Kolumbien gleich Afghanistan? – Die Intervention hat schon begonnen

In einem Brief, den der US-Präsident George W. Bush Ende Oktober an den kolumbianischen Präsidenten Pastrana schrieb, um sich für das Mitgefühl nach den Anschlägen vom 11.9. zu bedanken, merkte er am Schluss an: „Das kolumbianische Volk hat schwer gelitten unter denen, die das Reich des Gesetzes angreifen, aber diese Kriminellen konnten eine der ältesten Demokratien der Hemisphäre nicht besiegen. Ich weiß, dass unser Beistand im Kampf Kolumbiens das Gegenstück zu Ihrem Beistand für das amerikanische Volk in diesen schwierigen Zeiten ist. Ich hoffe mit Ihnen zusammen zu arbeiten, um dieser schwierigen Herausforderung zu begegnen.“

Engagement der USA

Vom 7. – 11. November reiste dann Pastrana in die USA, um den US-Außenminister Colin Powell zu treffen. Dort dürfte ein weiter gehendes Engagement der USA in Kolumbien zur Sprache gekommen sein. Noch Anfang 2001 schrieb die rechte „Rand Corporation”, eine Stiftung des Flugunternehmens Douglas, in einem Bericht über Kolumbien für die US-Airforce, im Falle eines Scheiterns der Drogen- oder Aufstandsbekämpfung der Regierung Pastrana müssten sich die USA entscheiden, entweder einen enormen Glaubwürdigkeitsverlust hinzunehmen oder ihr Engagement im Konflikt weiter zu steigern.
Dieser Fall scheint nun – im Schatten des Krieges gegen Afghanistan – eingetreten zu sein. Philip Reeker, Sprecher des US State Department, schließt zwar eine direkte US-Militärintervention in Kolumbien aus. Doch zugleich betonte Francis Taylor, „Anti-Terrorismus-Koordinator“ der dieser Behörde, am 15. Oktober auf einer Pressekonferenz nach einer nicht-öffentlichen Sitzung der „Interamerikanischen Konferenz gegen Terror (CICTE), dass „terroristische Organisationen“ in Kolumbien ebenfalls Ziel der „Antiterrorismus-Kampagne“ der USA im Gefolge des 11. Septembers sein würden. In Kolumbien und anderen Ländern Lateinamerikas werde eine ähnliche Strategie zum Tragen kommen, wie sie von den USA in Afghanistan verfolgt wird. Bezüglich der Guerillas und der Paramilitärs „werden wir alle in unserer Macht stehenden Ressourcen und wenn notwendig auch militärische Gewalt anwenden, um ihre Aktivitäten zu stoppen“, so Taylor weiter. Da die Ernennung eines Staatssekretärs für Lateinamerikafragen durch die Bush-Regierung ausblieb, kam Taylor in den vergangenen Monaten eine zentrale Rolle in der Kolumbien-Politik der USA zu.
Fernando Tapias, Generalkommandeur der kolumbianischen Streitkräfte, der auch an dem CITCE-Treffen teilnahm, betonte, Kolumbien bräuchte keine Intervention ausländischer Truppen. „Wir bieten unsere Kräfte auf und fordern Unterstützung in den Bereichen Ausbildung, technischer Beistand und geheimdienstliche Tätigkeiten“. Nach weiteren Gesprächen mit Pentagon-Vertretern zeigte Tapias sich zufrieden: „Seit dem 11. September hat sich die Situation geändert. Sie (die US-Amerikaner) verstehen uns jetzt besser, da sie die Auswirkungen dieser Mischung aus Terrorismus und Drogen, die so schwer wiegende Folgen für die Menschheit hat und unter denen wir seit Jahren leiden, selbst erleben.“

US-Botschafterin spricht Klartext

In Kolumbien transformierte die US-Botschafterin Anne Patterson die ausgegebene Linie bei einem Auftritt vor dem Kongress der Nationalen Föderation der Händler (Fenalco) Ende Oktober in einen Vergleich zwischen den Taliban und den kolumbianischen Guerillas und Paramilitärs: Ebenso wenig wie die Taliban und Osama Bin Laden den Islam repräsentierten, suchten die „kolumbianischen Terroristen“ nach sozialer Gerechtigkeit für die Bevölkerung. „Im Unterschied zu den Terroristen in Afghanistan haben die kolumbianischen Gruppen zwar keine direkte globale Reichweite. Doch jede dieser Gruppen übt Terrorismus gegenüber den Kolumbianern aus und schwächt die Fundamente der ältesten Demokratie Lateinamerikas“, so Patterson.
Die Botschafterin äußerte auch die Sorge, dass Taliban-Drogenhändler sich nach Kolumbien absetzen könnten, um von dort aus den Heroin-Fluss in die USA aufrecht zu erhalten. Doch die USA werden Kolumbien im Kampf gegen den Drogenhandel nicht alleine lassen, so Patterson weiter, und würden die militärische Hilfe fortführen und aufstocken. „Vor Ende des Jahres werden noch weitere zehn Blackhawk-Hubschrauber nach Kolumbien geliefert und Anfang nächsten Jahres weitere 25.“ Zudem wurde eine weitere Finanzspritze von 882 Millionen US-Dollar für die Andenstaaten angekündigt, von denen 440 Millionen an Kolumbien gehen sollen. Außerdem würden Sondereinheiten zur Ausbildung von Einsätzen gegen Entführungen nach Kolumbien gesandt werden, denn laut Patterson müsse „diese Plage in Kolumbien ausgerottet werden“.

Revolutionssteuern

In die unzähligen Entführungen, die jedes Jahr zu verzeichnen sind, sind alle Akteure im kolumbianischen Konflikt verwickelt: Polizei, Militär, Paramilitärs und Kriminelle zur persönlichen Bereicherung und die Guerilla-Organisationen, um nicht bezahlte „Revolutionssteuern“ von größeren Unternehmen und reichen kolumbianischen Familien einzutreiben. Doch ob gerade die kolumbianischen Spezialtruppen der GAULA, die seit Jahren in Antiguerilla-Taktiken und dem Vorgehen bei Entführungen ausgebildet werden, der richtige Adressat dafür sind, ist mehr als fraglich, denn der Wissensvorsprung der GAULA-Truppen führte bisher dazu, dass sie selbst tief in den Paramilitarismus und sogar in Entführungen verwickelt waren.
„Jede dieser Gruppen in Kolumbien ist tief in den Drogenhandel verstrickt. Jede hat enorme Einnahmen aus dem Drogenhandel. Jüngst haben auch die AUC (die Vereinigten Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens; A. d. Red.) den gleichen Weg eingeschlagen“, begründet die US-Botschafterin das US-Engagement gegen die Guerillas und sogar die Forderung nach Auslieferung ihrer Vertreter in die USA. Dabei spielt die Drogenökonomie nur bei den Paramilitärs tatsächlich eine zentrale Rolle. Die Verwicklung der AUC in den Drogenhandel, zusammen mit der kolumbianischen Oligarchie und dem Militär, ist wiederholt belegt worden. Vielleicht hat deshalb die US-Regierung ihren ehemaligen geheimen Verbündeten AUC in diesem Jahr in ihrer „Terrorliste“ aufgenommen.
Die ELN (Ejército de Liberación Nacional) hingegen hat aus sozialen und ökologischen Gründen eine sehr strikte Haltung gegen den Drogenanbau und -handel. Selbst Organisationen wie das „Geopolitische Drogenobservatorium“ (OGD) mit Sitz in Frankreich attestieren ihr, keinerlei Verbindung zum Drogengeschäft zu haben. Die FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) hingegen besteuert in den Gebieten unter ihrer Kontrolle die Geschäfte der Händler, schützt die Kleinbauern vor den selbigen und garantiert ihnen Verkaufspreise. Dies ist jedoch nicht ihre einzige Einnahmequelle. Aussagen Pattersons wie: „US-amerikanische Experten haben ausgerechnet, dass allein die FARC jährlich mehrere hundert Millionen US-Dollar durch den Drogenhandel einnimmt. Im Putumayo, dem operativen Zentrum des Plan Colombia, ist die FARC nichts weiter als eine Organisation des Drogenhandels“, sind also dazu gedacht, die Aufstandsbekämpfung als „Krieg gegen Drogen“ zu tarnen.

Friedensprozess kommt nicht weit

Schließlich wurden bisher auch unzählige kolumbianische Politiker und Militärs und selbst MitarbeiterInnen der US-Botschaft und des mit der Organisation der Besprühung der Koka-Felder beauftragten US-Militärunternehmens DynCorp des Drogenhandels oder Waschens von Drogengeldern überführt, während es bisher noch keinen Prozess aus den gleichen Gründen gegen ein Guerilla-Mitglied gab. Die Ankündigungen von Anne Patterson kommen zudem just in einem Moment, in dem der Dialog zwischen Regierung und FARC in einer Krise steckt. Kurz vor Ablauf des Abkommens über die von der FARC kontrollierte 42.000 Quadratkilometer große entmilitarisierte Zone im Süden Kolumbiens wurde dieses Mitte Oktober von der Regierung verlängert. Zunächst drohte die Situation zu eskalieren, da die Armee in das entmilitarisierte Gebiet eingedrungen war und zwei FARC-Angehörige erschoss, während die Regierung die FARC des Mordes an der ehemaligen Ministerin beschuldigte. Ein Abkommen, in dem sich Regierung und FARC auf verschiedene Maßnahmen verpflichteten, machte eine Verlängerung der Entmilitarisierung dennoch möglich. Doch schon wenige Tage später geriet der bisher ohnehin ergebnislose Dialog erneut in eine Krise, als sich die kolumbianische Regierung weigerte, das Überfliegen der Zone mit Militärflugzeugen einzustellen. Aus der kolumbianischen Armee und rechten Kreisen Kolumbiens wurden wieder Stimmen laut, die eine militärische Lösung fordern.
Wie gefährlich es ist, sich in diesem Zusammenhang gegen eine militärische Lösung auszusprechen, zeigt das Beispiel der „Notables“, einer dreiköpfigen Kommission, die beauftragt wurde, ein Dokument mit Vorschlägen zum Friedensprozesses mit der FARC zu erarbeiten. Das Ergebnis wurde Anfang Oktober veröffentlicht und nannte unter anderem einen Waffenstillstand zwischen Regierung und FARC und die uneingeschränkte Bekämpfung der Paramilitärs durch Militär und Guerilla als eine Grundvoraussetzung für einen Frieden. Noch am Tag der Veröffentlichung gingen zwei der drei Kommissionsmitglieder auf Grund schwer wiegender Todesdrohungen ins Exil.

US-Amerikaner in Kolumbien

In den vergangenen Jahren drohten die USA wiederholt mehr oder weniger offen mit einem direkteren Eingreifen. Bisher ist die US-Army jedoch nicht einmarschiert. Das heißt allerdings nicht, dass die USA auf eine Präsenz im Konflikt verzichten würden. Aktuell befinden sich laut Pentagon 175 bis 200 US-Militärs in Kolumbien, die der kolumbianischen Armee als Militärberater im „Kampf gegen Drogen“ beistehen, sowie weitere 100 Agenten des CIA und der Antidrogenbehörde DEA. Weitere 15.000 US-Soldaten verschiedener Einheiten sind im vergangenen Jahr auf die Grenzstaaten (außer Venezuela) und einige Länder der Karibik verteilt worden. Der Krieg gegen die Bevölkerung wird auch zunehmend privatisiert, professionalisiert und internationalisiert. Zusätzlich zu US-amerikanischen Militärausbildern sind mindestens acht private Kriegsunternehmen verschiedener Herkunft in Kolumbien aktiv.
So etwa DynCorp, ein US-Unternehmen aus Reston, Virginia, das logistische Aufgaben für Militäroperationen übernimmt und traditionell eng mit der US-Army zusammenarbeitet. DynCorp ist an der Organisation der Besprühungen beteiligt und stellt die dafür notwendigen Fachkräfte wie Piloten, Mechaniker und medizinisches Personal ein und beschäftigt in Kolumbien 355 Mitarbeiter, die Hälfte davon US-Amerikaner. Auch das US-amerikanische Kriegsunternehmen MPRI, das von ehemaligen hochrangigen US-Militärs geführt wird und bei Pentagonsitzungen stets als Gast eingeladen wird, ist mit etwa 300 Ausbildern und Personal in Kolumbien tätig. MPRI ist in Abstimmung mit dem Pentagon in zahlreichen Ländern weltweit aktiv und beriet auch das kroatische Militär im Jugoslawienkrieg. Bei ihren Aktivitäten verschwimmen einerseits die Grenzen zwischen der Ausbildung von Militärs und Paramilitärs und andererseits die Grenzen zwischen beratender Tätigkeit und direkten Eingriffen in Kampfhandlungen.
Gemäß eines vom US-Kongress verabschiedeten Gesetzes zur Verhinderung der „Vietnamisierung Kolumbiens“ darf die Präsenz US-amerikanischen Personals im Rahmen des Plan Colombia die Zahl von 500 Militärangehörigen und 300 angeheuerten Privatpersonen nicht überschreiten. Doch auch wenn Unternehmen wie DynCorp und MPRI diese Bestimmung damit zu umgehen versuchen, dass etwa die Hälfte ihres in Kolumbien aktiven Personals aus anderen Ländern stammt, dürfte die zulässige Anzahl dennoch weit überschritten sein. Doch auch ein weiteres Engagement sollte stutzig machen: Allein von Januar bis September 2001 wurden bei der Handelskammer von Bogotà 1.515 neue Nichtregierungsorganisationen registriert. Die US-Botschafterin Anne Patterson äußerte gegenüber der rechten kolumbianischen Zeitung El Tiempo, die USA habe allein 80 NGOs entlang des Flusses Putumayo finanziert, die angeblich mit der Aufgabe betraut seien, die Auswirkungen der Besprühungen aus der Luft auf Mensch und Natur zu beobachten.

Chemiekonzern Monsanto

Eine Aufgabe, für die wohl kaum eine solche Vielzahl von NGOs notwendig scheint. Beispielsweise führt das vom Chemiekonzern Monsanto unter dem Markennamen Round-up vertriebene Herbizid Glyfosat, das in Kolumbien eingesetzt wird, nachweislich zu schweren gesundheitlichen Schädigungen bei der betroffenen Bevölkerung, zur umfassenden Vernichtung jeglicher Pflanzen und zur Verseuchung von Quellen und Gewässern. Wie in Vietnam ist der Einsatz von Herbiziden und Pestiziden Bestandteil einer Kriegspolitik der verbrannten Erde. Als Ende Juli ein Zivilgericht dem Antrag verschiedener indianischer Gemeinden auf ein Verbot der Besprühungen der Koka-Anbauflächen mit Glyfosat aus der Luft statt gab und eine fünfzehntägige Aussetzung der Besprühungen verordnete, war dies für die US-amerikanische Botschafterin Anne Patterson Grund genug, der kolumbianischen Regierung sofortige Folgen betreffs der Unterstützung des Plan Colombia durch die USA anzudrohen. Wenige Tage später gab das Gericht wieder grünes Licht für die zerstörerischen Besprühungen. Es ist daher davon auszugehen, dass viele der NGOs Teil der Aufstandsbekämpfung sind, die die soziale Basis der Guerilla zersetzen und zugleich ein dichtes Spitzelnetz im Dienste der US-Army und der kolumbianischen Armee bilden soll.

Mit der Sonderperiode in die Zukunft

Schon in den 80er Jahren zeichneten sich erste Krisensymptome ab. Trotz stetig steigender Investitionen stagnierte die kubanische Wirtschaft. Die chronische Unproduktivität vieler Wirtschaftsbereiche konnte jedoch durch die feste Einbindung in den RGW weitgehend kompensiert werden. Andererseits hatte jedoch das System der Arbeitsteilung innerhalb des RGW, in dem Kuba hauptsächlich für die Erzeugung von Zucker und anderen Agrarprodukten zuständig war, auch Nachteile, die sich in der extremen Importabhängigkeit der Insel manifestierten. Ende der 80er Jahre bezog Kuba 98 Prozent aller Brennstoffe, 86 Prozent der Rohstoffe, 80 Prozent der Maschinen und elektrischen Geräte und 63 Prozent der Nahrungsmittel aus RGW-Ländern. Die Auflösung der Wirtschaftsorganisation im Juni 1991 und der Zerfall der Sowjetunion ein halbes Jahr darauf trafen Kuba unvorbereitet, denn, so Fidel Castro, „niemand stellte sich je vor, dass etwas, das so unerschütterlich und sicher wie die Sonne schien, eines Tages verschwinden würde“.
Die wirtschaftlichen Konsequenzen dieser Entwicklung waren katastrophal. Die auf jährlich eine Milliarde US-Dollar geschätzten Transferleistungen der UdSSR fielen ebenso abrupt weg wie die Präferenz- und Fixpreise innerhalb des RGW, mit dem Kuba bis dahin etwa 85 Prozent des Außenhandels abwickelte. Nahrungsmittel, Ersatzteile für den aus Osteuropa stammenden Maschinenpark und vor allem Erdöl mussten auf einmal zu Weltmarktpreisen eingekauft werden. Gleichzeitig sank die Importkapazität des Landes von 8,1 Milliarden US-Dollar im Jahre 1989 auf nur noch 2,2 Milliarden US-Dollar 1992, denn es gab kaum noch etwas, das Kuba exportieren konnte. Bis 1993 halbierte sich die Zuckerproduktion. 80 Prozent der Industrieanlagen standen still. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) fiel von 1990 bis 1993 um nahezu 35Prozent. Das Gütertransportwesen und der öffentliche Personennahverkehr brachen ebenso zusammen wie die Versorgung der Industrie und der Bevölkerung mit Elektrizität, sodass es täglich mehrere Stunden andauernde Stromsperren gab. Kuba stand unmittelbar vor dem Kollaps. In dieser Situation war die kubanische Führung gezwungen, tief greifende Reformen einzuleiten.

Chronologie der Reformen

Die erste substanzielle und innerhalb der Kommunistischen Partei nicht unumstrittene Maßnahme verkündete Fidel Castro am 26. Juli 1993 anlässlich des kubanischen Nationalfeiertages, der mit dem Sturm auf die Moncada 1953 den Beginn der Revolution markiert: die Legalisierung des zuvor unter Strafe stehenden Devisenbesitzes für kubanische Staatsangehörige. Diesen Schritt, der dem Schlachten einer heiligen Kuh gleichkam, rechtfertigte Castro als einzigen Weg, die „Errungenschaften der Revolution“ zu bewahren, das heißt die im internationalen Vergleich hohen Standards im Bildungs- und Gesundheitswesen aufrecht zu erhalten, die nationale Unabhängigkeit gegenüber der Hegemonialmacht USA zu verteidigen und egalitäre gesellschaftliche Prinzipien beizubehalten. Durch die Legalisierung des Devisenbesitzes sollten die stark anwachsenden remesas (Geldtransfer der Exilkubaner an ihre in Kuba lebenden Verwandten und Freunde) kanalisiert und für den Wirtschaftsprozess in Wert gesetzt werden. Überall auf der Insel wurden quasi-staatliche Dollarshops errichtet, um die dringend benötigten Devisen abzuschöpfen.
Im September 1993 folgte die Erweiterung privatwirtschaftlicher Tätigkeit im Rahmen der trabajo por cuenta propia (Arbeit auf eigene Rechnung). Durch die Zulassung neuer Tätigkeitsfelder sollte einerseits das in der período especial stark eingeschränkte Angebot an Gütern und Dienstleistungen wieder verbreitert wird, andererseits sollten Arbeitsplätze geschaffen werden. Obwohl die gesetzlichen Rahmenbedingungen die privatwirtschaftlichen Aktivitäten in engen Grenzen halten und zahlreiche Einschränkungen hinsichtlich der Materialbeschaffung, Produktion und Vermarktung bestehen, machten sich viele Kubaner und Kubanerinnen selbstständig. Die Zahl der registrierten Selbstständigen erreichte Ende 1995 mit rund 208.000 ihren Höhepunkt, sank allerdings seit der Einführung von Einkommenssteuern für privatwirtschaftliche Tätigkeiten im März 1996 wieder ab. Gegenwärtig sind etwa 160.000 Personen gemeldet, die als Straßenverkäufer, Taxifahrer, Handwerker oder in einem anderen privatwirtschaftlichen Bereich tätig sind.
Zeitgleich mit der Erweiterung der trabajo por cuenta propia wurde die Landwirtschaft reformiert, um die eingebrochene landwirtschaftliche Produktion wieder zu erhöhen. Man entschloss sich, einen Teil der Staatsfarmen in selbstständige Kooperativen, die Unidades Básicas de Producción Cooperativa (UBPC), umzuwandeln. Doch obwohl mittlerweile mehr als 40 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche von UBPCs bewirtschaftetet wird, blieben die erhofften Erfolge bisher aus.
Ein Jahr nach den agrarstrukturellen Veränderungen öffneten die ersten nicht-staatlichen Agrarmärkte (mercados agropecuarios), auf denen Staatsbetriebe, Kooperativen und Kleinbauern ihre über das Plansoll hinaus produzierten Güter zu freien Preisen vermarkten dürfen. Diese Reformmaßnahme ist ebenfalls kontrovers diskutiert worden. Denn schon in den 80er Jahren gab es Bauernmärkte, die aber wieder geschlossen wurden, weil die Parteiführung eine „Bereicherung“ der Zwischenhändler nicht akzeptierte. Doch vor dem Hintergrund der balsero-Krise des (Spät-)Sommers 1994, in der mehr als 30.000 Menschen auf selbst gebauten Flössen versuchten, die Küste der USA zu erreichen, mussten der Bevölkerung gewisse Zugeständnisse gemacht werden.
Die Reformbestrebungen der kubanischen Regierung beschränkten sich nicht nur auf den binnenwirtschaftlichen Bereich. Außenwirtschaftlich galt es, Kuba nach dem Wegfall des RGW-Handels in den Weltmarkt zu integrieren, ein Vorhaben, das auf Grund der seit Beginn der 60er Jahre bestehenden und in den 90er Jahren noch zwei Mal verschärften Wirtschaftsblockade der USA erheblich erschwert wurde. Einerseits mussten die zu großen Teilen ineffizienten kubanischen Industriebetriebe wettbewerbsfähig gemacht und andererseits Handelspartner im Ausland gefunden werden. Der Schlüssel zur Lösung dieser beiden Probleme war die Öffnung des Landes für ausländische Investoren, die über das Kapital zur Umgestaltung bestehender oder den Aufbau neuer Unternehmen verfügten. Auch das marktwirtschaftliche Know-how und die internationalen Geschäftsbeziehungen der ausländischen Geschäftspartner waren zur Positionierung kubanischer Exportprodukte auf dem Weltmarkt unerlässlich. Um Investoren ins Land zu holen, schuf man ein neues Investitionsgesetz, das als eines der liberalsten in Lateinamerika gilt. Als flankierende Maßnahmen wurde der Außenhandel entflochten, das Bankenwesen reformiert, neue Zollregelungen verabschiedet, Freihandelszonen geschaffen sowie zahlreiche bilaterale Investitionsschutzabkommen abgeschlossen.
Das günstige Investitionsklima in Kuba führte zum raschen Anstieg der ausländischen Investitionen auf der Insel. Gab es 1988 lediglich zwei Abkommen mit ausländischer Kapitalbeteiligung, so waren es im Jahr 2000 bereits 394 mit einem Investitionsvolumen von fünf Milliarden US-Dollar. Die meisten dieser Abkommen sind in der Industrie oder im Tourismus, dem Schlüsselsektor der kubanischen Wirtschaft, angesiedelt. Bisher haben vor allem spanische, kanadische und italienische Firmen in Kuba investiert, aber auch Unternehmen aus Frankreich, Großbritannien, Mexiko und Venezuela engagieren sich verstärkt auf der Insel. Mittlerweile werden ganze Wirtschaftssektoren vollständig von Unternehmen mit ausländischer Kapitalbeteiligung beherrscht, wie beispielsweise die Förderung von Erdöl und metallischen Rohstoffen, die Produktion von Petroleum, die Herstellung von Seife und anderen Körperpflegemitteln sowie der Telekommunikationssektor. Auch in der Nickel- und in der Zementerzeugung spielt ausländisches Kapital eine wichtige Rolle. Ein Ausverkauf Kubas steht jedoch nicht zu befürchten, da die meisten Auslandsinvestitionen in Form von Joint Ventures getätigt werden. An diesen gemischten Unternehmen sind quasi-staatliche kubanische Firmen beteiligt, die über alle Maßnahmen mitbestimmen. Zudem muss jede ausländische Investition vom Wirtschaftsministerium genehmigt werden.

Nachlassender Reformdruck im Zuge der wirtschaftlichen Konsolidierung

Aus makroökonomischer Sicht ist die kubanische Reformpolitik außerordentlich erfolgreich gewesen. Nach dem dramatischen Einbruch der Wirtschaft zu Beginn der 90er Jahre war 1994 erstmals wieder ein Wirtschaftswachstum zu verzeichnen. In diesem Jahr stieg das BIP um 0,7 Prozent, im Folgejahr um 2,5 Prozent und 1996 sogar um stolze 7,8 Prozent. Die schwierigste Etappe schien überwunden zu sein, sodass der Druck zur weiteren Umgestaltung der Wirtschaft nachließ. Reformen wurden seitdem nur noch im außenwirtschaftlichen Sektor realisiert. Im Inneren begannen sich wieder orthodoxe, dem Reformkurs kritisch gegenüberstehende Kräfte durchzusetzen. Der Armeegeneral und Verteidigungsminister Raúl Castro, der Bruder Fidels, initiierte eine ideologische Kampagne gegen die cuentapropistas (Selbstständige im Rahmen der trabajo por cuenta propia), die seither dem pauschalen Vorwurf der Bereicherung und des antisozialen Verhaltens ausgesetzt sind. Um dem „Anwachsen des Lumpenproletariats und der Kriminalität“ begegnen zu können, wurde die Polizei technisch aufgerüstet: 100.000 neue Polizisten, die zeitweise an jeder Straßenecke postiert sind, kontrollieren vor allem junge, schwarze, männliche Kubaner. Darüber hinaus verschärfte man das Strafrecht. Seitdem werden schon geringe Vergehen drastisch bestraft (z. B. vier bis zehn Jahre Freiheitsentzug für das illegale Schlachten einer Kuh).
Den positiven Konjunkturverlauf, der sich Mitte der 90er Jahre abzeichnete, beeinflusste die allgemeine Verschlechterung des innenpolitischen Klimas nicht. Seit 1997 stieg das Bruttoinlandsprodukt um durchschnittlich 3,9 Prozent pro Jahr. Solche Daten dürfen jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass die kubanische Wirtschaft nach wie vor mit diversen Problemen zu kämpfen hat. Eines davon ist der Mangel an Arbeitsplätzen. Obwohl das Recht auf Arbeit in Kuba verfassungsmäßig garantiert ist, lag die Arbeitslosenquote im letzten Jahr bei 5,5 Prozent. Nach offiziellen Angaben stehen im Zuge der Schließung oder Umgestaltung unrentabel arbeitender Staatsbetriebe Massenentlassungen an, die bis zu 20 Prozent aller kubanischen Beschäftigten betreffen könnten. Bisher ist darauf verzichtet worden, sodass die Betroffenen zwar ihren Arbeitsplatz behalten, jedoch keine Arbeit haben. Gegenwärtig sind etwa 800.000 Arbeitnehmer unterbeschäftigt.

Kubas Wirtschaft heute

In der letzten Dekade ist die kubanische Ökonomie komplett umgekrempelt worden. Traditionell basierte sie auf der Erzeugung und Ausfuhr von Zucker. Noch 1990 entfielen 80 Prozent aller Exporteinnahmen bzw. 75 Prozent der Deviseneinnahmen auf Zucker und dessen Derivate. Doch in der período especial war die Produktionsleistung der 80er Jahre von durchschnittlich 7,5 Millionen Tonnen Rohzucker pro Jahr nicht mehr zu erreichen. Die Ernten der 90er Jahre erbrachten im jährlichen Durchschnitt nur noch 4,5 Millionen Tonnen, ein Rückgang von 40 Prozent. Dementsprechend sanken die Einnahmen aus dem Zuckerexport ab und erreichten 1999 mit knapp 463 Millionen US-Dollar einen historischen Tiefstand. Die Exporterlöse von Nickel, Tabak und Fischerzeugnissen, die bedeutendsten Exportprodukte nach dem Zucker, sind im vergangen Jahrzehnt zwar gestiegen oder zumindest einigermaßen stabil geblieben, konnten jedoch den Rückgang beim Zucker nicht kompensieren. Nur noch etwas mehr als ein Drittel der Deviseneinnahmen entfallen auf den Export kubanischer Waren.
Der Einbruch der Exporterlöse wurde durch zwei Faktoren aufgefangen: durch den massiven Ausbau des Tourismus und durch den zunehmenden Geldtransfer der Exilkubaner. Schon 1994 war der Tourismus zum wichtigsten Devisenbringer Kubas aufgestiegen. Seitdem haben sich die Brutto-Einnahmen aus dem Fremdenverkehr, die 1999 bei 1,9 Milliarden US-Dollar lagen, mehr als verdoppelt. Dies war nur auf Grund des (z.T. durch ausländische Investoren finanzierten) massiven Ausbaus der Hotel- und Bettenkapazität möglich, wodurch die Besucherzahl in den 90er Jahren nahezu verfünffacht werden konnte. Im laufenden Jahr rechnet man erstmals mit mehr als zwei Millionen Gästen.
Fast ebenso rasant wie die Einnahmen aus dem Tourismus haben sich die remesas entwickelt, durch die mittlerweile mehr Devisen ins Land kommen als durch den Zuckerexport. Ihre Höhe wird auf mindestens 800 Millionen US-Dollar im Jahr geschätzt. Wenn man allerdings bedenkt, dass die Geldüberweisungen hauptsächlich von den Exilkubanern aus Florida kommen, die nicht gerade für ihre Castro-freundliche Einstellung bekannt sind, wird die Verletzbarkeit der kubanischen Wirtschaft deutlich. Im Falle einer drastischen Reduzierung des privaten Geldflusses aus den USA wäre ein ökonomischer Kollaps vorprogrammiert. Und auch der Fremdenverkehr ist ein sensibler Bereich, da sich Urlauber durch politische Unruhe oder gar Anschläge auf touristische Einrichtungen schnell von einem Besuch der Insel abschrecken lassen würden.
Insgesamt schlugen sich der Bedeutungsverlust der klassischen Exportprodukte und die wachsende Bedeutung von Tourismus und remesas in der Dollarisierung des Landes nieder. Immer mehr Bereiche des Wirtschaftsprozesses werden vom Dollar durchdrungen, sei es in Bezug auf geschäftliche Vereinbarungen zwischen staatlichen Firmen und Institutionen oder hinsichtlich des Endverbrauchs. Das Ergebnis dieses Prozesses ist die Transformation einer sozialistischen, in den RGW eingebundenen Zentralverwaltungswirtschaft zu einer dualen Ökonomie, deren eines Segment im planwirtschaftlichen Bereich verharrt, während deren anderes Segment auf den Weltmarkt ausgerichtet ist.

Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse der Bevölkerung

Die Dualität der Ökonomie färbt auch auf den Alltag der kubanischen Bevölkerung ab. Jeder einzelne Haushalt ist sowohl in das Devisensegment und damit in das nicht-staatliche Segment der kubanischen Wirtschaft eingebunden, als auch in das „sozialistische Segment“, also in denjenigen Teil, in dem der Staat, der nach seinem Selbstverständnis sozialen Zielen verpflichtet ist, kostenlose oder kostengünstige Güter und Dienstleistungen zur Verfügung stellt. Zu dem sozialistischen Segment gehören die schulische und universitäre Bildung sowie die medizinische Versorgung, wenngleich in jüngerer Zeit immer mehr Medikamente von den Patienten in harter Währung gekauft werden müssen. Die staatliche Wohnungspolitik führte dazu, dass sich mittlerweile 80 Prozent des Häuser- und Wohnungsbestandes im Besitz der jeweiligen Bewohner befinden. In den anderen Fällen sind die Ausgaben für Unterkunft vergleichsweise gering, da die Mietzahlungen gesetzlich auf zehn Prozent des Haushaltseinkommens begrenzt sind und in einigen Wohnungen sogar ganz wegfallen. Auch die Wohnnebenkosten für Strom, Gas, Wasser, Abwasser und ähnliche Posten bewegen sich in einem moderaten Rahmen.
Eine besondere Form der sozialen Unterstützung ist die bereits in den 60er Jahren eingeführte libreta, ein Bezugsheft für rationierte Waren. Die libreta steht unabhängig von Einkommen und tatsächlicher Bedürftigkeit jedem ständig auf der Insel lebenden kubanischen Staatsangehörigen zu. Auch wenn Menge und Qualität der zugeteilten Produkte in der período especial stark zurückgegangen sind, bietet die libreta nach wie vor einen Grundstock für die Versorgung der Bevölkerung. Die libreta ist hochsubventioniert. Für alle Produkte zusammen fallen monatlich Kosten von lediglich 15 bis 20 Pesos pro Person an. Allmonatlich stehen jedem Kubaner etwa sechs Pfund Zucker, sechs Pfund Reis, fünf Pfund Brot, ein Pfund Hülsenfrüchte, ein drei viertel Pfund Salz und 170 Gramm mit getrockneten Erbsen verlängerter Kaffee zu. In unregelmäßigem Rhythmus kommen hinzu: Obst und Gemüse der Saison, Speiseöl, Nudeln, Kekse, Kartoffeln, Eier, Fisch sowie Fleisch und mit Soja gestreckte Fleischprodukte (viele Kubaner sprechen schon von soyalismo anstatt von socialismo). Für Kinder, Alte und Kranke gibt es Sonderrationen. Verschiedene Non-food-Produkte ergänzen das Angebot, wobei vor allem Körperpflegeartikel und Waschmittel Mangelware sind. Gegenwärtig werden durch die libreta pro Person und Tag 1.130 kcal zur Verfügung gestellt. Die libreta deckt damit rund 63 Prozent des von der FAO ermittelten durchschnittlichen Mindestenergiebedarfs des Menschen und in etwa die Hälfte des tatsächlichen Pro-Kopf-Kalorienverbrauchs auf der Insel ab.
Um die bestehende Kalorien- und vor allem Proteinlücke zu schließen und um die nicht durch die libreta abgedeckten Produkte des Grundbedarfs zu erwerben, ist die Bevölkerung auf das Angebot des nicht-staatlichen und des Devisensegments der kubanischen Ökonomie angewiesen. Lebensmittel werden hauptsächlich auf dem mercado agropecuario (Markt mit Agrarprodukten) oder auf dem Schwarzmarkt erworben, Hygieneartikel und Kleidung sowie bestimmte Lebensmittel vornehmlich im Dollarshop gekauft. Die Preise dort sind im Verhältnis zum Lohnniveau extrem hoch. Beispielsweise kostet eine Flasche Sonnenblumenöl im Dollarshop 2,40 US-Dollar, was in etwa 50 Pesos oder 23 Prozent des kubanischen Durchschnittslohns (221 Pesos pro Monat) entspricht. Auf Grund des hohen Preisniveaus in den Dollarshops, auf den mercados agropecuarios und auf dem Schwarzmarkt reicht der Arbeitslohn der staatlichen Angestellten kaum noch für das Nötigste.
Vor diesem Hintergrund sind viele Kubaner gezwungen, zusätzliche Einkünfte zu erzielen. Dies ist sowohl im staatlichen als auch im nicht-staatlichen Bereich möglich. Im staatlichen Bereich setzt man in bestimmten, für die kubanische Ökonomie besonders bedeutenden Sektoren in zunehmendem Maße Prämien ein. Die Prämien werden beim Überschreiten eines festgesetzten Plansolls in Devisen oder in Naturalien (typischerweise Produkte wie Shampoo, Seife oder Speiseöl) ausgezahlt. 1999 profitierten etwa anderthalb Millionen Arbeitnehmer vom Prämiensystem. Der durchschnittliche Wert der Prämien lag bei 10,50 US-Dollar pro Monat, sodass die zusätzlichen Zahlungen zwar niemanden reich machten, aber einen wichtigen Beitrag zur Deckung des Grundbedarfs leisten konnten. Eine andere Möglichkeit ist die Ausübung einer Nebentätigkeit, zum Beispiel als Wächter. Vor allem Rentner machen davon Gebrauch, da 60 Prozent der Rentenbezieher über weniger als 100 Pesos im Monat verfügen. Besonders begehrt sind außerdem die etwa 70.000 Arbeitsplätze im Tourismussektor, denn die in diesem Bereich anfallenden Trinkgelder übersteigen die Gehälter um ein Vielfaches.
Im nicht-staatlichen Sektor gibt es eine ganze Reihe von Einkunftsmöglichkeiten. Hier sind zunächst die cuentapropistas zu nennen. Verschiedene Studien ergaben, dass Selbstständige ein durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen erwirtschaften, das drei bis fünf Mal so hoch liegt wie der Durchschnittslohn im Staatssektor. Dabei hängt die Verdienstmöglichkeit sehr von der jeweils ausgeübten Tätigkeit ab. Während „Berufe“ wie Feuerzeugauffüller oder Palmenstutzer zu den unteren Einkommensgruppen privatwirtschaftlich Tätiger zählen, gehören Taxifahrer oder Betreiber von privaten Kleinstrestaurants (paladares) zu den Spitzenverdienern. Monatliche Einkünfte von 20.000 Pesos und mehr sind in diesen Bereichen keine Seltenheit. Auch der informelle Sektor bietet zusätzliche Verdienstmöglichkeiten. Die meisten Kubaner gehen in irgendeiner Form informellen Geschäften nach, sei es, dass sie an ihrem Arbeitsplatz im staatlichen Sektor etwas „abzweigen“ können, um es zu verkaufen, dass sie unter der Hand bezahlte Dienstleistungen erbringen oder dass sie ohne Lizenz im privatwirtschaftlichen Sektor arbeiten. Eine besondere Form der nicht-staatlichen Zusatzeinkünfte sind die remesas, deren Höhe je nach den wirtschaftlichen Möglichkeiten der Verwandten im Ausland zwischen wenigen und einigen hundert Dollar im Monat schwankt.
Betrachtet man den einzelnen Haushalt, so ist eine Diversifizierung der Einkunftsquellen zu beobachten. Es gibt kaum noch Familien, die ausschließlich von ihrem Einkommen aus dem staatlichen Sektor leben können. Nach einer in 140 kubanischen Haushalten durchgeführten Befragung übersteigen die Zu-satzeinkünfte aus remesassowie informeller oder privatwirtschaftlicher Tätigkeit das reguläre Einkommen im Durchschnitt um das Doppelte. Damit wird bezahlte Lohnarbeit zunehmend unbedeutender.
Die Konsequenzen dieser Entwicklung sind weit reichend. Die Tatsache, dass ein Kellner oder Taxifahrer ein Vielfaches von dem Lohn eines Arztes oder Lehrers verdient, führt zur Umkehrung der kubanischen Sozialpyramide. Vor diesem Hintergrund stellen sich vor allem Jugendliche die Frage, ob sich eine Qualifizierung durch Ausbildung oder Studium überhaupt lohnt, da man beispielsweise mit Schwarzmarktgeschäften ein viel besseres Auskommen hat als in einem richtigen Beruf. Gleichzeitig kommt es unter den Berufstätigen vermehrt zur Abwanderung von Fachkräften in diejenigen Bereiche, in denen gute Verdienste locken. Nicht wenige gut ausgebildete Kubaner gehen ins Ausland. Die langfristigen Folgen dieses Braindrain für die kubanische Wirtschaft sind noch nicht abzusehen.
Insgesamt hat die wirtschaftliche Umgestaltung des Landes dazu geführt, dass die einstmals egalitäre kubanische Gesellschaft heute einem stärkeren Differenzierungsprozess ausgesetzt ist. Die Schere zwischen Arm und Reich beginnt sich zu öffnen. Den neuen Pesomillionären aus dem privatwirtschaftlichen Sektor und den Empfängern von remesas stehen diejenigen gegenüber, die ihr Auskommen hauptsächlich im staatlichen Sektor suchen müssen. Nach kubanischen Angaben hatten 1999 38 Prozent der Kubaner keinen Zugang zu Devisen. Zu ihnen gehören vor allem Schwarze, die nur in seltenen Fällen Verwandte im Ausland haben, und allein stehende alte Menschen. Ob diese Gruppe irgendwann vom sozioökonomischen Fortschritt abgekoppelt und sich Kuba zu einer klassischen Zweidrittel-Gesellschaft entwickeln wird, hängt nicht zuletzt davon ab, in welchem Maße sich die kubanische Wirtschaft weiter erholen und wann die período especial endlich überwunden werden kann. Dem Ziel der Verantwortlichen, dass die Bevölkerung ihr Einkommen wieder vermehrt durch Arbeit erzielt statt durch den Geldtransfer aus dem Ausland oder durch irgendwelche informellen Aktivitäten (vgl. das Interview mit Juan Triana in diesem Heft), kommt hinsichtlich der Nivellierung der Lebensverhältnisse und der Vermeidung von Armut und sozialer Ausgrenzung eine Schlüsselrolle zu.

Weiterführende Literatur:
Burchardt, H.-J.: Kuba – der lange Abschied von einem Mythos. Stuttgart 1996 (ISBN 3-89657-600-3; 29,80 DM).
Burchardt, H.-J.: Kuba – im Herbst des Patriarchen. Stuttgart 1999 (ISBN 3-89657-602-X; 29,80 DM).
Bähr. J. und S. Widderich (Hrsg.): Vom Notstand zum Normalzustand – eine Bilanz des kubanischen Transformationsprozesses. Kiel 2000 (Der Sammelband enthält drei deutsche und fünf spanischsprachige Beiträge. ISBN 3-923887-45-0; 22,20 DM).

„Lügen Sie nicht, Herr Präsident!“

Zu Beginn der zweiten Augustwoche, nach einem Treffen zwischen Regierung und ELN in Venezuela, verkündete der kolumbianische Präsident Andrés Pastrana das Ende der Gespräche mit der ELN, da die Organisation keinen „wirklichen Friedenswillen“ zeige. Zuvor hatte die kolumbianische Regierung 18 Monate lang jede ihrer Zusagen gegenüber der ELN gebrochen, woraufhin die Guerilla im März ihrerseits die Gespräche aussetzte. Pastrana erklärte, dass beim Treffen in Venezuela die ELN, nachdem alles nahezu geregelt war, plötzlich neue Forderungen gestellt habe, wodurch der von seiner Regierung initiierte Friedensprozess zusammen gebrochen sei.

Hinhaltetaktik der Regierung

„Lügen Sie nicht, Herr Präsident“ betitelte daraufhin die ELN ein von den fünf höchsten Comandantes unterschriebenes Kommuniqué und zerstreute damit auch gleich alle Gerüchte über vermeintliche Differenzen innerhalb der Guerilla. In dem Kommuniqué stellte die ELN zugleich klar, die Regierung Pastrana habe entgegen ihrer Aussagen niemals einen Friedensprozess mit der ELN begonnen.
Vor dem letzten Treffen hatte die Regierung versprochen, das acht Monate alte Abkommen von Havanna endlich zu erfüllen. In ihm hatte sie sich zur Entmilitarisierung der von der ELN geforderten Zone verpflichtet. Auch hatte sie sich festgelegt, in dem Gebiet keine weiteren vermeintlichen Drogenpflanzungen aus der Luft zu besprühen, sondern für eine manuelle Beseitigung der Kokapflanzen zu sorgen. Doch stattdessen begann schon kurze Zeit später unter dem Titel „Operación Bolívar“ eine große Offensive des Militärs in dem zu entmilitarisierenden Gebiet (siehe LN 323).
Beim Treffen in Venezuela aber wollte die Regierung davon nichts mehr wissen. Stattdessen wollte sie die Größe der zu entmilitarisierenden Zone reduzieren, sie verlegen oder alle Gespräche im Ausland abhalten. Das Treffen ging so ergebnislos zu Ende.

Haftbefehle gegen ELN-Comandantes erneuert

Die ELN erklärte sich zu Gesprächen mit dem nächsten kolumbianischen Präsidenten, der im März kommenden Jahres gewählt werden soll, bereit und kündigte verstärkte Aktionen an. Die Regierung ihrerseits erneuerte die Haftbefehle gegen verschiedene ELN-Mitglieder, die während der Gespräche ausgesetzt worden waren, verschärfte die Haftbedingungen für die zwei ELN-Comandantes Francisco Galán und Felipe Torres. Auch kündigte sie eine erneute Militäroffensive gegen die Guerilla an.
Die Aktionen der ELN ließen nicht lange auf sich warten. In der ersten Woche schon wurden meh-rere Ortschaften in verschiedenen Regionen Kolumbiens besetzt, die dortigen Polizeizentralen angegriffen und eine Bank ausgeraubt. Auf die wichtigste Erdölpipeline des Landes wurde ein Anschlag verübt und neun Hauptstrommasten um Medellín gesprengt, wodurch auch die Stromzufuhr für die U-Bahn unterbrochen wurde. Einheiten der ELN blockierten die wichtigsten Verbindungsstraßen Kolumbiens – darunter die von Medellín nach Bogota –, verbrannten an mehreren Orten zahlreiche LKW’s, entführten mindestens acht Soldaten und Polizisten und töteten bei Gefechten etwa ebenso viele. Bombenanschläge auf Geldinstitute und die Energieversorgung in Medellín folgten, was zum Stromausfall in weiten Teilen der Stadt führte. Weitere Anschläge und Angriffe im Nordosten des Landes folgten. In anderen Regionen kam es auch wieder zu gemeinsamen Militäraktionen der Revolutionären Bewaffneten Streitkräfte FARC und ELN.
Die Regierungstruppen verstärkten seit Mitte August ihre Offensive gegen die beiden Guerillas. Neben der ehemals der ELN zur Entmilitarisierung zugesagten Zone sind vor allem einige Departements mit starker FARC-Präsenz in den Provinzen Guaviare, Guainía, Meta und Vichada im Südosten des Landes von der Militäroffensive betroffen.
Die Armee hat dort nach eigenen Angaben mit etwa 6.000 Soldaten, von denen mehr als ein Viertel Spezialeinheiten angehören, etwas mehr als 2.000 Angehörige der FARC eingekreist. Diese seien von der entmilitarisierten Zone der FARC im Caguán in andere Regionen aufgebrochen. Bisher, so die Streitkräfte, seien nahezu 20 Guerilleros im Kampf getötet worden und etwa ebenso viele desertiert. Unter den Toten befindet sich auch Urías Cuéllar, der eine Spezialeinheit der FARC befehligte. General Carlos Fracica, Leiter der Operation, kündigte ein „massives Überlaufen“ der Guerilleros an, wenn „wir sie nicht gleich in schwarzen Säcken raustragen. Erst wenn der Block der FARC vernichtet ist, werden wir diese Region verlassen.“ In Meta habe die Luftwaffe bei Bombardements 17 Kämpfer der FARC getötet.
Die FARC bestätigte bisher nur den Tod eines ihrer Comandantes und sechs weiterer Soldaten. Die restlichen Angaben sind mit großer Vorsicht zu behandeln. Die Armee hat in der Vergangenheit immer wieder Erfolgsmeldungen erfunden. Auch die Ermordung von Bauern und ihre nachträgliche Präsentation als „im Kampf getötete Guerilleros“ gehört zur weit verbreiteten Armeepraxis.
Die FARC forderte die Regierung Pastranas mittlerweile in einem Brief auf, zu erklären, ob die Gespräche mit ihr seitens der Regierung eingestellt worden seien. Die Vertreter der Regierung waren am 16. August vor Beginn vereinbarter Gespräche ohne Angabe überstürzt abgereist. Die Regierung, die sich eine Woche lang bedeckt gehalten hatte, äußerte nun, die Gespräche seien so lange eingefroren, so lange die FARC drei Deutsche, Mitarbeiter der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), in ihrer Gewalt habe.

Remilitiarisierung gefordert

Währenddessen wird der Chor derer lauter, die die Aufkündigung der seit November 1998 von der Regierung für Gespräche mit der FARC entmilitarisierten Zone und eine Militäroffensive fordern. Allen voran beglückwünschte Carlos Castaño, Anführer der rechtsextremen Paramilitärs AUC, größter Drogenhändler des Landes und enger Verbündeter der Militärs, die Armee zu ihren Erfolgen und forderte eine intensivere Offensive gegen die FARC. Ohne explizit eine Aufkündigung der Zone zu fordern, wies auch ein Sprecher der US-amerikanischen Regierung auf einen „Missbrauch“ der Zone durch die FARC hin, die diese für Entführungen, Übergriffe und Drogenhandel nutze. Die USA hatten die Entmilitarisierung von Anfang an abgelehnt.
Indes war nach über einer Woche für eine 68 Personen große internationale Friedenskarawane das Umherirren vorbei. Der von Paramilitärs und Armee terrorisierten Bevölkerung im Süden der Region Bolívars, dem ursprünglich zu entmilitarisierendem Gebiet, konnten die mitgebrachten Hilfsgüter übergeben werden. Die Karawane war von den paramilitärischen Organisationen No al Despeje und Asocipaz an verschiedenen Stellen aufgehalten und massiv bedroht worden, mit der Begründung, es handele sich um ELN-SympathisantInnen.

Weniger schädlich als Putzmittel?

In der Region wurden auch die Besprühungen aus der Luft mit Glyfosat wieder aufgenommen, wie BäuerInnen und Gemeindeverwaltungen vermeldeten. Gleiches droht nun auch anderen Regionen Kolumbiens. Erst Ende Juli hatten verschiedene indigene Gemeinden einen Antrag auf Verbot der Besprühungen der Koka-Anbauflächen mit Glyfosat aus der Luft gestellt. Der zuständige Richter eines Zivilgerichts in Bogotá verfügte eine fünfzehntägige Aussetzung. Das war der US-amerikanischen Botschafterin in Kolumbien, Ann Patterson, Grund genug, anzudrohen dass das Ende der Besprühungen aus der Luft sofortige und verheerende Folgen bei der Unterstützung des Plan Colombia durch die USA haben werde. Die Drohung wirkte, und am Ende der ersten Augustwoche gab das Gericht wieder grünes Licht für die zerstörerischen Besprühungen: Es seien nicht die Besprühungen, die die Natur zerstörten, sondern der illegale Anbau und die weitere Verarbeitung der Koka-Blätter, so die Begründung. Der kolumbianische Justizminister Rómulo González befand sogar, Haushaltsputzmittel seien gesundheitsschädlicher als Glyfosat. Dabei führt das vom Chemiekonzern Monsanto unter dem Markennamen Round-up vertriebene Herbizid Glyfosat nachweislich zu schweren gesundheitlichen Schäden bei der betroffenen Bevölkerung, zur umfassenden Vernichtung jeglichen Anbaus und zur Verseuchung von Quellen und Gewässern.
Auch einige Gouverneure verschiedener Departements im Süden des Landes fordern seit einiger Zeit vergeblich, die Besprühungen einzustellen. Vergangene Woche schlug der Gouverneur von Tolima, Guillermo Alfonso Jaramillo, im Namen weiterer Gouverneure dem kolumbianischen Senat vor, zeitgleich zu den Parlamentswahlen im März 2002 eine Volksabstimmung über die Besprühung abzuhalten. Bezüglich der US-Drohung, die Gelder für den Plan Colombia zu streichen, meinte Jaramillo: „Es wurden mehr als 1,5 Milliarden Dollar für Hubschrauber und Waffen ausgegeben, was nicht das ist, was wir benötigen (…) Sie sollen doch mal das ganze Glyfosat in den USA auf die Marihuana-Felder kippen, mal sehen was sie dann denken.“

Drei IRA-Angehörige festgesetzt

Noch ein anderer Fall wühlt Kolumbien derzeit auf: Die Antiterror-Einheiten der kolumbianischen Armee verhafteten im Flughafen von Bogotá drei irische Männer, die mit falschen Pässen aus Kolumbien ausreisen wollten. Alle drei sollen laut Presseberichten und Angaben der britischen Behörden der IRA angehören. Sie seien mehrere Monate durch Lateinamerika gereist und hätten die vergangenen fünf Wochen in der entmilitarisierten Zone der FARC im Süden des Landes verbracht. In der kolumbianischen, britischen und irischen Presse wurde wild über die Hintergründe ihres Aufenthalts spekuliert. Die Ermittlungen der kolumbianischen Staatsanwaltschaft beziehen sich auf die gefälschten Personaldokumente und auf eine „Superbombe mit der Zerstörungskraft eines Atomsprengkörpers“, die die drei Iren für die FARC bauen sollten.
In der Medienkampagne geht es vornehmlich darum die Gefährlichkeit der FARC zu unterstreichen, indem sie mit der IRA – die in Kolumbien als besonders gefährlich gilt – in Verbindung gebracht wird. Es dauerte auch nicht lange, bis einige baskische NGO-MitarbeiterInnen in den Medien zu ETA-Mitgliedern wurden, die angeblich mit der ELN zusammen arbeiten.

Ölbohrungen eingestellt

Die einzige positive Nachricht aus Kolumbien dieser Tage ist, dass der große US-amerikanische Ölmulti Oxy angeblich die Probebohrungen auf dem Territorium der U’wa-Indígenas in den Andenausläufern im Nordosten Kolumbiens eingestellt hat. Offizieller Grund war, dass kein Erdöl gefunden wurde. Die U’wa leisteten über Jahre hinweg starken Widerstand gegen die Bohrungen, da sie das Land als heilig betrachten und die Umweltzerstörung und die Vernichtung ihrer Lebensgrundlage durch die Erdölkonzerne nicht zulassen wollen. Die Oxy, zu deren prominentesten AnteilseignerInnen der ehemalige demokratische US-Vizepräsident Al Gore gehört, sowie der spanische Ölmulti Repsol bedrohen mit vorgesehenen Probebohrungen auch andere Territorien der Indígenas in Lateinamerika.

„Wir sind bereit, der Guerilla Nachhilfeunterricht zu geben“

Viele indianische Gemeinschaften in Kolumbien leben mitten im Konfliktgebiet. Wie verhalten sich die bewaffneten Gruppen?

Der Krieg findet auf unserem Territorium statt und die bewaffneten Akteure marschieren ständig hindurch. Die Paramilitärs, die mit der Guerilla aufräumen wollen, suchen die Guerilleros bei uns. Es kommt immer wieder zu Zusammenstößen. Dann beschuldigen die FARC uns wieder, die Paramilitärs zu unterstützen und es kommt zu Vertreibungen.

Was ist die Ursache dieser Anschuldigungen?

Eine bewaffnete Gruppe kommt in das Dorf und bittet um Wasser oder Essen. Wenn du es ihnen verweigerst, dann gehörst du für sie zu den Gegnern. Gibst du es ihnen, dann kommen die anderen und bezichtigen dich der Kollaboration mit dem Feind. Es kommt auch vor, dass die Guerilla einen Indígena bittet, im Dorf einzukaufen. Im Dorf sitzen die Paramilitärs und passen genau auf, wie viel eingekauft wird. Wenn sie der Meinung sind, das ist mehr, als eine Familie braucht, dann nehmen sie den Unglücklichen fest. Wenn er sich weigert, wirft ihm die Guerilla vor, nicht zu kollaborieren. Wir ergreifen nicht Partei. Wenn die FARC einen von uns ermorden, dann protestieren wir öffentlich, wenn die Paramilitärs einen umbringen, genauso. Es gibt viele Tote und von vielen erfährt man gar nichts weil die Dorfgemeinschaft Angst hat und den Mord nicht anzeigt. Wir setzen uns für ein humanitäres Minimalabkommen ein. Mit den FARC hatten wir so ein Übereinkommen seit 1987. Aber das wird nicht mehr eingehalten. Oft werden Leute einfach auf Denunzierung umgebracht. Wenn es Probleme in der Familie gibt oder mit den Nachbarn, dann suchen manche nicht die friedliche Lösung, sondern gehen zur Guerilla oder zu den Paras und verleumden die Person.

Gibt es diesbezüglich Unterschiede zwischen FARC und dem Volksbefreiungsheer (ELN)?

In Antioquia ist das ELN kaum präsent. Wir hatten aber einige Gespräche. Bei einem Treffen mit NGOs in Costa Rica bekannte sich das ELN zur indianischen Autonomie. Aber es gibt trotzdem Probleme, wenn das ELN in indianischen Territorien operiert. Zum Beispiel bei den U’was in Arauca, wo es große Ölvorkommen gibt. Dann kamen auch die FARC und jetzt bekämpfen die beiden Guerillagruppen einander.

Im Jahre 1999 wurden drei Indigenisten aus den USA im U’wa-Gebiet von den FARC ermordet. Hängt dieses Verbrechen auch mit dieser Rivalität zusammen?

Ja, es geht um territoriale Herrschaft. Die FARC wollen das Gebiet dominieren, aber das ELN will sich nicht vertreiben lassen. Die Erklärung, die sie für den Mord gaben, war einfach, dass die Leute nicht um Erlaubnis gefragt hätten. Aber wem gehört das Territorium? Den U’was. So werden indianische Rechte und Traditionen mit Füßen getreten.

Bei den U’was geht es um Erdölinteressen. Offenbar haben FARC und ELN unterschiedliche Ansichten zur Erdölausbeutung im Konfliktgebiet.

Wir wollen mit der Guerilla darüber diskutieren, welches Entwicklungsmodell ihnen vorschwebt. Die Regierung sagt zum Beispiel, von 5000 Indios lassen wir nicht den Fortschritt der Nation aufhalten. Die U’was wehren sich gegen die Erdölbohrungen, daher gelten sie als Wirtschaftsfeinde. Welche Position würde die Guerilla vertreten, wenn sie an die Macht käme: würde sie unsere Kosmovision, wonach die Erde unsere Mutter ist, respektieren? Oder würde sie sich genauso verhalten, wie die jetztige Regierung? In der Verfassung von 1991 haben wir viel durchgesetzt: sie erkennt den multiethnischen und plurikulturellen Charakter der Nation an und definiert die indianischen Gebiete als territoriale Einheiten. Es wird auch garantiert, dass Abbau von Naturschätzen nur erlaubt ist, wenn keine indianischen, sozialen oder kulturellen Rechte verletzt werden. FARC und Regierung sprechen jetzt im Friedensdialog von einer neuen Verfassunggebenden Nationalversammlung. Wir wollen Garantien, dass eine neue Verfassung nicht hinter die von 1991, die mit vielen Mobilisierungen erkämpft wurde, zurückfällt.

Gibt es zur Ausbeutung der Ressourcen eine einheitliche Position?

Es gibt mehrere Positionen. Die U’was sagen, ihr Erdöl darf nicht ausgebeutet werden. Andere meinen, man kann sich einigen. Man will ja nicht als Fortschrittsfeind gelten. Aber die Erfahrungen auf der ganzen Welt sprechen für sich. Ich habe einmal den Bergbauminister gefragt, ob er mir ein Beispiel nennen kann, wo die Erdölausbeutung die Würde des Menschen gefördert hat. Die U’was haben erkannt, dass das Vordringen der Ölmultis ihren langsamen Tod besiegeln würde. Wenn ihr uns töten wollt, dann tut es lieber gleich, sagen sie und stellen den kollektiven Selbstmord in den Raum. In Caño Limón, wo die Macahuanes, die Ignú, die Guaibos und Sikuanis lebten, gab die Erdölgeselschaft eine Machbarkeitsstudie in Auftrag. Diese Studie besagte, dass es unmöglich sei, dort nach Erdöl zu bohren, denn der Río Arauca, der die Grenze zwischen Kolumbien und Venezuela bildet, überschwemmt das Gebiet jedes Jahr. Wenn das Hochwasser zurückgeht, bleiben dann Seen zurück, die das Land fruchtbar machen. Zuerst gibt es Fische, dann kann man anbauen und es gibt dort viel Wild. Die Ölgesellschaft ließ also eine Straße bauen, um diese heiligen Seen trockenzulegen. Die Macahuanes, Guaibos und Sikuanis verloren damit ihre Lebensgrundlage und mussten weg. Heute betteln sie in den Straßen von Arauca, wurden Alkoholiker, nehmen Drogen oder prostituieren sich. Wir sind nicht gegen den Fortschritt aber wir verlangen, dass der Fortschritt unsere Rechte respektiert.
Dieselbe Einstellung herrscht in der Gentechnologie. Da kam ein Gringo nach Panama und nahm einer Indigenen Blut ab. In seinem Labor fand er dann heraus, dass man damit Blutzucker kurieren kann und er ließ das Blut auf seinen Namen patentieren. Die Früchte seiner Entdeckung gehören also ihm, nicht der indigenen Frau oder ihrer Gemeinschaft. Für den weißen Mann heißt Fortschritt persönliche Verbesserung oder Reichtumsmehrung für einige wenige, einen Konzern. Er verwechselt Entdeckung mit Erfindung. Wir kritisieren das. Sollte sich herausstellen, dass mein Blut irgendeine Krankheit heilen könnte, würde ich es mit Freude der ganzen Menschheit zur Verfügung stellen. Niemand sollte dieses Blut als Privateigentum betrachten. Denn wenn mich einer fragt, wie alt ich bin, sage ich, dass ich Tausende von Jahren zähle. Ich bin nicht das Produkt von 40 Jahren sondern von Tausenden Generationen seit der Erschaffung des Universums. Dasselbe trifft auf das Saatgut zu. Die Weißen wollen sich das Saatgut aneignen und im Labor herstellen. Dann darf man seinen Mais nicht mehr selbst reproduzieren sondern muss das Saatgut irgendeinem Konzern abkaufen, der ihn patentiert hat. Ich habe versucht, mich in die Köpfe der Weißen hineinzudenken, aber es gelingt mir nicht. Wir denken kollektiv, nicht individuell. Für uns kann niemand Eigentümer einer Getreidesorte sein, nur die Menschheit. Wir glauben auch an den Fortschritt, aber wir denken, er soll den Menschen nützen und nicht den einen auf Kosten von anderen einen Vorteil verschaffen. Wenn schon nach Erdöl gebohrt werden soll, dann sauber. Ich weiß nicht, ob das geht. Aber man hat mir gesagt, in den USA, da wird viel sauberer gefördert.

Wie ist die Situation in anderen Ländern Lateinamerikas?

Ich war bei den Mapuches in Argentinien und war entsetzt. Die haben Ölbohrtürme auf ihrem Territorium. Das Öl verseucht ihr Wasser. Wenn sie trinken wollen, müssen sie erst das Öl ausfiltern. Sie haben Blei und Quecksilber im Blut. Wenn sich einer verletzt, verheilt die Wunde nicht. Wie ist es möglich, dass in diesem neuen Jahrhundert Menschen so leben müssen und von ihrer Regierung vergessen werden? Dasselbe passiert in Ecuador. Wenn unsere Regierung intelligent wäre, könnte Kolumbien ein Vorbild für Lateinamerika und die ganze Welt werden. Denn wir haben die indianischen Rechte in der Verfassung festgeschrieben.Nur müssen wir uns noch irgendwann hinsetzen und diskutieren: was heißt denn das, eine multiethnische und plurikulturelle Nation? Das fängt natürlich bei der Erziehung an. Wir müssen über die territorialen Abgrenzungen reden, denn die Einteilung der Provinzen entspricht nicht den natürlichen Grenzen. Dann stellt sich die Frage, ob die Großgrundbesitzer bereit sind, einen Teil ihrer Ländereien abzugeben. Das Problem in Kolumbien ist nicht der Krieg oder die Guerilla. Das Problem ist die soziale Lage. Die Regierung ist nicht im Stande, dieses Problem in den Griff zu bekommen und stiehlt. Warum ist denn eine Guerilla entstanden? Weil die Politiker nichts für die Bauern getan haben. Wir brauchen eine Agrarreform. Wir Indigenen sind nur zwei Prozent der Bevölkerung. Aber in Ecuador sind sie fast die Hälfte. Da stellen sie die Machtfrage. In Bolivien auch. In Kolumbien wollen wir nicht die Macht ergreifen, wir wollen gemeinsam mit den Schwarzen, den Bauern, den Frauen dieses Land verändern. Die schwierigste Arbeit ist die Herstellung dieser Einheit.
Vor ein paar Wochen gab es ein Treffen von 150 Anführern aus den Gewerkschaften, den Bauernorganisationen, den Frauen, den Schwarzen, Intellektuellen. Dabei kam zur Sprache, dass wir Kolumbianer keine Identität haben. Man spricht viel von Ethno-Erziehung. Aber darunter wird immer nur der Unterricht in den indianischen Gemeinden verstanden. Wir glauben, dass alle etwas zu lernen hätten. Zum Beispiel die vielen Mythen von der Entstehung der Welt und von den Tieren. Aber unsere Kinder hören noch immer die Märchen der anderen. Nichts gegen Rotkäppchen und Däumeling. Die sind auch wichtig. Aber warum schreibt niemand unsere Märchen auf und die der Schwarzen und bringt sie in allen Schulen in den Unterricht? Auch die mestizischen Campesinos haben ihre Geschichten. Hier geht es um die Schaffung einer Identität. Es ist ja noch immer so, dass der Bösewicht immer der Indio ist. Dieses Denken muss verändert werden. Und da sitzen Regierung und FARC am Verhandlungstisch und lassen diese Wirklichkeit außer Acht.

Du hattest ja schon oft mit Comandantes zu tun. Was sagen die?

Ich habe festgestellt, dass bei der Guerilla keine politische Bildung mehr betrieben wird. Sie haben sich militärisch verbessert aber wissen weniger. Ein Comandante, mit dem ich kürzlich sprechen konnte, der wusste nicht einmal, dass die indianischen Territorien laut Verfassung für ewige Zeiten unverkäuflich, unverletzlich und unpfändbar sind. Sie marschieren ständig hindurch aber wissen nicht, was das bedeutet. Wir sind bereit, der Guerilla in dieser Hinsicht Nachhilfeunterricht zu geben.

Und sie wollen euch in den Krieg hineinziehen?

Einer hat mir gesagt: wir können weiterreden, wenn du mir sagst, wie viele junge Männer du mir zur Verfügung stellst und wie viele Waffen ihr braucht. Ihre Position ist, dass wir im Krieg stehen und daher nicht über Identität, Spiritualität und Territorium reden können, sondern nur davon, wann wir in den Krieg einsteigen. Das habe ich auch immer beim so genannten Realsozialismus kritisiert: sie haben keinen Respekt vor den Unterschieden. Aus diesen Fehlern muss man lernen. Die FARC dürfen nicht dieselben Fehler begehen, wie die Sandinisten in Nicaragua oder die FMLN in El Salvador. Ein ehemaliger FMLN-Comandante hat mir gesagt, dass es jetzt mehr Tote gibt, als im Krieg, denn die soziale Frage wurde nicht gelöst. Wofür sind so viele gestorben? Was ist mit der Autonomie der Miskitos passiert, die sie unter den Sandinisten erkämpft haben? Es gibt sie nicht mehr. Wir indigenen Völker wollen verhandeln. Unsere einzigen Waffen sind die Zunge und die Gedanken. Die ersten politischen Pakte, die in Amerika geschlossen wurden, haben kolumbianische Indígenas mit den Engländern und den Spaniern ausgehandelt. Wir schmiedeten Allianzen mit den englischen Piraten. So kam ich zu meinem Nachnamen Green. Wir müssen doch auch im Stande sein, uns unter Kolumbianern zu verständigen.

Interview: Ralf Leonhard

Die Ein-China-Politik spaltet Lateinamerika

Ohne die zentralamerikanischen Verbündeten hätte Taiwans Präsident Chen Shui-bian keinen Vorwand für zwei öffentlichkeitswirksame Zwischenstopps in den USA gehabt.“ So kommentierte die angesehene Hongkonger Zeitschrift Far Eastern Economic Review die Lateinamerikareise des taiwanischen Präsidenten im vergangenen Mai. Im international weitgehend isolierten Taiwan galten Chens Zwischenstopps in New York auf dem Hin- und in Houston auf dem Rückweg als größte Erfolge seiner erst zweiten Auslandsreise. Noch im August 2000 genehmigte die damalige Clinton-Regierung Chen bei seiner ersten Reise einen Zwischenstopp nur mit der Auflage, sein Hotel in Los Angeles nicht zu verlassen und keine PolitikerInnen zu treffen. Die Regierung von George W. Bush, die gerade mit Peking um das in Hainan notgelandete US-Spionageflugzeug stritt, gönnte dem um internationale Anerkennung buhlenden Chen mehr Spielraum. Sie hatte nichts dagegen, dass er sich mit zahlreichen Kongressabgeordneten und New Yorks Bürgermeister traf.

Zwischenstopp in USA

Dass die Zwischenstopps in den USA gleich die ganze Reise nach Zentralamerika in den Schatten stellten, ist bezeichnend für Taiwans Verhältnis zu seinen lateinamerikanischen Verbündeten. Dabei besuchte Chen neben Guatemala, Honduras, Nicaragua, Panama und Paraguay immerhin den dritten zentralamerikanisch-taiwanischen Gipfel in San Salvador. Dort erwarteten die zentralamerikanischen Staats- und Regierungschefs von Taiwan mal wieder vor allem Geld. Denn alle sieben zentralamerikanischen Staaten erkennen statt der Volksrepublik China die Republik China an, so Taiwans offizieller Name. Das lassen sie sich von der Regierung in Taipeh mit Geldgeschenken und günstigen Krediten bezahlen. So baute Taiwan seinem verbündeten nicaraguanischen Präsidenten Arnoldo Alemán nicht nur einen neuen Präsidentenpalast in Managua, sondern auch gleich noch ein neues Außenministerium.
Taiwanische Firmen gehören zu den größten Investoren in Zentralamerika, wo das ostasiatische Land Exportproduktionszonen und Industrieparks finanzierte. Taiwan liefert seinen lateinamerikanischen Verbündeten vor allem Maschinen, Autoteile, Plastik, Schuhe und Fahrräder, während es von dort Leder, Fisch, Kaffee, Aluminium und Holz bezieht. Zentralamerika ist vor allem ein preiswertes Sprungbrett auf den nordamerikanischen Markt. So lässt in Nicaragua der taiwanische Textilkonzern Nien Hsing, dessen Firma Chentex wegen miserabler Arbeitsbedingungen und der Entlassung von GewerkschafterInnen für Schlagzeilen sorgte, Jeans und T-Shirts von 13.000 lokalen MitarbeiterInnen für Nordamerika nähen (siehe folgenden Artikel). Auch in El Salvador beschäftigen 32 taiwanische Firmen über 15.000 Menschen vor allem in Exportbetrieben. In dem von Erdbeben gebeutelten Land ist die Buddhist Compassionate Relief Tzu Chi Foundation, Taiwans größte Hilfsorganisation, zugleich eine der aktivsten ihrer Art.

Dollardiplomatie

Die lateinamerikanischen Beziehungen zu Taiwan datieren aus der Zeit des Kalten Kriegs. Schon damals wurden Taiwans Verbündete von autoritären antikommunistischen Regimen regiert, während auf der ostasiatischen Insel die Kuomintang diktatorisch herrschte. Die hatte bis 1949 auf dem chinesischen Festland die „Republik China“ regiert, mit der sie vor Maos KommunistInnen nach Taiwan floh. Bis 1971 vertrat Taiwan ganz China im UN-Sicherheitsrat. Doch nach dem Wechsel der UN-Mitgliedschaft zur Volksrepublik begann die Zahl der internationalen Verbündeten Taiwans kontinuierlich zu schrumpfen. Heute sitzt die Hälfte von Taiwans verbliebenen Freund in Zentralamerika, der Karibik sowie in Paraguay, dem einzigen Land Südamerikas, das noch keine Beziehungen zu Peking hat. Da die kommunistische Regierung in Peking Taiwan als abtrünnige Provinz betrachtet, wertet sie dessen diplomatische Anerkennung als Einmischung in innere Angelegenheiten, was als „Ein-China-Politik“ bezeichnet wird. Und weil Peking mit Vergeltungsmaßnahmen droht, erkennen heute nur noch 28 vor allem kleine Staaten Taiwan an. Die Anerkennung lassen sich Taiwans Freunde mit „Dollar-Diplomatie“ bezahlen.
Taiwan versucht seine Verbündeten auch militärisch zu unterstützen. So übergab Taiwan laut einem Bericht der Taipei Times kürzlich fünf ausgemusterte Transporthubschrauber an Paraguays Luftwaffe. Weitere Hubschrauber sollen folgen, wenn Taiwan selbst neue Helikopter aus den USA erhält. Taiwans hochgerüstetes Militär trainiert bei seinen lateinamerikanischen Verbündeten Sondertruppen oder bildet selbst lateinamerikanische Militärs in Taiwan aus. So schickt Taipeh jährlich zwei Militärpolizisten von einer Sondereinheit zur Terrorismusbekämpfung nach El Salvador, um dort die Leibwache des Präsidenten auszubilden. Und am taiwanischen Fuhsingkang Militärkolleg gibt es eine ganze Klasse von Rekruten aus Lateinamerika, über deren Größe in Taiwan offiziell Stillschweigen herrscht.
Im inzwischen demokratischen Taiwan regiert seit Mai 2000 mit Präsident Chen ein ehemaliger Menschenrechtsanwalt aus der früheren antidiktatorischen Opposition. Er hat verkündet, die „Dollar-Diplomatie“ durch „qualitätsvolle Beziehungen“ zu ersetzen, zumal Taiwan heute wirtschaftlich nicht mehr so glänzend dasteht wie noch vor wenigen Jahren. Doch mit dem dezenten Hinweis, wenn Taipeh nicht genug zahle, werde man die Anerkennung der Volksrepublik China erwägen, gelingt es den zur Korruption neigenden zentralamerikanischen Verbündeten immer wieder, Taiwans Abkehr von der Scheckbuchdiplomatie zu verhindern.

Peking hofiert Taiwans Verbündete

Schließlich sucht Peking auch die Zusammenarbeit mit den PartnerInnen Taiwans. So war eine Delegation der in Paraguay regierenden Colorado-Partei gerade in Peking eingeladen, als Taiwans Präsident Chen zum Staatsbesuch in Asunción weilte. Peking wirbt um Taiwans Verbündete mal freundlich wie zurzeit im Fall des strategisch wichtigen Panama, wo mit 120.000 ChinesInnen die größte chinesische Gemeinschaft Zentralamerikas lebt, oder mit massivem diplomatischen Druck wie vor einigen Jahren im Falle Guatemalas. Dort stimmte das UN-Sicherheitsratsmitglied China im Januar 1997 einer UN-Beobachtungsmission für Guatemalas Friedensprozess erst zu, als die Regierung in Guatemala-Stadt ein distanzierteres Verhältnis zu Taiwan versprach. Ähnlich war die Situation ein Jahr zuvor im Falle einer UN-Mission nach Haiti gewesen.
Auch lockt Festland-China mit Geld und Investitionen und vor allem einem wachsenden Handelsaustausch mit seinem riesigen Markt. Das Reich der Mitte bezieht Kupfer aus Chile, Getreide aus Argentinien, Eisenerz aus Brasilien und Wolle aus Uruguay. Im Gegenzug liefert die Volksrepublik vor allem preiswerte industrielle Produkte. Allein im vergangenen Jahr stieg der wirtschaftliche Austausch der Volksrepublik China mit Lateinamerika von 8,5 auf 12,6 Milliarden US-Dollar. China wird als Handelspartner für einzelne lateinamerikanische Länder wie zum Beispiel für Chile immer wichtiger – dort ist die Volksrepublik bereits der fünftgrößte Handelspartner und Präsident Ricardo Lagos empfahl sein Land als Chinas Tor nach Lateinamerika. Für die Wirtschaftsmacht China mit ihren über 1,2 Milliarden EinwohnerInnen macht der lateinamerikanische Handel aber nur drei Prozent ihres gesamten Außenhandels aus. Lateinamerika ist für Peking vor allem politisch wichtig, nicht zuletzt lässt sich hier der Status der wachsenden Großmacht ablesen.
Dies zeigte sich auch bei der zweiwöchigen Lateinamerikareise des chinesischen Staats- und Parteichefs Jiang Zemin im April, die sechs Wochen vor der Reise seines taiwanischen Rivalen stattfand. Jiang flog unbeirrt aus Peking ab, als sich das Verhältnis zu den USA wegen des kurz zuvor notgelandeten Spionageflugzeugs drastisch verschlechterte. Mit seiner Reise in eine Region, die von den USA traditionell als Hinterhof gesehen wird, demonstrierte Jiang Chinas gewachsenes Selbstbewusstsein. Fünf der sechs Länder, die Jiang besuchte, waren zudem Mitglieder der UN-Menschenrechtskommission. Die stimmte unmittelbar nach seiner Reise über einen chinakritischen Antrag der USA ab, wobei sich Pekings Position der Nichtbefassung klar durchsetzte.
Bei seiner Reise bot Jiang die Volksrepublik als Partnerin an, um den LateinamerikanerInnen zu helfen, ihre wirtschaftliche und politische Abhängigkeit von den USA zu mindern. Eins von Jiangs Lieblingsthemen war die von Peking favorisierte „multipolare Weltordnung“, in der Washingtons Hegemonie zu Gunsten Pekings reduziert werden soll. In Brasilia sprach Jiang denn auch ausdrücklich von einer „strategischen Partnerschaft“ mit Lateinamerikas größtem Land, die er mit seinem bereits zweiten Besuch dort unterstreichen wollte.

Hugo „Mao“ Chávez

Auf besonders offene Ohren stieß Jiang in Venezuela. In Caracas bezeichnte sich der populistische Präsident Hugo Chávez gegenüber Jiang gar als „Maoist“ und sprach von der chinesischen Revolution als der „älteren Schwester der venezolanischen Revolution“. Chávez schlug vor davon, dass chinesische BäuernInnen nach Venezuela kommen sollten, um die Agrarproduktion zu erhöhen. Dafür spendete ihm Jiang bereits einen 20-Millionen-Dollar-Kredit. Zudem liebäugelte der Ex-Fallschirmspringer Chávez, der ausdrücklich Chinas Position bei der Genfer Menschenrechtskommission sowie Pekings Olympiabewerbung unterstützte, mit dem Erwerb chinesischer Militärflugzeuge. Jiang vereinbarte den gemeinsamen Bau einer Anlage zur Herstellung des Schwerstöls und Kohleersatzes „Orimulision“. Die gesamte Produktion der ersten drei Jahre soll vom immer rohstoffhungrigeren China gekauft werden. Außerdem soll mit Hilfe chinesischer Firmen eine venezolanische Goldmine wiedereröffnet werden. Allein im Jahr 2000 hatten chinesische Firmen in Venezuela 530 Millionen US-Dollar investiert, und Chinas Handel mit dem Ölstaat stieg von 26,8 Millionen US-Dollar 1998 auf 218,8 Millionen im vergangenen Jahr.
Jiang zeigte seinen Gastgebern, dass er Lateinamerika auch persönlich ernst nahm. So hatte der 74-Jährige vor der Reise noch in einem Crashkurs Spanisch gelernt, um etwa im chilenischen Santiago einheimische Geschäftsleute mit einer 40-minütigen Rede in ihrer Sprache beeindrucken zu können. Demonstrativ äußerte sich Jiang während seiner Reise nur selten zum aktuellen Konflikt um das US-Spionageflugzeug, deren Besatzung China erst während seines Kuba-Aufenthaltes freiließ. Stattdessen genoss Jiang eine Kutschfahrt in Argentinien, ließ sich chilenische Weinbautechniken erklären und sang mit dem gleichaltrigen Fidel Castro Revolutionslieder.

Annäherung an Kuba

Kuba und China sind sich völlig einig in der Ablehnung der westlichen Menschenrechtspolitik. Jiang war im sozialistischen Bruderland Kuba ganz in der Gönnerrolle. Es war bereits sein zweiter Aufenthalt auf der Insel, und auch Fidel Castro und sein Bruder und möglicher Nachfolger Raúl waren selbst schon Gäste in China. Kuba hatte bereits vor 41 Jahren als erstes lateinamerikanisches Land Beziehungen zur Volksrepublik aufgenommen. Die entwickelten sich allerdings nicht so prächtig, da Kuba während der Zeit der chinesisch-sowjetischen Rivalität auf Seiten Moskaus stand, von dem es politisch, wirtschaftlich und militärisch abhängig war. Erst nach der Auflösung der Sowjetunion erhielten die Beziehungen zwischen Havanna und Peking neuen Schwung.
Heute zeugen in Kuba die allgegenwärtigen Fahrräder aus chinesischer Produktion davon, dass Peking ein Stück weit den alten Verbündeten Moskau ersetzt hat. Chinas Präsenz ist für Kuba vor allem wichtig in den Sektoren Landwirtschaft, Fischerei, Lebensmittel und Textilindustrie. Der bilaterale Handel stieg von 270 Millionen US-Dollar 1993 auf fast 500 Millionen im Jahr 1999. China gewährt Kuba Kredite von umgerechnet 820 Millionen Mark. 450 Millionen davon sind für die Modernisierung der Telekommunikation durch die chinesische Julong-Gruppe bestimmt. Für einen Kredit von 330 Millionen Mark kauft Kuba Fernsehgeräte der Panda-Gruppe. 50 Millionen Mark will Wanghai in ein Hotelprojekt an Havannas Malecón investieren.

USA: Kuba wird chinesischer Horchposten

Die USA unterstellen China, Kuba auch mit Waffen zu unterstützen. Wie die rechte Washington Times im Juni unter Berufung auf ihr nahe stehende Geheimdienstkreise meldete, hätten im vergangenen Jahr drei Schiffe der staatlichen chinesischen Cosco-Reederei Waffen in den kubanischen Hafen Mariel gebracht. Der Zeitung zufolge bestünden Pläne, Kuba zu einem chinesischen Horchposten auszubauen. James Kelly, der Direktor für ostasiatische und pazifische Angelegenheiten im US-Außenministerium, sagte bei einer Anhörung, die US-Regierung sei „sehr besorgt über die Zusammenarbeit der chinesischen Volksbefreiungsarmee mit Kuba und die Bewegung militärischer Ausrüstung nach Kuba.“
Bekannt war bisher, dass China technische Hilfe für kubanische Radaranlagen und Flugabwehreinrichtungen leistet. Ob eine militärische Unterstützung Kubas aber eine chinesische Retourkutsche für Washingtongs Waffenlieferungen an Taiwan sind, bleibt offen. Havanna und Peking dementierten umgehend die Berichte über Waffenlieferungen. Laut Fidel Castro hätten die drei Schiffe neben Uniformstoffen, Militärstiefeln und etwas industriellem Sprengstoff vor allem Reis und Bohnen geliefert – „Waffen gegen Hunger“, wie Castro süffisant feststellte.

KASTEN:
Nicaraguas Präsidentenpalast sponsored by Taiwan

Wenn Nicaraguas Präsident Staatsgäste empfängt, dann schüttelt er ihnen im „Raum der Republik China“ die Hände. Diesen Namen trägt die Empfangshalle des neuen Präsidentenpalastes in Managua. Das lachs- und gelbfarbene Gebäude wurde vergangenes Jahr eingeweiht. Republik China ist der offizielle Name Taiwans. Eine angebrachte Tafel verweist auf eine „großzügige Spende“ des taiwanischen Volkes. Nach Angaben des taiwanischen Botschafters in Managua belief sich die Spende auf weniger als 10 Millionen US-Dollar. Das war aber nicht alles. Eine Dankestafel mit Verweis auf Taiwan schmückt auch das neue Gebäude des nicaraguanischen Außenministeriums.

Ein-China-Politik in der Karibik

In der Karibik sind die Dominikanische Republik und Haiti sowie die Zwergstaaten Grenada, Dominica, St. Kitts und Nevis sowie St. Vincent und die Grenadinen die diplomatischen Verbündeten Taiwans. Die karibischen Offshore-Finanzzentren wie die Jungfern-Inseln und die Bermudas spielen die Rolle eines Kanals für politisch delikate Geldgeschäfte zwischen China und Taiwan. Die 18.000 EinwohnerInnen zählenden britischen Jungfern-Inseln haben im vergangenen Jahr nach Angaben des Pekinger Außenhandelsministeriums Moftec gar Taiwan und Singapur als externe Kapitalquelle für die Volksrepublik überholt und liegen nun an dritter Position hinter Hongkong und den USA. Der karibische Archipel steigerte seine Investitionen im Reich der Mitte um satte 106 Prozent auf knapp 7,6 Milliarden US-Dollar. Damit kletterte der Anteil an den ausländischen Direktinvestitionen in China von 0,8 Prozent 1995 auf knapp 10 Prozent in 2000. Aus den winzigen Jungfern-Inseln wurden somit in China bis Ende Februar halb so viele genehmigte Auslandsfirmen registriert wie aus der gesamten EU. Hinter der statistischen Finanzmacht der Jungferninseln stehen vor allem taiwanische Firmen, die unter Umgehung der strengen Kontrollen für Geschäfte mit dem Festland auf dem Umweg über die Karibik in der Volksrepublik investieren. Doch auch (Staats-)Firmen von dort nutzen die karibischen Finanzoasen, in dem sie durch Briefkastenfirmen Kapital über die Karibik wieder nach China zurückleiten. Dort gilt es dann als Auslandskapital und genießt Privilegien, die einheimschen Firmen in China nicht zustehen.

Springende Tiger und Bettvorleger

Wie würdest du den asiatischen Raum mit seinen politischen und ökonomischen Verflechtungen beschreiben?

Asien ist eine durch politische Spannungen und unterentwickelte regionale Kooperationsmechanismen gekennzeichnete Region. Das in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts viel diskutierte asiatische 21. Jahrhundert scheint sich nicht einzustellen. Die Asienkrise von 1997, mit ihren massiven Währungsturbulenzen, und die nun schon ein Jahrzehnt andauernde Stagnation in Japan haben den Erdteil auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Japan und China verstehen sich als regionale Hegemonialmächte, das Verhältnis zwischen den beiden potenziellen ökonomischen und politischen Riesen aber ist unterkühlt. Weder Japan, noch China haben in der Phase der Bewältigung der Asienkrise eine entscheidende Rolle gespielt. Hier zeigte sich, dass die führenden Länder der Region noch nicht einmal in der Lage waren, regionales Krisenmanagement zu organisieren, von globaler Führung also ganz zu schweigen. Die Reaktionen auf die Krise wurden aus Washington, von der US-Regierung und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) gesteuert.
Angespannt ist auch das Verhältnis zwischen Japan und Südkorea, die zwar ökonomisch eng verflochten sind, aber politisch noch immer nicht die kriegerischen Auseinandersetzungen der 40er Jahre bewältigt haben. Chronisch ist und bleibt der Konflikt zwischen Taiwan und China. Dennoch verfügt die Region über ein großes ökonomisches Potenzial. China wird schon wegen seiner schieren Größe ein weltwirtschaftliches Schwergewicht werden, auch wenn sein bisheriges Bruttosozialprodukt (BSP) noch weit unter dem des Mercosur in Südamerika liegt. Die neuen Industrieländer Südkorea, Taiwan, Singapur, und eingeschränkt auch Thailand, befinden sich nach dem Einbruch 1997/98 bereits wieder auf ökonomischem Wachstumskurs.
Weltpolitisch betrachtet bleibt die asiatische Region gegenüber der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA und der Europäischen Union zweitrangig. Die neuen Weichenstellungen zur Gestaltung der Globalisierung, wie die Weltbankreform, die Debatten um die Reform des IWF, die Weiterentwicklung der Welthandelsorganisation WTO, der internationale Menschenrechtsschutz und humanitäre Interventionen sowie die globale Klimapolitik werden von den asiatischen Ländern nicht nachhaltig beeinflusst. Die Asienkrise und die führende Rolle „des Westens“ in der akuten Phase der Krisenbekämpfung führen dazu, dass sich Asien auf sich selbst als Region zu besinnen beginnt. Rasche Ergebnisse sind auf Grund der politischen Spannungen in der Region nicht wahrscheinlich, und die Erwartung, dass die Asienkrise den Prozess der Verwestlichung der Region bescheunigt, wird nicht erfüllt. In den 80er und 90er Jahren haben Heerscharen westlicher BeobachterInnen zu verstehen versucht, worin das Erfolgsgeheimnis Japans und der Tigerstaaten bestehen könnte. In den asiatischen Newly Industrializing Countries galten die westlichen Ökonomien als „Old Declining Economies“.
Nach den Ernüchterungen der Asienkrise sind nun auch die asiatischen Länder auf der Suche nach ihrem „Dritten“ oder besser „Vierten Weg“ zwischen angelsächsischem Wirtschaftsliberalismus, kontinentaleuropäischer Marktwirtschaft und ihrem aus der Mode gekommenen Modell der staatlich gelenkten Marktökonomie. Die Region ist auf der Suche nach dem, was unter den Bedingungen der Globalisierung des 21. Jahrhunderts ein eigenständiges asiatisches Projekt ausmachen könnte.

Welche Rolle spielt in diesem Szenario Lateinamerika für den asiatischen Raum?

Lateinamerika ist vor allem eine Rohstoff- und Agrarexportregion. Dies gilt auch im Handel mit Asien. Holz, Holzchips für die Papierproduktion, Eisenerze und Nahrungsmittel werden insbesondere nach Japan und in die Schwellenländer geliefert. Aus japanischer Perspektive ist es opportuner, Holz aus Lateinamerika zu importieren, als die heimischen Wälder gegen den Widerstand der nationalen Umweltbewegung abzuholzen. Japan und die Tigerstaaten hingegen exportieren Technologien und Konsumgüter nach Lateinamerika. Aus lateinamerikanischer Perspektive sind jedoch die Technologieimporte aus den USA bedeutender als die aus Asien. In Zentralamerika sind japanische und südkoreanische Unternehmen in vielen Exportsonderzonen engagiert, in denen vor allem arbeitsintensive Produkte wie Textilien gefertigt werden.

Warum boomten in den so genannten Tigerstaaten wie Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur und Hongkong die Ökonomien, während sich viele Länder Lateinamerikas in der Spirale der Verschuldung wiederfanden?

Die Mehrzahl der lateinamerikanischen Ökonomien haben bis Ende der 80er Jahre das Konzept der binnenmarktorientierten Industrialisierung verfolgt. Abkopplung vom Weltmarkt war die Devise. Es bestand die Hoffnung, sich in geschützten Industrien langsam an das Produktivitäts- und Effizienzniveau in der Weltwirtschaft heranzuarbeiten. Nationale, vernetzte Industrien sollten hinter hohen Zollmauern entstehen. Die notwendigen Importe von Maschinen und Technologie wurden durch den Export der in Lateinamerika reichlich vorhandenen Rohstoffe und Agrargüter finanziert.
Die Industralisierung gelang in den meisten Ländern durchaus. Jedoch wurde die Produktivitätslücke zwischen der lateinamerikanischen Industrie und dem Weltniveau immer größer statt kleiner. Die lateinamerikanischen Industrien hatten sich, ähnlich wie die sozialistischen Ökonomien, von den globalen technologischen Lernprozessen abgekoppelt. Die Finanzierung der Industrialisierung durch Agrar- und Ressourcenexporte wurde immer schwieriger, zumal die Rohstoffpreise in der Weltwirtschaft schon seit vielen Jahren kontinuierlich sanken. Die binnenmarktorientierte Entwicklungsstrategie mündete deshalb in der Verschuldungs- und Stagnationsfalle.
Die ostasiatischen Schwellenländer Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur dagegen setzten seit den 60er Jahren auf Strategien selektiver Weltmarktintegration, unterstützt durch aktive Technologie- und Industriepolitiken. Zugleich schützten sie ihre Binnenmärkte vor übermächtiger Konkurrenz. Exportorientierung und Importsubstitution wurden also miteinander verkoppelt. Nicht die freie Marktwirtschaft und der Freihandel, sondern der gezielte Aufbau nationaler Wettbewerbsvorteile und eine strategische Handelspolitik waren entscheidend. So gelang es den Ländern, von arbeitsintensiven Industrien sukzessive in immer technologie- und wertschöpfungsintensivere Segmente vorzudringen. Das zeigt die Entwicklung des Bruttosozialprodukts pro Kopf der Bevölkerung. Ende der 50er Jahre betrug in Südkorea das BSP pro Kopf etwa 500 US-Dollar. In Argentinien war es gut 4000 US-Dollar und das Land gehörte damit zu den reichsten Ökonomien der Welt. Bis Ende der 80er Jahre stieg das BSP pro Kopf in Südkorea auf etwa 6000 US-Dollar, in Argentinien nur auf 4500 US-Dollar.
Die ökonomische Entwicklung der asiatischen Schwellenländer zeigt zweierlei: Die These des Ökonomen André Gunder Frank, nach der die Integration in die Weltwirtschaft a priori der entscheidende Motor der Unterentwicklung sei, hat sich nicht bewahrheitet. Die neoliberale Lehre von der unsichtbaren Hand des Marktes aber lässt sich am Beispiel Ostasiens ebenso wenig belegen.

Aber die ostasiatischen Staaten nahmen für ihre Industrialisierung ebenfalls große Kredite in Anspruch. Warum saßen sie letztlich nicht in der Verschuldungsfalle?

Schuld an der zunehmenden Verschuldung Lateinamerikas in den 80er Jahren war der Versuch, die Industrialisierung über Agrar- und Ressourcenexporte zu finanzieren. Langfristig konnte das nicht gut gehen. Je rascher die Industrie wuchs, desto größer wurde der Bedarf an Devisen, um Maschinen- und Technologieimporte zu finanzieren. Da die Industrie selbst kaum exportierte, blieb sie auf die Exporte des Agrarsektors angewiesen. Doch die Terms of Trade für Ressourcen- und Agrarprodukte verschlechterten sich kontinuierlich, so dass ein Preisverfall bei den Exporten mit steigenden Importpreisen bei den Industriegütern zusammenfiel.
Das Ergebnis dieser strukturellen Abhängigkeit der nationalen Industrien Lateinamerikas von den Primärgüterexporten führte jedoch nicht nur in die Verschuldungskrise, sondern verfestigte auch die politische Vorherrschaft der alten Agraroligarchien. Die Importsubstitution scheiterte nicht nur ökonomisch, sie blockierte auch die politische Modernisierung und Demokratisierung.
Die ostasiatischen Schwellenländer verschuldeten sich in den 70er und 80er Jahren ebenfalls. Doch die externen Kredite wurden erfolgreich zum Aufbau exportorientierter Industrien genutzt. So konnten die Devisen erwirtschaftet werden, um Zinsen und Tilgung zu finanzieren. Zugleich schwächte die Entstehung einer leistungsfähigen Industrie die Macht der Landbesitzer. Dieser Trend wurde in Taiwan und Südkorea noch durch Landreformen verstärkt. In der Asienkrise Ende der 90er Jahre gerieten auch die asiatischen Schwellenländer kurzfristig in Finanz- und Währungskrisen. Eine Ursache war, dass beispielsweise Südkorea sein Banken- und Finanzsystem zu rasch liberalisiert hatte, ohne entsprechende Regulierungssysteme aufzubauen. Die südkoreanische Krise führte zu einem massiven Kapitalabfluss aus allen ostasiatischen Schwellenländern, Währungskrisen waren die Folge.

Chile gilt als Musterschüler des Neoliberalismus. Warum wurde dort nach dem Putsch 1973 ein neues Wirtschaftsmodell derart brutal und autoritär durchgesetzt?

Als die Militärs1973 in Chile putschten, bestand nicht nur in den Denkfabriken und meisten Gesellschaften der Entwicklungsregionen Afrikas und Lateinamerikas, sondern selbst bei der Weltbank noch ein breiter Konsens hinsichtlich der Erfolgsträchtigkeit des Modells der Importsubstitution und der industriellen Binnenmarktorientierung. Ein neoliberales Modell konnte in dieser Phase nur autoritär durchgesetzt werden. Der chilenische Umbruch von einer stark staatlich gesteuerten Ökonomie zur Marktwirtschaft war brutal. Innerhalb weniger Monate wurden die dreistelligen Einfuhrzölle auf nahezu Null reduziert. Die gesamte Industrie kollabierte, mit all den sozialen Folgeerscheinungen. Eine solch radikale Öffnung ist wohl nur in einem autoritären Regime möglich, oder wenn riesige finanzielle Transfers die sozialen Folgen radikaler Deregulierung, Liberalisierung, Außenöffnung und drastischer Deindustrialisierung abfedern, wie im Fall der neuen Bundesländer in Deutschland. Die Einstellung gegenüber dem neoliberalen Modell änderte sich in Lateinamerika aber in den 90er Jahren. Die Verschuldungskrise und das offensichtliche Scheitern der protektionistischen Binnenmarktorientierung machten nun neoliberale Konzepte gesellschaftsfähig. Viele Menschen glaubten, der rücksichtslose Wirtschaftsliberalismus könne einen Ausweg aus der Krise weisen. Menem in Argentinien und Fujimori in Peru wurden trotz oder wegen ihres neoliberalen Kurses in den 90er Jahren in Wahlen bestätigt. Übrigens wird auch in Russland viel über den chilenischen Weg diskutiert.

Wie steht es um die Attraktivität der Mischung aus Neoliberalismus und Autoritarismus in Asien?

Man könnte den chinesischen Weg in die Weltwirtschaft in diese Richtung deuten. Die Vertiefung der Marktwirtschaft wird zunächst ohne Infragestellung der Einparteienherrschaft versucht. Doch es gibt gewichtige Unterschiede. In China finden zwar gewaltige ökonomische Veränderungsprozesse statt, aber nicht in der Geschwindigkeit, in der das unter dem Pinochet-Regime in Chile passierte.
Die asiatischen Tigerstaaten befinden sich nicht auf dem chilenischen Weg. In Südkorea und Taiwan haben wir es mit sich konsolidierenden parlamentarischen Demokratien zu tun, in denen sich sukzessive auch Zivilgesellschaften entwickeln. Singapur ist ein eher autoritärer Staat, aber sicher nicht zu vergleichen mit dem Terrorregime Pinochets. In Thailand stehen die Chancen für eine langsame politische Liberalisierung nicht schlecht. Indonesien hat demgegenüber mit großen internen Spannungen und den Folgen der Korruption des alten Regimes zu kämpfen, doch hier geht es nicht um eine Verfolgung des chilenischen Modells der 70er Jahre, sondern um ein chaotisches Krisenmanagement ohne wirtschaftspolitische Linie.

Die politischen und ökonomischen Eliten in Lateinamerika haben ihre Länder weitgehend geplündert oder ruiniert. Wie kann es weitergehen und welche markanten Unterschiede lassen sich zu den asiatischen Eliten feststellen?

Ein Zurück zum alten Nationalismus der Vergangenheit kann es nicht geben. Und wenn doch, dann nur um den Preis politischer und ökonomischer Regression. Die Krise des alten Nationalismus erschwert den ökonomischen und politischen Eliten ihr Geschäft, denn der Appell an die Nation und das Projekt des „Aufbaus nationaler Wirtschaften“ waren die Klammern, die über die enormen sozialen Ungleichheiten hinwegtäuschen sollten. In Lateinamerika zeigt sich durch die neue Wirschaftskrise seit Ende der 90er Jahre, dass die Demokratien weniger gefestigt sind, als viele in den wenigen Jahren ökonomischen Wachstums meinten. In Venezuela regiert ein Populist, der zugleich rassistische Kampagnen gegen die Nachbarstaaten anführt. In Argentinien werden in der Wirtschaftskrise die alten „lateinamerikanischen Krankheiten“ erneut sichtbar: die Korruption, die Missachtung parlamentarischer Regeln und die Instrumentalisierung der Justiz in der politischen Auseinandersetzung. In Peru lässt sich noch nicht absehen, ob der neue Präsident einen Weg findet, die Korruption, das desolate Justizsystem („para mis amigos todo, para mis enemigos la ley“ – „für meine Freunde Alles, für meine Feinde das Gesetz“) und die maroden öffentlichen Institutionen in den Griff zu bekommen. In fast allen Ländern Lateinamerikas gilt: die ökonomischen und politischen Eliten sind kleine Gruppen, oft abgekoppelt von den Problemen und Lebenswelten der Bevölkerung. Die soziale Mobilität ist gering. Die soziale Ungleichheit auf dem Kontinent wächst und damit die politische Instabilität. Entwicklungsorientierte Eliten sucht man in den meisten Ländern vergeblich.
In einigen Ländern Asiens waren wirtschaftsnationalistische, aber zugleich auf die Weltwirtschaft orientierte Elitenprojekte erfolgreich: dies gilt für Japan, Südkorea, Taiwan, Singapur und seit geraumer Zeit auch für China. Für die Eliten dieser Länder besteht die Herausforderung darin, mit zunehmend differenzierten, heterogenen und artikulationsfähigen Gesellschaften umgehen zu lernen. Das ist vor allem eine Folge der wirtschaftlichen Prosperität, der zunehmenden sozialen Mobilität und des steigenden Bildungsstandards. Es geht um den Übergang von stark hierarchisch geordneten zu sich pluralisierenden Gesellschaften. Dieser Prozess scheint in Südkorea und Taiwan zu glücken, beide Länder haben den Umbruch zur Demokratie in den 90er Jahren trotz Asienkrise erstaunlich gut gemeistert. Wie der politische Umbau oder Umbruch in China ausgeht, ist völlig offen. ExpertInnen bieten weit auseinander gehende Szenarien an: vom sukzessiven Übergang zur politischen Liberalisierung bis zum Auseinanderfall des Riesenreiches infolge zunehmender sozialer Ungleichheit und politischer Machtkämpfe zwischen reichen Küstenregionen und armen Regionen im Hinterland.

Welche Chancen hat Lateinamerika, in der Globalisierung eine eigenständige Rolle zu finden

Der Mercosur ist ein Zukunftsprojekt und ein Hoffnungsschimmer für Lateinamerika, der hoffentlich nicht an den Wirren der argentinischen Wirtschaftskrise zerbricht. Hier geht es um die Überwindung nationalstaatlicher Engstirnigkeit, alter Konflikte zwischen den Eliten der Länder und vor allem um den Aufbau einer Region, die Aussicht hätte, ihre Position in Weltwirtschaft und -politik sukzessive zu verbessern. Es könnte sich die Einsicht durchsetzen, dass die Globalisierung nur durch starke regionale Projekte gemeistert und mitgestaltet werden kann.

Interview: Jürgen Vogt

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Zur Person:

Dirk Messner, Dr. rer. pol.; Studium der Politikwissenschaft und der Volkswirtschaftslehre an der FU Berlin; 1989-1995 Mitarbeiter am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik in Berlin; seit 1995 wissenschaftlicher Geschäftsführer des Instituts für Entwicklung und Frieden an der Universität Duisburg.

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Ökonomische Verflechtung durch Handel

Ende der 90er Jahre hatten die Staaten des asiatisch-pazifischen Raums (AP) einen Anteil am weltweiten Bruttosozialprodukt von rund 26 Prozent. Der Anteil der Staaten Lateinamerikas und der Karibik (LAK) lag bei 6 Prozent. Das Handelsvolumen zwischen beiden Regionen belief sich 1999 auf 50 Milliarden US-Dollar, was weniger als ein Prozent am Welthandel ausmacht. LAK exportierte in erster Linie Rohstoffe und Nahrungsmittel im Wert von 17 Milliarden US-Dollar nach AP. Die Exporte kamen im Wesentlichen aus Brasilien (38 Prozent), Chile (23 Prozent), Mexiko (11 Prozent) und Argentinien (11 Prozent). Die Importe von LAK aus AP lagen bei 34 Milliarden US-Dollar. Sie konzentrierten sich auf die beiden Mercosurstaaten Brasilien und Argentinien, sowie Mexiko (zusammen 65 Prozent). Chile spielte hier keine große Rolle. Japan liegt als Handelspartner mit LAK an der Spitze, 45 Prozent des interregionalen Handels geht auf Nippons Konto. Zusammen mit der Volksrepublik China und Südkorea wickelte in der 90er Jahren Japan zwei Drittel der Exporte aus LAK ab.
Quelle: Mikio Kuwayama / CEPAL

Der unscheinbare Präsident

Die peruanische Wochenzeitung Caretas vertreibt seit einigen Wochen ein Computerspiel mit dem hübschen Namen Vladigame. Der Held des Spiels ist Niko, ein junger Draufgänger mit Stirnband und Turnschuhen, der sich auf den Weg macht, den großen Mafioso Vladimiro Montesinos und dessen Komplizen Alberto Fujimori zu stellen. „Nie zurückweichen. Sich niemals der Korruption ergeben!“ lautet seine Devise, und entsprechend verfolgt er die Flüchtenden allen Hindernissen und Widrigkeiten zum Trotz. Auf der Jagd nach den Bossen muss er erst einmal korrupte Generäle, Staatsanwälte oder Abgeordnete ausschalten, die seinen Tatendrang zu bremsen versuchen.
Im wirklichen Leben ist der Mafiaboss inzwischen geschnappt worden, es fehlt nur noch sein japanischer Komplize. Der reale Niko, dem die peruanische Bevölkerung das Verdienst anrechnet, Vladimiro Lenin Montesinos Torres und einen großen Teil seiner Helfershelfer zu Fall gebracht zu haben, ist viel unscheinbarer als sein flotter virtueller Kollege. Es ist der Interimspräsident Valentín Paniagua, der im November letzten Jahres vereidigt wurde, als der bisherige Amtsinhaber Fujimori Hals über Kopf nach Japan flüchtete.
Nach der überraschenden Festnahme des Bösewichts Montesinos in Venezuela lag Paniagua in der Beliebtheitsskala peruanischer Politiker mit 64 Prozent deutlich an der Spitze – weit vor seinem Nachfolger Alejandro Toledo, der ihn am 28. Juli beerben wird. Er wird respektiert, gerade weil er unauffällig arbeitet und sich niemals in den Vordergrund drängt. Außerdem hat er seine zunächst wichtigste Aufgabe bravourös gelöst: die Organisation fairer und transparenter Wahlen.

Hundertmal lebenslänglich

Die zweite Aufgabe, die sich die Regierung gestellt hatte, war keineswegs einfacher: die Entscheidungsträger, Kollaborateure und Mitläufer des Montesinos-Fujimori-Regimes zur Rechenschaft zu ziehen und damit den alten Machtapparat zu zerschlagen.
Als Erstes richtete die Regierung eine parlamentarische Untersuchungskommission unter Vorsitz des Abgeordneten David Waisman ein, die sich mit dem Fall Montesinos befassen sollte. Diese sichtete Berge von Beweismaterial, studierte unzählige Videos aus dem Geheimdienstarchiv Montesinos und verhörte Hunderte von Zeugen. Das Ergebnis: Es gibt kaum einen Paragrafen des Strafgesetzbuchs, gegen den der ehemalige Geheimdienstchef und Präsidentenberater nicht verstoßen hat. 40 Anklagen gegen Montesinos sind bereits erhoben, weitere 100 sind in Vorbereitung. Das Material, das die peruanischen Richter, die demnächst über den Fall Montesinos zu befinden haben, von der Waisman-Kommission an die Hand bekommen, reicht mindestens für hundert Mal lebenslänglich.
Auch gegen die Nummer zwei der Mafia, den in Japan ansässigen Alberto Fujimori, liegt inzwischen reichlich Material vor. So wird der Ex-Präsident als Ko-Autor des Massakers von Barrios Altos angeklagt, bei dem die Todesschwadron „Colina“ 1992 fünfzehn Personen ermordet hat. Ganz nebenbei läuft gegen Fujimori eine Ermittlung wegen illegaler Bereicherung und der Beteiligung an den Waffen- und Drogengeschäften seines Partners Montesinos. Sogar Keiko Sofía Fujimori, die noch in Lima weilende Tochter des Ex-Präsidenten, wird mit Drogenhandel in Verbindung gebracht.

Die Vaterlandsverräter

Wie Turnschuhheld Niko ging die Regierung Präsident Paniaguas auch gegen korrupte Offiziere vor. Insgesamt elf Generäle aller Waffengattungen, unter ihnen die drei ehemaligen Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Nicolás de Bari Hermoza, José Villanueva und Walter Chacón, sitzen inzwischen im Gefängnis. Weitere stehen unter Hausarrest, der ehemalige Verteidigungsminister Victor Malca ist geflüchtet. Gegen alle wird wegen Waffen- und Drogenhandel ermittelt. Sie haben außerdem Kommissionen in Millionenhöhe bei der Anschaffung minderwertiger Waffen für die peruanischen Streitkräfte abkassiert. Deswegen können sie in Peru sogar wegen Vaterlandsverrat angeklagt werden. Pikanterweise hat gerade das Fujimori-Regime für diesen Tatbestand die Todesstrafe wieder eingeführt.
Auch die Polizei traf es. Fernando Dianderas, letzter Innenminister Fujimoris und davor Polizeichef, ließ seine Ordnungskräfte wegschauen, als während einer Demonstration gegen den Wahlbetrug im letzten Jahr Agenten des Geheimdiensts SIN ein Bankgebäude in Brand setzten und gewaltsame Auseinandersetzungen provozierten. Die Bilanz: acht Tote und hunderte Verletzte. Damit nicht genug: Mehrere hundert Demonstranten wurden festgenommen und teilweise misshandelt. Nun wird Dianderas zusammen mit anderen verantwortlichen Polizeigenerälen der Prozess gemacht.

Unternehmerische Freiheit

Den Politikern ging es nicht besser: Minister, Bürgermeister und Abgeordnete, die sich filmen ließen, als sie Geld von Montesinos annahmen, stehen unter Hausarrest. Ermittlungen gegen frühere Minister, die sich bei der Privatisierung von Staatsbetrieben bereicherten, stehen leider erst am Anfang. Der Ex-Wirtschaftsminister Jorge Camét und der ehemalige Ministerpräsident Alberto Pandolfi werden verdächtigt, die Fluglinie Aero Perú und die Flughafengesellschaft CORPAC unter Wert verkauft zu haben. Victor Joy Way, langjähriger Wirtschafts- und Industrieminister, kann die Herkunft von Dollarbeträgen in zweistelliger Millionenhöhe auf seinen Schweizer Konten nicht erklären und wird wegen illegaler Bereicherung und Steuerbetrug angeklagt. Außerdem werden gegen alle sechs Ministerpräsidenten des Fujimori-Regimes Klagen vorbereitet: Sie haben rund eine Milliarde Dollar aus Privatisierungsgeldern für zweifelhafte Waffenkäufe ausgegeben, bei denen Provisionen in Millionenhöhe flossen.
Sogar gegen Unternehmer wird vorgegangen: José Francisco Croussillat, ehemals Besitzer des Fernsehkanals 4, wird angeklagt, weil er sich für 1,5 Millionen Dollar monatlich verpflichtete, seinen Sender zum Sprachrohr der Regierung zu machen. Eduardo Calmell, vormals Direktor der Tageszeitung Expreso, der sich seine Dienste für das Regime mit zwei Millionen Dollar auf die Hand entlohnen ließ, konnte gerade noch flüchten. Und schließlich schlossen sich die Gefängnistore für die Gebrüder Winter, die sich des Fernsehkanals 2 bemächtigten, nachdem das Regime dem eigentlichen Besitzer Baruch Ivcher die für den Betrieb von Fernsehstationen notwendige peruanische Staatsangehörigkeit entzogen hatte. Gegen Verleger und verantwortliche Redakteure der Boulevardpresse wird noch ermittelt: Sie erhielten monatlich 180 000 US-Dollar von Montesinos.

Recht und Unrecht

Die eingeleiteten Ermittlungen wären ohne radikale Umbesetzungen im Justizapparat nicht möglich gewesen. Deshalb musste die Regierung Paniagua als Erstes die obersten Staatsanwälte und Richter auswechseln. Inzwischen sitzen die beiden letzten Generalstaatsanwälte des Regimes, Miguel Aljovín und Blanca Nélida Colán, selbst auf der Anklagebank. Sie waren dafür zuständig, alle Ermittlungen und Klagen gegen ihren Gönner Montesinos zu den Akten zu legen. Zahlreiche Richter, die auf Anweisung Montesinos das Recht beugten, sitzen ebenfalls ein. Trotzdem ist die Justiz immer noch mit Erfüllungsgehilfen des alten Regimes durchsetzt. Das zeigte sich einmal mehr im Prozess gegen die US-Bürgerin Lori Berenson. Die Sympathisantin des Movimiento Revolucionario Tupac Amaru (MRTA) war 1995 wegen Terrorismus zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Nicht zuletzt auf Druck der USA wurde das Verfahren in diesem Jahr noch einmal aufgenommen. Der vorsitzende Richter konnte Berenson lediglich nachweisen, dass sie eine Wohnung für den MRTA gemietet und Zeichnungen von den Räumlichkeiten des peruanischen Kongresses angefertigt hatte, auf den der MRTA zu einem späteren Zeitpunkt einen Angriff plante. Das reichte, um sie zu zwanzig Jahren Gefängnis zu verurteilen.
Dafür kamen aber 136 politische Gefangene frei, die das Montesinos-Fujimori-Regime zu Unrecht inhaftierte. Über hundert sitzen nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Aprodeh immer noch ein. Hinzu kommen über 2000 Gefangene des Sendero Luminoso und des MRTA, die in militärischen Schnellverfahren verurteilt wurden, die internationalen Rechtsnormen nicht entsprachen. Deren Haftbedingungen haben sich jedoch verbessert: die strenge Isolationshaft wurde aufgehoben, und der Hofgang ist von einer halben auf zwei bis drei Stunden täglich verlängert worden. Besuche von Verwandten sind häufiger erlaubt als früher, ein Anwalt kann immer dann hinzu gezogen werden, wenn er gebraucht wird. Das über 4000 Meter hoch liegende Hochsicherheitsgefängnis Yanamayo wurde wegen unmenschlicher Haftbedingungen geschlossen.

Die Wahrheitskommission

Die Regierung Paniagua ist bemüht, die rechtliche Aufarbeitung der Vergangenheit sogar auf die letzten 20 Jahre auszudehnen. Vor einem Monat gab die Regierung die Besetzung einer so genannten Wahrheitskommission bekannt, die sich aus Personen des öffentlichen Lebens zusammensetzt. Sie soll den Verbrechen der Armee im Bürgerkrieg mit dem Sendero Luminoso und dem MRTA auf die Spur kommen. Auf das Konto des Militärs gehen die Ermordung von mindestens zweitausend Zivilisten und mehr als viertausend Verschwundene. Als Präsidenten waren neben Fujimori auch dessen Amtsvorgänger Fernando Belaúnde und Alan García verantwortlich. Alle drei stellten sich in der Vergangenheit stets vor die Armee und schoben Massaker im Zweifelsfall auf den Sendero Luminoso.
Im Vergleich mit der Aufarbeitung der Militärdiktaturen in den Nachbarländern hat sich in Peru wirklich etwas bewegt. Das kann aber nur der Anfang sein. Denn auch die jetzige Führungsspitze der Armee arbeitete mit Montesinos zusammen. Die Machtstellung der Militärs und der nach wie vor zu große Militärhaushalt wurden von Paniagua nie ernsthaft angetastet. Die meiste Arbeit wird die künftige Regierung unter Präsident Toledo aber in der Justiz haben. Justizminister Diego García Sayán gab bekannt, dass 250 Gesetze, die in den letzten zehn Jahren verabschiedet wurden, gegen die Menschenrechte und die Verfassung verstoßen. Das bedeutet: alle Urteile, die auf Grund dieser Gesetze rechtswirksam geworden sind, müssten revidiert werden.
Die Erfolge des unauffällig arbeitenden Präsidenten Paniagua bei der Vergangenheitsbewältigung werden von allen Seiten anerkannt. Sogar die Festnahme Montesinos wird ihm als Verdienst angerechnet, denn die peruanischen Strafverfolgungsbehörden haben in diesem Fall effektiv zusammengearbeitet. Bei so viel Lob für Paniagua wird auch das Ausland aufmerksam: Der zum Staatsmann gereifte Politiker wurde kürzlich für den Posten des OAS(Organisation Amerikanischer Staaten)-Generalsekretärs ins Gespräch gebracht.

Schneller als ein Hahn kräht

Mitte Juni legte der venezolanische Staatspräsident Hugo Chávez auf seiner Reise nach Paraguay einen kurzen Stopp in Lima ein. Dort musste er sich immer wieder Fragen zum Aufenthaltsort des steckbrieflich gesuchten, ehemaligen peruanischen Geheimdienstchefs Vladimiro Montesinos stellen lassen. Zu eindeutig waren die Hinweise darauf, dass dieser sich in Venezuela versteckt hielt. Da machte Chávez, der bis dahin immer ausgeschlossen hatte, dass Montesinos in Venezuela sei, plötzlich eine überraschende Ankündigung: „Montesinos wird schneller nach Peru zurückkommen als ein Hahn kräht.“
Ganz so schnell ging es dann zwar nicht, doch immerhin wurde Montesinos kurz nach Chávez Ankündigung in Venezuela verhaftet. Zugeschlagen hatte die venezolanische Geheimpolizei DIM, aber erst als Montesinos mit seinen Leibwächtern schon auf dem Weg in die peruanische Botschaft war. Gerüchten zufolge sollen Montesinos Wachleute vom FBI und der schon lange vor Ort recherchierenden peruanischen Polizei überredet worden sein, sich die fünf Millionen US-Dollar Belohnung zu verdienen, die von der peruanischen Regierung auf Montesinos Kopf ausgesetzt waren. Wie dem auch sei – zwei Tage später war Vladimiro Montesinos zurück in Peru. Dort landete er in dem von ihm selbst entworfenen Marinegefängnis Callao. Seine Zellennachbarn heißen Abimaél Guzmán und Victor Polay, die Gründer des Sendero Luminoso und des MRTA (Movimiento Revolucionario Tupac Amaru).
Das Strafregister des Ausgelieferten ist lang: Illegale Bereicherung, Plünderung der Staatskasse, Erpressung, Bestechung, Geldwäsche, Drogen- und Waffenhandel, Folter, Entführung, Verschwindenlassen von Personen, Anstiftung zum Mord, Aufbau einer Todesschwadron. Aber selbst das ist nur eine kleine Auswahl von Delikten, derentwegen er angeklagt wird. Niemand konnte im Jahre 1990 ahnen, wen sich der frisch gebackene Präsident Alberto Fujimori als Berater verpflichtet hatte. Dabei war Montesinos offenbar schon in den 80er Jahren einer der größten Drogenhändler Perus, ein Beruf, für den er die besten Voraussetzungen mitbrachte. Denn er unterhielt erstens exzellente Verbindungen zur Armee, aus der er einst im Range eines Hauptmanns unehrenhaft entlassen worden war, und zweitens kannte er durch seine jahrelange Arbeit als Strafverteidiger für Drogenhändler hervorragend den Justizapparat.

Montesinos kaufte fast alle(s)

Dass Montesinos in den 90er Jahren systematisch Schutzgelder von allen peruanischen Drogenhändlern erpresste, ist schon länger bekannt. Wer zahlte, konnte sich bei ihm einen Armeehubschrauber zum Transport der Ware mieten und wurde vor Razzien gewarnt. Drogenexporteure, die sich hingegen weigerten zu zahlen, wurden mitunter in ihrem Transportflugzeug abgeschossen. Nun fand die parlamentarische Untersuchungskommission zum Fall Montesinos heraus, dass der Präsidentenberater auch ein eigenes Kokain-Laboratorium in der Nähe der südperuanischen Stadt Pisco besaß und nicht nur mit kolumbianischen Banden, sondern auch mit dem mexikanischen Tijuana-Kartell zusammenarbeitete. Montesinos galt offenbar als Boss der peruanischen Mafia und soll in entsprechenden Kreisen unter den Pseudonymen Fayed und Rubén bekannt gewesen sein.
Aus dem Präsidentenberater und Drogenhändler wurde ein Mann, der die Richtlinien der peruanischen Politik ein Jahrzehnt lang bestimmte. Er baute einen Regierungsapparat auf, der nach dem Vorbild der Drogenmafia organisiert war. Seine Kontrolle reichte auf dem Höhepunkt seiner Macht von der Armee über Polizei und Justiz bis hin zu Steuer-, Zoll oder Wahlbehörden. Wer nicht mit Montesinos zusammenarbeitete konnte in diesen Institutionen und Behörden keine Karriere machen. Seine Methoden: Bestechung, Drohung und Erpressung. Er kaufte Presse und Fernsehsender ebenso wie Oppositionsabgeordnete. Es war Ende der 90er Jahre so, als wäre Vladimiro Montesinos der Besitzer des Landes Peru gewesen.
Mitte letzten Jahres überzog Montesinos seine Geschäftemacherei, als er sich auf Waffengeschäfte mit den kolumbianischen FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) einließ. Vermutlich fiel er durch diesen Deal bei den USA in Ungnade. Es spricht einiges dafür, dass es die CIA war, die anschließend ein Video an die Öffentlichkeit lancierte, das Montesinos bei der Bestechung eines Oppositionsabgeordneten zeigt. Die Empörung der peruanischen Bevölkerung wuchs, das Regime begann zu wanken, Montesinos musste flüchten. Der zunächst zurückgebliebene Fujimori konnte anschließend den Zusammenbruch des von Montesinos konstruierten Machtgefüges nicht mehr aufhalten.
Der ehemalige CIA-Agent Montesinos wird nun womöglich erzählen, wie er Peru zur Narco-Republik ausbaute. Doch ein Detail wird er mit Sicherheit nicht öffentlich ausplaudern: was die US-Regierung im Verein mit DEA und CIA dazu veranlasst hat, seinem Treiben zehn Jahre lang in Ruhe zuzusehen. Nicht nur das: die CIA zahlte laut Los Angeles Times zwischen 1990 und 2000 sogar zehn Millionen US-Dollar direkt auf eines von Montesinos Konten. Für den Kampf gegen den Drogenhandel.

Lied, wie schlecht klingst du …

Víctor Jaras Schicksal steht beispielhaft für das vieler ChilenInnen in den Jahren der Militärdiktatur, vor allem was die Tage nach dem Putsch am 11. September 1973 anbelangt. Der Sänger, Komponist, Theaterregisseur und Schauspieler wurde in der Technischen Universität Santiagos, wo er an diesem Tag zusammen mit Salvador Allende eine Ausstellung gegen den Bürgerkrieg eröffnen sollte, verhaftet und zusammen mit Professoren und StudentInnen ins nahe gelegene Estadio Chile gebracht.
Ebenso wie das Nationalstadion wurden in jenen Tagen viele öffentliche Einrichtungen als Gefangenenlager von den Militärs missbraucht. Das Estadio de Chile mit einer Kapazität für 10.000 BesucherInnen ist im zentralen Viertel Estación Central in Santiago gelegen und nur wenige Meter von der Hauptstraße Alameda entfernt. Dort wurde geprügelt, gefoltert und gemordet, und viele der GegnerInnen des Militärputsches wurden hier zum letzten Mal gesehen und sind heute Verhaftet-Verschwundene.
Im Gegensatz zu vielen anderen erlangte die Familie von Víctor Jara schon nach wenigen Tagen Gewissheit über seinen Tod. Denn seine Leiche – misshandelt und mit vierundvierzig Einschüssen – wurde in der Nähe des Regionalfriedhofs gefunden und im Leichenschauhaus zufällig identifiziert. Der Witwe, Joan Jara, wurde in jenen Tagen nur zugestanden, den Leichnam unverzüglich in einem Nischengrab am Ende des Zentralfriedhofs zu bestatten. Dort wird Víctor Jara bis heute von unzähligen AnhängerInnen besucht, und sein Grab ist niemals ohne frische Blumen.
Es ist in Chile der einzige Ort, seiner zu gedenken. Denn während es auf der ganzen Welt Straßen, Plätze, Schulen, ein Schiff und sogar einen Stern gibt, der seinen Namen trägt, gibt es in Chile, abgesehen von einem kleinen Platz in der Kommune Pudahuel, der auf lokale Initiative hin entstanden ist, keine öffentliche Anerkennung für einen der wichtigsten Sänger jener Zeit.
Bereits Mitglied des Priesterseminars von San Bernardo, entdeckt Víctor Jara seine wahre Berufung, den Gesang, und wird im Jahre 1957 Mitglied des Folklore-Ensembles Cuncumén, mit dem er in den Niederlanden, in Frankreich, in der Tschechoslowakei, in Bulgarien, Polen und der Sowjetunion auf Tournee geht. Auf Anraten von Violeta Parra verlässt Víctor Jara jedoch nach einigen Jahren das Ensemble, um eine Solokarriere als Sänger zu beginnen. Gleichzeitig entwickelt er eine weitere Leidenschaft: das Theater. Er studiert Theaterregie und führt Regie bei bedeutenden Aufführungen wie Anímas de día claro, La Remolienda, Madame de Sade, El círculo de tiza caucasiano (die spanische Fassung des Kaukasischen Kreidekreises von Brecht) und Vietrock (Megan Terry), sowie zahlreichen weiteren Werken, die von den KritikerInnen gelobt und ausgezeichnet wurden. Ab 1971 geht er zusammen mit anderen chilenischen KünstlerInnen auf Tournee, erst in Chile, später auch in Mexiko, Costa Rica, Kolumbien, Venezuela, Peru, Argentinien, den USA und Europa. Jara, der schon bald als der kulturelle Botschafter der Unidad Popular galt, war im In- und Ausland ein sehr populärer, mit der chilenischen Folklore und Politik verbundener Künstler und Sinnbild des „Neuen Chilenischen Liedes“.

Erinnerung mit Hindernissen

Mit einer 1998 gestarteten Kampagne, mit Unterschriftensammlungen, Großveranstaltungen und über das Internet versucht das Centro Artístico y Cultural Víctor Jara die Namensänderung des Stadions durchzusetzen. Zahlreiche Künstler und auch die Fundación Víctor Jara schlossen sich der Initiative an. Doch zunächst ohne Erfolg, da nach Ansicht des Direktors der DIGEDER, der für die Verwaltung des Stadions zuständigen staatlichen Einrichtung, „Víctor Jara nicht alle Chilenen repräsentiert“. Die DIGEDER (Staatliche Abteilung für Sport und Freizeit) wiederum ist dem Verteidigungsministerium unterstellt, wodurch das Ansinnen, das mit der Festnahme Pinochets in London zusammenfiel, nicht einfacher wurde.
Nach einem Ministerwechsel unternahmen das Centro Artístico y Cultural Víctor Jara, die Generalsekretärin der Kommunistischen Partei Gladys Marín und die Fundación Víctor Jara einen neuen Vorstoß, um die Namensänderung direkt beim neuen Verteidigungsminister Mario Fernández zu erreichen. Dieser versprach, sich der Sache anzunehmen und die Vorbereitung zur Umbennung des Stadions bis zum Geburtstag Víctor Jaras, dem 28. September 2000, in die Hand zu nehmen.
Bei all ihren Bemühungen geht es der Fundación Víctor Jara um mehr als die symbolische Namensänderung, „denn unserer Meinung nach macht die Namensänderung eines Stadions, in dem nur geboxt wird, wenig Sinn und hat wenig zu tun mit Víctor oder der Arbeit der Fundación“. Die Stiftung, die von der Witwe Víctor Jaras ins Leben gerufen wurde, plant deshalb, das Sportstadion in ein Kulturzentrum zu verwandeln. Schließlich hatte Víctor Jara zahlreiche Auftritte in diesem Stadion, und er erhielt im Rahmen des „Ersten Festivals des Neuen Chilenischen Liedes“ den ersten Preis für seinen Beitrag „Plegaria a un labrador“.
Doch der Druck der chilenischen Militärs und politischen Rechten in der Menschenrechtsdebatte auf die Regierung und der knappe Ausgang der Präsidentschaftswahlen waren nicht der beste Kontext für öffentlichen Symbolismus zu Gunsten der Opfer der Militärdiktatur. So passierte monatelang gar nichts und Víctor Jaras Geburtstag verstrich ohne die geplante Feier. Schließlich wurde die DIGEDER aufgelöst und durch die neue Institution Chile Deportes ersetzt. Damit „war alles, was bereits vereinbart worden war, umsonst“, erklärt Eugenia Arrieta im Namen der Fundación. „Dabei haben wir ein Jahr lang mit ArchitektInnen und SpezialistInnen gearbeitet, um die Umgestaltung des Stadions in ein Kulturzentrum voranzutreiben, einen Raum für Veranstaltungen zu schaffen, der für die chilenischen und ausländischen KünstlerInnen, die kommen möchten, da ist.“

Gelbes Licht für Umbenennung

Trotz der mangelnden Bereitschaft des chilenischen Staates, sich aktiv an der Aufarbeitung und Erinnerung zu beteiligen, haben die AnhängerInnen Víctor Jaras nicht locker gelassen und weiter Druck auf die staatlichen Behörden ausgeübt. Und nicht umsonst: Nach diversen Verhandlungen mit der Regierung scheint die Namensänderung nun endgültig gesichert zu sein. Doch noch fehlt das entsprechende, vom Präsidenten unterschriebene Dokument, das es der Fundación ermöglicht, mit dem Umbau zu beginnen. Bis dahin wird die Mund-zu-Mund-Propaganda die Erinnerung an den chilenischen Sänger und die Unterdrückung der populären Musik und Kultur in Chile weiter aufrecht erhalten. Unabhängig von Verhandlungstischen und Amnestiegesetzen ist die Welle der Gewalt, die im September 1973 über die ChilenInnen hereinbrach, durchaus in den Köpfen der Menschen präsent, die Menschenrechtsverletzungen und Morde durch die Militärs auch ohne eine öffentliche Aufarbeitung gegenwärtig.
So drückte es Víctor Jara in seinem letzten Gedicht aus, das er im Stadion angesichts der bis dahin unvorstellbaren Geschehnisse niedergeschrieben hat, das von Mitgefangenen von Hand zu Hand ging und schließlich herausgeschmuggelt wurde:
„Lied, wie schlecht klingst du, wenn ich mit Entsetzen singe. Entsetzen, wie das, das ich sehe, Entsetzen, an dem ich sterbe, Entsetzen … mich inmitten von so viel Entsetzen und so vielen Momenten des Unendlichen zu sehen, wo das Verstummen und der Schrei die Inhalte des Gesangs sind. Das, was ich sehe, habe ich noch niemals gesehen. Das, was ich gefühlt habe und das, was ich fühle, wird den Moment gebären.“

Übersetzung: Sandra Grüninger

Arbeitskampf mit der Nationalgarde

Streiks im Petroleumsektor und bei LehrerInnen dominierten die politische Debatte in Venezuela in den letzten zwei Monaten. Bei den LehrerInnen stieß der Dekretismus – das Regieren mit Dekreten – ,mit dem Venezuelas Präsident Hugo Chávez seine Vorstellung von Demokratie durchdrücken will, in den vergangenen Wochen auf massiven Widerstand.
Mit Streiks und Demonstrationen protestierten auch die Arbeiter des Petroleumsektors gegen Chávez’ Politik. Ihr Aufruhr drückt den Frust darüber aus, dass trotz gestiegener Ölpreise Entlassungen vorgenommen und Löhne nicht erhöht werden. Doch die Regierung reagierte nicht etwa mit Zugeständnissen, sondern mit Repressalien. Am zweiten Tag der Arbeitsniederlegung schickte Chávez Ende März die Guardia Nacional (GN) in die reiche Region Zulia, wo die staatlich kontrollierte Ölgesellschaft Pdvsa mit nur 50.000 Beschäftigten mehr als ein Viertel des venezolanischen Bruttoinlandsproduktes erwirtschaftet. Mit Waffengewalt und Einschüchterungen der Belegschaften trieb die GN einen Großteil der Streikwilligen zurück an die Arbeitsplätze. Zudem versuchten die Sicherheitskräfte, die Transportwege zu den Raffinerien freizuhalten.
Nur etwa ein Drittel der ArbeiterInnen ließ sich vom Eingreifen der GN nicht beeindrucken und beschimpfte den Einsatzleiter sowie den Staatsanwalt der Stadt Maracaibo, der 44 DemonstrantInnen verhaften ließ. Bereits nach zwei Tagen war der Streik mit Hilfe der GN dann beendet. Chávez triumphierte, die Confederación de Trabajadores de Venezuela (CTV), die älteste und größte Gewerkschaft Venezuelas, sei „ausgelöscht“ und der Streik „ein Fiasko“ gewesen.
Genugtuung verschaffte Chávez auch der zweite große Streik, an dem rund 30 Prozent der LehrerInnen des Landes teilnahmen. Der Präsident bedankte sich bei den LehrerInnen und DozentInnen, die sich den Protesten nicht angeschlossen hatten und zeigte sich erfreut, dass keine einzige der „bolivarianischen“ Schulen am Streik teilgenommen habe. Vor dem Hintergrund der Unruhe im Schul- und Universitätswesen ist das jedoch nicht verwunderlich. Denn mit dem Dekret 1.011 will Chávez nach kubanischem Vorbild die Erziehung politisieren. Von der Regierung gewählte politische Inhalte müssen vermittelt werden und verdrängen die demokratischen Staaten gemeinhin gut zu Gesicht stehende neutrale politische Bildung. Die „bolivarianischen“ Bildungseinrichtungen verfolgen ohnehin den Kurs des Castro-Freundes Chávez.
Die kurze und relativ schwache Beteiligung an den Streiks spiegelt ein Dilemma der venezolanischen Gewerkschaften wider: Vor allem kleinere Gewerkschaften setzten anfangs viel Hoffnung in den neuen Präsidenten, der vollmundig die Abschaffung der Korruption und die ausschließliche Verfolgung von Arbeitnehmerinteressen versprochen hatte. Der Chávez-Bonus dauert an. Gerade die arme Bevölkerung hat den Mann aus einfachen Verhältnissen sehr ins Herz geschlossen. 67 Prozent aller Wahlberechtigten stehen nach einer Umfrage vom vergangenen März weiter hinter ihm. Aktionen gegen den Präsidenten müssen also wohl überlegt sein. Und der Rückhalt der traditionellen Gewerkschaften bei den ArbeiterInnen ist durch die Schaffung von „chavistischen“ Gewerkschaften untergraben.
Ein wichtiges Stimmungsbarometer für chavistische und traditionelle Gewerkschaften steht mit den diesjährigen Gewerkschaftswahlen an. Die von Chávez durchgepeitschte Verfassung von 1999 sieht Neuwahlen aller öffentlichen Ämter und ebenso der Gewerkschaften bis Ende diesen Jahres vor. Und auch hier nimmt Hugo Chávez Einfluss. Nachdem sich der ihm nahestehende Nationale Wahlrat (CNE) mit der Weisung eingemischt hatte, alle Gewerkschaftswahlen zu bündeln, legte die Dachorganisation Comité de Unidad Sindical (Codesa) Protest ein. Der Codesa befürchtet, dass hinter dem Vorstoß des CNE die chavistischen Gewerkschafter stehen. Sie wollten, so Codesa, Zeit schinden und die ideologischen Grenzen zwischen den einzelnen Gewerkschaften verwischen, um noch mehr Arbeiter von den Zielen der „bolivarianischen Revolution“ zu überzeugen und so an Gewicht zu gewinnen. Der Präsident des CNE, Roberto Ruiz, hat versprochen, die Argumente des Codesa „wie die aller anderen“ zu prüfen.
Darüber hinaus sind mehr und mehr venezolanische Arbeiter gar nicht mehr offiziell organisiert, da der informelle Sektor in seinen Dimensionen mittlerweile den Formellen übertrifft. Über die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung ist nicht in den kontrollierten Wirtschaftskreislauf eingebunden. Starke Parallelstrukturen haben sich etabliert, in die weder die CTV noch andere Gewerkschaften einzudringen vermögen.
Diese Entwicklung hat sogar zu einem ungewöhnlichen Bündnis aus Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden geführt, die ohne die Vermittlung der Regierung einen „Tisch des sozialen Dialoges“ ins Leben gerufen haben. Damit soll die wirtschaftliche Effizienz des Landes gesteigert und innerhalb von fünf Jahren die Armut deutlich gesenkt werden. Vor allem aber zeigt dieses „Bündnis für Arbeit“ die Befürchtung, Venezuela könnte noch weiter in die Anarchie abstürzen. Die kriminelle Gewalt, seit vielen Jahren ein zentrales Problem in den Großstädten, sickert aufs Land durch, wo beispielsweise vor einigen Wochen Tagelöhner einen Finca-Besitzer lynchten, nachdem sie sein Anwesen bereits wochenlang besetzt gehalten hatten.

Zur Ablenkung Außenpolitik

Präsident Chávez versucht derweil, die Unruhe im eigenen Land nach altem Muster mit Außenpolitik zu überspielen. Stolz gerierte er sich als Gastgeber der „Grupo de Tres“, die die drei Länder Venezuela, Kolumbien und Mexiko verbindet und kündigte den Beitritt Venezuelas zum Mercosur noch für das laufende Jahr an. Größere Sorgen sollte Chávez freilich der wachsende Widerstand der ArbeiterInnen und die schwindende Autorität der staatlichen Organe auf dem Land machen.
Doch auch wenn der demokratisch gewählte Präsident mit den caudillistischen Zügen sich wieder der Innenpolitik zuwendet, dürften sich die regierungskritischen Gewerkschaften noch einige Zeit die Zähne an ihm ausbeißen. Sollte der Ex-Fallschirmjäger nicht vorher mit einem Staatsstreich oder von der erbosten Bevölkerung aus dem Amt gejagt werden, regiert er noch bis zum 1. Januar 2007. Das hat Anfang April der Oberste Gerichtshof verfügt.

Goldbarren nach Singapur

General Nicolás de Bari Hermoza ist tief gefallen. Der langjährige Oberkommandierende der Streitkräfte zählte bis 1998 zusammen mit Geheimdienstchef Vladimiro Montesinos und Präsident Alberto Fujimori zu den mächtigsten Männern Perus. Bis er sich das zweifelhafte Verdienst ans Revers heften wollte, im Jahre 1997 den militärischen Angriff auf die von einem MRTA-Kommando besetzte Residenz des japanischen Botschafters organisiert zu haben. Das war ein gravierender Fehler. Denn dem damaligen Präsidenten Fujimori zufolge kam dieses Verdienst niemand anderem als Vladimiro Montesinos zu. Bari Hermoza musste gehen. Nun kam es noch schlimmer: Der General im Ruhestand wurde Ende März verhaftet und in Untersuchungshaft gesteckt.
Einmal hinter Schloss und Riegel, spricht der Mann wenigstens Klartext. Der Häftling gibt zu, dass er 14,5 Millionen US-Dollar auf Schweizer Konten deponiert hat. Der Großteil dieser Summe stammt ihm zufolge aus dem Drogenhandel, und etwa 30 bis 40 Prozent sind Provisionen aus illegalem Waffenhandel. Auch seinen langjährigen Kollegen und Komplizen, den ehemaligen Verteidigungsminister Victor Malca, belastete Bari Hermoza schwer. Malca besitzt auf den Kaiman-Inseln Konten im Wert von 16 Millionen US-Dollar und hat sein Vermögen auf die gleiche Weise erworben. Im Gegensatz zu Bari Hermoza ist er jedoch rechtzeitig ins Ausland geflüchtet.
Die peruanische Armee erlebt schwere Zeiten. Neben Bari Hermoza sitzt fast die gesamte militärische Führungsriege aus den letzten Jahren des Montesinos-Fujimori-Regimes in Untersuchungshaft, unter anderem seine Nachfolger im Amt des Oberkommandierenden der Streitkräfte. Die Ermittlungen drehen sich in allen Fällen um Drogen- und illegalen Waffenhandel. Damit nicht genug. Auch die vom neuen Präsidenten Valentín Paniagua bestellten Chefs der drei Waffengattungen und der aktuelle Oberkommandierende der Streitkräfte, General Carlos Tufur, mussten ihre Generalsmütze nehmen.

Neue Videos aufgetaucht

Der Hintergrund: Aus dem Archiv des Geheimdiensts SIN waren neue Videos aufgetaucht, die zeigen, dass Montesinos Dutzende von Generäle auf den Staatsstreich von 1992 verpflichten ließ. Damals hatte das Dreigestirn Montesinos, Fujimori und Bari Hermoza Panzer auffahren lassen und das Parlament gewaltsam aufgelöst. Unter den Uniformierten, die Montesinos die Treue schwörten, waren auf dem Video unschwer auch jene Männer auszumachen, die Präsident Paniagua mit der Führung der Armee beauftragt hatte. General Tufur warnte bei seinem unfreiwilligen Abschied davor, dass noch weitere Verbündete Montesinos an entscheidenden Stellen der Armee säßen.
Die Regierung Paniagua ist redlich bemüht, die Vergangenheit aufzuarbeiten und die zahlreichen Verbrechen der Montesinos-Fujimori-Diktatur zu ahnden. Auch für den ehemaligen Wirtschaftsminister Victor Joy Way wird es eng. Er muss die Herkunft von neun Millionen US-Dollar erklären, die er auf Schweizer Konten deponiert hält. Für Montesinos Handlanger in der peruanischen Justiz gibt es dagegen noch einen Aufschub. Womöglich klagen die Staatsanwälte ihre früheren Kollegen nicht gern an.

Beweislast erdrückend

Sicher ist aber auch, dass gerade in der Justiz immer noch zahlreiche Richter und Staatsanwälte in Amt und Würden sind, die ihren Aufstieg Montesinos verdanken. So wurden in letzter Zeit eine ganze Reihe von bereits verurteilten Delinquenten in Revisionsverhandlungen wieder freigesprochen, obwohl die Beweislast gegen sie erdrückend war.
Dafür laufen die Ermittlungen gegen Alberto Fujimori auf Hochtouren. Die Staatsanwaltschaft will Zeugen gefunden haben, die aussagen, dass der ehemalige Präsident auf seinen zahlreichen Reisen nach Singapur und Malaysia regelmäßig Goldbarren und Wertpapiere im Gepäck hatte und auf diese Weise etwa 100 Millionen US-Dollar im Ausland deponiert hat. Eine beachtliche Summe, auch wenn sie nur den zehnten Teil des geschätzten Vermögens von Fujimoris Geschäftspartner Montesinos ausmacht. Weitere Zeugen sollen ausgesagt haben, dass Fujimori über das vermutlich von Montesinos angeordnete Massaker an zehn Studenten und einem Dozenten der Universität „La Cantuta“ ebenso unterrichtet war wie über die Ermordung von vierzehn Personen in Limas Stadtviertel Barrios Altos durch eine Spezialtruppe des Geheimdienstes.

Steckbrieflich gesucht – Montesinos in Venezuela?

Schließlich hat die Regierung ihre Bemühungen intensiviert, den flüchtigen Boss des einst staatlich organisierten Verbrechersyndikats festzusetzen. Wer sachdienliche Hinweise zur Festnahme des steckbrieflich gesuchten Vladimiro Montesinos geben kann, soll nun mit stolzen fünf Millionen US-Dollar belohnt werden. Seit der ehemalige Geheimdienstchef sich im Dezember letzten Jahres einer Gesichtsoperation in Venezuela unterzogen hatte, gab sein Aufenthaltsort immer wieder Anlass zu Spekulationen. In der letzten Aprilwoche wollten ihn dann Journalisten in Hato Piñero im venezolanischen Bundesstaat Cojedes aufgetrieben haben. Doch als eine Spezialeinheit der venezolanischen Polizei anrückte, war keine Spur von Montesinos mehr zu finden. Der Gesuchte hatte allerdings genügend Zeit sich zurückzuziehen, ging doch bei der Fahndung einem Polizeijeep und einem Hubschrauber der Sprit aus. Eine andere Version verbreitete der venezolanische Abgeordnete Pedro Carreño. Danach ist der einst mächtigste Mann Perus bereits vor zwei Monaten in der Alfonso-Ugarte-Kaserne in Lima ermordet worden. Belege für seine Behauptung hielt Carreño allerdings zurück.

Wieder keine Verhandlungen in Kolumbien

Zum zweiten Mal seit Anfang März hat die Armee der Nationalen Befreiung (ELN) am 19. April weitere Verhandlungen mit der kolumbianischen Regierung unter Andrés Pastrana auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Gegenüber einem nationalen Radiosender erklärte Pablo Beltrán, Sprecher und Nr. 3 der Rebellengruppe, dass sich die Regierung keine Mühe mache, den Friedensprozess ernsthaft anzugehen. „Aus diesem Grund sehen wir uns gezwungen, den Dialog auf unbestimmte Zeit auszusetzen“, so Beltrán. Zudem sehe sich die ELN in der Lage, auf einen neuen Präsidenten zu warten, der 2002 gewählt wird, da man mit Pastrana nicht verhandeln könne. Für den wäre es ein Rückschlag, hatte er sich doch bei seiner Wahl 1998 den Friedensprozess mit der Guerilla auf die Fahnen geschrieben.
In Momenten des Fortschritts blockieren jedoch jedes Mal wieder militärische und paramilitärische Offensiven eine Weiterentwicklung der Verhandlungen. Man geht seit geraumer Zeit davon aus, dass sich die guevaristische ELN in einem labilen militärischen Zustand befindet. Bevor man politische Zugeständnisse machen muss, versucht man es also zunächst mit Waffengewalt. Im März startete die Armee mit 3.000 Soldaten ihre „Operation Bolívar“. Ziel: Zerstörung von Drogenlabors, Paramilitärcamps sowie Guerillastellungen in der Region Sur de Bolívar. Logisch war dieses Manöver nicht zu erklären, wollte man doch im selben Moment auf politischer Seite zu einer Einigung kommen. Der Kollaps liess nicht lange auf sich warten. Die Guerilla setzte die Gespräche aus, da sie eine breitangelegte Antiguerilla-Offensive vermutete.
Auf Initiative von ausländischen Diplomaten und Beobachtern konnte der Prozess nach über drei Wochen wieder aufgenommen werden. Da sich ausländische Diplomaten als Mediatoren einschalteten, war eine positive Entwicklung nun absehbar. Dass auch sie auf den harten Boden der kolumbianische Realität geholt würden, eher nicht: Kurz vor der Osterwoche starteten ultrarechte Paramilitärs eine Offensive in der Serranía de San Lucas, dem Stammgebiet der ELN. Eine kleine Ortschaft, die für einen Treffpunkt zwischen Guerilla, Regierung und internationalen Vermittlern eingeplant war, wurde von den Paramilitärs besetzt. Weitere Gespräche mussten daraufhin verschoben werden.
„Bis Ende Ostern werde ich die Zentralkommandantur der Elenos eingenommen haben“, kündigte der Chef der Bäuerlichen Selbstverteidigung (AUC), Carlos Castaño, an. Zwei Wochen lieferten sich rund 300 seiner Kämpfer und mindestens ebenso viele Guerilleros der ELN heftige Gefechte. Dass die Paras von der vorangehenden Armeeoperation profitiert haben, entspricht den gegenseitigen Verbindungen. Auch während der Kämpfe war weit und breit kein Soldat zu sehen, der gegen die Paras hätte vorgehen können.

Para-Staat in Sur de Bolívar?

Wie stark die ELN, der etwa 5.000 Bewaffnete zugerechnet werden, in den letzten Wochen tatsächlich geschwächt wurde, lässt sich schwer sagen. Der Sitz der Kommandantur wurde zwar nicht eingenommen, Kritiker des Friedensprozesses behaupten jedoch, die Guerilla würde eine entmilitarisierte Zone nur dazu nutzen wollen, sich wieder militärisch zu verstärken. Eine These, die auch bei Teilen der in dem Gebiet ansässigen Zivilbevölkerung auf fruchtbaren Boden fällt. Die Meinung der Menschen gegenüber einer Guerilla-Zone ist gespalten. Teils jedoch nur deshalb, weil die Paramilitärs zivile Organisationen lenken und nicht zuletzt Bauern zum Protest gegen die ELN gezwungen haben sollen. “Sollte Pastrana diesen Kampf um die ELN-Zone aufgeben, gibt er Castaño das Signal, dass er gewonnen hat. Dann gibt es einen Para-Staat und einzige Autorität und Regierung wäre dann Castaño“, betonte Gewerkschaftspräsident Eduardo Garzón unlängst. Ähnlich äusserte sich der Kongressabgeordnete und Ex-Guerillero der M-19, Antonio Navarro Wolf: „Wegen ein paar Quadratkilometern Land setzen wir den Friedensprozess auf’s Spiel“, beklagte er.
Ganz offensichtlich. Bei einem Treffen der Präsidenten der Andenstaaten machte Präsident Pastrana Mitte April den Vorschlag, dass man auch in Venezuela oder Europa verhandeln könne. Venezuelas Präsident Hugo Chávez fuhr auf gleicher Schiene und lud die ELN zu Verhandlungen in seinem Land ein. Die ELN selber steht solchen Verhandlungen im Ausland aber kritisch gegenüber. Schließlich gilt weiterhin die Idee, einen Nationalkonvent abzuhalten, an dem Vertreter der gesamten Zivilbevölkerung beteiligt sein würden. Die aber lassen sich kaum alle nach Caracas oder Madrid verschiffen.
Wahrscheinlicher ist zudem, dass Pastrana zwar Verhandlungen mit der ELN sucht, die aber früher oder später auf eine Entwaffnung der Gruppe hinauslaufen sollen. Um so überraschender war eine Aktion, die von der ELN in der zweiten Aprilwoche im Nordosten des Landes lanciert wurde. Sie nahmen auf einen Schlag 101 Arbeiter der US-amerikanischen Erdölfirma OXY als Geiseln. Gleichzeitig mit ihrer Ankündigung, der Friedensprozess sei suspendiert, ließen sie aber selbige wieder frei. Ein Zeichen der Schwäche?

Blutige Ostern in Kolumbien

Auch außerhalb der Diskussion um eine ELN-Zone deutet alles darauf hin, dass sich die Fronten verhärten werden. Besonders im Umgang mit den Paramilitärs, die in den letzten drei Jahren um 83 Prozent auf etwa 10.000 Kämpfer angewachsen sind. Nach der wohl blutigsten Osterwoche seit Jahren in dem lateinamerikanischen Land kündigte die ELN an, mit den revolutionären Streitkräften Kolumbiens, der FARC-Guerilla eine gemeinsame Strategie gegen die Paramilitärs zu entwickeln. Über 70 Bauern wurden über die Feiertage von den Paramilitärs ermordet. Am 11. April drangen AUC-Einheiten in den kleinen Ort La Naya in der südwestlichen Provinz Cauca ein und brachten 29 Menschen um. Man benutzte nicht Feuerwaffen, sondern Motorsägen. Einem 18-jährigen indigenen Mädchen trennten sie in äußerster Brutalität zuerst die Hände und dann den Kopf ab.
Noch eine Woche zuvor forderte die Interamerikanische Kommission der Organisation Amerikanischer Staaten von der kolumbianischen Regierung, die Mitglieder von indigenen und afroamerikanischen Kommunen umgehend einem besseren Schutz vor solchen Übergriffen zu unterstellen. Eine sinnlose Forderung. Die Aktionen der AUC reihen sich somit in die 145 Massaker ein, die allein in diesem Jahr in Kolumbien von den Paras verübt wurden. 769 Menschen wurden ermordet, was eine Verdopplung zum Vorjahreszeitraum bedeutet.
Diese Entwicklung ist dem von beiden Seiten zwar angestrebten, aber zunehmend schwindenden Vertrauen nicht förderlich. Daher setzt man zunehmend auf internationale Unterstützung. Nicht nur bei verstärkt stockenden Verhandlungen mit der ELN-Guerilla, auch bei den FARC konnten auf diese Weise Erfolge erzielt werden. Als Mitte Februar die Friedensgespräche mit dieser zweiten Gruppe nach mehrmonatiger Pause wieder aufgenommen wurden, war auch eine Delegation europäischer Diplomaten zugegen. In der „Hauptstadt“ der von den FARC kontrollierten entmilitarisierten Zone gipfelte dieses Engagement in einem Treffen einer internationalen Delegation mit dem Oberkommando der FARC am 7. März. Erstmals war nach Angaben der alternativen Nachrichtenagentur AANCOL auch ein Vertreter der Deutschen Botschaft zugegen. In der Abschlusserklärung zeigten sich die Diplomaten in Übereinstimmung mit der FARC zu „mehr Engagement im kolumbianischen Friedensprozess“ bereit.

Mehr Engagement aus Europa

Das kann nun alles oder nichts bedeuten. Nach Meinung von Alberto Martinez, dem Europavertreter der Guerilla will man den Einfluss der internationalen Gemeinschaft auf jeden Fall. Doch die „Souveränität und Selbstbestimmung“ Kolumbiens muss dabei gewahrt bleiben. Das zeugt von einer Vorsicht, die auch in der deutschsprachigen Ausgabe der Zeitschrift der FARC, Resistencia, bestätigt wird. Die illegalen Anpflanzungen, die Auslandsschulden und das Landproblem haben bei den Verhandlungen absolute Priorität, jedoch „werden wir uns der Frage nach internationalen Garanten des Friedensprozesses erst dann zuwenden, wenn Einigkeit über diese zentralen Punkte herrscht“. Damit wird der zunehmend isolierte Andrés Pastrana einmal mehr unter Druck gesetzt.
Der 46-Jährige hadert nicht mit seinem Schicksal und machte sich zuletzt nach Europa auf. In Begleitung einer hochrangigen Regierungsdelegation traf er am 27. und 28. April in Berlin auch mit der Bundesregierung zusammen. Gerhard Schröder ließ sich nicht lumpen und nahm den Amtskollegen mit militärischen Ehren in Empfang. Bei Menschenrechtsorganisationen, wie der FIAN, stieß das übel auf. Armin Paasch, Leiter der Agrarreformkampagne bei FIAN, beklagte eine mangelnde Initiative der Regierung Pastranas auf dem Gebiet der Menschenrechte.Wer sich in Kolumbien für sie einsetze „steht schon mit einem Bein im Grab“. In Anbetracht der ständig wachsenden Zahl von Opfern paramilitärischer Gewalt wäre „Halbmast statt militärischer Ehren“ angebracht gewesen.
Doch auch wenn man vermuten mag, dass sich Pastrana in Anbetracht deutscher Soldaten Hoffnung auf Gelder mit ähnlichen Zielvorgaben gemacht haben könnte: In Berlin hatte man andere Pläne. Bis Ende kommenden Jahres werden dem südamerikanischen Land zwar 40 Millionen Mark zur Verfügung gestellt werden – zehn Millionen mehr als in den vergangenen zwei Jahren –, die Gelder aber sollen ausschließlich zivilen Zwecken dienen: Krisenprävention, Schutz der Menschenrechte und Umweltschutz sollen im Zentrum der bilateralen Kooperation stehen. Bei Arbeitsessen zwischen Schröder und Pastrana seien „Lage und Perspektiven Kolumbiens“ erörtert worden, hieß es aus dem Außenministerium lapidar.
Ähnlich, nur stand hier die Menschenrechtslage im Mittelpunkt, war das bei Bundesaußenminister Joseph Fischer und seinem Amtskollegen Guillermo Fernández de Soto. Auch danach hüllte man sich auf deutscher Seite auf die Bitte nach anders gewichteter Unterstützung hin weitgehend in Schweigen. Da half auch Pastranas Bemühen nicht, den in der Europäischen Union zunehmend kritisierten Plan Colombia als „zu 80 Prozent aus zivilen Projekten“ bestehend anzupreisen.

CineLatino –die filmische Entdeckung Lateinamerikas

Filmische Entdeckungen aus Argentinien, Brasili-
en, Chile, Mexiko, Kolumbien, Nicaragua, Peru und Venezuela sind bei CineLatino zu machen. Das Filmfestival findet vom 28. April bis zum 13.Mai 2001 in Tübingen, im Kommunalen Kino Stuttgart, im Deutschen Filmmuseum Frankfurt/Main und dieses Jahr erstmals auch im Kommunalen Kino Heidelberg statt. Es laufen Spiel- und Dokumentarfilme sowie Kurz- und Zeichentrickfilme. In Tübingen startet das Festival am Freitag, 27. April, um 20 Uhr im Kino „Museum“ mit dem argentinischen Film Mundo grua von Pablo Trapero. In Frankfurt beginnt die Filmschau dann am 29. April mit No quiero volver a casa von Albertina Carri. Die argentinische Independent-Filmemacherin wird ihren Film selbst vorstellen und mit dem Publikum darüber sprechen. In Stuttgart und Heidelberg geht’s dann am 2. beziehungsweise 4. Mai los.

Pantaleon y las visitadoras
Dieses Jahr gibt es zwei Schwerpunkte: Zum einen eine Retro des bekannten peruanischen Regisseurs Francisco Lombardi. Seine international mehrfach ausgezeichneten Filme machen auch vor Tabus der peruanischen Gesellschaft und Politik nicht Halt und erregen deshalb in seiner Heimat immer wieder Aufsehen. Unter anderem wird während des Festivals Pantaleon y las visitadoras nach einem Roman von Mario Vargas Llosa zu sehen sein (siehe LN 308).
Den zweiten Schwerpunkt bilden neuere Produktionen der jungen argentinischen Filmszene, die derzeit zu den interessantesten und lebendigsten des Kontinents gehört.
Zum Konzept des Festivals gehört es, sowohl Filme von international bekannten Regisseuren als auch die „frechen“ Werke junger Regietalente aus Lateinamerika vorzustellen. Das Publikum hat während des Festivals Gelegenheit, mit Regisseuren und SchauspielerInnen direkt ins Gespräch zu kommen. Auch die Gäste aus Lateinamerika nutzen CineLatino als Gelegenheit, Filme anzuschauen, die sonst kaum Vertriebswege in ihre direkten Nachbarländer finden.
Die Filme laufen in der Originalfassung mit deutschen oder englischen Untertiteln im Tübinger Kino Arsenal, im Stuttgarter und Heidelberger Kommunalen Kino sowie im Deutschen Filmmuseum Frankfurt am Main. Das Festival wird von der Arbeitsgemeinschaft CineLatino organisiert, die sich aus der Deutsch-Brasilianischen Gesellschaft und den Filmtagen Tübingen in Zusammenarbeit mit dem Club Voltaire, dem Aktionszentrum Arme Welt Tübingen, der Filminitiative Weltkino Stuttgart sowie den Kommunalen Kinos Stuttgart und Heidelberg zusammensetzt.
Informationen bei CineLatino,
Doblerstr. 25, 72024 Tübingen,
Fon 07071/ 56 96 54, Fax 07071/ 56 96 96
www.filmtage-tuebingen.de
Presse/LN

Der Nachlass eines untergegangenen Regimes

Fernando Olivera, Kandidat für die peruanischen Präsidentschaftswahlen am 8. April, tritt im Wahlkampf vorzugsweise mit einem Besen auf. Damit will er nicht nur seine Mitbewerber um das höchste Amt der Republik hinwegfegen. Oberstes Ziel des ehemaligen Staatsanwaltes ist es, mit der Korruption aufzuräumen. Sein Wahlkampfslogan lautet „Ehrlichkeit, Ehrlichkeit, Arbeit“, seine Partei mit dem viel versprechenden Namen Unabhängige Moralische Front (FIM) führt den Besen im Logo. Olivera gefällt sich in der Rolle des Anklägers: Er führte der Öffentlichkeit im September letzten Jahres jenen Videostreifen vor, der zum Sturz des Montesinos-Fujimori-Regimes führte. Darauf war zu sehen, wie der damalige Präsidentenberater und faktische Geheimdienstchef Vladimiro Montesinos den Oppositionsabgeordneten Alberto Kouri mit 15.000 US-Dollar besticht.

Vladimiro sorgt für alle

Nun muss Olivera im Kreise seiner engsten Parteigenossen kehren. Ernesto Gamarra, Abgeordneter der FIM und langjähriger Mitstreiter Oliveras an der moralischen Front, vertrat seine Partei als Vizepräsident in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Fall Montesinos. Dessen Mitglieder staunten nicht schlecht, als sie sich bei der Sichtung von Beweismaterial einen Videofilm anschauten, in dem Gamarra selbst auftauchte. Zu sehen war eine Szene aus dem letzten Jahr: Ein gewisser Luís Venero, dessen
Bruder Alberto zusammen mit Montesinos Waffen an die kolumbianische FARC-Guerilla lieferte, zahlt Gamarra 3.000 Dollar aus. Gamarra verpflichtet sich im Gegenzug, die Öffentlichkeit mit falschen Hinweisen zum illegalen Waffenhandel zu versorgen.
Obwohl sich Olivera umgehend von Gamarra trennte, ist die Glaubwürdigkeit seiner Moralischen Front dahin. Sein Trost: Auch andere Präsidentschaftskandidaten erwischte es. Die sozialdemokratische APRA, die den aus dem Exil zurückgekehrten Ex-Präsidenten Alán García ins Rennen schickt, musste sich von ihrem ehemaligen Innenminister Agustín Mantilla trennen. Der wurde gefilmt, als er 30.000 Dollar von Montesinos entgegennahm und versprach, sich im Wahlkampf des Jahres 2000 mit Angriffen gegen Fujimori zurückzuhalten. Alejandro Toledos Wahlbündnis Perú Posible strich seine Kongressabgeordnete Milagros Huamán Lu wegen eines kompromittierenden Videos mit Montesinos von der aktuellen Wahlliste. Und schließlich traf es auch die Kandidatin Lourdes Flores, Mitglied der konservativen PPC (Partido Popular Cristiano) und Gründerin des Wahlbündnisses Unidad Nacional. Ihr Parteigenosse Luís Bedoya, Bürgermeister in Limas feinem Stadtteil Miraflores, wurde sogar vorübergehend verhaftet, nachdem per Video bekannt wurde, dass er von Montesinos Geld angenommen hatte.
Videos und immer wieder Videos. Die Staatsanwaltschaft beschlagnahmte nach Montesinos’ Flucht im November letzten Jahres Hunderte von Videokassetten aus dessen Wohnung. Der ehemalige Geheimdienstchef hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, seine Spitzel und Kollaborateure bei der Bezahlung ihrer Dienste oder bei Besprechungen filmen zu lassen. Die Inhalte dieser Filme, in den Medien Vladivideos genannt, beschäftigen die peruanische Öffentlichkeit zurzeit mehr als der Wahlkampf. Sie können den Ausgang der Präsidentschaftswahlen entscheidend beeinflussen. Alle Kandidaten leben mit der Furcht, vor den Wahlen könnte belastendes Videomaterial gegen weitere Politiker aus ihren Reihen auftauchen.
Dabei hat Montesinos die brisantesten Streifen vermutlich vor seiner Flucht vernichtet oder versteckt. Auch der damalige Präsident Fujimori, der verschiedene Wohnungen seines Beraters nach dessen Abtauchen ohne Staatsanwalt oder richterlichen Durchsuchungsbefehl persönlich durchkämmte, hat wahrscheinlich ihn selbst belastendes Material sichergestellt und mit nach Japan genommen. Darauf deutet die Tatsache hin, dass Fujimori auf allen Filmen, die sich jetzt im Besitz der Staatsanwaltschaft befinden, entweder gar nicht oder nur am Rande auftaucht.

Der faktische Staatschef

Das Gesamtbild, zu dem sich die Mosaiksteinchen der Videos verdichten, ist so neu nicht. Schon zuvor war bekannt: Vladimiro Montesinos, dessen illegal erworbenes Vermögen auf knapp eine Milliarde Dollar geschätzt wird, war der Kopf einer Mafia, die sich mit Drogen- und Waffenhandel, Erpressungen von Unternehmen, der Privatisierung von öffentlichen Unternehmen oder der Einflussnahme auf Gerichtsurteile hemmungslos bereichert hat (vgl. LN 319). Minister, hohe Beamte, die Armeespitze, Funktionäre und Unternehmer waren die Profiteure einer systematischen staatlichen Korruption, deren Geflecht verschiedene gesellschaftliche Sektoren durchzog.
Dennoch nimmt die Bevölkerung die Veröffentlichung der
Videos mit Interesse auf. Denn die Vladivideos zeigen – wenn auch unvollständig –, welche Oppositionsabgeordneten, Staatsanwälte, Richter, Unternehmer oder Journalisten im Dienst der Mafia standen und wie sie dafür entlohnt wurden. Zum Beispiel überzeugte Montesinos den Besitzer des Fernsehkanals 4, José Francisco Crousillat, mit der monatlichen Zahlung von 1,5 Millionen Dollar, seinen Sender zum Sprachrohr der Regierung zu machen. Crousillat verpflichtete sich vertraglich, politische Sendungen zu eliminieren und keine Wahlspots von Oppositionsparteien zuzulassen. Eduardo Calmell, Direktor des einst angesehenen Blattes Expreso, gab sich dagegen mit zwei Millionen Dollar auf die Hand zufrieden.

Wie die Wirtschaft wuchs

Die Filmstreifen geben deutlich Auskunft über die tatsächlichen Machtverhältnisse während der vergangenen zehn Jahre: Vladimiro Montesinos war nicht nur faktischer Geheimdienstchef, sondern auch faktischer Staatschef. Der Mann im Hintergrund kontrollierte direkt Justiz, Parlament, Streitkräfte, Medien und alle Behörden. Er schmiedete politische Bündnisse, verteilte Bestechungsgelder, setzte die Verabschiedung von Gesetzen durch und instruierte die Abgeordneten der Regierungsfraktion. Sein Komplize Fujimori repräsentierte das Regime lediglich nach außen.
Auch um die Sorgen der Wirtschaftsbosse kümmerte sich Montesinos. Dionisio Romero, mächtigster Unternehmer und Banker im Land, bat Montesinos persönlich, den Konkurs des Fischmehlunternehmens Hayduk zu verhindern, dem Romeros Banco de Crédito großzügig Kredite ausgezahlt hatte. Der Geheimdienstchef erteilte den mit dem Konkursverfahren beauftragten Justizbeamten entsprechende Anweisungen. Romero, der sein Wirtschaftsimperium in den letzten zehn Jahren beträchtlich ausweitete, nahm auch an wichtigen Beratungen teil. Ein Videostreifen zeigt, wie Romero und Montesinos mit führenden Generälen vor den Präsidentschaftswahlen im letzten Jahr darüber diskutieren, ob man Fujimori schon nach dem ersten oder erst nach dem zweiten Wahlgang zum Sieger erklären solle.
Der US-Firma Newmont, die 51 Prozent der Anteile an der Yanacocha-Mine hält – der im peruanischen Cajamarca gelegenen, mittlerweile weltweit größten Goldmine –, hat Montesinos Umsätze von mehreren Hundert Millionen Dollar im Jahr zu verdanken. Als ein Schiedsgericht über die Anteile einiger Firmen an der Mine zu entscheiden hatte, intervenierte Montesinos persönlich zu Gunsten von Newmont. Auch das ist per Video belegt. Kein Wunder, dass bei solch rosigen Aussichten für US-Firmen einem weiteren Vladivideo zufolge der damalige US-Botschafter John Hamilton Montesinos zusicherte, die USA würden sich bei einer verfassungswidrigen dritten Kandidatur Fujimoris neutral verhalten. Wie die Unternehmensgruppe Romero oder die Firma Newmont sich für Montesinos’ Dienste bedankt haben, ist nicht bekannt.
Wenigstens sitzen führende Persönlichkeiten des alten Regimes
inzwischen hinter Gittern: die beiden letzten Oberkommandierenden der Streitkräfte des Regimes José Villanueva und Walter Chacón, der langjährige Polizeichef Fernando Dianderas, der ehemalige Vorsitzende der Wahlbehörde JNE und zwei Richter des Obersten Gerichtshofs. Auch Montesinos’ Schwester und seine Geliebte, auf deren Konten Millionenbeträge auftauchten, sitzen ein. Andere Kollaborateure der Mafia stehen unter Hausarrest. Einigen wenigen gelang es, sich rechtzeitig ins Ausland abzusetzen. Unter ihnen der Boss selbst, dessen Spuren sich in Venezuela verloren.
Ob wirklich alle Beteiligten ihren Vergehen entsprechend verurteilt werden, bleibt abzuwarten. Noch befinden sich einige von Montesinos Leuten in Justiz,
Medien und Kongress. Die verbliebenen Politiker aus Fujimoris Regierungsfraktion verteidigen das untergegangene Regime mit solcher Vehemenz, dass man glauben könnte, sie würden immer noch von Montesinos bezahlt. Sie behaupten, die Korruption wuchere in allen Parteien und Institutionen, die Praktiken der Fujimori-Regierung seien also nicht außergewöhnlich.
Nicolás Lúcar, politischer Agitator im gekauften Kanal 4 José Francisco Crousillats, versuchte Ende Januar sogar – selbstverständlich ohne Beweis –, den als integer geltenden Präsidenten Paniagua zu beschuldigen, Geld von Montesinos kassiert zu haben. Der empörte Präsident rief Lúcar daraufhin während der Sendung an, beschwerte sich und knallte den Hörer auf.
Noch dreister als Lúcar, der schließlich gefeuert wurde und in Costa Rica um politisches Asyl bat, tritt Carlos Boloña auf, der letzte Wirtschaftsminister des Regimes. Der glühende Neoliberale, der zu den engsten Vertrauten von Montesinos zählte, kandidiert bei den kommenden Präsidentschaftswahlen. Sein Hauptziel: die Bekämpfung der Korruption.

KASTEN

Dritter Weg gegen Opus Dei

Die wichtigsten Kandidaten der peruanischen Präsidentschaftswahlen

Die herausragenden Themen im diesjährigen Wahlkampf sind Arbeitslosigkeit und Korruption. Deshalb besitzt der Kandidat Carlos Boloña (50) bis November Wirtschaftsminister des korrupten Montesinos-Fujimori-Regimes, zum Glück keine Chance. Dagegen benimmt sich Alejandro Toledo (54) seit Monaten so, als sei er schon gewählt worden. Wie selbstverständlich reiste er zur Amtseinführung des mexikanischen Präsidenten Vicente Fox und mischte sich unter die anwesenden Staatschefs der Region. Immerhin: Toledo, der bei den letztjährigen Präsidentschaftswahlen um den Sieg betrogen wurde, kann sich den großen Verdienst anrechnen, den Widerstand gegen das Montesinos-Fujimori-Regime angeführt zu haben.
Doch Toledo kommt schlecht damit zurecht, dass er kein Oppositionsführer mehr ist. Im Gegensatz zum letzten Jahr muss er jetzt selbst Position beziehen, und das fällt ihm schwer. Niemand versteht so richtig, wohin der von ihm propagierte dritte Weg führen soll, den seine Vorbilder Tony Blair und Bill Clinton angeblich beschritten haben. Toledo füllt im Wahlkampf zwar noch Plätze und Straßen, doch die Menschen vermissen in seinen Worten eine klare Botschaft. Toledos Angst, sich festzulegen oder einen Fehler zu begehen, könnte ihm zum Verhängnis werden.
Neben Toledo schafft es nur noch ein Kandidat, die Massen zu mobilisieren: Ex-Präsident Alan García (51) der Ende Januar aus seinem neunjährigen Exil in Kolumbien und Frankreich zurückgekehrt ist. García spricht eine klare Sprache und ist ein begnadeter Redner. Als einziger Kandidat führt García einen linken Diskurs und bezieht eindeutig Front gegen neoliberale Wirtschaftspolitik. Doch seine Regierungszeit von 1985 bis 1990 steht für Inkompetenz und Korruption. Er hinterließ ein vom Bürgerkrieg zerrüttetes Land und eine Inflation von 7.600 Prozent. García trägt zudem die politische Verantwortung für die Ermordung von 80 meuternden Gefangenen in der Haftanstalt El Frontón im Jahre 1986. Vor allem sind es aber die zahlreichen Korruptionsskandale Garcías, die seinem erneuten Einzug in den Präsidentenpalast im Wege stehen.
García liegt in den Umfragen aber immerhin vor Fernando Olivera (42) dem Chef der Unabhängigen Moralischen Front (FIM), deren wichtigstes Thema schon seit Jahren die Korruption ist. Während der Präsidentschaft Fujimoris interessierte sich Olivera allerdings mehr für die Korruptionsskandale Alan Garcías als für jene der Regierungsmafia. So entging ihm, dass sein langjähriger Kampfgefährte an der moralischen Front, der FIM-Abgeordnete Ernesto Gamarra, selbst von Montesinos bestochen wurde. Dieses Versäumnis warf Olivera in den Umfragen deutlich zurück.
Die Entscheidung wird wahrscheinlich zwischen Alejandro Toledo und Lourdes Flores (41) fallen. Flores, langjähriges Mitglied der Christlichen Volkspartei (PPC) gründete mit dem Opus-Dei-Mann und langjährigen Fujimori-Kollaborateur Rafael Rey das Wahlbündnis Unidad Nacional. Vor einem Jahr hatte Rey noch auf den Kandidaten Federico Salas gesetzt, den Montesinos nach dem Wahlbetrug für 30.000 US-Dollar Monatsgehalt als neuen Ministerpräsidenten einkaufte. Auf der Parlamentsliste von Unidad Nacional kandidieren ebenfalls verschiedene Fujimori-Kollaborateure und Opus-Dei-Mitglieder.
Flores kommt in den Umfragen immer näher an Toledo heran. Die Gründe: Flores gilt als integrer und genießt die Unterstützung der Medien – besonders jener, die sich vorher an Montesinos verkauft hatten. Und viele PeruanerInnen trauen einer Frau mehr Standvermögen gegen die Versuchungen der Korruption zu. Toledo muss sich anstrengen. Sonst droht er abermals zur tragischen Figur der Wahlen zu werden.

Den Teufel und das Akkordeon besiegt

In Deutschland wurde das Akkordeon geboren. Und in Kolumbien wurde der geboren, der es spielen kann!“ Kein Zweifel, auf wen sich dieser Spruch Pacho Radas bezieht. Auf ihn selbst. An Minderwertigkeitskomplexen leidet er sicher nicht, der zierliche alte Musiker, der in einer Barackensiedlung am Rande der Karibikstadt Santa Marta haust. Wenn die Kamera Pacho Rada folgt, wie er, über einen schäbigen Bottich gebeugt, mit zaghaften Bewegungen seinen knochigen Körper säubert, fragt man sich allerdings unwillkürlich: Ist er dies wirklich, der „König des kolumbianischen Son“? Ist dies der legendäre Akkordeonist, der eines Nachts den Teufel besiegt haben soll, weil er sein Instrument besser beherrschte als dieser? Der Gabriel García Márquez beim Schreiben von „Hundert Jahre Einsamkeit“ zu der Romanfigur „Francisco el hombre“ inspirierte? Der angeblich – seine Tochter hat nachgezählt! – 422 Enkel und Urenkel in die Welt setzte? „Ich eine Legende, was für ein Unsinn.“, meint Pacho Rada selbst in einer Mischung aus Bescheidenheit und Koketterie.
Der unverwüstliche Charme von alten Musikern scheint es dem Schweizer Dokumentarfilmer Stefan Schwietert angetan zu haben. Bereits 1997 drehte Schwietert A tickle in the heart über die Epstein Brothers, eine legendäre New Yorker Klezmer-Combo. Ähnlich wie bei diesem gut geglückten Porträt verwebt Schwietert auch in seinem neuen Dokumentarfilm El acordeón del diablo, der die Geschichte Pacho Radas erzählt, die Geschichte der Musiker mit der ihrer Musik. Rada, der mit vier Jahren zum ersten Mal zum Akkordeon griff, hat es zwar zu Berühmtheit gebracht. Den Reibach machen allerdings seit den Sechzigern und Siebzigern Andere mit seiner Musik. Viele Leute dächten, er sei reich, meint Rada. Dabei wisse er manchmal nicht, was er am nächsten Tag essen solle. Erst vor wenigen Jahren hat Radas Tochter begonnen, ein Verzeichnis der Lieder ihres Vaters anzufertigen, um sie vor Ideenklau zu schützen. „Heute wird viel Rummel um die Musik gemacht“, meint Rada fast ein bisschen erstaunt. Wie eine kleine verstohlene Rache an den Plagiaten klingt es, wenn er sich über die Banalität aktueller Vallenato- und Cumbia-Hits mokiert. „Heute geht es in den Liedern nur noch um Phantasien von Frauen“, meint Rada und äfft sie nach: „Y tu y tu y tu y tu…“ – „Und du und du und du und du….“. Die Leute haben nicht mal Namen“, meint er abschätzig. Auch eines seiner Stücke hätten sie einfach verhunzt, damit alle besser mitgröhlen könnten. Statt „Francisco“ heisse es jetzt schlicht „tu negro“, „dein Schwarzer“.

Eigene Biographie als Geschichte

Daran, dass Pacho Rada viel zu erzählen hat, lässt der Film keinen Zweifel. Doch klafft häufig eine Schere zwischen dem, was zu sehen ist, nämlich einem alten Herrn, der sich langsam vorwärts bewegt und ruhig in der Hängematte liegt, und den wilden Geschichten, die sich um ihn ranken. Ganz offensichtlich bringt Pacho Rada über weite Strecken nicht mehr die Energie auf, um den Protagonisten seiner eigenen Biographie abzugeben. Entsprechend greift der Regisseur zu dem Kunstgriff, die Dinge, die Rada nicht vor der Kamera erzählt, durch einen Ich-Erzähler aus dem Off berichten zu lassen. Diese inneren Monologe – in der deutschen Fassung spricht sie Günter Lamprecht – basieren auf Schwieterts Interviews mit Rada und auf autobiographischen Aufzeichnungen, die als Buch erschienen sind. Die Omnipräsenz des körperlosen Erzählers, dessen Stimme so ganz anders ist als die des Protagonisten, nimmt der Geschichte einiges an Lebendigkeit. Gleichzeitig verleiht dieser Kunstgriff ihr jedoch eine fast literarische Dimension. Der Erzählfaden klebt nicht, wie in vielen anderen biographischen Filmen, eng an der Hauptperson, sondern wird in verschiedene Richtungen gesponnen. Weil Rada zu alt ist, um wie früher über Land zu fahren, begleitet das Team seinen Sohn Manuel auf einer Busfahrt an die Grenze zu Venezuela. Dort gibt es die besten und billigsten Akkordeons – natürlich alles Schmuggelware. Manuel wirkt wie das jüngere Alter Ego seines Vaters, allerdings eine Ecke vulgärer. Pacho Raba erzählt mit fast schüchternem Unterstatement: „Natürlich gefiel ich den Frauen, aber das lag eher an dem Akkordeon als an mir, ich war nie ein hübscher Kerl“ Dagegen lässt Manuel das Macho-Großmaul heraushängen: „Feste, Rum und Frauen und das Leben ohne Verpflichtungen“, lautet der Refrain eines seiner Werke.
Jenseits von Jubel, Trubel, Fiesta holen aber auch die Schattenseiten der kolumbianischen Realität den Film immer wieder ein. So erzählt ein Musiker en passant, dass für die Leute an der kolumbianischen Karibikküste die „Drogenbonanza Teil der Folklore“ sei: „In den Siebzigern identifizierten sich die Leute mit den Drogenhändlern.“ Narcos und Schmuggler, grosskotzige Machos und verlassene Frauen, Sippschaften, die ganze Elendsviertel bevölkern, Leben, die sich ohne Netz und doppelten Boden zwischen Ruhm und Elend abspielen. Ganz nebenbei zeichnet El acordeón del diablo eine Skizze der kolumbianischen Gesellschaft.
„Wenn der Teufel mir nur etwas Geld gäbe“, singt Petrona, eine alte schwarze Geschichtenerzählerin, die ihr Leben am Ufer des Rio Magdalena verbracht hat. Nachdem sie dieses Lied dichtete, habe sie Kreuze aufgehängt, erzählt sie. Die waren allerdings kurz danach herunter gerissen. War es der Wind, das teuflische Kind? Unübersehbar ist die Seelenverwandtschaft von Schwieterts Films mit dem erzählerischen Universum der fahrenden Sänger und Geschichtenerzähler sowie mit der Literatur Gabriel García Márquez’. Dieser, selbst großer Vallenato-Fan, hatte ursprünglich zugesagt, als Interviewpartner mitzuwirken, musste aber wegen seiner Krebserkrankung absagen. Auch was andere unglückliche Zwischenfälle angeht, steckte der Teufel bei diesem Projekt in vielen Details: So zerstörten die kolumbianischen Zollbehörden in Bogotá auf der Suche nach Drogen einen Teil des belichteten Materials, weswegen etliche Szenen nachgedreht werden mussten. Da grenzt es fast an ein Wunder, dass das Filmteam bei seiner Rückkehr den greisen Akkordeonisten noch lebend erwischte.

Dritte Hochzeit

Nicht nur das: Rada hatte sich sogar, wie der Nachspann verrät, in seinem zarten Alter noch einmal verliebt und zum dritten Mal geheiratet. Da müsste es doch mit dem Teufel zugehen, wenn Pacho Rada nicht sämtliche der Vallenato-Pop-Sänger, die seine Lieder klauen und sich dabei eine goldene Nase verdienen, überlebt!

El acordeón del diablo. Regie: Stefan Schwietert: Deuschland / Schweiz 2000, Farbe, 90 Minuten. Der Film startet am 8. März 2001 im Kino.

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