Der unberechenbare Riese erwacht

Am 3. November richteten sich in den USA viele Augen auf den „schlafenden Riesen“, wie die Latinos seit ein paar Jahren genannt werden. Es war der Tag der Gouverneurswahlen, der letzten Wahlen vor dem großen Run auf das Weiße Haus. Das Ergebnis fiel in den einzelnen Bundesstaaten sehr unterschiedlich aus, doch eins dürfte auch dem letzten Politiker klar geworden sein: für die Präsidentschaftswahl gilt es, den Giganten zu wecken und seine Gunst zu gewinnen. Während die Wahlbeteiligung insgesamt sehr niedrig war, gingen mehr Latinos als je zuvor zu den Urnen. Zum einen gibt es immer mehr wahlberechtigte Bürger hispanischer Herkunft (32 Mio.), zum anderen wuchsen durch die umstrittene Immigranten- und Minderheitenpolitik der letzten Jahre politisches Bewußtsein und Aktivität der Latinos. In Bundesstaaten mit dichter hispanischer Bevölkerung wie Kalifornien, Texas, Florida und New York spielten sie diesmal eine Schlüsselrolle. Gemeinsam stellen diese vier Staaten die Mehrheit der Stimmen, die im Jahr 2000 zur Wahl des Präsidenten notwendig sein wird.
Doch mit welcher Politik ist der Riese zum Wählen der eigenen Partei zu bewegen? Latino ist nicht gleich Latino: Die mexikanisch-amerikanische Bevölkerung in Kalifornien wählt anders als die in Texas, Puerto Ricaner in New York haben andere Interessen als Exil-Kubaner in Miami, und selbstverständlich gibt es innerhalb dieser Gruppen wiederum unterschiedliche Strömungen. Im Bundesstaat Florida, mit seiner eher konservativen kubanisch-amerikanischen Bevölkerung, gewann zum Beispiel der amtierende demokratische Senator Bob Graham überraschende 65 Prozent der Latino-Stimmen. Er hatte einen für Demokraten ungewöhnlich harten Anti-Castro-Kurs eingeschlagen und konnte damit Wähler gewinnen, die weniger für die Republikaner, als einfach gegen Castro waren.
In Kalifornien unterstützten drei Viertel der Latino-Wähler Gray Davis, der nach 16 Jahren der erste demokratische Gouverneur des Bundesstaates wurde. Seine Parteigenossin Cruz Bustamante, die schon vor vier Jahren Golden State-Geschichte schrieb, als sie als erste Latina zur Sprecherin des Parlaments gewählt wurde, stieg nun (mit 84 Prozent der Latino-Stimmen) zur Stellvertretenden Gouverneurin auf und ist
damit die zweitmächtigste Politikerin Kaliforniens. Die Latinos besitzen jetzt im Parlament ein Drittel, im Senat sogar fast die Hälfte der Sitze und werden somit bei zukünftigen Entscheidungen mehr als ein Wort mitzureden haben.

Anti-Latino-Politik

Der Blick auf die Wahlergebnisse der Latinos muß die Republikaner beunruhigen. Schließlich wird Kalifornien mit dem 2000-Zensus wegen der ansteigenden Bevölkerungsrate wahrscheinlich sieben Mitglieder mehr im Repräsentantenhaus stellen. Zudem werden die Wahlbezirke für die Sitze im Kongreß das nächste Mal von den Demokraten aufgeteilt, die dabei versuchen werden, neue, „sichere“ Sitze einzurichten. Die Republikaner könnten so die Kontrolle über das Repräsentantenhaus verlieren. Sie müßten sich jetzt sehr anstrengen, um die Latinos noch zum Lagerwechsel zu bewegen. Zuviele Sympathien haben sie mit ihrer Latino-feindlichen Politik der letzten Jahre verspielt. Die Erinnerungen an Pat Buchanans Anti-Immigranten-Hetze 1992 sind genauso lebendig wie die an die minderheitenfeindliche Politik des ehemaligen Gouverneurs Pete Wilson. „Wilson ist immer noch Gift unter den Hispanics“ meint der Meinungsforscher William Schneider und bezweifelt, daß sich die Republikaner davon jemals erholen können.
Ob man den angerichteten Schaden in den nächsten zwei Jahren wieder gut machen können wird, darüber scheiden sich auch innerhalb der Grand Old Party die Geister. Die Republikanische Partei hatte die verschiedenen Immigranten- und Minderheitenfeindlichen Propositions (Anträge auf Verfassungszusätze) in Kalifornien unterstützt, die Startschüsse für nationale Kampagnen waren. So hatte sie 1994 die Proposition 187 befürwortet, welche die staatliche Unterstützung für „illegale“ Immigranten einschränkt und deshalb auf großen Widerstand bei den Einwanderergruppen gestoßen ist. Sie hatte mit ihrer Polemik die mexikanischen Migranten zum Sündenbock gemacht, der für die ökonomische Krise Kaliforniens verantwortlich sein soll. Die von Clinton abgesegnete Militarisierung der Südgrenze, „Operation Gatekeeper“, ging in die gleiche Richtung.

English Only

Die Proposition 209 beendete 1996 die staatlichen Affirmative-Action-Programme, durch die erreicht werden sollte, daß Minderheiten im öffentlichen Sektor verstärkt eingestellt werden. Die Republikaner vermittelten in der hitzigen Debatte vielen Latinos das Gefühl, daß sie sie am liebsten gar nicht im Land hätten. Auch die Medien wie das Time Magazine schürten die Ängste der WASP (White Anglo-Saxon Protestants)-Bevölkerung vor dem „Farbenwechsel“ Amerikas, der apokalyptisch für das Jahr 2056 angekündigt wird.
Weniger rassistisch angelegt, aber ebenso umstritten war die Proposition 227-Kampagne, die im Sommer 1998 mit 61 Prozent – und relativ großer Latino-Beteiligung – angenommen wurde. Ihr Initiator, der Software-Millionär Ron Unz, hatte sich letztlich durchgesetzt gegen die Meinung Bill Clintons, der vier Regierungskandidaten beider großen Parteien und der hispanischen Medien, welche mit einem Etat von 1,5 Millionen US-Dollar doppelt soviel wie Unz für den Stimmenkampf ausgegeben haben.
Mit der Proposition 227 ist der bilinguale Unterricht an den öffentlichen Schulen Kaliforniens abgeschafft. Bis dahin wurden Schüler, die kein oder nur unzureichend Englisch sprechen – zur Zeit ungefähr 1,4 Millionen Kinder –, in bilinguale Klassen gesteckt, in denen sie sowohl in ihrer Muttersprache den normalen Unterrichtsstoff als auch Englisch lernten. Von nun an gehen sie ein Jahr lang in englischsprachige Sonderklassen, nach dem Motto „sink or swim“. Danach sollen sie am regulären Unterricht teilnehmen, ungeachtet fortbestehender Verständnisschwierigkeiten.
Immerhin 37 Prozent der Latinos votierten für diesen Antrag. Hauptgrund für die Zustimmung ist die allgemeine Unzufriedenheit mit dem bestehenden Erziehungssystem. Viele Eltern klagen, daß ihre Kinder nicht schnell genug bzw. unzureichend Englisch lernen würden. Schließlich sollen ihre Kinder es besser haben. Und das Beherrschen der englischen Sprache gilt als wichtigste Vorraussetzung für eine schnelle Assimilierung in die US-amerikanische Gesellschaft und damit für wirtschaftlichen Erfolg. In der Tat hätte das praktizierte System Reformen nötig gehabt. Die Abbruchrate unter Latino-Schülern ist immer noch besonders hoch; einige Schüler bleiben in den bilingualen Klassen „hängen“ und lernen in keiner der beiden Sprachen ausreichend Lesen und Schreiben. Den Befürwortern des bilingualen Unterrichts waren diese Probleme zwar seit langem bekannt; sie fürchteten jedoch, daß das System ganz eingestellt würde, wenn sie diese thematisierten. Überlegungen, mit welchen Methoden Kinder am besten Englisch lernen könnten, gingen im Lärm der Kampagne unter.

Die Gebrüder Bush

In Texas schaute man dieser Entwicklung mit einem weinenden und einem lachenden Auge zu. Immerhin erhoffte man sich, die in Kalifornien nun aufgabelos gewordenen Lehrer an die eigenen Schulen locken zu können. Dort herrscht ein akuter Mangel an geeignetem Lehrpersonal. Nur wenige der angeschriebenen Lehrer sind diesen Werbungen bisher gefolgt; das Land der Rednecks und Klapperschlangen ist wohl für Kalifornier nicht besonders einladend. Der texanische Gouverneur und potentielle Präsidentschaftskandidat George W. Bush kann das gar nicht verstehen. Schließlich hat er einen Latino-freundlicheren Kurs als sein Parteigenosse Wilson eingeschlagen: „Wenn ein bilinguales Programm dazu beiträgt, daß Kinder Englisch lesen und verstehen können, dann sollten wir applaudieren und sagen: Gut gemacht.“ Mit solchen Sätzen kitzelte er den Riesen wach. Am 3. November erzielten er und sein Bruder Jeb in Florida große Erfolge. Seitdem gelten die Söhne des ehemaligen Präsidenten als Modellstrategen für die Rückeroberung des Weißen Hauses. George W. Bush hatte sich durch seinen Widerstand gegen die immigrationsfeindliche Rechtsgebung des von seiner Partei angeführten Kongresses bei den Latinos beliebt gemacht. Im Wahlkampf hatte er diese Zielgruppe mit spanischsprachigen TV-Spots und „amigo“-Floskeln umworben. Jeb Bush hatte diesmal eine spanischsprachige Website eingerichtet, sich unermüdlich an seine Jahre in Venezuela erinnert und auch sonst den Kurs seines Bruders übernommen. Belohnt wurden seine Anstrengungen mit dem Gouverneursstuhl in Florida.

Endspurt auf hispanisch

Es ist jedoch unwahrscheinlich, daß die Republikaner diese Latino-Politik auf nationaler Ebene aufgreifen werden. Schließlich bilden in den USA immer noch die Gringos die Mehrheit, und mit denen will man es sich auf keinen Fall verscherzen. Also fährt man etwas zweigleisig, im Fall des Falles aber eindeutig auf der rechten Spur. Vordergründig hat die Partei zwar ein Hispanic-“outreach“-Programm geschaffen, um die Beziehungen zu den Latino-Wählern wieder zu verbessern, und ehemals radikale Kongreß-Advokaten der English-Only-Bewegung lassen heute ihre wöchentlichen Berichte ins Spanische übersetzen. Gleichzeitig führen die Republikaner jedoch ihren Feldzug gegen Affirmative-Action-Programme und bilingualen Unterricht fort. Zudem versuchen sie, eine Stichprobenerhebung im nächsten Zensus zu verhindern, welche eine Unterschätzung von Minderheiten vermeiden soll. Sie möchten Latinos und andere Minderheiten als notwendiges Übel kleinhalten. So scheint das Wählerverhalten vorhersehbar zu sein: Eine aktuelle Umfrage hat ergeben, daß 52 Prozent der Latinos die Demokraten und nur 32 Prozent die Republikaner wählen würden.
Doch die Demokraten sollten sich nicht zu früh freuen. Eine andere Untersuchung warnt, daß Latinos keine enge Parteibindung hätten und daher durch Latino-freundliche (Wahl)Politik noch zu beeinflußen seien. Latinos also als Spielball des politischen Wettkampfs? Die Republikaner wollen Steuererleichterungen, Förderung des Bildungswesen und Verbrechensbekämpfung zu ihren Hauptthemen machen. Die Demokraten konzentrieren sich auf das Bildungs- und Gesundheitswesen, sind ansonsten jedoch vor allem den Republikanern für ihre Fettnäpfchen-Politik dankbar. So prophezeit die Staatssekretärin des Weißen Hauses Maria Echaveste, daß ihre Partei im Jahr 2000 die meisten Latino-Stimmen erhalten wird: „Die Republikaner fahren mit ihrem Anti-Immigranten-, Anti-Hispanic-Kurs fort. Das macht unsere Aufgabe, die Hispanic-Unterstützung zu festigen, wesentlich einfacher.“ Ohne diese Unterstützung, soviel ist heute schon sicher, läuft gar nichts im Jahr 2000.

KASTEN:
Das Zünglein an der Waage

Welches Gewicht die Latino-Stimmen in die politischen Waagschalen werfen können, dämmerte den Demokraten und Republikanern spätestens seit den Viva-Kennedy-Kampagnen 1960. Damals verhalfen die hispanischen Texaner dem Demokratischen Präsidentschaftskandidaten zum Sieg: Während sich die Anglo-Stimmen in Texas auf Nixon und Kennedy aufteilten, stimmten in einigen Wahlbezirken alle Tejanos für Kennedy. Doch obwohl es in den folgenden Jahren erste Ämter für Latinos zu besetzen gab, blieb das ungute Gefühl, daß beide großen Parteien zwar immer mehr bereit waren, hispanische Kandidaten zu unterstützen, jedoch nur in Bezirken, in denen der Anteil lateinamerikanischer Bevölkerung besonders hoch war und ein Politiker aus diesen Reihen einen sicheren Sieg versprach. Ein größerer Einfluß blieb ihnen verwehrt.
In den stürmischen 60ern entluden sich Wut und Enttäuschung der mexikanisch-amerikanischen Bevölkerung schließlich im Chicano Movement. Gemeinsam mit anderen Minderheiten und der Friedensbewegung kämpfte man für ein besseres Amerika. Doch schon Mitte der 70er Jahre schlug das politische Klima um: Der Vietnamkrieg war vorbei, die Protestler durch staatliche Zugeständnisse besänftigt. Militante Gruppen brachen zusammen – ihre Anführer saßen häufig im Knast –, aus Aktivisten wurden Politiker. Man strebte nach Integration in das politische System, nicht nach dessen Veränderung. Forderungen nach Reformen wichen einer anpassungsorientierten Wahlurnenpolitik.
Doch die Hürden, die den Einzug von Latinos in die politische Arena erschweren, sind seitdem kaum niedriger geworden: Viele potentielle Kandidaten scheitern schon an den Wahlkampfkosten. Zudem sind die Wahlkreise oft ungünstig aufgeteilt, so daß Latinos ihre Politiker nicht gemeinsam unterstützen können. Die größten Hindernisse liegen jedoch innerhalb der Gemeinschaft: Das Wir-Gefühl der 60er ist der Einzelkämpfermentalität der „Viva-Yo-Generation“ gewichen. Politiker reiben sich in internen Zwistigkeiten auf. Zudem dienen sie häufig als „Schrankenwächter des Status Quo“. Oben angekommen, vergißt manch einer, wer ihn dort hingewählt hat. Wenn er gewählt wird. Denn das Gefühl, sowieso nichts bewirken zu können, hält viele von den Urnen fern. Mitarbeiter von Wähler-Registierungs-Projekten gehen deshalb in die Latino-Gemeinden, motivieren und begleiten potentielle Wähler zur Registrierung und achten darauf, daß die Stimmzettel auch zum entscheidenen Zeitpunkt abgegeben werden. Heute gehen tausende Latinos ins Rennen für Ämter auf allen politischen Ebenen. Und mit diesen Erfolgen wächst auch das Vertrauen der Bevölkerung in ihre politische Stärke. „Con voto latino el pueblo jamás será vencido.“

Die Linke in Lateinamerika

Albert Sterr gebührt das Verdienst, als Herausgeber und Mitautor den Versuch unternommen zu haben, einen Überblick über die Vielfalt linker Kräfte in dem trotz aller Gemeinsamkeiten höchst differenzierten Lateinamerika zu geben. Das Buch kann dem Anspruch nur begrenzt gerecht werden, die Linke von innen und außen, aus theoretischer Perspektive und mit praxisbezogenen Stellungnahmen zu analysieren. Dazu zwingen Umfang, Preis, Lesbarkeit und der bisweilen von Zufällen abhängende Zugang zu Artikeln.
Die Gliederung in eine einführende Übersicht, neun Länderbeiträge und fünf themenorientierte Artikel gestattet eine Art multifunktionaler Nutzung sowohl für SpezialistInnen wie für allgemein interessierte LeserInnen. Bedauerlich ist allerdings, daß mögliche Querverbindungen zwischen den beiden großen Teilen des Buches, ein Bezug der themenorientierten Beiträge auf die spezifischeren Länderbeschreibungen ausbleibt.

Die schlechteren Rechten

In seinem einführenden Beitrag beschreibt Albert Sterr die wirtschaftliche und politische Entwicklung der Rahmenbedingungen für die linken Strömungen seit den achtziger Jahren und die subjektive Verfaßtheit der Linken, wobei hier zunächst die dem linken Parteienspektrum zuzuordnenden Kräfte betrachtet werden. Wichtig erscheint der Verweis auf außerparlamentarische, zum Beispiel Bauernbewegungen oder die ZapatistInnen am Ende des Kapitels. Wer sind die auf Demokratisierung und alternative Entwicklungsstrategien gerichteten Kräfte? Wer wirkt jenseits der traditionellen Arten der Machtergreifung, sei es durch Wahlen oder durch bewaffneten Kampf? Die Offenheit, beide großen Strömungen zu betrachten, ist einer der Vorzüge der Konzeption des gesamten Bandes. Edgar Gutiérrez benennt die Herausforderung für die Linke treffend: „Sie muß eine andere Zukunft entwerfen. Dies heißt, die Linke neu zu begründen und ihr Modell der Macht noch einmal zu diskutieren. Schließlich hat Macht nicht nur eine Dimension, und es gibt viele Hinweise dafür, daß die Linken, wenn sie die Macht im Staate innehaben, die schlechteren Rechten sind.“
Die nachfolgenden Länderartikel stellen die Entwicklung und die gegenwärtige Verfaßtheit der Linken exemplarisch dar. Die Aussagekraft der einzelnen Beiträge ist dabei quantitativ und vor allem qualitativ recht unterschiedlich. Neben umfassenden, wenngleich nicht sonderlich neuen Überblicksdarstellungen wie zu Mexiko oder Venezuela stehen Beiträge, in denen prozeßorientiert die Wechselwirkung zwischen den jeweils sehr unterschiedlichen nationalen Entwicklungen und den existierenden linken Kräften reflektiert wird. Zu nennen sind hier besonders die Artikel zu Guatemala, Kolumbien und Peru, die auch die subjektiven Faktoren einschließen, die gemeinhin eher vernachlässigt werden.
Edgar Gutiérrez analysiert den Werdegang der guatemaltekischen Linken, also vor allem der Guerillabewegung, unter den Bedingungen von jahrzehntelangem Terror und brutaler Repression und stellt fest: „Konspiration als Prinzip des politischen Handelns, geheime Bräuche, Verzicht auf private und berufliche Normalität, die Einhaltung einer quasi-militärischen Arbeitsdisziplin, von der die physische Unversehrtheit und die Sicherheit der Organisation abhingen, die unvermeidliche Anpassung an die Kunst der Kriegsführung, das Loslösen von materiellen Gütern und die Führung eines Doppellebens waren die Folgen. Heldentum und Aufopferung, aber auch Verrat und Untreue. Grausame Intrigen, persönliche Streitigkeiten und Machtkämpfe unter feindlicher Belagerung… Die Linke durchquerte diese Etappe wie jemand, der in einer lange andauernden Grenzsituation lebt.“ Für die Führer (und viele namenlose Mitglieder) der guatemaltekischen Linken dauerte diese Grenzsituation zum Teil mehr als 40 Jahre – ein Menschenleben lang. Auch in anderen Ländern wie El Salvador und Kolumbien, unter modifizierten Bedingungen auch in Argentinien und Uruguay, sind diese Faktoren zumindest für Teile der Linken kennzeichnend.

Zwischen eigener Entscheidung und Notwendigkeit

Wie kann diese Linke, wie können Menschen mit dieser persönlichen Geschichte, mit einer Tradition, die notwendigerweise antidemokratisch und intolerant ist, nunmehr Toleranz und Demokratie voranbringen, eine „Zivilgesellschaft“ mitgestalten? Wie kann unter solchen Voraussetzungen ein Neuanfang aussehen, nach einem letztlich verlorenen Kampf, der das eigene Leben prägte? Welche Chancen bestehen für die nachfolgenden Generationen der Guerilla, für diejenigen, die oftmals weniger aus politischer Überzeugung denn als einzigem Ausweg aus einer unabwendbaren Gewaltsituation und traumatischen persönlichen Erlebnissen zu den Waffen griffen und „Normalität“ nie kennengelernt haben? Die Beiträge von Gutiérrez und Rütsche können keine endgültige Antwort auf diese Fragen geben, aber die Einbeziehung dieser sozialpsychologischen Faktoren erscheint für das Verständnis der Linken in den genannten Ländern unabdingbar.
Eher enttäuschend hingegen sind die fragmentarischen Darstellungen zu El Salvador, Haiti oder Nicaragua, in denen erklärende Hintergründe zu der teilweise übergroßen Vielzahl von Namen und Fakten nur ansatzweise beschrieben werden. Am Beispiel von Haiti wird dies besonders deutlich. Einen deutlich tiefergehenden Einblick ermöglicht der Beitrag von Löwy zum „Befreienden Christentum“ und dessen Abschnitt zu Aristide.
Sowohl für Nicaragua als auch für El Salvador gilt, daß der Blickwinkel einseitig auf das jeweilige parteipolitische Spektrum gerichtet ist; hier wäre die Einbeziehung anderer sozialer Kräfte wünschenswert gewesen. Eine Aussage wie „Innerhalb der FSLN gab es schon immer eine ausgeprägte Faulheit, sich mit theoretischen Problemen zu befassen“, ist nicht nur von erstaunlicher Arroganz, sondern auch als Erklärung wenig hilfreich.
Der letzte der Länderbeiträge, der Brasilien gewidmet ist, richtet seinen Fokus auf die ganz speziellen Erfahrungen in der kommunalen Arbeit einer Partei, der PT in Porto Alegre. Der Ansatz unterscheidet sich mit diesem Praxisbezug deutlich von den anderen Beiträgen und illustriert die auf lokaler Ebene bestehenden Veränderungsmöglichkeiten und Handlungsoptionen linker Kräfte jenseits einer neuen Vision der Systemveränderung. Die kurze Beschreibung macht neugierig auf eine umfangreichere und vielleicht auch kritischere Analyse dieser Erfahrungen.

… lokal handeln

Auf die Länderbeiträge folgen thematisch orientierte Artikel, die einen umfassenden Überblick über wichtige Wurzeln, Bezugspunkte und gegenwärtige Wirkungsmöglichkeiten und -formen der lateinamerikanischen Linken geben, angefangen mit Ernesto Che Guevara über die Entwicklung der Guerillabewegungen in verschiedenen Ländern des Kontinents, den Einfluß der Theologie der Befreiung, bis hin zu den sozialen Bewegungen und der Zusammenarbeit der linken Parteien. Einen auch quantitativ zentralen Platz nimmt Sterrs Analyse des Guerillakampfes und der Befreiungsbewegungen ein.
Es ist möglicherweise der für die breite Themenstellung notwendigen Verknappung und Verallgemeinerung geschuldet, daß einige wichtige Fragen offen beziehungsweise einige Thesen zweifelhaft bleiben. So ist die Militärdiktatur in Chile nicht ohne die Regierungszeit der Unidad Popular denkbar, auf die jeder Hinweis fehlt.

Offene Fragen

Dies deutet auf ein Manko des gesamten Buches hin: Es fehlt eine genaue Betrachtung der Entwicklung im Cono Sur. So wird ein wichtiger Teil der lateinamerikanischen Linken ausgeklammert, der für eine Gesamtdarstellung eigentlich unverzichtbar ist.
Auch im zweiten Abschnitt des Artikels, in dem es um die Integration geschlagener Guerillagruppen in die legale Opposition geht, wird zu stark verallgemeinert – zeigen doch spätere Ausführungen, daß sich diese Integration durchaus in verschiedenen Zeiträumen und sehr unterschiedlichen Ausprägungen vollzog.
Ein merkwürdiger Widerspruch wird in den beiden letzten Abschnitten deutlich, die im wesentlichen am Beispiel Mexikos einen Ausblick auf die Gegenwart und die mögliche Zukunft der Guerillabewegung geben. Neben der Analyse der neuen Ansätze und Konzeptionen besonders der EZLN erfolgt abschließend die Kritik, „daß die Zapatisten zu gesellschaftlichen Schlüsselfragen keinen eigenen klaren Standpunkt haben“. Zunächst erscheint dies durchaus zutreffend, nur: Welche linke Kraft kann für sich in Anspruch nehmen, eine realistische Antwort auf diese Fragen zu haben, die über die zugegebenerweise bestenfalls mittelfristig konkretisierten Vorstellungen der ZapatistInnen hinausgehen? Wie die den Linken gemeinsame Vision einer gerechten Gesellschaft konkret umgesetzt und ausgestaltet werden könnte, welche Strategien und Konzepte notwendig sind, bleibt nicht nur bei der EZLN offen: mir ist zumindest kein klares Konzept anderer Kräfte bekannt, das diesem Anspruch gerecht würde. Handelt es sich also um eine der (deutschen?) Linken durchaus nicht unbekannte Projektion, wenn die EZLN an Maßstäben gemessen wird, denen sie selbst nicht gerecht wird? In diesem Zusammenhang wäre eine genauere Untersuchung interessant, warum „Sympathiebezeugungen politischer Parteien und der Solidarität“ für die EZLN als unverbindlich und offensichtlich wenig hilfreich („bündnispolitische Schwäche“) bewertet werden.
Michael Löwy gibt einen knappen, aber aussagekräftigen Überblick über die Entwicklung des „Befreienden Christentums“, vertrauter unter dem Stichwort „Theologie der Befreiung“. Hervorzuheben sind die an den Beispielen von Haiti und Mexiko beschriebenen Wirkungen und Einflüsse dieser Strömung der lateinamerikanischen Linken in den gegenwärtigen Prozessen.
Trotz aller kritischen Anmerkungen sind die von Sterr herausgegebenen Analysen und Berichte nicht nur lesenswert, sondern aufgrund ihrer erstaunlichen Vielfalt nahezu als obligatorisches Standardwerk für Lateinamerikainteressierte zu betrachten. Viele der notwendigerweise offengebliebenen Fragen verdienten eine ausführlichere Analyse, zu der der Band vielleicht Anregungen gibt. Ein Wermutstropfen sei allerdings noch benannt, der auch durch die verschiedenen objektiven Umstände nicht zu erklären ist: Die Rolle der Frauen in den linken Bewegungen und die Frauenbewegungen selbst werden im gesamten Buch bestenfalls marginal erwähnt. Ist es wirklich nur ein Zufall, daß unter den insgesamt 14 AutorInnen nur zwei Frauen vertreten sind?

Albert Sterr (Hg.): Die Linke in Lateinamerika. Analysen und Berichte. 318 S., Neuer ISP-Verlag, Köln und Rotpunktverlag, Zürich 1997.

„Salsa ist ein Konzept“

Sie haben schon sehr früh mit der Musik angefangen.

Das stimmt. Ich war ein Teenager und wir spielten mit unseren Gruppen auf der Straße. Mit sechzehn hatte ich einen ersten Hit, El Malo, mit dem ich einen Plattenvertrag kriegte. Einer meiner ersten Songs kam auch in Panama groß heraus. Obwohl wir wahrscheinlich schlecht spielten, konnte ich mit meiner Gruppe direkt eine Tournee in Panama machen. Dort wurden wir von dem inzwischen verstorbenen Al Santiago entdeckt, der eine wichtige Figur der Salsamusik war. Er verschaffte unter anderem Ricardo Ray, Johnny Pacheco und Charlie Palmieri erste Plattenverträge. Alle diese Talente spielten für Allegre Records. Als wir unsere erste Langspielplatte gemacht hatten, ging Allegre Records pleite und die Platte blieb im Lager liegen. Eines Tages habe ich meine Platte zu Jerry Masucci und Johnny Pacheco von Fania Records gebracht. Damit hat alles angefangen.

Welches Genre habt ihr gespielt?

Wir spielten eine Mischung aus verschiedenen lateinamerikanischen Rhythmen. Jeden Rhythmus, den wir kannten, haben wir für unser Repertoire genutzt. Panamesische punto tamborito, kolumbianische cumbia, venezolanische gaita, das war uns egal. Die Veteranen des kubanischen Son sagten uns, daß das nicht ginge. Aber den Schuh haben wir uns nicht angezogen, und einige Zeit später haben wir uns aus pragmatischen Erwägungen den Ausdruck Salsa zugelegt.

Was ist Ihrer Meinung nach die Definition von Salsa?

Salsa ist kein Rhythmus. Salsa ist ein Konzept, womit man Musik produziert: das Zusammenbringen einer Vielzahl von Elementen. Es ist ein lateinamerikanisches Konzept, das für viele Einflüsse offensteht und das breit interpretiert werden soll. Im übrigen besteht darüber eine ziemliche Verwirrung. Manche sagen, Salsa ist kubanischer Son. Das ist verkehrt. Son macht wohl eher ein Teil der Salsamusik aus.

Wie erklären Sie sich den Erfolg der Salsa?

Salsa ist nicht umsonst in New York entstanden. Die Latino-Community von New York ist ein zusammengestoppeltes Flickwerk aus mehreren Nationalitäten. Die Salsa hat ihnen eine gemeinsame Identität gegeben. Die Salsamusik ist als vollwertiges Genre in so verschiedenen Ländern und Kulturen wie Mexiko, Venezuela, Europa und sogar Japan anerkannt. Nirgendwo wird das Genre mit einem spezifischen Land assoziiert. Im Gegenteil, alle lateinamerikanischen Länder haben ihre eigenen Salsagruppen. Wir können getrost feststellen, daß die Salsa ein lateinamerikanisches Genre ist. So hat die Musik die Einheit verwirklicht, die auf politischer und sozialer Ebene weit entfernt ist.

Ein sehr wichtiger Schritt in Ihrer Karriere war die Begegnung mit Rubén Blades.

Ich habe Rubén bei der Aufnahme meiner Langspielplatte Lo bueno, lo malo y lo feo kennengelernt. Er erzählte mir, daß er es satt hatte mit den anderen Musikern, weil die nicht verstanden, was er wollte. Er bekam einen Vertrag bei Fania, sang für die oben genannte Platte und später für Ray Barreto und Larry Harlow. Fast jeden Tag kam er bei mir vorbei, um mich davon zu überzeugen, eine Gruppe mit ihm zu gründen. Ich blieb dazu immer auf Distanz, bis mich Blades und Jerry Masucci überrumpeln konnten, es doch einmal zu versuchen. Unsere erste gemeinsame Platte war Metiendo Mano. Danach haben wir sechs Jahre zusammengearbeitet.

Warum seid ihr 1982 auseinander gegangen?

Wir hatten schon soviele Sachen zusammen gemacht und sind beide starke Charaktere. Ich hatte einige Reisen geplant, und mir vorgenommen, meinen Gesang zu verbessern. Am Anfang meiner Solokarriere wurde ich als Sänger nicht akzeptiert. Zum Glück war Solo sin poderte hablar auf meiner ersten Soloplatte ein erfolgreiches Lied, das mir Platz machte. Die darauffolgende Platte Fantasmas wurde unerwartet ein Volltreffer in Venezuela. Ich habe davon 350.000 Exemplare verkauft, was mir endlich den Respekt der Plattenfirmen einbrachte.

Ist es nicht erstaunlich, daß jemand wie Sie nach so vielen Jahren des Erfolgs Probleme hat, als Solist zum Zug zu kommen?

Sie hatten alle Angst. Wenn ich den Firmen erzählte, daß ich genug Songs hatte, um eine Platte aufzunehmen, haben sie mich gefragt, wer die denn singen würde. Als sie dann hörten, daß ich das selbst vorhatte, bekam ich nur ablehnende Reaktionen. Plattenfirmen sind wie Banken. Sie sind steinhart und nicht sentimental. Das einzige, was zählt, ist, wieviel Exemplare du von deiner letzten Platte verkauft hast.

Was ist das Geheimnis Willie Colóns, auf so hoher Ebene so lange durchzuhalten?

Man muß den Mut haben, sich nicht anzupassen. Ich habe immer viel experimentiert. Selbstverständlich ist es auch sehr wichtig, wie man die Gruppe zusammensetzt. Ich selbst hatte immer das Glück, gute Musiker zu finden, die nicht nur ihre Noten spielen und das Geld abholen, sondern mit offenem Geist die Musik lieben. Auf der anderen Seite muß ich gestehen, daß das echte Geheimnis des Erfolgs mir noch immer unbekannt ist. Wenn ich gezielt versuche, einen früheren Erfolg zu kopieren oder zu wiederholen, geht das stets schief. Erfolg bleibt ein Roulette.

Wie kommt es, daß die erfolgreiche Salsa Brava der 70er Jahre, an die viele nostalgisch zurückdenken, scheinbar nicht mehr zurückkommt? Mit anderen Worten, was passierte mit der Salsa?

Alles hat sich geändert, nachdem die Musik sich als einträglich erwies. Von dem Moment an entschwand die Salsa den Musikern und fiel in die Hände der Plattenmultis. Jetzt setzt man sich mit einem Kalender an einem Tisch zusammen und plant sorgfältig. Man entscheidet, die Platte X im Monat Y herauszubringen. Danach wird der Künstler angerufen und ihm mitgeteilt, welches seine Songs und wer seine Arrangeure sind. Salsa wird nicht mehr wie früher auf der Straße kreiert. Die Plattenmultis haben den ganzen Prozeß in die eigenen Hände genommen, damit sie sicher gehen, daß solch ein Produkt rechtzeitig fertig ist. Sie kontrollieren wirklich alles.
Ich weiß, daß die Arbeit früher schwieriger war. Damals kam es mehr auf Genialität und Temperament der Musiker an. Es war authentischer. Für die Gruppen war es wichtig, total andere Töne als ihre Kollegen von sich zu geben. Man strebte nach Eigenheit. Jetzt erleben wir genau das Gegenteil. Alle Gruppe wollen gleich klingen und die Songs werden nach Titeln des Genres modelliert, die sich als kommerziell erfolgreich erwiesen.

Macht Sie das nicht mutlos?

Ich strebe noch immer nach den alten Idealen, aber es ist schwieriger geworden. Die Ehrlichkeit von Gruppen wie meiner ist meilenweit entfernt von den Produkten der meisten Salsabands aus der großen Musikfabrik.

Sie sind – zusammen mit Rubén Blades – einer der Gründer der gesellschaftskritischen Salsa. Wie sehen Sie das im Rückblick?

Die Salsa entstand in den Barrios New Yorks während einer politisch sehr konfliktreichen Periode. Ende der 60er gab es in den Vereinigten Staaten noch eine Art von amerikanischer Apartheid. Migranten, die sich diskriminiert fühlten, suchten nach ihren Wurzeln. Dies manifestierte sich natürlich auch in der Musik. Schon bevor die echte militante Salsa entstand, wurde in der Musik politischer und sozialer Protest hörbar.
Heute wollen die Plattenmultis nichts mehr davon hören. Sie tun alles mögliche, um die Politik aus den Musiktexten herauszuhalten. Als ich vor einiger Zeit endlich Unterschlupf bei einer großen Plattenfirma fand, dachte ich, nun sicher zu sein. Aber die erste Bemerkung, die sie machten, war: „Willie, warum machen wir keine Musik, die die Leute zufrieden stimmt und worauf sie tanzen können?“ Ich war völlig erstaunt, daß sie für meinen Vertrag soviel Geld bezahlten und doch keine Ahnung von meinen musikalischen Vorzügen hatten. Plattenfirmen wollen die Dissonanz nicht fördern, weil sie selbst einen Teil des Problems ausmachen.

Können Sie etwas mehr über Ihre politische Karriere erzählen?

Seit Anfang der 70er Jahre bin ich in New York sehr aktiv. Als Independista streite ich für die Unabhängigkeit Puerto Ricos. Während meiner Reisen durch Lateinamerika habe ich erkannt, daß eine Veränderung notwendig ist, und daß die Musik dafür eine perfekte Plattform ist. Deshalb bin ich auch Mitbegründer und Präsident der Schaumburg Coalition for a better New York, eine Gruppe, die sowohl aus Schwarzen als auch Latino-Minderheiten besteht. 1994 wurde ich gefragt, ob ich mich als Kandidat für die Vertretung eines New Yorker Bezirks im Kongreß aufstellen lassen würde. In diesem Bezirk sind 20 Prozent der Bevölkerung Latinos. Es war eine schöne Erfahrung, mit Leuten zu sprechen, mit zu organisieren usw. Wir hatten nur nicht genug Geld, um gegen die Parteimaschinen anzukämpfen. Schließlich bekamen wir 41 Prozent der Stimmen. Das war genug, den anderen Parteien einen Schrecken einzujagen. Jetzt wird unsere Organisation ernst genommen, und wir wissen, wie wir die nächsten Wahlen anpacken müssen.

Passierte Ihnen dasselbe wie Rubén Blades in Panama, als seine Sängerkarriere gegen ihn ausgespielt wurde? [Blades trat 1994 in Panama als Präsidentschaftskandidat an, d.Red.]

Das ist natürlich die ausgewiesene Taktik der professionellen Politiker. Ich selbst habe aber nie einen Unterschied zwischen der Musik, dem Leben oder der Politik gemacht. Es sind ja alles Facetten derselben Wirklichkeit. Im Augenblick denkt die öffentliche Meinung mehr in Schubladen. Das muß sich ändern. Die Latino-Bevölkerung kann entweder einem Präsidenten zur Macht verhelfen oder sie ihm wieder abnehmen. Nur muß nach einer gemeinsamen Wahlagenda gesucht werden. Die Juden und Afro-Amerikaner machen das schon seit Jahrzehnten, aber die Latinos schwatzen noch.

aus: América Ventana, April 1998
Übersetzung: Petra Wessels

KASTEN:
New York, paisaje de acero
no sé si te odio, no sé si te quiero
cuando estoy contigo
me siento inquieto por largarme
cuando estoy lejos, loco por mirarte;
Nueva York, selva de concreto
mi corazón guarda el secreto;
en tus labios latinos
yo ví por primera vez
las tradiciones de mis abuelos;
mágica ciudadela de sueños dorados
capital de desilusiones
no sé como ni por qué me lleva embrujado
donde quiera me recuerdo de New York…

New York, Landschaft aus Stahl
Ich weiß nicht, ob ich Dich hasse
oder ob ich Dich liebe
Wenn ich bei Dir bin,
kann ich es kaum erwarten wegzukommen,
bin ich fern, dann bin ich verrückt
danach, Dich wiederzusehen;
New York, Dschungel aus Beton,
mein Herz hütet das Geheimnis:
von Deinen Latino-Lippen
vernahm ich zum ersten Mal
die Traditionen meiner Vorfahren;
magische Zitadelle aus goldenen Träumen,
Hauptstadt der Desillusionen
ich weiß weder wie
noch warum Du mich so verhext hast,
egal wo ich bin,
ich erinnere mich an Dich, New York…

Turbulencias latinas.
Version von Willie Colón

Fußtritte und Finten

Die Fußtritte und Finten fließen so schnell ineinander, daß es dem ungeübten Betrachter unmöglich ist zu sehen, wer auf wen reagiert. Die beiden Spieler flechten in rasenden Drehbewegungen scheinbar unmögliche akrobatische Kunststücke ein: Einer dreht sich, auf dem Kopf stehend wie ein Propeller, während der andere ein Rad schlägt, das sich unvermittelt in einen Tritt verwandelt, welcher dem ersten die Beine weggerissen hätte, wenn dieser sich nicht in einer Mischung aus Salto und flic-flac rückwärts überschlagen hätte, nur um, kaum berühren die Füße den Boden, seinerseits wieder anzugreifen.

Musik kommentiert und steuert das Spiel

Capoeira wird in der roda gespielt: Musiker, Akteure und Zuschauer bilden einen geschlossenen Kreis von ca. 5m Durchmesser, in dessen Mitte die physische Aktion stattfindet. Der Kampf-Tanz ist eine improvisierte Performance, die sich aus Fußtritten, Ausweichbewegungen und akrobatischen Einlagen zusammen setzt. Im Einklang mit dem Rhythmus einer aufpeitschenden, leicht monotonen Musik entsteht axé, eine Art atmosphärische Spannung und aus der die zwei Spieler im Kreis Kraft schöpfen und die im Idealfall alle Anwesenden in ihren Bann zieht. In der Capoeira sind die beiden Spieler gleichzeitig Partner und Gegner: sie kämpfen gegeneinander und tanzen miteinander zugleich. Beide bewegen sich auf der schmalen Grenze zwischen (Schau)Kampf und Kooperation. Diese fragile Balance erzeugt im Spiel eine nie nachlassende Spannung und macht die Capoeira zu einer permanenten Improvisation auf der schmalen Grenze zwischen Spiel und Kampf.

In einer roda ist niemand unbeteiligt: Wer gerade nicht spielt, macht Musik und singt. Die Musik ist die „Seele“ des Spiels, das zentrale Instrument der berimbau. Bantusprachige Afrikaner brachten diesen Musikbogen im 16. Jahrhundert aus Angola und Zaire nach Brasilien. Während der Musikbogen in Afrika bis heute rein religiösen Zwecken – der Kommunikation mit den Ahnen – vorbehalten ist, wurde er in Brasilien zu einem Musikinstrument, das auch in säkularen Zusammenhängen benutzt wird. Ein vollständiges Capoeira-Orchester besteht aus drei berimbaus: einer tiefen, gunga genannt, die den Rhythmus vorgibt und zwei höher gestimmten, der media und der viola, die zu dem Rhythmus der gunga improvisieren. Diese werden von einer atabaque (Faßtrommel), zwei pandeiros (Tamburinen) und einer nicht festgelegten Zahl von agogos (Doppelglocken) und reco-recos (Ratschholz) sowie dem rythmischen Händeklatschen aller Anwesenden begleitet. Die Musik kommentiert und steuert das physische Spiel: Sie bestimmt, Rhythmus, Stil und die Geschwindigkeit der physischen Aktion im Kreis. Der Ton der gunga signalisiert den Anfang und das Ende einer jeden roda: Bricht die Musik ab, endet auch das Spiel. Genau wie das physische Spiel und die Musik ist auch der Gesang eine Kommunikation: Ein Solosänger improvisiert die Strophen, und der Chor der Anwesenden antwortet mit einem vorgegebenen Refrain. In der Regel schließt die Kommunikation die beiden Spieler in der roda mit ein: Gelungene Tricks werden bejubelt, übervorsichtige Spieler verspottet und zu aggressive zur Ruhe gemahnt. Die Musik ist das Regulativ, welches das der Capoeira innewohnende Gewaltpotential kontrolliert. Sie gibt den Spielern Kraft und erlaubt es ihnen ihre Bewegungen spontan zu koordinieren. Erst die Musik macht aus dem schnellen Wechselspiel der Bewegungen die tänzerische Choreographie, die für die Capoeira charakteristisch ist.

Ein melting pot unzähliger afrikanischer Kulturen

Die Entstehung der afrobrasilianischen Kultur, von der Capoeira ein Teil ist, ist auch die Geschichte der kulturellen Anpassung der versklavten und verschleppten Afrikaner aneinander. Vor allem anderen war sie ein gigantischer melting pot unzähliger afrikanischer Kulturen und Völker. Zugleich ist sie aber auch die Frucht der Reaktion auf die weiße Gewalt von Außen: Sklaverei und erzwungene Christianisierung waren die verbindenden Elemente. In fast allen afro-amerikanischen Kulturen gibt es vergleichbare Formen: l´agya in Martinique, maní in Kuba, kalinda in Trinidad, knocking and kicking in den Südstaaten der USA und broma in Venezuela.

Über 350 Jahre lang ist die Capoeira – und die ganze afrobrasilianische Kultur mit ihr – von Repressionen, Verboten und der Unterdrückung von Wissen beeinflußt worden, da die Europäer die Sklaverei nur rechtfertigen konnten, indem sie den Afrikanern zuerst ihr Menschsein und später ihre Kulturfähigkeit absprachen. Dies spiegelt sich in der Capoeira. Ihr Begriff der Freiheit ist der einer „Freiheit von“: Freiheit von sozialen Zwängen und Klassifizierungen, von der Armut des Alltags und nicht zuletzt auch von den Grenzen des eigenen Körpers, der viel zu oft zum Gefängnis wurde. Freiheit als eine vorübergehende Befreiung von sich selbst.

Die Entstehung der Capoeira ist umstritten. Kurz nachdem 1888 in Brasilien die Sklaverei abgeschafft wurde, ließ der damalige Finanzminister Ruy Barbosa sämtliche Unterlagen über die Sklaverei verbrennen, um Regreßansprüchen der „enteigneten“ Sklavenhalter vorzubeugen. Das Wissen um die Ursprünge der afro-brasilianischen Kultur und der Capoeira verbrannte mit. Den gerade erst befreiten Sklaven wurde so ihre Geschichte geraubt. Als Sicher gilt heute nur, daß Capoeira vor drei- bis vierhundert Jahren von versklavten Afrikanern in Brasilien erfunden wurde, weil es in Afrika selber nichts vergleichbares gibt.
Die Capoeira war und ist eine Kunst des Widerstands. Ihr zentrales Konzept ist die Idee der malícia. Malícia war die einzige Möglichkeit für die Sklaven Widerstand zu leisten und dennoch zu überleben. Sie ist die Waffe der Unterdrückten, die angewendet wird, wenn der Preis für eine offene Konfrontation zu hoch oder die eigene Kraft zu gering ist. Malícia ist also analog zu einigen anderen, uns vertrauten Formen des Widerstands zu denken: Simulieren, absichtliche Mißverständnisse und Ungeschicklichkeiten, Bummelstreik, Dienst nach Vorschrift oder die „zufällige“ Beschädigung von Arbeitsgeräten u.v.a.m.. Von dem Konzept des zivilen Ungehorsams unterscheidet sich malícia allerdings dadurch, daß sie sich selber keine Grenzen setzt, also auch physische Gewalt als legitim miteinschließt. Im Gegensatz zur europäischen Kultur ist der Begriff der malícia in der Capoeira positiv besetzt. Portugiesische Lexika übersetzen ihn mit Bosheit oder Tücke; das englische: malice bedeutet übersetzt ebenfalls Bosheit, Böswilligkeit oder böse Absicht, aber auch Schalkhaftigkeit. Das französische Wort malice wird genau wie das spanische malicia mit Bosheit, Arglist und Tücke übersetzt; nur daß im Spanischen die Bedeutung von Verschmitztheit und Scharfsinn hinzutritt. In der Capoeira gilt malícia als Beweis der individuellen (Über)Lebensfähigkeit. Als die Befähigung sich zu behaupten und durchzusetzen wird malícia in der roda gelernt und gelehrt um außerhalb, im gesellschaftlichen Makrokosmos überleben zu können: Man tut so als ob (man z.B. die Hand geben würde, Angst hätte oder Betrunken wäre) und nutzt es zu seinem Vorteil aus, daß sich der Andere gemäß der sozialen Konvention verhält.

In einer roda beschränkt sich malícia aber in der Regel auf Andeutungen gelungener Tritte oder Kopfstöße, die, da Capoeira als ein Spiel unter Freunden gedacht ist, nicht ausgeführt werden. Sicherheit gibt es allerdings nicht, denn in letzter Konsequenz heißt malícia auch, nie zu wissen, ob der andere wirklich ein Freund ist, oder nicht. Der Grundsatz der malícia degradiert alle Regeln, eben weil sie Regeln sind: Sie sind dazu da, um im geeigneten Moment gebrochen zu werden. Ein Spieler etabliert ein Muster, z.B. eine typische Art auszuweichen, nur um dieses plötzlich zu brechen und so den Partner zu täuschen. Auch verbale oder mimische Provokationen sind ein Instrument der malícia. Den Anderen dazu zu bringen die Beherrschung zu verlieren, ist ebenfalls ein Weg, ihm das eigene Spiel aufzuzwingen. Je besser beide Spieler sind, desto mehr wird der Wettstreit der malícia zum eigentlichen Ziel des Spieles.

“Sportsgeist” und “fair play” sind der Capoeira fremd

In diesem System existieren Ideen wie „Sportsgeist“ oder „fair play“ genauso wenig wie „ehrlich währt am längsten“ oder der Gedanke, daß etwas nur dann einen wahren Wert hat, wenn man sich es verdient hat: Die Idee der malícia steht gerade aufgrund ihrer Herkunft der bürgerlich-protestantischen Ethik diametral entgegen. Capoeira ist eine symbolische Inversion der gesellschaftlichen Ordnung der Gewalt. Der imaginäre Kreis der roda ist die Linie, die die Sphäre der Capoeira von der Welt trennt. Diese Grenze ist zugleich die Grenze zwischen Spiel und Ernst. Unter der Maske von Konventionen dominieren draußen in der Welt trotz aller von Christentum und Aufklärung geprägten moralischen Ansprüche Gewalt, Betrug und Täuschung das soziale und ökonomische Dasein. In der roda gilt das Prinzip der malícia unter der Prämisse der Solidarität gegenüber der eigenen Gruppe, da ohne diese kein Spiel möglich wäre. Capoeira kritisiert daher durch ihre icons of combat die als extrem erfahrene Gewalt der sozialen Welt. So wird die malícia in der roda zu einer Demaskierung der Realitäten des brasilianischen Alltags.

Um 1770 erfolgt die erste überlieferte schriftliche Erwähnung der Capoeira. Joaquim Manuel de Macedo, ein Journalist aus Rio, schreibt eine Serie von Zeitungsartikeln über Amotinado (den Ungebärdigen). Amotinado war der Leibwächter des damaligen Vizekönigs, des Marquis de Lavarido und begleitet diesen bei seinen nächtlichen Liebesabenteuern. Er wird als wilder Kämpfer und Capoeirista beschrieben. Anfang 1800 häufen sich die Erwähnungen der Capoeira in Polizeiberichten. Capoeira erscheint dort vor allem als Ursache von Krawallen, im Zusammenhang mit Überfällen, Schlägereien und Kämpfen rivalisierender Gangs, maltas genannt. 1809 wird Major Miguel Nunes Vidigal Leiter der Guarda Real de Policia. Obwohl selber ein bekannter Capoeirista, tut er sich in der Verfolgung besonders hervor. Aus dieser Zeit stammt die Gleichsetzung von Capoeiristas malandros (Gauner) und vagabundos.

Mit dem Ende der Sklaverei 1888 zogen viele der ehemaligen Sklaven in die schnell wachsenden Slums der Städte. Capoeira wurde ein Teil der Slumkultur. In Rio de Janeiro bildeten sich rivalisierende Gruppen, die von verschiedenen Politikern als Schlägertrupps eingesetzt wurden. Da die endgültige Abschaffung der Sklaverei von dem von der Prinzessin Isabel unterzeichneten lei d´áurea, dem „goldenen Gesetz“, besiegelt, wurde besaß die Monarchie in den schwarzen Slums ein hohes Prestige und die maltas der Capoeiras galten als Feinde der entstehenden Republik. In dieser Zeit wurde die Capoeira in zunehmenden Maß gewalttätig, Kämpfe wurden oft mit navalhas, Rasiermessern, ausgetragen und endeten nicht selten tödlich, regelmäßig gab es Zusammenstöße zwischen Capoeiristas und Polizei. All dies ist aber weniger ein Ergebnis der politischen Kämpfe, als eine „Frucht“ der urbanen Verelendung und fortgesetzten Unterdrückung der Afrobrasilianer.

Schon im ersten Jahr ihres Bestehens verbot die siegreiche Republik 1890 mit dem neuen Code Pénal die Capoeira auf Bundesebene. Die Verfolgung der Capoeiristas erreichte eine Intensität, die die Teilnahme an einer roda zu einem riskanten Abenteuer machte. Der Artikel 402 sieht für alle Teilnehmer einer roda 2 bis 6 Monate Gefängnis vor und der Artikel 403 für jeden „Rückfälligen“ automatisch lebenslängliche Haft. 1893 wird für „Capoeiristas und andere Störer der öffentlichen Ordnung“ die Strafkolonie Boa Vista in Betrieb genommen. Als Gertulio Vargas am 10. 11. 1937 den Estado Novo verkündet und mit der neuen Verfassung auch das Verbot der Capoeira aufhebt, ist diese in Brasilien, mit Ausnahme des Staates Bahia eine fast vergessene Kunst.

Die Capoeira öffnet sich den Weißen

Die Renaissance der Capoeira ist zwei legendären Mestres aus Salvador da Bahia zu verdanken: Manuel dos Reis Machado, bekannt als Mestre Bimba und Vincente Ferreira Pastinha, Mestre Pastinha genannt. Beide Mestres versuchten die Capoeira von ihrem Stigma der Marginalität und Kriminalität zu lösen, indem sie die Capoeira in etwas für die Gesellschaftsordnung akzeptableres – und kontrollierbareres – veränderten. Der Weg von Mestre Bimba war der des Kampfsportes, die Idee des ernsthaften, direkten und individuellen Kampfes. Er gründete 1927 die erste academia (Capoeiraschule) der Welt, das Centro de Cultura Fisica e Capoeira Regional. Er erneuerte die damalige Spielpraxis, indem er Elemente aus dem batuque einführte und begründete den Stil der Capoeira Regional. Von entscheidender Bedeutung für seinen Erfolg waren drei Faktoren: Der Schritt von der rua in die casa, das systematische Training in Sequenzen und die Öffnung der Capoeira für Schüler aus der weißen Mittel- und Oberschicht Bahias. Mestre Bimbas academia war ein Paradigmenwechsel in der Capoeira, die damals fast ausschließlich von Männern der schwarzen Unterschicht Bahias gespielt wurde. Zugleich kann er als der Erfinder des Berufes des Capoeiralehrers gelten. Damit verwandelte er die bis dahin brotlose Kunst in eine Erwerbsquelle, die heute in den favelas der brasilianischen Großstädte eine Möglichkeit des sozialen und ökonomischen Aufstiegs ist. Mestre Bimba war der erste, dem es gelang von seiner Capoeira zu leben.
Auch Mestre Pastinha gelang dies, aber er benutzte eine andere Strategie: Durch Kontakte zu den offiziellen Tourismusorganen in Bahia betonte er den folkloristischen Charakter der Capoeira und ihr touristisches Potential und etablierte die Capoeira auf diese Weise. Kurz nach Mestre Bimba gründete Mestre Pastinha seine academia de Capoeira Angola, wie der traditionelle Stil in Abgrenzung an Mestre Bimbas Capoeira Regional fortan genannt wurde. So wie Mestre Bimba ein Kämpfer und Reformer war, war Mestre Pastinha der Bewahrer. Zwar reformierte auch er die damalige Capoeira, aber im Gegensatz zu Mestre Bimba ging es ihm darum, Tradition und afrikanische Wurzeln der Capoeira zu erhalten. Ihm ist es vor allem zu verdanken, daß viele Traditionen der Capoeira sich bis heute erhalten haben. Mestre Pastinha und Mestre Bimba sind zwei komplementäre Figuren, die, jeder auf seine Weise der Capoeira ihre heutige Form gegeben haben.

Das anarchische Potential verhindert Wettkampfregeln

Am 9. Juli 1937, einige Monate vor der landesweiten Aufhebung des Verbotes durch Gertulio Vargas, erfolgt die offizielle Anerkennung der academia Mestre Bimbas durch den Gouverneur von Bahia. Als dann in den 50er Jahren Mestre Bimbas Schüler Salvador da Bahia verlassen und, inzwischen selber Mestres, eigene academias gründen beginnt der Siegeszug der Capoeira Regional. 1961 wird sie als Sport in das Curriculum der Hochschule der Militärpolizei von Guanabara (im Staat Rio de Janeiro) aufgenommen und am 26.12.1972 als offizieller Sport unter der Schirmherschaft der Confederacao Brasiliera de Pugilismo (CBP), des brasilianischen Boxverbandes, anerkannt. Dieser verabschiedet umgehend das Regulamento Technico de Capoeira und eröffnet so das bis heute nicht beendete Tauziehen um die Einführung allgemeinverbindlicher Wettkampfregeln, von denen es inzwischen Dutzende gibt. Mit etwas Ironie könnte man behaupten, daß hier die Revolution ihre Kinder frißt: Das der Capoeira eigene anarchische Potential des Widerstands richtet sich hier gegen den eigenen Erfolg. Das afrikanische Erbe der Capoeira widersteht dem europäischen Konzept des Sports und die Tradition der Befreiung verhindert durch malícia die Einigung. Irgendwo im Grenzbereich zwischen Spiel, Kampf, Tanz und Sport angesiedelt, widersetzt sich Capoeira hartnäckig allen Versuchen der kulturellen Vereinnahmung und behauptet ihr afrikanisches Erbe.

„Versportlichung“ und Körperkult

Davon zu unterscheiden ist der Prozeß der „Versportlichung“ den Mestre Bimba in Gang setzte, da es bei diesem um die Veränderung der Spiel- und Trainingspraxis selbst geht und nicht um eine Reglementierung „von Oben“. Dieser Prozeß beginnt in den Köpfen der einzelnen Spieler und verändert die Capoeira von innen: Der technische Ablauf der einzelnen Bewegungen wird perfektioniert, die Bedeutung des physischen Wettbewerbs nimmt bei gleichzeitigem Niedergang des verbalen Wettstreites zu und die Musikalische Kompetenz verliert an Bedeutung. Der Begriff des Körpers verändert sich: Entsprechend dem hellenistischen Ideal des Athleten und der Ideologie der maximalen Leistung beginnen immer mehr Capoeiristas „an ihrem Körper zu arbeiten“ und in Fitneßstudios Gewichte zu stemmen. Dadurch verändert sich die Spielpraxis massiv: Die golpes (Tritte) werden schneller und härter, zugleich aber auch berechenbarer. Malícia wird zu einer Taktik innerhalb informeller Regeln – Sport ist (zumindest offiziell) „fair play“. Der Prozeß wirkt wie eine Spirale. Um mit dem steigenden technischen Niveau mithalten zu können, müssen sich die Athleten ganz der Capoeira widmen und ihre physischen Fähigkeiten immer weiter ausbauen, was dann wieder die Spirale antreibt.

Die Capoeira wird zum nationalen Kulturgut

Mit der politischen Öffnung Brasiliens in den 80er Jahren wandelte sich auch das Bild der Capoeira. Sie gilt nun als ein nationales Kulturgut und wird als etwas genuin brasilianisches betrachtet. Dieser veränderte Diskurs führt verbunden mit einer steigenden Medienpräsenz zu einer forcierten Vermarktung durch die lokalen Tourismus- und Kulturindustrien, die Capoeira, genau wie schon den Samba, zu einem Ausdruck des brasilianischen Lebensgefühls hochstilisieren. Das Bild des Capoeiristas als malandro und vagabundo ist dem des Freizeitsportlers und Athleten gewichen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, daß in den brasilianischen Medien Abbildungen von weißen Capoeiristas dominieren, während in deutschen Reiseführern ausschließlich Schwarze abgebildet werden. Daß Capoeira in den meisten deutschen Brasilienführern ein gesondertes Kapitel erhält, ist allein schon ein Beleg für ihren Erfolg.

Aber auch heute noch sind die meisten Schwarzen in Brasilien arm, während die Universitäten und Oberschichten „weiß“ sind. Der vorherrschende Diskurs zu diesem Thema ist die Ideologie der Rassendemokratie, der rassischen, ethnischen und sozialen Harmonie innerhalb einer nationalen Einheit. Trotz dieser Ideologie gibt es eine alltägliche Praxis der Diskriminierung. Innerhalb dieser „rassisch-ökonomisch“ segmentierten Gesellschaft läßt sich die Capoeira als ein Teil einer „brasilianischen Negritude“ betrachten. Neben Fußball oder Olodum ist sie zu einem (Aus)Weg aus der favela zu einem schwarzen Selbstbewußtsein geworden. Die gesellschaftliche Aufwertung der Capoeira eröffnet finanzielle Ressourcen und die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Aufstiegs. Trotz aller Bestrebungen, sie als gemeinsames Erbe aller Brasilianer zu nationalisieren, ist sie zugleich eine Anerkennung der schwarzen Kultur. In diesem Zusammenhang bekommt die viel diskutierte Frage nach dem Ursprung der Capoeira – Afrika oder Brasilien – eine politische Dimension, was sich auch in der Verknüpfung von Capoeira und Palmares zeigt. Palmares ist als Symbol des ehrenhaftesten Widerstands – des offenen und erfolgreichen Kampfes – der Schwarzen gegen die Sklaverei ein ideologisches Gegengewicht zur malícia, die in den Augen vieler Brasilianer immer noch als eine Praxis aus der Gosse gilt. Capoeira beansprucht heute den Geist der unbeugsamen und aufrechten Rebellion und Befreiung für sich. Dadurch, daß Zumbi zum Capoeira Mestre erklärt wird, wird die eigene Identität in die „Tradition von Palmares“ gestellt. „Capoeira é tudo que a boca come“, „Capoeira ist alles, was der Mund ißt“, sagte Mestre Pastinha einmal. Gemeint hat er damit den holistischen Anspruch der Capoeira: Für einen „echten“ Capoeirista ist Capoeira alles: Identität, Weltsicht und Lebenswelt zugleich. Er macht nicht Capoeira, er ist Capoeira.

Capoeira in Folkloreshows und Fitneßstudios

Nach Europa kam Capoeira Mitte der 70er Jahre als Teil damals populärer Folkloreshows. Sechs bis sieben Jahre später gibt es in den damaligen Zentren der Hippiebewegung, vor allem in Amsterdam, Paris, Westberlin und Christiania in Kopenhagen die ersten Capoeiragruppen. Der Unterricht war eher sporadischer als systematischer Natur und die damals noch ausschließlich brasilianischen Lehrer lebten meist von Trommelkursen und Shows. Die damaligen Capoeiristas begriffen sich eher als Lebenskünstler und Abenteurer denn als Sportler. In den späten 80er Jahren ändert sich dies und die europäische Capoeira erlebt ihren ersten Boom. In Brasilien wird der Mythos des „Landes der Zukunft“ begraben, der Cruzeiro befindet sich im freien Fall und mit dem Ende der Diktatur liberalisiert sich die Ausreisepraxis. Eine verstärkte Migration nach Europa und Nordamerika ist die Folge. Jetzt kommen auch Profis, die in Brasilien Rang und Namen haben, über den Atlantik um in Europa zu bleiben. Im Schatten der urbanen Subkultur entstehen die ersten Capoeiraschulen.

Aus dem Schattendasein auf den deutschen Freizeitmarkt

In dieser Nische blieb die Capoeira bis in die 90er Jahre. Dann zeigte die in Brasilien stattgefundene Veränderung auch in Westeuropa ihre Wirkung: Das Profil der Capoeira wandelt sich und es kommt zu einem zweiten „Boom“. Trainiert wird nicht mehr nur in alternativen Kulturzentren sondern auch in Tanz-, Fitneß- und Kampfsportstudios. Längst sind es nicht mehr nur die „Brasilophilen“, die sich unter dem Begriff „Capoeira“ etwas vorstellen können. Capoeira ist dabei die alternative Subkultur zu verlassen und beginnt sich auf dem deutschen Fitneß- und Freizeitmarkt zu etablieren: In fast allen deutschen Städten gibt es Capoeiragruppen und die Zahl der Schüler wächst ständig.
Noch ist das Exotische eine der Hauptattraktionen der Capoeira, aber auch die spezifische Mischung aus Tanz, Musik und Kampf ist en vogue. Als ein Kampfsport, bei dem statt Kraft Geschicklichkeit und Eleganz zählen, bei dem statt Kampf Kooperation im Vordergrund steht besitzt die Capoeira ein noch unausgeschöpftes Potential. Gerade weil Capoeira ein Spiel und zugleich ein Kampf ist und es trotzdem weder Sieger noch Verlierer gibt ist Capoeira attraktiv. Ihre Stärke ist ihre nach unseren Kategorien paradoxe Natur, die eine Einordnung genauso verhindert wie die endgültige Transformation in einen Sport. Capoeira ist, was sie immer war: eine Kultur des Widerstands.

Kontakt in Berlin: Gruppe „Capoeira Gerais“,
Thomas Heerde, Tel.: 030 / 44 05 39 67

Exilchilenen: Leben in der DDR

Über zwei Stunden wartet die junge Chilenin in der Friedrichstraße, bis endlich ein Auto vorfährt. Zwei Männer, vermutlich von der Staatssicherheit, treten auf sie zu und schieben sie, Sekunden später, in den Wagen. Das Ziel ist unbekannt; die Fahrt erscheint unendlich lang. Nach über zwei Stunden kommen sie in Eisenhüttenstadt an. Im Hotel Lanik, der ersten Aufenthaltsstation vieler Chilenen, stehen Dolmetscher und Betreuer bereit. Die junge Frau wird noch am selben Tag ins Krankenhaus gebracht, wo am Abend ihr erstes Kind das Licht der Welt erblickt. Ihr Mann, der bereits einen Job im Dresdner Foto-Betrieb Pentacon bekommen hat, weiß nichts von der Ankunft seiner Frau. Am nächsten Morgen wird er knapp vom Abteilungsleiter informiert: „Es ist ein Mädchen.“
Bereits am 25. September 1973, zwei Wochen nach Pinochets Putsch, beschloß das DDR-Politbüro „Solidaritätsmaßnahmen“ zur Aufnahme politischer Flüchtlinge aus Chile. Die Unterbringung und Eingliederung der Emigranten lief – für DDR-Verhältnisse – relativ unbürokratisch ab. Über den FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund) und das Solidaritätskomitee der DDR wurden Mittel bereitgestellt, um die Unterbringung, Betreuung und Einkleidung der Chilenen zu finanzieren. Bis Dezember 1974 flossen insgesamt 9,6 Millionen Mark, zum großen Teil aus Mitteln des FDGB, in die Eingliederungsmaßnahmen der chilenischen Flüchtlinge. So erhielt jede Emigrantenfamilie mindestens 2.500 Mark Übergangsgeld um die Zeit, bis ein Job für sie gefunden wurde, zu überbrücken. Das entsprach mehr als dem Dreifachen des durchschnittlichen Monatsverdienstes einer ArbeiterIn in der DDR. Zur Einrichtung von Wohnungen gewährte der Staat langfristig zinslose Kredite, die in sehr niedrigen Raten (5% des Nettoeinkommens) abzuzahlen waren (Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Zentrales Parteiarchiv [SAPMO, BArch-ZP], Sign.-Nr. DY 301 IV B 2/20/201).
Die ersten zwei Monate verbrachten die chilenischen Neuankömmlinge zunächst in größeren Sammelstellen, meist Hotels oder FDGB-Ferienheimen, wo sie medizinisch betreut und ihre Papiere in Ordnung gebracht wurden. Danach teilte man sie auf die verschiedenen Bezirke, wie Halle, Dresden, Gera, Suhl, Cottbus, Leipzig und Rostock auf. Dort hatten die Bezirksräte die unpopuläre Aufgabe, Wohnungen und „zumutbare“ Jobs für die Emigranten zu finden. Das Erste war angesichts chronischer Wohnungsnot und dementsprechend langer Wartelisten von Wohnungssuchenden ein besonders delikates Unterfangen. Von oben hieß es, die Chilenen müßten bei der Bereitstellung von Wohnungen unbedingt bevorzugt werden – so schrieb es die internationale Solidarität vor.
Aber der „normale“ DDR-Bürger war diesbezüglich weniger einsichtig und ließ hin und wieder seinen Unmut über die „Wohnungsräuber“ freien Lauf. Sonia Cifuentes, Emigrantin und ehemals Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes in Chile erzählt: „Ich arbeitete am Fließband in der Endfertigung bei Pentacon. Eine Frau neben mir warf mir immer böse Blicke zu und sagte etwas zu mir, das ich nicht verstand. Später erfuhr ich, daß sie mir vorwarf, den Leuten in der DDR die Wohnungen wegzunehmen und mir riet, doch wieder nach Chile zurückzukehren.“ Derartige Kritik erfuhr jedoch schnell einen Dämpfer von oben – und Ruhe war.
Hin und wieder gab es auch Prügeleien zwischen chilenischen und deutschen Arbeitern, aus ähnlichen Gründen. Aber irgendwann hörten die Feindseligkeiten auf. „Als wir die DDR-Arbeiter besser kennenlernten, merkten wir, Arbeiter sind überall auf der Welt gleich. Nur deutsche Arbeiter können nicht tanzen,“ fügt Sonia amüsiert hinzu.
Aggressive Ausländerfeindlichkeit kam aber auch deshalb nicht auf, weil die Zahl der Emigranten relativ gering war. Im April 1975 lebten knapp 1.000 chilenische Flüchtlinge in der DDR, wovon – nach Angaben des Politbüros – ca. 880 bereits Arbeit und Wohnung hatten. Fast ein Drittel von ihnen waren Mitglieder der KP bzw. des Kommunistischen Jugendverbandes. Daneben waren etwa 130 Mitglieder des Sozialistischen Jugendverbandes und die Führung der Sozialistischen Partei in die DDR emigriert. Der Rest gehörte der Radikalen Partei, linken Splittergruppen (MAPU, MIR) oder keiner politischen Gruppierung an.

Aller Anfang ist schwer

Für viele chilenische Flüchtlinge bedeutete das Asyl in der DDR eine radikale Veränderung ihres Lebens. Während der ersten Jahre glaubten die meisten, bald zurückkehren zu können. „Wir lebten ständig mit gepackten Koffern hinter der Tür.“ Diese dauerhafte Aufbruchsstimmung wurde bis 1978 auch von den chilenischen Parteiführungen geschürt, die sich in der DDR zum Antifaschistischen Chile-Komitee, einer Art kleinen Unidad Popular im Exil, zusammengeschlossen hatten. Das Komitée, insbesondere die KP, orientierte die Emigranten nur auf einen kurzfristigen Aufenthalt und warb für eine schnelle Rückkehr nach Chile, um in den Reihen des Volkes gegen Pinochets Diktatur zu kämpfen. Einige kamen den Aufforderungen, ihren Ideen doch Taten folgen zu lassen, nach. Viele aber kostete die Rückkehr in ihre Heimat das Leben.
Innerhalb des DDR-Politbüros gab es verhaltene Kritik an den Aufbruchsermutigungen der KP-Führung. Schließlich war die Eingliederung der Emigranten mit einem erheblichen finanziellen und organisatorischen Aufwand verbunden. Chilenische Studenten brachen ihr Studium oder ihre Ausbildung ab, um den Aufforderungen der KP nachzukommen. Einige wollten gar nicht erst Deutsch lernen, weil sie eine „Germanisierung“ befürchteten (SAPMO, BArch.-ZP, Sign.-Nr. DY 301 IV B 2/20/102). In der Basis der Kommunistischen Partei erweckte die Schieberei lukrativer Studienplätze unter emigrierten Mitgliedern der KP-Führung Unmut und Verdrossenheit.
Trotz einiger argwöhnischer Blicke in Richtung innere Angelegenheiten der Emigranten, enthielt sich die SED-Führung jedoch jeglicher Einmischung. Ihre Verantwortung endete da, wo die sozialen Belange der Chilenen einigermaßen befriedigt waren. Unstimmigkeiten politischer Natur hatten sie unter sich zu lösen.
Ein weiteres Problem für die Chilenen war die völlige Umstellung ihrer sozialen Gewohnheiten. Zunächst mußte sich die Mehrheit der Emigranten mit Hilfsarbeiterjobs und einem Monatsverdienst von 400 bis 600 Mark zufriedengeben, ein Gehalt das einen bescheidenen Lebensstandard, aber auch nicht mehr, sicherte. „Die verschiedensten Leute vom einfachsten Arbeiter, gefolterten Gefangenen bis hin zum Wissenschaftler kamen in die DDR. In Cottbus zum Beispiel, waren die Massen der emigrierten Arbeiter untergebracht. Aber die Mehrheit der Emigranten waren Studenten, Akademiker, Rechtsanwälte, Lehrer, Ärzte. Mindestens 90% der Leute hatten ein Abitur,“ erklärte Sonia. Am schwersten fiel es jedoch emigrierten Bürgerlichen, wie zum Beispiel dem ehemaligen Justizminister der Allende-Regierung, und Künstlern, in der DDR Fuß zu fassen. Erstere vermißten die Standards gehobener gutbürgerlicher Lebensweise. Die KünstlerInnen, hauptsächlich in Rostock angesiedelt, kamen wahrscheinlich mit der Kultur des sozialistischen Realismus und der künstlerischen Enge in der DDR nicht zurecht. Einige kapitulierten schließlich vor der Realität einer Gesellschaft, die sie in Chile besungen hatten; sie zogen dem lieber das kapitalistische, aber an künstlerischen Freiheiten weit mehr bietende Frankreich, ja sogar Venezuela und Peru vor.

Und heute?

Nach dem Mauerfall herrschte unter den DDR-Chilenen Verwirrung gepaart mit Aufbruchsstimmung – Aufbruch in eine Heimat, die vielen über die Jahre hinweg politisch fremd geworden war. Die meisten kehrten Anfang der 90er Jahre zurück. Andere wiederum hatten sich an die Beschränkungen, die Ecken und Kanten der DDR gewöhnt, eine mehr oder weniger bescheidene Karriere gemacht und eine neue Heimat gefunden. Mit der Wiedervereinigung wurde ihnen nun plötzlich auch diese, wie ein Teppich unter den Füßen, weggezogen. Trotzdem kam ein Zurück nach Chile nicht in Frage. Sonia erzählt offen: „Als die Mauer fiel, habe ich geheult, denn ich wußte ja, was nun kommen würde. Ich hatte den Kapitalismus in Chile noch gut in Erinnerung. Meine schöne heile Welt war zusammengebrochen.“
Am belastendsten war zunächst die juristische Unsicherheit. Viele fürchteten, ausgewiesen zu werden. Nachdem sich das antifaschistische Chile-Komitee aufgelöst hatte, gründeten die im Osten Berlins verbleibenden Chilenen im November 1991 den Verein „Gabriela Mistral,“ der ihnen Rechtsbeistand in Sachen Aufenthaltsgenehmigung bot. In Rostock bildete eine kleine Gruppe von Chilenen den Arbeitskreis TALIDE, eine Organisation, die sich für Entwicklungsprojekte in Chile engagiert.
Heute leben noch rund 6.700 Chilenen in der gesamten Bundesrepublik. Die meisten sind auf ihrer jeweiligen Seite der ehemaligen Mauer geblieben. Die unterschiedlichen Erfahrungen, die Ost- und Westchilenen während des Exils sammelten, haben neue, voneinander verschiedene Identitäten geformt. Während viele in der DDR gebliebenen Chilenen ihre Exilzeit, wenn auch mit Abstrichen, überwiegend positiv beurteilen – viele schätzen noch heute die Ausbildungsmöglichkeiten in der DDR – klagen einige Westchilenen über die geringen beruflichen Chancen, die ihnen das Leben im Exil zuweilen sehr schwer machten. Hin und wieder fiel dann auch ein neidendes Wort über die „privilegierten“ Schwestern und Brüder im Osten. „Die beiden verschiedenen Systeme haben uns stärker geprägt als unsere gemeinsame Vergangenheit in Chile,“ erklärt Manuel Huertas, Präsident von „Gabriela Mistral.“ „Wir sind inzwischen mehr mit der DDR als mit Chile verwachsen. Einige von uns waren seit ihrer Ausreise nach dem Putsch nie wieder dort.“ Und schmunzelnd fügt er hinzu, daß unter den Berliner Ostchilenen, wie in der DDR eben, weit mehr Solidarität und Zusammenhalt herrsche als unter den „Wessis.“ Heute sind die aufreibenden Streitereien der Nachwendezeit beigelegt, die erhitzten Gemüter beruhigt, man lernt miteinander umzugehen, spricht höflich voneinander und lebt nach wie vor jeder auf seiner Seite der ehemaligen Mauer.

Darf ich bekanntmachen…

Die frisch erschienene Anthologie „Andere Länder, andere Zeiten“ ist eine Ansammlung literarischer Visitenkarten. Entstanden im Rahmen von INTERLIT 4, den Internationalen Literaturtagen, die in der ersten Oktoberhälfte 1997 in Nürnberg, Erlangen und Berlin veranstaltet wurden, versammelt das Buch Texte von 32 Autorinnen und Autoren der gesamten „Dritten Welt“.

Keine DebütantInnen

Enthalten sind – von wenigen Ausnahmen wie dem 1974 geborenen Chilenen Luis Miranda abgesehen – keine DebütantInnen, sondern SchriftstellerInnen, die in ihren Ländern bereits volle Anerkennung genießen. Ihnen ist aber auch gemein, daß sie hierzulande – wiederum abgesehen von den Ausnahmen Derek Walcott, V.S. Naipaul und Wole Soyinka – kaum einem breiteren Publikum bekannt und nur spärlich übersetzt sind, woraus folgt: Wir halten ein Buch in den Händen, in dem heute nachzuschlagen und vorzukosten ist, wer morgen gelesen werden wird.
Aus dem spanischsprachigen Amerika sind vertreten: der erwähnte Luis Miranda und Magali García Ramis (Puerto Rico), Ana Teresa Torres (Venezuela) und Mario Delgado Aparaín (Uruguay), Carlos Franz (Chile) und Teresa Porzecanski (Uruguay) sowie Ana María Shua (Argentinien). Daneben einige englisch- und französischsprachige Kariben, aber kein Brasilianer – und viele afrikanische und asiatische AutorInnen. Es wäre müßig, einzelne Texte genauer vorzustellen, denn wo sollte ich anfangen? Das Buch dürfte für jeden Gernleser Lustvolles und Herausforderndes bereithalten; zudem ist jedem Text eine Seite vorangestellt, die prägnant über die jeweiligen AutorInnen informiert, kurz: ein empfehlenswertes Buch.

Sätze wie Samenkörnchen

Müßigkeit hin oder her, einen Beitrag habe ich mir – streng subjektiv – dick angekreuzt: „Jeden Sonntag“ von Magali García Ramis. Mich hat bereits der erste Satz gefesselt: „Keiner von uns ist jemals gestorben, also muß ich nein sagen.“ Ein Satz wie ein Samenkörnchen, ganze Geschichten könnten aus ihm entstehen, so offen in seinen Andeutungen (aber nicht beliebig) ist er. „Jeden Sonntag“ ist die Geschichte eines puertoricanischen Mädchens, das sich jenseits von immer wiederkehrenden, öden Familienritualen einen eigenen Ort suchen und bewahren kann, der nur ihrer ist. Dorthin entweicht sie – jeden Sonntag –, dort kommt sie zu sich, ist ungestört, das verfallene Häuschen im Bambuswald ist wie ein sorgsam gehüteter Halt in ihrem Innern. Die äußere Welt, die Familie haben hier keinen Zutritt, aber nicht nur das: Auch die Zeit verläuft anders. Magali García Ramis führt vor, daß es einen Ort gibt, an dem ein Mensch ganz bei sich sein kann – ein zerbrechlicher Schatz, abhängig davon, daß andere ihn nicht zerstören wollen, und ohne Macht, sich zu verteidigen. Besonders schön an dieser Erzählung ist, daß die Autorin diese Zerbrechlichkeit nicht nur direkt beschreibt, sondern daß sie sich darüber hinaus in den Selbst-Gesprächen des Mädchens unter der Hand, atmosphärisch, mitteilt.
Durch das Thema Zeit werden die Gedichte und Geschichten dieser Anthologie zusammengehalten. Erfreulich ist der Effekt dieser „Zeit-Geschichten aus aller Welt“: Nach und nach stellt sich der Eindruck ein, als würde sich der Titel „Andere Länder,andere Zeiten“ von selbst erledigen. So anders sind die Zeiten woanders auch nicht.

Wolfgang Binder u.a. (Hg.): Andere Länder – andere Zeiten. Zeit-Geschichten aus aller Welt, Marino Verlag, München 1997, 29,- DM
(ca. 15 Euro).

Der Fotograf an Castros Seite

Reich hätte er mit diesem einem Foto werden können, das weiß Alberto Korda – so sein Künstlername – selbst. Doch darüber schmunzelt er heute nur, während er die zahlreichen Poster, Bildbände und Fotos aus seinem Werk signiert, die ihm in der Hochschule für bildenden Künste in Hamburg gereicht werden. Hier, so hat er sich entschieden, wollte er den dreißigsten Todestag des ‘Che’ verbringen, obwohl er in aller Welt sein Werk hätte präsentieren können. „Ich habe die Einladung der chilenischen Jugend und der Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba angenommen, weil ihre Arbeit ein Beispiel für die Solidarität, die Freundschaft mit der kubanischen Revolution ist und ich ihnen diesen Tag, den 9.Oktober 1997 und meine armselige fotografische Arbeit widmen möchte.“ Ein wenig pathetisch klingt das schon, aber vielleicht besser als die einfache Tatsache, daß er schon immer mal gerne nach Deutschland wollte, sich aber nie die Gelegenheit bot, wie es im August in Havanna von ihm zu hören war. Wahrscheinlich ist es denn auch eher die Mischung, die den Mann, der zehn Jahre lang Fidel Castro im In- und Ausland als dessen persönlicher Fotograf begleitete, nach Deutschland führte. Zehn Jahre, in denen er die kubanische Revolution und ihre wichtigsten Repräsentanten dokumentierte. Allein von Fidel Castro hat er mindestens 10.000 Fotos gemacht, von denen viele unveröffentlich blieben und die er größtenteils dem historischen Studienzentrum der Revolution überantwortet hat.

Die Karriere Castros

Begonnen hat Korda seine Fotografenkarriere allerdings mit der Modefotografie. Mitte der fünfziger Jahre gehörte sein Atelier zu den angesehensten in Kuba, und einige Arbeiten aus dieser Zeit sind ebenfalls in der Ausstellung zu sehen. Für renommierte Häuser wie Magnum hat er damals gearbeitet, kubanische Models in Designerroben abgelichtet – „meine Liebe gehörte damals den Frauen, bevor ich die Liebe zur Revolution entdeckte und das aus ganzem Herzen,“ erklärt er. Er spendete Geld und Medikamente für den Kampf in der Sierra Maestra und als die „Bärtigen“, so wurden die Revolutionäre damals genannt, am 8.1.1959 in Havanna einzogen nahm er seine Kamera und hielt die historischen Momente fest. Korda begann unentgeltlich für die Revolucíon, Vorläuferin der Granma, der heutigen Parteizeitung, zu arbeiten und wurde vom Chefredakteur beauftragt, bei Fidels erstem Staatsbesuch in Venezuela zu fotografieren. Weitere Aufträge folgten – bis Korda seine Anwesiungen direkt von der Sicherheitsabteilung Fidel Castros bekam und die folgenden Jahre bei keinem Auslandsaufenthalt und bei keinem wichtigen Ereignis in Kuba fehlte. Er wurde zum persönlichen Fotografen des „comandante en jefe“ – von Fidel Castro. In den zehn Jahren hatte Korda alle Freiheiten. „Nie hat er zu mir gesagt, schieße nicht dieses Foto. Er ließ mir alle Freiheiten und ich habe ihn oft sehr menschlich fotografiert, mit offenem Hemd, auf dem Boden sitzend, im Gespräch mit Leuten aus der Bevölkerung und fast nie mit dem Blitz.“
Sein bekanntestes Bild schoß Korda am 6. März 1960. Als Reporter für die kubanische Zeitschrift Revolucíon, hatte er den Auftrag, Fotos bei einer Rede Fidel Castros zu machen. Es war ein trauriger Anlaß. Am Vortage war die „La Coubre“, ein französischer Munitionsfrachter im Hafen von Habana eingelaufen. Beim Löschen der explosiven Fracht detonierte, so Korda, eine Bombe mit Zeitzünder, die 136 Menschen den Tod bescherte. Für die Beerdigungszeremonie auf der 23. Straße, der legendären Rampa, war eine Tribüne aufgebaut worden, vor der Korda stand und Fidel und die Ehrengäste, wie Jean-Paul Sartre, ablichtete. „Dann tauchte Che auf, und ich hatte gerade genug Zeit, um zweimal auf den Auslöser zu drücken,“ erinnert sich Korda, der die Bilder damals seinem Redakteur anbot, welcher sich jedoch für ein Bild von Fidel entschied. Erst acht Jahre später sollte das Bild mit dem verträumt heroischen Konterfei Che’s veröffentlicht werden – von einem italienischen Verleger, dem Korda 1966 nichtsahnend zwei Abzüge geschenkt hatte. Ein Jahr später, nach dem Tode des argentinisch-kubanischen Revolutionärs in Bolivien, vermarktete der Italiener Kordas Foto eiskalt als Poster und verdiente Millionen, während Korda leer ausging.
Zwar ist auch für Korda dieses Bild, das er eher zufällig machte, ein Foto, welches die Persönlichkeit des comandante gut wiedergibt. „Aber warum die Leute auf der Welt gerade dieses Foto als Symbol, nicht nur für den Menschen, sondern für die ganze Idee, für den Charakter aussuchten, ist auch weiterhin rätselhaft für mich. Ich fühle mich angesichts der Persönlichkeit dieses Menschen, wie ein Insekt, wie ein Ameischen, aber die Anwesenheit von Ihnen hier zeigt, daß er noch weiterlebt, das sein Beispiel unsterblich ist.“ Allerdings weiß der 69jährige durchaus zu differenzieren. Denn die heutige Vermarktung des Ernesto ‘Che’ Guevara ist für ihn nicht mehr als eine intelligente Strategie des Kapitalismus, mit der eine politische Figur in eine Ware verwandelt wird. Jüngstes Beispiel, dem die kubanische Regierung einen Riegel vorschob, war die Absicht einer britischen Brauerei, ein „Che-Bier“ auf den Markt zu bringen.

Der Che lebt!

Die diesjährig in Frankreich erschienene CD „EL CHE VIVE !“(Last Call / Arcade) fällt einem beim Durchstreifen der Plattenregale unweigerlich ins Auge. Die für den Che typische, von Alberto Korda 1960 aufgenommene, Portraitfotografie ziehrt auf rotem Hintergrung das Cover des Silberlings. Im innenliegenden Begleitheft finden sich neben der deutschen Übersetzung der „Botschaft an Ernesto Guevara“ von Herausgeber Egon Kragel auch die Liedtexte in französischer und spanischer Sprache. „Die Musik hat die Macht, unseren Eifer, unsere Überzeugungen und unsere schönsten Träume unbeschadet zu befördern“, schreibt Egon Kragel in seiner „Botschaft“ an den Che und stellte eine 15 Lieder umfassende Sammlung zusammen.
So wie auch der Che sich mehr als „Lateinamerikaner“ als Argentinier oder Cubaner sah, so stammen auch die Lieder auf der CD, neben Griechenland und Frankreich, zum Großteil aus diversen Ländern Lateinamerikas. Allesamt preisen sie den unentbehrlichen Robin Hood und leidenschaftlichen Wortführer des Antiimperialismus. Jedes auf seine Art.

„Hasta Siempre“ als Motto der CD

Gleich zu Beginn wird der Hörer mit der Ode an den Comandante, „Hasta Siempre“, beglückt. Es ist das wohl bekannteste Lied über Che Guevara. So erstaunt es nicht, daß es auf dieser CD gleich drei Mal erscheint. Gerade die unterschiedlichen Interpretationen verdeutlichen auch unterschiedliche Herangehensweisen an diesen Mythos. Carlos Puebla y sus Tradicionales zum Beispiel präsentieren das Lied als typische kubanische Guajira, einen Musikstil, der noch heute zu den populärsten des Landes zählt. Das Lied selbst ist eine reine Liebeserklärung an Che Guevara und wird von Puebla mit einer Inbrunst vorgetragen, wie es wohl nur ein Cubaner kann.
Soledad Bravo aus Venezuela steht mit ihrer Version des „Hasta siempre“ Carlos Puebla keineswegs nach. Im Gegenteil, mit Abstand ist ihre Interpetation die eindrucksvollste der vorliegenden CD. Sie singt mit einer solchen Hingabe und Leidenschaft, daß man unweigerlich eine Gänsehaut bekommt. Dabei erinnert sie ein wenig an die nordamerikanische Protestsängerin Joan Baez, wobei Bravo jedoch nicht als simple Kopie derer, sondern eher als lateinamerikanisches Pendant gelten kann.
Eine weitere Ausführung dieses Stückes, ebenfalls von einer Frau vorgetragen, beendet dann auch die CD. Maria Farantouri aus Griechenland nähert sich dem Lied recht poppig und jazzig und besonders im Refrain mit einer Prise Rock. Eine sicherlich interessante Version, wobei mir jedoch der Gehalt des Textes und die musikalische Interpretation zu weit voneinander entfernt scheinen.
Interessant wird diese CD vor allem auch durch die musikalische Spannbreite. Nicht nur geographisch ist ganz Lateinamerika vertreten, auch musikalisch. Kubanische Guajiras finden sich genauso wie die Musik der Andenvölker. Manche Lieder sind melancholisch oder klagend, andere animieren zum Mitsingen. Fast jede Instrumentierung ist vertreten, von einfacher Gitarrenbegleitung über den Einsatz einer Streichergruppe wie bei „Su nombre ardio como un pajar“ des Chilenen Patricio Manns bis hin zu spannenden Synthesen aus Folk, Pop und traditioneller Musik. Diese ist in den Stücken des Argentiniers Miguel Angel Filippini „Siembra tu luz“ und „Alma morena (El sueño del Che)“ zu hören. Bei beiden live aufgenommenen Liedern verschmelzen Piano, Bass und Keyboards mit Andeninstrumenten wie Quena und Charango sowie diversen Percussionsinstrumenten.
Atahualpa Yupanqui dagegen, ebenfalls Argentinier, ehrt den Che mit einfühlsamen, fast zaghaft wirkendem Gitarrenspiel und ausdrucksstarkem Gesang. In seinem Lied „Nada mas“ umgibt er den Zuhörer mit einer warmen, intimen Atmosphäre.
Zwei weitere Interpretationen beschränken sich auf einfache Gitarrenbegleitung, die von Victor Jara sowie das Stück des Uruguayer Daniel Viglietti. Victor Jara, seinerzeit chilenischer Protestsänger, besingt in seiner „Zamba del Che“ dessen Ermordung und klagt die Verletzung der Menschenrechte in Lateinamerika und das „mörderische Verhalten des Militärs“ an. „San Guevara“, so Jara, gab Kuba Glorie und Freiheit und folgte dem Weg, den Bolivar ihm gab. Der Sänger selbst wird später unter dem Pinochet-Regime im Fußballstadion in Santiago de Chile ebenfalls umgebracht.
Daniel Vigliettis Lied von 1967 dagegen ist ein Lied des Aufbruchs, welches den bei den meisten anderen Liedern vermißten „Funken“ Optimismus enthält. Er greift Guevaras Theorie vom „neuen Menschen“ auf. Auf metaphorische Art beschreibt er dessen Erstellung: Der Körper aus Tonerde, das Blut der über Jahrhunderte hinweg Hungernden und Ängstlichen und natürlich das Herz Che Guevaras. Dies erinnert an ähnliche Beschreibungen bei Miguel-Angel Filippini in dessen „Siembra la luz“. Er vergleicht den Che mit „einem Fluß, der zu einem Meer verschmilzt, mit einem Vulkan, der niemals schläft. Er nahm den Schlüssel der zahlreichen Schlösser mit in den Tod, so daß jetzt diejenigen schreien, die noch hinter diesen Schlössern gefangen sind.“
Che Guevara animiert auch heute noch Dichter und Musiker. Angel Parras „Guitarra en duelo mayor“ entstand erst 1996. Es ist eine Anklage, keine Predigt, auch wenn dies erst nicht so scheinen mag. Mit dynamischem und melancholischem Gesang spricht er zu einem bolivianischen Soldaten mit US-amerikanischem Gewehr, den er geringschätzig „soldadito“ nennt und beschuldigt, für den sogenannten „Mister Dollar“ seinen Bruder zu töten. „Kennst Du nicht den Toten, Soldat?“, fragt Parra. „Es ist der Argentinier und Kubaner Che Guevara.“ Unzweifelhaft gehört sein Beitrag zu einem der Höhepunkte der CD.

Che ein Heiliger?

Phantasie und Realität liegen bei vielen Texten nicht weit auseinander. Gerade die Lieder des Kubaners Carlos Pueblas lassen einen Mythos entstehen. In „Lo eterno“ aus dem Jahr 1968 beschreibt er Che Guevara als unsterblich und verallgemeinert dies auf alle, die sich wie der Comandante verhalten würden. Es wird deutlich, daß Guevara für ihn, und sicherlich für viele andere auch, mehr als „nur“ ein Mensch, nämlich ein „Heiliger“ ist. Er ist ein „unsterbliches Licht, welches die Nacht aufhält und in die Morgenröte führt.“ Der Einfluß Guevaras auf die Menschen Lateinamerikas ist und bleibt zeitlich ungebunden und prägt sie fort. Carlos Puebla beschäftigte sich viel mit dem Leben und Wirken des kubanischen Revolutionärs. Alle seine Stücke sind sicherlich hörenswert, aber vier, bei einer Gesamtzahl von 15 Liedern, ist eindeutig zuviel.
Bei „Che Esperanza“ meldet sich dann der Herausgeber der CD, Egon Kragel, selbst musikalisch zu Wort. Das 1996 in Frankreich aufgenommene Stück ist hauptsächlich mit Andeninstrumenten eingespielt worden. Textlich nähert sich Kragel in seinem Lied dem Mythos Guevara auf ganz besondere Art und Weise. Er läßt zwei Protagonisten, Großmutter und Kind, in einer Schlaflied-Situation, zu Wort kommen läßt. (ähnlich Father & Son/Cat Stevens) Die Großmutter beruhigt das Kind, es solle schlafen, denn der Che sei da. Daraufhin fragt das Kind, wer der Che sei, was auch gleichzeitig den Refrain darstellt. Die Großmutter antwortet schließlich in bildlich formulierten Phrasen, der Che sei „das Weinen des Windes und die Hoffnung, die Seele der Revolution und ein neuer Mensch, der immer in ihrem Lied fortleben wird.“ Mit eindringlicher Stimme stellt Kragel die Großmutter-Kind-Situation dar und steigert das Lied bis hin zum finalen Refrain. („Que siempre, siempre vivirá en mi canción“). Ohne Frage, Poesie und Melodie machen dieses Lied zu einem Lichtblick der CD.

Kritik fehl am Platz

Die CD „El Che vive!“ ist eine Huldigung Guevaras, kein Zweifel. Obwohl ich positiv überrascht gewesen wäre, auch kritische Töne hören zu, kann ich die doch sehr einseitige Darstellung Guevaras einigermaßen nachvollziehen.
Doch auch derjenige, der mit dem Namen Che Guevara weniger anfangen kann, lateinamerikanische Musik aber zu schätzen vermag, wird mit diesem Silberling seine Freude haben, denn die musikalische Bandbreite reicht von cubanischen Guajiras bis hin zu modernen Folk-Pop Liedern.
Als 16. Stück findet sich auf „El Che vive!“ die Rede Che Guevaras vor der UNO aus dem Jahr 1964. Besser als in jedem Lied kommt hierbei seine Leidentschaft für die Revolution, der eiserne Wille gegen Unterdrückung der Bauern und Indiginas zu kämpfen und sein Traum vom „freien“ Lateinamerika zum Ausdruck. In diesem kurzen Ausschnitt wird deutlich, welche Bedeutung Che Guevara für Lateinamerika hatte und noch hat. Seine Sensibilität für die Ungerechtigkeit und sein Mut dagegen anzugehen und für sein Ideal zu sterben, machen ihn zu einem Märtyrer, dessen Legende ungebrochen fortwirkt.

Den arbeitenden Kindern nützt nur, was sie selbst wollen

In Lateinamerika, Westafrika und Südostasien sind seit einigen Jahren Organisationen arbeitender Kinder im Entstehen. Ihre Vorstellungen und Forderungen zur Kinderarbeit decken sich oft nicht mit dem, was Regierungen und internationale Organisationen wie ILO und UNICEF verkünden. Vor allem wenden sie sich dagegen, jede Arbeit von Kindern in Bausch und Bogen zu verdammen und abschaffen zu wollen. Statt dessen verlangen sie, Armut und Ausbeutungsverhältnisse ins Visier zu nehmen und die Kinder dabei zu unterstützen, bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen und in Würde und freier Entscheidung arbeiten zu können. Die Kinder wollen weiter ihre Familien unterstützen und eine aktive anerkannte Rolle in ihren Gesellschaften spielen.
Die Osloer Konferenz näherte sich ein Stück weit den Vorstellungen der Kinderorganisationen, indem sie sich auf die besonders ausbeuterischen und riskanten Formen der Kinderarbeit konzentrierte. Sie blieb aber meilenweit von den Erwartungen der Kinder entfernt, indem sie die internationalen und strukturellen Ursachen der Ausbeutung von Kindern ignorierte und sich wie eh und je auf gesetzliche Verbote und Boykottappelle kaprizierte. Eine neue Strategie, die wirklich den arbeitenden Kindern zugute käme und ihre Situation verbesserte, kam auf der Osloer ILO-Konferenz nicht in Sicht.
Die 300 MinisterInnen und ExpertInnen von ILO, UNICEF, Gewerkschaften, Unternehmensverbänden und Kinderhilfsorganisationen, die sich auf der Konferenz die Köpfe heiß redeten, duldeten sage und schreibe drei (3) handverlesene Kinder unter sich und störten sich auch noch daran, daß die anderen ihr Forum verließen und vor der Tür ihrer luxuriösen Konferenzstätte demonstrierten. In Oslo waren es vor allem einige Gewerkschaften und Regierungen, die sich die Mitwirkung und Kritik der Kinder verbaten.
Ihre Sturheit und Arroganz wurde selbst innerhalb der UNICEF, die die Konferenz mitveranstaltete, mit Empörung quittiert. Immerhin: In einem Brief an die norwegische Regierung erklärte Bill Myers, einer der profiliertesten UNICEF-Experten zur Kinderarbeit:
„Allein pragmatische Erwägungen erfordern, die arbeitenden Kinder gerade in dem Moment, in dem wir Maßnahmen zu ihrem Schutz beschließen, mitwirken zu lassen und uns ihnen zu stellen. Jedes Mal mehr erkennen die Experten, daß ein wirksamer Schutz der Kinder gegen den Mißbrauch am Arbeitsplatz nicht von oben gegen den Willen der Bevölkerung dekretiert werden kann, vor allem in Ländern mit einem hohen Anteil armer Familien, deren Kinder mehrheitlich in der Landwirtschaft, im Haushalt und im informellen Sektor arbeiten.“
In Oslo wurde die Chance verpaßt, neue Wege im Kampf gegen die wirtschaftliche Ausbeutung und den sozialen Ausschluß zusammen mit den direkt betroffenen Kindern zu suchen. Um so wichtiger ist es, die Kritik, Vorschläge und Forderungen der sich organisierenden Kinder selbst einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

KASTEN

Erklärung des V. lateinamerikanischen und karibischen Treffens
arbeitender Kinder an die internationale Gemeinschaft

Für Arbeit in Würde und eine Gesetzgebung, die uns schützt und anerkennt

Die VertreterInnen der Bewegungen und Organisationen arbeitender Kinder Lateinamerikas und der Karibik (NATs) sowie anwesende VertreterInnen der arbeitenden Kinder Afrikas und Asiens, die sich auf dem V. lateinamerikanischen und karibischen Treffen aller organisierten arbeitenden Kinder versammelt haben, geben hiermit im Namen von weiteren Millionen von arbeitenden Kindern dieser Regionen folgende Erklärung an die internationale Öffentlichkeit ab:
Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen hat für uns Kinder die Rechte, angehört zu werden (Art. 12), uns zu organisieren (Art. 15) und beschützt zu werden (Art. 32) festgelegt. In unserem tagtäglichen Leben, in unserer Arbeit, in unseren Organisationen und auf diesem lateinamerikanischen Treffen haben wir NATs jedoch feststellen müssen, daß diese Rechte nicht ausreichend sind, denn sie werden in der Praxis nicht respektiert.
Man hört uns an, aber man berücksichtigt unsere Ansichten nicht. Man gibt uns das Recht, uns zu organisieren, aber unsere Organisationen arbeitender Kinder und Jugendlicher werden nicht anerkannt. Man „beschützt“ uns, aber man läßt uns nicht an der Ausarbeitung solcher „Schutz“programme mitwirken. Unsere Organisationen kämpfen Tag für Tag für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, für unsere Rechte auf angemessene und qualitativ gute Ausbildung, für bessere Gesundheitsbedingungen, für Möglichkeiten, uns versammeln zu können, um gemeinsam Aktionen durchzuführen, das heißt dafür, in unserem Leben selbst die Protagonisten zu sein und in unseren Gesellschaften als soziale Subjekte anerkannt zu werden. Unsere Organisationen haben sich als die beste Art erwiesen, uns vor Ausbeutung, schlechter Behandlung und der Geringschätzung durch die Gesellschaft zu schützen. Innerhalb unserer Organisationen fühlen wir uns als würdige, fähige und vollwertige Personen und empfinden Stolz für unsere Arbeit. Hier bilden wir uns und finden Raum für Solidarität und für die Erarbeitung von Vorschlägen für Alternativen zum bestehenden System von Armut und Gewalt, das für uns unzumutbar ist.
Damit unsere Meinungen ernstgenommen werden, müssen unsere Organisationen auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene rechtlich voll anerkannt werden. Unsere demokratisch gewählten VertreterInnen müssen in allen lokalen, nationalen und internationalen Gremien mitreden und mitwählen können, in denen über Politik, die die Kinder und die Arbeit betrifft, entschieden wird, wie in der Bildungspolitik, der Arbeitspolitik sowie bei Plänen zur sozialen Absicherung und Gemeindeentwicklung. Die Präsenz der NATs innerhalb dieser Gremien gemeinsam mit Delegierten anderer sozialer Organisationen ist die beste Garantie im Kampf gegen Ausbeutung, Armut und Ausgrenzung und ein großer Schritt zur Durchsetzung der Menschenrechte. Wir NATs aus Lateinamerika und der Karibik wie auch unsere Freunde aus Afrika und Asien verstehen uns als ProduzentInnen DES LEBENS, angesichts der Kultur des Todes, die uns jegliche Rechte und unsere volle Eingliederung in die Gesellschaft verwehrt. Dies nicht anzuerkennen bedeutet, uns noch weiter als jetzt schon auszugrenzen. Gleichzeitig von Bürgerrechten zu uns zu sprechen, ist ein Hohn.
JA zur Arbeit in WÜRDE, NEIN zur Ausbeutung!
JA zur Arbeit unter SCHUTZ, NEIN zu schlechter Behandlung und Mißbrauch!
JA zu ANERKANNTER Arbeit, NEIN zu Ausschluß und Ausgrenzung!
JA zu Arbeit unter MENSCHLICHEN BEDINGUNGEN, NEIN zu unwürdigen Bedingungen!
JA zum RECHT, IN FREIHEIT ZU ARBEITEN, NEIN zur Zwangsarbeit!
Huampaní, Lima (Peru), 6.–9. August 1997
VertreterInnen der Bewegungen arbeitender Kinder: aus der Region Südamerika: Argentinien, Paraguay, Uruguay; aus der Andenregion: Kolumbien, Chile, Ecuador, Peru, Venezuela; aus Mittelamerika und der Karibik: Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Dominikanische Republik.
Übersetzung: Jutta Pfannenschmidt und Manfred Liebel

Freisetzungen in Lateinamerika

Die offizielle Chronologie der Freisetzungen transgener Organismen beginnt 1986 mit dem Anbau genmanipulierter Tabakpflanzen in Frankreich und den USA. 1986 ist auch das Jahr des ersten Freisetzungsskandals: Das US-amerikanische Wistar Institute testete in Argentinien einen rekombinanten Virus-Impfstoff an Kühen, ohne daß argentinische Behörden oder die beteiligten LandarbeiterInnen, von denen einige infiziert wurden, darüber informiert worden waren.
Im folgenden Jahr wurde in Chile erstmals mit herbizidresistentem Raps eine gentechnisch veränderte Pflanze freigesetzt, vermutlich die weltweit erste Freisetzung von transgenem Raps überhaupt. Freisetzungen transgener Organismen erfolgten in Lateinamerika bis 1994 in größerem Umfang als in europäischen Staaten, Informationen darüber gibt es jedoch kaum. Bis 1995 war gerade ein halbes Dutzend von Darstellungen bekannt, die auch die Freisetzungssituation in der sogenannten Dritten Welt berücksichtigten. Sie wurden entweder von Personen verfaßt, die Zugang zu der Freisetzungsdatenbank der Green Industry Biotechnology Platform (GIBiP) hatten, einem Zusammenschluß von einigen in der Pflanzengentechnik aktiven Unternehmen. Oder sie beruhten auf Untersuchungen und Erhebungen von Nichtregierungsorganisationen wie Friends of the Earth, Greenpeace oder GRAIN (Genetic Resources Action International). Aus den Materialien dieser Gruppen wurde deutlich, daß die in den Ländern des Südens durchgeführten Freisetzungen in der Regel ohne rechtliche Bestimmungen und vielfach ohne Kontrollen erfolgten und weiterhin erfolgen.

Was ist eine Freisetzung?

Freisetzungen sind gezielte Ausbringungen von gentechnisch veränderten Organismen in die Umwelt. Freigesetzt werden einerseits transgene Pflanzen, um im Feldversuch die im Labor und im Gewächshaus gefundenen Ergebnisse unter Freilandbedingungen zu testen (Freisetzungsversuche oder -experimente). International wird aber auch, abweichend von den Definitionen des deutschen Gentechnikgesetzes, das zwischen Freisetzung und Inverkehrbringen unterscheidet, der kommerzielle Anbau von transgenen Pflanzen als Freisetzung bezeichnet. Während vermutlich die meisten Freisetzungen (noch) Freisetzungsexperimente sind, ist der kommerzielle Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen in Ländern wie Argentinien (Anbau von herbizidresistenten Raps- und Sojapflanzen) und Mexiko (Anbau der FlavSavr-Tomaten, herbizidresistenten Raps- und Sojapflanzen und von insektenresistenten Kartoffeln und Baumwolle) schon seit 1995 Realität.

Welche Freisetzung wird bekannt?

Anfang 1996 publizierte das Deutsche Umweltbundesamt (UBA) eine Studie zur „Gentechnik in Entwicklungsländern“. Diese UBA-Studie liefert die derzeit umfangreichste und differenzierteste Übersicht über Freisetzungen transgener Pflanzen in Entwicklungsländern. Die im Oktober 1995 abgeschlossene Übersicht des Umweltbundesamtes liefert vor allem für die Region Lateinamerika und Karibik ausführliche Informationen über Freisetzungen in 11 Staaten. Dabei benennt sie für jede Freisetzung das Land, die Pflanze, die Art der genetischen Manipulation, den Zeitpunkt der Genehmigung und Durchführung, den oder die Durchführenden, und sie bewertet die Aussagesicherheit der Quelle. Außerhalb dieser Region werden Freisetzungen in Indien und Thailand sowie in Ägypten und Südafrika erwähnt.
Auf der Grundlage der verfügbaren Informationen gelangt der Autor der UBA-Studie, André de Kathen, zu der Einschätzung, daß der Anteil der in oder von Entwicklungsländern durchgeführten Freisetzungen „bei unter 5 Prozent aller Freisetzungen weltweit“ liegen dürfte. Mit seiner Einschätzung liegt Kathen deutlich unter der Erhebung von James und Krattiger (1996), nach der acht Prozent der zwischen 1986 und 1995 durchgeführten Freisetzungen in den Entwicklungsländern stattfanden, davon 70 % in der Region Lateinamerika und Karibik, 21 % in Asien und 9 % in Afrika.
Nach Auskunft offizieller Stellen hat es in Brasilien, Kolumbien und Venezuela wie auch in Indonesien, Malaysia, Nigeria und auf den Philippinen bisher keine Freisetzungen transgener Pflanzen gegeben. Von diesen Ländern verfügte allerdings allein Brasilien über ein 1995 verabschiedetes Gesetz zur biologischen Sicherheit, so daß in den anderen Ländern die rechtliche Grundlage für die Anmeldung von Freisetzungen fehlte. Es ist daher nicht auszuschließen, daß Freisetzungen stattfanden, ohne daß staatliche Stellen davon in Kenntnis gesetzt wurden.
In Lateinamerika und der Karibik wurden zwischen 1987 und 1995 nach Kathen 137 Freisetzungen in 11 Ländern durchgeführt [1]. Die meisten Freisetzungen erfolgten in Argentinien (43 Freisetzungen), Puerto Rico (21), Mexiko (20), Chile (17) und Kuba (13). Weitere Länder mit bekanntgewordenen Freisetzungen sind: Costa Rica (8), Bolivien (5), Belize (4), Guatemala (3), Peru (2) und die Dominikanische Republik (1).
Vor allem fünf Pflanzen stehen im Vordergrund des Freisetzungsinteresses: Mais, Sojabohnen, Tomaten, Baumwolle und Kartoffeln. Damit weicht die Freisetzungssituation in der Region Lateinamerika und Karibik von der globalen vor allem hinsichtlich des unterschiedlichen Stellenwertes von Sojabohnen und Raps ab. Die Reihenfolge der weltweit am häufigsten freigesetzten Pflanzen führt nach James / Krattiger ebenfalls Mais (28 %) an, mit Abstand folgt Raps (18 %). Nach Kartoffeln und Tomaten (jeweils 10 %) finden sich die Sojabohnen mit 8 % erst auf Platz 5.

Woran wird geforscht?

Bei den insgesamt 137 für die Region Lateinamerika und Karibik dokumentierten Freisetzungen dominiert die Erforschung der Resistenz gegenüber Herbiziden (51) vor der gegen Insekten (30). In weiteren neun Fällen wurde auf beide Resistenzaspekte getestet. Bei zehn Freisetzungen ging es um Virusresistenz, während 20 die Veränderungen der Produktqualität zum Ziel hatten. Sieben Mal wurde mit Kälte- bzw. Frostresistenz experimentiert, die restlichen zehn Freisetzungen hatten andere gentechnologische Manipulationen zum Ziel.

Wer forscht?

Die oben genannten Freisetzungsversuche wurden vor allem von privaten Firmen durchgeführt: In 74 Prozent der Fälle waren es Unternehmen aus den Bereichen Chemieindustrie, Saatgut, Biotechnologie, Agrarhandel und Lebensmittelindustrie, die für die Freisetzung verantwortlich waren. Zwanzig Prozent der Freisetzungen wurden jedoch von den in der Region Lateinamerika und Karibik beheimateten internationalen Agrarforschungszentren oder von nationalen Forschungseinrichtungen (partiell auch von beiden gemeinsam) durchgeführt. Die Liste dieser Forschungseinrichtungen wird von dem staatlichen kubanischen Zentrum für Gen- und Biotechnologie (CIGB) mit insgesamt 13 Freisetzungen angeführt. Das Internationale Kartoffelforschungszentrum (CIP) setzte sechsmal transgene Kartoffeln frei – davon in vier Fällen gemeinsam mit dem bolivianischen landwirtschaftlichen Forschungsinstitut (IBTA). Das mexikanische Untersuchungs- und Studienzentrum (CINVESTAN) brachte in insgesamt fünf Fällen transgene Kartoffel-, Mais- und Tomatenpflanzen aus. Das Internationale Forschungsinstitut für Mais und Weizen (CIMMYT) wird mit zwei Mais-Freisetzungsversuchen aufgeführt, und das argentinische Photosynthese- und Biochemie-Zentrum (CEFOBI) war für zwei Freisetzungsversuche mit transgenem Mais und Weizen verantwortlich. In sechs Prozent der Fälle waren keine Angaben darüber verfügbar, wer die Freisetzungen veranlaßt hatte.

Trends in Lateinamerika und Karibik

Für die Region Lateinamerika und Karibik zeichnen sich nach den Daten der UBA-Studie die folgenden Trends bei den Freisetzungen ab:
1. Das Freisetzungsinteresse konzentriert sich auf die fünf Pflanzen Mais, Sojabohnen, Tomaten, Baumwolle und Kartoffeln, mit denen zusammen gut 80 Prozent der Freisetzungen durchgeführt wurden.
2. Herbizid- und Insektenresistenz sind die vorherrschenden Ziele der durchgeführten Freisetzungen, knapp zwei Drittel aller Freisetzungen wurde zu einem bzw. zu beiden Resistenzaspekten vorgenommen.
3. Nur zwanzig Prozent der Freisetzungen sind vom öffentlichen Sektor, d.h. von nationalen oder internationalen Agrarforschungseinrichtungen zu verantworten. Die überwiegende Zahl der Freisetzungen erfolgt durch oder im Auftrag von Konzernen des Agrobusiness. Unter ihnen dominieren die US-amerikanischen und nimmt das Chemie- und Gentechnikunternehmen Monsanto die Spitzenposition ein.
4. Die Kulturen, die Ziele und die Auftraggeber der Freisetzungen dokumentieren eindeutig, daß bei den durchgeführten Freisetzungen die Forschungsinteressen der Industrienationen im Vordergrund standen.

Anmerkung:
[1] Bei den aufgeführten Daten wurden Angaben über Puerto Rico (ist seit 1952 mit den USA assoziiert, ohne ein US-Bundesstaat zu sein) berücksichtigt. In Puerto Rico wurden 144 Freisetzungen durchgeführt. Nur die 21 genehmigten Freisetzungen wurden von uns erfaßt.

Frieden, aber wie?

Nach seinem Amtsantritt im Juni 1994 hatte Samper Carlos Holmes Trujillo, der den Friedensprozeß in Mittelamerika aus eigener Anschauung kennt, zum obersten Friedensberater ernannt. Aber nach der Krise um die Gelder der Mafia im Wahlkampf für Samper fiel die Friedensinitiative der Regierung in sich zusammen. Die Armeeführung weigerte sich, ein großes Gebiet im Südosten des Landes zu räumen, was die FARC als Vorbedingung für die Aufnahme von Verhandlungen genannt hatte. Der Präsident gab klein bei und verlangte wenig später nach einer militärischen Lösung. Das Amt des Friedensberaters blieb lange Zeit unbesetzt, aber das Büro mit seinen Mitarbeitern funktionierte weiter. Holmes Trujillo ist seit einigen Monaten Innenminister.
Im Juni hatte Präsident Samper nach der Übergabe der 70 von den FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) festgehaltenen Militärs angekündigt, daß innerhalb von 100 Tagen die Möglichkeiten für eine neue Friedensinitiative geprüft werden. Er schlug drei Themen vor, über die möglichst bald eine Einigung erfolgen soll: Entführungen (nach der kolumbianischen Presse gab es 1996 1.439 Fälle), Sprengungen von Ölpipelines (Schaden in den letzten sieben Jahren: 2 Mrd. US-Dollar) und Kinder als Kriegsteilnehmer.

Friedensprozeß und Vorwahlkampf

Im Oktober finden in Kolumbien Kommunalwahlen statt. Von den 1994 gewählten sind bisher 20 Bürgermeister und 226 Gemeinderäte ermordet worden. Die schon von früher bekannte Zunahme politischer Gewalt in der Vorwahlzeit zeigt sich auch dieses Mal wieder. Nach Regierungsangaben sind in rund 400 (nach anderen Quellen: 600) der über eintausend Gemeinden Guerillagruppen und in 450 Gemeinden Paramilitärs aktiv.
Zwischen 16.000 und 18.000 Frauen und Männer sollen in der Guerilla kämpfen. Der Krieg hat sich nach dem Analytiker Alfredo Rangel qualitativ verändert – von einem “klassichen” Guerillakrieg zu einem Bewegungs- und Positionskrieg. Die Rebellen treten zunehmend in größeren Verbänden auf. Gleichzeitig versuchen paramilitärische Gruppen mit etwa 5.000 Angehörigen, ihren Einfluß im Land auszudehnen, hinzu kommen Tausende Mitglieder legaler “Sicherheitskooperativen”, der sogenannte CONVIVIR (Asociaciones Comunitarias de Vigilancia Rural). Das Kriegsgeschehen und politischer Druck der verschiedenen Gewaltakteure haben die Zahl der intern Vertriebenen auf etwa eine Million anschwellen lassen.
Die These Alfredo Rangels, nur durch ein deutliches politisch-militärisches Auftreten könne die Guerilla zu Verhandlungen gezwungen werden, wird heftig diskutiert. Eduardo Pizarro von der Nationaluniversität widerspricht jedoch energisch. Rangel vernachlässige den internationalen Kontext wie den Fall der Mauer 1989 und die Friedensprozesse in Zentralamerika. Er vergesse, daß die Guerillagruppen durch ihre Aktivitäten ihre Feinde multiplizierten und dies zu einer Eskalation des Konfliktes auf einem immer höheren Niveau führe. Für den früheren Außenminister Ramírez Ocampo existiert in Kolumbien zwischen den beiden Seiten kein militärisches, wohl aber ein strategisches Gleichgewicht: Keine Seite könne die andere besiegen.
Im Juli legte die Regierung dem Kongreß einen Gesetzentwurf zur Einrichtung eines Nationalen Friedensrates vor. Dem Rat sollen rund 40 Mitglieder angehören, die eine breite Palette von staatlichen Stellen und gesellschaftlichen Kräften abdekken. Er soll u. a. die Regierung beraten, die Bevölkerung motivieren, Eigeninitiativen zu starten und jährlich dem Kongreß über den Friedensprozeß berichten. Als Hauptmotiv für die Einrichtung wird angeführt, der Friedensdialog müsse einer permanenten staatlichen Stelle anvertraut werden, die diese Arbeit unabhängig von den wechselnden Regierungen wahrnehmen soll. Gleichwohl soll das Gremium unter dem Vorsitz des Präsidenten tagen, und wichtige Vertreter der Regierung wie die Ministerien für Inneres, Verteidigung und Justiz wären vertreten.
Es wird nicht recht deutlich, wie dieser offenkundige Widerspruch – Beziehung zu Regierung und Staat – gelöst werden soll.
Die Skepsis gegenüber den Erfolgschancen der neuen Initiative ist groß, denn sie kommt am Ende der Amtszeit Sampers, in der die Regierung traditionell geschwächt ist. Das Ausmaß politischer Gewaltanwendung ist auch weiterhin hoch. Die Guerillagruppen arbeiten daran, ihren Einfluß über Teile des Landes zu konsolidieren. Es ist unklar, warum sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt in einen Friedensprozeß eintreten sollten.
Auch hat besonders die FARC deutlich gemacht, daß sie der Regierung Samper aufgrund der Drogengelder während des Wahlkampfes jegliche Legitimation abspreche. Ein FARC-Sprecher lehnte bereits die Initiative eines zivilgesellschaftlichen Friedensnetzes ab, eine Volksabstimmung für den Frieden im Oktober abzuhalten. Die Guerilla verlangt bei den Gemeindewahlen eine Stimmenthaltung. Eine größere Anzahl von Kandidaten wurde bereits entführt, einige von ihnen wieder freigelassen, andere ermordet.
Nur wenige Gründe sprechen für Erfolgschancen der Initiative. Mit der Zwangspensionierung des Oberkommandierenden der Streitkräfte, General Bedoya, wurde ein prominenter Gegner von Verhandlungen aus einer Spitzenposition entfernt. Sein Nachfolger, General Bonett, gilt als flexibler.
Zweitens wird das Bewußtsein in Politik und Zivilgesellschaft (wieder einmal!) stärker, daß eine militärische Lösung nicht möglich ist und nach einem Verhandlungsfrieden gesucht werden muß.
Drittens scheint die US-Regierung keine verhandlungsfeindliche Position einzunehmen. Ihr scheint der Drogenkrieg mehr am Herzen zu liegen als die Gegnerschaft zu linken Guerilleros. So hat sie die Militärhilfe für Anti-Drogeneinsätze in Höhe von 70 Mio. Dollar wieder aufgenommen. Die Regierung mußte sich verpflichten, Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen und die Überwachung der Einhaltung dieses Versprechens durch die US-Regierung akzeptieren. Eine Suspendierung der Hilfe bei Nichteinhaltung ist möglich. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Diskussion über eine mögliche Auslieferung kolumbianischer Drogenhändler, die in der Verfassung von 1991 verboten wurde. Sie wird jetzt im Kongreß neu behandelt. Die Auslieferung war in der Amtszeit Barcos Ende der achtziger Jahre der entscheidende Faktor für terroristische Aktionen des Medelliner Kartells gegen Regierung und Bevölkerung.
Schließlich spielen bei der Initiative parteipolitische Interessen eine Rolle. Einer der Favoriten für die Präsidentschaftswahl 1998 ist die rechte Hand Sampers: der liberale Ex-Innenminister Horacio Serpa. Der Beginn von Verhandlungen würde seine Wahlchancen ohne Zweifel deutlich erhöhen.
Kolumbianische Regierungen interessieren sich seit einiger Zeit für die Erfahrungen in Zentralamerika, gelten doch die dortigen Friedensschlüsse bei allen aktuellen Problemen immer noch als stabil. Mit dem neuen UN-Büro zur Beobachtung der Menschenrechtslage existiert zum ersten Mal eine Vertretung des UN-Hochkommissars für Menschenrechte (Genf) in der westlichen Hemisphäre. Unter Leitung der spanischen Botschafterin Mazarrasa arbeiten fünf Experten an der Berichterstattung zur Lage in Kolumbien. Mehrfach hat sich das Büro kritisch in der Öffentlichkeit geäußert, etwa aus Anlaß des Mordes an den beiden Mitarbeitern des jesuitischen Forschungsinstitutes CINEP, Elsa Alvarado und Mario Calderón, im Mai und über die Rolle der CONVIVIR-Gruppen, vor allem in Antioquia. Der dortige Gouverneur Alvaro Uribe hat im August in Genf gegenüber den Vereinten Nationen die Existenz dieser Gruppen gerechtfertigt; Kritiker sehen in ihnen eine legale Form des Paramilitarismus.

Eine Rolle für die Vereinten Nationen?

Im August schlug eine Gruppe von Intellektuellen um Eduardo Pizarro eine Vermittlungsrolle der Vereinten Nationen vor; ein Blauhelmeinsatz wurde hingegen abgelehnt. Bisher ist ein solcher Vorschlag am Widerstand des Establishments gescheitert. Angesichts der Verschlechterung der Lage ist eine solche Lösung für die Zukunft nicht mehr auszuschließen – zumindest dann nicht, wenn der neue Friedensrat kurzfristig keine Erfolge aufweist. Falls eine solche Initiative von den UN beschlossen würde, würde die politische Abteilung in New York die Vermittler bestimmen. In der Vergangenheit haben bereits Costa Rica, Mexiko und Venezuela den Dialog zwischen der Guerilla und der Regierung gefördert.

Vielfältige Bündnisse

Die Ausgangsbedingungen für feministische Bewegungen unterschieden sich allerdings von Land zu Land, denn schließlich ist der lateinamerikanische Kontinent ein Konglomerat von Rassen, Ethnien, Sprachen und Kulturen. Diese Vielfalt hat sehr ungleiche ökonomische, kulturelle und politische Entwicklungen verursacht. Sie hat außerdem die komplexen Probleme, die sich aus der spanischen Kolonisierung und später aus der Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten ergaben, noch verstärkt. Für die Entstehung der neuen Republiken nach den Unabhängigkeitskriegen hat auch das ideologische Gewicht der katholischen Kirche eine entscheidende Rolle gespielt. Denn die Kirche hat ihren Einfluß über einen langen Zeitraum hinweg aufrechterhalten können – in den Sphären politischer Macht ebenso wie in großen Bereichen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Eine solche Präsenz wird in bestimmten historischen Epochen immer verhindern können, daß sich Strömungen der sozialen Erneuerung und Säkularisierung durchsetzen.
Andererseits haben auch Klassen- und Rassenunterdrückung den Republiken, die nach dem Ende der spanischen Herrschaft gegründet wurden, ihren Stempel aufgedrückt. Bis heute hat dies die Überwindung der gesellschaftlichen Ungleichheiten verhindert und jedwede Form der Integration erschwert, besonders in den Ländern wo die indigene Bevölkerung seit Jahrhunderten marginalisiert wird.

Erste Feministinnen

Als Auslöserinnen der feministischen Bewegungen Lateinamerikas können einerseits fortschrittliche Ideen und die politische Durchsetzung kapitalistischer Modernisierung benannt werden, die um die Mitte des letzten Jahrhunderts besonders in Ländern mit europäischer Einwanderung oder in geographischer Nähe zu den Vereinigten Staaten auftauchten. Genauso bedeutsam ist aber auch die Bildung sozialer Bewegungen, die soziale und wirtschaftliche Verbesserungen einforderten. Sie sind hauptsächlich gewerkschaftlichen oder indigenistischen Ursprungs, mit Wurzeln im Anarchismus wie im Sozialismus.
Die Bewegungen, die sich für das Frauenwahlrecht, für gleichberechtigten Zugang zu Bildung und für die Verleihung gleicher bürgerlicher Rechte für Frauen einsetzen sind so parallel zu den sozialen Bewegungen der Arbeiter und Indígenas entstanden. Manchmal haben sie sich angesichts gemeinsamer Ziele auch miteinander verbündet. Der Kampf um den Acht-Stunden-Tag und Protestbewegungen von LandarbeiterInnen und ethnischen Gruppen zum Beispiel, wurden durch einen Teil der frühen Frauenbewegung unterstützt.
Forderungen nach weiblicher Emanzipation gab es bereits 1836, als eine Gruppe mexikanischer Frauen die Zeitschrift El Semanario de las Senoritas Mexicanas gründete, in der feministische Ideen diskutiert wurden. Die Argentinierin Juana Manso, die heute als Vorläuferfigur der feministischen Bewegung in ihrem Land gilt, veröffentlichte 1852 in Brasilien O’Jornal das Senhoras, eine Zeitschrift “für die gesellschaftliche Verbesserung und die Emanzipation der Frau”. Es war die erste Zeitschrift, die ausschließlich von Frauen geleitet und hergestellt wurde. Ebenfalls in Brasilien initiierte die Feministin Nisia Floresta (1809-1885) eine Reihe von Konferenzen zu Frauenfragen. Sie übersetzte auch Mary Wollstonecraft ins Portugiesische, während die Chilenin Martina Barros de Orrego ihrerseits 1874 John Stuart Mill “Über die Unterdrückung der Frauen” ins Spanische übersetzte.
Zwei Jahre später, also 1876, trug sich eine Gruppe chilenischer Frauen in das Wahlregister eines Bezirks von Santiago ein, und lenkten so die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Ungerechtigkeit ihrer Situation. Empört verhinderte die Mehrheit der männlichen Politiker die Teilnahme der Frauen an der Wahl, nicht ohne klarzustellen, daß die chilenische Verfassung, wenn sie von “Bürgern” spricht, “Männer” meint.

Die Themenpalette erweitert sich

Der Kampf um das Wahlrecht dauerte noch lange an und umfaßte viele Aktionen in zahlreichen Ländern des Kontinents. Bald schon ging es jedoch nicht mehr nur um das Wahlrecht. Im Jahr 1910 fand in Buenos Aires der Erste Internationale Frauenkongress (Congreso Femenino Internacional) statt, und zwischen 1914 und 1915 fand der Feministinnenkongress von Yucatan in Mexiko statt. Die Debatten über Themen wie Prostitution, Scheidung oder die Situation der Arbeiterinnen begannen auf diesen Kongressen.
In den 20er und 30er Jahren dieses Jahrhunderts dann wurden erste lateinamerikanische Frauenparteien gegründet, die ihre Aufgabe darin sahen, die Forderungen von Frauen in die Tagespolitik einzubringen. So etwa die Partido Feminista Nacional de Argentina und die Partido Civico Femenino de Chile, beide 1919 gegründet. 1921 wurde auf einem Frauenkongress in Havanna die Gründung der Partido Nacional Feminista vereinbart.
Sicherlich hatten diese Aktionen nicht die gleiche Wirkung wie die angelsächsischen Bewegungen für das Frauenwahlrecht. Oft handelte es sich nur um sehr kleine Gruppen oder Einzelpersonen, die ihren Kampf über den Journalismus oder in den Konferenzsälen von Kultur- und Wohltätigkeitseinrichtungen austrugen. Die lateinamerikanischen Mentorinnen und ihre Anhängerinnen waren intellektuelle Frauen der Mittelschicht, die meist einen bürgerlichen Beruf erlernt hatten. Der sufragismo, der Feminismus vor und nach dem Ersten Weltkrieg, vertrat also mehrheitlich eine politisch liberale Ideologie, die den sozioökonomischen status quo nicht in Frage stellte. Angesichts der frühnationalen und kolonialen Züge der lateinamerikanischen Gesellschaften muß der frühen Frauenbewegung aber zugutegehalten werden, daß sie in der Lage war, eine wichtige Gruppe von Frauen zu mobilisieren und daß er für seine Zeit sehr progressive Ziele vertreten hat.

“Proletarierinnen aller Länder…”

Während sich die von den Anarchisten und Sozialisten verbreiteten Ideen in Gewerkschafts- und Parteigründungen kristallisieren, betrat eine neue Spielart des Feminismus die Bühne, die ihre Ursache der wachsenden Eingliederung von Frauen in die Lohnarbeit hatte: Man könnte sie als proletarischen Feminismus bezeichnen. Insbesondere der Anarchismus unterstützte die Organisierung der einfachen Arbeiterinnen und auch die Formierung von Frauen mit Führungsqualitäten. Ihre Diskussionen kreisten um die Thematik von Klasse und Gender, wie wir heute sagen würden. Hervorzuheben wäre hier die Kolumbianerin Maria Cano, die als Arbeiteraktivistin ihre sozialistischen Überzeugungen mit ihrem Engagement für die Emanzipation der Frauen verband. Sie organisierte nicht nur Streiks in den Bergbau – und Erdölregionen sowie in den Bananenanbaugebieten, wo sie stets von einer kämpferischen Menge begleitet wurde; sondern attackierte auch gleichzeitig scharf ein Gesellschaftssystem, das sie aus Sicht der Frauen für höchst ungerecht hielt. Sie betonte zum Beispiel 1925, daß Frauen nicht an den Universitäten zugelassen wurden, “wo sie sich die Stellung, die ihnen zusteht, erarbeiten könnten. Nicht einmal das Recht zu denken, das Recht, ihre Meinung zu sagen, gesteht man den Frauen zu. Eingeschlossen wie in einem eisernen Ring müssen sie schweigen, sich wie Wesen ohne eigenes Bewußtsein unterwerfen, während auf ihrem Heim Unterdrückung und Unrecht lasten…”.
In manchen Fällen hat sich der Kampf der sufragistas direkt mit dem Klassenkampf verbunden. Beispielsweise beteiligen sich 1991 einige sufragistas aus der von der Schriftstellerin Zoila Aurora Caceres gegründeten Gruppe Feminismo Peruano an der Organisation einer Frauenversammlung, die die Forderung nach “Verbilligung der Lebenskosten/Grundnahrungsmittel(??)” erhob. Die Versammlung mündete in einem “Marsch gegen den Hunger”, der durch die Straßen von Lima zog. Später gründete Caceres, die als eine der wichtigsten Vorkämpferinnen für das Frauenwahlrecht in ihrem Land gilt, die erste Telefonistinnengewerkschaft.

Errungenschaften der ersten Feministinnen

Was hat der frühe Feminismus in Lateinamerika und der Karibik erreicht? Er hat weite Teile der öffentlichen Meinung auf die defizitären bürgerlichen und politischen Rechte der Frauen, auf ihre Situation der gesetzlich verankerten Unmündigkeit aufmerksam gemacht. Viele Veröffentlichungen, Reden, Bücher und Zeitschriften aus dieser Epoche zeugen von dieser Sensibilisierungsarbeit. Feministinnen wie Juana Manso in Argentinien, Paulina Luisi in Uruguay, Serafina Davalos in Paraguay, Adela Zamudio in Bolivien, Francisca Senhorina da Motta Diniz in Brasilien, Luisa Capetillo in Puerto Rico, Amanda Labarca in Chile, Maria Jesus Alvarado Rivera in Peru und viele andere setzten sich vehement für den Zugang zu Bildung für Frauen und die Änderung diskriminierender Gesetze ein. Natürlich beschränkte sich der Einsatz für diese Sache nicht allein auf die sufragistas, auch Sozialistinnen und Anarchistinnen organisierten Kerngruppen und Schauplätze für den Kampf um Gleichberechtigung. Hier trafen Feministinnen, Gewerkschafterinnen, Parteiaktivistinnen, Berufstätige und Intellektuelle aufeinander. Gemeinsam übten sie erfolgreich Druck aus und erreichten schließlich auch die Unterstützung einiger männlicher Politiker für bestimmte Gesetzesänderungen. Dieser langwierige Kampf wurde 1929 in Ecuador das als erste Land der region Frauen das aktive Wahlrecht zusprach zum ersten Mal von Erfolg gekrönt.
Später wurden dann auch andere Gesetze verändert, die Scheidung, den Zugang zu den Universitäten, das Recht auf Berufsausübung und auf bezahlte Beschäftigung regelten. Diese Errungenschaften hingen auch mit den Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges und dem beschleunigten Verstädterungsprozeß zusammen, der Lateinamerika vor allem seit den 50er und 60er Jahren bestimmte. Paradoxerweise war aber gerade im letzteren Zeitraum der organisierte Feminismus eher schwächer, was in erster Linie mit dem Aufstieg der politischen Parteien und der Gewerkschaftsbewegung zu tun hatte.
Die Zweite Welle des Feminismus in Lateinamerika und der Karibik fand ihren ersten Auftritt vor einem sehr spezifischen Hintergrund: dem antiimperialistischen Kampf der Linken. Die 60er Jahre waren von intensiven ideologischen Debatten der Linken, besonders innerhalb der orthodoxen stalinistischen Parteien bestimmt, insbesondere nach dem Triumph der kubanischen Revolution und den Guerrilla-Aufständen in Bolivien, Kolumbien, Peru und Venezuela. Die romantische Figur des Guerrilleros, die Stilisierung des bewaffneten Kampfes zum “Wahren Weg” in Richtung Sozialismus prägten den Alltag einer ganzen Generation. Tiefgreifende Veränderungen und Mobilisierung kennzeichneten die lateinamerikanischen Gesellschaften: LandarbeiterInnenaufstände in den Andenstaaten, Migration vom Land in die Metropolen, die dort wiederum in Basisbewegungen mündete. LandarbeiterInnen und SlumbewohnerInnen trugen die politische Radikalisierung bis in Gruppen der Mittelschicht, wie StudentInnen, Intellektuelle und FreiberuflerInnen. Auch die Revolution vom Mai ’68 wirkte als ein weiterer Faktor von außen besonders auf Sektoren der marxistischen Linken ein, in denen sich nach dem Scheitern der Guerrilla-Bewegungen eine gewisse Unzufriedenheit breitgemacht hatte.
In dieser Zeit kanalisierte sich das Engagement von Frauen für Veränderungen besonders in den linken Parteien. Figuren wie Haydee Santamaria (Kuba), Lolita Lebron (Puerto Rico), Domitila Chungara (Bolivien), aber auch Tania La Guerrillera, die Gefährtin Che Guevaras in Bolivien, waren die Modelle feministischen politischen Engagements.
Um 1970 aber tauchte das Bild des Feminismus als Importprodukt auf. Die Massenmedien zeigten das Bild nordamerikanischer Feministinnen, die scheinbar nichts anderes zu tun hatten, als sich ihrer BHs zu entledigen. Der Begriff “Feministin” wurde zum Synonym für eine verbitterte Frau, einer Art Anti-Mann, und der aktive Feminismus wurde zur Gefährdung des Klassenkampfes stilisiert. Schon Fidel Castro hatte den Feminismus für schädlich erklärt, da er einer gut durchdachten Strategie des internationalen Kapitalismus gehorche. So litten die ersten Versuche feministischer Aktionen unter den Angriffen und der Ablehnung der Linken – auch der in linken Parteien organisierten Frauen.

Institutionalisierung des Feminismus

Als 1975 die “Frauendekade” der Vereinten Nationen ausgerufen wurde, intensivierten sich die Diskussionen über die “Frauenfrage”, den Feminismus, die Beziehungen zwischen Feminismus und Klassenkampf und Formen der Selbstbestimmung. Neue Gruppen traten auf den Plan, die den ersten Zusammenschlüssen aus den Jahren zwischen 1970 und 1973 folgen. Die erste Konferenz des Internationalen Jahres der Frau, die von den Vereinten Nationen im Juni 1975 ausgerichtet wurde, geriet zum ersten großen Treffen der lateinamerikanischen und angelsächsischen Feministinnen. Gleichwohl – bedingt durch das Engagement der meisten Delegierten in sozialen und parteipolitischen Organisationen – räumte das Schlußdokument auch dem Klassenkampf und umfassenden gesellschaftlichen Veränderungen eine zentrale Bedeutung ein. Bei dieser Gelegenheit bezeichnete die bolivianische BergarbeiterInnenanführerin Domitila Chungara den Feminismus als bourgeois und realitätsfern. Die Zeit war noch nicht reif für einen Dialog zwischen Feministinnen und Aktivistinnen der Linken.
Andererseits durchlebte der lateinamerikanische Kontinent eine schwierige und sehr schmerzhafte Etappe: Neben die bereits institutionalisierten Diktaturen in Brasilien und Paraguay traten die Militärherrschaften in Argentinien, Chile und Uruguay. Mord, Folter, Verfolgung, die Aufhebung der bürgerlichen Freiheiten, Exil und – in dessen Folge – die Auflösung familiärer Bezüge waren die Folgen. Vor diesem Hintergrund reduzierte sich der Handlungsspielraum des Feminismus auf ein Minimum; nur in Ländern mit einem formaldemokratischen System konnten feministische Aktivitäten überhaupt überleben, etwa in Selbsthilfegruppen oder den ersten Frauen-NGOs (1978-1980). Dennoch war gerade das Exil auch Auslöser eines Bewußtwerdungsprozesses bei argentinischen, chilenischen, uruguayischen und brasilianischen Frauen. Viele erlebten die Realität des europäischen Feminismus und gründeten während des Exils eigene Gruppen. Die Rückkehr der ersten Exilierten in ihre Heimatländer fiel so mit dem Erscheinen unabhängiger feministischer Gruppen seit 1980 zusammen.
Außerdem begannen Frauen in der politischen Linken aufzubegehren, die bezüglich ihrer Parteizugehörigkeiten ein neues Selbstbewußtsein entwickelt hatten – schließlich hatte sich ihre Rolle zuvor auch innerhalb ihrer Organisationen auf die “häusliche Arbeit” beschränkt.
Die Abspaltung eines Sektors dieser Parteiaktivistinnen ist in etwa zeitgleich mit dem Auftreten eines “sozialistischen Feminismus”, einer Spielart besonders klassenbewußter Prägung, die sich erst im Laufe der Zeit starrer Schemata entledigte und Konzepte von Patriarchat und Sexualität in ihre Gesellschaftsanalyse einbezog. Manche Ausprägungen des lateinamerikanischen Feminismus lehnten sich stark an den Feminismus des Nordens an, insbesondere in ihrer Betonung von “Bewußtwerdungsprozessen”, dem radikalen Anspruch auf Separatismus bezüglich der Parteien und indem sie die Betonung einer spezifisch weiblichen Sexualität (und auch eine sehr schüchterne Kritik von Zwangsheterosexualität) in den Status politischer Fragen erhoben.

Vielfältige Feminismen und Bewegungen

In den letzten Jahren sieht sich der lateinamerikanische Feminismus neuen praktischen und konzeptuellen Herausforderungen gegenüber. Vor dem Hintergrund der aktuellen neoliberalen Umwälzungen in den Gesellschaften des Kontinents ist seine Situation schwieriger geworden. Die unterschiedlichen Formen des Feminismus wurden nun dazu gezwungen, umfassendere Analysen zu erarbeiten und – beispielsweise – ethnische Fragen zu thematisieren, die in der Region von entscheidender Bedeutung sind. War die Bewegung in ihren Anfängen von akademisch gebildeten Frauen der Mittelschicht und von emanzipierten Berufstätigen dominiert, so stellt sich das feministische Universum heute als ein Konglomerat aus Frauen und Strömungen unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Ansätzen dar. In dem oft als movimiento amplio de mujeres bezeichneten Gesamtzusammenhang finden sich so verschiedene Ausdrucksformen, wie zum Beispiel der feminismo popular (in Organisationen der Armenviertel, der Landarbeiterinnen oder Indígenas), die corriente autonoma (der “Feminismus per se”), der Feminismus in den linken Parteien, in Gewerkschaften und Berufsverbänden, der Feminismus im akademischen Bereich, der NGO-Feminismus und nicht zuletzt der “Regierungs-Feminismus” von Frauen, die in Regierungsinstitutionen beschäftigt sind.
In jedem dieser Bereiche können die Forderungen, die erhoben werden, Elemente aus der liberalen Strömung, Teile des Radikalfeminismus oder aber einer klassenbezogenen Ausrichtung enthalten. Bei bestimmten Gelegenheiten, etwa in Wahlkämpfen oder während internationaler Konferenzen, hat sich gezeigt, daß die zu den jeweiligen Anlässen gebildeten Plattformen eine strategische Kombination aus reformerischen und radikalen Forderungen wählen. Allianzen müssen eingegangen werden, die von vornherein die spezifischen Unterschiede wahrnehmen und respektieren. Es ist dementsprechend unmöglich, weiterhin von nur einem Feminismus zu sprechen, der in der Theorie einheitliche Forderungen vertritt und sich auch in der Praxis homogen darstellt. Neuere Beiträge des postmodernen Feminismus zielen in diese Richtung. Um mit den US-Amerikanerinnen Nancy Fraser und Linda J. Nicholson zu sprechen: Die feministische politische Praxis “wird immer mehr zu einer Angelegenheit von Allianzen. Es gibt keine Einheitlichkeit mehr in bezug auf ein Interesse oder eine Identität, die von allen geteilt werden”. Eine solche Praxis “funktioniert nur in der Form vielfältiger Bündnisse. Keines davon läßt sich auf einen Wesensgehalt festlegen. Vielleicht wäre es besser, immer nur im Plural, von einer Praxis der Feminismen zu sprechen…”. Auch für Lateinamerika ist das ein wichtiger Denkanstoß kurz vor dem Jahr 2000.

aus: Perspectivas 3/1996, Isis Internacional

Vom Recht, sich “das Kleid schmutzig zu machen”

Costa Rica war eines der ersten lateinamerikanischen Länder, das die politische Gleichstellung von Frauen mittels Quotenregelung gesetzlich verankerte. 1990 schon wurde ein Gesetz erlassen, das vorschreibt, die Positionen der Vizeminister, hohe politische Ämter und der Vorsitz staatlicher Institutionen in den ersten fünf Jahren zu mindestens 30 Prozent, in zehn Jahren zu 50 Prozent von Frauen eingenommen werden müssen. Es regelt außerdem, daß weder Männer noch Frauen mehr als 60 Prozent der Kandidatinnen stellen dürfen. Außerdem werden die einzelnen Parteien aufgefordert in ihren Parteistatuen “effektive Mechanismen” festzulegen, die eine Beteiligung von Frauen in der Parteiarbeit und bei der KanditatInnenwahl erleichtert.

Quotierung von KandidatInnen

Die in Lateinamerika am häufigsten praktizierte Form der Ouotierung beruht darauf, daß die Aufstellung der KandidatInnen politischer Parteien beeinflußt wird, eine Einflußnahme, die nur aufgrund der schon praktizierten Kontrolle der Parteien durch staatliche Organe stattfinden kann. Das bedeutet, daß die nationalen Wahlkommissionen die KandidatInnenlisten vor dem Beginn des Wahlkampfs anerkennen müssen, die Anerkennung verweigern, wenn nicht der im Quotengesetz vorgeschriebene Mindestanteil durch Frauen besetzt ist. Deshalb sind Quotenregelungen in Lateinamerika fast ausschließlich als Veränderungen der Wahlgesetze verabschiedet worden, nicht als Anti-Diskriminierungsgesetze per se.
Die weitreichendsten dieser Quotenregelungen sehen 30 Prozent der Kandidatinnenplätze auf den Listen der politischen Parteien für Frauen vor. Eine solche Regelung findet sich beispielsweise in Argentinien. Im November 1991 wurde hier das Gesetz Nr. 24.012 verabschiedet, welches vorschreibt, daß “die Liste der Kandidaten für ein öffentliches Amt mindestens 30 Prozent Frauen enthalten muß. Listen, die dieses Kriterium nicht erfüllen, dürfen nicht veröffentlicht werden.”
Auch in der Dominikanischen Republik gibt es seit diesem Jahr ein vergleichbares Gesetz, welches fordert, daß ein Minimum von 30 Prozent der KandidatInnen aller politischen Parteien und Gruppierungen für das Nationalparlament und die Provinzparlamente Frauen sein müssen. In Brasilien gibt es seit 1996 eine 20 Prozent Quote bei der KandidatInnenaufstellung, die von einem Zusammenschluß aller Parlamentarierinnen durchgesetzt wurde.
In Chile wurde dieses Jahr dem Parlament ein Gesetzesvorschlag über eine Frauenquote von 20 Prozent vorgestellt. Er wurde allerdings bisher noch nicht verabschiedet. In Mexiko dagegen ist schon im letzten Jahr ein Gesetzesvorschlag, der eine 30 Prozent Quote vorsah, an den Stimmen der Abgeordneten der Partido Revolucionario Institutional (PRI) gescheitert.

Freiwillige Quoten

Zusätzlich finden sich in anderen Ländern Frauenquoten als freiwillige Verpflichtungen einzelner Parteien. So garantieren zum Beispiel die Sozialistische Partei in Uruguay, die Partido Colorado in Paraguay und die Partido de la Revolución Democrática (PRD) in Mexiko eine Quote von 30 Prozent für Frauen. Die Partido por la Democracia (PPD) in Chile hat eine 20 Prozent Quote eingeführt. Auch die PT in Brasilien hat nach langen Auseinandersetzungen eine Quote von 30 Prozent für alle Parteiämter eingeführt. “Es war ziemlich schwer, diese Quote in der Partei einzuführen”, so Benedita da Silva, Gründungsmitglied der PT und seit 1994 im Brasilianischen Senat. “Einige Männer meinten, es gäbe gar keine Diskriminierung in der Partei und alle Frauen könnten hohe Parteiämter erlangen, wenn sie nur kompetent seien. Wir Frauen haben dagegengehalten: ‘Was denkt ihr eigentlich? Wir haben schon lange genug gezeigt, daß wir kompetent sind, erhalten aber nicht die entsprechende Anerkennung dafür’. Wir mußten sie also erst überzeugen, daß eine Quote notwendig ist, weil Diskriminierung der Grund ist, daß keine Frauen in hohen Positionen waren.”

Zusammenarbeit über politische Grenzen hinweg

Die Diskussionen um Quoten haben in allen Ländern dazu geführt, daß sich Frauen – teilweise auch Männer – aus verschiedenen politischen Gruppen oder unterschiedlichen Richtungen, aus Parteien und sozialen Bewegungen, in mehr oder weniger losen Koalitionen zugunsten der Quotenforderung zusammengeschlossen haben. Nur dort wo Zusammenschlüsse von Frauen mit massiver Unterstützung in der Öffentlichkeit eine Quotenforderung gestellt haben, waren diese auch erfolgreich, wie das argentinische Beispiel verdeutlicht.
Obwohl dort zwei unterschiedliche Versionen des Quotengesetzes zuerst von Abgeordneten der Unión Civica Radical, Senator Margarita Malharro, Norma Allegrone und Florentina Gomez Miranda im Senat und im Repräsentantenhaus vorgestellt wurden, erhielt es sofort Unterstützung von Vertreterinnen der anderen Parteien. Und obwohl die Stimmung vorher gegen das Quotengesetz gewesen war, wurde es überraschenderweise schon im September 1990 vom Senat verabschiedet. “An jenem Tag haben wir alle unsere Kollegen mobilisiert und um ihre Unterstützung gebeten”, so die Senatorin Malharro, “trotzdem hatten wir nicht viel Hoffnung und waren sehr überrascht, als die Abstimmung positiv verlief. Das war eher eine Frage des Glücks für uns.”
Ganz anders der Entscheidungsprozeß im Repräsentantenhaus: Als das Gesetz am 6. November 1991 debattiert werden sollte, war eine große Gruppe von Frauen als Beobachterinnen auf der Galerie, in den Fluren und auf den Straßen und Plätzen in der Nähe des Kongresses. Sie verliehen ihren Forderungen durch Rufe, Gesang und teilweise durch direkte verbale Angriffe auf die männlichen Abgeordneten während der Debatte Ausdruck. Frauen aus unterschiedlichen politischen und sozialen Gruppen und Vertreterinnen unterschiedlicher Ideologien waren sich einig in der Unterstützung des Gesetzes. Es war ihnen außerdem gelungen, die weiblichen Abgeordneten, die das Gesetz nicht unterstützten wenigstens dazu zu bringen, es nicht öffentlich zu kritisieren.

Nicht einmal Frauentoiletten im Parlament

Die Brasilianerin Benedita da Silva erzählt ähnliches über ihre Zeit als Abgeordnete: “Als ich zuerst gewählt wurde, waren nur 26 von 599 Abgeordneten Frauen. Das war so eine Männerwelt, daß es nicht einmal Frauentoiletten gab. Und die Männer behandelten uns mit einem unglaublichen Paternalismus! Sie wollten auch, daß Frauen nur über Frauenangelegenheiten sprechen und versuchten, uns aus allen anderen Diskussionen rauszuhalten. Ich als Vertreterin der PT interessierte mich aber für die Agrarreform und die Rechte der ArbeiterInnen. Um gegen ihre Vorurteile anzugehen, fing ich also an, über “Frauen und die Agrarreform” zu reden, oder über “Frauen und Rechte am Arbeitsplatz”, Frauen und alles mögliche, bis sie mich endlich in allen diesen Bereichen ernst genommen haben.”
Gegen diese männliche Übermacht sind die Frauen aller Parteien in Brasilien dann zusammengekommen und haben eine nationale Kampagne gestartet, um eine Frauenquote von 20 Prozent bei allen KandidatInnen zu verlangen. “Das war ein tolles Beispiel dafür, wie Frauen mit ganz unterschiedlichen politischen Überzeugungen, gemeinsam mit der Frauenbewegung aus allen Teilen des Landes, zusammenkommen können. Wir haben gemeinsam alle Parteien zwingen können, den Frauenanteil in ihren Reihen zu erhöhen.”

Allheilmittel gegen Machismo…

Dabei ist allen Beteiligten vollkommen klar, daß es sich bei der Quotenregelung keinesfalls um ein Allheilmittel gegen Machismo oder jede Art von Benachteiligung handelt. Eine Quote von 30 Prozent bei der Aufstellung der KandidatInnen erhöht ja nur in den seltensten Fällen den Frauenanteil wirklich auf 30 Prozent. Sie sagt an sich ja noch nichts darüber aus, ob Frauen auf aussichtsreichen Listenplätzen landen. Selbst wenn Frauen auf jedem dritten Listenplatz stehen, führt das vor allem bei kleineren Parteien, die nicht viele Sitze gewinnen, am Ende auch wieder zu einer weitaus geringeren Repräsentation von Frauen.
Letztlich haben Quoten bei der KandidatInnenaufstellung aber doch in allen Ländern dazu geführt, daß mehr Frauen in die Parlamente gelangen. In Argentinien beispielsweise halten Frauen seit den Wahlen 1994 ein Viertel der Sitze im Parlament, der höchste Frauenanteil in der Geschichte Argentiniens.
Schlechter sieht es dann allerdings bei der Verteilung von Plätzen im Kabinett aus, wo in keinem lateinamerikanischen Land eine Quotenregelung praktiziert wird. In Argentinien hat die erhöhte Anzahl von Parlamentarierinnen nicht dazu geführt, daß nun Frauen auch tatsächlich mehr Regierungsämter bekleiden und sich in den Rängen mit hoher politischer Verantwortung wiederfinden. Im Vergleich dazu finden sich mehr Frauen auf ministerieller Ebene in Ländern, die keine gesetzlich geregelte Quote bei der KandidatInnenaufstellung, haben so zum Beispiel in Chile und Venezuela. Und in den karibischen Staaten bekleiden Frauen bis zu 20 Prozent der Ämter auf Ministerialebene. Auch ohne daß die Listen der KandidatInnen quotiert sind, halten Frauen in der Karibik im Durchschnitt 18 – 20 Prozent der Sitze im Parlament.

… oder Gnade der Mächtigen?

Was eine Quote real für Frauen bringt, ist umstritten. Selbst in den Ländern, in denen Quotenregelungen bestehen, sind sich die KommentatorInnen uneins, ob die Quoten den Frauen denn nun auch tatsächliche politische Handlungsmöglichkeiten verschaffen oder ob Frauen – mit oder ohne Quote – nur nach oben gelangen, weil sie durch Partei-Patriarchen unterstützt werden oder anders von Männern abhängig sind. Diese “Quotenfrauen”, so wird erwartet, machen sowieso keine progressive Politik.
Die Bolivianerin Sonia Montaño beobachtet zum Beispiel, daß “die wenigen Frauen, die nach oben kommen, eine solch große Bringeschuld gegenüber den parteipolitisch Mächtigen haben, daß sie fast immer nur zustimmend die Hand heben, mit der Mehrheit der Partei stimmen, um Konflikte zu vermeiden oder plötzlich blind werden für Menschenrechtsverletzungen.” Sie fügt deshalb unmißverständlich hinzu: “Von solchen Frauen wollen wir nicht mal 15 Prozent.”

Verändern Quoten Politik?

Forderungen nach Quoten wurden in der Öffentlichkeit manchmal so wahrgenommen, als ob sie nur den Partikularinteressen der parteipolitisch aktiven Frauen entgegenkommen, aber keine Relevanz für Normalbürgerinnen haben. Das hat einerseits die Vehemenz von Quotenforderungen geschwächt. Andererseits aber hat es dazu geführt, daß die Politikerinnen nur in intensiven Diskussionen über Politikstile und -inhalte die Unterstützung für Quoten durch Frauen der sozialen Bewegungen gewinnen konnten und ihr Verhalten im Parlament stärker beobachtet wurde. “Es war schwierig, dieses neue Konzept von Gleichheit durchzusetzen”, so die argentinische Abgeordnete der Frente Grande, Cecilia Lipczik, “nicht nur gegenüber der männlichen Welt, sondern auch der weiblichen Welt gegenüber.”
Die Diskussionen um Quoten spiegelten so die Debatte der Frauenbewegungen weltweit wider: Gibt es allen Frauen gemeinsame Interessen, die nur von Frauen vertreten werden können, und praktizieren Frauen als solche einen anderen Politikstil?
Insgesamt blieb es jedenfalls bisher eine Wunschvorstellung, daß sich feministische Überzeugungen, soziales Engagement und progressive politische Inhalte und Stile in einer Machtposition vereinigen. “Wenn auch Frauen anders als Männer sein mögen, so muß doch auch klar sein, daß nicht alle Frauen automatisch auf die Bedürfnisse anderer Frauen achten oder auf Gender-Fragen im allgemeinen. Mehr Frauen in wichtigen Positionen bedeuten deshalb noch lange nicht, daß auch mehr Aufmerksamkeit auf die Diskriminierung von Frauen gelegt wird”, so die Journalistin Anna Fernandez Poncela. Deshalb wäre es trügerisch, es als Erfolg zu werten, daß in Ecuador die Vizepräsidentin inzwischen eine Frau ist. Alexandra Vela bezeichnet sich selbst weder als Feministin noch hat sie besonderes Interesse an der Verbesserung der Situation von Frauen geäußert, auch wenn sich das mittlerweile ein wenig zu ändern scheint.
Auch das Beispiel Violettá Chamorros, der ehemaligen Präsidentin Nicaraguas, zeigt, wie wenig sich positive Veränderungen des Geschlechterverhältnisses einstellen müssen, nur weil eine Frau politische Entscheidungsträgerin ist.
Insgesamt scheint sich aber die Meinung durchzusetzen, daß sich die “Qualität der Debatte” durch die Anwesenheit von Frauen verbessert habe und daß eine “Erweiterung des demokratischen Raums offensichtlich geworden sei, weil “das Thema Frauendiskriminierung” notwendigerweise behandelt werden mußte, auch von Politikern und Parteien, die sich sonst nicht damit beschäftigt hätten”, betont die brasilianische Feministin Graciela Rodriguez.
Quotenregelungen können also reale Möglichkeiten schaffen für mehr Pluralismus und für die Ausübung von Kritik und Kontrolle durch Frauen – im Parlament und von außen. Formal müssen Frauen dann jedoch überhaupt erst das Recht erhalten, genauso schlechte Politiker zu sein wie die Männer. Unter den “Quotenfrauen” werden dann hoffentlich auch so manche dabei sein, die andere politische Inhalte vielleicht sogar mit anderen Politikstilen verbinden und streitbare Alternativen innerhalb des politischen Systems formulieren.
Die nicaraguanische Feministin Sofía Montenegro drückt das so aus: “Der Kampf um die Rechte von Frauen muß aus dem Inneren des Systems heraus stattfinden. Sonst werden weiterhin andere Entscheidungen treffen ohne uns zu fragen. Irgendeine von uns muß jetzt hier ihr Kleid schmutzig machen, um für uns alle neue Wege zu eröffnen.” Die Erfahrung mit Frauenquoten und institutionalisierter Gleichstellungspolitik in anderen Ländern wie zum Beispiel hier in der Bundesrepublik hat allerdings gezeigt, daß Quotendiskussionen die Energien der Frauenbewegungen eher aufsaugen und zum Verlust feministischer politischer Kreativität zu führen scheinen. Die Frage ist also noch offen, ob die Machtumverteilung und Politikveränderung durch Quoten, in Lateinamerika wie anderswo, die Frauenbewegung zum zahnlosen Tiger macht.

Argentiniens Kampf gegen die Haare

Summa summarum war Ar­gen­tinien in den letzten 20 Jah­ren die er­folg­reichste la­tein­ame­ri­ka­ni­sche Mann­schaft. Zweimal Welt­meister (1978 und 1986) und zweimal Amerikameister (1991 und 1993). Seitdem ist al­ler­dings der Wurm drin. Bei der Qua­lifikation zur WM 94 setzte es in Buenos Aires mit dem 0:5 ge­gen Kolumbien die höchste Heim­schlappe in der Länder­spiel­geschichte, bei der WM selbst wurde Maradona des Do­pings überführt und Argentinien schied ohne ihn und den ver­letz­ten Caniggia bereits im Ach­tel­fi­nale aus. Der Trainer Al­fredo Ba­sile wurde entlassen und durch Maradonas Intimfeind Da­niel Passarella ersetzt. Passarella, der Kapitän der Weltmeister­trup­pe von 1978, ist bis heute sauer auf Maradona, den Welt­mei­ster­ka­pitän von 1986. Der Grund: Pas­sarella gehörte 1986 noch zum WM-Aufgebot und hätte als er­ster Argentinier zum zweiten Mal Weltmeister werden können. Spie­len durfte er indes nicht, sei­ner Meinung nach we­gen Mara­do­na, der ihm den Ruhm nicht gönnte und deswe­gen für José Luis Brown als Li­bero plädierte. Je­denfalls stellte Trainer Carlos Bi­lardo Brown auf, Argentinien wur­de Weltmei­ster und die In­tim­feindschaft Passarella-Mara­do­na nahm ihren Lauf.
Kettenraucher Passarellas er­ste Amtshandlung war denn auch ziel­gerichtet: Spieler mit langen Haaren und/oder mit Ohrringen hät­ten in der Nationalmannschaft fort­an nichts mehr zu suchen. Klar wem diese Maßnahme in er­ster Linie galt: dem ohrbe­ring­ten Maradona und dessen lang­mäh­nigem Freund Caniggia. Ei­ne glatte Überreaktion, war doch Ma­radona wegen seines Do­ping­ver­gehens ohnehin 15 Mo­nate ge­sperrt und damit für die Na­tio­nal­mannschaft kein Thema. Ca­nig­gia wiederum war in Europa wie­der einmal auf Ver­einssuche un es war äußerst un­klar, ob er über­haupt weiter für die Aus­wahl spielen wollte. Über­re­ak­tion aber insbesondere des­we­gen, weil neben Caniggia auch zwei andere Starspieler der Mann­schaft, Mittelfeldspieler Fer­nando Redondo und Torjäger Gab­riel Batistuta lange Mähnen zier­ten.

Der Trainer als Frisör

Die Reaktionen fielen un­ter­schiedlich aus: Caniggia wollte erstmal eine Pause einle­gen, Redondo machte klar, daß sei­ne langen Haare ein Teil sei­ner Persönlichkeit seien und er un­ter diesen Bedingungen nicht wei­ter spielen würde, Batistuta be­suchte hingegen flugs den Fri­sör und ließ sich die Haare schnei­den. Für ihn stand auch am mei­sten auf dem Spiel. Schließ­lich war er auf dem besten We­ge, Maradona als Rekordtor­schütze der Nationalmannschaft zu verdrän­gen, Pausen à la Ca­nig­gia kämen da ungelegen.

Die Krise geht weiter

Passarellas erstes Turnier, die Copa America 1995 in Uruguay, wur­de zum Fehlschlag. Mara­do­na ließ sich von seinem Feri­enort ein­fliegen, begutachtete die Spie­le und lästerte über die Dar­bie­tungen. Vor allem die bla­mab­le 0:3 Niederlage gegen die USA gab ihm dafür reichlich Muni­tion. Das unglückliche Aus­schei­den gegen Brasilien folgte auf dem Fuß, der Hausse­gen hing schief. Nur noch ein knap­pes Jahr bis zur Qualifika­tion und der argentinische Fuß­ball in der großen Sinnkrise. Zwei Tur­nie­re hintereinander frühzeitig ge­scheitert, die ein­stige Tur­nier­mann­schaft par ex­cellence be­gann an sich zu zwei­feln.

Ein haariger Kompromiß

Maradonas Sperre war unter­des­sen abgelaufen und Caniggia nach Argentinien zurückgekehrt. Bei seinem letzten Klub in Eu­ro­pa, Benfica Lissabon, war Ca­nig­gia wegen unmotivierten Auf­trit­ten bei den Fans derart in Un­gna­de gefallen, daß er auf of­fener Straße eine Abreibung ver­paßt be­kam. Daraufhin kehrte er der eu­ropäischen Diaspora den Rük­ken, zumal Maradona bei Boca Ju­niors sehnsüchtig auf seinen er­klärten Lieblingsmit­spieler war­tete. Wenn sie zu­sammen spiel­ten, harmonierten sie wie Zwil­linge. Wenn, denn oft war der eine oder der andere verletzt, be­ziehungsweise wegen roter Kar­ten gesperrt. Titel blie­ben so für Argentiniens populär­sten Club Boca Juniors de Bue­nos Aires aus.
Dennoch geriet Passarella zu­neh­mend unter Druck. Er mußte den Kader für das erste Qualifi­ka­tionsspiel gegen Bolivien be­nen­nen und Caniggia spielte im­mer stärker. Wiedereinmal mischte sich der Fuß­ball­fan und Staatspräsident Menem ein. Caniggia sei unver­zicht­bar, Maradona eigentlich auch, aber der würde ja nicht mehr wollen.
Was nun Passarella?
Caniggia zeigte sich kom­pro­miß­bereit. Um ganze drei Zen­ti­me­ter ließ er sich die Haare schnei­den. Passarella konnte an die­ser Geste des guten Willens nicht vorbeigehen und berief Ca­nig­gia ins Aufgebot. Alles in But­ter, da sich das Problem Re­don­do wegen dessen Verletzung zu diesem Zeitpunkt nicht stellte. Caniggia kam, sah und siegte. Ar­gentinien schlug Bolivien 3:1, Caniggia wurde zum man of the match gewählt und der große Fa­vo­rit schien wieder auf den Er­folgs­pfad zurückgekehrt zu sein.

Ecuadors bolivianische Taktik

Nach dem Heimspiel in Bue­nos Aires stand das Auswärts­spiel in Ecuador an. Ecuador konnte sich noch nie für eine Welt­meisterschaft qualifizieren. Bis 1994 hatten sie diese Bilanz mit Bolivien gemeinsam. Boli­vien setzte damals auf die Karte La Paz, Fußball in der Höhe von 3600 Meter, da geraten die Flach­landbewohner aus Argenti­nien, Uruguay und Brasilien aus der Puste. Nun, Ecuador besann sich seiner geographischen und kli­matischen Möglichkeiten und terminierte die Partie auf High Noon in der Höhe von 2700 Me­ter in Quito bei Temperaturen von 28 bis 30 Grad. Passarella be­zeichnete die Höhe als zusätz­li­chen Spieler Ecuadors. Mit 20 Li­tern Sauerstoff sollte dieser zu­sätzliche Spieler bekämpft wer­den. Es war vergebens und der ecuadorianische Torwart Car­los Morales behielt Recht: “Ba­tistuta und Caniggia werden Schwindel­anfälle bekommen und sich zeitweise nicht bewegen kön­nen”. Das argentinische Stür­mer­duo war wirklich nur ein laues Lüftchen, die 0:2 Nieder­lage die logische Konsequenz. Ecua­dor hat nebenbei bemerkt mit dieser Strategie vier seiner bis­herigen fünf Heimspiele ge­won­nen, nur gegen die Allklima­spie­ler aus Kolumbien gabs eine 0:1 Niederlage. Auch die Aus­wärts­bilanz Ecuadors spricht für sich: drei Spiele, ein Tor, null Punkte. Bisher reicht das für den vier­ten Platz.

Zurück in der Krise

Das nächste Auswärtsspiel Ar­gentiniens war nun in Perus Haupt­stadt Lima. Ausreden gebe es hier nicht, meinte Passarella. Mit viel Glück konnten die Ar­gen­tinier ein torloses Unent­schie­den retten. Neben dem Tor­wart Burgos war Abel Balbo der auf­fälligste Spieler Argenti­niens: Mit einem brutalen Foul setzte er sich gekonnt in Szene und durfte schon nach einer hal­ben Stunde duschen gehen. Ca­niggia übte nach dem Spiel Selbstkritik: “Ich schä­me mich nicht, zuzugeben, daß ich gegen Peru schlecht ge­spielt habe. Ich suche keine Ent­schul­digungen, ihr (die Medien) müßt schon die fragen, die nach Ent­schuldigun­gen suchen.” Vor­erst war es wiedereinmal das letzte Spiel Caniggias. Seit Juli 1996 macht er wieder Pause, suchte bisher erfolglos einen Ver­ein in Europa und befindet sich nun wieder in Ver­hand­lun­gen mit Boca, wie auch Spezi Diego Maradona.
Ohne seinen gewohnten Sturm­partner Caniggia machte sich Gabriel Batistuta im näch­sten Spiel gegen Paraguay auf die Socken, Maradonas Länder­spiel­torrekord von 34 zu über­bie­ten. Ein Schuß, ein Tor und Batigol hatte sein Ziel erreicht. Die Show wurde ihm dennoch ge­stoh­len. Im Tor Para­guays steht nämlich José Luis Chi­la­vert, Torhüter und Torjäger in ei­ner Person. Der Keeper des ar­gen­tinischen Vereins Velez Sars­field hatte vor dem Spiel an­ge­kün­digt, einen Treffer zu ver­sen­ken. Nichts ungewöhnliches für Chi­lavert, der schon über 30 Elf­meter- und Freistoßtore zu Buche stehen hat. Er hielt Wort, schnapp­te sich kurz vor Ende des Spiels den Ball und traf mit ei­nem Freistoß zum 1:1 Endstand. Ar­gentinien war schwer getrof­fen. Ausgerechnet der Gastar­bei­ter. Wenige Tage später stand eine Sportgerichtsverhandlung an. Chilavert hatte während eines Punkt­spiels eine leichte Tätlich­keit begangen, die nun schwer ge­ahndet wurde. Mehrere Mo­na­te Ausschluß vom Spielbetrieb lau­tete das erste Urteil. Chilavert war mit Recht sauer und kün­dig­te seinen Weggang aus Ar­gen­ti­nien zum Jahresende 1997 an. Das Urteil wurde revidiert, Chi­la­vert spielt und trifft weiter, aber nicht immer. Kürzlich ver­lor er seinen Nimbus als unfehl­ba­rer Elfmeterschütze und ver­sieb­te gleich deren zwei in einem Punkt­spiel. Paraguay hat es indes in erster Linie seinen Leistungen zu verdanken, daß es nach Ab­schluß der Vorrunde hinter Ko­lum­bien an zweiter Stelle steht, punkt­gleich mit dem Ersten und ge­radezu selbstverständlich mit den wenigsten Gegentoren.
Argentiniens Selbstbewußt­sein war heftig angeknackst, ge­gen Mannschaften wie Peru und Pa­raguay nicht zu gewinnen, war reich­lich ungewohnt. Venezuela kam da als Aufbaugegner gerade Recht. Jahrelang hatte das vene­zo­lanische Team kein Länder­spiel gewinnen können, von Punk­ten bei Qualifikationsspie­len ganz zu schweigen. Diesmal stand derweil schon ein Punkt aus dem Spiel gegen Chile zu Buche, deren Trainer daraufhin zu­rücktrat. Gegen Argentinien lang­te es immerhin zu einem Füh­rungs- und Anschlußtor. Zwei Tore in einem Spiel. Die Vene­zolaner hatten getroffen wie nie zuvor und doch verloren wie fast immer. Überzeugen konnten die Argentinier trotz ihrer fünf Tref­fer nicht, das Ziel Selbstbe­wußt­sein für die anstehenden Spie­le zu tanken, schlug fehl.
Die folgenden zwei Spiele gegen Chile und in Uruguay brach­ten das alte Leid. Krampf und Kampf und zwei schmei­chel­hafte Unentschieden. Und nur noch vier Wochen bis zum letz­ten Vorrundenspiel beim bis dato ungeschlagenen Tabellen­füh­rer Kolumbien. Unterdessen glänz­te der wiedergenesene Re­don­do beim designierten spani­schen Meister Real Madrid wäh­rend Passarella ungewohnte Töne von sich gab. Hatte er noch eini­ge Monate zuvor Maradona als abschreckendes Beispiel für den argentinischen Fußball be­zeich­net, jammerte er nun ge­gen­über dem Präsidenten von Lazio Rom, Dino Zoff: “Argentinien sehnt sich nach großen Namen. Wie Italien, das Zoff, Bettega, Causio und Paolo Rossi verloren hat. Wir in Ar­gentinien haben kei­nen Mara­dona mehr, das ist viel schlim­mer.” Maradona zu be­rufen kam im natürlich nicht in den Sinn, zum einen war die­ser vereinslos und zudem hatte er in seiner vor­erst letzten Spielzeit bei Boca vorallem dadurch auf sich auf­merksam gemacht, daß er sage und schreibe fünf Elf­meter hin­tereinander ver­schos­sen hatte. Von den gegnerischen Fans ver­spottet, von Selbst­zwei­feln ge­plagt, machte er sich dann zwecks Entziehungskur und Er­ho­lung Richtung Europa auf, um nach seiner Rückkehr nun wieder die Medien mit immer neuen Ver­tragsvorstellungen auf Trab zu halten. Maradona also nicht, den vereinslosen Caniggia auch nicht, da blieb nur noch Re­don­do. Dieser wurde berufen, kam aber nicht. Der Streit um die Haare war für ihn noch aktuell und in der Annahme, daß er sei­ne Haare mindestens um drei Zen­timeter kürzen müßte, sagte er ab. Batistuta war zudem we­gen einer Formkrise nicht mal be­rufen worden, so daß Argenti­nien zum ersten Mal seit der WM ohne einen der drei damali­gen langhaarigen Leistungsträger Re­dondo, Batistuta und Caniggia an­trat. Argentinien gewann 1:0 und ist nun Dritter. Die Zeichen ste­hen seitdem wieder auf Kurz­haar­schnitt, aber bis zur WM 1998 ist noch Zeit und Caniggia wird nicht ewig Pause machen.

Zweckehe im Isthmus?

Da gab es die kriegerischen Unternehmungen des Söldnerführers William Walker aus Tennessee, der in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Nicaragua aus den ganzen Isthmus unterwerfen wollte, und die des liberalen Präsidenten von Guatemala, Justo Rufino Barrios, der eine Einheit unter guatemaltekischer Hegemonie anstrebte. Walker scheiterte weil sich alle fünf Republiken gegen ihn zusammentaten, Barrios dagegen scheiterte weil die fünf für eine gemeinsame Regierung doch zu individualistisch waren. In diesem Jahrhundert setzte man eher auf friedliche Mittel und wirtschaftliche Integration. Meist steckten hierbei Interessen der USA dahinter.
Wer Zentralamerika kennt, der weiß, wie schwierig es ist, den Isthmus auf dem Landweg zu durchqueren. Die bis vor kurzem bestehende Visapflicht, umständliche Amtswege für die Grenzüberschreitung mit Privatfahrzeugen, Willkür bei der Zollabfertigung und schlechte Straßen garantieren den Fluggesellschaften, die zwischen den Hauptstädten verkehren, ein sicheres Geschäft. Und das, obwohl die Tarife für die Anzahl der Flugkilometer deutlich überhöht ist. Der grenzüberschreitende Busverkehr – mit Ausnahme der Strecke Guatemala-El Salvador – ist mühsam und unbequem. Eine moderne Eisenbahnlinie von Guatemala bis Panama, die das Reisen und den Gütertransport innerhalb der Region dramatisch vereinfachen und verbilligen würde, ist bisher nicht einmal ernsthaft diskutiert worden. Es wird den Brüdern und Schwestern der Region also nicht leichtgemacht, einander näherzukommen. Deswegen gibt es auch mehr NicaraguanerInnen, die Miami kennen, als solche, die schon einen Urlaub in Guatemala verbracht haben und mehr Salvadorianer, die in Los Angeles aus- und eingehen als im nur zwanzig Flugminuten entfernten Tegucigalpa. Das Vorurteil blüht: so gelten die Ticos (Costa Rica) als hochnäsig, die Nicas als faul und gewalttatig, die Catrachos (Honduras) als doof, die Guanacos (El Salvador) als übertrieben strebsam und die Chapines (Guatemala) als verschlagen.
Eine Ausnahmeerscheinung ist das Volk der Miskitos am Río Coco, für die der Grenzfluß zwischen Nicaragua und Honduras nie eine maßgebliche Trennungslinie gewesen ist. Für sie war es bis zur Aufrüstung der Konterrevolution während der sandinistischen Jahre selbstverständlich, auf der einen Seite zu leben und auf der anderen das Feld zu bestellen. Und die Mobilität der Arbeitskraft war schon in den 70er Jahren eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Ohne die ArbeiterInnen aus Honduras und El Salvador wären die Expansion der Kaffeewirtschaft und der Baumwollboom in Nicaragua nicht denkbar gewesen. Und heute würden die Bananenplantagen in Costa Rica ohne die legal oder illegal eingereisten WanderarbeiterInnen aus Nicaragua nicht auskommen.

Versuche der Kooperation

Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua und Costa Rica, mit einer Gesamtfläche von 432.000 Quadratkilometern und 27 Millionen EinwohnerInnen, sind nicht nur Länder mit einem guten Stück gemeinsamer Geschichte, sie sind auch Konkurrenten, die ihre traditionellen Produkte wie Kaffee, Bananen, Zucker und Baumwolle auf denselben Märkten placieren wollen. Bis in die 60er Jahre waren es fast reine Agrargesellschaften, die ausreichend Nahrungsmittel für den Eigenbedarf produzierten, aber gleichzeitig mit Exportmonokulturen einem zunehmenden Bedarf in den USA entgegenkamen. Erst nach 1960, als die Kennedy-Regierung mit der Allianz für den Fortschritt in Lateinamerika ein Bollwerk gegen das castristische Kuba schaffen wollte, wurden politische Reformen und Industrialisierung gefördert. In diesem Rahmen wurden in Zentralamerika drei Organisationen geschaffen: auf der politischen Ebene die Organisation Zentralamerikanischer Staaten (ODECA), auf der militärischen der Zentralamerikanische Verteidigungsrat (CONDECA) und auf der wirtschaftlichen der Zentralamerikanische Gemeinsame Markt (MCCA). Dem letzteren lag die Idee zugrunde, daß nur der gemeinsame Markt die Industrieproduktion lohnend mache. In jedem Land sollte ein Zweig für die Versorgung der gesamten Region angesiedelt werden, um größere Mengen zu vertretbaren Stückkosten herzustellen: etwa Zahnpasta in Guatemala, Schuhe in El Salvador und Seife in Nicaragua. Die Anfänge waren vielversprechend, zumal die wirtschaftliche Konjunktur die Kaufkraft der Konsumenten steigerte. Doch MCCA und CONDECA scheiterten mit dem Ausbruch des sogenannten Fußball-Krieges zwischen Honduras und El Salvador. Nicht an primitivem Sportchauvinismus, wie der Name der dreitägigen bewaffneten Auseinandersetzung suggeriert, sondern an der unterschiedlichen demographischen Struktur der Länder. Aus dem überbevölkerten El Salvador hatten sich tausende BäuerInnen auf honduranischem Boden angesiedelt, von wo sie im Zuge einer demagogischen Agrarreform des honduranischen Militärdiktators vertrieben wurden.

Der Wunsch der USA: gegen Nicaragua vereint

Diese Wunden waren noch nicht verheilt, als in Nicaragua die sandinistische Revolution ausbrach. Die Solidarität, die die honduranische Bevölkerung während des Volksaufstandes den Flüchtlingen vor Somozas Nationalgarde entgegengebracht hatte und die Sympathien der Nachbarvölker für das neue Gesellschaftsmodell waren bald gebremst. Als Flüchtlinge kamen jetzt Soldaten der aufgelösten Nationalgarde, und das Grenzgebiet wurde in eine Aufmarschbasis für die Konterrevolution verwandelt. Auch an der Südgrenze zu Costa Rica wurde Nicaragua zunehmend isoliert. Während Nicaragua mit einem Wirtschaftsembargo bestraft wurde, bekamen die loyalen Länder Vorzugsquoten für den Export von Zucker und anderen Rohstoffen in die Vereinigten Staaten zugebilligt. Die USA förderten aber auch eine Integration Zentralamerikas gegen Nicaragua, vor allem auf der Ebene der Streit- und Sicherheitskräfte. Bleibendster Effekt dieser Vernetzung sind die Autoschieberringe und Drogenbanden, die in den Polizeiapparaten von El Salvador, Honduras und Guatemala aufgebaut wurden.
Von der Europäischen Gemeinschaft wurde die diskriminierende Wirtschaftspolitik nicht geteilt. Im Gegenteil: die EuropäerInnen setzten auf Integration statt Isolation Nicaraguas und machten seit Mitte der 80er Jahre ihre multilaterale Wirtschaftshilfe von einer regionalen Einigung abhängig, die jedes Jahr bei den San-José-Nachfolgetreffen erneuert wird. Doch die Programme waren zu dürftig, um gegen die Machtpolitik der USA eine echte Annäherung der verfeindeten Regierungen durchsetzen zu können.

Die neunziger Jahre: Ära des Freihandels

Erst im Jahre 1990, als die Sandinisten in Nicaragua abgewählt wurden, konnte die regionale Integration aller wieder versucht werden. Seit sich in den USA unter Präsident George Bush die Überzeugung durchsetzte, daß die größte Wirtschaftsnation der Welt auf Dauer gegenüber einem geeinten Europa und einem boomenden Ostasien nur bestehen kann, wenn sich der ganze Kontinent in einen gemeinsamen Wirtschaftsraum verwandelt, ist von Labrador bis Feuerland Integration angesagt. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen zwischen Kanada, Mexiko und den USA (NAFTA) sprengte die Grenzen zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern – für den Kapitaltransfer, nicht für den Verkehr menschlicher Arbeitskraft. Freihandel heißt die Devise, die in ganz Lateinamerika aufgegriffen wurde. Plötzlich wurde dem Mercosur, zu dem sich Argentinien, Brasilien, Uruguay und Chile schon lange zusammengeschlossen hatten, neues Leben eingehaucht. Mexiko, Venezuela und Kolumbien schlossen ein Freihandelsabkommen und auch der Andenpakt wurde wiederbelebt.
Da konnte Zentralamerika nicht nachstehen. Die Region hat nur eine Chance ernstgenommen zu werden, wenn sie ihre traditionelle Zersplitterung überwindet. Deswegen nehmen seit einigen Jahren auch Panama und Belize, die zwar geographisch, aber nicht historisch zu Mittelamerika gerechnet werden, seit einigen Jahren an den Gipfeltreffen der zentralamerikanischen Präsidenten teil. Für Guatemala bedeutet diese Erweiterung einen stillschweigenden Verzicht auf die offiziell noch immer aufrechten Ansprüche auf das Territorium von Belize, das 1981 von Großbritannien in die Unabhängigkeit entlassen wurde.
Die Integration schreitet jetzt in Riesenschritten voran. Zumindest auf dem Papier. Im Dezember 1991 wurde in Tegucigalpa das Zentralamerikanische Integrationssystem (SICA) als Folgeorganisation der ODECA gegründet. Dies ist für die ZentralamerikanerInnen weniger ein neuer Versuch echter regionaler Integration, sondern eine Voraussetzung, um sich irgendwann in den NAFTA einzuklinken und ihre Exporte ohne Handelshemmnisse in diesen gigantischen Wirtschaftsraum liefern zu können.

Sozialpolitik und Umwelt haben das Nachsehen

Die im Interesse der Globalisierung gefaßten Beschlüsse der Gipfeltreffen dienen den einzelnen Regierungen dazu, unpopuläre Maßnahmen innenpolitisch zu rechtfertigen. Zum Beispiel den Sozialabbau und die Beschneidung von Gewerkschaftsrechten, mit dem Hinweis, der Wirtschaftsstandort müsse verteidigt werden.
Freihandel und Sozialabbau können die strukturellen Probleme der Region gewiß nicht lösen. Für die 68 Prozent der ZentralamerikanerInnen, die laut United Nations Development Programm (UNDP) in “kritischer” Situation leben oder überleben, sind dringende Programme gefordert. So hat zuletzt der Sozialgipfel von Tegucigalpa die extreme Armut weder national noch regional eingedämmt.
Auch bei der Umweltzerstörung liegt Zentralamerika mit sechs Prozent Entwaldung jährlich weltweit im Spitzenfeld. Trotzdem hat der Umweltgipfel von Managua außer vielen schönen Worten nicht viel Konkretes gebracht.

NGOs haben es schwer: Integration als Chefsache

Deswegen sind die zentralamerikanischen NGOs immer weniger bereit, die Integration allein den Regierungen zu überlassen. Der Globalisierung widersetzt sich heute keiner mehr ernsthaft. Doch: “Damit die nachhaltige Entwicklung der Menschheit möglich wird, müssen drei Aktoren zusammenwirken: Staat, Markt und Zivilgesellschaft”. Mit diesem Vorstoß brachte sich die Concertación Centroamericana auf der UNO-Sozialkonferenz von Kopenhagen ein. Unter diesem Namen haben sich nichtregierungsgebundene Organisationen der Region zusammengeschlossen, um mit einer gemeinsamen Stimme gegen die Regierungen – die Integration als Chefsache betrachten – auftreten zu können. Kurz darauf, im Oktober 1994, schufen die regierungsunabhängigen Organisationen die “Zivile Initiative der Zentralamerikanischen Integration” (ICIC), die alle Themen der folgenden Gipfeltreffen aufgriff und sich als ständiges Konsultativorgan einzubringen versucht. Mit bisher wechselhaftem Erfolg.
Zwar sind ICIC-Mitglieder inzwischen als ständige Beobachter beim SIECA, SICA und im Zentralamerikanischen Parlament anerkannt, doch ist ihr Einfluß gering. Die Präsidentengipfel, so heißt es in einem Papier der ICIC, benützten einen “scheinbaren Dialog” mit der Zivilgesellschaft, um bei der internationalen Gebergemeinschaft an zusätzliche Mittel zu kommen, “die in der Praxis weit entfernt sind, den Bedürftigen zu nützen.”
Konkrete Vorschläge der Zivilgesellschaft sind bisher von den Staatschefs ignoriert worden, so zum Beispiel die Vorlage für einen regionalen Sozialpakt. Dennoch unterbreiteten die Regierungen Zentralamerikas beim Sozialgipfel in Kopenhagen eine Konvention der Sozialen Integration, die sie als Produkt einer breiten Diskussion mit allen betroffenen Gruppen präsentierten.

Eigener Weg nur mit Druck von unten

Von einer gemeinsamen Sozialpolitik ist Zentralamerika aber noch genauso weit entfernt wie vom gemeinsamen Wirtschaftsraum. Zwar gibt es schon seit vielen Jahren einen Energieverbund, der auch während der Revolutionsjahre funktionierte und verhinderte, daß die Stromversorgung noch häufiger als ohnehin schon zusammenbrach. Doch wenn es um partikuläre Handelsinteressen geht, kehren die Regierungen schnell wieder zu protektionistischen Maßnahmen zurück. So läßt Costa Rica unter dem Vorwand der Lebensmittelhygiene nicaraguanische Bohnen an der Grenze verschimmeln, um die eigenen Produzenten zu schützen. Auch beim Aushandeln von Bananenquoten mit der EU stieg Costa Rica aus dem gemeinsamen Verhandlungsforum aus und suchte seine Exportquote im Alleingang zu erhöhen. Und bei der Verhandlung der Staatsverschuldung ziehen die Regierungen gesonderte Verhandlungen mit den Gläubigern vor, statt gemeinsam aufzutreten.
Investoren nützen die Konkurrenzsituation aus, um günstigere Bedingungen zu erpressen. Warum sollten sie sich Gewerkschaften in den Fertigungsbetrieben gefallen lassen, wenn im Nachbarland die Organisationsfreiheit eingeschränkt ist? Warum eine Erhöhung des Mindestlohnes hinnehmen, wenn nur 200 Kilometer entfernt für weniger Geld mehr gearbeitet wird? So gesehen ist die Unterzeichnung einer zentralamerikanischen Sozialcharta nicht nur eine legitime Forderung der Arbeitnehmer sondern muß auch im Interesse der Regierungen liegen. Die Integration “von unten” unter Mitwirkung der verschiedenen sozialen Akteure ist heute eine Notwendigkeit. Solange aber der Druck von unten fehlt, werden sich die Staatschefs der Region ihre Politik weiterhin “von oben”, also von den USA und dem Weltwährungsfonds, diktieren lassen.

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