Diplomatische Krise im Cono Sur

Und wieder war Ex-General Lino Oviedo der Anlaß für die Krise. Der Marionettenspieler, der die Regierung Cubas Grau nach seiner Pfeife hatte tanzen lassen und als Drahtzieher des Attentats auf Vizepräsident Argaña vom 23. März 1999 gilt, setzte sich damals sofort nach Argentinien ab und erhielt dort prompt politisches Asyl (vgl. LN 299). Er versteht sich nicht nur gut mit Noch-Präsident Carlos Menem, sondern ist auch in obskure Geschäfte mit ihm verbandelt.
Oviedo traf sich in seinem Luxusanwesen in Buenos Aires mit seinen Gefolgsleuten und beriet Strategien eines politischen Come-backs. Bereitwillig äußerte er sich vor allem auch gegenüber jedem Journalisten, der ihn sprechen wollte – und eckte damit hart an: Politische Betätigung ist nach einer lateinamerikanischen Abmachung für politische Asylanten verboten. Die paraguayische Regierung unter Luis Angel González Macchi reagierte entsprechend energisch und verlangte die Auslieferung Oviedos. Als Menem dies verweigerte, begann ein Schlagabtausch von Beschuldigungen und Beleidigungen auf höchster Ebene, der mit dem zeitweiligen Abzug der paraguayischen Botschafter aus Argentinien und Uruguay auch handfeste Konsequenzen hatte. Der argentinische Außenminister Di Tello wiederum zweifelte an, daß die vierjährige Amtszeit des paraguayischen Präsidenten nach der Frühjahrskrise überhaupt legal ist.

Diplomatische Eiszeit

Die diplomatische Eiszeit dürfte nicht enden, bevor nicht das Problem Oviedo bewältigt ist. Eine Lösung ist da allerdings nicht in Sicht. Die paraguayische Regierung will Oviedo im eigenen Land hinter Gitter bringen. Argentinien und die USA fürchten jedoch, daß bei einer Rückkehr Oviedos die gesamte Region destabilisiert werden könnte. Die beiden aussichtsreichsten Kandidaten für die argentinische Präsidentschaft am 24. Oktober, Duhalde von den regierenden Peronisten und De la Rúa von der oppositionellen Alianza, wollen die Menemsche Politik nicht weiterverfolgen, sondern Oviedo so schnell wie möglich außer Landes bringen.
Wenn sich keine Drittländer bereiterklären, Oviedo aufzunehmen – Panama, Venezuela und sogar Deutschland waren hypothetisch im Gespräch –, könnte es spätestens nach dem Amtsantritt des neugewählten argentinischen Präsidenten am 10. Dezember doch zu einer Auslieferung Oviedos nach Paraguay kommen. Zunächst hat Menem die Situation zu entschärfen versucht, indem er Oviedo Anfang Oktober zum Umzug von Buenos Aires ins 3 000 Kilometer südlich gelegene Feuerland zwang.

Ein Strohmann für Feuerland

Im verbalen Schlagabtausch ist von argentinischer Seite gelegentlich das Argument vorgebracht worden, die Regierung des Nachbarlandes wolle mit dem Wirbel um Oviedo in erster Linie von den hauseigenen politischen Problemen ablenken. Das ist nicht aus der Luft gegriffen, zumal bei den paraguayischen Bemühungen um Oviedo offenbar die politische Symbolik eine wichtige Rolle spielt. So ist es um den nach Brasilien geflohenen Ex-Präsidenten Cubas Grau bemerkenswert still, obwohl dieser als Strohmann Oviedos keine geringe Verantwortung für die Frühjahrsunruhen trägt. Oviedo, der nach wie vor damit droht, nach Paraguay zurückzukehren und dann einen „Staatsstreich mit Wahlstimmen“ zu führen, taugt jedoch viel besser als Feindbild, gegen das die politischen Kräfte in Paraguay mobilisiert werden können. Dabei darf allerdings der nach wie vor beträchtliche Einfluß vom charismatischen General Oviedo auf seine Anhänger nicht unterschätzt werden.

Personalkarussell und Flügelkämpfe

Die Krise scheint so schlimm, daß eine von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin für den 13. Oktober anberaumte Tagung über die deutsch-paraguayische Zusammenarbeit kurzfristig abgesagt werden mußte – immerhin waren zwei Minister der ehemaligen Oppositionsparteien und verschiedene Parlamentarier geladen. Schließlich könnte der eigene Posten bei der Rückkehr ja andersweitig vergeben sein. Trotz der Gründung einer Regierung der nationalen Einheit nach der Staatskrise im Frühjahr sieht es mit der Einheit schlechter denn je aus. Noch wird der vereinbarte Status quo gehalten und sind die Ministerposten entsprechend verteilt, sechs für die Colorados, je zwei für die Liberalen und den Encuentro Nacional. Aber das Personalkarussell dreht sich, schon mehrere Minister mußten – mitunter auch auf Drängen aus den eigenen Reihen – ihren Posten räumen, unter ihnen Anfang September auch Außenminister Miguel Saguier von den Liberalen.
Nicht nur die seit 1940 ununterbrochen regierende Colorado-Partei ist in sich zerstritten, auch der Partido Liberal Radical Auténtico besteht zumindest aus zwei miteinander zerstrittenen Fraktionen. Ein Parteitag der Liberalen wurde unlängst zum Kampfschauplatz, als die Delegierten mit allen möglichen Einrichtungsgegenständen gegeneinander vorgingen. Setzt sich dieser Trend fort, könnten durchaus wieder mehrere selbständige liberale Parteien entstehen – unter dem Stroessner-Regime waren es zu Spitzenzeiten acht. Der sozialdemokratisch orientierte Encuentro Nacional scheint noch nicht in diesem Maße betroffen, obwohl sich auch dort mehrere innerparteiliche Strömungen mit eigenen Namen und eigenen Programmen gebildet haben.

Ex-Präsident Wasmosy unter Druck

Geschickt hat es der Parteiflügel des ermordeten Vizepräsidenten Luis María Argaña geschafft, seine Machtposition innerhalb der Colorado-Partei auszubauen: Die beiden Söhne von Argaña scheinen die Fraktion fest im Griff zu haben. Obwohl die Fraktion UNACE des flüchtigen Generals Oviedo noch immer existert, laufen immer mehr ihrer AnhängerInnen zu den Argañisten über. Oder aber die Betroffenen werden aus der Partei ausgeschlossen – ein Schicksal, das Oviedo und 60 seiner Gefolgsleute ereilte. Gegenwärtig wird unter anderem versucht, den gewählten Bürgermeister von Ciudad del Este an der brasilianischen Grenze abzusetzen, weil er sich noch immer zu Oviedo und seiner Bewegung bekennt. Aber auch die dritte große Colorado-Fraktion des ehemaligen Präsidenten Wasmosy steht seitens des Argaña-Flügels unter Druck. Die Immunität von Wasmosy als Senator auf Lebenszeit wurde aufgehoben, und damit ist der Weg bereitet, ihm wegen Korruption den Prozeß zu machen. Unter diesen Bedingungen dürfte die Regierung der nationalen Einheit das Jahresende nicht überstehen.

Ganz normale Katastrophen

Wer in den letzten Wochen die kolumbianische Presse verfolgte, hätte den Eindruck gewinnen können, die Öffentlichkeit sei fast etwas erleichtert darüber, daß ausnahmsweise einmal nicht Krieg und Wirtschaftskrise, sondern nur eine ganz gewöhnliche Naturkatastrophe dem Land Schwierigkeiten bereitete. Sintflutartige Regenfälle im ganzen Land führten zum Zusammenbruch des innerkolumbianischen Verkehrs: Auf den meisten Straßen ging nichts mehr. Die Tageszeitung El Colombiano schrieb gar, daß Kolumbien seine Flüsse als Hauptverkehrsadern neu entdecken müsse. Bis weit in dieses Jahrhundert hinein wurde der Personen- und Güterverkehr zwischen andinem Hochland und der Atlantikküste fast ausschließlich über Cauca und Magdalena, die beiden großen Ströme des Landes, abgewickelt. In Anbetracht weggespülter Straßen und überschwemmter Landesteile seien Boote wieder zu einem zentralen Verkehrsmittel geworden, so das Medelliner Blatt.

Interventionspläne vorerst auf Eis gelegt

Ruhiger wurde es hingegen um das zentrale Thema der Monate Juli und August, nämlich die befürchtete Militärintervention in Kolumbien, wie sie Teile der US-Regierung gefordert haben. Hatte es im Sommer während der Lateinamerika-Rundreise von Clinton-Berater Thomas Pickering und dem obersten US-Drogenbekämpfer Barry McCaffrey noch so ausgesehen, als sei eine von der US-Luftwaffe unterstützte Invasion von argentinisch-peruanisch-ecuadorianischen Militärs nur noch eine Frage der Zeit, werden derartige Spekulationen im Moment von den beteiligten Regierungen wieder zurückgewiesen. Selbst der argentinische Präsident Menem, der sich im August noch lautstark für die Entsendung einer multinationalen Eingreiftruppe ausgesprochen hatte, lehnte nun Anfang Oktober eine derartige Maßnahme ab.
Der Grund für diese Kehrtwende dürfte in der heftigen Reaktion der internationalen Öffentlichkeit zu suchen sein. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez und sein Außenminister José Vicente Rangel (der im übrigen aus dem linkssozialdemokratischen Movimiento al Socialismo kommt), hatten ihrerseits bei mehreren Staatsbesuchen für eine Verhandlungslösung im kolumbianischen Konflikt die Werbetrommel gerührt und sich gegen eine Intervention ausgesprochen. Der Druck wurde schließlich so groß – Prominente wie der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes nannten die Interventionspläne „selbstmörderisch“, und die kolumbianische Öffentlichkeit zeigte sich empört –, daß selbst die Regierung in Bogotá Stellung gegen die mögliche Invasion bezog. Solange er Präsident sei, so Andrés Pastrana, werde es keine derartige Intervention geben.
Damit dürfte die Sache vorübergehend auf Eis gelegt sein, denn die US-Pläne sahen bisher vor, daß Präsident Pastrana die Nachbarregierungen wegen der prekären Sicherheitssituation im Land offiziell um die Entsendung von Truppen bitten solle. Dies erscheint nun jedoch recht unwahrscheinlich.

Die Militarisierung geht weiter

Es ist jedoch gut möglich, daß die Debatte um eine Militärintervention in den vergangenen Monaten auch deshalb so lautstark geführt wurde, um eine reibungslosere Erhöhung der US-Militärhilfe durchzusetzen. Tatsächlich beschäftigt sich die außenpolitische Kommission des US-Senats im Augenblick mit einer Aufstockung der Militärhilfe von offiziell bisher 289 Millionen auf 1,5 Milliarden US-Dollar. Immer deutlicher wird dabei, daß die USA gewillt sind, innenpolitisch massiv in Kolumbien einzugreifen. So berichtete die Bogotaner Tageszeitung El Tiempo Anfang Oktober, daß der US-Senat die Militärhilfe an Bedingungen knüpfen werde. Die Gelder würden demnach nur fließen, wenn die kolumbianische Regierung zusichere, die Kontrolle über die entmilitarisierte Zone in Südkolumbien „ausüben zu können“. Dies sei zwar – so die Quelle von El Tiempo – kein Ultimatum an die kolumbianische Regierung, aber der Hinweis zeigt doch, wie wenig Washington von den Friedensgesprächen zwischen Regierung und Guerilla hält. Immerhin hatte erst die Übergabe des 42 000 Quadratkilometer großen Gebiets an die FARC die Aufnahme von Friedensgesprächen zwischen Regierung und Guerilla im Januar diesen Jahres ermöglicht. Seitdem hat die US-Regierung mehrmals versucht, dieses Zugeständnis Pastranas an die Aufständischen wieder rückgängig zu machen.
So schreitet denn auch die Militarisierung der Region munter weiter voran. Wie nun bekannt wurde, werden 3 300 Soldaten der noch in Panama stationierten US-Truppen das Land nicht, wie im Torrijos-Carter -Abkommen vereinbart, zum Jahresende verlassen. Mit ihnen soll eine 2.000 Mann starke, panamaisch-US-amerikanische Sondereinheit gegründet werden, die die Grenze zu Kolumbien kontrollieren wird. Desweiteren berichtete die alternative Nachrichtenagentur ANNCOL, daß die US-Army in der Nähe der kolumbianischen Grenze uranhaltige Munition getestet habe, um deren Tauglichkeit in tropischen Ländern zu untersuchen.

Alltäglicher Wahnsinn

Und auch in Kolumbien selbst bleibt die Situation gespannt. In der Umgebung der Ortschaft Arenal im Departement Bolívar wurden erneut schwere Kämpfe zwischen Armee und Paramilitärs auf der einen und der Guerilla auf der anderen Seite gemeldet. Genau ein Jahr nach der Unterzeichnung eines Abkommens, in dem sich die Pastrana-Regierung gegenüber regionalen Bauernverbänden verpflichtete, die Zivilbevölkerung vor paramilitärischen Massakern zu schützen, gehen Armee und Todesschwadrone wieder einmal gemeinsam gegen die Zivilbevölkerung vor. So zitierten Menschenrechtsorganisationen den Fall dreier Bauern aus der Region, die in Arenal von Soldaten an Paramilitärs übergeben und dann erschossen worden seien.
Schon beinahe skurril sind die Meldungen aus Süd- und Ostkolumbien, wo Luftwaffenkommandant Hector Fabio Velásco einfach ein nächtliches Fahrverbot verhängte. Von nun an dürfen Fahrzeuge nach 18 Uhr nicht mehr ohne Erlaubnis der Luftwaffe auf den Straßen der Region unterwegs sein. Die Armee hofft dadurch offensichtlich, die Kontrolle über das Gebiet aus der Luft zurückzuerobern. Die Maßnahme wurde allerdings selbst von der Defensoría del Pueblo, einer Regierungsstelle zum Schutz der Zivilbevölkerung, als inakzeptabel zurückgewiesen. Es handele sich um eine Drohung gegen die Zivilbevölkerung, so der Vorsitzende José Fernando Castro. Gerechtfertigt wird die Militarisierung unter anderem damit, daß sich die kolumbianische Guerilla auf eine Eskalation des Bürgerkriegs vorbereite. Der Armee-Geheimdienst veröffentlichte Anfang Oktober unter anderem die Information, die FARC hätten 10 000 russische Gewehre gekauft, die sie nun unter der Bauernbevölkerung verteile wolle. Selbst wenn die Information stimmen sollte – was durchaus anzuzweifeln ist – läßt sich in Anbetracht der Milliardenbeträge, die die Regierung jährlich in den Krieg investiert, allerdings kaum von einem Wettrüsten sprechen.

Eine zivile Opposition formiert sich

Das größte Kopfzerbrechen dürften der Pastrana-Regierung jedoch im Augenblick weder Naturkatastrophen noch der Krieg bereiten. Viel unberechenbarer für sie ist die Entwicklung der politischen und sozialen Landschaft, denn in Kolumbien entsteht allmählich wieder so etwas wie eine öffentliche Opposition. In Venezuela gehen die Gespräche zwischen ELN-Guerilla und VertreterInnen der Gesellschaft weiter, die vergangenes Jahr im Kloster Himmelspforten aufgenommen worden waren. Besondere Bedeutung bekommen diese Kontakte dadurch, daß die venezolanische Regierung nun auch offiziell angeboten hat, die geplante Nationalkonvention auf venezolanischem Territorium stattfinden zu lassen. Dies wäre eine akzeptable Lösung, sowohl für die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen als auch für die Guerilla, die die Konvention wegen nicht vorhandener Sicherheitsgarantien auf kolumbianischem Territorium immer wieder verschieben mußten.
Interessant ist auch die Entwicklung der „No mas“-Bewegung, die sich gegen die Praxis des Verschwindenlassens und der Entführungen richtet und sowohl auf die regierenden Eliten als auch auf die Guerilla Druck ausübt. Anders als vielleicht zu vermuten war, haben diese „politisch-neutralen“ Massendemonstrationen bisher nicht zu einer Einheitsfront gegen die Linke, sondern zu einer Radikalisierung rechter Armeekreise geführt. Mit den Morden an dem Universitätsprofessor Bejarano und dem Fernsehsatiriker Garzón haben die Paramilitärs nun auch die politische Mitte zum Gegner auserkoren. Als Ergebnis davon ist nun auch die liberale Abgeordnete Piedad Córdoba ins Exil gegangen, die bei ihrem Abschied schwere Vorwürfe gegen den Innenminister Néstor Humberto Martínez erhob, weil dieser auf ihre wiederholten Bitten um bessere Sicherheitsvorkehrungen nicht reagiert habe.
Explosiv ist schließlich auch die Situation im Arbeitssektor. Die Lehrergewerkschaft FECODE hat zum 14. Oktober einen unbefristeten Streik ausgerufen, nachdem die Regierung nicht im geringsten auf die Forderungen des Generalstreiks Anfang September eingegangen war. „In Wirklichkeit gab es keine Verhandlungen“, so die FECODE-Leitung, „sondern eine Farce. Während wir am Verhandlungstisch saßen, hat die Regierung eine neue Erhöhung der Benzinpreise beschlossen, einseitig eine Lohnkürzung für 90 Prozent der Staatsangestellten durchgesetzt und ein neues Abkommen mit dem IWF geschlossen.“(siehe dazu Kurznachrichten) Auch die Wochenarbeitszeit der Lehrer sei erweitert und eine faktische Abschaffung der Abendschulen beschlossen worden, die vor allem tagsüber arbeitenden Jugendlichen zugute kommt.
Hierzu addiert sich schließlich die schwere Krise des Gesundheitswesens, das durch die Privatisierungen der Regierungen Gaviria und Samper praktisch zerschlagen wurde. Mit der Einführung von versicherungsfinanzierten „Gesundheitsunternehmen“ (EPS) hat sich der kolumbianische Staat seiner Verantwortung für die Krankenversorgung 1995 praktisch entledigt. Das Ergebnis liegt nun vor: Mehr als 20 Krankenhäuser sind von Schließungen bedroht. Vor diesem Hintergrund haben inzwischen auch die anderen Gewerkschaften des öffentlichen Sektors zum Generalstreik aufgerufen – nur sechs Wochen, nachdem das Land das letzte Mal streikbedingt still stand.

Vom selben Autor ist im ISP-Verlag „Kolumbien – Große Geschäfte, staatlicher Terror und Aufstandsbewegung“ erschienen. Der Autor steht für Veranstaltungen gerne zur Verfügung; Kontakt über die Lateinamerika Nachrichten.

Zwischen Fujimori und Heiligem Augustinus

Der 45-jährige Militär mit der
radikalen Rhetorik war der einzige Kandidat, der den venezolanischen Wählerinnen und Wählern im vergangenen Dezember eine Alternative zu den abgewirtschafteten Parteien versprach.
Vierzig Jahre Demokratie nach westlichen Regeln und unermeßlicher Reichtum aus den Ölfeldern, hätten Venezuela eigentlich in einen florierenden Industriestaat verwandeln können. Aber wo von 23 Millionen EinwohnerInnen geschätzte 80% in Armut leben, hat die Demokratie jede Glaubwürdigkeit verloren. Meutereien in den überbelegten Gefängnissen werfen immer wieder für ein paar Augenblicke ein Schlaglicht auf den Strafvollzug in den überbelegten Haftanstalten. Das Problem sitzt aber tiefer. Denn viele Häftlinge sitzen Jahre ab, ohne jemals einen Untersuchungsrichter gesehen zu haben. Es ist bekannt, daß 80 Prozent der Strafgefangenen nie verurteilt wurden. Korruption und Ineffizienz der Justiz sind notorisch. Der Justizausschuß der Constituyente (Verfassunggebende Versammlung)prüft mehr als 3000 Beschwerden gegen Richterinnen und Richter. 56 wurden bereits abgesetzt. Chávez weiß, wo es juckt und argumentiert moralisch, wenn ihm vorgeworfen wird, den Obersten Gerichtshof zu ignorieren.
Die Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung am 25.Juli, die der Partei des Präsidenten, dem Polo Patriótico, 120 von insgesamt 131 Mandaten bescherten, dürften Beweis genug sein, daß das Volk den Stil des ehemaligen Fallschirmjägeroffiziers goutiert. Der Wählerwille ist trotz 47prozentiger Stimmenthaltung so eindeutig, daß am Freibrief dieser Regierung für radikale Umwälzungen nicht zu zweifeln ist.
Was Hugo Chávez wirklich im Schilde führt, weiß wohl niemand. Offensichtlich ist, daß er sich durch legale Spitzfindigkeiten nicht von seinem Weg abbringen läßt. Wenn sich sein Wille verfassungskonform durchsetzen läßt, so zieht er diesen Weg vor, wenn nicht, dann sind ihm auch andere Methoden willkommen. Als der Oberste Gerichtshof vor einigen Wochen Einspruch gegen seine Liste der zur Beförderung anstehenden Offiziere erhob, setzte sich der Präsident über das Höchstgericht hinweg. Er sprach ihm die moralische Autorität ab, seinen Kameraden, die ihn 1992 beim Putschversuch begleitet hatten, das Aufrücken vor der Zeit zu verweigern. Die Präsidentin des Obersten Gerichtshofes, Cecilia Sosa, ist inzwischen aus Protest zurückgetreten. Als der Kongreß Chávez im März die gewünschten Sondervollmachten verweigerte, ließ er den Generalstab antreten, um eine militärische Intervention der Legislative im Stil von Perus Alberto Fujimori anzuordnen. Die Generäle machten damals nicht mit, und das plötzliche Einlenken der Parlamentarier verhinderte, daß die Zwangsmaßnahme neuerlich auf die Tagesordnung gesetzt wurde.

Kompromiß mit
dem Kongreß
Erst nach dem erdrutschartigen Erfolg bei der Wahl der Verfassunggebenden Versammlung blies Chávez neuerlich zum Angriff auf den erst im November gewählten Kongreß, der von den Traditionsparteien Acción Democrática (Sozialdemokarten) und Copei (Christdemokraten) kontrolliert wird. Die Opposition hatte ihm den Gefallen getan, durch unsinnige Manöver mehrere Initiativen zu blockieren und sich damit als Sündenbock für ausgebliebene Erfolge geradezu anzubieten. Chávez ernannte die Constituyente kurzerhand zur „Soberanísima“, zur über allem stehenden souveränen Staatsgewalt, die bis zur Neuwahl des Parlaments auch die legislativen Funktionen übernehmen sollte. Das Parlament, das sich zunächst selbst beurlaubte, um eine Konfrontation zu vermeiden, durfte keine Plenarsitzungen mehr abhalten und wurde auf eine „Delegiertenkommission“ mit wenigen untergeordneten Kompetenzen reduziert. Am 30. August übernahm die Constituyente alle Funktionen des Kongresses, „bis die Delegiertenkommission ihre Aufgaben wahrnimmt.“
Wenige Tage vorher hatte der Versuch der Abgeordneten, sich gegen den Widerstand der neuen Macht im Plenarsaal des Parlaments zu versammeln, 40 Verletzte gefordert. Tränengaspatronen flogen in die Menge, die Polizei setzte Schlagstöcke ein. Von brutaler Repression kann aber kaum gesprochen werden. Für die chavistas, die Anhänger des Präsidenten, ist klar, daß die Opposition Blutvergießen provozieren wollte, um die Weltöffentlichkeit gegen den Präsidenten aufzubringen. Erst über Vermittlung der Bischofskonferenz konnte schließlich ein Kompromiß erzielt werden, der dem Kongreß bis Dezember seine normalen Funktionen garantiert. Bei der Approbation der neuen Verfassung durch Volksabstimmung im kommenden November, soll gleichzeitig über Neuwahlen abgestimmt werden.
Keine Frage, daß Chávez den Machtkampf für sich entscheiden wird. Die alten Parteien sind, wie selbst der zweimalige Präsident Carlos Andres Pérez zugeben muß, “leere Schalen“. Ihre Kerne sind längst verfault. Schließlich wird ihnen angekreidet, daß die phantastischen Einnahmen der Ölbonanza der Siebziger Jahre keinen nachhaltigen Wohlstand für alle Venezolaner hinterlassen haben. Dem alten Regime, das seinen undemokratischen Charakter jahrzehntelang mit demokratischen Ritualen zu verschleiern pflegte, hat Chávez den Todesstoß versetzt: “Eine friedliche und demokratische Revolution wächst auf dem Bankrott des Staates.“ Zu den Bankrotteuren gehören auch die Funktionäre des allmächtigen Gewerkschaftsbundes CTV, der über 4000 Einzelgewerkschaften mit mehr als zwei Millionen Mitglieder zählt. Ähnlich wie in Mexiko und Argentinien sind viele Gewerkschaftsbosse eng mit Politik und Kapital verflochten und paktieren häufig hinter dem Rücken der Arbeiter. Um eine Verurteilung durch die ILO zu vermeiden, verzichtet Chávez zwar auf die Auflösung der CTV hat aber gerichtliche Untersuchungen gegen 2000 Gewerkschaftsfunktionäre eingeleitet.
Der Befürchtung, er würde ein im Grunde autoritäres System durch eine Militärdiktatur ersetzen, hält der ehemalige Putschist zu recht entgegen, es seien gerade die Zivilregierungen gewesen, die die Armee gegen ihre Bevölkerung eingesetzt hätten. Die brutale Unterdrückung der Bürgerrevolte gegen das Anpassungspaket des Carlos Andres Pérez im Februar 1989, bekannt unter dem Namen „Caracazo“, war der wichtigste Auslöser der Militärerhebung von 1992. Eben weil die Soldaten sich als Repressionsinstrument mißbraucht fühlten.

Chávez gesteht
Schwächen ein
Chávez gefällt sich in seinem Doppelcharakter als Militär und Zivilist. Tatsächlich bestätigen seine Vertrauten, daß er nicht nur zuhören kann, sondern auch eingesteht, nicht über alles Bescheid zu wissen. Eine Tugend, die anderen Caudillos abgeht. „Er hört zu und nimmt unsere Ratschläge an“, lobt Luis Miquilena, der 83-jährige Präsident der Constituyente und einer der engsten Vertrauten des Staatsoberhauptes. Die Herrschaft eines mit weitreichenden Vollmachten ausgestatteten Ex-Offiziers mit einer Militärdiktatur gleichzusetzen ist auch deswegen verfrüht, weil Chávez keineswegs die Armee als willfähriges Instrument zur Verfügung hat. Im Gegenteil: sein geringer Rückhalt bei der hohen Offizialität zählt zu seinen größten Schwächen. Daß viele Generäle ihn für einen Abenteurer halten und mit großem Mißfallen registrieren, wie Chávez durch Förderung seiner Freunde die Hierarchie durcheinanderbringt, ist belegt.
Rhetorische Anleihen bei Fidel Castro und anderen lateinamerikanischen Revolutionären werden regelmäßig mit frenetischem Applaus der Anhängerscharen belohnt. Eitle Demagogie ist es, wenn Chávez den Vorwurf, immer mehr Macht in seinen Händen zu vereinigen, empört zurückweist. Denn die formal oberste Staatsgewalt, die Verfassunggebende Versammlung, gebärdet sich bisher päpstlicher als der Papst. Hatte Chávez die Verlängerung seines Mandats auf sechs Jahre gefordert, so gab sie ihm sieben. Bei einmaliger Wiederwahl, die bereits vorprogrammiert ist, würde er also 14 Jahre über Venezuela regieren. Hitzige Debatten entfachen sich zwischen den Moderaten und den Eiferern, die auch vor Konflikten mit den Nachbarn nicht zurückscheuen, etwa, wenn sie in den Sternenbogen der Nationalfahne einen zusätzlichen Stern aufnehmen wollen für die (längst als unabhängige Republik konstituierte) ehemalige Provinz Guayana.
Bisher hat Chávez trotz radikaler Rhetorik äußerste Flexibilität an den Tag gelegt, wenn sich Widerstand regte. Teodoro Petkoff, ein ehemaliger Guerillero, der unter Rafael Caldera (1994-1999) als Planungsminister diente, empfiehlt daher, den Caudillo nicht nach seinen Worten, sondern nach seinen Taten zu beurteilen: “Man muß ihm auf die Hände sehen, nicht auf den Mund.“

KASTEN:
Die neue Verfasssung

Sieben Jahre Amtszeit und unmittelbare Wiederwahl des Präsidenten. Das sind vordergründig die wichtigsten Neuerungen, die die Verfassunggebende Versammlung anpeilt. Gegenüber dem in Lateinamerika traditionell verankerten Wiederwahlverbot, das Diktaturen verhindern soll, erscheint das als Rückschritt. Unbestreitbar ist aber, daß Regierungen mit einer Perspektive von vier bis fünf Jahren, sich als unfähig erwiesen haben, die Wirtschaftsstrukturen so umzugestalten, daß die galoppierende Ausgrenzung der Armen gebremst wurden. Wenn man unterstellt, daß Chávez seine „Revolution“ ernst meint, so ist auch das Vorhaben, 14 Jahre am Ruder zu bleiben, nur konsequent. Entscheidend wird wohl die Frage, ob die neue Verfassung genügend Sicherheiten gegen einen Machtrausch verankert. Bisher wurden Skeptiker positiv überrascht.
Den traditionellen drei Gewalten (Exekutive, Legislative, Judikative) wird mit der „Moralischen Kraft“ (Poder Moral) eine vierte zur Seite gestellt. Nach dem vorliegenden Entwurf soll sie aus 19 vom Volk gewählten Mitgliedern “von erprobter Ehrenhaftigkeit“ bestehen. Zu ihren Aufgaben gehört die Auswahl der Richter des Obersten Gerichtshofes und die Bestellung des bisher nicht existenten Volksanwaltes. Der bisherige Kongreß, der aus Abgeordnetenkammer und Senat besteht, soll durch ein Einkammernparlament mit 135 Sitzen ersetzt werden. Als Schutz vor diktatorischen Ambitionen ist der aus der spanischen Verfassung entlehnte Staatsrat gedacht, der den Präsidenten und die Minister von verfassungswidrigen Akten abhalten soll.
Bemerkenswert ist das ausdrückliche Verbot des Verschwindenlassens. Auch in Venezuela wurden während der sechziger Jahre Personen von Militärs beseitigt. Das moralisch begründete Recht auf Widerstand gegen ein tyrannisches Regime, erstmals vom Heiligen Augustinus definiert und von Chávez bei seiner Revolte 1992 angerufen, wird in Verfassungsrang erhoben.
In Kolumbien sorgte jener Artikel für Empörung, der alle internationalen Verträge „die die Souveränität verletzen oder beschneiden“ annulliert. Ein auf Eis gelegter Grenzkonflikt zwischen den beiden Nachbarn würde damit akut. Chávez soll aber inzwischen bereit sein, den Absatz zurückzuziehen oder abzuschwächen. Auch die Bestimmung, die für alle Verträge, bei denen „das nationale Interessse“ betroffen ist, ausschließlich heimische Gerichte für zuständig erklärt, wird nach einem Aufschrei der Unternehmer überarbeitet. Die Möglichkeit von Enteignungen im öffentlichen Interesse wurde gegenüber dem Erstentwurf stark eingeschränkt, der Schutz des Privateigentums ausdrücklich betont. Wie die soziale Umverteilung mit Anreizen für die Investoren unter einen Hut gebracht werden soll, ist dem Verfassungsentwurf genausowenig zu entnehmen, wie dem dünnen „Entwicklungsplan 1999/2000“, der im übrigen von jedem Sozialdemokraten unterschrieben werden könnte. Immerhin: die Drosselung der Erdölförderung der OPEC, die den Preis für ein Barrel Rohöl von 10 auf 17 Dollar hinaufgetrieben hat, wird von arabischen Mitgliedern vor allem der Initiative von Hugo Chávez angerechnet und dürfte Venezuela dieses Jahr zusätzliche Einnahmen von drei Milliarden Dollar bescheren.
BeobachterInnen erwarten mit Spannung die Definition der Rolle der Armee. Aus der Bildungspolitik wird sich ablesen lassen, ob Chávez die Revolution ernst meint und das Volk zum Denken erziehen will oder lieber weiterhin mit manipulierbaren Massen regiert. Die Verfassunggebende Versammlung hat bis November Zeit, ein neues Grundgesetz vorzulegen, das dann durch Volksabstimmung abgesegnet werden muß.

Militärintervention in Kolumbien?

Die beunruhigendste Nach-
richt im Zusammenhang mit dem kolumbianischen Konflikt wurde Anfang September nicht aus dem südamerikanischen Land selbst, sondern aus dem brasilianischen Manaos vermeldet. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez traf sich dort mit seinem brasilianischen Kollegen Cardoso, um diesen zu einer klaren Stellungnahme gegen die mögliche Militärintervention zu bewegen. Eine solche Operation wäre verhängnisvoll, erklärte Chávez, und würde auch Venezuela in den Konflikt hineinziehen.

Venezolanische
Reisediplomatie
Für wie ernst die venezolanische Regierung die Interventionsgerüchte hält, zeigt sich am Ausmaß ihrer Reisediplomatie. Obwohl die innenpolitischen Konflikte in Venezuela nicht gerade unbedeutend sind, seit die Verfassungsgebende Versammlung das Parlament in Caracas faktisch ausgeschaltet hat, entwickelt die Regierung Chávez derzeit zahlreiche außenpolitische Initiativen. So reiste Außenminister José Rangel ebenfalls Anfang September nach Buenos Aires, um gegenüber Menem die venezolanische Position zu bekräftigen – immerhin gilt der argentinische Präsident neben seinem peruanischen Amtskollegen Fujimori als wichtigster Allierter der US-Militärs. Außerdem kündigte Chávez an, sich Ende September mit den Generalsekretären der UNO, der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und dem Papst zu treffen, um über Friedensinitiativen für Kolumbien zu beraten. Chávez schwebt nach eigenen Angaben eine internationale Konferenz unter UN-Mandat vor, die er eventuell schon bei der Generalkonferenz der UNESCO im Oktober öffentlich vorstellen will.
Die venezolanische Reisediplomatie hat handfeste Ursachen. Ende August war der US-Drogenbekämpfer Barry McCaffrey allein deswegen nach Argentinien gereist, um mit Menem über eine Militäroperation in Kolumbien zu sprechen. Auch aus Peru und Ecuador wird berichtet, daß US-Gesandte bereits detaillierte Absprachen mit den jeweiligen Regierungen getroffen haben.
Tatsächlich sind bereits seit 1996 – als die FARC-Guerilla in Südkolumbien zum Bewegungskrieg überging und der Armee mehrere schwere Niederlagen zufügte – hochrangige US-Delegationen in der Region aktiv und haben unter dem Deckmantel der „Drogenbekämpfung“ eine schleichende Intervention eingeleitet. So ist Kolumbien im vergangenen Jahr zum drittgrößten Empfänger von US-Militärhilfe aufgestiegen. Ex-General Barry McCaffrey, Mitglied des US-Sicherheitsrats, verkündete zudem, die von Kolumbien angeforderten 500 Millionen US-Dollar seien in Anbetracht der katastrophalen Lage vor Ort nicht genug. Inzwischen ist von bis zu 1,3 Milliarden US-Dollar jährlich die Rede.

Konkrete Pläne für
eine Eingreiftruppe
Bei ihren Besuchen haben Barry McCaffrey, der Chef des US-Kommandos „Süd“ Charles E. Wilhelm sowie der Clinton-Vertraute Thomas Pickering angeblich auch konkrete Pläne für eine multinationale Eingreiftruppe vorgelegt. McCaffrey erklärte bei seinem Besuch in Buenos Aires gegenüber der Tageszeitung Clarín recht deutlich, „die FARC hätten kein Interesse an einer friedlichen Lösung“ und die US-Regierung „müsse bis Weihnachten eine Entscheidung getroffen haben“.
Um nicht in eine Situation wie in Vietnam hineinzurutschen, versucht sich die Clinton-Administration allerdings in verschiedene Richtungen abzusichern. So erklärte McCaffrey, eine direkte US-Intervention sei „selbstmörderisch“. Man bevorzugt stattdessen die Entsendung einer peruanisch-argentinisch-ecuadorianisch-brasilianischen Eingreiftruppe, die diskret von US-Sicherheitsspezialisten und Militärberatern geleitet und von Flugzeugträgern der US-Navy unterstützt werden könnte. Um vor Regierungswechseln gefeit zu sein, sprach Barry McCaffrey in Argentinien auch mit Menems potentiellen Nachfolgern: Eduardo Duhalde von den Peronisten und Fernando De la Rúa von der Radikalen Partei.

Neuformierung der
US-Truppenpräsenz
In der kolumbianischen Tageszeitung El Colombiano wurde unterdessen sogar schon ein Termin für die Militäroperation genannt. Anfang 2000 könne die Regierung Pastrana ihre Gespräche mit der Guerilla abbrechen und dann internationale Hilfe anfordern, hieß es Anfang September. Der im schwedischen Exil ansässige kolumbianische Nachrichtendienst Anncol zitierte zudem den peruanischen Geheimdienstchef Montesinos, den Drahtzieher Fujimoris. Ihm zufolge sei an den Einsatz von 120.000 Soldaten gedacht, die 45 bis 60 Tage lang die Guerilla-Camps in der Grenzregion angreifen und von der kolumbianischen Armee eroberte Gebiete sichern könnten.
Schon jetzt gibt es eine umfassende Neuformierung der US-Truppenpräsenz in der Region, die sich nur noch schlecht unter dem Deckmantel der „Drogenbekämpfung“ verbergen läßt. Die US-Armee erklärte, daß die heute in Panama stationierten Truppen nach der Übergabe der Kanalzone an Panama auf keinen Fall nach Norden zurückverlegt würden. Sie sollten vielmehr innerhalb der Karibik auf verschiedene Stützpunkte verteilt werden. Der neuen panamenischen Präsidentin Moscoso zufolge werden 3300 US-Soldaten „zum Minenräumen“ im Land bleiben, die die panamenische Polizei in Anti-Guerilla-Taktiken ausbilden sollen (Panama besitzt seit der US-Invasion 1990 keine eigene Armee mehr).
Weitere 1830 US-Infanteristen aus der Kanalzone sowie 2700 Angehörige von Spezialeinheiten werden auf den Karibikinseln Aruba und Curacao unweit der kolumbianischen Küste stationiert, wo im Moment neue Armee-Flugplätze gebaut werden. Etwa 1.000 Soldaten plus Hubschrauber kommen auf den hondurenischen Stützpunkt Soto de Caño, von dem aus sowohl die Unruhegebiete in Mexiko als auch Kolumbien erreicht werden können. Der Rest soll nach Puerto Rico verlegt werden.
Zur wichtigsten Basis für die Anti-Guerilla-Operationen in Kolumbien werden jedoch das Amazonasbecken sowie diverse Stützpunkte im Land selbst. Die in den vergangenen sechs Monaten ausgebauten Militärbasen in Riverine (Peru) und El Coca (Ecuador) werden vollständig vom US-Verteidigungsministerium finanziert und haben eine starke Präsenz von US-amerikanischen Special Operation Forces, die dort auch brasilianische Militärs im Dschungelkampf ausbilden. Ebenfalls mit US-Hilfe modernisiert wurden die kolumbianischen Stützpunkte Puerto Leguízamo (an der peruanischen Grenze) und Tres Esquinas (Departement Guaviare) sowie die zentrale kolumbianische Militärbasis in Tolemaida – die pikanterweise in diversen kolumbianischen Gerichtsakten als wichtiger Ausbildungsort der Paramilitärs auftaucht. Die US-Präsenz wird allein in den zwei wichtigsten Stützpunkten im Augenblick mit 160 Militärs sowie 30 zivilen Spezialisten beziffert, die dort mit der Ausbildung sogenannter Batallones Anti-Narcóticos beschäftigt sind. Diese Einheiten dienen zwar formal der Drogenbekämpfung, werden aber vor allem in Anti-Guerilla-Taktiken ausgebildet. Insgesamt sollen nach Wunsch von General Wilhelm etwa 2.000 Militärberater nach Kolumbien entsandt werden.
Auch die zivil-militärische Präsenz der USA wächst beträchtlich. In der im reichen Norden Bogotás neugebauten US-Botschaft, die einem Bunker gleicht, ist das Personal im vergangenen Jahr von 282 auf 360 Angestellte aufgestockt worden, davon 120 Personen mit „Spezialaufgaben“. Die US-Berater sind längst nicht mehr nur in der Armee und Polizei, sondern auch im Justiz- und Gefängniswesen tätig. Der Schlüsselbereich ist allerdings die Luftunterstützung. Seit neuestem dürfen US-Flugzeuge offiziell „zur logistischen Unterstützung“ in Kämpfe in Kolumbien eingreifen. Bei den letzten Gefechten mit der größten kolumbianischen Guerillagruppe FARC im Juli diesen Jahres lieferte sie den kolumbianischen Piloten die Informationen für ihre Bombardierungen.

Vom Autor erscheint im Oktober 1999 das Buch „Kolumbien – Große Geschäfte, staatlicher Terror und Aufstandsbewegung“, ISP-Verlag, 248 Seiten, ca. 30,- DM (ca. 15 Euro)

Humboldts Konzerthinweise

Humboldts Reise vor 200 Jahren bildet den Rahmen der HeimatKlänge 99 in Berlin. Venezuela, Kuba, Kolumbien und Mexiko heißen die Stationen des Musikfestivals im Tempodrom vom 16. Juli bis 22. August, ab der zweiten Woche jeweils von Mittwoch bis Sonntag. Vom neuen Kanzleramt aus dem grünen Tiergarten verscheucht, steht die Zeltarena jetzt vorübergehend am Ostbahnhof, wo das Grau der Häuserwände dominiert. Kein schlechtes Ambiente für die Auftaktgruppe aus Venezuela.

16.- 18. Juli: Desorden Público

LatinSka aus Venezuela. Die Heimat ist Caracas, wo zwei Szene-DJs sich 1985 zusammentun. Sie nennen ihre Schöpfung Desorden Público, Öffentliche Unordnung, in Anlehnung an die Fahrzeuge der Nationalgarde „Orden Público“. Fast 15 Jahre später ist die Gruppe auf acht Musiker angewachsen, hat mittlerweile vier Platten veröffentlicht und sich auch auf internationaler Bühne etabliert. Ihre Experimentierfreude hat sie den Ska mit Ragga, Cumbia, Salsa, Merengue und afro-venezolanischen Trommelrhythmen mischen lassen. Die Anfänge der Gruppe lassen sich auf ihrer jüngsten CD verfolgen, die eine Zusammenfassung der ersten beiden Platten und anderes Material aus der Zeit von 1988 bis 1990 darstellt.
Aktuelle CD: ¿Dónde está el futuro?, CBS

21.– 25. Juli: Sin Palabras feat. Proyecto F

Tribal House und Rap Cubana. Housemusik trifft auf afrokubanische Perkussion und ruft die Gottheiten der santería auf den Dancefloor. Nachdem der französische DJ Jean Claude Gué Anfang der 90er nach Kuba ging, faszinierten ihn die Lieder der santería, jener Religion, in der die Yoruba-Gottheiten der aus Afrika verschleppten Sklaven verehrt werden. Aber er konnte seiner musikalischen Prägung durch die New Yorker Housemusik nicht entkommen. 1996 war es dann so weit, die Perkussionsinstrumente rückten in den Mittelpunkt, verbanden sich mit den Yoruba-Gesängen und mischten sich mit elektronischen Klängen. Seine Unterstützung auf der Bühne findet das Ganze durch die Rapper von Proyecto F, die zum ersten Mal außerhalb von Kuba zu erleben sind.
Aktuelle CD: House of Drums, Piranha

28. Juli – 1. August: Los de Abajo

PunkSalsa aus Mexiko. „Der Kontext, in dem wir uns entwickelten, war geprägt von Ungerechtigkeit, Vernachlässigung der Armen und dem Fehlen von Wegen zur freien Entfaltung“, sagt Drummer und Gründungsmitglied Yocu Arrellano, und fügt hinzu, „unsere Texte sind politisch, radikal links.“ Die Mehrzahl der sieben Musiker studierte an der UNAM, der autonomen nationalen Universität. Kein Wunder, daß sie 1992 ihren Bandnamen Mariano Azuelas Roman zur Mexikanischen Revolution entlehnten, nach dem Veränderung nur von unten kommen kann. So sind sie also die von unten, los de abajo. Yocu: „Selbstverständlich hat diese Idee Einfluß auf die Musik.“ Aber nicht nur auf ihre Musik. Auch die Energie, die sie auf der Bühne versprühen, vermittelt die Kraft derer von unten. Yocu: „Wir sind kein Mosaik, wir sind ein Kaleidoskop des mexikanischen Lebens.“
Aktuelle CD: Los de Abajo, LuakaBop/Warner

4.- 8. August: Asere meet Totó la Momposina

Son und Cumbia aus Kuba und Kolumbien. Keine Frage, in dieser Woche werden alle ins Tempodrom strömen, die derzeit auch zum Buena Vista Social Club pilgern. Zwar werden sie Vertrautes hören, aber nicht sehen: Das Durchschnittsalter der Jungs von Asere ist 27 Jahre. So wird der Son die Chance haben, jenseits vom Charme der alten Männer sein Publikum zu finden, denn musikalisch stehen die Jungen den Alten in nichts nach. Die Erfolgsstory von Asere begann 1996, als sie der kolumbianschen Sängerin Totó la Momposina begegneten und diese sie unter ihre Fittiche nahm. In Berlin werden sie gemeinsam auf der Bühne stehen, und wir dürfen gespannt sein, was das Zusammenspiel der kubanischen Insel und der kolumbianischen Karibikküste hervorbringen wird.
Aktuelle CD: Asere, Cuban Soul, Bleu-Indigo.
Totó, Carmelina, Bleu-Indigo.

11.- 15. August: Adriana Lucía

Vallenato Joven aus Kolumbien. Hand auf’s Herz: Auf der Bühne steht ein junges Mädel im Dirndl, und derweil die Trachtenkapelle im Hintergrund bläst, singt sie Ihnen davon, wie verliebt sie ist. Was werden Sie tun? Nein, Sie werden nicht davonlaufen! Denn die 17-jährige Adriana Lucía wird ganz sicher nicht im Dirndl auftreten, und sie wird „Enamorate como yo“ und „Siempre te voy a esperar“ singen. Und das klingt doch viel besser als: „Ich werde immer auf dich warten.“ Aber vor allem wird es die Musik sein, die Sie gefangen halten wird, dieser Vallenato mit seinem tanzenden Akkordeon, der sich Anfang des Jahrhunderts im Grenzgebiet von Kolumbien und Venezuela entwickelte. Und denken Sie daran, Adriana Lucía ist zu Hause ein Star. Sie kommt das erste Mal nach Europa, und nur an diesen Tagen.
Aktulle CD: Dos Rosas, Danza y Movimiento

18.- 22. August: Son de México

mit Guillermo Veláquez, La Negra Graciana und Dinastía Hidalguense. Das mußte dann doch noch sein: Die Verneigung vor den alten Soneros. Aus der Pressemitteilung: „Zum Abschluß von Humboldts Reise stellt das Projekt Son de México drei herausragende Vertreter und drei Stile des mexikanischen Son vor. Guillermo Velázquez aus Xichú, Guanajuato, ist der vielleicht am besten bekannte traditionelle Musiker des Landes, als Trovador Erbe der mittelalterlichen Troubadoren, mit seiner eigenen Band Los Leones de Xixú spielt er den son arribeño. Die Sängerin und Harfenspielerin La Negra Gracianan war bis zur Aufnahme ihrer ersten CD im Alter von 60 Jahren nicht über die Bars des Hafenviertels von Veracruz hinaus bekannt, heute ist sie eine lebende Legende. Ihr Stil ist der son jarocho. Abgerundet wird das Projekt durch den son huasteco der Dinastia Hidalguense.“
Aktuelle CD: VA, Son de México, CoraSon

HeimatKlänge im Radio

Leider ist nicht bekannt, ob einer der MusikerInnen oder Gruppen nach dem Auftritt bei den HeimatKlängen noch an anderen Orten gastieren wird. Deshalb zum Trost der Hinweis: Ab der zweiten Woche gibt es jeden Mittwochabend ab 22.05 Uhr einen Livemittschnitt im Hörfunk über SFB4 MultiKulti, angeschlossen ist WDR Radio 5 Funkhaus Europa und Radio Bremen Mittelwelle 936kHz.

Reformen ja, aber in welche Richtung?

Vertrauen ist in diesen Tagen ein vielzitiertes Wort in den Ministerien der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Verlorenes Vertrauen und potentielle Anleger möchte man wiedergewinnen und die Wirtschaft für das nächste Jahrtausend fit machen. Kein leichtes Unterfangen, denn Venezuela ist wie kein anderes Land der Region von den Erdöldollars abhängig und hat sich Strukturreformen in den vergangenen Dekaden hartnäckig verweigert. Das soll nun anders werden, wenn es nach dem ehemaligen Oberstleutnant und Putschisten geht, der Venezuela seit gut drei Monaten regiert und dem Establishment einen gehörigen Schrecken eingejagt hat. Nicht nur der überbordenden Korruption will er entgegentreten, sondern auch den Staatssektor verschlanken und damit dem weit verbreiteten Klientelismus und der Ämterpatronage entgegentreten.
Dagegen regen sich natürlich Widerstände, und der 44jährige Chávez hatte denn auch alle Hände voll zu tun, um die gewünschten Sondervollmachten im Parlament durchzusetzen. Dort herrscht die Opposition, die dem militärisch zackigen Chávez nicht so ohne weiteres freie Hand lassen will. Dessen Ermächtigungsgesetz läßt ihm einen Gestaltungsfreiraum, der den ParlamentarierInnen zu weit geht. Langfristige Änderungen in der Sozialgesetzgebung oder der öffentlichen Verwaltung will man doch lieber selbst im Parlament verabschieden, statt dem Oberstleutnant a.D. seinen Willen zu lassen.
Der allerdings setzte sich durch, indem er in einer spektakulären Fernsehansprache Anfang April die Bevölkerung bat, ihn bei seinem Kampf gegen die reformunwilligen ParlamentarierInnen zu unterstützen. Seitdem hat Chávez die gewünschten Sondervollmachten, um die Zukunft des Landes zu gestalten und der sozialen Krise Herr zu werden. Sechs Monate hat der ehemalige Oberst nun Zeit, das überbordende Haushaltsdefizit in den Griff zu bekommen. Auf neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts oder gute 15 Milliarden Mark ist das Loch in den öffentlichen Kassen angewachsen, das Chàvez nun schnellstmöglich auf ein erträgliches Maß senken will.
Wie schnell es gehen kann, wenn die Basisindikatoren wie Haushaltsdefizit oder Verschuldung in eine Schieflage geraten, hatten sowohl Brasilien als auch Ecuador in jüngster Zeit erleben müssen. Ähnlich wie in Ecuador ist in Venezuela die Währung bereits mächtig unter Druck geraten. Das Land stöhnt derzeit unter einer Inflationsrate von 26,1 Prozent und liegt damit gleich hinter Ecuador (73,8 Prozent) auf Platz zwei der lateinamerikanischen Rangliste. Um nicht das gleiche Schicksal wie das Nachbarland zu erleiden, das von der schlimmsten Finanz- und Wirtschaftskrise seit 70 Jahren gebeutelt wird, will Chávez das Haushaltsdefizit auf drei bis fünf Prozent reduzieren. Eine Banktransaktionssteuer von 0,5 Prozent soll 1,1 Milliarden US-Dollar in die leeren Kassen bringen, und auch von der Umwandlung der Umsatzsteuer in eine variable Mehrwertsteuer erhofft sich die Regierung weitere Mittel.

Chávez für Privatisierungen

Doch es soll nicht allein bei Korrekturen zur Sanierung der Staatsfinanzen bleiben. Chávez hat sich zur Überraschung vieler auch der Reorganisierung der staatlichen Verwaltung, die mit Entlassungen einhergehen wird, verschrieben und sich für Privatisierungen ausgesprochen. Besonders letztere Maßnahme wird im Ausland aufhorchen lassen, denn noch im Wahlkampf hatte Chávez zum Entsetzen der USA gegen die Veräußerung der nationalen Besitztümer polemisiert. Daß der 44jährige nun genau den gegensätzlichen Kurs einschlägt und die Veräußerung verlustbringender Aluminiumwerke genauso anvisiert wie den Rückzug des Staates aus dem Elektrizitäts- und Tourismussektor, dürfte bei Investoren und beim IWF mit Wohlwollen notiert werden. Genau dieses Wohlwollen benötigt Chávez allerdings auch, denn selbst wenn es ihm wie geplant gelingen sollte, das Defizit auf fünf Milliarden US-Dollar zu drücken, ist er darauf angewiesen, Kredite zur Deckung dieses Finanzlochs an Land zu ziehen. Dies dürfte denn auch der Grund dafür sein, daß sich Mitte Mai ein Spezialistenteam des IWF eingehend mit den Finanzen des Landes beschäftigte.
Auch für die von Chávez angepeilte Restrukturierung eines Teils der Auslandsschulden in Höhe von 23 Milliarden US-Dollar wird für die Empfehlung des IWF entscheidene Bedeutung haben, und so kann die Einladung an den IWF dann doch nicht sonderlich überraschen.
Venezuela lebt und atmet mit dem Ölpreis und die einseitige Abhängigkeit von den Petrodollars macht das Land extrem verletzbar gegegüber dem Preisverfall auf den internationalen Märkten, sagt Santiago Montenegro von der kolumbianischen Universität der Anden, der sich mit den Modernisierungskonzepten in den Nachbarländern im Vergleich zu Kolumbien beschäftigt.
Mit dem Einbruch des Erdölpreises auf dem Weltmarkt, der im letzten Jahr um rund 25 Prozent pro Barrel (159 l) fiel, wurde dem Land wieder einmal die einseitige Abhängigkeit vom schwarzem Gold vor Augen geführt. Der Motor der venezolanischen Wirtschaft kam mehr als ins Stottern, denn nicht weniger als 78 Prozent der Export- und 61 Prozent der Regierungseinnahmen entfielen 1996 auf den Erdölsektor, in dem 27 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erwirtschaftet werden. Die dritte Krise binnen fünf Jahren war perfekt und hatte viel dazu beigetragen, daß der radikale Töne anschlagende Chávez in den Präsidentenpalast einziehen und den greisen Caldera ablösen konnte.

80 Prozent leben in Armut

Chávez setzte auf die populistische Karte und wettert erfolgreich gegen das „korrupte Establishment“ des Landes. Diese Wahlstrategie hat ihm Unterstützung bei den verarmten Massen eingebracht, nicht aber die Akzeptanz des wichtigsten venezolanischen Handelspartners – den USA – und des Establishments. Allgemein wird dem wenig diplomatischen Chávez zwar zugute gehalten, daß er den Umbau des Staates im Gegensatz zu seinen Vorgängern ernsthaft betreibe und durchaus auch gewillt sei, die Situation der Bevölkerungsmehrheit zu verbessern. Rund 80 Prozent der VenezolanerInnen leben laut Weltbankstatistiken in Armut, und dort findet sich denn auch Chávez wichtigste Klientel, die er bisher spielend für sich mobilisieren konnte. Doch über kurz oder lang wird die Bevölkerung den populistischen Präsidenten an seinen Erfolgen messen. Sein Kabinett genießt allerdings wesentlich weniger Vertrauen als er selbst, da echte Fachleute auf der Regierungsbank rar sind und Minister in benachbarten Ressorts unterschiedliche Denkrichtungen vertreten.
Zudem hat Chávez viele Militärs in den Schlüsselpositionen der öffentlichen Verwaltung eingesetzt, die zum Teil für ihren neuen Job wenig qualifiziert sind. Damit einher gingen Spekulationen, daß der Oberstleutnant außer Dienst einen autokratischen Weg einschlagen könnte. Zwar hat sich dies bisher nicht bewahrheitet, aber die Rehabilitierung sämtlicher am Putsch von 1992 beteiligter Uniformträger hinterläßt doch einen schalen Beigeschmack, zumal eben niemand außer Hugo Chávez Friás weiß, wolang es gehen wird.

Opfer der Öffnung

Wenn Frau Adelfa Valencia am Abend nach Hause kommt, bringt sie gerade genug Reis mit, damit die Kinder nicht mit knurrenden Mägen ins Bett müssen. Die Zwiebeln, die sie auf dem Markt von Altos de Cazuká anbietet, finden kaum Käufer. Denn hier, am äußersten Südrand von Bogotá, wo vor allem Vertriebene aus anderen Landesteilen siedeln, sind alle arm. Man kauft gerade das Nötigste. Aber die Krise ist nicht nur in den Elendsvierteln spürbar. Jaime Benavides, ein Ingenieur, der mit seinen Brüdern in einem Familienbetrieb Maschinenersatzteile und Qualitätswerkzeug für die Industrie herstellt, klagt über die Absatzflaute: „Wir machen nicht einmal die Hälfte des Umsatzes von vor zwei Jahren. Die Produktion stagniert landesweit.“ Selbst die Allergrößten machen sich Sorgen. So wurde ein Mitglied der mächtigen Santodomingo-Gruppe – eines der größten Wirtschaftsimperien des Landes – in einem Billig-Supermarkt mit dem Einkaufswägelchen gesehen. Man müsse heute beim Geldausgeben aufpassen, erklärte er einem erstaunten Journalisten.
1998 verzeichnete Kolumbiens Wirtschaft ein prekäres Wachstum von 0,2 Prozent. Das waren, wie die Statistiker meldeten, die schlechtesten Werte seit der großen Depression der 30er Jahre. Doch es sollte noch dicker kommen: im ersten Quartal 1999 wurde erstmals ein Negativwachstum gemessen, stolze -4,0 Prozent im Vergleich zum ersten Vierteljahr 1998. Kolumbien, das trotz Guerilla und Drogenkrieg selbst in den 80er Jahren, im „verlorenen Jahrzehnt“ Lateinamerikas, ein robustes Wachstum vorweisen konnte, befindet sich auf einer wirtschaftlichen Talfahrt, deren Ende, allen Beschwichtigungsversuchen der Wirtschaftsverantwortlichen zum Trotz, noch nicht abzusehen ist. Die Arbeitslosigkeit, derzeit auf einem Rekordhoch von offiziell 19,5 Prozent, dürfte sich kaum vermindern, solange die Betriebe massenweise zusammenbrechen. Und der Konjunkturmotor Privatkonsum wird sich schwerlich einstellen, wenn immer mehr KolumbianerInnen kein Einkommen haben.
Externe Ursachen wie die Asienkrise, der russische Wirtschaftskollaps und die Erschütterungen im benachbarten Brasilien reichen als Erklärung nicht aus. Auch die Zerschlagung der Kokainkartelle von Medellín und Cali haben sich auf die Gesamtwirtschaft nur marginal ausgewirkt, denn die Drogenbarone hatten ihre Millionen in erster Linie in Immobilien und Luxusgüter investiert. Allenfalls die Baubranche wurde durch die Festnahme der Spitzen des Cali-Kartells geschädigt. Die Verringerung der Bautätigkeit kann vor allem in Cali, aber auch in Bogotá visuell wahrgenommen werden.

Fehler vergangener Wirtschaftspolitik

Für den Wirtschaftsprofessor Jorge Iván Rodríguez liegen die Wurzeln für den wirtschaftlichen Niedergang in der falschen Politik der Regierung von César Gaviria (1990-1994). Noch im Jahre 1987 hatte die Zentralbank eine äußerst positive Bilanz über 20 Jahre Wechselkurskontrolle gezogen. Die Einnahmen aus dem Kaffeeboom konnten zum Beispiel dank der Devisenkontrollen für ganz Kolumbien genutzt werden. Ohne sachliches Argument, einzig als Gebot der neoliberalen Mode, wurde dann 1991 der Wechselkurs freigegeben. Dazu Rodríguez: „Plötzlich strömten aus ganz Lateinamerika Dollars ins Land, denen die Wirtschaft nicht gewachsen war. Ziel war es, die Inflation zu dämpfen. Doch gleichzeitig wurde der Peso aufgewertet.“ Die starke Währung wiederum ermunterte zu Importen im großen Stil, während die Exporte schwieriger wurden. Noch 1991 hatte die Außenhandelsbilanz einen positiven Saldo von 5,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), 1995 gab es bereits ein Defizit in derselben Höhe. Ein Verlust von elf Prozentpunkten in nur vier Jahren ließ die Alarmglocken schrillen. Tatsächlich hatte der folgende Präsident Ernesto Samper mit seiner Sozialpolitik im Sinne, den Wirtschaftsliberalismus abzumildern. Im November 1994 zog sein Wirtschaftsminister Guillermo Perry allerdings in einem Disput mit der Zentralbank den Kürzeren, als er die Abwertung des Peso forderte. Wenige Monate später war die Regierung durch den Skandal um die Drogengelder im Wahlkampf handlungsunfähig. Den Rest seiner Amtszeit war Samper mit Schadensbegrenzung beschäftigt und konnte keine visionären Projekte mehr angehen.
Also wurde das Land weiterhin mit Dollars überflutet, die aus spekulativen Gründen kurzfristig angelegt wurden. Für die Spekulanten ein sicheres Geschäft: drei Jahre lang wurde die Parität von US-Dollar und Peso von 1:1000 gehalten, während die Inflationsrate sich mit rund 20 Prozent in kontrollierbaren Grenzen hielt. Die Banken boten damals bis zu 45 Prozent Nominalzinsen. Das entsprach real immerhin 15-17 Prozent – mehr als das Doppelte dessen, was auf dem internationalen Kapitalmarkt verzinst wurde. Da die kolumbianischen Banken keine Kredite in Fremdwährung vergeben dürfen, konnten sie die überschüssigen Dollars nur zu den gängigen Bedingungen im Ausland veranlagen.

Importe bestimmen die Ökonomie

Die mit Hartwährungspolitik gekoppelte Öffnung hat die kolumbianische Wirtschaft nachhaltig geprägt. Produkte, die früher im Lande veredelt wurden, können jetzt billiger aus dem Ausland importiert werden. Autoersatzteile oder pharmazeutische Produkte, die früher ganz oder teilweise in Kolumbien hergestellt wurden, sind jetzt im Originalwerk in Europa oder den USA preiswerter zu haben. So wurden industrielle Betriebe nach und nach zu Importhäusern.
Daß ein so fruchtbares Land wie Kolumbien zwei Drittel seiner Grundnahrungsmittel importieren muß, ist skandalös. Schuld am Niedergang der Agrarproduktion ist einerseits die politische Gewalt, die mehr als eine Million Bäuerinnen und Bauern von ihrem Boden vertrieben hat, andererseits die ausländische Konkurrenz, die die Waren billiger auf den Markt werfen kann. Vor allem die Nachbarländer Ecuador und Venezuela, die aus ihren weichen Währungen Kapital zu schlagen verstehen, sind zu den wichtigsten Handelspartnern nach den USA geworden.
Warum die kolumbianischen Unternehmer sich diese Politik gefallen ließen, erklärt Jorge Iván Rodríguez damit, daß die großen Konsortien sich vor allem auf Produkte spezialisierten, die kaum von ausländischer Konkurrenz betroffen sind, etwa Bier und Erfrischungsgetränke oder Zement. Die Großen steckten ihr Kapital außerdem in Banken, Bauunternehmen und Telekommunikation.
Ihre Kredite nahmen die großen Konzerne wie Santodomingo oder Ardila Lulle in den USA in Dollars auf. Das war billiger, als sich im Inland zu verschulden. Deswegen sind sie auch jetzt gegen eine Abwertung, weil damit ihre Schulden steigen würden.

Der Trend wird fortgesetzt

Unter der neuen Regierung, die seit August im Amt ist, gebe es weniger Korruption, meint der Maschinenfabrikant Jaime Benavides. Aber sein Vertrauen in die Wirtschaftspolitik ist beschränkt. Präsident Andrés Pastrana, der in der Konservativen Partei groß geworden und gewohnt ist, die Interessen der Wirtschaft zu vertreten, hat sein Wirtschaftskabinett mit Leuten bestückt, die schon unter Gaviria die Liberalisierung betrieben haben. Daß sie ihre eigene Politik verurteilen und den Rückwärtsgang einlegen würden, war nicht zu erwarten. Im Gegenteil: bei der Privatisierung wurden ein paar Gänge zugelegt. Nicht einmal der Gesundheits- und der Erziehungsbereich sind davon ausgenommen. Außerdem sind auch die angeblich so sauberen Technokraten nicht vor den Versuchungen des Kapitalismus gefeit. So werden Staatsbetriebe vor der Privatisierung gezielt entkapitalisiert und dann unter dem Wert verkauft. Die Streiks im öffentlichen Dienst, die Ende April Bogotá und andere Großstädte für einen Tag lahmlegten, dürften nur der Beginn größerer sozialer Auseinandersetzungen gewesen sein.
Als einziger Rettungsanker in der Depression wird derzeit die Erdölindustrie betrachtet, die dank des steigenden Ölpreises deutlich mehr abwerfen wird als prognostiziert. Erdöl hat den Kaffee als wichtigstes Exportprodukt längst überholt. Einen stetigen Zuwachs verzeichnen auch die Schnittblumenexporte, ein Wirtschaftszweig, der die Savanne von Bogotá in ein riesiges Treibhaus verwandelt hat. Allerdings ist auch in der Blumenindustrie bald der Zenit erreicht, denn trotz Sozialdumping können die Produzenten nicht mit den Produktionskosten der ecuadorianischen Konkurrenz mithalten.

Revolution ohne Rückendeckung?

“Ein Triumph“, so Venezuelas Präsident Hugo Chávez, sei die Volksabstimmung vom 24. April gewesen. Carlos Canache, Vorsitzender der sozialdemokratischen Oppositionspartei Acción Democrática (AD) wertete das Referendum als „die erste Niederlage“ für Chávez. So unterschiedliche Einschätzungen der ersten Volksbefragung in der Geschichte Venezuelas zu einer neuen Verfassung verdanken sich dem widersprüchlichen Ergebnis: Zwar haben 80 Prozent für eine Verfassungsgebende Versammlung nach den Vorstellungen des Ex-Putschisten Chávez gestimmt, doch die Wahlenthaltung lag bei über 60 Prozent.
Chávez ist der erste Präsident Venezuelas seit 1958, der nicht den Reihen der Traditionsparteien AD und Copei (Comité de Organización Política Electoral Independiente) entstammt. Den Wahlerfolg vom vergangenen Dezember verdankt der Sohn einer armen Lehrerfamilie dem Versprechen, mit der notorischen Korruption der venezolanischen Elite aufzuräumen. Zu diesem Zweck soll eine neue Verfassung Venezuela einen Neuanfang zu Beginn des dritten Jahrtausends ermöglichen.
Die historisch niedrige Beteiligung bei der ersten Abstimmung für das Projekt veranlaßt freilich die beiden Oppositionsparteien, AD und Copei, die Legitimität der angestrebten neuen Verfassung anzuzweifeln. Regierungschef Chávez versucht indes, sich mit Stochastik aus der Affäre zu ziehen: 57 Prozent hätten ihm das Vertrauen ausgeprochen, als sie ihn zum Präsidenten wählten. Die Mehrheit der Venezolaner sei folglich auch mit seinem „politischen Projekt“ einverstanden. Ist das Desinteresse der Bevölkerungsmehrheit nun dem Vertrauen in den Präsidenten oder dem Gefühl der eigenen Machtlosigkeit geschuldet – das Referendum Ende April war die erste und wahrscheinlich schwierigste Hürde für das Kernprojekt der Regierung Chávez: eine neue Grundordnung für Venezuela zu schaffen. Mit der überdeutlichen Mehrheit für Chávez’ Projekt ist der Weg frei für ein knappes Jahr permanenten Wahlkampf.
Seit dem 7. Mai sind die Kandidaten für die Verfassungsgebende Versammlung aufs Volk losgelassen. Theoretisch hat jeder Venezolaner bis 14. Juni Zeit, Unterschriften für sich zu sammeln, um diese dem Consejo Nacional Electoral (CNE) vorzulegen. Der CNE entscheidet bis spätestens 24. Juni, welche der Kandidaten zugelassen werden. Einen Monat später, am 25. Juli, stellen sich die angehenden Verfassungsväter und -mütter zur Wahl. Die tatsächliche Ausarbeitung und Verabschiedung der „Carta Magna“ soll bis Anfang 2000 geschehen sein.

Mit Panzern gegen die Korruption

Präsident Chávez bemüht sich unterdessen, unter die 131 zur Verabschiedung der Verfassung Beauftragten möglichst viele Getreue aus den eigenen Reihen zu mischen. Entgegen der Entscheidung des Obersten Gerichtes, die Versammlung könne einzig eine Verfassung ausarbeiten, hat der ehemalige Fallschirmjäger, der die Uniform seit seiner Vereidigung am 2. Februar kaum noch trägt, eine Revolution mit Volkes Stimme im Visier: Die Verfassungsgebende Versammlung soll nach seinen Vorstellungen das Parlament und gleich dazu das Oberste Gericht absetzen. Chávez, schon im Wahlkampf nicht um harsche Töne verlegen, drohte dem Kongreß offen mit Panzern, falls dieser sich gegen „die Revolution“ wehren sollte – ein Hinweis auf seine guten alten Verbindungen zum Militär.

80 Prozent leben in Armut

„Revolution“ nennt Chávez das Projekt der neuen Grundordnung nicht nur, weil er der Bevölkerung den Eindruck eines nationalen Aufbruchs vermitteln will. Vor allem sollen die Machtbefugnisse des Präsidenten ausgebaut werden. Geht es nach dem Willen des „Comandante“, wird er selbst Vorsitzender der Verfassungsgebenden Versammlung. Für den Nationalen Koordinator der Regierungspartei Polo Patriotico (PP), Joel Acosta Chirinos, wäre diese Besetzung ganz normal. „Wir müssen die Kontrolle über die Macht behalten“, sagt er in einem Interview mit der Tageszeitung El Universal. Man wolle nur verhindern, daß die Phase nach der Verfassungsgebung schlimmer ist als die vorher. Dazu müsse der PP – ein buntes Gemisch verschiedenster politischer Strömungen, die Chávez im vergangenen Jahr um sich geschart hat, um seinen Wahlkampf führen zu können – in der Verfassungsgebenden Versammlung die Mehrheit stellen. Gegenüber den Medien verteidigt auch Hugo Chávez seine „Revolution“ mit gewohnt populistischen Argumenten: Die Mitglieder von Kongreß und Oberstem Gericht seien schließlich von den ehemaligen Regierungsparteien ins Amt gewählt und mitverantwortlich für Korruption und Mißwirtschaft, die Venezuela in die wirtschaftliche und moralische Katastrophe geführt hätten. Also gehörten sie auch abgesetzt, wenn Venezuela eine echte Erneuerung erleben wolle.

80 Prozent stehen hinter Chávez

Trotz dieses denkbar undemokratischen Vorhabens kann Chávez auf Unterstützung aus der Bevölkerung rechnen. Immer noch stehen laut Umfragen 80 Prozent der Venezolaner hinter ihrem neuen Präsidenten. Aus zwei Gründen dürfte die Wählerschaft Chávez auch künftig noch einige Fehler verzeihen: Zum einen liegt die letzte Militärdiktatur in Venezuela knapp ein halbes Jahrhundert zurück. Die Mehrzahl hat keine Vorstellung mehr von den Nachteilen diktatorischer Regime. Im Gegenteil hat die 40 Jahre währende Demokratie zuletzt immer mehr Unzufriedenheit hervorgerufen. Wachsende Armut, Kriminalität und Demokratiefeindlichkeit wurden nur notdürftig verdeckt von einer hermetischen politischen Klasse. Zwei Parteien haben sich an der Regierung abgewechselt und so jegliche politische Dynamik unterdrückt. Die starke Hand des Hugo Chávez ist vielen Venezolanern deshalb eine willkommene Abwechslung und weckt Hoffnung auf neue Grösse.

Die Elite kassiert weiter ab

Zum anderen haben AD und Copei seit 1958 hauptsächlich den eigenen Kontostand aufgebessert. Die Korruption in Venezuela nimmt heute einen traurigen Spitzenplatz ein. Bis in die 70er Jahre bedeuteten die riesigen Ölvorkommen Venezuelas Wohlstand und Sorglosigkeit. Wer keine Anstellung in der freien Wirtschaft fand, konnte problemlos in einer der zahlreichen Behörden unterkommen. Doch als der Ölpreis zu fallen begann, traten die Schwächen des Systems offen und unerbittlich zutage. Die politische und gesellschaftliche Elite kassierte weiter ab, während für den Großteil der Bevölkerung immer weniger abfiel. Heute leben die meisten der etwa 23 Millionen Venezolaner in Armut. Eine Umstrukturierung der Wirtschaft mit dem Ziel, die Abhängigkeit von den Ölpreisen zu verringern, hat bislang nicht stattgefunden. Chávez’ Ankündigung, er werde mit dem Filz aufräumen und „die Köpfe der Mächtigen in der Pfanne brutzeln“, kam daher bei den Wählern gut an.
Und Chávez scheint dieses Versprechen ernst zu nehmen: Anfang Mai wurde General Ruben Rojas Perez wegen Korruption verurteilt. Außenminister José Vicente Rangel, vor seiner Berufung ins Kabinett Journalist, hatte den Fall in jahrelanger Kleinarbeit aufgedeckt. Perez ist einer von mehreren hohen Beamten, die in den vergangenen Wochen über Korruptionsaffären stolperten. Der General ist allerdings ein Sonderfall und könnte Chávez noch gefährlich werden. Als Schwiegersohn von Chávez’ Amtsvorgänger Rafael Caldera hat er gute Kontakte zu Führungspersönlichkeiten in Politik und Militär. Diese Verbindungen scheint er zu nutzen, um sich eine Gefolgschaft von Chávez-Gegnern in der Armee aufzubauen. Die Internet-Zeitung VHeadline zitiert Perez am 7. Mai mit den Worten, er sei „nicht allein“, wolle aber nicht mehr sagen, um seine „Untergebenen zu schützen“. Chávez hat beim Militär bereits Unmut und Mißtrauen hervorgerufen, als er seine Ex-Gefolgsleute beim Putschversuch von 1992 wieder in die Armee holte und mit ihnen rund 50 Schlüsselstellen besetzte. Die Äußerung des Verteidigungsministers General Raul Salazar Rodriguez, die Armee sei „monolithisch und geeint“, strafte nicht nur Perez’ düstere Andeutung Lügen. Offensichtlich geht durch die Reihen der Militärs ein Riß zwischen Chavisten und den den Traditionsparteien verpflichteten Soldaten.
Auch im Parlament, mehrheitlich von AD und Copei besetzt, macht Chávez sich mit seiner Militärpolitik keine Freunde: Seit seinem Amtsbeginn zog er rund 70.000 Soldaten zum Aufbau von Infrastrukturprojekten heran und wertete damit die Stellung des Militärs zusätzlich auf. Außerdem erhöhte er den Druck auf den Kongreß mit dem Hinweis auf die katastrophale wirtschaftliche Situation. Schließlich stimmten die Abegordneten einem sogenannten „Ermächtigungsgesetz“ zu, das die Befugnisse des Präsidenten stark erweitert. Seit 22. April darf Chávez für ein halbes Jahr am Kongreß vorbei Steuern erhöhen, über Auslandsschulden verhandeln und die Verwaltung umstrukturieren.

Chávez’ Spielraum wird enger

Einzig die Einsicht des Kongresses in den Regierungshaushalt und Mitsprache bei Gesetzen, die den Ölsektor betreffen, schränken den formalen Spielraum des Präsidenten noch etwas ein. Dessen politischer Spielraum hingegen scheint mit jedem Tag enger zu werden: Mitte Mai gab Chávez zunächst den Rücktritt von Alfredo Peña bekannt, Chef des Präsidialministeriums, der als Kandidat für die Verfassungsgebende Versammlung antreten soll. Dasselbe Schicksal ereilte wenige Tage später vier weitere Top-Kabinettsmitglieder: Innenminister Luis Miquilena, Arbeitsminister Leopoldo Puchi, Verkehrsminister Luis Reyes und Umweltministerin Atala Uriana Pocaterra wurden ihrer Ämter enthoben, um für Chávez „an vorderster Front bei der Schlacht“ um die neue Verfassung zu kämpfen, so der Präsident. Der 84jährige Miquilena gilt als Mentor von Chávez, Reyes war dessen Mitstreiter beim Putschversuch 1992. Diese radikalen Personalentscheidungen lassen vermuten, daß Chávez die Unterstützung für sein Verfassungsprojekt bereits in den eigenen Reihen schwinden sieht. Und auch beim PP, dem Parteienkonglomerat, das dem Ex-Putschisten entscheidend zur Macht verholfen hat, zeigen sich erste Erscheinungen von Ungehorsam: Die Partei „Movimiento al Socialismo“ (MAS), die bereits unter Präsident Caldera an der Regierung beteiligt war, besteht auf mindestens einem eigenen Kandidaten für die Verfassungsgebende Versammlung und will sich dabei nicht von oben dirigieren lassen. Als Favorit wird der Vorsitzende des MAS, Felipe Mujica, gehandelt.
Die scharf geführte Debatte um die Verfassung und die Personalprobleme des Präsidenten drohen indes die drängenden wirtschaftlichen Probleme des Landes zu überlagern. Chávez konnte mit seiner Revolutionsrhetorik bislang kaum neue Investoren ins Land locken. Wichtige Reformprojekte zur Konsolidierung der Staatsfinanzen und zur Einkommensumschichtung kommen nicht richtig auf Touren. Wenngleich der IWF betont, man führe einen „exzellenten Dialog“ mit der venezolanischen Regierung, handelt es sich dabei wohl eher um diplomatische Floskeln im Vorfeld konkreter Verhandlungen. Eddo Polesel, Vorsitzender des nationalen Wirtschaftsrats (Consejo de Economía Nacional) wurde da schon deutlicher. Er sprach von einem „Zustand der Unsicherheit“, der Investoren abschrecke und Verwirrung stifte. Sicher jedenfalls ist, daß es mit Venezuelas Wirtschaft weiter abwärts geht. Die Arbeitslosigkeit stieg im Mai auf über 20 Prozent. Das Haushaltsdefizit überstieg acht Milliarden US-Dollar.
Die einzige Antwort, die Chávez bislang zu geben weiß, läßt kaum auf wirtschaftlichen Aufschwung hoffen: Er will die PdvSA, einen der größten Ölkonzerne der Welt, wieder stärker an den Staat binden und Geld für den Haushalt abzapfen. Auch AD und Copei hatten die PdvSA stets für Almosen an die Bevölkerung benutzt.

Die Macht des schwarzen Goldes

Will Präsident Chávez sein Land tatsächlich aus der wirtschaftlichen Talsohle führen, darf er sich nicht wie seine Vorgänger auf die Macht des schwarzen Goldes verlassen. Doch Chávez sitzt in einem Dilemma. Für tiefgreifende Strukturreformen fehlt ihm der Rückhalt in der Bevölkerung. Man erwartet schnelle Wohlstandsmehrung, kein Sparprogramm nach den Anweisungen des IWF. Für die nötige Ankurbelung der Konjunktur wird Chávez allerdings auf Kredite kaum verzichten können. Seine stundenlangen worthülsenreichen Radioansprachen werden ihm dabei genausowenig helfen wie die Beschwörung einer Revolution. „El Comandante“ braucht vielmehr Unterstützer in Wirtschaft, Militär und auch bei den Oppositionsparteien. Ob „das Chamäleon“, wie Chávez wegen seiner Fähigkeit zum Rollentausch genannt wird, so viel diplomatisches Geschick mitbringt, darf bezweifelt werden. Je mehr Macht er anhäuft, desto weniger Vertrauen schenken ihm die potentiellen Verbündeten.

Der Blick des Anderen

Im Jahre 1804 trafen in einem vornehmen Pariser Salon zwei Menschen zusammen, denen bis heute eine entscheidende Rolle in den nationalen Mythen beinahe aller lateinamerikanischer Staaten zukommt. Der eine, Alexander von Humboldt, war gerade von einer fünfjährigen Forschungsexpedition zurückgekehrt aus den „Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents“, so seine etwas umständlich anmutende Umschreibung für die heutigen Länder Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru, Mexiko und Kuba. Der andere, Simón Bolívar, sollte nach einer umfassenden Ausbildung im Geiste des französischen Jakobinismus in diese Gegenden zurückkehren und zum Anführer der kreolischen Freiheitsbewegung werden. Der Respekt und die Bewunderung, die der „Befreier“ dem Forscher entgegenbrachte – er bezeichnete ihn als den „zweiten, den wahren Entdecker Amerikas“ – beruhte zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht auf Gegenseitigkeit. Nachdem Humboldt an einer baldigen Unabhängigkeit Lateinamerikas aufgrund der mangelnden Selbständigkeit seiner Völker Zweifel angemeldet hatte, rief der 21jährige Bolívar: „Die Völker sind in den Augenblicken, da sie die Notwendigkeit empfinden, frei zu sein, so stark wie Gott.“ Humboldt bezeichnete den jungen Mann hierauf als „Brausekopf“. Erst Jahre später, als das Unternehmen Unabhängigkeit langsam konkretere Formen annahm, entwickelte sich zwischen den beiden ein reger Briefwechsel.
Humboldt ist auch heute noch der bekannteste Deutsche in Lateinamerika und wird beinahe so verehrt wie der große „Libertador“. Kaum ein Ort zwischen Tijuana und Ushuaia, in dem es nicht mindestens eine Calle Humboldt gibt, kaum ein Land ohne einen Fluß oder Berg, der seinen Namen trägt. Als Ende Januar ein Schiff zu Ehren Humboldts in Venezuela eintraf, ließ es sich Präsident Chávez nicht nehmen, die Besatzung persönlich in Empfang zu nehmen. Die Vorsitzende der neu eingerichteten venezolanischen Comisión Presidencial del Bicentenario de la llegada de Humboldt (Präsidentialkomission für das zweihundertjährige Jubiläum der Ankunft Humboldts) stellte ihn gar als „Nationalhelden“ dar. Gleichzeitig diente das Ereignis der gegenseitigen Versicherung, Deutschland und Venezuela müßten jetzt über eine Verbesserung ihrer Beziehungen nachdenken. Auch die Granma, Organ der Kommunistischen Partei Kubas, bildete unter der Schlagzeile „Ein Schiff der guten Hoffnung“ keine Ausnahme von der Regel der ausschließlich positiven Rezeption der Reise.
Hintergrund der ganzen Aufregung sind neben den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, die der Forscher ans Licht der europäischen Öffentlichkeit brachte, in zunehmendem Maße die politischen Essays, in denen er keinen Hehl daraus machte, daß der Großteil der lateinamerikanischen Bevölkerung schon damals nichts zu lachen hatte. Seine harsche Kritik am spanischen Kolonialsystem, an der Sklaverei und an der Ausbeutung der Indios durch die Missionare bilden die Hauptbezugspunkte für die Vereinnahmung seiner Person in den Geschichtsbüchern. Es ging bei der Schelte der Unterdrückung aber oftmals nicht nur um den humanistischen Aspekt, sondern auch um die wirtschaftliche Effizienz, die zwangsläufig Schaden nahm, wenn in den Bergwerken jeden Tag unzählige Indios unter den unmenschlichen Arbeitsbedingungen zugrunde gingen.

Ein Kind der Aufklärung

Er war ein Kind der Aufklärung, die die ideologische Grundlage für die Entwicklung von der Feudalgesellschaft zum Kapitalismus bot. Weil er die Modernisierung nach europäischen Maßstäben predigte, für die eine Überwindung des Kolonialstatus unerläßlich war, paßten seine Parolen dann auch hervorragend zu den wissenschaftsgläubigen Parolen à la Ordem e Progreso (Ordnung und Fortschritt), die seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts von den lateinamerikanischen Staatsmännern ausgegeben werden. Auch wenn die Begeisterung für eine fünfjährige Forschungsreise also auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen mag: Sie gehört zu dem Bild, in das sich ein Präsident wie Chávez stellen möchte, wenn er sich immer wieder als Nachfolger Bolívars preist.

Humboldt für alle

Bislang interessierte man sich hauptsächlich für Humboldt als Naturwissenschaftler, während die Bedeutung dieses kulturhistorischen Teils des Werks weniger beachtet wurde. Im Rahmen der Ausstellung und der begleitenden Vorträge wird versucht, Licht ins Dunkel dieses Bereichs zu bringen, der heute mehr denn je umstritten ist. Humboldt hat die für ihn fremde Welt stets mit dem Blick des Anderen, des Außenstehenden, betrachtet und beschrieben, so die Meinung des Veranstalters. Und tatsächlich besteht eine Spannung zwischen der vorgefundenen Welt und Humboldts Versuch, sie in ein europäisches, im Kielwasser der Französischen Revolution entstandenes Weltbild zu pressen. Bei dem Gesamtheitsanspruch, auf dem sein Wissenschaftsverständnis beruhte und seinem stetigen Bekunden seines Interesses an der „Wahrheit“, kann es nicht erstaunen, daß er sich allzu oft seiner eigenen Wurzeln nicht bewußt gewesen zu sein scheint. Dankenswerterweise beschäftigen sich mehrere Vorträge sowie einer der zwölf Themenräume, in die die Ausstellung unterteilt ist, mit seiner Berliner Umgebung. Denn diese aufklärerischen Kreise vermittelten ihm die Ansichten, die später bestimmend für seine Wahrnehmung wurden. Daß er nämlich „kein Revolutionär“, sondern „ein Mann der Kompromisse mit der Wirklichkeit und der Macht“ war, bemerkt nicht nur Manfred Kossok von der Universität Leipzig. Die Einschätzung dürfte von den meisten TeilnehmerInnen des Symposiums, das aus so illustren Namen wie Beatriz Sarlo und Jaime Labastida Ochoa besteht, geteilt werden.
Es geht jedoch nur nebenbei um die Frage, wessen Geistes Kind der Mensch Humboldt „wirklich“ war oder ob es tatsächlich stimmt, daß er ohne irgendeinen Auftrag von offizieller europäischer Seite gereist ist. Viel wichtiger erscheint die grundsätzliche Problematik, einen fremden Kontinent mit den eigenen, europäischen Begrifflichkeiten erklären oder gar verbessern zu wollen. Denn es steht ohnehin fest, daß sein Name bis heute für die Legitimierung des Machtanspruchs der kreolischen Oberschichten instrumentalisiert wird und seine Entdeckungen auch den Boden für die zweite, die kapitalistische Eroberung Lateinamerikas bereiteten. Und auch das Jubiläumsjahr wird nicht klären, ob sich Humboldt tatsächlich im Grabe herumdrehen würde, könnte er hören, wie manch ein lateinamerikanischer oder europäischer Politiker stolzbrüstig mit seinem Namen hausieren geht.

Chamäleon gegen Dinosaurier

Als 1958 Rómulo Betancourt zum Präsidenten gewählt wurde, dauerte es zwar noch drei Jahre, bis auch eine demokratische Verfassung verabschiedet wurde, doch die Zeit der militärischen Staatsführungen, die seit Venezuelas Unabhängigkeit 1830 das Land beherrscht hatten, war vorüber. Die folgenden 40 Jahre wechselten sich zwei große Parteien in der Regierung ab: die AD (Acción Democrática) und die COPEI (Comité de Organización Política Electoral Independente). Das System war, verglichen mit vielen Nachbarstaaten, stabil, doch AD und COPEI spannen über die Jahre einen undurchdringlichen Filz aus Korruption und Vetternwirtschaft.
Wurde ein Präsident aus den Reihen der AD abgewählt oder wegen eines Skandals abgesetzt, folgte ein Kandidat der COPEI, doch an Korruption und Mißwirtschaft änderte sich nichts. Nachdem das Land jahrzehntelang von seinen riesigen Ölvorkommen zehren konnte, die staatliche Subventionen in ungeheurem Umfang und die Etablierung eines Almosensystems für die ärmere Bevölkerung gewährleisteten, traf der Verfall der Rohölpreise in den 80er Jahren Venezuela besonders hart. In den 70er Jahren, im Zeichen der „Ölkrise“, schwamm der südamerikanische Staat noch in Devisen, aus der Hauptstadt Caracas wurde eine futuristische Landschaft modernster Architektur, und man wähnte sich an der Schwelle zur Ersten Welt. Doch AD und COPEI hatten es nicht vermocht, andere Sektoren aus der Bedeutungslosigkeit zu holen und so das Land vom Öltropf zu reißen. Zwar ist Venezuela auch heute noch die viertgrößte Ölnation der Welt und der wichtigste Ölprodukte-Exporteur für die Vereinigten Staaten, doch als sich der Preisverfall für den Rohstoff abzuzeichnen begann, schöpften die oberen Schichten den Gewinn ab, um ihren Lebensstandard nicht aufgeben zu müssen. Hinzu kam die Abwertung der Landeswährung Bolívar an einem Schwarzen Freitag im Jahre 1983, dem massive Inflation und wirtschaftlicher Abschwung folgten. Zwangsläufig litten unter den plötzlich veränderten wirtschaftlichen Bedingungen vor allem die weniger qualifizierten beziehungsweise privilegierten Schichten, die nun nicht mehr mit materiellen Strömen aus den Ölquellen rechnen konnten. Mit jeder neuen Regierung wurden die Versprechen, das Land aus der Krise zu führen, wiederholt, mit jeder Wahlperiode die Hoffnungen der Bevölkerung enttäuscht. Es entstand eine Mischung aus Gleichgültigkeit und Zorn, die immer wieder in Aufständen und Putschversuchen kulminierte. Die zunehmend unruhige innenpolitische Lage verunsicherte auch ausländische Investoren, die speziell nach dem Greifen der Asienkrise in Lateinamerika skeptisch und zurückhaltend geworden sind.

Ausgedünnter Mittelstand

Auch 1992 wurde versucht, dem damals amtierenden Präsidenten Carlos Andrés Pérez die Macht zu entreißen. Am 4. Februar marschierte Hugo Chávez Frias, damals ein Fallschirmjäger aus den mittleren Rängen des Militärs, mit einer Handvoll Getreuer auf den Präsidentensitz, den Palacio de Miraflores in Caracas zu. Doch der Putschversuch scheiterte am Widerstand der Generäle. Als der heute 85jährige Rafael Caldera 1993 das Amt des Präsidenten übernahm, versprach er, das Land aus der wirtschaftlichen Krise zu führen. Er setzte aber schlicht den neoliberalen Kurs, den der Internationale Währungsfonds (IWF) seit 1989 im Gegenzug für dringend benötigte Kredite vorschrieb, fort und stürzte so weitere Teile des ohnehin ausgedünnten Mittelstandes in materielles Elend. Heute leben 80 Prozent der VenezolanerInnen unter der Armutsgrenze.
Hugo Chávez, nach zwei Jahren in einem komfortablen Gefängnis aus der Haft entlassen, sah in den Präsidentschaftswahlen von 1998 seine Chance, auf legalem Wege an die Regierung zu kommen. Mit einem Programm, das nicht viel mehr als markige Sprüche gegen die korrupte herrschende Klasse enthielt, zog er in den Wahlkampf – und rannte bei den frustrierten VenezolanerInnen offene Türen ein. Mit den vagen Versprechen, eine radikale Umverteilung des Reichtums einzuleiten, der Korruption den Garaus zu machen und Venezuela neu zu ordnen, gewann er bei den Wahlen im vergangenen Dezember 56 Prozent der Stimmen.
Sein stärkster Kontrahent, der eher biedere, von AD und COPEI unterstützte Henrique Salas Römer, kam auf knapp 40 Prozent. Er war mit einem liberalen Wirtschaftsprogramm angetreten und wollte die Sparpolitik Calderas fortführen. Doch die armen Teile der Bevölkerung, die aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit wahlentscheidend waren, hatten offensichtlich jegliches Vertrauen in die alten Eliten verloren. Chávez, der selbst aus einer armen Lehrerfamilie stammt, bot eine optimale Identifikationsfläche für die notleidende Bevölkerung. Seit seinem Putschversuch hatte sich ein Mythos um ihn gebildet. Als Rächer der Entrechteten und starke Hand gegen die verhaßten Machthaber traute man ihm zu, Venezuela zu neuem Glanz zu verhelfen.
Der Ex-Militär bastelte selbst eifrig an seinem Image. ‘Por ahora!’ (Fürs Erste) hatte er gerufen, als die Guardia Nacional ihn 1992 abführte, seit seiner Entlassung benahm er sich wie der politische Enkel des Nationalhelden Simón Bolívar, der Venezuela gegen die Spanier in die Unabhängigkeit gekämpft hatte. Er schmückte seine Reden mit Zitaten des historischen Vorbilds und bediente sich einer mit martialischen Drohungen unterfütterten Metaphorik. Den amtierenden Machthabern versprach er, „ihre Köpfe in der Pfanne schmoren“ zu lassen, dem Volk versicherte er, „von einer mächtigen Kraft erfaßt“ zu sein, die ihn als legitimen Herrscher des venezolanischen Volkes ausweise.
Die Versuche der beiden traditionellen Parteien, Chávez als dikatorischen Teufel hinzustellen, schlugen dennoch fehl. Auch Irene Sáez, ehemalige Miss Universum und aus diesem Grunde manchem deutschen Nachrichtenmagazin einen Artikel wert, konnte die WählerInnen nicht überzeugen. Bemerkenswert ist, daß weder AD noch COPEI einen eigenen Kandidaten aufstellten, sondern „unabhängige“ Bewerber unterstützten. Die Altparteien hatten gemerkt, daß ihnen das Volk nicht mehr traute, und versuchten, ihre Macht mit Hilfe eines unverbrauchten Gesichts zu erhalten. Chávez selbst hatte den aus einer Vielzahl kleiner Organisationen gebildeten Patriotischen Pol (Polo Patriótico, PP) hinter sich geschart, um den Wahlkampf finanzieren zu können. Dieses Agglomerat weitgehend unbedeutender Parteien und Initiativen vereint kommunistische bis national-patriotische Strömungen unter dem Dach der Treue zu Chávez und seinem Anliegen, in Venezuela aufzuräumen. Seit dem Wahlerfolg wird der PP von der Omnipräsenz des neuen Regierungschefs in den Schatten gestellt. Der Zerfall dieser illustren Koalition scheint daher nur eine Frage der Zeit.

Regieren über Dekrete

Die Vereidigung des neuen Präsidenten fand am 2. Februar statt, die Feierlichkeiten verlegte Chávez auf den siebten Jahrestag seines Putschversuches und ließ sich von einer begeisterten Menge bejubeln. Doch bis heute ist nicht genau zu erkennen, welche Politik der 44jährige Ex-Militär verfolgt. Die wenigen konkreten Vorhaben lassen Befürchtungen vor einer autokratischen Regierungsweise zu, die sich vornehmlich auf Dekrete stützt.
Das zentrale Anliegen Chávez’, das mit diesen Verordnungen auf den Weg gebracht wurde, ist eine Verfassungsgebende Versammlung, die am 25. April stattfinden soll. Für die neue Verfassung will Chávez eine breite Basis schaffen, nützen soll sie aber vor allem dem Präsidenten. Denn dessen Rechte sollen bis hin zur Auflösung des Kongresses erweitert werden. Noch ist der Text nicht vollständig formuliert, doch stößt das Vorhaben gerade bei den Altparteien auf heftigen Widerstand. Wenige Tage nach Bekanntgabe des Präsidialdekrets rief die AD den Obersten Gerichtshof (CSJ) an. Hugo Chávez tobte. Wenn das Höchste Gericht den Prozeß stoppen werde, so der Präsident, ginge er „mit dem Volk auf die Straße“. Am 20. März konnte Chávez wieder aufatmen, denn der CSJ hatte das Dekret Nr. 3 für rechtens erklärt.
Wie schon im Wahlkampf warnen die traditonellen Machthaber nun vor einer drohenden Diktatur. Doch scheint die Angst vor dem Verlust von Privilegien und vor weiteren Enthüllungen des jahrzehntelangen Machtmißbrauchs im Vordergrund zu stehen. Nach einer ebenfalls für die Verfassungsgebende Versammlung angekündigten Justizreform könnten neue Korruptionsskandale aufgedeckt werden, die von loyalen Beamten vertuscht worden sind. Wenn Senat und Kongreß zusammengelegt werden, verlieren die ehemaligen Präsidenten möglicherweise ihre bislang sicheren Posten. Wie in Chile werden auch in Venezuela die Staats- und Regierungschefs nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt Senatoren auf Lebenszeit. Mit einer Fusion aus Senat und Kongreß stünden zudem weniger Sitze zur Verfügung. Einigen Mandatsträgern droht damit ein jähes Ende ihrer Karriere. Währen sich die AD hauptsächlich der Bekämpfung der Verfassungsgebenden Versammlung widmet und nicht müde wird, die Legitimität der Entscheidungen des neuen Präsidenten anzuzweifeln, zeichnet sich bei der COPEI ein radikaler Kohäsionsverlust ab. In 16 Bundesstaaten ist die Traditionspartei nicht mehr vertreten. Neben intensiven Diskussionen um die zukünftige Richtung der Partei mehren sich auch Anzeichen für eine Spaltung.

Tanz zwischen den Stühlen

Für Chávez stellen sich die ersten Wochen der Amtszeit als Tanz zwischen den Stühlen dar. Will er nicht die großen Erwartungen der armen Bevölkerung, und damit seiner Wähler- und jetzigen UnterstützerInnen, enttäuschen, muß er nicht nur den Filz aus Parlament und Verwaltung entfernen, sondern vor allem den Lebensstandard anheben. Seit seiner Wahl ist er deshalb ständig im Ausland unterwegs, um bei Investoren und Regierungen um Gelder und Unterstützung zu werben. Bereits am Tag seiner Wahl sendete „das Chamäleon“, wie Chávez vielfach genannt wird, eine „Botschaft des Vertrauens“ an ausländische Investoren. Er versucht mit kapitalfreundlicher Rhetorik, die Befürchtungen zu zerstreuen, die bei Aktionären und Geldgebern angesichts seiner populistischen Umverteilungsversprechen im Wahlkampf aufgekommen waren. In Spanien erhielt er nun die Zusage für 800 Mio. US-Dollar zum Bau eines Eisenbahnnetzes. Dies könnte ein erster Schritt sein, die Fixierung auf LKW und Busse als Transportmittel – und damit auf Öl – zu beenden.
Nützlich für Venezuelas Volkswirtschaft und damit für den politischen Erfolg des Präsidenten wird sich zumindest kurzfristig auch die Einigung der Opec-Staaten auf niedrigere Fördermengen auswirken. Auf ihrem Gipfel am 23. März in Wien beschloß die Organsiation erdölexportierender Länder ab 1. April rund 1,7 Millionen Barrel des „schwarzen Goldes“ weniger pro Tag aus dem Erdreich zu pumpen. Ein Barrel soll bald ca. 20 US-Dollar kosten. Das wäre eine Erhöhung um mehr als 50 Prozent und für Venezuelas Staatsfinanzen ein Segen, denn besonders die Devisenreserven haben einen gefährlich niedrigen Stand erreicht. In einer ungünstigen Konstellation – etwa bei starken Kursverlusten in Brasilien – könnte eine Hyperinflation wie 1983 kaum mehr abgewendet werden. Doch ob sich tatsächlich alle Opec-Staaten an die Einigung halten werden, ist offen. In der Vergangenheit hatte gerade auch Venezuela ähnliche Abkommen immer wieder ignoriert.
Noch eine weitere Instanz muß Chávez in Schach halten: das Militär. Die Generäle hatten zwar nie die Macht eines Augusto Pinochet oder Jorge Videla, doch ohne ihre Duldung kann Chávez nicht regieren. Gegenwärtig muß er sich nicht allzusehr sorgen, weil die Mehrzahl der Bevölkerung hinter ihm steht und ein Putsch nur mit drastischen Repressionen durchzusetzen wäre. Außerdem hat „El Comandante“ vorgesorgt: Gleich zu seinem Amtsantritt veranlaßte er, die Teilnehmer an seinem eigenen Putsch wieder in die Armee zurückzuholen. Die fungieren nun als Rückhalt im Militär.
Wenn der neue Präsident auch unberechenbar scheint und noch längst nicht geklärt ist, ob seine Regierungsweise nach der Verfassungsgebenden Versammlung diktatorische Züge annimmt: Allein durch die monatelange Diskussion um Grundfragen der Demokratie wie Gewaltenteilung, Partizipation und Meinungsfreiheit ist Bewegung in die lange erstarrte politische Auseinandersetzung Venezuelas gekommen. Sollte sich Chávez allerdings, ausgestattet mit weitreichenden Vollmachten, nach der Verabschiedung einer neuen Verfassung als Tyrann entpuppen, kann es wie 1989 nach der neoliberalen Wende unter Pérez zu schweren Unruhen kommen. Auf eine illegale Landbesetzung, an der laut International Herald Tribune 15000 Familien beteiligt sind, hat der Präsident noch nicht mit Zwangsmaßnahmen reagiert. Er weigerte sich, trotz massiver Forderungen seitens der Wirtschaft und oppositioneller Parteimitglieder nach Intervention, die Guardia Nacional auf die BesetzerInnen zu hetzen. Das immerhin hätte es bei AD und COPEI nicht gegeben.

Die Regionalisierung des Konflikts

Die Töne aus dem Norden werden deutlicher: Mitte März bezeichnete die US-amerikanische Heritage Foundation die Gespräche Pastranas mit der Guerilla als „Kapitulation“ und forderte ein Ende des Dialogs. Die us-amerikanische Rechte will eine militärische Lösung des Konflikts.
Doch auch wenn die Signale klarer werden, kommen sie nicht überraschend. Unter dem Deckmantel der Drogenbekämpfung unternehmen die USA schon seit Ende der achtziger Jahre enorme Anstrengungen, um ein Vorrücken der kolumbianischen Opposition (was sich ausdrücklich nicht auf die Guerilla beschränkt) in Kolumbien zu verhindern. Im 1988 zum Amtsantritt der Regierung Bush veröffentlichten Santa Fe II-Dokument wurde Kolumbien als „das El Salvador der neunziger Jahre“ bezeichnet, und tatsächlich ist das südamerikanische Land mit dem stabilsten Wirtschaftswachstum auf dem Subkontinent zum drittgrößten Empfänger von US-Militärhilfe in der Welt aufgestiegen. Die USA unterhalten in Kolumbien mehrere Dutzend Militärstützpunkte, eine unbekannte Anzahl Militärberater und Geheimdienstagenten sowie umfangreiche Kommunikationsstrukturen. Seit Mitte 1996 wird die US-Präsenz weiter ausgebaut.
Der Hintergrund für die US-Bemühungen sind die Erfolge der Guerillaorganisation FARC, die 1996 im dünn besiedelten Süden Kolumbiens vom Guerilla- zum Bewegungskrieg überging und große Militäreinheiten anzugreifen begann. Mindestens ein halbes Dutzend schwerer Niederlagen hat die Guerilla der Armee auf diese Weise in den vergangenen zwei Jahren zugefügt, mehr als 300 Polizisten und Soldaten befinden sich in den Händen der Aufständischen. Eine wahrscheinlich bewußt übertreibende Studie aus dem US-Verteidigungsministerium sagte letztes Jahr sogar einen möglichen Sieg der Guerilla innerhalb der nächsten fünf Jahre voraus, wenn das US-Engagement nicht verstärkt werde.

The empire strikes back

Kein Wunder also, daß zuletzt hochrangige Funktionäre aller US-Sicherheitsdienste in Kolumbien gewesen sind. Verteidigungsminister William Cohen, der Boß der Drogenbekämpfungsagentur DEA Thomas Constantine, FBI-Direktor Louis Freeh, der selbsternannte Anti-Drogen-Zar Barry McCaffrey, mehrere CIA-Delegationen sowie der Chef des Kommandos Süd der US-Armee, Charles E. Wilhelm, haben sich in Bogotá die Klinke in die Hand gegeben. Im Dezember 1998 – just als Außenministerin Madeleine Albright die Verfehlungen in der US-amerikanischen Chile-Politik der siebziger Jahre eingestand – unterzeichnete ihr Amtskollege, Verteidigungsminister Cohen, ein weitreichendes Militärabkommen. So wird die kolumbianische Armee 1999 nicht nur 400 Millionen US-Dollar Militärhilfe erhalten, sondern auch tatkräftig mit Hochtechnologie ausgerüstet und in Geheimdienstpraktiken ausgebildet werden. Mehr als 300 US-Berater werden im Verlauf des Jahres zusätzlich nach Kolumbien kommen und den Krieg zum Teil direkt mitdirigieren. Schon jetzt überwachen US-Spionageflugzeuge und -satelliten Bodenbewegungen in den Guerillagebieten und lassen ihre Erkenntnisse der Armeespitze in Bogotá zukommen (siehe LN 296). Neu kommt außerdem dazu, daß ein aus Berufssoldaten zusammengesetztes Elitebataillon der kolumbianischen Armee, das sogenannte Batallón Anti-Narcótico, unmittelbar einem US-Militärberater unterstehen wird.
Mit dem verstärkten Engagement der USA ist vor allem die Medienpolitik der Regierung spürbar professioneller geworden. Militärische Kampagnen werden nun von großen politischen Kundgebungen begleitet, wie zuletzt in der nordkolumbianischen Stadt Santa Rosa. Die Stadt am Fuß der Serranía de San Lucas, in der 80 Prozent der kolumbianischen Goldvorkommen konzentriert sind, steht seit Mitte letzten Jahres unter massivem Druck von Paramilitärs und Armee. Nachdem ein Teil der Bevölkerung mit Massakern und Drohungen aus der Region vertrieben wurde, organisierte die Pastrana-Regierung eine Demonstration gegen die Demilitarisierung der Region. Die Guerillaorganisation ELN hatte dies als Sicherheitsgarantie für die geplanten Gespräche zwischen Gesellschaft und ELN gefordert. Nach der Ablehnung der Regierung mußte der Beginn der schon organisierten Gespräche auf unbefristete Zeit verschoben werden. Offensichtlich setzt man in der kolumbianischen Regierung immer mehr darauf, die Öffentlichkeit politisch für den Krieg zu mobilisieren.

Die Grenzen werden militarisiert…

Vieles deutet darauf hin, daß auf das gesamte im Kalten Krieg entwickelte Repertoire des low intensity warfare (Kriegführung geringer Intensität) zurückgegriffen werden soll. Der „Krieg geringer Intensität“ ist keine Erfindung der Linken, sondern ein offizieller Begriff der internationalen Sicherheitspolitik. Im erst vor kurzem gegründeten bilateralen Verteidigungsausschuß USA-Kolumbien wird die nordamerikanische Großmacht beispielsweise durch einen – so die hochoffizielle Bezeichnung – „Staatssekretär des State Department für Low-Intensity-Konflikte“ vertreten.
Die Mobilmachung gegen die kolumbianische Aufstandsbewegung erfaßt inzwischen die ganze Region. Nach Angaben der liberalen Bogotaner Tageszeitung El Espectador hält das US-Verteidigungsministerium Kolumbien für den „größten Instabilitätsfaktor Lateinamerikas“ und verlangt ein konzertiertes Vorgehen. Besonders die engsten Verbündeten Washingtons in der Region sind aktiv geworden. Bereits letztes Jahr rief der argentinische Präsident Carlos Menem zur Bildung einer multinationalen Eingreiftruppe für Kolumbien auf – offiziell natürlich zur effizienteren Drogenbekämpfung. Seit dem interamerikanischen Militärgipfel im Dezember 1998 im kolumbianischen Cartagena machen nun auch die direkten Nachbarstaaten an ihren Grenzen mobil. Der peruanische Präsident Fujimori – wahrscheinlich der treueste Statthalter der USA in der Region – erklärte unmittelbar nach einer Dienstreise nach Washington, daß seine Regierung alle kolumbianischen Guerilleros, die peruanisches Territorium betreten, verfolgen und mit lebenslanger Haft bestrafen werde. Kurz darauf verlegte Fujimori 5.000 Soldaten an die Grenze im Amazonasgebiet. Die Tageszeitung El Espectador wies weiterhin darauf hin, daß Washington im vergangenen Jahr die Regierungen von Ecuador und Peru unter anderem deswegen zur Beilegung des Grenzkonflikts bewegt habe, um Truppen für die Kontrolle der kolumbianischen Grenzen freizusetzen. Und auch in Brasilien, Panama und Ecuador habe die Clinton-Administration Druck ausgeübt, damit die betreffenden Armeen die Versorgungswege der Guerilla unterbreche.

…und der Paramilitarismus erreicht die Nachbarstaaten

Die Internationalisierung des Konflikts beginnt allmählich auch die innenpolitische Situation in den Nachbarstaaten grundlegend zu verändern. So ermordete ein kolumbianisches Kommando im Februar den linken ecuadorianischen Abgeordneten Jaime Hurtado (siehe LN 297). Der Anwalt und wichtigste schwarze Politiker seines Landes war zweimal Präsidentschaftskandidat der Volksdemokratischen Bewegung MPD gewesen und gehörte zu den Unterstützern der kolumbianischen Opposition.
Offiziell wurde die Verantwortung für die Aktion zwar dem kolumbianischen Paramilitär-Chef Carlos Castaño zugeschoben, doch ist kaum davon auszugehen, daß die Todesschwadrone eine derartige Ausweitung des Konflikts auf die Nachbarländer ohne Zustimmung der Armeespitze getroffen haben. Gegen Castaño existiert in Kolumbien zwar ein Haftbefehl, aber er unterhält dennoch beste Verbindungen zum Generalstab und stimmt in allen Krisenregionen sein Vorgehen mit der Armee ab.
Daß der Mord an Hurtado abgesprochen war, wäre nicht weiter verwunderlich. Immerhin nutzt der Tod des linken Abgeordneten den Regierenden in Quito, Bogotá und Washington gleichermaßen: Die ecuadorianische Regierung hat einen unangenehmen Kritiker weniger, die ausländische Solidaritätsbewegung mit der kolumbianischen Linken wird weiter eingeschüchtert, und Washington hat ein weiteres gewichtiges Argument zur Militarisierung der Grenzen. In der Presse argumentierte man, die kolumbianische Armee habe die Extremisten von Rechts und Links nicht mehr unter Kontrolle, weswegen der Einsatz ecuadorianischer Truppen immer dringlicher werde.
Das einzige Land, das sich dieser Strategie im Augenblick grundsätzlich widersetzt, ist Venezuela. Der Ende 1998 ins Amt gewählte Offizier Hugo Chávez hat den Plänen des Pentagons eine klare Absage erteilt und den kolumbianischen RebellInnen sogar die Möglichkeit des politischen Asyls zugesichert, wenn sie unbewaffnet in venezolanisches Territorium gelangen. So halten sich mit Zustimmung Chávez’ seit einigen Wochen denn auch hochrangige Delegationen von ELN und FARC in Venezuela auf. Die Anerkennung der Guerillas geht so weit, daß ELN-Kommandant Antonio García, der im Februar und März in Maracaibo Gespräche mit kolumbianischen und venezolanischen PolitikerInnen führte, von einer Leibwächtergruppe begleitet wurde, die gleichermaßen aus ELN-Guerilleros und venezolanischen Polizisten zusammengesetzt war.
Noch ist die Pastrana-Administration zwar um einen freundschaftlichen Ton gegenüber dem hochpopulären Chávez bemüht, doch hinter den Kulissen wird der Ton schärfer. Völlig unvermittelt sagte die kolumbianische Regierung Anfäng März wegen der venezolanischen Kontakte zu FARC und ELN ein Treffen zwischen den Präsidenten beider Länder wieder ab. Wenig später kündigte der Paramilitärchef Carlos Castaño an, daß die Todesschwadrone ihren Aktionsradius auf Venezuela ausweiten werden. Regierungsmitglieder in Caracas erwiderten darauf, daß sie die Paramilitärs bedingungslos verfolgen würden, sobald sie die Grenze überschritten, und der Friedensberater Hugo Chávez’, Ex-General Alberto Muller Rojas, ging sogar noch weiter, als er Mitte März erklärte, die Paramilitärs seien Teil der kolumbianischen Staatsmacht.
Viele BeobachterInnen fürchten nun sogar, daß Chávez sein Engagement im kolumbianischen Konflikt den Kopf kosten könnte. Anfang März hieß es in der venezolanischen Presse, daß es einen Komplott gegen die neue Regierung gebe. Chávez könne ein ähnliches Schicksal widerfahren wie dem panamenischen Staatspräsidenten Omar Torrijos, der in den siebziger Jahren die SandinistInnen in Nicaragua unterstützte. Torrijos, der auch politisch einiges mit Chávez gemein hat, kam 1981 unter ungeklärten Umständen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Hinter dem Anschlag steckte damals der in den USA ausgebildete Offizier und zeitweilige CIA-Agent Noriega, der wegen seiner Drogengeschäfte zehn Jahre später schließlich selbst zum Opfer einer US-Militärintervention werden sollte.

Ein Desaster für die FARC

Paradoxerweise ist der schwerwiegendste Vorfall im kolumbianisch-venezolanischen Grenzgebiet jedoch von der Guerilla selbst zu verantworten. Anfang März wurden die drei nordamerikanischen Indígenas Terence Freitas, Ingrid Wahinawatok und Larry Gay Lahe’ena’e auf der venezolanischen Seite des Arauca-Flusses tot aufgefunden. Als die Morde bekannt wurden, deutete zunächst alles in Richtung rechter Todesschwadrone. Selbst die Tageszeitung Washington Post zweifelte die offizielle Version des State Department an, wonach die Guerilla die drei native americans ermordet habe. Immerhin waren Freitas, Wahinawatok und Lahe’ena’e nach Kolumbien gereist, um die U’wa-Indigenas in ihrem Kampf gegen den Erdölmulti OXY zu unterstützen, der auf dem Territorium der U’was nach Öl bohren will.
Doch obwohl es keinen vernünftigen Grund für eine Täterschaft der Guerilla gab, stellten sich die von den Medien präsentierten Anschuldigungen gegen die FARC schließlich als wahr heraus. Nach einer Woche Recherche trat FARC-Sprecher Raúl Reyes sichtlich schockiert vor die Presse und gestand die Verantwortung seiner Organisation für die Morde ein. Ein Kommandant der 10. FARC-Front mit dem Decknamen „Gildardo“ habe die drei US-Amerikaner im Gebiet der U’was als „unbekannte Ausländer“ festgenommen und ohne Rücksprache mit seinen Vorgesetzten erschossen. Reyes, der gleichzeitig Verhandlungsführer der FARC bei den Gesprächen mit der Regierung ist, beeilte sich klarzustellen, daß das Vorgehen nicht der Politik seiner Organisation entspreche und kündigte die Bestrafung der Verantwortlichen an. Trotzdem wird der angerichtete Schaden kaum gutzumachen sein.
Die drei Morde bedeuten für die Guerilla ein politisches Desaster. Erst im Januar hatten die FARC die Gespräche mit der Regierung Pastrana wegen der fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen für drei Monate eingefroren und ein gut recherchiertes Papier über die Hintermänner des schmutzigen Kriegs vorgelegt. Doch nach den letzten Ereignissen wird von den systematischen Kriegsverbrechen der Armee und der zivilen Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik kaum noch die Rede sein. Die internationale Debatte wird sich auf den Tod der NordamerikanerInnen konzentrieren.
Dabei wäre internationale Öffentlichkeit im Augenblick so nötig wie nie. Praktisch kein Landesteil ist mehr vor paramilitärischen Überfällen sicher. 25 Prozent der ländlichen Bevölkerung befinden sich auf der Flucht, ganze Stadtteile sind in den letzten Monaten zu paramilitärischen Angriffszielen erklärt worden, und selbst die bescheidenste Menschenrechtsarbeit ist unmöglich geworden. Neben der kirchlichen Untersuchungskommission Justicia y Paz haben nun auch die Solidaritätskomitees mit den politischen Gefangenen CSPP sowie diverse Medelliner Büros des Gewerkschaftsdachverbandes CUT ihre Büros wegen Drohungen von Armee und Paramilitärs schließen müssen.
Das Problem ist dabei nicht nur, daß die Täter mit Straffreiheit rechnen können, sondern auch, daß von der kolumbianischen Rechten zunehmend Menschenrechtsorganisationen gegründet werden (wie z.B. die vom Santos-Clan kontrollierte Anti-Entführungsgruppe Pais Libre), die sich als neutrale Nichtregierungsorganisationen präsentieren und den Staat als Opfer von Rechts und Links darzustellen versuchen. So existiert anders als bei den zentralamerikanischen Bürgerkriegen der achtziger Jahre praktisch keine kritische Öffentlichkeit mehr, die den Terror gegen die Land- und Slumbevölkerung öffentlich machen würde.

Eine politische Lösung rückt in weite Ferne

Vor diesem Hintergrund wird eine politische Lösung des Konflikts immer unwahrscheinlicher. Einiges spricht sogar dafür, daß es Präsident Pastrana mit seinen Gesprächsbemühungen in den letzten Monaten vor allem um einen Zeitgewinn ging. Nach den militärischen Erfolgen der Guerilla galt der Zustand der Armee als desolat. Interessanterweise hat Pastrana von den fünf Zusagen, die er im August vergangenen Jahres bei seinem Gipfeltreffen mit Guerilla-Kommandant Marulanda machte, nur eine einzige wirklich eingelöst. Zwar wurde ein 40.000 Quadratkilometer großes Gebiet um San Vicente de Caguán geräumt, aber sonst bleibt alles beim alten: Der Paramilitarismus wächst, die legale Opposition wird weiter kriminalisiert, Streiks werden brutal niedergeschlagen.
Gegenüber der unauffälligeren, aber kaum kleineren ELN setzt Pastrana inzwischen offen auf eine militärische Lösung. Fast täglich sind in den kolumbianischen Tageszeitungen Artikel über die Krise der guevaristisch-basischristlichen Guerillaorganisation zu lesen. Offensichtlich soll der Eindruck eines nahen Sieges vermittelt werden, damit keine weiteren Zugeständnisse mehr gemacht werden müssen.
Antonio García, militärischer Kommandant der ELN, erklärte daraufhin im venezolanischen Maracaibo, daß man die geplanten Gespräche mit der Gesellschaft nun ohne Beteiligung der Regierung im Ausland organisieren werde.
Doch auch auf diesem Feld bemüht sich Präsident Pastrana geschickt, den Spielraum der Aufständischen einzuengen. Seit seinem Amtsantritt ist der Konservative darum bemüht, die Beziehungen zu den EU-Staaten zu verbessern, die sich zuletzt als Fürsprecher von Verhandlungen hervorgetan und der Guerilla gewisse Spielräume eingeräumt hatten.

ELN: „Keine Gespräche mehr mit Pastrana“

Der Friedensbeauftragte von Präsident Pastrana, Victor Ricardo, und die Nummer 2 der ELN, Antonio García, hatten sich im Februar in Venezuela getroffen, um Sicherheitsgarantien für die geplante Nationalkonvention zu vereinbaren. Auch ein direktes Gespräch zwischen Präsident Pastrana und dem ELN-Chef Nicolas Bautista sollte ausgemacht werden. Doch bei den Gesprächen platzten alle Pläne. Die Regierung wies die Forderung der Guerillaorganisation nach Räumung der vier Gemeinden Morales, Simití, Santa Rosa und San Pablo im Süden der Provinz Bolívar kategorisch zurück. Die ELN bekräftigte hingegen, daß sie die Sicherheit der Konvention, die eigentlich schon am 15. Februar hatte beginnen sollen, nur in einem von der Armee geräumten Gebiet garantieren könne.
Die Durchführung der Nationalkonvention, an der 400 Delegierte verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen teilnehmen sollen, war im vergangenen Juli zwischen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und dem ELN in Mainz vereinbart worden. Ein demokratisches Forum sollte entstehen, das vor allem den Unterschichten ein Sprachrohr bieten könnte. Der Haken an dem Projekt ist jedoch, daß Bauernverbände, Basisorganisationen und Gewerkschaften in Kolumbien von den Todesschwadronen so massiv unter Druck gesetzt werden, daß sich kaum jemand traut, öffentlich Stellung zu beziehen. Nur wenn paramilitärische Angriffe wirklich ausgeschlossen sind, könnte eine derartige Konvention funktionieren. Das ist der Grund, warum der Sicherheitsfrage eine so große Bedeutung zukommt.

Die „Santa Ana“-Methode

Die Regierung Pastrana, die schon für die Übergabe von Gebieten im Süden des Landes an die revolutionären FARC massive Schelte aus den USA bezogen hatte, wollte sich auf eine neuerliche Räumung nicht einlassen. Stattdessen schlug sie die sogenannte „Santa Ana“-Methode vor, die vor zwei Jahren bei der Übergabe von entführten OAS-Mitarbeitern angewandt worden war. Danach soll die Armee in der Nähe des Konferenzortes bleiben und nur für die Dauer des Treffens ihre Operationen einstellen. Armeekommandant Tapias Stahelin bekräftigte, daß seine Truppen die Konvention zu schützen bereit seien.
Zahlreiche potentielle Konventionsteilnehmer dürften allerdings genau das befürchten. Erst im vergangenen September hatte Präsident Pastrana 10.000 protestierenden Bauern aus der Provinz Bolívar ganz ähnliche Zusagen gemacht. Kaum war ein Abkommen unterzeichnet, verstärkte die Armee ihre Präsenz in der betroffenen Region und massakrierte in Kooperation mit Paramilitärs mindestens 100 Bauern. In San Pablo, das als Konventionsort im Gespräch war, erschossen Uniformierte Anfang des Jahres unter den Augen der Soldaten 14 Jugendliche in einem Billardsalon.
Ähnlich sind die Erfahrungen auch in San Carlos im Departement Antioquia, wo im Oktober ein Vortreffen für die Nationalkonvention stattfand. Wenige Tage nach dem feierlichen Akt besetzten Paramilitärs ebenfalls mit Rückendeckung der örtlichen Armeeeinheit die Stadt und töteten 50 Personen. Und schließlich kam es sogar bei der zitierten Übergabe in Santa Ana 1997 zu einem schweren Zwischenfall. Ein Armee-Hubschrauber simulierte damals einen Angriff und löste fast eine bewaffnete Konfrontation aus. „Die Santa Ana-Methode ist für die Konvention keine brauchbare Lösung“, sagte ein deutlich verstimmter Antonio García nach den Gesprächen in Venezuela.
Den Meinungsverschiedenheiten vorausgegangen waren Militäroperationen gegen das ELN in den Departements Bolívar und Antioquia und Medienberichte über eine Schwächung der Guerilla. Die konzertierte Aktion von Paramilitärs und Armee habe den ELN wenigstens teilweise aus einer ihrer Hochburgen, der Serranía San Lucas, vertrieben, hieß es. Offensichtlich war die Regierung Pastrana nach den Zeitungsartikeln davon überzeugt, der Organisation weniger Zugeständnisse machen zu müssen als den FARC, deren militärische Macht so groß wie noch nie scheint.

Wenig Bereitschaft zu Kompromissen

Nach dem Abbruch der Gespräche wurden beide Seiten wegen ihres Verhaltens öffentlich kritisiert. Generalstaatsanwalt Bernal, der in Mainz Sprecher der Vorbereitungsgruppe war, wies darauf hin, daß eine Räumung von Gebieten nicht vereinbart worden sei und deshalb nun vom ELN nicht als Vorbedingung genannt werden könne. Demgegenüber erklärte eine Gruppe Abgeordneter aus der Provinz Santander ebenso wie der vom venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez benannte Vermittler Muller, daß die kolumbianische Regierung mehr Kompromißbereitschaft hätte zeigen müssen. Es sei nicht begreiflich warum man dem ELN etwas verweigere, was man den FARC zugestehe.
Allem Anschein nach wird die geplante Konvention nun im Ausland stattfinden müssen. Im Gespräch dafür sind Schweden, Norwegen, Spanien, Deutschland, Puerto Rico und Venezuela. ELN-Chef Nicolas Bautista stellte jedoch klar, daß die Regierung zu dieser Konvention nicht eingeladen sein werde. Ungeklärt ist auch, wie die Teilnahme von Basisorganisationen gewährleistet werden kann.
Auch der Friedensprozeß mit den FARC steckt in einer schweren Krise. Die Anfang Januar in San Vicente de Caguán aufgenommenen Gespräche sind bis April auf Eis gelegt. Die FARC verlangten beim letzten Zusammentreffen mit Victor Ricardo von der Regierung entschlossene Maßnahmen gegen die Paramilitärs und legten eine Liste von aktiven Paramilitärs vor. Unter diesen sind auch zehn hochrangige Offiziere, die nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen beste Verbindungen zum Drogenhändler und Paramilitärkommandanten Carlos Castaño besitzen sollen. Ob die Räumung der Gebiete im Süden des Landes bis über den Mai hinaus fortbestehen wird, steht in den Sternen. Es ist jedoch ziemlich wahrscheinlich, daß die angekündigte Re-Militarisierung ein Ende der Gespräche bedeuten würde.

Internationalisierter Konflikt

Als ob diese Entwicklung nicht beunruhigend genug wäre, geht an den kolumbianischen Grenzen das Säbelrasseln weiter. Unmittelbar nach einer Reise nach Washington ließ der peruanische Präsident Fujimori Armeeeinheiten ins Amazonasgebiet verlegen, um der kolumbianischen Guerilla Versorgungswege abzuschneiden. Nach Angaben der liberalen Tageszeitung El Espectador hat die Clinton-Administration auch auf Panama, Ecuador und Brasilien Druck ausgeübt, um – wie es in einer Pentagon-Studie heißt – „auf die von Kolumbien ausgehende wachsende Instabilität in der Region zu reagieren“. Die Beilegung der Grenzstreitigkeiten zwischen Ecuador und Peru sei, so El Espectador, von Washington forciert worden, um Truppen beider für den Einsatz an der kolumbianischen Grenze frei zu bekommen.
Der kolumbianische Verteidigungsminister Rodrigo Lloreda zeigte für die Maßnahmen des südlichen Nachbarn jedoch vollstes Verstädnis. „Wenn ich Fujimori wäre, würde ich das gleiche tun“, sagte Lloreda in einem Interview mit El Espectador und wies darauf hin, daß auf dem amerikanischen Militärgipfel im vergangenen Dezember in Cartagena ein derartiges Vorgehen besprochen worden sei. Immer wieder betonte Lloreda in den letzten Tagen die Existenz eines „Plans B“, der in Kraft trete, wenn die Verhandlungen scheiterten.
Was das bedeutet, ist nicht schwer auszumalen: Im Augenblick wird ein neues Bataillon mit 1000 Berufssoldaten aufgebaut, das von US-Offizieren mitkommandiert wird und bis Mitte des Jahres in den Provinzen Guaviare und Meta einsatzfähig sein soll. Die Elite-Einheit soll offiziell den Drogenanbau bekämpfen, wird aber in Wirklichkeit eher dazu dienen, das Hauptquartier der FARC in die Zange zu nehmen. Alle Zeichen stehen auf Sturm.

Patriotisches Himmelfahrtskommando

Verschwörungstheorien erfreuen sich in Mexiko ungemeiner Beliebtheit. Dafür gibt es einen einfachen Grund: In einem Land, das sieben Jahrzehnte lang von nur einer Partei regiert wurde, deren interne Machtverhältnisse und Fraktionskämpfe zudem immer hinter verschlossenen Türen verborgen blieben, liegt es für den politischen Beobacher nahe, hinter jedem politischen Ereignis eine finstere Macht zu wähnen, die die Marionetten auf der öffentlichen Bühne tanzen läßt. So war es denn kein Wunder, daß ein illustrer vierstündiger Aufzug von 51 Militärs, die am 18. Dezember letzten Jahres über die hauptstädtische Magistrale Paseo de la Reforma marschierten, für großes Aufsehen sorgte und wilde Spekulationen auslöste. Denn es handelte sich keineswegs um eine der zahlreichen offiziellen Militärparaden, sondern um eine regelrechte politische Demonstration bewaffneter Uniformträger.
Ein Novum in Mexiko, drang doch bisher über das Innenleben der Bundesarmee kaum etwas an die Öffentlichkeit. Unter der Führung des Oberstleutnant Hildegardo Bacilio Gómez protestierte das selbsternannte Patriotische Kommando zur Bewußtseinsbildung des Volkes (CPCP) mit der Aktion gegen die Verletzung elementarer Menschenrechte innerhalb der Armee. Sogleich wurde darüber gemutmaßt, welche der unzähligen politischen Fraktionen oder Cliquen innerhalb des Staatsapparates und der Regierungspartei PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution) mit dem Manöver welches politisches Ziel erreichen und wer wem warum eine Ohrfeige verpassen wolle. Letztlich scheinen sich alle Spekulationen als Luftblase erwiesen zu haben: Hinter dem CPCP steht tatsächlich nur eine Gruppe von inkonformen Soldaten, die die unhaltbaren Zustände innerhalb der Bundesarmee anprangern wollten.

Willkürjustiz

Die CPCP-Mitglieder beklagten, daß etwa 1.500 Angehörige der Streitkräfte wegen angeblicher Vergehen wie Befehlsverweigerung oder Ungehorsam in Militärgefängnissen inhaftiert seien. Bei den Verurteilungen würde teilweise willkürlich vorgegangen und rechtsstaatliche Prinzipien mißachtet. So säßen viele Soldaten langjährige Strafen für Taten ab, die sie gar nicht begangen hätten. Bacilio Gómez und seine Anhänger forderten daher, daß die armeeinterne Rechtssprechung (fuero militar) aufgehoben und die Armee der zivilen Jurisdiktion unterworfen werden solle. „Für Militärs existieren keine Menschenrechte und sie kommen auch nicht in den Genuß der Garantien, die die Verfassung gewährt. Arm dran ist im Militär derjenige, welcher versucht, auf seine Bürgerrechte zu pochen“, erklärte Ende Februar Enriquez del Valle, ein ehemaliger Hauptmann, der als zweiter Anführer des CPCP gilt.
Bisher drang über die internen Verhältnisse in der Bundesarmee wenig nach außen. Lediglich der Fall des General José Francisco Gallardo wurde in der Presse öfter erwähnt. Wenn man dem CPCP Glauben schenkt, kann er als symptomatisch gelten. Gallardo hatte sich 1993, ähnlich wie das Patriotische Kommando heute, über das innermilitärische Justizsystem beklagt und einen Ombudsmann für die Soldaten gefordert. Dieser sollte Beschwerden über Willkürhandlungen von Offizieren entgegennehmen und ihnen nachgehen. Doch Gallardo wurde schnell selbst zum Opfer der Militärgerichtsbarkeit. Unter einer fadenscheinigen Anklage wurde er zu 28 Jahren Haft verurteilt. Der Vorwurf: Er soll Pferdefutter aus einem Armeestall gestohlen haben. Gallardo und seine Angehörigen ließen sich durch das Urteil nicht entmutigen und führen seit Jahren eine unermüdliche Kampagne für seine Freilassung. Mittlerweile hat amnesty international Gallardo zum „Gefangen aus Gewissensgründen“ erklärt. Auch die Interamerikanische Menschenrechtskommission, die der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) untersteht, bezeichnet ihn als „politischen Gefangenen“.
Den Angehörigen des CPCP ergeht es nach ihren Protesten nicht viel besser. Mittlerweile sitzen acht Mitglieder im Militärknast. Oberstleutnant Hildegardo Bacilio konnte diesem Schicksal bis jetzt entgehen und verbirgt sich irgendwo in Mexiko. Er beschränkt sich momentan auf die Forderung nach Freilassung seiner Gesinnungsfreunde.

Politische Opposition im Militär?

Daß eine Organisation wie die mexikanische Armee, die beschuldigt wird systematischer Menschenrechtverletzungen beschuldigt wird, auch innerhalb ihrer Strukturen nicht zimperlich gegen Kritiker vorgeht, verwundert kaum. Interessant ist dagegen, daß die Äußerungen Oberstleutnants Bacilio Gómez einen deutlich politischen Anstrich hatten. So listete er eine Reihe politischer Vorbilder auf. Darunter befanden sich Che Guevara, der Subcomandante Marcos von den Zapatistas in Chiapas, Gerry Adams von der IRA-nahen Partei Sinn Fein aus Nordirland und der kürzlich zum Präsident gewählte Ex-Putschist und Linkspopulist Hugo Chávez aus Venezuela. Doch nicht nur für bewaffnete Freiheitshelden – oder solche, die sich dafür halten – schlägt sein Herz, sondern auch für Samuel Ruiz, den als Befreiungstheologen bekannten Bischof aus Chiapas.
Auf einer – mittlerweile wieder verschwundenen – Internetseite, die das CPCP einrichtete, fanden sich nicht nur Links zur Homepage der südmexikanischen Guerilla EZLN, sondern auch zur Seite von Rosario Ibarra, die momentan im Auftrag der Zapatistas eine Volksbefragung über deren Gesetzesvorschlag über indianische Rechte und Kultur organisiert. Rosario Ibarra ist eine der bekanntesten MenschenrechtsaktivistInnen in Mexiko. Ihr Sohn wurde als Mitglied einer Stadtguerilla in den 70er Jahren vom Militär entführt und ist seitdem verschwunden. In Interviews erkärte Bacilio Gómez außerdem, daß er nicht damit einverstanden sei, daß die Bundesarmee dazu eingesetzt werde, protestierende Indígenas und Menschenrechtsaktivisten zu ermorden.
Diese Äußerungen sind vor allem vor dem Hintergrund interessant, daß schon seit geraumer Zeit über eine angebliche oppositionelle Strömung in der mexikanischen Armee gemunkelt wird. Sie soll sich in der Tradition des postrevolutionären Linksnationalismus verorten, der über Jahrzehnte von Teilen der PRI gepflegt wurde und heute von der oppositionellen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) weiter repräsentiert wird. Immerhin soll PRD-Kandidat Cuauhtémoc Cárdenas bei den Präsidentschaftswahlen 1988 über die Hälfte der Stimmen der Armeeangehörigen gewonnen haben.
Dies ist durchaus plausibel, war doch sein Vater, der Revolutionsgeneral Lázaro Cárdenas, nach seiner durch Sozialreformen geprägten Präsidentschaftsperiode von 1934-40 noch jahrelang Verteidigungsminister. Auch der General und Rektor der Armeeuniversität im Ruhestand Luis Garfias Magaña meint: „Das mexikanische Militär identifiziert sich mehr mit dem Volk als mit den hohen Klassen.“
Obwohl man getrost davon ausgehen kann, daß die mexikanische Armee sich nicht auf einmal der EZLN anschließen wird, zeigt doch allein die Diskussion über den inneren Zustand der Armee, daß es dort rumort. Es wäre keine Überraschung, würde irgendwann ein mexikanischer Hugo Chávez auf den Plan treten und das Vaterland retten wollen. Das meinen zumindest die Militärsoziologen José Luis Piñeros und Guillermo Garduño. Sie erklärten in der Tageszeitung Excelsior: „Die Militärs, die auf die Straße gegangen sind, um ihre Differenzen innerhalb der Streitkräfte zu manifestieren, könnten in absehbarer Zeit auch soziale Anliegen auf ihre Fahnen schreiben und als Führer auftreten. Anlaß dazu gibt die wirtschaftliche, politische und soziale Krise im Land, vor allem aber das Fehlen rechtmäßiger Führer, die sich an die Spitze des Kampfes für die Umgestaltung stellen.“

„Die Straflosigkeit ist nicht nur Pinochets Werk“

Ihr Bruder Orlando Letelier war seit 1971 Botschafter der Regierung Allende in Washington, später Außenminister und in den letzten Wochen vor dem 11. September 1973 Verteidigungsminister. Was ist ihm unmittelbar nach dem Putsch passiert?

Noch am Tag des Militärputsches wurde Orlando verhaftet, als er morgens um halb acht das Verteidigungsministerium betrat. Er wurde sofort in eine Kaserne gebracht und dort fortwährend mit dem Tod bedroht. Soldaten trommelten an seine Zellentür und schrien: „ Jetzt kommt gleich der Minister an die Reihe!“
Nach einigen Stunden brachte man ihn in die Militärschule, wo sich schon andere hohe Beamte der Allende-Regierung befanden. Alle zusammen wurden schließlich auf die Insel Dawson geflogen. Sie liegt an der Südspitze Chiles in der Magellan-Straße – weit weg von der Hauptstadt Santiago. Dort wurden Orlando und die anderen als Kriegsgefangene festgehalten. Die Bedingungen waren schrecklich. Es lag viel Schnee und immer blies ein starker Wind. Außerdem gab es für die Gefangenen weder Zellen noch Zimmer, so daß sie sich erst selbst Behausungen bauen mußten.
Nach einem Jahr und dank internationalen Druckes konnte Orlando schließlich ausreisen. Elf Länder hatten sich zuvor bei Pinochet mit großer Beharrlichkeit für seine Freilassung eingesetzt. Orlando wurde dann ohne Paß oder irgendwelche Dokumente, als wäre er ein Paket, ins Exil geschickt. Von Venezuela aus begab er sich wenig später in die USA, wo er – auch auf internationaler Ebene – begann, die Menschenrechtsverletzungen in Chile anzuprangern. Das veranlaßte Pinochet und seine Minister, ihn im Juni 1976 auszubürgern. Am 21. September 1976 wurde er ermordet – ein internationaler terroristischer Akt, der die Souveränität der USA verletzte, und der nicht nur Orlando das Leben kostete, sondern auch seiner Sekretärin, der US-amerikanischen Staatsbürgerin Ronnie Moffit.

In Chile haben sich die Militärs 1978 für alle Menschenrechtsverletzungen, die sie zwischen 1973 und 1978 begangen haben, selbst amnestiert und bis heute wurden nur zwei Verantwortliche verurteilt: Manuel Contreras, Ex-Direktor der DINA, der damaligen chilenischen Geheimpolizei, und Pedro Espinoza, sein Stellvertreter. Wurden sie dafür verurteilt, die Ermordung ihres Bruders, Orlando Letelier 1976 in Washington geplant zu haben? Wie ist es dazu gekommen, daß 1995 – fast 20 Jahre nach dem Attentat – diese beiden Urteile ergangen sind?

Dies geschah aufgrund des Drucks und der Forderungen der Regierung der Vereinigten Staaten. Unmittelbar nachdem das Verbrechen geschehen war, wurden in den USA Ermittlungen aufgenommen, die sich über zwei Jahre erstreckten. Ein amerikanischer Staatsbürger wurde schließlich von einem US-Gericht verurteilt, außerdem aber stellte das Gericht drei Auslieferungsanträge an Chile. Die Ermittlungen der US-Behörden hatten ergeben, daß vermutlich drei chilenische Offiziere, der ehemalige Geheimdienstchef Contreras, sein Stellvertreter Espinoza und ein weiterer Offizier namens Armando Fernandez Larios in das tödliche Attentat verwickelt waren.
Der Oberste Gerichtshof Chiles lehnte damals die amerikanischen Auslieferungsanträge ab. Das Verfahren wurde in Chile weitergeführt. Weil es sich um Verdachtsmomente gegen Offiziere handelte, wurde das Verfahren allerdings vor einem Militärgericht weitergeführt. Seit diesem Zeitpunkt, seit 1980 kämpfte ich darum, daß das Verfahren nicht, wie die Militärrichter es beabsichtigten, eingestellt würde. Als dann 1990 Aylwin, der erste zivile Präsident der Nach-Pinochet-Ära sein Amt antrat, wurde der Fall Orlando Letelier nach einigem Hin und Her wieder an ein ordentliches Zivilgericht verwiesen.
Nach noch einmal fünf Jahren ergingen schließlich die Urteile gegen den Ex-Geheimdienstchef Contreras und seinen Stellvertreter Espinoza: Sieben und sechs Jahre bekamen sie – symbolische Strafen, wie ich finde. Aber was noch schlimmer war: Sie wurden nicht in ein Hochsicherheitsgefängnis eingewiesen, sondern man baute extra für sie ein neues Spezial-Gefängnis in dem Küstenort Punta Peuco. Diesem außerplanmäßigen Haushaltsposten – und das ist die eigentliche nationale Schande – stimmten alle Parlamentarier ohne Ausnahme zu. So können Contreras und Espinoza dort Besuch empfangen, wann immer sie wollen, haben Farbfernseher, verfügen über ein eigenes Bad und werden von ihresgleichen, nämlich Soldaten, bewacht.
Im November 1997 stellte Contreras allerdings einen Antrag auf Überprüfung seiner Strafe. Er erklärte darin, daß er faktisch damals gar nicht der Chef der Geheimpolizei gewesen sei, sondern daß dieses Amt General Pinochet selber innehatte.
1996 hat die chilenische Regierung offiziell festgestellt, daß während der Herrschaft Augusto Pinochets zwischen 1973 und 1990 aufgrund von Menschenrechtsverletzungen 1102 Personen verschwunden sind und 2095 Menschen getötet wurden. Danach haben trotz des Amnestiegesetzes von 1978 einige Personen vor verschiedenen chilenischen Gerichten wegen dieser extralegalen Hinrichtungen geklagt. Diese Gerichte haben jedoch die eingeleiteten Verfahren zumeist wieder eingestellt.

Wird sich diese Einstellung nach Pinochets Festnahme ändern?

Den genannten Zahlen der Verschwundenen und Getöteten stehen nur 14 Verurteilte gegenüber, die alle in dem Spezialgefängnis Punta Peuco einsitzen. Außer Contreras und Espinoza sind es noch mehrere Polizisten, die für ihre Beteiligung an der äußerst brutalen Ermordung von drei Kommunisten vor Gericht gestellt und verurteilt wurden.
Die in Chile herrschende Straflosigkeit für die damaligen Täter und ihre Komplizen ist aber nicht etwa nur das Werk der Diktatur Pinochets. Sie wurde durch die ab 1990 gewählten, zivilen Regierungen noch weiter verstärkt. Dies betrifft sowohl die Regierung Aylwin als auch die jetzt amtierende von Präsident Frei.
Die Demokratie, die wir heute in Chile haben, ist nicht umfassend, sie wird von den Militärs mit Argusaugen überwacht. Um sie in eine tatsächliche und vollständige Demokratie zu verwandeln, müssen wir in Chile einen breiten und pluralistischen gesellschaftlichen Prozeß in Gang bringen und damit Druck auf die Regierung ausüben. Diese muß endlich die Veränderungen einleiten, die für den demokratischen Fortschritt von grundlegender Bedeutung sind. Das heißt vor allem: Wir müssen endlich die von Pinochet hinterlassene Verfassung aus dem Jahr 1980 abschaffen.

Sie haben Anfang November 1997 bei dem spanischen Richter Manuel García Castellón in Madrid Pinochet angeklagt, den Befehl zur Ermordung ihres Bruders gegeben zu haben. Wenn Pinochet sich tatsächlich vor Gericht verantworten müßte, welche Rolle hätten Sie dann in dem Prozeß?

Ich bin eine Partei in dem spanischen Prozeß – deswegen werde ich mit großer Aufmerksamkeit seinen Fortgang verfolgen. Wenn der Prozeß so zu Ende geht, wie wir alle hoffen und wie es den Rechtsgrundlagen entsprechen würde, würde ich es nur als gerecht empfinden, wenn Pinochet wegen Völkermord, Folter und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wird.

Im Juli wurden in Rom Verhandlungen über die Einrichtung eines
Internationalen Strafgerichtshofes abgeschlossen. Was versprechen Sie sich davon?

Zu der Versammlung in Rom kamen diplomatische Vertreter aus 160 Staaten; am 17. Juli endete sie mit der Verabschiebung des Statuts eines ständigen Internationalen Strafgerichtshof. Das war das Ergebnis von Bemühungen, die vor über 50 Jahren begannen und von einigen Staaten, der UNO, aber hauptsächlich von vielen Nicht-Regierungs-Organisationen all die Jahre hindurch unermüdlich vorangetrieben wurden.
Die weltweite Unterstützung für die Etablierung eines Internationalen Strafgerichtshofs ist ein Signal dafür, daß Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie Völkermord und Terrorismus nicht ohne Strafe bleiben dürfen. Eben diese Verbrechen werden nun auch Pinochet vorgeworfen und sollen vor einem spanischen Gericht verhandelt werden – wenn es zur Auslieferung kommt.

Der „Comandante“ setzt sich durch

Mit Hugo Chávez Frías, dem Ex-Oberstleutnant mit dem roten Fallschirmjäger-Barett, hat sich eindeutig der Präsidentschaftskandidat der Armen in Venezuela durchgesetzt: In den Armenvierteln, die die Ränder der großen Städte säumen, wurde nach der Wahl ausgelassen gefeiert. Von der traditionellen politischen Elite des Landes sind die meisten BewohnerInnen der barrios enttäuscht, und so konnte der Ex-Putschist (wie bereits in den Parlamentswahlen im November) die Kandidaten der beiden traditionellen Volksparteien Copei (Comité de Organización Política Electoral Independiente, Komitee der unabhängigen Wählerorganisation) und Acción Democrática (AD) weit hinter sich lassen. Allzu offensichtlich hatten ihre Amtsinhaber in den letzten Jahrzehnten in die eigene Tasche gewirtschaftet. Schätzungen zufolge ziehen 80 Prozent der Bevölkerung keinerlei Nutzen aus der Ölrente des Landes, da der Löwenanteil regelmäßig ins Ausland fließt, ohne daß die Situation im Land durch Investitionen verändert worden wäre (vgl. Kasten).

Der Erbe Simón Bolívars

Chávez selbst bewertet seinen Sieg als erstmaligen friedlichen Machtwechsel politischer Eliten in der Geschichte des Landes. Und in der Tat könnte seine Wahl einen radikalen Umbruch der politische Verhältnisse bedeuten. Noch am Abend des Wahlsieges benannte Chávez, der sich gerne in die Tradition des Großen Befreiers Simón Bolívar stellt, in einer Pressekonferenz und einer anschließenden Ansprache an das venezolanische Volk die Eckpfeiler seiner zukünftigen Politik. So will er die staatliche Verwaltung entschlacken und die Zahl der Ministerien verkleinern. Ein Teil der Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes soll in Zukunft seinen Arbeitsplatz in der Landwirtschaft und der Bauwirtschaft haben. Die öffentlichen Ausgaben sollen neu strukturiert werden, wobei er verspricht, die Sozialausgaben sowie die Subventionen für Grundnahrungsmittel und Medikamente anzuheben. Eine weitere Privatisierung von Staatsunternehmen, wie sie in den vergangenen Jahren begonnen wurde, soll es nicht geben. Außerdem will Chávez die Kinder von der Straße holen und den Erwerb von Wohneigentum erleichtern. Im Februar nächsten Jahres will er außerdem per Volksentscheid darüber abstimmen lassen, ob eine verfassunggebende Versammlung eingesetzt wird, die die politische Organisation des Landes von Grund auf umgestalten könnte. Wie genau die von ihm proklamierte „bolivarianische Gesellschaft“ aussehen könnte, bleibt unklar. Sicher ist allerdings, daß die traditionellen Parteien, die über eine Mehrheit im Parlament verfügen, diese verfassungsgebenden Versammlung mit allen Mitteln verhindern werden.

Vom „Terroristen“ zum Verhandlungspartner

Chávez wichtigster und zugleich schwierigster Programmpunkt dürfte jedoch die Bekämpfung der Korruption sein, die die Wirtschaft des Landes in vielen Bereichen lähmt und letztlich für die ungerechte Verteilung des Volkseinkommens verantwortlich ist. In erster Linie soll dies über die Bekämpfung von Steuerflucht realisiert werden. Der Erfolg von Chávez’ Aufruf zur Einheit von Arm und Reich sowie von Politik und Militär wird vor allem vor diesem Hintergrund bewertet werden müssen.
Unterdessen kommentierte die US-Regierung den Wahlausgang als beeindruckendes Ergebnis und kündigte an, daß sie zu einer Zusammenarbeit mit dem Ex-Putschisten bereit sei. Noch im letzten Jahr war Chávez, nach seinem Putschversuch 1992 als Terrorist eingestuft, die Einreise als Tourist verweigert worden. Doch Clintons Sprecher Joe Lockhardt bezeichnete die Beziehungen mit dem Karibikstaat als gut – er hatte dabei ohne Zweifel auch im Blick, daß Venezuela die wichtigste „Ölquelle“ der USA ist.
Auch die ausländischen Unternehmen, die im Zuge der Öffnung des staatlichen Ölsektors in den letzten Jahren in die venezolanische Wirtschaft investiert haben, zeigten sich nach Chávez’ moderateren Tönen in den Tagen nach der Wahl beruhigt. In Caracas stiegen die Aktienkurse sogar leicht an und die Landeswährung Bolivar wurde gegenüber dem Dollar aufgewertet. Zwar will Chávez mit dem Internationalen Währungsfond über die Rückzahlungsmodalitäten der venezolanischen Außenschulden verhandeln, versprach aber, den Schuldendienst nicht grundsätzlich einzustellen.

Oder einfach nur hemdsärmelig?

Insgesamt präsentiert sich Hugo Chávez nach seinem Wahlsieg als durch und durch demokratischer und hochmotivierter Politiker, der die Umsetzung seiner Politik mit unangekündigten Besuchen in Schulen und Krankenhäusern persönlich überwachen will. Er werde zuhören, verkündete er in seiner öffentlichen Ansprache am Abend seines Wahlsieges, doch er erwarte auch Unterstützung für sein Vorhaben. Demonstrativ zog der designierte Präsident sich das Sakko und die Krawatte aus, um sich mit aller Kraft für das Wohl des venezolanischen Volkes einzusetzen.
Bleibt abzuwarten, ob er sich damit gegen den Widerstand der etablierten Machtinhaber durchsetzen kann. Wahrscheinlich sollte er sich dafür lieber warm anziehen …

KASTEN:
Venezuela und das schwarze Gold

Venezuela ist seit den 20er Jahren dieses Jahrhunderts vom Erdöl wirtschaftlich abhängig. Unter dem damaligen Diktator Juan Vicente Gómez begannen internationale Ölkonzerne in die reichen Vorkommen des Landes zu investieren. Aus dem einstigen Agrarexportland wurde auf diese Weise binnen weniger Jahre der wichtigste Ölexporteur der Welt. Nur die USA förderten am Vorabend der Weltwirtschaftskrise noch mehr Erdöl. An der damals entstandenden Wirtschaftsstruktur hat sich bis heute nichts grundlegend geändert. Nach wie vor hat das Erdöl einen Anteil von 85 Prozent an der venezolanischen Außenwirtschaft.
Geändert haben sich allerdings die Besitzverhältnisse: Waren es zunächst ausschließlich internationale Konzerne, die in die Ölwirtschaft investierten, erhöhte der venezolanische Staat nach und nach seinen Anteil, zunächst an der Ölrente und schließlich auch an der Produktion. 1976 wurde der Ölsektor verstaatlicht und Petroleos de Venezuela (PDVSA) zu einer der mächtigsten Ölgesellschaften der Welt. Im lateinamerikanischen Kontext war Venezuela damit zu der Zeit die absolute Ausnahmeerscheinung. Die Ölkrisen der 70er Jahre waren für Venezuela Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs, und der vorausgesagte Entwicklungsboom schien nur eine Frage der Zeit. Mit dem Verfall des Ölpreises in den 80er Jahren änderte sich diese Situation schlagartig. Es wurde deutlich, daß man allein von der Ölrente gelebt hatte und zu wenig in nachhaltiges Wirtschaftswachstum investiert worden war. Konsumgüter werden bis zum heutigen Tage zum überwiegenden Teil importiert.
Der Ölpreisverfall führte dazu, daß die soziale Schere sich immer weiter öffnete. Großen Teilen der Mittelschicht droht ein Abrutschen in die Armut. Seit Beginn der 90er Jahre kehrt Venezuela wieder zu den Wurzeln zurück, zumindest was den Ölsektor angeht. Der Zugang zu den Ölfeldern wird nach und nach auch ausländischen Investoren wieder ermöglicht. PDVSA selbst fehlt es an Kapital, um die Vorkommen des Landes erschöpfend zu erschließen.

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