denn sie werden in der Praxis nicht respektiert.
Man hört uns an, aber man berücksichtigt unsere Ansichten nicht. Man gibt uns das Recht, uns zu organisieren, aber unsere Organisationen arbeitender Kinder und Jugendlicher werden nicht anerkannt. Man „beschützt“ uns, aber man läßt uns nicht an der Ausarbeitung solcher „Schutz“programme mitwirken. Unsere Organisationen kämpfen Tag für Tag für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, für unsere Rechte auf angemessene und qualitativ gute Ausbildung, für bessere Gesundheitsbedingungen, für Möglichkeiten, uns versammeln zu können, um gemeinsam Aktionen durchzuführen, das heißt dafür, in unserem Leben selbst die Protagonisten zu sein und in unseren Gesellschaften als soziale Subjekte anerkannt zu werden. Unsere Organisationen haben sich als die beste Art erwiesen, uns vor Ausbeutung, schlechter Behandlung und der Geringschätzung durch die Gesellschaft zu schützen. Innerhalb unserer Organisationen fühlen wir uns als würdige, fähige und vollwertige Personen und empfinden Stolz für unsere Arbeit. Hier bilden wir uns und finden Raum für Solidarität und für die Erarbeitung von Vorschlägen für Alternativen zum bestehenden System von Armut und Gewalt, das für uns unzumutbar ist.
Damit unsere Meinungen ernstgenommen werden, müssen unsere Organisationen auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene rechtlich voll anerkannt werden. Unsere demokratisch gewählten VertreterInnen müssen in allen lokalen, nationalen und internationalen Gremien mitreden und mitwählen können, in denen über Politik, die die Kinder und die Arbeit betrifft, entschieden wird, wie in der Bildungspolitik, der Arbeitspolitik sowie bei Plänen zur sozialen Absicherung und Gemeindeentwicklung. Die Präsenz der NATs innerhalb dieser Gremien gemeinsam mit Delegierten anderer sozialer Organisationen ist die beste Garantie im Kampf gegen Ausbeutung, Armut und Ausgrenzung und ein großer Schritt zur Durchsetzung der Menschenrechte. Wir NATs aus Lateinamerika und der Karibik wie auch unsere Freunde aus Afrika und Asien verstehen uns als ProduzentInnen DES LEBENS, angesichts der Kultur des Todes, die uns jegliche Rechte und unsere volle Eingliederung in die Gesellschaft verwehrt. Dies nicht anzuerkennen bedeutet, uns noch weiter als jetzt schon auszugrenzen. Gleichzeitig von Bürgerrechten zu uns zu sprechen, ist ein Hohn.
JA zur Arbeit in WÜRDE, NEIN zur Ausbeutung!
JA zur Arbeit unter SCHUTZ, NEIN zu schlechter Behandlung und Mißbrauch!
JA zu ANERKANNTER Arbeit, NEIN zu Ausschluß und Ausgrenzung!
JA zu Arbeit unter MENSCHLICHEN BEDINGUNGEN, NEIN zu unwürdigen Bedingungen!
JA zum RECHT, IN FREIHEIT ZU ARBEITEN, NEIN zur Zwangsarbeit!
Huampaní, Lima (Peru), 6.–9. August 1997
VertreterInnen der Bewegungen arbeitender Kinder: aus der Region Südamerika: Argentinien, Paraguay, Uruguay; aus der Andenregion: Kolumbien, Chile, Ecuador, Peru, Venezuela; aus Mittelamerika und der Karibik: Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Dominikanische Republik.
Übersetzung: Jutta Pfannenschmidt und Manfred Liebel

Protest und Widerstand

Internationale Solidarität
Auch Menschenrechte gehören auf den Speiseplan
Das Bündnis „Soja und Menschenrechte” versteht sich als Partner organisation von brasilianischen Selbsthilfegruppen und Nichtregierungsorganisation, die betroffenenMenschen in Sojaanbaugebieten helfen, für die Wahrung ihrer Grundrechte einzutreten.Die Initiative ging von bestehenden Basisgruppen und entwicklungspolitisch aktiven NGOs in Deutsch-and aus. Ziel des 1996 ins Leben gerufenen Zusammenschlusses aus Bildungseinrichtungen, Arbeitgruppen, Wissenschaftlerlnnen, Solidaritätsgruppen und privaten Interessierten aus Deutschland und anderen europäischen Ländern ist es, entwicklungspolitische Arbeit auf dem Sojasektor zu leisten. Dabei stehen folgende Themen im Mittelpunkt:
1.Produktion von Soja, ihre Sozial-und Umweltverträglichkeit 2. Verwendung von Soja in der europäischen Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie 3. Sojahandel aus dem Blickwinkel-globaler Verantwortung. Das Bündnis ist organisiert als themen und aktivitätsgebundener Zusammenschluß. Informationen werden verbreitet durch eigene Veröffentlichungen, den Rundbrief der Kooperation Brasilien e.V (KoBra, Eichstetten), in Brasilien durch die Monatszeitschrift Nossa Terra der Organisation APOIO. Kontaktstelle: Bündnis Soja und Menschenrechte, Brigitte Holz, Welfenstr. 43, 70599 Stuttgart, Tel. 0711-455377

Literaturempfehlungen
Achito, A. (Hrsg.): Kollektive geistige Eigentumsrechte und Biodiversität -Kolumbianische Beiträge; Kas-sel 1997, 108 Seiten, 14 DM. ISBN:3-88 122-898-5
Bürobert/minimal club/Susanne Schultz: geld. beat. synthetik. Abwerten bio/technologischer Annahmen; Berlin 1996, ID-Archiv, 276 Seiten, 29,80 DM
Franzen, Hubertus (Hrsg.): Auswirkungen bio- technologischer Innovationen auf die ökonomische und soziale Situation in den Entwicklungsländern -Ein Tagungsbericht; Bonn 1995, 146 Seiten, kosten-los, Bezug: ATSAF, Ellerstrasse 50, 53 1 19 Bonn.
Lange, Birgit: Gentechnologie -die Antwort auf den Hunger in der Welt?; Herne 1997, 4 1 Seiten, 7 DM plus Porto. Bezug: FlAN Deutschland, Overwegstrasse 3 1, 44625 Herne.
de Kathen, Andre: Gentechnik in Entwicklungsländern (UBA-Texte 15/96); Berlin 1996 128 Seiten, 15 DM. Bezug: Umweltbundesamt, ZAD, Post-fach 330022, 14 19 1 Berlin.

Recht auf Land und Freiheit

Zum ersten Jahrestag des Massakers von Eldorado dos Carajás verstopften zehntausende landloser Bäuerlnnen die Straßen Brasilias, um ihren Schrei nach Gerechtigkeit in die Regierungsviertel zu tragen. Wieder einmal wurde deutlich: Es bleibt unruhig auf dem Lande in Lateinamerika. Allein in Brasilien waren zwischen 199 1 und 1995 pro Jahr zwischen 180.000 und 550.000 Bäuerlnnen in Landrechts- kämpfe verwickelt. Die Zapatistas legten ihren Aufstand in Chiapas auf den ersten Tag der Nordamerikanischen Freihandelszone und sprachen damit all jenen Bewegungen aus dem Herzen, die sich in diesem Kampf engagiert haben. Bei aller Unterschiedlichkeit der nationalen Kon-texte zieht sich ein roter Faden durch die Auseinandersetzungen: Es geht darum, das neoliberale Dogma des Endes der Agrarreform zu behindern, verhindern oder, im besten Falle, zu überwinden. Nicht alle Konflikte haben die gleiche internationale Be-achtung gefunden, wie sie zunächst der zapatistischen Erhebung und derzeit der brasilianischen Landlosenbewegung zuteil werden. Viele kleinere und größere Organisationen versuchen auch in anderen Staaten, den Agrarreformprozeß wie-der in Gang zu bringen. Die erreichten Erfolge jedoch sind gering. In Brasilien erhielten trotz der enormen Proteste zwischen 1990 und 1996 gerade mal 80.000 Familien Land. Das ist im Blick auf die insgesamt 4,8 Millionen landlosen Familien zynisch, und angesichts der von der staatlichen Agrarbehörde bezifferten 100 Millionen Hektar brachliegen-den Landes eine unglaubliche Unverschämtheit. In Honduras hat das Agrarmodernisierungsgesetzbeispielhaft und konsequent die Strukturanpassung des Agrarsektors umgesetzt. Trotz des massiven Widerstands der kritischen Bauern- organisationen und den inzwischen nachweisbaren katastrophalen Effekten der Agrarmodernisierung ist es bisher noch nicht gelungen, das Gesetz grundlegend zu revidieren. In EI Salvador werden nach mehreren Jahren zähen Ringens nun Ländereien der zweiten Agrarreformphase enteignet und an Landlose übertragen werden -zehn Jahre später als es die Verfassung vorsah. In Guatemala eröffnet das Friedensabkommen zwar neue Perspektiven, ein umfassendes Agrarreformprogramm aber ist nicht in Sicht, Doch wie soll es zu Frieden und einer ländlichen Entwicklung kommen, die diesen Namen verdient, in Staaten, in denen ein Drittel bis die Hälfte der bäuerlichen Bevölkerung ohne ausreichend Land und ohne permanente Arbeit ist? Zehn Jahre nach Beginn des zentralamerikanischen Friedensprozesses in Esquipulas herrscht ein „Frieden ohne Gerechtigkeit”, den insbesondere die arme Landbevölkerung in unruhig knurrenden Mägen spürt: Hungern in Freiheit?
Das Menschenrecht auf Land
Landrechtskämpfe gehen in den meisten Fällen mit Menschenrechtsverletzungen einher. Allein in dem Konflikt um die Hacienda Bellacruz in Kolumbien wurden 1996 über 30 Bäuerlnnen umgebracht. 199 1 wurden nach Angaben der brasilianischen Land- pastorale 287 Menschen bei Landkonflikten getötet. Allerdings sind es keineswegs nur die bürgerlichen und politischen Menschenrechte, die immer wieder mißachtet werden. Viel häufiger und systematischer sind die Verletzungen der wirtschaftlichen und sozialen Rechte, insbesondere des Menschen-rechts, sich zu ernähren. Die meisten Staaten Lateinamerikas haben den internationalen Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte ratifiziert. Ihre Pflicht, die darin anerkannten Rechte zu achten, zu schützen und zu gewährleisten, haben sie in vielen Fällen jedoch chronisch mißachtet. Vielmehr haben die Regierungen oft selbst im Zuge von Staudammbauten oder Erz-und Goldabbauprojekten Bauernfamilien vertrieben und so ihrer Ernährungsbasis beraubt. Oder sie haben, statt ihrer Schutzpflicht gegenüber diesen Gruppen nach-zukommen, transnationalen Bananen-oder Olkompanien bei der Vertreibung indigener oder anderer bäuerlicher Gemeinschaften assistiert. Der Pakt jedoch impliziert, daß die Regierungen den Armen per Agrarreformen den größtmöglichen Zugang zu produktiven Ressourcen ermöglichen müßten. Denn ohne ausreichend Land, bezahlbare Kredite oder permanente Arbeit können sich die Bäuerlnnen nicht ernähren.
Der enge Zusammenhang zwischen den bekannteren bürgerlichen und politischen und den lange Zeit fast vergessenen sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechten wird gerade bei Landkonflikten sehr deutlich. Als ich vor zwei Jahren an den Gräbern dreier Bauern stand, die bei einem Landkonflikt in Honduras umgebracht worden waren, bat ich die Über-lebenden dringend darum, von einer Wiederbesetzung des Landes abzusehen. Ich hatte die Bewaffnung und Entschlossenheit der Soldaten gesehen, die das umstrittene Landstück zu verteidigen hatten. Darauf reagierte Manuel, einer der hageren Landlosen mit einem bitteren Satz: „Es gibt Schlimmeres als zu sterben: die Kinder jeden Tag hungrig im Dreck spielen sehen zu müssen.” Für diese Menschen sind in der Tat die Landkonflikte zentraler Kristallisationspunkt eines Kampfes für ihre fundamentalen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rechte, die für ein Leben in Würde unentbehrlich sind.
Wesentlich ernster als ihre Verpflichtungen gegenüber den Menschenrechtspakten nehmen die
Regierungen die Auflagen, an die internationale Finanzinstitutionen ihre Kreditvergabe knüpfen. Neoliberale Strukturanpassungspolitiken bilden seit Jahren den wesentlichen strukturellen Rahmen für die Liberalisierung der nationalen und internationalen Agrarmärkte sowie die Privatisierung der Dienstleistungen im Kredit-und Beratungsbereich. Neoliberale Logik beherrscht auch den Zugang zu Land. Land wird als Ware wie jede andere gesehen, die gekauft und verkauft wird. Enteignungen mit der Begründung, daß das Eigentum eine soziale Funktion erfüllen soll, sind dieser Ideologie fremd. Dagegen wirkt das Postulat: „Das Land denen, die es bebauen”, geradezu archaisch. Im Zeichen der sogenannten Agrarmodernisierung besteht kein Zweifel mehr. Statt: „La tierra para quien la trabaja” heißt es nun: „La tierra para quien la puede comprar”, das Land denen, die es kaufen können. Dieses Dogma ist exklusiv. Wer von diesen Millionen landlosen Bäuerlnnen verfügt über das nötige Kapital zum Kauf von ausreichend Land? Für sie ist das neoliberale Modell weder theoretisch noch praktisch eine Option. Diese Menschen interessieren nicht, denn ihre Kaufkraft ist gleich null.
Wenn aber Regierungen auf diese Weise große Teile der bäuerlichen Bevölkerung von der Teilhabe an ländlicher Entwicklung ausschließen, dann ist dies nicht nur aus volkswirtschaftlichen und moralischen Gründen problematisch. Es ist vor allem ein massiver und systematischer Verstoß gegen die Menschenrechte genau dieser Bevölkerungsgruppen. Dieser Aspekt ist bisher bei den Diskussionen über Agrarreform und Strukturanpassung in Lateinamerika viel zuwenig beachtet worden. Dabei eröffnet eine menschenrechtliche Begründung der Notwendigkeit von Agrarreformen in Lateinamerika enorme Chancen, besonders im Zeichen und im Kontrast zum herrschenden neoliberalen Dogma.
Ich plädiere dafür, den Kerngehalt des Rufs nach Land und Freiheit in menschenrechtlicher Perspektive neu zu entdecken und für die Solidaritätsarbeit zu operationalisieren. Land und Freiheit, das war nie nur ein Stückchen Land und ein Stückchen Freiheit. Land war immer mehr, der Schrei nach Land verdichtete immer eine übergreifende, fundamentale Forderung nach den Grundlagen einer menschenwürdigen Existenz.
Land bedeutet Leben, ganz und gar nicht nur für indigene oder andere bäuerliche Gemeinschaften, auch wenn diese am ehesten um das Geheimnis wissen. Land ist für viele Garant ihrer Ernährungssicherheit und somit für Würde und Unabhängigkeit. Land ist für viele Garant der Freiheit. Freiheit wiederum bedeutete nie nur, frei zu sein von politischer Repression. Freiheit war immer auch ein Kampfbegriff gegen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Unterdrückung. Freiheit von Angst und Freiheit von Not sind zwei Seiten derselben Medaille.
Wer heute für eine neue Debatte über Agrarreformen plädieren will, knüpft an der langen Tradition des Kampfes für Land und Freiheit an. Es bleibt die Vision, daß den „verdammten Bäuerlnnen dieser Erde” eine Zukunft ohne Unterdrückung gebührt. Es bleibt die Verpflichtung, die wir Engagierten gegenüber denjenigen mutigen Menschen empfinden, die ihren Einsatz für Recht und Gerechtigkeit mit Repression und Mord quittiert bekommen haben. Auch die Anklage der noch immer himmelschreienden Besitzverhältnisse auf dem Lande Lateinamerikas muß bleiben. Die altbekannten volkswirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Argumente zur Begründung von Agrarreformen sind nach wie vor gültig, worauf auch Senghaas in einer unlängst veröffentlichten Polemik „gegen den entwicklungspolitischen Gedächtnisschwund” hingewiesen hat.
Agrarreform als Staatenpflicht
Neuere einleuchtende Argumentationslinien sind in den letzten Jahren nicht nur in menschenrechtlicher, sondern auch aus feministischer und ökologischer Perspektive formuliert worden. Die honduranischen Bäuerlnnenorgansiationen etwa haben immer wieder darauf hingewiesen, daß die im Agrarmodernisierungsgesetz festgelegte Gleichberechtigung der Frauen bei der Übertragung von Agrarreformland Makulatur geblieben ist, da dasselbe Gesetz den gesamten Agrarreformprozeß zum Still-stand gebracht hat. Wenn kein Land mehr zu verteilen ist, gibt es auch keines für die Frauen. Die fortschreitende Erosion und Entwaldung hängen in den meisten Ländern mit der Frage des Landbesitzes zusammen. Dies zeigen nicht nur die hemmungslosen Abrodungen riesiger Forstgebiete durch private Firmen und Großgrundbesitzer. Auch an der prekären Lage der kleinen Parzellenbauern, die mangels Alternative landwirtschaftlich kaum nutzbare Hänge oder Flächen bewirtschaften, wird deutlich: Eine ökologisch nachhaltige, ländliche Entwicklung in Lateinamerika ist ohne grundlegende Re-formen der Grundbesitzstruktur nicht denkbar. Die angedeuteten feministischen, ökologischen und menschenrechtlichen Argumentationslinien sollten dringend weiter analysiert und debattiert werden.
Solange neoliberale Agrarpolitiken in Lateinamerika Millionen von Bäuerlnnen von der Teilhabe an der wirtschaftlichen Entwicklung ausschließen, ist das nicht nur ein moralisches, sondern auch ein rechtliches Problem. Die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechte genau dieser besonders gefährdeten Gruppen werden aufgrund fehlender oder falsch priorisierter staatlicher Politiken nicht verwirklicht.
Damit verletzen die Staaten ihre völkerrechtlich verankerten Achtungs-, Schutz-und Gewährleistungspflichten, die sie sich mit der Ratifizierung des Paktes für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte gegenüber diesen Menschenrechten zueigen gemacht haben. Die Staatenpflichten gegenüber dem Menschenrecht auf Nahrung, das in Artikel I I des Paktes anerkannt wird, implizieren in Ländern mit hohem Anteil landloser Bauernfamilien und gleichzeitig hochgradig ungleichen Grundbesitzstrukturen eine Reform der landwirtschaftlichen Systeme. Der UN-Ausschuß, der über die Einhaltung der wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte wacht, hat in seinen Leitlinien und Beratungen über Staatenberichte immer wieder darauf hingewiesen: Die Regierungen müssen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln dafür sorgen, daß gerade die ernährungsunsicheren Gruppen, Landlose, kleinbäuerliche Familien, indigene Gemeinschaften und in jeder dieser Gruppe besonders die von Frauen allein geleiteten Haushalte, ausreichend Zugang zu den produktiven Ressourcen bekommen müssen, die sie für eine würdige Existenz benötigen.
etwa, die nicht umgesetzt wer-den, sind von dem UN-Ausschuß wiederholt als Verletzungen des Menschenrechts auf Nahrung angeprangert worden.
Perspektiven für die Solidaritätsarbeit
Offensichtlich ist der Kampf um Land und Freiheit in Lateinamerika ein Kampf für die Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen und politischen Menschenrechte. Um es pointiert zu sagen: Die meisten Landlosenorganisationen sind in diesem Sinne immer auch Menschenrechts- organisationen. Und oft genug ist ihnen noch kaum bewußt, daß sie -nicht erst wenn einer ihrer Sprecher verhaftet, gefoltert oder ermordet wird -durch die menschenrechtliche Dimension ihres Kampfes ganz neue und völkerrechtlich fundierte Argumentationslinien nutzen könnten, um die Regierungen im Blick auf Agrarreformen in die Pflicht zu nehmen. Auch die Menschenrechts-und entwicklungs- politischen Nichtregierungsorganisationen stehen erst am Anfang einer großen, noch zu führenden Debatte. So auch die Solidarität hier.
Die sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte sind nicht nur in Lateinamerika gleichzeitig eine Kontrastvision und Kriterien für harte Kritik neoliberaler Politiken. Sie eröffnen auch Perspektiven für die Solidaritätsarbeit, nicht nur, aber gerade auch im Blick auf die Unterstützung von Agrarreformforderungen. Sowohl im Blick auf unsere Bildungs- und offentlichkeitsarbeit hier wie auch auf unsere materielle und politische Unterstützung sozialer Bewegungen dort sind viele neue Möglichkeiten denkbar, wenn wir die Perspektive der sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte durchbuchstabieren.
Viele von uns haben ihre Solidaritätsarbeit zu Lateinamerika mit konkreten Offentlichkeits- und Unterstützungsmaßnahmen zur Situation der bürgerlichen und politischen Menschenrechte in Zeiten der Diktaturen und politischen Repression begonnen. Menschenrechte werden, das scheint eine durchgängige erkenntnistheoretische Erfahrung zu sein, immer dann entdeckt, wenn sie massiv negiert werden. In Zeiten der politischen Repression sind es vor allem die bürgerlichen und politischen Rechte, die im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Heute sind es die sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte, die im Zeichen der neoliberalen Strukturanpassung und Agrarpolitiken, in Zeiten des Friedens ohne Gerechtigkeit, immer mehr in den Vordergrund treten. Angesichts der Koexistenz demokratisch legitimierter Regimes und wachsender Verelendung großer Bevölkerungsteile ist es Zeit, für das Recht auf Land und Freiheit, für eine neue Debatte über die Notwenigkeit von Agrarreformen in Lateinamerika die Stimme zu er-heben. Die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Menschenrechte der ländlichen Armen Lateinamerikas dürfen nicht länger mit Füßen getreten werden.

Martin Wolpold
Lateinamerikareferent der deutschen Sektion von FlAN (FoodFirst Informations-und Aktions-Netzwerk), internationale Menschenrechtsorganisation für das Recht, sich zu ernähren.

Editorial Ausgabe 281 – November 1997

Isaac Velazco, Sprecher der peruanischen Guerillaorganisation MRTA in Europa, ist ein gefährlicher Mann. Er hat die Interessen Deutschlands „erheblich gefährdet“. Also wurde er zum Schweigen verurteilt. Zuwiderhandlungen werden mit Geldstrafe oder Gefängnis bestraft. Die Bundesrepublik ist schließlich eine wehrhafte Demokratie.
Was war geschehen? Zahlreichen Medien hat Isaac Velazco seit Beginn der Besetzung der japanischen Botschaft in Lima Interviews gegeben, so auch uns. Er hat zu erklären versucht, warum die Aktion der MRTA legitim sei. Dabei hat er die alltäglichen Menschenrechtsverletzungen des Fujimori-Regimes angeklagt und auf Folter und katastrophale Haftbedingungen in den peruanischen Knästen hingewiesen. Haftbedingungen, die schon seit Jahren vergeblich von Menschenrechtsorganisationen und dem Internationalen Roten Kreuz verurteilt werden. Ohne die Mittel zu akzeptieren, zeigten auch bürgerliche Medien Verständnis für das Ziel der Botschaftsbesetzung: Die Freilassung der über 400 politischen Gefangenen der MRTA.
Das blutige Ende der Aktion ist bekannt. Über die Ermordung mehrerer BotschaftsbesetzerInnen, die sich bereits ergeben hatten, wurde ausführlich berichtet. Auch Velazco hat darüber gesprochen. Verständlich, daß dies Fujimori nicht paßt. Seine Regierung stellte einen Auslieferungsantrag. Als anerkannter politischer Flüchtling genießt Velazco aber in der Bundesrepublik einen gewissen Schutz.
Um den Mörder Fujimori zu besänftigen, wies Innenminister Kanther die Hamburger Innenbehörde an, den seit Jahren in der Hansestadt lebenden Peruaner zum Schweigen zu bringen. Velazco und sein Verteidiger Hartmut Jacobi sind gegen den Maulkorberlaß in Berufung gegangen.
Es ist das zweite Mal, daß sich die deutsche Regierung zum Büttel des peruanischen Regimes macht. Im Juni hatte die deutsche Botschaft in Lima zwei Angehörigen der bei der Botschaftserstürmung getöteten Guerillera Rolly Rojas ein Visum verweigert. Sie wollten zusammen mit „Müttern der Plaza de Mayo“ aus Argentinien für ein Angehörigenkomitee von Opfern der militärischen Repression in Peru werben. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes erklärte damals lapidar, die Reise würde die deutsch-peruanischen Beziehungen „belasten“ (LN 277/278). Zwei andere Angehörige und die Mütter der Plaza de Mayo wurden kurzfristig vom Bundestagsausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe wieder ausgeladen.
Exporte sind Außenhandelsminister Kinkel wichtiger als Menschenrechte. Ein Skandal, der altbekannt ist. Das Problem liegt woanders. Die politischen Freiräume werden enger, der Obrigkeitsstaat ist auf dem Vormarsch, abweichende Meinungen werden immer häufiger zensiert. Auch der Maulkorb für Velazco wäre vor zehn Jahren so nicht möglich gewesen. Zur Erinnerung: In El Salvador kämpfte die Befreiungsbewegung FMLN gegen das Regime von Napoleón Duarte, einem Schützling der Konrad-Adenauer-Stiftung. Das christdemokratische „Modell El Salvador“ sollte auf andere Länder Lateinamerikas ausstrahlen. Die Bundesregierung hatte also mehr Interessen in El Salvador als heute in Peru, das nur ein mittelmäßiger Handelspartner ist. Trotzdem hatte die FMLN bis Ende des Krieges mehrere offizielle Vertreter und Büros in Deutschland. Weitgehend unbehelligt warben sie für die Ziele der salvadorianischen Guerilla.
Dies war auch deshalb möglich, weil es eine breite Solidaritätsbewegung gab, die den Kampf der FMLN politisch und materiell unterstützte. Öffentlichkeit über die Verbrechen der CDU-Verbündeten in El Salvador wäre auch ohne die Anwesenheit der Guerilla-VertreterInnen hergestellt worden. Zugleich war die Bewegung aber ein Schutz für die FMLN-Vertreter in Europa.
Eine Unterstützung, mit der die MRTA, aber auch nicht-bewaffnete Organisationen in Peru, heute kaum rechnen können. Die Schwäche der Linken ist immer die Stärke des Staates.

Frieden, aber wie?

Nach seinem Amtsantritt im Juni 1994 hatte Samper Carlos Holmes Trujillo, der den Friedensprozeß in Mittelamerika aus eigener Anschauung kennt, zum obersten Friedensberater ernannt. Aber nach der Krise um die Gelder der Mafia im Wahlkampf für Samper fiel die Friedensinitiative der Regierung in sich zusammen. Die Armeeführung weigerte sich, ein großes Gebiet im Südosten des Landes zu räumen, was die FARC als Vorbedingung für die Aufnahme von Verhandlungen genannt hatte. Der Präsident gab klein bei und verlangte wenig später nach einer militärischen Lösung. Das Amt des Friedensberaters blieb lange Zeit unbesetzt, aber das Büro mit seinen Mitarbeitern funktionierte weiter. Holmes Trujillo ist seit einigen Monaten Innenminister.
Im Juni hatte Präsident Samper nach der Übergabe der 70 von den FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) festgehaltenen Militärs angekündigt, daß innerhalb von 100 Tagen die Möglichkeiten für eine neue Friedensinitiative geprüft werden. Er schlug drei Themen vor, über die möglichst bald eine Einigung erfolgen soll: Entführungen (nach der kolumbianischen Presse gab es 1996 1.439 Fälle), Sprengungen von Ölpipelines (Schaden in den letzten sieben Jahren: 2 Mrd. US-Dollar) und Kinder als Kriegsteilnehmer.

Friedensprozeß und Vorwahlkampf

Im Oktober finden in Kolumbien Kommunalwahlen statt. Von den 1994 gewählten sind bisher 20 Bürgermeister und 226 Gemeinderäte ermordet worden. Die schon von früher bekannte Zunahme politischer Gewalt in der Vorwahlzeit zeigt sich auch dieses Mal wieder. Nach Regierungsangaben sind in rund 400 (nach anderen Quellen: 600) der über eintausend Gemeinden Guerillagruppen und in 450 Gemeinden Paramilitärs aktiv.
Zwischen 16.000 und 18.000 Frauen und Männer sollen in der Guerilla kämpfen. Der Krieg hat sich nach dem Analytiker Alfredo Rangel qualitativ verändert – von einem “klassichen” Guerillakrieg zu einem Bewegungs- und Positionskrieg. Die Rebellen treten zunehmend in größeren Verbänden auf. Gleichzeitig versuchen paramilitärische Gruppen mit etwa 5.000 Angehörigen, ihren Einfluß im Land auszudehnen, hinzu kommen Tausende Mitglieder legaler “Sicherheitskooperativen”, der sogenannte CONVIVIR (Asociaciones Comunitarias de Vigilancia Rural). Das Kriegsgeschehen und politischer Druck der verschiedenen Gewaltakteure haben die Zahl der intern Vertriebenen auf etwa eine Million anschwellen lassen.
Die These Alfredo Rangels, nur durch ein deutliches politisch-militärisches Auftreten könne die Guerilla zu Verhandlungen gezwungen werden, wird heftig diskutiert. Eduardo Pizarro von der Nationaluniversität widerspricht jedoch energisch. Rangel vernachlässige den internationalen Kontext wie den Fall der Mauer 1989 und die Friedensprozesse in Zentralamerika. Er vergesse, daß die Guerillagruppen durch ihre Aktivitäten ihre Feinde multiplizierten und dies zu einer Eskalation des Konfliktes auf einem immer höheren Niveau führe. Für den früheren Außenminister Ramírez Ocampo existiert in Kolumbien zwischen den beiden Seiten kein militärisches, wohl aber ein strategisches Gleichgewicht: Keine Seite könne die andere besiegen.
Im Juli legte die Regierung dem Kongreß einen Gesetzentwurf zur Einrichtung eines Nationalen Friedensrates vor. Dem Rat sollen rund 40 Mitglieder angehören, die eine breite Palette von staatlichen Stellen und gesellschaftlichen Kräften abdekken. Er soll u. a. die Regierung beraten, die Bevölkerung motivieren, Eigeninitiativen zu starten und jährlich dem Kongreß über den Friedensprozeß berichten. Als Hauptmotiv für die Einrichtung wird angeführt, der Friedensdialog müsse einer permanenten staatlichen Stelle anvertraut werden, die diese Arbeit unabhängig von den wechselnden Regierungen wahrnehmen soll. Gleichwohl soll das Gremium unter dem Vorsitz des Präsidenten tagen, und wichtige Vertreter der Regierung wie die Ministerien für Inneres, Verteidigung und Justiz wären vertreten.
Es wird nicht recht deutlich, wie dieser offenkundige Widerspruch – Beziehung zu Regierung und Staat – gelöst werden soll.
Die Skepsis gegenüber den Erfolgschancen der neuen Initiative ist groß, denn sie kommt am Ende der Amtszeit Sampers, in der die Regierung traditionell geschwächt ist. Das Ausmaß politischer Gewaltanwendung ist auch weiterhin hoch. Die Guerillagruppen arbeiten daran, ihren Einfluß über Teile des Landes zu konsolidieren. Es ist unklar, warum sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt in einen Friedensprozeß eintreten sollten.
Auch hat besonders die FARC deutlich gemacht, daß sie der Regierung Samper aufgrund der Drogengelder während des Wahlkampfes jegliche Legitimation abspreche. Ein FARC-Sprecher lehnte bereits die Initiative eines zivilgesellschaftlichen Friedensnetzes ab, eine Volksabstimmung für den Frieden im Oktober abzuhalten. Die Guerilla verlangt bei den Gemeindewahlen eine Stimmenthaltung. Eine größere Anzahl von Kandidaten wurde bereits entführt, einige von ihnen wieder freigelassen, andere ermordet.
Nur wenige Gründe sprechen für Erfolgschancen der Initiative. Mit der Zwangspensionierung des Oberkommandierenden der Streitkräfte, General Bedoya, wurde ein prominenter Gegner von Verhandlungen aus einer Spitzenposition entfernt. Sein Nachfolger, General Bonett, gilt als flexibler.
Zweitens wird das Bewußtsein in Politik und Zivilgesellschaft (wieder einmal!) stärker, daß eine militärische Lösung nicht möglich ist und nach einem Verhandlungsfrieden gesucht werden muß.
Drittens scheint die US-Regierung keine verhandlungsfeindliche Position einzunehmen. Ihr scheint der Drogenkrieg mehr am Herzen zu liegen als die Gegnerschaft zu linken Guerilleros. So hat sie die Militärhilfe für Anti-Drogeneinsätze in Höhe von 70 Mio. Dollar wieder aufgenommen. Die Regierung mußte sich verpflichten, Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen und die Überwachung der Einhaltung dieses Versprechens durch die US-Regierung akzeptieren. Eine Suspendierung der Hilfe bei Nichteinhaltung ist möglich. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Diskussion über eine mögliche Auslieferung kolumbianischer Drogenhändler, die in der Verfassung von 1991 verboten wurde. Sie wird jetzt im Kongreß neu behandelt. Die Auslieferung war in der Amtszeit Barcos Ende der achtziger Jahre der entscheidende Faktor für terroristische Aktionen des Medelliner Kartells gegen Regierung und Bevölkerung.
Schließlich spielen bei der Initiative parteipolitische Interessen eine Rolle. Einer der Favoriten für die Präsidentschaftswahl 1998 ist die rechte Hand Sampers: der liberale Ex-Innenminister Horacio Serpa. Der Beginn von Verhandlungen würde seine Wahlchancen ohne Zweifel deutlich erhöhen.
Kolumbianische Regierungen interessieren sich seit einiger Zeit für die Erfahrungen in Zentralamerika, gelten doch die dortigen Friedensschlüsse bei allen aktuellen Problemen immer noch als stabil. Mit dem neuen UN-Büro zur Beobachtung der Menschenrechtslage existiert zum ersten Mal eine Vertretung des UN-Hochkommissars für Menschenrechte (Genf) in der westlichen Hemisphäre. Unter Leitung der spanischen Botschafterin Mazarrasa arbeiten fünf Experten an der Berichterstattung zur Lage in Kolumbien. Mehrfach hat sich das Büro kritisch in der Öffentlichkeit geäußert, etwa aus Anlaß des Mordes an den beiden Mitarbeitern des jesuitischen Forschungsinstitutes CINEP, Elsa Alvarado und Mario Calderón, im Mai und über die Rolle der CONVIVIR-Gruppen, vor allem in Antioquia. Der dortige Gouverneur Alvaro Uribe hat im August in Genf gegenüber den Vereinten Nationen die Existenz dieser Gruppen gerechtfertigt; Kritiker sehen in ihnen eine legale Form des Paramilitarismus.

Eine Rolle für die Vereinten Nationen?

Im August schlug eine Gruppe von Intellektuellen um Eduardo Pizarro eine Vermittlungsrolle der Vereinten Nationen vor; ein Blauhelmeinsatz wurde hingegen abgelehnt. Bisher ist ein solcher Vorschlag am Widerstand des Establishments gescheitert. Angesichts der Verschlechterung der Lage ist eine solche Lösung für die Zukunft nicht mehr auszuschließen – zumindest dann nicht, wenn der neue Friedensrat kurzfristig keine Erfolge aufweist. Falls eine solche Initiative von den UN beschlossen würde, würde die politische Abteilung in New York die Vermittler bestimmen. In der Vergangenheit haben bereits Costa Rica, Mexiko und Venezuela den Dialog zwischen der Guerilla und der Regierung gefördert.

Exporte statt Menschenrechte

Eigentlich hatte Hebe de Bonafini eine ganz andere Be­grüßung in der deutschen Regie­rungshauptstadt erwartet: Ge­plant war ein offizieller Empfang der Gruppe durch den Bundes­tags-Unterausschuß für Men­schenrechte. Dieser war jedoch kurzfristig ohne nähere Begrün­dung abgesagt worden. Dem war die Ablehnung der Visaanträge zweier peruanischer Delegierter der­selben Gruppe durch das Bun­desaußenministerium vor­aus­gegangen. María Fernández Rojas und Adilia Rojas, Mutter und Schwester der bei der Er­stürmung der besetzten japani­schen Botschaft in Lima getöte­ten MRTA-Guerillera Rolly Ro­jas, wollten auf ihrer Deutsch­landreise über die Haftbedingun­gen insbesondere der MRTA- KämpferInnen in peruanischen Gefängnissen berichten.
Für die inhaftierten MRTA- Mit­glieder, die häufig ohne Pro­zeß oder nach Schnellurteilen ano­nymer, maskierter Richter eingesperrt wurden, sind Tö­tun­gen, Isolationshaft, Folter und Be­suchssperren an der Tages­ord­nung. Die Angehörigen von Rol­ly Rojas, ebenso wie die Mut­ter und Schwester des MRTA-Kom­man­danten Nestor Cer­pa Car­to­li­ni, die als politi­sche Flüchtlinge im französi­schen Exil leben und des­halb nach Deutschland ein­reisen durften, betonen, weder MRTA-Mitglieder zu sein noch je­mals die Hand gegen den pe­ruani­schen Staat erhoben zu ha­ben. Sie stellen sich für Peru eine Or­ganisation der Angehörigen nach dem Vorbild der ar­gen­ti­ni­schen “Madres” vor, die ge­walt­frei für die Aufklärung aller Fäl­le von “Verschwundenen”, die Be­stra­fung der Täter und die Ver­bes­serung der Haft­be­din­gungen politischer Gefangener streitet.

Madres in Deutschland unerwünscht

Das Pressereferat des Bun­des­außenministeriums mochte die Ab­lehnung der Visa nicht be­grün­den. Eine “Infor­ma­tions­rei­se” der beiden Menschenrechts­ver­treterinnen würde die deutsch – peruanischen Beziehungen be­las­ten, teilte der Leiter der La­tein­amerika-Abtei­lung des Pres­se­referats, Lindner, gegenüber der LN mit. Dies habe aber nichts mit einem Ignorieren der Men­schenrechtslage in Peru zu tun. Lindner betonte, Men­schen­rechts­verletzungen durch staat­liche Organe in Peru seien im­mer ein Thema bei Gesprä­chen mit peruanischen Reprä­sen­tanten. Außenminister Kinkel füh­re in Menschenrechtsfragen ei­ne “Politik des beharrlichen Dia­logs” mit Präsident Fujimori.
Es ist bemerkenswert, daß Deutsch­land als bisher einziges Land in Europa der Delegation von Menschenrechtlerinnen offi­ziell das Gespräch verweigerte. Über die Gründe dafür läßt sich nur spekulieren: Offenbar reichte es der Bundesregierung schon, daß es sich bei den Delegierten um Angehörige von MRTA-Mit­glie­dern handelt. Die hat ja be­kannt­lich zu Beginn der Bot­schafts­besetzung auch deutsche Di­plo­maten als Geiseln festge­halten, und man befürchtete viel­leicht so etwas wie eine Pro­pa­gan­da- und Rechtfertigungs­kam­pagne für die Botschaftsbe­set­zung. Mit einer solchen Ar­gu­men­tation begäbe sich die Re­gie­rung aber auf gefährliches Glatt­eis, würde sie sich doch Fu­ji­mo­ris Begriff von “Sippenhaft” zu eigen machen und damit die re­a­le Repression, der die Ange­hö­ri­gen Rolly Rojas’ und anderer po­li­tischer Gefangener in Peru aus­ge­setzt sind, rechtfertigen und ver­stärken. Eine solche Ar­gu­mentation erinnerte auch fa­ta­lerweise an die Haftbedingun­gen von mutmaßlichen RAF-Mit­glie­dern und Sympathisanten und die Be­spitzelung und Re­pression ge­gen deren Angehö­rige in den sieb­ziger und achtzi­ger Jahren, ei­nem der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Men­schen­rech­te in der Bundes­republik Deutsch­land.

Fujimoris harte Hand stimu­liert Investitionen

Die Liste der Menschen­rechts­verletzungen durch den pe­rua­nischen Staat ist lang. Die deutsche Regierung muß schon ge­wichtige Gründe haben, ange­sichts Fujimoris Staatsterroris­mus beide Augen zuzudrücken. Und die hat sie: Seit 1993 hat sich das Außenhandelsvolumen mit Peru beinah verdoppelt. Die Bun­desrepublik ist inzwischen zum wichtigsten Handelspartner Pe­rus in Europa avanciert und steht in der Liste der Außenhan­dels­partner Perus an fünfter Stel­le nach den USA, Japan, Ar­gen­ti­nien und Brasilien. Noch hält die unsichere Lage in Peru deut­sche Unternehmen von Di­rekt­in­ve­stitionen ab. Die deut­sche Wirt­schaft braucht daher eine er­folgreiche “Antiterrorpolitik” ei­nes Präsi­denten mit “harter Hand”. Und dessen langer Arm reicht bis nach Deutschland: Zwar kann die Bundesregierung Fujimoris Bitte nach einer Aus­lie­ferung des in Hamburg le­ben­den MRTA-Sprechers Isaac Ve­las­co nicht er­füllen, da jener hier als politi­scher Flüchtling an­er­kannt ist, doch forderte Bun­des­in­nenmini­ster Manfred Kanther die Ham­bur­ger Behörden auf, Ve­lasco jeg­liche öffentliche po­li­tische Mei­nungs­äußerung zu ver­bie­ten. Der Ham­burger In­nen­se­nator wies dies allerdings auf­grund verfas­sungs­rechtlicher Be­den­ken zu­rück.

“Die Toten sind auch das Werk Ihrer Regierung”

Was ist die Absicht Ihrer Informations­reise?

Hebe de Bonafini: Wir, als “Madres” aus Argentinien, be­gleiten und unterstützen die pe­ruanischen Mütter, die noch nicht solch starke internationale Unterstützung haben wie wir, dabei, eine eigene Gruppe zu grün­den und Kontakte hier in Europa zu finden. Die Situation der Menschenrechte in Peru be­treffend, sind wir besorgter als je zuvor, denn Präsident Fujimori will rund 400 politi­sche Gefan­gene in das Gefängnis von Challa­palca hoch in den peruani­schen Anden ver­legen, in 5000 Metern Höhe ohne Heizung, Strom und fließend Wasser, was einem To­desurteil auf Raten gleichkommt. Unser Ziel ist es, weltweit eine Million Unter­schriften zu sammeln, um dies zu verhindern.
Felicitas Cartolini: Politische Gefangene in Peru sind innerhalb der Haftanstalten massi­ver Re­pres­sion ausgesetzt. Sie dürfen we­der Besuch von Angehöri­gen, noch vom Roten Kreuz oder Ärz­ten empfangen, selbst dann nicht, wenn sie krank sind. Die pe­ruanische Regierung will nicht, daß sich Menschen für diese Gefangenen einsetzen, be­schimpft uns “Madres” als “Ter­ro­ristenmütter” und be­zeichnet al­le, die gegen die Re­gierung sind, als Unterstützer des Ter­ro­rismus.

Von Ihrer Absicht, eine Or­ganisation der “Madres” für Peru zu gründen, war bereits die Rede. Wie weit sind diese Pläne schon fortgeschritten?

Lucia Cerpa: Es gibt in Peru bereits mehrere Organisationen von Müttern und Fa­mi­li­en­an­ge­hö­rigen Verschwun­dener und po­li­tischer Häftlinge, die Auf­klä­rung über das Schick­sal der “Des­aparecidos”, der Ver­schwun­denen, die Bestrafung der Täter und die Wahrung der Men­schen­rechte in den Ge­fängnissen for­dern. Sie werden jedoch in ih­rer Arbeit massiv be­hindert. Wir, als Flücht­linge, Exilierte, wollen di­ese Gruppen stär­ken, indem wir die interna­tionale Öffentlich­keit über das, was in Peru vor sich geht, infor­mieren. Dazu wol­len wir uns hier in Eu­ropa zusammentun und Kontakte nach Peru aufrechter­halten.

Sie wurden in Bonn recht fro­stig empfan­gen. Warum stützt Deutschland Ihrer Mei­nung nach so stark die Regierung Fujimoris?

F.C.: Darüber kann ich nur spekulieren: Es mögen wohl wirt­schaftliche Interessen sein. Eigentlich sollten Sie diese Frage Ihrer Regierung stellen.
H.B.: Wir haben hier in Deutsch­land viel Solidarität ge­spürt, doch es ist das einzige Land in Europa, in dem es keine Un­ter­stützergruppe für die “Madres” gibt. Und: Noch nie hat uns jemand ein Ge­spräch ver­weigert, außer: Fujimori – und der Unterausschuß für Men­schen­rechte des Deutschen Bun­destages. Es ist wohl eindeu­tig, daß Deutschland Fujimori unter­stützt, es hat viele wirtschaftliche Interessen. Das Le­ben unserer Angehörigen verwandelt sich für sie in Erdöl, in Geschäfte; Men­schen­rechte werden zu einer Fra­ge von Ölpreisen und Bör­sen­kur­sen. Die deutsche Regie­rung re­det soviel von Frieden, doch an­statt ihn zu praktizieren, verkauft sie Waffen an Län­der wie un­se­re. Die Toten sind auch das Werk der Bundesregierung. Ich ha­be keine Angst, dies laut zu sagen.

Für Präsident Fujimori, und eben­so für die deutsche Regie­rung, scheint die “Tatsache”, daß Sie mit “Terroristen” ver­wandt sind, zu reichen, Ihr An­liegen zu ignorieren.

H.B.: Wir werden von Präsi­dent Menem noch heute “Ter­ro­ri­stenmütter” genannt, das lenkt aber davon ab, daß es ei­gentlich um die Menschenrechts­frage geht, um Verschwundene, Folter, Haft­bedingungen. Die Mehrzahl un­serer Kinder waren Revolu­tio­näre, viele haben be­waffnet ge­kämpft. Wir Mütter betrachten al­le als gleich: Ob sie nun be­waff­net oder politisch ge­kämpft ha­ben, in der Guerilla, der Uni­ver­sität, oder der Kir­che, sie alle sind “verschwunden” oder tot, oder wenn sie noch in Haft sind, müssen wir verhin­dern, daß sie es werden. Der ein­zige Ter­ro­ris­mus in der Dritten Welt ist der Staatsterrorismus, der unter­drückt, der fol­tert, der aus­hun­gert, der tötet. Das Recht, sich ge­gen Unterdrückung zu ver­tei­di­gen, hat jeder Mensch, auf wel­che Art auch im­mer.

Hebe de Bonafini, als Vertre­terin einer international be­kannten Menschenrechtsorga­ni­sa­tion haben Sie versucht, wäh­rend der Geiselnahme in der japanischen Botschaft zwi­schen Fujimori und der MRTA zu vermit­teln. Welche Ein­drücke hatten Sie in Lima?

H.B.: Wir waren 12 Tage in Lima, ständig beobachtet und ver­folgt durch Polizei und Ar­mee, haben diese Stimmung von Angst und Terror gegen das Volk erlebt. Zweimal am Tag, mor­gens und am Nachmittag, sind wir zum Präsidentenpalast ge­fahren, um zu sehen, ob Fuji­mori uns empfängt und als Ver­mittlerinnen akzeptiert. Aber da er ein Mörder und ein feiger Mensch ist, hat er sich nicht ge­traut, uns “nein” zu sagen, hat uns immer nur wieder herbestellt und warten lassen, jeden Tag aufs Neue. Wir gingen auch an die Gefängnistore, herein ließ man uns nicht, und trafen dort sehr mutige Mütter, die vor der in­ternationalen Presse die Zu­stände in den Gefängnissen be­klagten. Dies laut zu sagen be­deutet ein hohes Risiko in einem Land wie Peru. Bevor wir nach Peru gingen, haben wir die Welt­ge­mein­schaft, die Friedens­nobel­preisträger, aufgefordert, hin­zu­schau­en, mitzukommen. Doch erst nach dem Massaker haben sich alle beteiligt an Märschen, De­monstrationen und Konsu­lats­be­setzungen, aber da war es schon zu spät. Das ist die Mit­telmäßigkeit der Linken. Des­halb ist es jetzt wichtig, zu ver­hindern, daß die politischen Ge­fan­genen in dieses un­mensch­liche Gefängnis verlegt werden. Jetzt, bevor sie tot sind!

Es gibt Gerüchte, daß nicht alle Mitglieder jenes MRTA-Kommandos in der Bot­schaft ge­tötet wur­den, sondern daß es Überlebende gab, die jetzt vom pe­ruanischen Ge­heim­dienst fest­ge­hal­ten und gefoltert wer­den. Was wis­sen Sie, Norma Ve­las­co, als MRTA-Ver­treterin, da­rüber?

Norma Velasco: Als die Be­setzung los­ging, wußten auch wir nur, daß es sich um eine Grup­pe von Com­pañeros von we­niger als fünf­zig Frauen und Män­nern handelte. Zwei Wochen nach der Erstürmung er­hiel­ten wir eine offizielle Nach­richt, daß es 14 Guerille­ros ge­we­sen seien, die getötet wurden. Wie­viele es wirk­lich waren, wis­sen nur Fu­jimori und seine Fol­terer. Der Staat ließ bei seinen Mas­sakern nie Gefangene oder Zeu­gen zu­rück, alle werden extra­legal hin­gerichtet. Der Un­ter­schied dieses Massakers zu den frühe­ren war, daß erstmals die gesamte Welt­öf­fentlichkeit auf den Fern­seh­schirmen zu­schau­en konnte, was passierte. Die Men­schen­rechts­organi­sa­tio­nen haben das Recht, von Fuji­mo­ri eine Ermittlung zu diesen Tat­sachen zu fordern. Denn die Mit­glieder des MRTA-Kom­man­dos waren, unabhängig von ih­rer po­litischen Position, mensch­li­che Wesen; sie haben das Leben ih­rer Ge­fangenen in der Bot­schaft bis zum letzten Au­gen­blick re­spektiert.

Die Wahrheit an höchster Stelle

Schon lange vor der Unter­zeichnung des Abkommens zur Wiedereingliederung der Kämp­ferInnen der Nationalen Revolu­tionären Einheit Guatemalas (URNG) am 12. Dezember 1996 war die Diskussion um die juri­stische Formel, die es den Gue­rilleros ermöglichen sollte, sich ins legale Leben einzufügen, von einer heftigen politischen Kon­troverse überschattet. Gestritten wurde um die Amnestieregelun­gen für die Guerilla, aber auch um die für das Militär und die paramilitärischen Einheiten, die im Auftrage des staatlicher Stel­len agiert hatten.
Die Kontro­verse wurde aller­dings jäh durch einen “bedauerlichen Zwischen­fall” beendet: Als im Herbst letzten Jahres ein URNG-Kom­mando die Unternehmerin Olga de No­vella entführt hatte, wur­den die Friedensverhandlungen zur Wie­dereingliederung abrupt ausge­setzt – das öffentliche In­teresse richtete sich von der Amnestie­diskussion weg hin zum Entfüh­rungsfall und zum grundsätzli­chen Fortgang der Friedensver­handlungen. Als die Gespräche wieder aufgenommen wur­den, waren die Verhandlun­gen zwi­schen Regierung und URNG zum Thema im Wesentli­chen abgeschlossen.
Die Verhandlungsparteien hat­ten die Gelegenheit genutzt und den Aufschrei der Bevölke­rung, die eine Generalamnestie befürchtete, geflissentlich über­hört. Ein wichtiges Sprachrohr der AmnestiegegnerInnen ist die Alianza contra la Impunidad (Al­lianz gegen die Straflosig­keit/ACI), ein Zusammenschluß von Menschenrechtsorganisatio­nen und kirchlichen Einrichtun­gen. Die ACI betonte, daß das Abkommen nur dann in der Ge­sellschaft moralisch anerkannt werden könne, wenn es aus­schließlich politische Delikte für straffrei erkläre, also diejenigen, die von der Guerilla gegen den Staat begangen wurden. Angehö­rige beider Konfliktparteien müßten sich jedoch vor der Ge­sellschaft und der Justiz für Men­schenrechtsverletzungen ver­antworten, insbesondere für solche, die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen werden. Das Hauptkriterium der ACI war, daß der Staat zwar das Recht habe, die gegen ihn ge­richteten Taten, aber auf keinen Fall Übergriffe gegen Dritte zu begnadigen. Einzig und allein die Opfer dieser Übergriffe könnten den Schuldigen verzei­hen.
Ende Dezember verabschie­dete der Kongreß hinter ver­schlos­senen Türen das “Gesetz zur Nationalen Versöhnung” (vgl. LN 272). Wie vorher schon das Abkommen, amnestierte das Gesetz in seinem umstrittensten Teil Delikte und Menschen­rechts­verletzungen, “die began­gen wurden, um zu verhindern, daß ein politisches Delikt began­gen würde”. Der Kommentar von fort­schrittlichen JuristInnen: Das Ergebnis ist eine juristische Un­geheuerlichkeit!

Das “Gesetz zur nationalen Versöhnung”

Auch wenn die Amnestiere­gelung bislang lediglich auf Ex-Guerilleros angewandt worden ist, haben die Menschenrechtsor­ganisationen, angeführt von der ACI, eine Verfassungsklage ge­gen das Gesetz eingereicht. (Das Urteil des höchsten Gerichtes des Landes wurde für Ende April angekündigt, lag bei Redaktions­schluß aber noch nicht vor; Anm. d. Red.) Das Gesetz wird als Ge­neralamnestie angesehen und ist in puncto Reichweite und All­gemeingültigkeit bereits das zweite seiner Art in der gua­temaltekischen Rechtsprechung. Mit dem ersten amnestierten sich die Streitkräfte am 13. Januar 1986 – dem formellen Ende der Militärdiktatur – selbst für auf alle Menschenrechtsverletzun­gen, die zwischen dem 23. März 1982 und dem Tag des Inkraft­tretens des Gesetzes begangen worden waren.

Wahrheitskommission im Dienste des Verschweigens

Der internationale Vergleich zeigt, daß beim Übergang von Dik­taturen und bewaffneten Kon­flikten zu demokratischen Ord­nungen Wahrheitskommis­sio­nen eine zentrale Stellung in­nehaben. Institutionen also, de­ren Aufgabe es ist oder sein sollte, die Verbrechen der Ver­gangenheit aufzuklären und durch Erkennen und Bearbeiten zum Versöhnen zu kommen.
In Guatemala beruht die Bil­dung einer Wahrheitskommis­sion auf dem “Abkommen über die Einrichtung zur historischen Aufklärung der Menschenrechts­verletzungen und Gewalttaten, durch die der guatemaltekischen Bevölkerung Leid zugefügt wurde”, auf das sich URNG und die Regierung bereits im Juni 1994 geeinigt hatten. Allgemein wird es als eines der schwäch­sten Dokumente des gesamten Ver­handlungsprozesses angese­hen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Der wichtigste ist der, daß die Verhandlungsparteien der Wahrheitskommission von vorn­herein einen Maulkorb ver­paßt haben. Weder darf die Kom­mission die an Menschen­rechts­verletzungen Schuldigen na­mentlich benennen, noch dür­fen die Untersuchungsvorgänge oder Resultate vor Gericht ver­wendet werden. So soll verhin­dert werden, daß die Menschen­rechtsverletzer in einer persönli­chen und direkten Form zur Ver­antwortung gezogen werden. Nicht nur die Wahrheitsfindung, die ja eigentlich das Ziel besag­ten Abkommens ist, bleibt dabei auf der Strecke, sondern auch das zweite fundamentale Anlie­gen erhält keine Chance: die Ge­rechtigkeit.
Die programmierte Schwäche der Wahrheitskommission liegt zu­dem in ihrem sehr begrenzten Mandat. Trotzdem ist es denk­bar, daß deren Mitglieder ihre Aufgabe flexibler wahrnehmen könnten als es im Abkommen vor­gesehen ist, und so einen Beitrag zur nationalen Versöh­nung leisten. Darauf zielte im November 1996 der Vorschlag guatemaltekischer Menschen­rechtsgruppen, die Kommission neu zu strukturieren, die Zahl ih­rer Mitglieder zu erhöhen und eine Garantie dafür zu schaffen, daß diese über angemessene Un­ter­suchungskapazitäten ver­fügen. Die Verhandlungsparteien über­gin­gen die Vorschläge der Men­schen­rechtsgruppen jedoch er­neut.

Begrenzte Kompetenz

Als Vorsitzender der Kom­mission war eigentlich Jean Ar­nault vorgesehen, zwischen Ja­nuar 1994 und der Unterzeich­nung des endgültigen Friedens­abkommens am 29. Dezember 1996 der von den Vereinten Na­tionen eingesetzte Vermittler im Verhandlungsprozeß. Arnault wur­de allerdings zum Leiter der UN-Mission in Guatemala MI­NU­GUA ernannt und kam daher für die Wahrheitskommission nicht mehr in Frage. Für die Ar­beit der Kommission kann dies von Vorteil sein, da er als ehe­maliger UN-Vermittler zwischen den Verhandlungsparteien si­cher­lich nicht die unabhängige Persönlichkeit gewesen wäre, die für ein derartiges Amt nötig ist. Als Ersatz stimmten die Ver­einten Nationen dem ge­mein­sa­men Vorschlag von URNG und Re­gierung zu, die sich auf den Ber­liner Völkerrechtler Christian Tomuschat geeinigt hatten. To­muschat mußte dann zwar den be­reits von Arnault eingesetzten Se­kretär der Wahrheitskommis­sion übernehmen, konnte aber die übrigen zwei Kommissions­mit­glieder ernennen. Beide, Oti­lia Coti und Alfredo Ballsels, ver­fügen über guten Rückhalt in ver­schiedenen gesellschaftlichen Grup­pen.
Der Handlungsrahmen der Wahrheitskommission ist durch die Comisión de Acompana­miento y Seguimiento de los Acuerdos (“Begleit- und Kon­trollkommission”) begrenzt, die aus VertreterInnen von Regie­rung und Ex-Guerilla gebildet wird. Diese Instanz überwacht die Umsetzung der gesamten Friedensvereinbarungen. Im Rah­men dieses Mandats wird sie letztlich den Zeitpunkt für Be­ginn und Ende der Untersuchun­gen wie auch über den Gebrauch, der von den daraus gewonnenen Resultaten gemacht wird, be­stimmen. Die Beteiligten der Wahrheitskommission sind so zwi­schen den unmittelbaren In­teressen der Vertragsunterzeich­ner eingekeilt.

Auch auf kleine Ergebnisse muß gewartet werden

Bis jetzt hat die Wahrheits­kommission ihre Arbeit noch nicht aufgenommen. Man wartet in Guatemala darauf, daß die Mit­glieder der Kommission die ver­schiedenen organisierten Grup­pierungen zusammenzuru­fen, damit diese “ihre” Fälle von Men­schenrechtsverletzungen vor­legen. Bereits seit einigen Jah­ren führen verschiedene Pro­jek­te unabhängige Untersuchun­gen zur Wahrheitssuche in Gua­temala durch und werden auf dieser Grundlage Berichte vorle­gen. Auch wenn diese in der Wahrheitskommission keine Be­rücksichtigung finden, werden sie sich zumindest in parallele, nicht-offizielle Informati­ons­quel­len verwandeln, um die wah­re Geschichte der Menschen­rechts­verletzungen im Lande auf­zudecken.
Die Position der Regierung, ihren eigenen Machterhalt wich­tiger zu nehmen als den gesell­schaftlichen Konsens, zeigt sich auch in anderen Bereichen der Inneren Sicherheit und Vergan­genheitsaufarbeitung. Zu nennen ist hier die Verabschiedung des Gesetzes zur Schaffung einer Po­li­cia Nacional Civil (“Zivilen Na­tionalen Poli­zei”/PNC), das in Form und In­halt stark vom ent­spre­chenden Abkommen zur “Stär­kung der Zivilgewalt und der Rolle der Streitkräfte in einer demokrati­schen Gesellschaft” vom Sep­tember 1996 abweicht. Das Ge­setz eröffnet jetzt den Mitglie­dern der Streitkräfte, die in den kommenden Monaten demobili­siert werden sollen, die Mög­lichkeit, in den Polizeidienst überzuwechseln. Inoffiziell ist bekannt, daß derzeit ungefähr 30 Offiziere der Streitkräfte in Spa­nien und Chile für künftige Füh­rungsaufgaben innerhalb der neu­en Polizei trainiert werden.
Auch an anderer Stelle zeigt sich, daß die Armee keineswegs bereit ist, ohne weiteres auf ihre Positionen zu verzichten. Eine Fraktion innerhalb der Regierung hat­te versucht, das für die Ge­heimdienste zuständige Büro des Präsidenten nach zivilen Maß­stäben umzuformen. Dieser Plan hielt sich aber nur kurz: Die Zi­vilisten wurden entfernt, an ihre Stelle traten Mitglieder der Streitkräfte, die über eine lange Vorgeschichte im militärischen Geheimdienst verfügen. Dieser Vorgang wird als klares Signal für die Absicht der Regierung gesehen, die Allianz mit den Streitkräften aufrechtzuerhalten.
Beide Beispiele, Polizei und Geheimdienst, bestätigen: Ob­wohl Mitglieder der Streitkräfte verstärkt Positionen besetzen, die weniger im Rampenlicht der Öf­fentlichkeit stehen, stellen sie nach wie vor einen wichtigen Machtfaktor im Kräftespiel der guatemaltekischen Politik dar. Darin liegt ein wichtiger Grund dafür, daß Menschenrechtsgrup­pen bei ihren Forderungen nach einer wirklichen Aufarbeitung der Diktaturvergangenheit auf er­bitterten Widerstand stoßen.
Zusätzlich sind die Be­müh­ung­en um Aufklärung der Men­schen­rechtsverletzungen und um Ver­folgung der Täter durch den all­gemeinen politi­schen Kontext ge­prägt, der seit der Un­ter­zeichnung des ab­schließenden Frie­densabkom­mens entstanden ist. Dieser ist nicht zuletzt von zwei Entwick­lungen geprägt: zum einen von der Eingliederung der URNG in das zivile Leben und deren Auf­bau einer po­li­ti­schen Partei, zum anderen von den sozialen Kon­flikten, die durch die neoliberale Politik des Prä­sidenten Alvaro Ar­zú ver­schärft werden. Die Men­schen­rechts­organisationen könnten sich in diesem Klima in eine wich­tige politische Opposi­tions­kraft verwandeln. Der Ruf nach dem Recht der Opfer und Hin­ter­blie­benen von Menschen­rechts­ver­letzungen, die Ver­ant­wort­li­chen zu benennen und zur Re­chen­schaft zu ziehen, wird wei­ter­hin laut bleiben.
Übersetzung: Bettina Bremme

KASTEN

Der guatemaltekische Anwalt Carlos Enríquez kommentiert das vom Kongreß ver­ab­schie­dete Amne­stiegesetz und zeigt notwendige Schritte für eine wirkliche Ver­ar­bei­tung der Verbrechen des be­waffneten internen Konflikts auf:

Das “Gesetz zur Natio­nalen Ver­söhnung” ist dehnbar genug, um alle Urheber von Menschenrechts­ver­letzungen oder sonstige Kriminelle straffrei ausgehen zu lassen. Dadurch wird es – gewollt oder un­gewollt- zu einer so umfassenden Amne­stie, daß es grundlegende Rechte des guatemaltekischen Vol­kes verletzt: das Recht auf Wahrheit, auf Gerechtigkeit, und auf die Verurteilung der direkten Ak­teu­re der staatlicherseits aus­geübten Terrorpolitik.
Angesichts der Unterzeich­nung des Friedensvertrages scheint das eigentliche Wesen des Terrors in Vergessenheit zu geraten: Die Menschenrechte wurden in den kritischen Mo­menten des Konfliktes in Gua­temala nämlich nicht “einfach so” verletzt. Vielmehr war dies ein wesentlicher Bestandteil ei­ner staatlicherseits gezielt und bewußt durchgeführten Politik des Terrors. Das Hauptziel: mit der Strate­gie der counter­insurgency jede Form des Aufstandes einzudämmen. Bild­lich gesprochen ging es da­rum, dem “Fisch” (der Guerilla) das “Wasser” (das Volk) abzugraben. Der größte Teil der Opfer ge­hör­te daher der Zivilbevölkerung an, die als schützendes und un­terstützendes Umfeld der Auf­stän­di­schen betrachtet wurde. Unbestreitbar sind daher der guatemaltekische Staat und das Heer als wich­tigs­te ausführende Institution die Hauptverantwort­lichen für die begangenen Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen. Um die Zivilbevölkerung in einem Kon­flikt vor ebensolchen Gewaltta­ten zu schützen, gibt es im Inter­nationalen Recht das Konzept der Menschenrechte und das Internationale Humanitäre Recht. Beides wurde in Guatemala staatlicherseits massiv und wie­derholt gebrochen.
An­dererseits ist bekannt, daß auch seitens der Aufständischen das Menschenrecht auf Leben und Un­ver­sehrtheit mißachtet worden ist. Bei solchen Taten der Guerilla handelte es sich je­doch nicht um ei­ne generelle Terrorstrategie, sondern um ver­einzelte Abrechnungen und be­grenzte Aktionen. Diese müs­sen vor dem Hintergrund der “Kultur der Gewalt” betrachtet werden, die in Guatemala, als Fol­ge­er­scheinung eines der grausamsten Kriege der letzten Zeit, das ge­samte soziale Gewebe durch­drun­gen hat. Für solche Delikte, die von nichtstaatlichen Akteu­ren begangen werden, hat das Inter­na­tio­nale Recht den Begriff der “Schweren Gewalttaten” ge­prägt. Unter Heranziehung eben dieses Kon­zeptes wurden in Ar­gentinien der Guerrillero Carlos Firmenich und in El Salvador Joaquín Vil­la­lo­bos verurteilt.
Das Beste, um den nationalen Versöhnungsprozeß voranzu­bringen, wäre, das beide Seiten öffentlich und als Institutionen getrennt voneinander eingeste­hen, daß aus ihren Reihen Ge­walttaten gegen Le­ben und Men­schenwürde begangen worden sind. Dazu gehört auf Seiten des Staates auch das Einge­ständ­nis einer Anti-Aufstands-Politik, die Menschenrechtsverletzungen als eine ihrer wesentlichen Kom­po­nenten ansah.
Übersetzung: Claudius Prößer
Gekürzt aus “Debate” vom Februar 1997

Der Kampf um Land geht weiter

Rafael, wie bist Du zu CONIC gekommen?

Ich habe früher lange Jahre auf einer Finca gearbeitet und war dort in einer Gewerkschaft aktiv. Aber der Generalsekretär dieser Gewerkschaft ist Mitte der 80er Jahre zur Christdemokrati­schen Partei gegangen. Da er die Ge­werkschaft kontrollierte, habe ich diese verlassen. Später habe ich beim Comité de Unidad Cam­pesina (CUC; Komitee der bäu­erlichen Einheit) mitgearbei­tet. Anfang der 90er Jahre kam es im CUC zu internen Schwie­rig­keiten. Einige Gemeinden wa­ren unzufrieden mit der Politik der Führungskader des CUC. Die Ge­meinden kritisierten, daß die Kader die Organisation für ihre politischen Interessen benutzten und sich nicht mehr ausreichend um die Anliegen der Menschen vor Ort kümmerten. Es kam zur Spaltung, und so entstand 1992 CONIC. Innerhalb der neuen Or­ga­nisation wurde ich zum Ver­ant­wortlichen für die Bil­dungs­ar­beit gewählt, außerdem ko­or­di­nie­re ich die Arbeit von CONIC an der Südküste.

Welche Ziele verfolgt CO­NIC?

Der Kampf für die Wieder­ge­win­nung des Landes, das uns und unseren Vorfahren geraubt wur­de, ist das wichtigste Anlie­gen von CONIC. Die Beachtung der Menschenrechte, die Ar­beits­be­dingungen auf den Fincas, die Er­höhung des Mindestlohnes, der Erhalt der Maya-Kultur – auch das sind alles wichtige Ar­beits­bereiche von CONIC, das zen­trale Thema ist aber der Kampf um Land.
Diese Schwerpunktsetzung wur­de nicht von oben beschlos­sen, sie resultiert aus den realen Be­dürfnissen der Gemeinden, die sich in CONIC organisiert ha­ben. An der Gründung selbst wa­ren nur Gemeinden aus vier De­partements beteiligt, durch unse­ren konkreten Kampf kamen je­doch schnell immer mehr hinzu. Mitt­lerweile sind in CONIC 148 Ge­meinden aus 14 Departements des Landes or­ganisiert. Seit 1992 ha­ben wir 105 Caballerías Land (eine Ca­ballería entspricht 45 Hektar; Anm. d. Red.) erkämpft.

Wie funktioniert denn die Kon­taktaufnahme zu neuen, noch unorganisierten Gemein­den?

Hier sind die Erfahrungen an­de­rer Gemeinden von großer Be­deu­tung, zum Beispiel Santa Inés, die erste CONIC-Gemeinde an der Südküste, die ihren Kampf um Land erfolgreich be­endet hatte. Durch den Erfolg wur­de Santa Inés zum Vorbild für andere Gemeinden, und es gab eine Kettenreaktion in der Re­gion. Zuerst nahm Aztlán den Kampf auf, danach Nueva Cajolá und anschließend San Roque. Jetzt war auch San Roque erfolg­reich und gibt nun den umlie­gen­den Gemeinden den Mut, den Kampf für ihr Land aufzuneh­men. Die Leute kommen dann zu CO­NIC und wir fangen an, die Ge­meinde zu organisieren.

Wie sieht diese Arbeit konkret aus? Es ist sicherlich ein weiter Weg vom ersten Kontakt bis zur Ent­scheidung, Land zu be­set­zen.

Ja, natürlich. Zuerst sammeln wir Informationen: In vielen Ge­meinden gibt es alte Leute, die sich noch an die Zeit erinnern kön­nen, als das Land noch im Be­sitz der Gemeinde oder des Staa­tes war. Oft existieren sogar alte Besitzurkunden oder Unter­la­gen, die belegen, daß ein Fin­que­ro sich das Land unrechtmäs­sig angeeignet hat.
Bei CONIC haben wir juristi­sche Berater, die in einem zwei­ten Schritt dann in Archiven und den Grundbuchämtern nach Un­ter­lagen forschen, die den An­spruch der Gemeinde auf ihr Land untermauern. Sind diese Un­tersuchungen abgeschlossen, wer­den Verhandlungen mit dem INTA (Instituto Nacional de Trans­formación Agraria; staatliches Agrar­institut) und auch mit dem Fin­quero auf­ge­nom­men. Da das IN­TA je­doch mit den Finqueros un­ter einer Decke steckt, bleiben die­se Ver­hand­lungen meist er­geb­nislos. Da ist dann bereits ei­ni­ge Zeit ver­gangen und die Grup­pe hat ei­nen längeren Orga­ni­sa­tions­pro­zeß durchgemacht. Wir un­ter­stü­t­zen diesen mit Se­mi­naren und po­litischen Schu­lun­gen und be­reiten die Leute auf den Kampf vor. Eines Tages sind sie soweit und wollen das Land besetzen.
Die Gemeinde von San Ro­que, in der wir hier sind, mußte das Land zweimal beset­zen, um die Verhandlungen mit dem INTA voranzubringen. Mit der Be­setzung zwingen sie das INTA an den Verhandlungstisch. Wäh­rend der Verhandlungen ha­ben sie das Land wieder verlas­sen. Hät­te das INTA die Gesprä­che wei­ter verzögert, wären sie auch ein drittes Mal zur Beset­zung be­reit gewesen. Aber im ver­gan­ge­nen Jahr haben sie das Land er­hal­ten, ihr Kampf war er­folg­reich.

Nach der langen Zeit des Krie­ges und der Repression ha­ben die Menschen doch si­cher­lich Angst, eine Landbeset­zung zu wagen. Es gibt schließ­lich auch heute noch äußerst ge­walt­same Räumungen durch Po­lizei und Militär – mit Toten, Ver­letzten und Verhafteten. Wie geht CONIC mit dieser Angst um?

Während der achtziger Jahre, als die Repression am stärksten war, hatten die Campesinos/as na­tür­lich große Angst, sich zu orga­ni­sieren und vom Kampf um Land auch nur zu sprechen. Vie­le Bauern und Bäuerinnen haben nicht für ihre Forderungen ge­kämpft, aber selbst damals ha­ben ein­zelne Gemeinden wie San­ti­a­go Atitlán den Mut dazu auf­ge­bracht. Dort haben sich die Men­schen gegen einen Militär­stütz­punkt im Ort gewehrt. Sie haben sich der Armee entgegen­gestellt. 13 Menschen starben damals, aber sie haben ihren Kampf nicht auf­gegeben und schließlich ge­won­nen. Wenn die Menschen an­fangen, sich zu or­ganisieren, ver­lieren sie nach und nach auch ihre Angst.

Im vergangenen Jahr wurden die Gesetze gegen Landbeset­zun­gen verschärft. Welche Aus­wirkungen hat die Geset­zes­än­de­rung auf die Arbeit von CONIC?

Das neue Gesetz sieht Frei­heitsstrafen zwischen zwei und fünf Jahren für Landbesetzung vor, Bewährungsstrafen, Freilas­sung auf Kaution oder Geldstra­fen sind ausgeschlossen. Damit soll natürlich die Arbeit von Or­ga­nisationen wie CONIC getrof­fen werden, denn auch der Auf­ruf zu Landbesetzungen ist nun straf­bar. Somit müssen wir jetzt noch vor­sich­tiger als frü­her agieren, denn wir müssen un­bedingt ver­mei­den, daß Men­schen verhaftet wer­den. Daher: Kommt die Poli­zei, verlassen wir das besetzte Land. Sobald die Polizei weg ist, kom­men wir zurück.

Wie ver­sucht CONIC denn, die Ar­beits­be­din­gun­gen auf den Fin­cas zu ver­bessern?

Jedes Jahr er­stellt CONIC ei­nen Forderungskatalog für den lan­des­weit geltenden, ge­setzli­chen Mindestlohn auf den Fin­cas. An­hand der Preise, zum Bei­spiel für Kaffee, Baumwolle oder Zucker, sagen wir dann, daß der Mindestlohn für die ver­schie­de­nen Bereiche auf den oder den Be­trag hochgesetzt wer­den muß. Die­se Forderungen rich­ten wir an das Arbeits­mi­ni­ste­rium, das die Mindestlöhne fest­legt. Gleich­zeitig ver­öf­fent­li­chen wir die­se Listen in Zei­tun­gen und ma­chen Kundgebungen, um sie in den Re­gionen bekannt zu ma­chen. Gleichzeitig for­dern wir al­ler­dings auch Ver­bes­se­run­gen der Arbeitsbedingungen ins­ge­samt auf den Fincas.
Zudem unterstützen wir die Land­arbeiterInnen in ihrem Kampf um die Auszahlung der Löh­ne, wenn die Finqueros nicht zah­len. Dies ist oft ersteinmal eine juristische Auseinanderset­zung. Vor Gericht versuchen wir, die ausstehenden Löhne einzu­trei­ben.

Was passiert dann?

Viele Gesetze sind ja eindeu­tig zugunsten der Großgrundbe­sit­zer. Aber es gibt auch einige Ge­setze, mit denen sich durch­aus ar­beiten läßt. So kann das Ge­richt die Pfändung der Fin­ca oder eines Teils von ihr ver­fü­gen. Dieses Land erhalten dann die Gemeinden als Ent­schä­di­gung für den nicht ge­zahlten Lohn. Statt mit Geld werden die Cam­pesinos/as also mit Land be­zahlt.
Um den nötigen Druck auf die Ge­richte auszuüben, ist es aller­dings auch hierbei manchmal not­wendig, das Land ersteinmal zu besetzen. Der Kampf um bes­se­re Arbeitsbedingungen oder hö­here Löhne wird so immer wie­der auch zum Kampf um Land.
Gerade der Kampf für höhere Löh­ne scheitert manchmal je­doch an den Campesinos/as selbst. Durch die Mar­gina­li­sie­rung, in der sie seit Ewigkeiten le­ben, ge­ben sie sich mit viel zu we­nig zu­frieden.

Wenn nun eine Gemeinde Land erkämpft hat – bleibt sie dann innerhalb von CONIC or­ga­nisiert?

Ja, zum einen müssen die Ge­mein­den nun versuchen, von der Re­gierung Gesundheitsstationen Schu­len, Strom, Trink­was­ser oder eine Straße in ihre Ge­mein­de zu bekommen. Dabei un­ter­stützt sie CONIC mit den Er­fah­rungen, die wir aus anderen Ge­genden haben.
Zum anderen reicht es natür­lich nicht aus, Land zu besitzen. Die Menschen brauchen Hilfe beim Anbau und der Vermark­tung ihrer Produkte. Bei CONIC ar­beiten mittlerweile zwei Agrar­wis­senschaftler, die den Ge­mein­den zeigen, wie der Bo­den ge­schützt werden kann, was sie auf ih­rem Land anpflanzen können und wie sie dies am be­sten tun.

Hat CONIC dabei auch Kon­takt zu Nichtregierungsorgani­sa­tionen (NROs)?

Als CONIC sind wir nicht in der Lage, eigene Projekte durch­zu­führen. Deshalb versuchen wir, Kontakte zwischen Gemein­den und Nichtregierungsorgani­sa­tionen herzustellen. Und wir or­ganisieren einen Austausch zwi­schen verschiedenen Ge­mein­den. Dort erzählen sich die Leu­te dann, welche NRO in wel­chem Bereich tätig ist, wie sie zu erreichen ist und welche Erfah­rungen mit ihr gemacht wurden.
Dies ist Teil der Politik von CONIC: Die Menschen sollen zu­sammenkommen, sich ge­gen­sei­tig von ihrem Kampf und ih­ren Erfahrungen berichten, ihr Wis­sen und ihre Zu­kunftspläne den anderen Ge­meinden mit­tei­len.

Arbeitet ihr auch mit der Kir­che zusammen?

Mit einigen katholischen Pfar­rern haben wir sehr gute Erfah­run­gen gemacht. Sie unterstützen un­seren Kampf, vor allem mora­lisch. In einigen Fällen erhalten die Gemeinden auch humanitäre Un­terstützung von der Kirche, zum Beispiel Grundnah­rungs­mittel. Manchmal kommen wir über die Kirche auch an kon­kre­te Projekte für unsere Ge­mein­den, oder sie untertützen den landwirtschaftlichen Anbau durch Produktionskredite.

Ein anderes Thema. Welche Aus­wirkungen hat das Frie­dens­abkommen auf die Arbeit von CONIC und den Land­kampf?

Wir haben für sechs Monate sämt­liche Landbesetzungen ein­ge­stellt, damit niemand sagen kann, wir wür­den den Friedensprozeß stören. Wir machen mit unserer Organi­sa­tionsarbeit weiter und analy­sie­ren in unseren Gemeinden mit den Menschen das Abkommen. Se­hen wir in diesem halben Jahr je­doch keine wirklichen Fort­schrit­te bei der Umsetzung des Ab­kommens, werden wir unse­ren Kampf wieder aufnehmen.

Erwartet ihr durch das Frie­dens­abkommen denn konkrete Ver­besserungen für die Situa­tion auf dem Land?

Der Wert der Abkommens hängt hauptsächlich von der Be­reit­schaft der Regierung ab, Zu­ge­ständnisse an die ländliche Be­völ­kerung zu machen. So soll zum Beispiel ein Landfonds zum An­kauf von Ländereien einge­rich­tet werden. Ob dieser aller­dings den Campesinos/as oder den Groß­grundbesitzern nutzen wird, ist vor allem eine politische Fra­ge. Ansonsten gibt es ja nicht all­zu viele konkrete Festlegun­gen im Abkommen. Für uns ist der Frieden bis jetzt erst eine Mög­lichkeit. Das Ab­kommen wur­de unterschrie­ben, in Gua­te­ma­la herrscht aber erst dann Frie­den, wenn jeder Cam­pesino und jede Campesina Land hat, das er be­bau­en kann, wenn jeder Ar­beiter und jede Arbeiterin eine Ar­beit hat, wenn wir uns frei auf den Straßen und im Land be­we­gen kön­nen. Wenn dies alles er­reicht ist, dann werden wir sa­gen, in Gua­temala herrscht Frie­den.

Fünf Schritte zurück

Am Ende der internationalen Konferenz, die eine Woche lang am Zuckerhut über Fortschritte und Rückschläge seit dem UN-Umweltgipfel von 1992 beriet, kam es zum Eklat: Vor Weltbankberater Maurice Strong, der die damalige wie die jetzige Veranstaltung leitete, protestierten NGO-VertreterInnen lautstark gegen die Schlußdokumente und zerrissen sie.
Die Papiere enthielten die offiziellen Empfehlungen für die Vereinten Nationen – erarbeitet in einjährigen Konsultationen mit Regierungen, Unternehmen, Banken, Experten und den NGOs und verfeinert auf der “Rio+5”-Konferenz. Die regierungsunabhängigen Organisationen und selbst der Vertreter der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika betonten, die Empfehlungen seien zu allgemein, zudem oberflächlich und die hochinteressanten Workshop-Resultate von “Rio+5” habe man schlichtweg unterschlagen.
Liszt Vieira, Präsident des Instituts für Ökologie und Entwicklung und einer der führenden Unweltexperten Brasiliens kommentierte: “Die Kritik am Welthandel, an Marktwirtschaft, Globalisierung und zerstörerischer Landwirtschaft tauchte in den Schlußdokumenten nicht mehr auf. In den Workshops dominierten die Positionen der Zivilgesellschaft und der NGOs – in den Empfehlungen dagegen jene von Maurice Strong, den Regierungen und Unternehmern. `Rio+5` endete schlecht.” Laut Vieira mußte Strong jedoch nachgeben und die Dokumente zurückziehen, was für die gewachsene Stärke der Zivilgesellschaft und der regierungsunabhängigen Organisationen spreche.

Ignoranz der Presse

Auf dem Gipfel 1992 standen Staatschefs und Minister im Rampenlicht – aus ihren Versprechen und Absichtserklärungen schlossen viele, daß auf dem Erdball nun unwiderruflich die Ära der nachhaltigen Entwicklung begonnen habe. Selbst Strong mußte nunmehr auf der “Rio+5”-Konferenz einräumen, daß die Regierungen im Gegensatz zu den NGOs ihre Zusagen von damals nicht einhielten. So steht Gastgeberland Brasilien weiterhin an der Spitze der waldvernichtenden Staaten.
Die internationalen NGOs veranstalteten 1992 etwa dreißig Kilomenter vom eigentlichen Umweltgipfel entfernt, ihren Alternativgipfel “Global Forum”, wurden von den Medien belächelt, kaum ernstgenommen. Auf der “Rio + 5”-Konferenz waren die “Regierungsunabhängigen” stark vertreten, sie mußten daher gehört werden. Indessen fuhren die großen privaten Weltmedien ebenso wie die Presse Brasiliens einen sehr ähnlichen Kurs wie 1992: Gerade bei den komplexen Diskussionen und der Vorstellung der Workshopberichte waren ReporterInnen und marktbeherrschende internationale Nachrichtenagenturen nicht präsent, wurde somit nichts übermittelt. Damit entstand auch bei der europäischen Presse der Eindruck, “Rio+5” sei ein unwichtiges, uninteressantes Ereignis. Volle Pressekkonferenzen hatten nur Prominente wie Michail Gorbatschow oder Weltbankpräsident James Wolfensohn, die indessen nur hinlänglich Bekanntes äußerten.

Der Gang in die falsche Richtung

Die Standpunkte der NGOs lassen sich wie folgt zusammenfassen: Umweltschonende, nachhaltige Entwicklung auf dem Erdball wird ihrer Ansicht nach durch die heute vorherrschenden globalen Wirtschaftsstrukturen keineswegs gefördert, sondern vielmehr verhindert. In der Dritten Welt getätigte Investitionen bedeuteten eine Art neuer Kolonialisierung und schafften vor Ort ein Machtungleichgewicht. Dies insbesondere dadurch, daß sich die Industrien über die lokale Bevölkerung hinwegsetzten und die multinationalen Unternehmen über ihre weltweiten Aktivitäten nicht ausreichend Rechenschaft ablegten.
Zwar würden die regierungsunabhängigen Organisationen mittlerweile von Regierungen und der Wirtschaft tatsächlich mehr konsultiert, doch ihre Vorschläge und Projektideen dann oft nicht im geringsten berücksichtigt. Globale Entscheidungen, wie beispielsweise die durch die Welthandelsorganisation (WHO) getroffenen, führten in die falsche Richtung: Den Lebens-, Konsum-, und Produktionsstil des Nordens zu globalisieren sei ökologisch nicht tragbar. Pervers sei deshalb, von den Ländern des Südens zu verlangen, ihn zu kopieren – letztlich nur mit dem Zweck, dem Norden neue Absatzmärkte zu verschaffen. Den Regierungen fehle es schließlich am politischen Willen und Interesse, das ökologisch Notwendige zu tun.
Als Beweis letzterer These diente zuletzt eine Äußerung des bei den Regierungen der Ersten Welt hochangesehenen brasilianischen Staatschefs Fernando Henrique Cardoso: Vor den über 500 KonferenzteilnehmerInnen erklärte er, man sei durch Satellitenaufnahmen über Abholzung und Brandrodung in Amazonien detailliert informiert. Indessen sehe sich die brasilianische Regierung einfach nicht in der Lage, diese zu stoppen. Der Umweltaktivist Vieira bemerkte dazu nur, diese Äußerung werde Cardoso noch “teuer zu stehen kommen”.
Denn nicht nur Brasiliens NGOs halten Cardosos Argument für unsinnig, wonach in den Amazonasregionen der Staat fast nicht präsent sei und die Kontrollinstanzen unfähig seien, den Gesetzen Achtung zu verschaffen. Vielmehr sind in den betreffenden Teilstaaten politische Bündnispartner des Staatschefs am Ruder, die Interessen von Großgrundbesitzern und Holzfirmen vertreten. An Streitkräften, Polizei und Justiz, Umweltschutzbehörden sowie an Finanzmitteln fehlt es nicht. Brasilien ist schließlich die zehntgrößte Wirtschaftsnation und das Land gilt bei Investoren als großer Wachstumsmarkt – deutsche multinationale Unternehmen erbringen etwa 15 Prozent der gesamten Industrieproduktion.

Draußen das Terrorregime

Im noblen Sheraton-Hotel machte sich die Konferenz im Umweltkontext auch für die Menschenrechte stark. Nachhaltige Entwicklung und Menschenrechte seien untrennbar miteinander verbunden. Draußen, in den angrenzenden Slums, wurden sie unterdessen auf barbarische Weise verletzt: Todesschwadrone und das organisierte Verbrechen hielten ihr Terrorregime aufrecht. An jedem Konferenztag berichteten die Zeitungen darüber – zum Teil mit Großfotos über Geköpfte und lebendig Verbrannte.

Subcomandante Marcos, Ritter von der traurigen Gestalt

Wer sich die Postskripten der Kommuniqués des Subcomandante vornimmt, stellt fest, daß Marcos den am Beginn des 17. Jahrhunderts entstandenen spanischen Klassiker der Weltliteratur, Don Quijote, von Miguel de Cervantes, der übrigens dieses Jahr seinen 450. Geburtstag feiert, sehr genau gelesen hat. So erschien zuletzt am 24. Januar in der Tageszeitung La Jornada ein langer Text mit dem Titel “Sieben Fragen an die Betreffenden”, in dem Marcos den Ist-Zustand der mexikanischen Gesellschaft und Politik beschreibt. Jeder einzelnen der sieben Fragen und dem Text selbst ist ein längeres Zitat aus Cervantes’ Don Quijote vorangestellt.
Aber der ehemalige Philosophiestudent der Nationaluniversität Mexikos (UNAM) zitiert Cervantes nicht nur, um damit seinen Texten den gewissen Touch von Bildung zu verleihen. Peu a peu hat Marcos in Gestalt des ebenfalls pfeiferauchenden Käfers Durito, den Protagonisten aus Cervantes’ “wirkungsmächtigstem Werk seit der Bibel” (Kindlers Literaturlexikon), sozusagen als sein alter ego wieder auferstehen lassen und erneut in einen “Kampf gegen Windmühlen” geschickt. Denn so wie Don Quijote, der Ritter von der traurigen Gestalt, ist Durito fahrender Ritter und hat in Marcos einen ihm – wenn auch nicht immer ganz so treu – ergebenen Schildknappen. Außerdem hat auch Durito eine ferne Geliebte, redet barockes Spanisch und schreckt vor keiner Gefahr zurück. Er begibt sich sogar auf den Marsch der Gewerkschaften zum 1. Mai nach Mexiko-Stadt, für einen Käfer kein ungefährliches Unterfangen, denkt man an die vielen bedrohlich trampelnden Füße.
In ihren zahlreichen Dialogen unterhalten sich Durito und Marcos über Politik und Neoliberalismus wie einst Don Quijote und Sancho Panza über das eiserne und das goldene Zeitalter.

Don Quijote als politischer Kampfbegriff

Sicherlich, das Sprichwort vom “Kampf gegen Windmühlen” ist überstrapaziert. Besonders in der Politik. Die großen Helden, die beharrlich für hehre Ziele kämpfen und sich weigern, die objektiven Bedingungen anzuerkennen! So wird die tragische Unausweichlichkeit vor dem Scheitern zum ästhetischen Genuß, die Inhalte der Ziele bleiben auf diese Art und Weise angenehm im Schatten des Sprich-wortes stehen. In Lateinamerika wurden die verschiedensten Geschichtsgrößen, von Cortés über Pizarro bis Bolívar, zum Quijote erhoben. Das Hantieren mit diesem literarischen Symbol, um eine öffentliche Figur vor den Wirbelstürmen von Geschichte und Politik zu bewahren und positiv zu besetzen, ist in Lateinamerika demnach zumindest eine erfolgversprechende Strategie. Denn schließlich verkörpert diese Figur, dieser unverbesserliche Idealist, den “spanischen Helden schlechthin” (Carlos Fuentes), und bildet damit den Gegensatz zum Helden angelsächsischer Prägung, der die ihn umgebende Welt akzeptiert und von dort aus in Robinson Crusoe-Manier versucht, pragmatisch vorzugehen und das beste aus seiner Situation zu machen.
Ist es also lediglich eine medienwirksame Strategie, wenn sich der Subcomandante aus dem mexikanischen Südosten mit Don Quijote vergleicht? Meiner Meinung nach nein. Cervantes ist neben Neruda, Cortázar oder Miguel Hernández einer der wenigen Autoren, die Marcos in den Urwald begleitet haben und von denen er sich beim Schreiben seiner Kommuniqués inspirieren läßt. Wie auch Don Quijote, der die Welt mit den ihm aus den Ritterbüchern bekannten Zeichen liest, und der Windmühlen für Giganten, Schafherden für feindliche Armeen hält, liest Marcos sich und die Welt literarisch. In seinen Texten wird er zum Bestandteil seiner eigenen Fiktion und so wie Cervantes seine Helden den Druck des Buches überwachen läßt, das von ihren ruhmreichen Taten berichtet, thematisieren auch Durito und Marcos die Probleme ihrer eigenen Publikation: “Es wäre besser, wenn du langsam zum Ende kommen würdest, wir haben ja schon mehrere Seiten geschrieben und das veröffentlicht uns keine Zeitung. Sie sagen ja bereits, daß ich die Kommuniqués nur als Vorwand benütze, um ihnen zu schreiben, was mir so einfällt…”.
Während Marcos von Carlos Fuentes sozusagen als erster postmoderner (Guerilla-)Held charakterisiert wurde, steht Don Quijote literaturgeschichtlich am Beginn der Moderne.

Der moderne Held

Zum ersten Mal treten hier Autor und Held autonom in Erscheinung und emanzipieren sich von einander. Im Gegensatz zu seinem Helden hat der moderne Autor begriffen, daß die ewigen Inhalte und Haltungen, seit der kopernikanischen Wende ihren Sinn verloren haben und die Welt immer mehr im Inneren der sie konstituierenden Subjekte versinkt. Gleichzeitig aber mag er sich nicht ausschließlich in sich selbst zurückziehen und so die “prosaische Niedertracht des äußeren Lebens” (Lukács) unwidersprochen hinnehmen. Hat er doch schließlich den Anspruch, objektiv etwas über die Welt sagen zu können. So wurde der Autor der Moderne zu einem Grenzgänger, einem Vermittler zwischen Subjekt- und Objektwelten.
Wie der moderne Autor mit seinem Held, identifiziert sich Marcos mit dem Quijote, gleichzeitig aber auch nicht. Zum einen ängstigt ihn die Idee, auch er könne, wie einst Alonso Quijano (Don Quijotes bürgerlicher Name) am Ende seines Ritterlebens erkennen, daß all seine Taten die eines Wahnsinnigen waren. “Die Niederlage der Verrücktheit, der Sieg der Reife und Vorsicht, sind das Schmerzhafteste an diesem Buch”, sagt Marcos in einem Interview. Zum anderen weiß er jedoch auch, daß die Wirklichkeit zu ernst ist, als daß man sich einfach über sie hinwegsetzen könnte: “Die Windmühlen waren die Helikopter der Bundesarmee, obwohl sie genaugesehen keine Windmühlen sind. Ebensowenig sind die Pilatos-Flugzeuge, die die “neutrale” schweizer Regierung der mexikanischen Regierung zum Töten von Indígenas verkauft, genaugenommen Fiktion.” Marcos ist in erster Linie Politiker und als solcher muß er konkrete Lösungsvorschläge zu politischen Problemen anbieten.
Dieses Spannungsverhältnis zwischen Utopie und Pragmatismus, Literatur und Politik, Fiktion und Realität, zieht sich in Form des fahrenden Ritters durch Marcos’ Diskurs. Um von diesen Gegensätzen nicht zerrissen zu werden und ein gewisses Maß an Objektivität und Autorität zu behalten, muß Marcos sie aufheben, oder wie die Literaturwissenschaft sagt, dekonstruieren. Das Moderne an Marcos’ literarischem Vorbild ist, daß Cervantes solche dekonstruktivistischen Verfahren als erster in der Literatur konsequent durchexerziert hat. Er bediente sich dabei dessen, was Michail Bachtin das “Prinzip des Karnevals” nennt. “Das Karnevaleske dominiert Texte, die einer komisch-parodistischen Schreibweise verpflichtet sind. Strukturell ist es dadurch gekennzeichnet, daß Stile, Gattungen und Schreibweisen gemischt, Hohes und Niederes zusammengebunden werden. Funktional ist es darauf gerichtet, die eine offizielle Wahrheit, die überkommene festgefügte Ordnung aufzubrechen.” Cervantes gelang es mit seinem Buch, die Macht der damals so beliebten Ritterromane zu brechen. Die Literaturkritik wurde dadurch selbst Bestandteil seiner Literatur.

Gegen die (Wind-)Mühlen der Politik

Marcos verfolgt das gleiche Ziel in der Politik. Um Kritik zu üben, greift er zuerst die Sprache an, die die Politik Konstruktion ihrer Diskurse verwendet. Bereits in seiner 1980 an der UNAM eingereichten Abschlußarbeit mit dem Titel “Philosophie und Erziehung – Diskursive und Ideologische Praktiken im mexikanischen Erziehungswesen” setzt er sich mit diesem Thema unter philosophischen Fragestellungen auseinander. Abschließend fordert er eine politische Position, die neue diskursive Strategien ermöglichen soll.
In quijotesker Manier hat er diese Forderungen in die Tat umgesetzt, und das Prinzip des Karnevals in den politischen Diskurs eingeführt: Sein Schreibstil ist ebenso parodistisch wie ironisch. Er ver-mischt poetische und erzählende Stile mit politischen Forderungen und Anklagen, löst die Trennung zwischen dem Autor und seinen Figuren auf und läßt so die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen.
Auf Octavio Paz’ Lob an der Erfindung Duritos antwortet Marcos in einem Interview: “Das ist ungerecht, protestiert Durito. Er meint, er sei keine Erfindung, sondern wirklich, und die Erfindung sei eigentlich ich.” Indem sich Marcos auf diese Art und Weise von selbst in Frage stellt und ironisch relativiert, gelingt es ihm, sich gegenüber ideologiebeladenen Kritikversuchen, sowohl aus der bürgerlich-liberalen, als auch der dogmatisch-marxistischen Ecke, erhaben zu machen. Der Literatur gelang dies bereits im Quijote. Sie hat ihre eigenen Unzulänglichkeiten bei der Vermittlung transzendentaler Werte längst erkannt, während die moderne Gesellschaft selbst diesen Anspruch aufrechterhielt.
Zwar setzte mit der Aufklärung ein Prozeß ein, der die “Entzauberung der Welt” anstrebte, dies gelang jedoch nur um den Preis einer Mythisierung der Aufklärung selbst. Die christlichen Religionen wurden durch politische Pseudoreligionen ersetzt. In der postmodernen Kritik der Moderne wird der endgültige Zusammenbruch dieser Pseudoreligionen oder “Meta-Erzählungen” wie Jean-Francois Lyotard sie nennt, proklamiert. Wenn Carlos Fuentes die EZLN aufgrund ihrer pluralistischen Ideen und deren Kritik an der politischen Sprache etwas vorschnell als “erste postmoderne Guerilla” charakterisiert, so müssen dem andere Postulate dieser philosophischen Richtung entgegengesetzt werden, die mit Marcos’ Denken in keinster Weise zu vereinbaren sind. Er begreift sowohl Tradition und Geschichte als auch handelnde Subjekte als Faktoren, die bei der Gestaltung von Gegenwart und Zukunft unbedingt in Betracht zu ziehen sind. Gerade diese beiden zutiefst modernen Kategorien, das Subjekt und die Geschichte, sind der Postmoderne jedoch abhanden gekommen.
Marcos dekonstruiert Politik, indem er Verfahren, die der literarischen Moderne verpflichtet sind, auf politische Diskurse anwendet. Er betreibt die Dekonstruktion jedoch nicht um ihrer selbst willen. Es ist nicht seine Art, sich nach getaner Arbeit von dem Scherbenhaufen dekonstruierter Ideologien angeekelt abzuwenden und diesen sich selbst zu überlassen. Vielmehr hat er ein klares Ziel vor Augen: Die Sicht auf die Realität freizulegen. Und die Realität ist für ihn Armut, Hunger, Unwissenheit, Krankheit, Unterdrückung, Tod; das heißt also die Verweigerung der elementarsten Menschenrechte für einen grossen Teil der Bevölkerung Mexikos. Die Veränderung dieser Realität ist sein Ziel. So gesehen steht Marcos, genau wie Don Quijote, ganz am Anfang der Moderne. Und nicht nur der Moderne. Denn wie der Literaturwissenschaftler Sebastian Neumeister zu verstehen gibt, ist Don Quijote in all seiner Tragikomik der Held der gescheiterten Utopien aller Zeiten, auch der Unseren. Wir sollten ihn ernstnehmen!

Literaturhinweis: Marcos. “Botschaften aus dem Lakandonischen Urwald.”, Hamburg 1996.

Cárdenas in den Startlöchern

Der 6. Juli verspricht ein in­teressanter Tag zu werden. Zum ersten Mal wird der Bürgermei­ster der 20-Millionen Metropole México DF, der größten Stadt der Welt, direkt gewählt. Außer­dem stehen zahlreiche weitere Wahlgänge auf dem Pro­gramm. In den nördlichen Bun­des­staaten So­nora und Nuevo León soll ein neuer Gouverneur bestimmt wer­den zudem werden mexiko­weit 25 Pro­zent der Sena­toren in die erste Parlamentskammer und 300 Deputierte in die zweite Kammer gewählt.
Lange Zeit waren Wahltage in Mexiko äußerst lang­wei­lig, da die Ge­winner schon vor der Stimmabgabe fest­standen. Seit den 30er Jahren kontrolliert die Staatspartei PRI mit ihren mäch­tigen Tentakeln in Form ver­schie­dener Mas­sen­organisatio­nen das Volk. Und während des lang­währenden Nachkriegsauf­schwungs ließen sich die Mexika­ner von der popu-listischen PRI auch ganz gerne regieren, denn diese befriedete soziale Kon­flikte meist mit materiellen Zu­wendungen aus den reichlich strö­menden Staat­seinnahmen. Nur selten mußte das PRI-Re­gime auf die Re­pressionskeule zurückgreifen, um Unruheherde zu ersticken, wie 1968, als in der Hauptstadt mehrere hundert protes­tierende Studenten er­schossen wurden oder Anfang der 70er Jahre bei der Nieder­schlagung einer Guerillabewe­gung im Bundes­staat Guerrero. Wahlen waren im PRI-System immer nur ein formelles Ritual zur öffentlichen Absegnung des PRI-Kandidaten für das Bürger­meisteramt, den Gouverneurspo­sten oder den Prä­sidententhron. Damit die Parteieinlandschaft nicht gar zu fade erschien, kre­ierte die PRI einige Satelliten­par­teien, die ein kümmerliches Da­sein fristeten, nicht ganz un­ähnlich dem der “Blockparteien” in der ehe­mali­gen DDR.

6. Juli 1988 – der erste Versuch

Erst Ende der 80er Jahre setzte eine Veränderung der po­litischen Kräfteverhältnisse in Mexiko ein. Cuauhtémoc Cár­de­nas, Sohn des populären Ex-Präsidenten Lázaro Cárdenas, der von 1934-1940 das Land re­gierte, spielt in dem seit zehn Jahren währenden Transforma­tions­prozeß eine Hauptrolle. Er gründete 1987 im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen eine PRI-interne Oppositionsströ­mung, die sich gegen die Kandi­datur von Carlos Salinas de Gortari aussprach. Der Hinter­grund der PRI-internen Ausein­andersetzung war die seit 1982 verfolgte neoliberale Politik, die Cárdenas, zuvor Gouverneur von Michoacán, heftig kritisierte. Cárdenas’ “corriente democrá­tica” innerhalb der PRI schwoll schnell zu einer dynamischen Oppositionsbewegung an. Eine Kandidatur von Cuauhtémoc Cárdenas für die Präsident­schaftswahlen 1988 wurde plötz­lich zu einer möglichen Option. So kam es, daß 1988 zum ersten Mal seit dem Ende der Re­volution 1917 zwei ernst­hafte Kandidaten um das Präsi­denten­amt konkurrierten: Salinas als offizieller PRI-Kandidat mit einem neoliberalen, technokrati­schen Modernisierungspro­gramm und Cárdenas als Galli­onsfigur einer Oppositionsplatt­form, die von PRI-Dissidenten, linken Organisationen und so­zialen Bewegungen gestützt wur­de.
Als nach den Präsident­schafts­wahlen, die auch 1988 am 6. Juli stattfanden, die Stimmen ausgezählt wurden, zeichnete sich schnell ein Wahlsieg des oppositionellen Cárdenas ab. Trotz massiver Einschüchterun­gen und Manipulation durch den PRI-Apparat hatte sich der Un­mut der Bevölkerung mit der korrupten, undemokratischen Staats­partei und der neoliberalen Politik der sozialen Grausamkeit Luft gemacht. Trotzdem hat Cár­denas nie in den Präsidenten­palast einziehen dürfen, denn in der Wahlnacht fiel vor lauter Schreck über den Protest der Wähler das zentrale Computer­system der Wahlbehörde aus. Carlos Salinas de Gorari wurde zum Sieger proklamiert. Einer Neuauszählung der Stimmen ver­weigerte sich die PRI konse­quent bis die Wahlurnen durch einen unerklärlichen Großbrand vernichtet wurden.
Aus der kraftvollen Wahl­kam­pagne Cuauhtémoc Cardenas und der nachfolgenden wütenden Protestbewegung gegen den Wahl­betrug, die zeitweise zum Bürgerkrieg zu eskalieren drohte, entstand nach dem heißen Som­mer 1988 die PRD als eine in ganz Mexiko verankerte linke Massenoppositionspartei. Die PRD schließt soziale Bewegun­gen wie unabhängige Bauern­verbände oder feministische Gruppen ebenso ein wie altge­diente PRI-Dissidenten und den Funktionärskorps der ehemaligen Kommunistischen Partei Mexi­kos (PCM). Dementsprechend vage und umfassend sind die programmatischen Aussagen der Partei.

1994 – der zweite Versuch

Als Cuauhtémoc Cárdenas, der bis heute unumstrittene Frontmann der PRD, 1994 zum zweiten Mal den Versuch star­tete, das PRI-Regime an den Wahl­urnen zu stürzen, erreichte er gerade einmal offizielle 16 Prozent. Auch am 21. August 1994 waren die PRI-Wahlfäl­scher im Dauerstreß, darüber be­steht kein Zweifel, aber die Wahlkampagne der PRD hatte längst nicht die explosive Kraft entfaltet wie noch 1988. Der Aufstand der EZLN und die PRI-internen Zerwürfnisse, die im Mord am ersten PRI-Kandidaten Luis Donaldo Colosio durch seine eigenen Parteifreunde im März des Jahres gipfelten, führ­ten bei großen Wählerschichten zu einer tiefen Verunsicherung. Als der zweite PRI-Kandidat Er­nesto Zedillo für den Fall eines Wahlsieges von Cárdenas auch noch unmißverständlich den Bür­ger­krieg androhte, orientier­ten sich viele der verdrossenen WählerInnen an der rechtskon­servativen PAN (Partei der Na­tionalen Aktion) und nicht an der zudem unentschlossen wirken­den PRD. Die PAN wurde gleich­zeitig von den Medien und den PRI-Eliten durch eine mas­sive Kampagne unterstützt, um den verbreiteten Unmut nach rechts zu kanalisieren. So wurde 1994 letztlich doch der PRI-Kandidat Ernesto Zedillo mit of­fiziell knappen 50 Prozent zum Präsidenten erkoren, während Cárdenas sich nach dem PANi­sten Diego Fernández de Ceval­los mit Platz drei begnügen mußte.
Doch spätestens seit 1994 ist das Machtmonopol der PRI ge­brochen. Zu stark sind mittler­weile die Oppositionsparteien PRD und PAN, aber auch linkso­rientierte soziale Bewegungen und nicht zuletzt die Rebellen der EZLN geworden. Bei zahl­reichen Kommunalwahlen und so­gar Gouverneurswahlen mußte die PRI herbe Wahlniederlagen hinnehmen. Aus dem faden Ri­tual im Einparteiensystem bis in die 80er ist der Wahlkampf in Mexiko heute zu einem realen Kräftemessen geworden. Dabei geht es mitunter rüde zu. Morde an den Kandidaten oder Aktivi­sten der Oppositonsparteien sind alltäglich geworden und nach wie vor bedienen sich die PRI-Bürokraten eines ausgefeilten Systems von Wahlbetrügereien und Manipulationen. Während die PAN meist verschont bleibt, ist die PRD das Ziel der Repres­sion der PRI-Machthaber. Wäh­rend der sechs Jahre der Salinas-Administration von 1988-1994 sind etwa 360 PRD-Mitglieder aus politischen Gründen er­mordet worden oder ver­schwunden. In den ersten 18 Monaten der Re­gierungszeit Zedillos hat die PRD-Zentrale bereits 150 Opfer zu beklagen. Ungezählt sind die Gefolterten und politischen Ge­fangenen. Bis heute konnte die PRD im Gegensatz zur PAN keine Gouverneurswahl in einem der Bundesstaaten für sich ent­scheiden, dafür kontrolliert sie mittlerweile vor allem in den südlichen Bundesstaaten zahlrei­che Landkreise und Kommunen. Die PAN ist dagegen hauptsäch­lich in den nördlichen Bundes­staaten verankert.

Neuer Anlauf

Den ersten direkten Bürger­meisterwahlen in der Hauptstadt am 6. Juli kommt nun eine entscheidende Bedeutung zu. In Mexkio-Stadt wohnen über 20 Pro­zent der mexikanischen Ge­samt­bevölkerung. Hier kon­zentriert sich das politische und kulturelle Leben im traditionell zentralisti­schen Mexiko. Wer die Hauptstadt kontrolliert, verfügt also über eine strategisch überaus einflußreiche Position im ganzen Land. Mo­mentan sieht es ganz danach aus, als könnte Cuauhtémoc Cárdenas das Rennen machen. Nach einer Umfrage der Universität Guada­lajara von Mitte März liegt Cár­denas mit 34,5 Prozent weit vor seinen Konkurrenten. Den PRI-Kandidaten Alfredo del Mazo, der dem Dinosaurier-Flügel der Staatspartei in Auflösung zuge­rechnet wird, würden nur 18,2 Prozent und Carlos Castillo Pe­raza von der PAN nur 16,3 Pro­zent wählen. Die “Chilangos”, wie die zahlreichen Einwohner Mexiko-Stadts genannt werden, liegen dabei voll im Trend.
Bereits am 16. März hat die PRI in Morelos, dem westlich der Hauptstadt liegenden Bun­desstaat, bei Kommunalwahlen eine herbe Niederlage einstecken müssen. Hier gingen nur mehr 17 der Landkreise an die PRI, im­merhin 14 an die PRD und einer an die PAN. Die Opposition re­giert jetzt zwar nur eine Minder­heit der Landkreise, dafür aber 67 Prozent der Bevölkerung, weil sie in den bevölkerungsrei­chen Regionen gewonnen hat. Außerdem entriß die PRD der PRI die Mehrheit im Landtag. Bereist vor einem halben Jahr verlor die PRI die Mehrheit der Landkreise des Estado de Mé­xico, dem um den Hauptstadtdi­strikt liegenden bevölkerungsrei­chen Bundesstaat. Mit der Wahl in Morelos schließt sich für PRI die Oppositionschlinge um die Haupstadt. Ein Wahlsieg Cuauhtémoc Cárdenas würde das Ende der unumschränkten PRI-Herrschaft im zentralen Hochtal von Mexiko, der politisch und wirtschaftlich bedeutendsten Re­gion des Landes, besiegeln.

PRI-Schlappe bei Kommunalwahlen

Doch noch ist Vorsicht ange­zeigt, da Wahlprognosen in Me­xiko nur eingeschränkten Aussa­gewert besitzen. Zu instabil sind die Verhältnisse, als daß nicht doch noch ein Umschwung möglich wäre. Das große Frage­zeichen stellt insbesondere die Reaktion der PRI-Eliten auf den schwungvollen Wahlkampf der PRD dar. Wird die PRI einen Wahlsieg Cárdenas diesmal an­erkennen? Zweifel sind ange­bracht, Beobachter befürchten ein Wahlbetrugsmanöver im großen Stil.
Gefahr droht auch von einer anderen Seite. In den letzten Monaten werden auf präsiden­tiale Anweisung hin die Poli­zeistrukturen in der Hauptstadt umstrukturiert. Eine massive Aufrüstung durch Fahrzeuge, Waffen und Personal wird be­gleitet durch die Einflußnahme hochrangiger Militärs auf die Polizeiführung. Bereits seit Mitte letzten Jahres ist der oberste Po­lizist ein Armeeangehöriger, der General Enrique Salgado. Die Ernennung bedeutet ein Novum in Mexiko und ist verfassungs­rechtlich höchst bedenklich. In den nächsten Monaten sollen au­ßerdem 2.600 Soldaten in die Polizeiuniformen schlüpfen.
Teresa Jardí, angesehene Direk­torin des Studienzentrums für Menschenrechte, und regelmä­ßige Kolumnistin der kritischen Tageszeitung La Jornada kom­mentierte die Gefahr durch die Militarisierung folgendermaßen: “Wenn PAN oder PRD die Wahlen gewinnen, werden sie trotzdem nicht in der Lage sein zu regieren. Es formieren sich paramilitärische Gruppen, um den Machterhalt der PRI zu ga­rantieren.”

Terror, Lügen und Videoaufnahmen

Zehn Militärpolizisten Sâo Paulos machen sich einen sadi­stischen Spaß daraus, in einem Slum alle paar Tage eine Stras­sensperre zu errichten und zu­fällig vorbeikommende Bewoh­nerInnen auf brutalste Art zu foltern, mit Hartholzstücken blu­tig zu schlagen und auszurauben. Ein völlig unschuldiger Mann wird vor aller Augen erschossen, ein anderer schwer verwundet.
Wer in brasilianischen Elendsvierteln lebt oder dort So­zial- und Menschen­rechts­arbeit betreibt, weiß, daß Derartiges seit Diktaturzeiten ab­solut nor­mal und alltäglich ist. Der jüng­ste Fall von Polizeiter­ror erregt indessen enormes Auf­sehen, weil jemand gut versteckt tagelang al­les filmt, das Video schließlich nicht nur im brasilia­nischen, son­dern auch im nord­ame­ri­ka­ni­schen, europäischen und asiati­schen Fernsehen ge­zeigt wird.
Sâo Paulos Kardinal Evaristo Arns und seine Bischöfe und Pa­dres protestieren vehement, stel­len nicht an­ders als amnesty in­ternational (ai) und Human Rights Watch klar, daß die Greu­eltaten nicht überra­schen. In ganz Brasilien würden die Men­schenrechte von der Mi­litär­po­li­zei gravierend verletzt, Opfer seien stets Angehörige der unter­privilegierten Schichten, An­zeigen fruchteten gewöhnlich nichts.
Der neue Fall zeigt dies ex­emplarisch. Zwei der zehn Militärpolizisten gelten als Mit­glieder einer Todesschwa­dron, die in jüngster Zeit minde­stens dreizehn Menschen ermor­det hat. Fünf Beamte standen be­reits we­gen acht Morden sowie Mord­ver­suchen und schwerer Körper­verletzung unter Anklage, die Verfahren wurden, wie fast durchweg üblich, eingestellt. Ganz offenkundig unter dem Druck der Medien und der Ent­rüstung im Ausland wurden in­zwischen alle zehn Tatbeteiligten verhaftet – die Mitte-Rechts-Re­gierung instruierte in Windeseile auch die Botschaften in Bonn, Bern und Wien, wie zu reagieren ist.

Scheinheiligkeit und fragwürdige Aufregung

Ricardo Ballestreri, Präsident der brasilianischen ai-Sektion, mag ebensowenig wie die Kirche in den jetzt von den Medien ge­schürten Chor der Entrüstung einstimmen, wirft der Gesell­schaft Scheinheiligkeit vor. Bei jenen, die sich über Polizeibru­talität aufregen, handelt es sich ihm zufolge um dieselben, die mehr Gewalt bei der Verbre­chensbekämpfung und auch die Todesstrafe verlangen. ai hatte wie die Erzdiözese Sâo Paulos bereits vielfach angeprangert, daß die “High Society” und auch die Mittelschicht in Lateinameri­kas erstem Wirtschaftsstandort Greueltaten gegen Slumbewoh­nerInnen schlichtweg ignorier­ten. In Brasilien, so ai auf An­frage, gebe es ein Kontingent von Personen, deren Folterung absurderweise als sozial gerecht­fertigt angesehen werde. Unter der Folter hatten erst kürzlich neun Männer der Unterschicht gestanden, ein Nobellokal über­fallen und dabei zwei Gäste er­schossen zu haben. Glücklicher­weise fand man eher durch Zu­fall die wahren Täter mit der Beute, die Neun bleiben dennoch für ihr Leben gezeichnet.

“Beifall” für Todesschwadrone

Cecilia Coimbra, couragierte Präsidentin der brasilianischen Menschenrechtsorganisation “Nie mehr Folter”, erinnert jetzt daran, daß die sich in Sâo Paulo häufenden chacinas, Blut­bäder, sowie andere Aktionen der To­desschwadronen von sehr vie­len BrasilianerInnen mit “Beifall” aufgenommen werden. Nach der Ausstrahlung des Amateurvideos sei zu hoffen, daß es nie mehr zu derartigem Applaus komme. Ju­randir Freire Cos­ta, Therapeut und Direktor des Instituts für So­zialmedizin an der Universität von Rio, teilt diesen Optimismus nicht. Die Mittel- und Ober­schicht, so Costa, spreche Slum­bewohne­rInnen den Gleich­heits­grundsatz ab, definiere sie quasi als “Nicht-Menschen” und rea­giere daher mit extremer Indiffe­renz und Akzeptanz auf jede Art von Ge­walt gegen diesen Teil der Bevölkerung.
Befreiungstheologe Frei Bet­to, enger Mitarbeiter von Kardi­nal Arns, teilt den Stand­punkt von Costa, zählt den Sozi­alwissenschaftler außerdem zu den ganz wenigen Mitgliedern der geistig-künstlerischen Elite Brasiliens, die auf Massaker an Landlosen, Polizeiterror gegen Arme und von Todesschwadro­nen begangene Morde nicht mit Schweigen reagieren. Im Ge­spräch sagt Frei Betto, Hunderte von führenden Intellektuellen Frankreichs oder Italiens prote­stierten in Manifesten an die Mitte-Rechts-Regierung von Prä­sident Fernando Henrique Car­doso gegen all diese Greuel­taten und verlangten energische Maß­nahmen. Deren brasiliani­sche KollegInnen duldeten in­dessen, von wenigen Ausnahmen abge­sehen, die gravierende Ver­letzung der Menschenrechte in der größten Demokratie Latein­amerikas, seien daher mitschul­dig.
Das Schweigen, so Frei Betto, sei Resultat der Unterstützung jener Intellektu­ellen für die Cardoso-Regierung und deren neoliberale Politik. Viele aus der geistigen Elite, die besonders hohes Prestige in der öffent­lichen Meinung genössen, wür­den von Brasilia mit Posten, Po­sitionen und Geldern begün­stigt. Oder klarer ausgedrückt: kor­rum­piert. Der Theologe erin­nerte auch daran, daß viele In­tel­lek­tuelle, aber auch in Deutschland sehr bekannte Schrift­steller wie Jorge Amado oder Sänger wie Gil­berto Gil, Caetano Veloso, Elba Ramalho und Joâo Bosco, Filme­macher wie Héctor Ba­ben­co sich 1994 in einem Manifest für die Wahl Cardosos aus­ge­spro­chen hatten. Positive Aus­nah­me: Chico Buar­que. “Daß all diese Perso­nen sich heute passiv ver­halten”, so Frei Betto weiter, “wird von den In­tel­lektuellen Eu­ropas na­türlich be­merkt. Wa­rum prote­stieren wir, fragt man dort, doch die Kollegen in Bra­si­lien nicht – wie steht es daher um deren Se­riosität?” Sie sei nicht vorhan­den, fügt der Theologe hinzu.
Der schwarze Intellektuelle Milton Santos: “Brasiliens Gei­steswissenschaftler kapitulieren vor der Situation ihres Landes, nähern sich dem Establishment an.”
Frei Betto wurde während der Diktatur im berüchtigten Caran­diru-Gefängnis Sâo Paulos ein­gekerkert und gefoltert. 1992 wurde er vom Gouverneur des Bundesstaats vor Gericht ge­stellt, weil er Gewalttaten der Militärpolizei öffentlich ange­prangert hatte. Im selben Jahr er­schossen Spezialeinheiten jener policia militar in Carandiru min­destens 111 Häft­linge.
Zum Lärm um das Amateur­video meint Frei Betto, das bra­silianische Medienecho werde wie in vorangegangenen Fällen rasch verhallen.
Für Präsident Cardoso kommt der Vorfall dop­pelt ungelegen. Denn Sâo Paulo mit seinen weit über eintausend deutschen Fir­menfilialen wird von einem Gou­ver­neur und en­gem Vertrauten aus des Staats­chefs Sozial­demo­kra­tischer Par­tei PSDB regiert. Glei­ches trifft auf den politisch Haupt­verant­wortlichen des Land­losenmassa­kers von 1996 im Amazonas­bundesstaat Pará zu – und auch auf den Gou­ver­neur Rio de Janeiros, wo ein Blut­bad an Minderjährigen dem an­deren folgt.

KASTEN

Männer des Gesetzes

Vorsicht, Leute aus Sâo Paulo, Osasco und ABC,
Die Polizei von Sâo Paulo ist zum Beschützen da.
Ist ein Polizist ein Verbrecher?
Es gilt das Gesetz des Hundes.
Die Polizei tötet das Volk,
Aber ins Gefängnis kommt sie nicht.

Immer mehr Leute, deren Wege sich verlieren
Aber sagen können wir nichts,
Denn wir sind nicht auf der Seite des Gesetzes.
Oh mein Gott, wann werden sie bemerken,
Daß Sicherheit zu geben nicht bedeutet
Angst einzujagen?

Song von Thaíde und DJ HUM

KASTEN

Männer des Gesetzes

Vorsicht, Leute aus Sâo Paulo, Osasco und ABC,
Die Polizei von Sâo Paulo ist zum Beschützen da.
Ist ein Polizist ein Verbrecher?
Es gilt das Gesetz des Hundes.
Die Polizei tötet das Volk,
Aber ins Gefängnis kommt sie nicht.

Immer mehr Leute, deren Wege sich verlieren
Aber sagen können wir nichts,
Denn wir sind nicht auf der Seite des Gesetzes.
Oh mein Gott, wann werden sie bemerken,
Daß Sicherheit zu geben nicht bedeutet
Angst einzujagen?

Song von Thaíde und DJ HUM

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