Ausnahmezustand und Tote

Bereits am 20. April wurde der
für drei Monate verhängte Ausnahmezustand wieder aufgehoben – dem Osterfest sei gedankt. Eine erste Bilanz der Ereignisse der letzten zwei Wochen konnte gezogen werden, und diese fiel nicht gut aus für die amtierende Koalitionsregierung. In den nur 13 Tagen des Ausnahemzustands hat es 5 Tote, 22 Festnahmen und etwa 90 Verletzte gegeben. Nach internen Schuldzuweisungen trat das Kabinett Ende April geschlossen zurück. Der neuen Regierungsmannschaft gehören allerdings fünf Minister der alten Regierung an.

Sechster
Ausnahmezustand
Seit Bolivien 1982 wieder von einer demokratisch gewählten Regierung geführt wird, war dies das sechste Mal, dass der Ausnahmezustand verhängt wurde. Anlass waren in der Vergangenheit zumeist Streiks der Minenarbeiter oder der Lehrer. Tote hatte es bis dato allerdings nicht gegeben. Jedoch war es den vorangegangenen Regierungen mittels des Ausnahmezustandes jedes Mal gelungen, den Protest zu brechen und die eigenen Positionen durchzusetzen. Diesmal ist das Gegenteil der Fall: Trotz der Toten hat die Regierung in allen strittigen Punkten nachgegeben, ohne dass man der Lösung der bestehenden Konflikte näher gekommen wäre.
Und anders als bei den vorangegangenen schweren Konflikten, waren es diesmal nicht die Forderungen einzelner, starker gesellschaftlicher Sektoren, die sich gegen die Regierung stellten. Bedingt durch die verlorene Hegemonie des einst mächtigen Gewerkschaftsdachverbandes COB (Central Obrera Boliviana), handelte es sich vielmehr um eine generelle Unzufriedenheit sowohl der städtischen als auch der ländlichen Armen, die nach 15 Jahren neoliberaler Strukturanpassung immer weiter in die Armut abrutschen.
Begonnen hatten die sozialen Proteste am 3. April im bolivianischen Altiplano, als die Bauerngewerkschaften anfingen, sich mit Straßenblockaden gegen das geplante Wassergesetz zur Wehr zu setzen. Fast zeitgleich erreichten die Auseinandersetzungen um die Erhöhung der Wassertarife in Cochabamba im Zuge der Privatisierung der Wasserversorgung einen neuen Höhepunkt. Auch an anderen Orten des Landes kam es zu Protesten, die sich teils ebenfalls gegen das Wassergesetz richteten, teils aber auch regionale Forderungen beinhalteten. Die Regierung zeigte sich über Tage hinweg unfähig, auf die Herausforderungen politisch zu reagieren. Als dann die Straßenblockaden in weiten Landesteilen immer massiver wurden, Cochabamba von Barrikaden übersät und die Plaza in eine Festung „Cochabambiner Patrioten“ verwandelt war, erklärte Präsident Banzer kurzerhand den Ausnahmezustand für das ganze Land.
Wenig rühmlich für eine demokratische Regierung, dass bereits in der Nacht zuvor Soldaten Hausdurchsuchungen durchführten, durch die Straßen patroullierten und Gewerkschaftsführer verhafteten. De facto hatte der Ausnahmezustand also bereits einen Tag vor seiner offiziellen Verkündigung begonnen; ein klarer Bruch der bolivianischen Verfassung.
Aber das erwünschte Ergebnis blieb aus: Statt zu einer Eindämmung der Auseinandersetzungen beizutragen, schürte der Einsatz von Soldaten den Zorn der Bevölkerung erst recht. An Straßensperren kam es zu regelrechten Schlachten zwischen Bauern und Militär, die schnell zu den ersten Toten führten. Weiteres Militär wurde mobilisiert und Panzer wurden eingesetzt. In Achacachi, einem der Zentren des Widerstandes, wurde als Reaktion auf die toten Bauern ein sich im dortigen Krankenhaus befindlicher Militär von der aufgebrachten Menge gesteinigt, der Polizeiposten geplündert und niedergebrannt. Die Repression des Militärs gegen die Zivilbevölkerung nahm daraufhin erheblich zu. Es wurden Kinder verhaftet, zusätzlich gab es verstärkt Misshandlungen und Hausdurchsuchungen. Im Fernsehen waren Bilder von einem Scharfschützen in Zivil zu sehen, der aus einer Soldateneinheit heraus gezielt in die Menge schießt.
Gleichzeitig griff der Protest in das bis dahin ruhige La Paz über: Um ihrer Forderung nach mehr Lohn Nachdruck zu verleihen, ging eine Sonderpolizeieinheit zur offenen Meuterei über und verschanzte sich in ihren Gebäuden. Die Regierung ließ zunächst Militärpolizei in Stellung gehen, sah sich dann aber gezwungen, den Forderungen der Meuterer nachzugeben, einschließlich deren Straffreiheit.
In Cochabamba kontrollierten die Bewohner große Teile der Stadt, ohne sich um die mit dem Ausnahmezustand geschaffene Herrschaft der Militärs zu kümmern. „Ausnahmezustand? Dass ich nicht lache, ha ha ha“ dokumentierte ein Graffiti die allgemeine Stimmung. Angesichts dieses massiven Widerstands, gepaart mit massenhaftem zivilem Ungehorsam, gab die Regierung nach: Sie kündigte den Vertrag mit dem privaten Wasserversorgungsunternehmen „Aguas del Tunari“ und verabschiedete die geforderten Modifikationen im Trinkwassergesetz, behauptete aber gleichzeitig, die Unruhen seien ein vom Drogenhandel finanziertes Komplott.

„Und jetzt, wie weiter?“
In Potosi rief das örtliche Bürgerkomitee (Comité Cívico) zu einem weithin befolgten Generalstreik auf, dem Ausnahmezustand zum Trotz.
Währenddessen blieb es im ökonomisch wichtigen Departamento Santa Cruz fast völlig ruhig. Lediglich eine Polizeieinheit versuchte, in Nachahmung der Kollegen in La Paz, durch eine wenig beachtete Meuterei eine Lohnerhöhung zu erreichen.
Während man in Cochabamba den Sieg über die Regierung feierte und die Barrikaden in den Straßen allmählich abgebaut wurden, traten neue Akteure auf den Plan: Die Coca-Bauern in den nördlich von La Paz gelegenen Yungas demonstrierten gegen die geplante Vernichtung der illegalen Coca-Felder (s. LN 310), indem sie die wichtigste Verbindungsstraße ins Tiefland für mehrere Tage komplett blockierten, teilweise sogar Gräben aushoben und Teile der Straße wegsprengten. Auch hier musste die Regierung sich letztlich zu Verhandlungen bereiterklären und einlenken. In La Paz gingen die Studierenden mit der Forderung nach mehr Geld für die Universitäten auf die Straße und lieferten sich tagelange Schlachten mit der Polizei: Steine gegen Tränengas.
Dies alles passierte ungeach-tet des Ausnahmezustands. Der Verlust an Autorität der Regierung war allerorten offensichtlich. So-wohl die Kirche, als auch die Unternehmer und die Oppositionsparteien forderten beständig ein Ende der Gewalt und des Ausnahmezustands. Bedingt durch das Nachgeben der Regierung an den verschiedenen Fronten beruhigte sich die Situation im Land nach zehn turbulenten Tagen allmählich. Aufgrund des Drucks der Kirche und breiter Kreise der Gesellschaft wurden die verhafteten Gewerkschaftsführer freigelassen. Überraschenderweise wurde sogar kurz vor Ostern der für die Dauer von 90 Tagen verhängte Ausnahmemzustand wieder aufgehoben.
Abgesehen von den Toten und Verletzten ist wohl der größte Schaden der noch jungen bolivianischen Demokratie entstanden. Der Einsatz von Soldaten noch vor der offiziellen Verhängung des Ausnahmezustands und die Ausschreitungen eines Teiles des Militärs hat Erinnerungen an die Diktaturen der 70er (Banzer) und frühen 80er Jahre (Garcia Mesa) wieder wach werden lassen. Die heftigen und wütenden Proteste eines Groß-teils der verarmten Bevölkerung haben auf der anderen Seite gezeigt, dass sie trotz Participación Popular (Gesetz zur Bürgerbeteiligung) „Kampf gegen die Armut” weiterhin von der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung aus-geschlossen sind.
Der von der Regierung auf Druck der Gläubigerländer für Juli angesetzte „Nationale Dialog” mit allen gesellschaftlichen Gruppen über die Verteilung der Gelder aus dem Schuldenerlass ist mit den Er-eignissen der letzten zwei Wochen in weite Ferne gerückt. Es scheint, als hätten die Hardliner in der regierenden ADN (Accion Democrática Nacionalista) des Ex-Generals Banzer ihr Ziel erreicht: die Verhinderung eines breiten gesellschaftlichen Dialogs über die Zukunft des Landes.
Ungeachtet dessen steht weiterhin die zentrale Frage im Raum, wie sie von den Vertretern der Medien auch der neuen Regierung gestellt wird: „Und jetzt, wie weiter?”

Ausnahmezustand und Tote

Bereits am 20. April wurde der für drei Monate verhängte Ausnahmezustand wieder aufgehoben – dem Osterfest sei gedankt. Eine erste Bilanz der Ereignisse der letzten zwei Wochen konnte gezogen werden, und diese fiel nicht gut aus für die amtierende Koalitionsregierung. In den nur 13 Tagen des Ausnahemzustands hat es 5 Tote, 22 Festnahmen und etwa 90 Verletzte gegeben. Nach internen Schuldzuweisungen trat das Kabinett Ende April geschlossen zurück. Der neuen Regierungsmannschaft gehören allerdings fünf Minister der alten Regierung an.

Sechster Ausnahmezustand

Seit Bolivien 1982 wieder von einer demokratisch gewählten Regierung geführt wird, war dies das sechste Mal, dass der Ausnahmezustand verhängt wurde. Anlass waren in der Vergangenheit zumeist Streiks der Minenarbeiter oder der Lehrer. Tote hatte es bis dato allerdings nicht gegeben. Jedoch war es den vorangegangenen Regierungen mittels des Ausnahmezustandes jedes Mal gelungen, den Protest zu brechen und die eigenen Positionen durchzusetzen. Diesmal ist das Gegenteil der Fall: Trotz der Toten hat die Regierung in allen strittigen Punkten nachgegeben, ohne dass man der Lösung der bestehenden Konflikte näher gekommen wäre.
Und anders als bei den vorangegangenen schweren Konflikten, waren es diesmal nicht die Forderungen einzelner, starker gesellschaftlicher Sektoren, die sich gegen die Regierung stellten. Bedingt durch die verlorene Hegemonie des einst mächtigen Gewerkschaftsdachverbandes COB (Central Obrera Boliviana), handelte es sich vielmehr um eine generelle Unzufriedenheit sowohl der städtischen als auch der ländlichen Armen, die nach 15 Jahren neoliberaler Strukturanpassung immer weiter in die Armut abrutschen.
Begonnen hatten die sozialen Proteste am 3. April im bolivianischen Altiplano, als die Bauerngewerkschaften anfingen, sich mit Straßenblockaden gegen das geplante Wassergesetz zur Wehr zu setzen. Fast zeitgleich erreichten die Auseinandersetzungen um die Erhöhung der Wassertarife in Cochabamba im Zuge der Privatisierung der Wasserversorgung einen neuen Höhepunkt. Auch an anderen Orten des Landes kam es zu Protesten, die sich teils ebenfalls gegen das Wassergesetz richteten, teils aber auch regionale Forderungen beinhalteten. Die Regierung zeigte sich über Tage hinweg unfähig, auf die Herausforderungen politisch zu reagieren. Als dann die Straßenblockaden in weiten Landesteilen immer massiver wurden, Cochabamba von Barrikaden übersät und die Plaza in eine Festung „Cochabambiner Patrioten“ verwandelt war, erklärte Präsident Banzer kurzerhand den Ausnahmezustand für das ganze Land.
Wenig rühmlich für eine demokratische Regierung, dass bereits in der Nacht zuvor Soldaten Hausdurchsuchungen durchführten, durch die Straßen patroullierten und Gewerkschaftsführer verhafteten. De facto hatte der Ausnahmezustand also bereits einen Tag vor seiner offiziellen Verkündigung begonnen; ein klarer Bruch der bolivianischen Verfassung.
Aber das erwünschte Ergebnis blieb aus: Statt zu einer Eindämmung der Auseinandersetzungen beizutragen, schürte der Einsatz von Soldaten den Zorn der Bevölkerung erst recht. An Straßensperren kam es zu regelrechten Schlachten zwischen Bauern und Militär, die schnell zu den ersten Toten führten. Weiteres Militär wurde mobilisiert und Panzer wurden eingesetzt. In Achacachi, einem der Zentren des Widerstandes, wurde als Reaktion auf die toten Bauern ein sich im dortigen Krankenhaus befindlicher Militär von der aufgebrachten Menge gesteinigt, der Polizeiposten geplündert und niedergebrannt. Die Repression des Militärs gegen die Zivilbevölkerung nahm daraufhin erheblich zu. Es wurden Kinder verhaftet, zusätzlich gab es verstärkt Misshandlungen und Hausdurchsuchungen. Im Fernsehen waren Bilder von einem Scharfschützen in Zivil zu sehen, der aus einer Soldateneinheit heraus gezielt in die Menge schießt.
Gleichzeitig griff der Protest in das bis dahin ruhige La Paz über: Um ihrer Forderung nach mehr Lohn Nachdruck zu verleihen, ging eine Sonderpolizeieinheit zur offenen Meuterei über und verschanzte sich in ihren Gebäuden. Die Regierung ließ zunächst Militärpolizei in Stellung gehen, sah sich dann aber gezwungen, den Forderungen der Meuterer nachzugeben, einschließlich deren Straffreiheit.
In Cochabamba kontrollierten die Bewohner große Teile der Stadt, ohne sich um die mit dem Ausnahmezustand geschaffene Herrschaft der Militärs zu kümmern. „Ausnahmezustand? Dass ich nicht lache, ha ha ha“ dokumentierte ein Graffiti die allgemeine Stimmung. Angesichts dieses massiven Widerstands, gepaart mit massenhaftem zivilem Ungehorsam, gab die Regierung nach: Sie kündigte den Vertrag mit dem privaten Wasserversorgungsunternehmen „Aguas del Tunari“ und verabschiedete die geforderten Modifikationen im Trinkwassergesetz, behauptete aber gleichzeitig, die Unruhen seien ein vom Drogenhandel finanziertes Komplott.

„Und jetzt, wie weiter?“

In Potosi rief das örtliche Bürgerkomitee (Comité Cívico) zu einem weithin befolgten Generalstreik auf, dem Ausnahmezustand zum Trotz.
Währenddessen blieb es im ökonomisch wichtigen Departamento Santa Cruz fast völlig ruhig. Lediglich eine Polizeieinheit versuchte, in Nachahmung der Kollegen in La Paz, durch eine wenig beachtete Meuterei eine Lohnerhöhung zu erreichen.
Während man in Cochabamba den Sieg über die Regierung feierte und die Barrikaden in den Straßen allmählich abgebaut wurden, traten neue Akteure auf den Plan: Die Coca-Bauern in den nördlich von La Paz gelegenen Yungas demonstrierten gegen die geplante Vernichtung der illegalen Coca-Felder (s. LN 310), indem sie die wichtigste Verbindungsstraße ins Tiefland für mehrere Tage komplett blockierten, teilweise sogar Gräben aushoben und Teile der Straße wegsprengten. Auch hier musste die Regierung sich letztlich zu Verhandlungen bereiterklären und einlenken. In La Paz gingen die Studierenden mit der Forderung nach mehr Geld für die Universitäten auf die Straße und lieferten sich tagelange Schlachten mit der Polizei: Steine gegen Tränengas.
Dies alles passierte ungeachtet des Ausnahmezustands. Der Verlust an Autorität der Regierung war allerorten offensichtlich. Sowohl die Kirche, als auch die Unternehmer und die Oppositionsparteien forderten beständig ein Ende der Gewalt und des Ausnahmezustands. Bedingt durch das Nachgeben der Regierung an den verschiedenen Fronten beruhigte sich die Situation im Land nach zehn turbulenten Tagen allmählich. Aufgrund des Drucks der Kirche und breiter Kreise der Gesellschaft wurden die verhafteten Gewerkschaftsführer freigelassen. Überraschenderweise wurde sogar kurz vor Ostern der für die Dauer von 90 Tagen verhängte Ausnahmemzustand wieder aufgehoben.
Abgesehen von den Toten und Verletzten ist wohl der größte Schaden der noch jungen bolivianischen Demokratie entstanden. Der Einsatz von Soldaten noch vor der offiziellen Verhängung des Ausnahmezustands und die Ausschreitungen eines Teiles des Militärs hat Erinnerungen and die Diktaturen der 70er (Banzer) und frühen 80er Jahre (García Mesa) wieder wach werden lassen. Die heftigen und wütenden Proteste eines Großteils der verarmten Bevölkerung haben auf der anderen Seite gezeigt, dass sie trotz Participación Popular (Gesetz zur Bürgerbeteiligung) „Kampf gegen die Armut“ weiterhin von der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung ausgeschlossen sind.
Der von der Regierung auf Druck der Gläubigerländer für Juli angesetzte „Nationale Dialog“ mit allen gesellschaftlichen Gruppen über die Verteilung der Gelder aus dem Schuldenerlass ist mit den Ereignissen der letzten zwei Wochen in weite Ferne gerückt. Es scheint, als hätten die Hardliner in der regierenden ADN (Acción Democrática Nacionalista) des Ex-Generals Banzer ihr Ziel erreicht: die Verhinderung eines breiten gesellschaftlichen Dialogs über die Zukunft des Landes.
Ungeachtet dessen steht weiterhin die zentrale Frage im Raum, wie sie von den Vertretern der Medien auch der neuen Regierung gestellt wird: „Und jetzt, wie weiter?“

Nazi-Treffen mit schnellem Ende

Kurz vor Beginn des Nazi-Treffens hatten in der Hauptstadt Santiago 4.000 Chilenen gegen diese nationalsozialistische Initiative demonstriert. Sonst stieß die Zusammenkunft bei den meisten Chilenen auf wenig Interesse. Verschiedene Juristen erinnerten an das Recht auf Meinungsfreiheit, während sich die neue Regierung unter Ricardo Lagos bemühte, das Treffen zu verhindern. Auf konkrete Gesetze konnte sie sich dabei allerdings nicht berufen und so konnte sie im Vorfeld nicht mehr tun, als eine Liste mit 50 international bekannten Nazi-Vertretern zu erstellen, denen die Einreise verweigert wurde.
So wurden andere Wege gesucht, um die Realisierung dieses Kongresses zu verhindern: Zwei Tage vor dem offiziellen Beginn wurde „zufällig“ der Organisator Alexis López von der chilenischen nationalsozialistischen Patria Nueva Sociedad auf der Strasse wegen ungedeckter Schecks verhaftet. Jeglicher Zusammenhang wurde von Regierungsvertretern jedoch dementiert: „An dieser Verhaftung war die Regierung in keiner Weise beteiligt.“ Claudio Huepe, Generalsekretär der Regierung, besteht darauf, dass es sich um eine „Routinemassnahme der Polizei“ gehandelt habe und es „nicht mehr als ein Zufall“ sei, dass der Kopf der Nazi-Organisation so kurz vor Beginn des Treffens verhaftet worden sei. Arnel Epulef, ebenfalls Mitglied von Patria Nueva Sociedad, besteht hingegen darauf, dass Alexis López der „erste politische Gefangene“ der neuen Regierung ist, da er wegen seiner Ideen verhaftet worden sei.
López war gegen 23 Uhr auf der Strasse im Zentrum von Santiago verhaftet worden. Ihm wird vorgeworfen, seit 1998 seine Schulden nicht bezahlt und mit ungedeckten Schecks gezahlt zu haben. Insgesamt geht es um umgerechnet etwa 20.000 Mark.

Pünktlich zum Führergeburtstag

Das für 17. bis 22. April geplante Primer Encuentro de Nacionalidad y Socialismo wurde am Montag trotzdem in einem privaten Strandhäuschen in der Nähe von Valparaiso, in dem kleinen Ort Concon, eröffnet. Von den angekündigten 30 Teilnehmern waren schließlich sieben ausländische Vertreter aus Bolivien, Peru, Argentinien, Uruguay und Ecuador angereist, pünktlich zu „Führers Geburtstag“. Dieses Datum habe für die ausländischen Gäste, die Hitler und seine Politik im Dritten Reich verteidigen, eine besondere Bedeutung, erklärten die Veranstalter. Patria Nueva Sociedad bestehen hingegen darauf, keine Nazis zu sein: „Wir sind nicht rassistisch, wir sind nicht fremdenfeindlich, wir glauben nicht an eine Herrenrasse und respektieren die Grundrechte der Menschen.“
Dem Geist der Zeit folgend haben die chilenischen Nationalsozialisten im vergangenen Jahr ihr Image geändert, weg vom „typischen Nazi“ hin zum „aufgeklärten Patrioten“. Im Rahmen dieser Kosmetik wurde das Hakenkreuz durch das vom Ku-Klux-Klan verwendete Sonnenrad (ein Kreuz im Innern eines Kreises) ersetzt. Auch Hitlers Idee von einer einzigen Herrenrasse machte wenig Sinn innerhalb einer internationalen Bewegung. Patria Nueva Sociedad besteht deshalb darauf, dass jede Rasse für sich wertvoll ist, aber es komme eben darauf an, sie möglichst rein zu halten, also die Rassen zu trennen. Innerhalb dieser Logik ist es dann auch möglich, dass sich nationalsozialistische Vertreter beispielsweise auf den Demonstrationen der Mapuche-Indianer wiederfinden und deren Rechte verteidigen.

Austausch im Strandhaus

Viel weiter als bis zu einem allgemeinen Austausch über ihre Situation sind die Teilnehmer bei ihrem Treffen in Chile allerdings nicht gekommen, da nach 24 Stunden die Polizei auftauchte und den Versammlungsort umstellte. Die Ermittler hatten die Grenzübergänge und die Mitglieder von Patria Nueva Sociedad überwacht und so nach verschiedenen vergeblichen Polizeiaktionen im Süden Chiles schließlich das Strandhäuschen als Versammlungsort ausgemacht.
Mit der Aktion folgten die Ermittler einer Regierungsanweisung. Dort war man schließlich auf das Abkommen von San José in Costa Rica gestoßen, in dem sich unter anderem auch Chile zur Bekämpfung der Verbreitung von jeglicher Ideologie, die Gewalt oder Rassenhass fördert, verpflichtet. Zu Hausdurchsuchungen oder Verhaftungen kam es dabei nicht. Noch in der Nacht verliessen die Kongressteilnehmer freiwillig das Gebäude und wurden unter Polizeibegleitung nach Viña del Mar gebracht, von wo aus sie umgehend in ihre Heimatländer zurückkehrten.
Warum dieses Treffen ausgerechnet in Chile stattfand, haben die Veranstalter offengelassen. Für Yoram Rovner, Herausgeber der jüdischen Zeitschrift Der Ruf eignet sich Chile für ein solches Treffen wegen der „Duldsamkeit der chilenischen Gesellschaft gegenüber solchen Phänomenen, der Apathie gegenüber der öffentlichen Debatte um nationalsozialistische Ideen, ohne dass es jemand stört und der Apathie der Chilenen im allgemeinen, wenn es um Menschenrechte geht.“
Für Rovner hat dieses Nazi-Treffen wegen seiner strategischen Bedeutung für die Zukunft Gewicht. „Es geht nicht um die Anzahl der Teilnehmer, es geht um die Organisationen, die hinter ihnen stehen.“ Und er erinnert daran, dass 1962 in England ein Treffen von Vertretern nationalsozialistischer Ideen unter ähnlichen Bedingungen stattfand, aus dem die „Weltweite Union der Nationalsozialisten“ entstand, in der sich schliesslich 80 nationalsozialistische Organisationen aus 40 Ländern zusammengeschlossen hatten.
Ein erstes Ergebnis des Treffens, das hinter verschlossenen Türen stattfand, wurde inzwischen bekannt. Patria Nueva Sociedad wollen sich als Partei einschreiben, um an Wahlen teilnehmen zu können.

KASTEN:
Zum Nazi-Treffen eingeladene Organisationen:
Partido Nuevo Triunfo (Argentinien), Juventud Nacionalista Socialista (Argentinien), Frente Nacionalsocialista (Ecuador), Proyecto Colombia 88 (P.88, Kolumbien), Partido Nueva Sociedad Venezolana (Venezuela), Movimiento Nueva Guardia Española (Spanien), Frente Nacionalista Socialista (Peru), Movimiento Nacional Socialista (Bolivia), Movimiento Zapatista Chiapaneco (Mexico), Movimiento Socialista Nacional (Paraguay), Movimiento Integralista Brasileño (Brasilien), Partido por la Libertad (Österreich)… und weitere Organisationen, die bisher noch keine politische Kraft in ihren Ländern darstellen und nun eine gemeinsame Strategie suchen wollen.

Für jede Droge das richtige Klima

Die ganzen Kokasträucher gehen mir kaputt,“ klagt Israel Lasso mit sorgenvoller Miene. Mit einem Ruck reißt er einen blattlosen Strauch aus der Erde. „Gucken Sie her,“ erklärt er, „die Pflanzen sterben von der Wurzel her ab. Diese Pflanze wirft nichts mehr ab. Na ja, so schlecht ist das gar nicht, dann können wir hier Kaffee pflanzen.“ Der rüstige Mittfünfziger hat offenbar genaue Vorstellungen von dem, was ausländische BesucherInnen hören wollen. Schließlich bekommt er Geld aus einem Entwicklungshilfeprojekt zur Förderung des Anbaus und der Vermarktung von Biokaffee in Drogenanbaugebieten. Das mit dem Kokaanbau ginge sowieso zu Ende, fügt er hinzu. Doch je weiter wir auf seiner Finca vordringen, die sich auf beiden Seiten eines Bächleins mit dem Namen Río Capitanes erstreckt, desto unübersehbarer werden die Kokasträucher. Das intensive gelbliche Grün ihrer Blätter, das sich deutlich vom Dunkelgrün der Kaffeestauden abhebt, verleiht ihnen ein recht gesundes Aussehen.
Doch Israel Lasso lässt sich nicht beirren und weicht Fragen nach der Kokaproduktion zunächst aus. „Außer Kaffee pflanze ich hier vor allem Yucca und Bananen, die ich am Wochenende auf dem Markt verkaufe.“ Doch im Beisein von Jorge Torres, dem Projektverantwortlichen aus der Departementhauptstadt Popayán, taut der Campesino langsam auf. „Koka hat uns hier immer geholfen“, stellt er schließlich inmitten seiner kombinierten Kaffee-Koka-Felder fest, „man kann sie alle drei Monate ernten.“ Verschmitzt blicken seine lebendigen Augen aus dem sonnengegerbten Gesicht, als er erklärt, seinen Hof nun langsam umzustellen. „Für die Sträucher, die eingehen, pflanze ich nicht mehr so viel Koka nach.“
Israel Lassos Fünf-Hektar-Finca Los Naranjitos liegt im abgelegenen Südwesten des südkolumbianischen Departements Cauca. Die asphaltierte Abzweigung von der Panamericana nach Westen endet an der Brücke über den Río Patía, dann gibt es nur noch Schotterpisten. Vom Städtchen Balboa steigt der Weg steil bergauf zur Cordillera Occidental. Die Bergkuppen sind in dichte Wolken gehüllt. Zwischen Schwaden von Bodennebel sind immer wieder frisch gehackte Felder zu erkennen. Saftiggrüne Setzlinge heben sich von der dunkelbraunen Erde ab, fein säuberlich in Reih und Glied angeordnet. Schlafmohn, der Rohstoff für Heroin, gedeiht am besten in höheren Lagen. Fast zwei Stunden Holperstrecke weiter und in erheblich tieferen Lagen liegt der Flecken La Planada. Ein Trampelpfad führt steil von der Schotterstraße bergab. Nach knapp zehnminütigem Fußmarsch endet er auf Lassos Finca. Im Hof trocknen beigebraune Kaffeebohnen in der Sonne, ein Hund und einzelne Hühner laufen herum.
Zeit seines Lebens hat Israel Lasso auf der kleinen Finca gelebt und gearbeitet. Seit mehr als zwanzig Jahren erntet er Kokablätter, den Rohstoff zur Herstellung von Kokain. Er war einer der ersten Campesinos/as in diesem bergigen Teil Kolumbiens, der sich 1994 dem Biokaffeeprojekt der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) anschloss. Gemeinsam mit den nationalen Kaffeepflanzerorganisationen beziehungsweise deren regionalen Ablegern sowie dem größten deutschen Kaffeeröster, der Firma Kraft-Jacobs-Suchard aus Bremen, will die GTZ in den drei wichtigsten Drogenproduktionsländern Lateinamerikas, in Kolumbien, Peru und Bolivien, einen Beitrag zur Überwindung der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen leisten, die zum Anbau der illegalen Drogen führen. Biologischer Kaffee verspricht den KleinbäuerInnen höhere Gewinne als der bisherige konventionelle Anbau der braunen Bohnen.

Drogenanbau nicht verboten

Das GTZ-Vorhaben unterscheidet sich dabei von früheren Aktivitäten des Drogenbekämpfungsprogramms UNDCP der Vereinten Nationen, das in der Vergangenheit auch im Departement Cauca Anwendung gefunden hatte. Dessen Erfolg fällt im übrigen sehr bescheiden aus. Das rigide, paternalistische und mit erheblichen Finanzmitteln ausgestattete UN-Projekt hat den Drogenanbau nicht merklich zurückgedrängt, aber bei vielen BäuerInnen eine gewisse Anspruchshaltung hinterlassen, mit der auch die GTZ-MitarbeiterInnen anfangs zu kämpfen hatten. UNDCP arbeitet ausschließlich mit BäuerInnen zusammen, die keine Drogen mehr produzieren; teilweise mussten die Koka- oder Mohnpflanzungen eigenhändig unter den Augen der UN-VertreterInnen vernichtet werden. Die GTZ macht dagegen keine konkreten Vorgaben zur Aufteilung des Landes. Jeder kann selbst festlegen, zu welchem Anteil er sein Land mit organischem Kaffee bebaut. Die Fortsetzung des Drogenanbaus ist kein Ausschlusskriterium, die meisten beteiligten KleinbäuerInnen widmen weiterhin ein viertel bis ein drittel Hektar dem Drogenanbau.
Neben Israel Lasso beteiligen sich im Departement Cauca 169 weitere Campesinos/as an dem Biokaffee-Projekt. Nur wenige sind bisher abgesprungen, die meisten bleiben bei der Stange. Nach einer Umstellungszeit von zwei bis drei Jahren bietet organischer Kaffee eine vergleichsweise stabile wirtschaftliche Alternative. Pro Kilo können sie einen Aufpreis von rund einer Mark gegenüber herkömmlich gezogenem Kaffee kassieren. Während früher mit extensivem Anbau nur 700 DM pro Hektar zu verdienen waren, lässt sich der Gewinn mit biologischen Verfahren auf etwa 3.200 DM erhöhen. Das liegt im wesentlichen an der deutlichen Intensivierung der Landwirtschaft, die mit der Umstellung der Produktionsweise verbunden ist. Die Biokaffee-Campesinos/as können den Hektarertrag auf etwa 1.000 Kilogramm Rohkaffee vervierfachen. Trotzdem sind Einkommenseinbußen unvermeidlich, ein abrupter Verzicht auf den Drogenanbau ist von niemandem zu erwarten. Eine einzige Kokaernte auf derselben Fläche bringt schließlich 1.200 DM ein, und der anspruchslose und widerstandsfähige Kokastrauch wirft jedes Jahr bis zu vier Ernten ab. Bei Schlafmohn liegt der Profit noch höher. Bis zu 17.000 DM im Jahr kann ein/e BäuerIn pro Hektar erwirtschaften. Auch dafür sind recht hohe Anfangsinvestitionen erforderlich, die nicht selten von den DrogenhändlerInnen vorfinanziert werden. Viele Campesinos/as begeben sich damit in Abhängigkeit von den lokalen Mafiabossen.

Plazet der Guerilla

In allen drei Andenländern liegen die Projektgebiete in abgelegenen Regionen, in Kolumbien und in Peru mit starker Präsenz von Guerillaorganisationen. Im Cauca sind es in erster Linie die Revolutionären Streitkräfte FARC, die größte und älteste Guerilla des Kontinents, im peruanischen Villa Rica die Revolutionäre Bewegung Tupac Amaru (MRTA), die Ende 1997 durch die Besetzung der japanischen Botschafterresidenz in Lima für weltweites Aufsehen sorgte. Die Organisatoren des Biokaffeeprojektes mussten daher nicht nur die Zustimmung der jeweiligen Regierungen einholen. Für die konkrete Arbeit vor Ort hatten sie sich auch der Akzeptanz durch die aufständischen Gruppen zu versichern. Schwierigkeiten gab es bisher nirgends, die Entwicklungshilfe für die Landbevölkerung in den besonders marginalisierten Gebieten ist offenbar im Sinne der Guerilla.
Gefahr droht eher von anderer Seite. „Viele Leute hier kaufen sich Gewehre, Flinten und Munition,“ berichtet Arnulfo Quinayas. Er ist Präsident der BäuerInnenkooperative Nuevo Futuro in San Antonio, einem zwischen Balboa und La Planada gelegenen Dorf im Südwesten von Cauca, in dem Opiummohn vortrefflich gedeiht. „Sie verdienen mit Koka das schnelle Geld, und dann arbeiten sie nicht mehr, sondern gucken nur, wo sie wem etwas stehlen können. Manche Fahrer wollen schon keinen Kaffee mehr transportieren, weil man ihnen die gesamte Ladung gestohlen hat,“ erzählt er weiter.

Der Mensch lebt nicht von Koka allein

Immer mehr BäuerInnen spüren noch eine andere Folgeerscheinung des steigenden Drogenanbaus. Die hohen kurzfristigen Gewinne haben etliche Campesinos/as dazu gebracht, einen immer größeren Anteil ihres Bodens dem Drogenanbau zu widmen und die Erzeugung lebensnotwendiger Nahrungsmittel zu vernachlässigen. Nun merken die traditionell von der Selbstversorgung lebenden KleinbäuerInnen, dass die Beschaffung von Lebensmitteln nicht nur aufwendig ist, sondern auch einen wachsenden Teil ihrer Einnahmen aus der Drogenproduktion auffrisst. Mit der erneuten Hinwendung zu einem traditionellen Anbauprodukt, nun mit neuen Methoden, besteht die Chance, dass sich die Campesinos/as in den kolumbianischen, peruanischen und bolivianischen Kaffeegebieten auch wieder verstärkt der landwirtschaftlichen Produktion von Grundnahrungsmitteln zuwenden. Und sie können ihre Kenntnisse im ökologischen Kaffeeanbau auf andere Pflanzen wie Mais, Maniok und Bananen anwenden.
Beim Umstieg auf legale Erzeugnisse stehen die Campesinos/as in den Andenländern ziemlich alleine da. Trotz vollmundiger Erklärungen der jeweiligen Regierungen und insbesondere des ehrgeizigen ‘Plan Colombia’ von Präsident Andrés Pastrana hat bisher keines der drei Projektländer ernsthafte Bemühungen an den Tag gelegt, die sozialen Ursachen für den Anbau „illegaler Produkte“ ernsthaft zu bekämpfen. Der Staat bietet bisher keine legalen Alternativen. In den abgelegenen Regionen fehlt es an landwirtschaftlicher Beratung, technischer Unterstützung und bezahlbaren Krediten. Und am nötigen Kleingeld. Der Vizepräsident der Nationaluniversität in Bogotá und renommierte Soziologe Alejo Vargas schätzt die Kosten eines Substitutionsprogramms für Koka allein im kolumbianischen Amazonien mit seiner Anbaufläche von rund 100.000 Hektar auf nicht weniger als 10 Milliarden US-Dollar. „Das überfordert schlichtweg die Kapazität des kolumbianischen Staates,“ beschreibt er das Dilemma, „und braucht eine Vorbereitungszeit von mindestens zehn Jahren.“
In den allermeisten Hochburgen des Drogenanbaus ist der Staat kaum präsent, bietet kaum Infrastruktur und seinen BürgerInnen nur wenig Entwicklungsmöglichkeiten. Dennoch tauchen Polizei und Militär in den betroffenen Regionen sporadisch auf. Wegen ihres oftmals unberechenbaren und brutalen Vorgehens sind sie bei der Landbevölkerung gefürchtet. „Solange wir Koka anbauen, kann jederzeit die Armee oder die Drogenpolizei kommen und uns Ärger machen,“ meint Arnulfo Quinayas von der Kooperative Nuevo Futuro in San Antonio. Drogenanbauende Campesinos/as müssen jederzeit mit Repressalien rechnen. Besonders gefürchtet sind die Giftsprühaktionen der kolumbianischen Antidrogenpolizei und der US-amerikanischen Drogenbehörde DEA. Der chemische Krieg hat vor allem in Kolumbien schon eine lange Tradition. Er begann in den 70er Jahren gegen die Marihuanapflanzungen in der Nähe der Karibikküste. Auf annähernd 30.000 Hektar wurden damals zwei Drittel des auf 10.000 Tonnen geschätzten jährlichen US-Bedarfs geerntet. Die chemische Keule – anfangs hochgiftiges Paraquat, später Glyfosate – konnte die Ausfuhr dieser Droge jedoch nur kurzfristig senken.

Chemischer Luftkrieg mit ökologischen Folgen

Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre lag der Schwerpunkt der kolumbianischen Drogenmafia auf der Verarbeitung von Kokapaste und dem Vertrieb in die Industriestaaten. Kolumbianische Zwischenhändler lieferten vier Fünftel des Kokains für den US-Markt. Der Rohstoff stammte damals aus Peru und Bolivien, die jedes Jahr jeweils 20.000 Tonnen Kokablätter und 50 bis 80 Tonnen „pasta básica“ erzeugten. Mittlerweile hat sich Kolumbien vom wichtigsten Dealer zum größten Produzenten von Koka und Schlafmohn gemausert. Seit 1981 vervierfachte sich die Anbaufläche auf rund 100.000 Hektar. Dabei wurden allein in den letzten fünf Jahren 150.000 Hektar Drogenäcker durch Herbizideinsatz vernichtet. Aber die Rechnung ging nicht auf. Die Giftsprühaktionen trieben die Bauern in unerschlossene Landesteile, wo sie noch weniger Möglichkeiten hatten, Käufer für ihre legalen Erzeugnisse zu finden. Einziger Ausweg: Sie mussten Drogen anbauen, um zu überleben. Viele Experten räumen mittlerweile ein, dass die Strategie der Drogenvernichtung nicht aufgeht. Gouverneur Hernando González Villamizar beklagte jüngst, nach siebenjährigem Gifteinsatz gäbe es in seinem Departement Guaviare mehr Koka denn je.
Derweil nehmen die ökologischen Folgen erschreckende Ausmaße an. Laut kolumbianischen Experten sind bereits 150.000 Hektar Regenwald vergiftet, und wenn es so weitergeht, sind bis 2015 über zwei Drittel des kolumbianischen Urwaldes in Ödland verwandelt. Pro vernichtetem Hektar Mohn sterben zweieinhalb und bei Koka sogar vier Hektar Wald. Diesen Kollateralschäden und der offensichtlichen Erfolglosigkeit zum Trotz halten die Hardliner unbeirrbar an ihrer Strategie fest. Bescheiden machen sich die 40 Millionen für die Förderung alternativer Anbauprodukte gegen das 2,5-Milliarden-Dollar-Budget aus, das die USA in den kommenden Jahren unter anderem in den kolumbianischen Luftkampf gegen DrogenpflanzerInnen pumpen.

Guerilla = Drogen

Der Anti-Narco-Feldzug der USA ist untrennbar mit der Aufstandsbekämpfung verbunden. Mit dem Feindbild, der sogenannten Narcoguerilla, das die enge Verbindung der rechten Paramilitärs zur Drogenmafia bewusst verschweigt, werden zwei Probleme zu einem Gegner zusammengefasst, ganz im Sinne der US-Doktrin der Nationalen Sicherheit. Die Fuerzas Revolucionarias de Colombia (FARC), die größte und älteste Guerilla des Landes, kontrollieren mit ihren 15.000 KämpferInnen weite Teile des kolumbianischen Amazonasbeckens mit ausgedehnten Kokaanbauflächen. Ein besonderer Dorn im Auge der Drogenwächter aus dem Norden ist die Entspannungszone am Rande des Amazonasbeckens, die Präsident Pastrana Anfang 1999 für die FARC räumen ließ, um den Weg zu Friedensverhandlungen frei zu machen. Die USA malen seither den Teufel einer unkontrollierbaren Expansion des Drogenexports an die Wand.
Der Vertreter des UNO-Drogenprogramms in Kolumbien, Klaus Nyholm, widerspricht indes solchen Behauptungen. Die Kokaproduktion habe dort seit dem Abzug der Armee keineswegs zugenommen, konstatierte er im Juli 1999. Der UNO-Experte schrieb den Vertretern des harten Kurses noch etwas anderes ins Stammbuch: In Kolumbien brauche es mehr Zuckerbrot und weniger Peitsche, um das Drogenproblem in den Griff zu bekommen. In den nächsten drei Jahren werden die Vereinten Nationen 5.000 KleinbäuerInnn in der Entspannungszone mit sechs Millionen Dollar bei der Umstellung von Koka auf Kakao, Kautschuk und Viehzucht unter die Arme greifen.
Das Geld für die UNO-Drogenprogramme stammt überwiegend aus den europäischen Industrieländern. Nachdem vor allem der Heroinmissbrauch dort zunehmende gesundheitspolitische Bedeutung bekam, haben sich die Westeuropäer im letzten Jahrzehnt der Suchtmittelbekämpfung in den Erzeugerländern angenommen. Im Unterschied zu den USA, die auf eine repressive Strategie setzen, verfolgt die europäische Drogenbekämpfung die Förderung der alternativen und vor allem der integralen Entwicklung der Andenländer. Die Drogenproduktion ist nur durch die Überwindung ihrer sozioökonomischen Ursachen effektiv zurückzudrängen. Hauptgrund für den Drogenanbau sind die Unterentwicklung und fehlende Absatzmöglichkeiten für andere Produkte auf dem Weltmarkt. Solange ein Bauer nicht vom Verkauf seiner legalen Erzeugnisse leben kann, wird er weiter Drogen anbauen.

Bescheidene Alternative

Das Engagement sowohl der Europäischen Union als auch der einzelnen europäischen Länder zielt daher auf die integrale Entwicklungsförderung in den Erzeugerländern ab. Dazu gehörte die Begünstigungsklausel für Importe aus Kolumbien, Bolivien, Ecuador und Peru aus dem Jahr 1990. Gleichzeitig begannen die Mitgliedsstaaten der EU, die legalen Wirtschaftszweige in den Andenländern zu unterstützen. Das ist jedoch kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Die konkrete Wirkung der maximal 12 Millionen Dollar, die Kolumbien jährlich von der EU bekommt, sind zu vernachlässigen. Sie zeigen allerdings, dass Europa gewillt ist, sozioökonomische Unterstützung an Stelle der Repression zu setzen.
Damit das Konzept der „Alternativen Entwicklung“ aufgeht, muss allerdings in großem Umfang und bei stabilen Preisen der Absatz der Drogenersatzprodukte auf dem Weltmarkt gewährleistet sein. Das ist in der Vergangenheit nur in Einzelfällen und kurzfristig gelungen. Auch beim Biokaffeeprojekt der GTZ blieben die Erfolge bislang hinter den Erwartungen zurück. Bisher ist es denn auch eher als Versuch zu werten, ob sich mit einem derartigen Ansatz das Drogenproblem auf der Produzentenseite überhaupt beeinflussen lässt. Die Projektkosten von 5,4 Millionen Mark werden überwiegend aus der „Drogenreserve“ des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit aufgebracht, Kraft-Jacobs-Suchard steuert 250.000 Mark bei. Ziel ist es, die beteiligten Campesinos/as so weit zu beraten und zu unterstützen, dass ihr Landbau die Richtlinien der Europäischen Union (EU) erfüllt. Nur dann können sie ihre braunen Bohnen hierzulande als Ökokaffee verkaufen.

Private Projektpartnerschaft oder Geschäft?

Für den Projekterfolg und vor allem für das Überleben der beteiligten Campesinos/as ist entscheidend, ob und in welchem Ausmaß sich die Vermarktung von Biokaffee konsolidieren lässt. Die von den InitiatorInnen erhoffte Vermarktung über die beteiligte Kaffeerösterei Jacobs ist praktisch nicht erfolgt. Nachdem das private Partnerunternehmen lange Zeit nicht eine einzige Bohne aus dem Projekt abnahm, kaufte es nun über die Kaffeebörse ganze zwei Container des sogenannten Umstellungskaffees aus Villa Rica.
Für Kraft-Jacobs-Suchard ist eine andere Entwicklung von wesentlich größeren Interesse, die aus dem Biokaffee-Projekt hervorgegangen ist. In Lima baute die Cámara Peruana del Café mit deutscher Hilfe eine Qualitätsprüfstelle für Rohkaffee auf. Dr. Rainer Becker, Jacobs-Mitarbeiter in Diensten der GTZ, sieht darin die nachhaltigste Wirkung des Biokaffeeprojektes überhaupt. Mit Hilfe des deutschen Kaffee-Experten, der die Projekte in Kolumbien und Peru seit zwei Jahren berät, bemüht sich die dortige Kaffeewirtschaft um die Ausdehnung ihrer Marktanteile und ihrer Einnahmen. „Peruanischer Kaffee erfüllt die Voraussetzungen für eine gute Qualität,“ beschreibt Becker das Dilemma des Andenstaates, „aber er hat mit einem schlechten Image zu kämpfen, das ihm regelmäßig an der Kaffeebörse einen Preisabschlag von 50 bis 65 Pfennig pro Kilo gegenüber dem Weltmarktpreis beschert.“ Allein im vergangenen Jahr sind Peru dadurch rund 20 Millionen US-Dollar an Exporteinnahmen durch die Lappen gegangen. Durch anhaltende Qualitätsverbesserung wollen die Peruaner die internationalen KaffeerösterInnen und -importeurInnen davon überzeugen, dass ihr Produkt besser ist als sein Ruf. Jahr für Jahr beantragen sie die Höherbewertung ihrer braunen Bohnen.

Biokaffee mit geringen Marktchancen

Bei dieser Form der Projektfortsetzung geht es nicht mehr um Biokaffee, sondern um die Qualität peruanischen Kaffees schlechthin. Organisch angebautem Kaffee räumt man bei Jacobs und vor allem bei den US-amerikanischen KonzernherrInnen ohnehin nur minimale Marktchancen ein. Dr. Beckers Fazit der Kooperation von Jacobs mit der GTZ und den nationalen Verbänden der KaffeepflanzerInnen fällt denn auch eher ernüchternd aus: „Der Biokaffee-Ansatz ist wenig erfolgversprechend.“ Der oftmals qualitativ schlechtere Kaffee aus ökologischer Produktion hat nach seiner Auffassung wenig Chancen auf dem internationalen Markt, wo eine wachsende Zahl von Abnehmern hohe und vor allem stabile Qualität erwartet. Die Mängel des weltweit angebotenen organischen Kaffees, so argumentiert man hingegen bei der GTZ, ergäben sich allerdings aus der häufigen Vermischung von sozial-karitativen Ansätzen mit der Förderung ökologischer Produktionsweisen. Das führe meistens dazu, dass Ökokaffee aus besonders rückständigen Regionen bezogen wird, wo die Bedingungen zur Erzeugung hochwertiger Produkte nicht gegeben sind. Für das GTZ-geförderte Biokaffeeprojekt träfe dies aber nicht zu, da in allen drei Ländern klassische Kaffeeanbaugebiete mit hoher Qualität ausgewählt worden seien.
Die Vermarktung beschränkt sich dabei bis heute überwiegend auf alternative Handelsorganisationen wie die GEPA, die hierzulande Café Aymara aus Villa Rica vertreibt, oder die schwedische Firma Gevalia. Den Biokaffee aus Kolumbien kauft im wesentlichen El Puente in Deutschland, wo er unter dem Markennamen der beteiligten Kooperative Nuevo Futuro oder Colombia Grande von der Firma Ökotopia erhältlich ist. Insgesamt ist es bisher aber kaum gelungen, stabile Marktverbindungen für ökologischen Kaffee aufzubauen. Für Privatunternehmen, die streng im Profitinteresse arbeiten, gibt es offenbar nicht genügend Anreize, in größerem Stil einzusteigen. Die beteiligten BäuerInnen bleiben dennoch zuversichtlich: „Wir haben gelernt, dass die chemischen Substanzen schädlich sind für die Gesundheit und auch für unsere Umwelt,“ meint Arnulfo Quinayas von der Genossenschaft Nuevo Futuro im Cauca. „Außerdem konnten wir mit Hilfe der GTZ einen Weg aufbauen, um unseren Kaffee in andere Länder zu exportieren.“

Auf dem Weg zur Bananenrepublik

Ende des vergangenen Jahres ließ sich Präsident Banzer mit seiner halben Regierungsmannschaft medienwirksam in der größten Kokaanbauregion Boliviens beim Verzehr von (Export-)Bananen ablichten. Die Botschaft dabei ist klar: Bananen statt Koka! Von der Drogen-Nation zur Bananenrepublik!
Unter Einsatz des Militärs ist es so tatsächlich gelungen, seit 1997 von den mehr als 38.000 ha illegaler Kokaanbaufläche etwa 26.500 ha zu zerstören, zumeist durch abhacken oder ausreißen der Kokabüsche. Auch wenn diese offiziellen Zahlen mit Sicherheit übertrieben sind, so hat doch die Tatsache an sich Bestand: mit Hilfe der bolivianischen Streitkräfte hat Ex-General Banzer einen Großteil der bestehenden illegalen Kokafelder im Chapare zerstört. Rechtliche Grundlage für diesen Einsatz bildet das – auf Drängen der USA – verabschiedete bolivianische Drogengesetz von 1988, besser bekannt als „Gesetz 1008“ (s. Kasten).
Was wurde tatsächlich im positiven Sinne erreicht, außer eines gewissen propagandistischen Erfolges? Die Situation der Kokawirtschaft in Bolivien ist jedenfalls praktisch unverändert. Weiterhin ist Bolivien das wichtigste Transitland für Kokainschmuggel in Südamerika, sowohl in Richtung Chile als auch nach Brasilien. Noch immer muss davon ausgegangen werden, dass Schmuggel und Produktion von Kokain neben den Exporten von Erdgas und Erdöl die wichtigste wirtschaftliche Aktivität des Landes darstellt. Es fehlt nicht an seriösen Wirtschaftsfachleuten, die vor dem völligen Zerschlagen der Kokawirtschaft warnen, da dies vermutlich das Land in eine ökonomische Krise nicht vorsehbaren Ausmaßes stürzen würde. Nichtsdestrotz ist der Kampf gegen die illegalen Kokafelder im feucht-heißen Chapare seit mehr als zehn Jahren ein Hauptanliegen, sowohl der bolivianischen, als auch der US-Regierung. Bleibt also zu fragen, welche Ziele mit der angeblichen Kokavernichtung (erradicación de la coca) tatsächlich verfolgt werden.
Der Kampf gegen die Koka hat eine zentrale Funktion imVerhältnis Boliviens zu den Vereinigten Staaten: Von der jährlich durch die USA vorgenommenen „Zertifizierung“ eines jeden Landes hinsichtlich der verfolgten Drogenpolitik hängt maßgeblich der Umfang der finanziellen und technischen Unterstützung ab.

Militarisierung des Chapare

„Für die (Regierung) ist die Kokavernichtung ein ausgezeichnetes Geschäft. Was sie wollen ist frisches Geld von der (US-)Botschaft, um ihre Bürokratie zu bezahlen“, stellt der Generalsekretär der Bauerngewerkschaft aus den Yungas, Gabriel Carranza fest.
Wichtig ist die Drogenpolitik aber auch im Hinblick auf sonstige finanzielle Zuwendungen durch die USA. Nicht immer wird das so deutlich wie im Falle des Chapare, wo mit Hilfe US-amerikanischen Geldes drei komplette Militärstützpunkte errichtet werden sollen. Offiziell, um die erreichten Erfolge in der Drogenbekämpfung zu konsolidieren. Dies bedeutet jedoch eine dauerhafte Militarisierung der gesamten Region. Das nördliche Amazonastiefland Boliviens, zu dem der Chapare gehört, gilt als strategisch Region für die Kontrolle des gesamten Amazonasbeckens.
Auf beiden Seiten wird man nicht müde zu versichern, es handele sich nicht um US-Stützpunkte, sondern um Einrichtungen des bolivianischen Militärs. „Die Kasernen im Chapare werden keine nordamerikanischen Militärbasen sein“, unterstrich der Chef des Südkommandos der Streitkräfte der USA, Charles Wilhelm, bei seinem Besuch in Bolivien zu Beginn des Jahres ausdrücklich. Rechtlich betrachtet trifft dies zu. Jedoch werden den US-Militärs in den entsprechenden Verträgen umfangreiche Nutzungsrechte eingeräumt. Aus US-Sicht dürfte diese Variante billiger und vor allem „vornehmer“ sein, als sich durch ständige physische Präsenz von eigenen Truppen unbeliebt zu machen.
Durch den Eingriff der Regierung hat sich der Anbau von Koka zum Einen auf schlechter zugängliche Regionen im Hinterland des Chapare, zum Anderen in die nordöstlich von La Paz gelegenen subtropischen Yungas verlagert. Etliche Produzenten sind auf den Anbau von Marihuana umgestiegen, weil dies, im Gegensatz zur Koka, auf kleineren Feldern und im Halbschatten größerer Gewächse anzubauen ist. Somit wird die Satellitenerfassung der Anbauflächen sehr viel schwieriger.

„Die Yungas werden der neue Chapare werden“

So stehen die Zeichen weiterhin auf Konfrontation. Die Cocaleros haben bereits mit einem Marsch nach La Paz und einer Straßenblockade auf ihre Bereitschaft zum aktiven Widerstand aufmerksam gemacht. Passiert ist in den Yungas in den ersten drei Monaten des Jahres trotz vielfacher Ankündigung der Regierung allerdings nichts.
Weiterhin wird um die Modalitäten der Kokavernichtung und die Höhe der Kompensationszahlungen gestritten. Gleichzeitig wartet die Regierung jedoch auf weitere internationale Hilfsgelder, um den Einsatz von Militär und Polizeitruppen zur Kokavernichtung finanzieren zu können.

KASTEN

Legale Koka und das Gesetz 1008

Seit altersher wird im bolivianischen Hochland das Blatt des Kokastrauchs von der Bevölkerung konsumiert und für rituelle Zwecke genutzt. Gründe für diesen Konsum sind die hunger- und durststillende Wirkung dieser Pflanze, die zudem auch noch unempfindlich gegen Kälte und Anstrengung macht, und gleichzeitig die Aufmerksamkeit und die Konzentration fördert.
Dieser Tatsache Rechnung tragend, unterscheidet das Gesetz 1008 zwischen legalen und illegalen Kokaanbaugebieten. Als legal gelten demnach all die Gebiete, in denen Koka traditionell ausschließlich für den nationalen Gebrauch angebaut wird. Gleichzeitig wird für diese Gegenden eine Obergrenze von 12.000 ha festgesetzt, die aus der Menge des nationalen Konsums errechnet wurde. Neben der Nutzung von Kokablättern bei rituellen Handlungen, sind die folgenden Nutzungen der Koka in Bolivien legal:
– Das „Kauen“ von Kokablättern, das heißt unter Hinzugabe eines Stücks gepresster pflanzlicher Asche wird der mit Speichel getränkte Blätterkloß in der Backe aufbewahrt, wobei gelegentlich die Seite gewechselt wird, um eine Betäubung derselben zu verhindern.
– Das Konsumieren von Koka als Tee. Dieser Mate de Coca gehört zum Standard-Angebot eines jeden Restaurants und wird auch von Touristen konsumiert, die bei ihrer Ankunft in La Paz auf 3.600m Probleme mit der Höhe haben.
– Und die Nutzung von Koka als Medikament bei verschiedenen Erkrankungen.
Alle weiteren Nutzungen des Kokablattes, insbesondere die Herstellung von Kokain oder dem Vorprodukt, der pasta base, sind streng verboten.

Ein bescheidener Sieg für die Demokratie

Von wenigen Ausnahmen abgesehen verlief der Wahlsonntag am 5. Dezember in Bolivien ausgesprochen ruhig. Es galt ein landesweites Fahrverbot und in den großen Städten beherrschten Radfahrer, Fußgänger und spielende Kinder und Jugendliche das Straßenbild – ein ungewohnter Anblick.
Sprachen daraufhin die KommentatorInnen zunächst von einem großen Sieg für die Demokratie im Lande, sind wenige Tage nach der Wahl die Stimmen nachdenklicher geworden: Wie ist es um die lokale Demokratie und Bevölkerungsbeteiligung bestellt, wenn rund die Hälfte der ländlichen Bevölkerung der Wahl fernbleibt? – Obwohl es keine Statistiken gibt, läßt die eigene Beobachtung den Schluß zu, daß hier insbesondere die Frauen nicht sehr zahlreich an den Kommunalwahlen teilnahmen.

Ursachenforschung

Nun beginnt die Suche nach den Gründen: Parteienverdrossenheit, Korruption und Vetternwirtschaft, fehlende Identifikation mit dem politischen Prozeß auf der lokalen Ebene werden angeführt.
Eine umfassende Bewertung der Wahlergebnisse ist auch mehrere Tage nach den Wahlen nicht möglich, liegen von der Mehrzahl der kleineren Gemeinden noch immer keine vollständigen Ergebnisse vor. Anrufe bei Freunden oder Kollegen erhellen das Bild in dem einen oder anderen Fall, ergeben jedoch kaum einen Überblick.
Von den „zehn wichtigsten Städten“ (die neun Departements-Hauptstädte plus El Alto) lagen die amtlichen Wahlergebnisse zwar relativ schnell vor, doch das bolivianische Wahlsystem erschwert auch hier die zügige Analyse: Erhält keiner der Kandidaten mehr als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen, wird der Bürgermeister vom Stadt- beziehungsweise Gemeinderat zwischen den beiden Erstplazierten bestimmt. Dessen Zusammensetzung wiederum errechnet sich nach einem wenig nachvollziehbaren Umrechnungsschema auf Grundlage der erzielten Stimmen. So kann es sein, daß in einem Fall ein Unterschied von weniger als 0,5 Prozent zwischen Erst- und Zweitplaziertem zu 3 beziehungsweise nur 2 Sitzen im Stadtrat führt (Sucre), während im anderen Fall ein Unterschied von fast 5 Prozentpunkten mit jeweils drei Sitzen berechnet wird (La Paz).
Dort, wo sich keine stabilen Mehrheiten im Gemeinderat ergeben haben, beginnt gleich nach den Wahlen der oftmals äußerst schwierige Prozeß der politischen Verhandlungen: Werden lokale Allianzen geschmiedet, oder halten sich die VertreterInnen der Parteien an die nationalen Koalitionsverhältnisse?

So wählten die Städte

In Cochabamba wurde der bisherige Bürgermeister Manfred Reyes Villa von der Neuen Republikanischen Kraft (NFR) direkt wiedergewählt, ein Sieg, der selbst die eigenen Erwartungen übertraf. In allen anderen Landesteilen blieb die NFR ohne nennenswerte Bedeutung.
In El Alto trug José Luis Paredes von der Bewegung der Revolutionären Linken (MIR) einen deutlichen Sieg davon, womit der oft beschworene Untergang von der Partei Gewissen des Vaterlands CONDEPA tatsächlich besiegelt scheint.
Denn auch in La Paz, dessen Bürgermeister sie noch vor wenigen Jahren stellte, reichte es nicht zu einem einzigen Sitz im Stadtrat. Hier wurde Juan del Granado von der linken Bewegung ohne Angst (MSM) zwar deutlicher Sieger, doch werden dem Zweitplazierten Ronald McLean von der regierenden rechten Nationalistisch Demokratischen Aktion ADN bessere Chancen in der Verhandlung um den Bürgermeisterposten eingeräumt.
In der Hauptstadt des östlichen Tieflands, Santa Cruz, lag der ehemalige Bürgermeister und Brauereibesitzer Johnny Fernández knapp vor seinem Herausforderer Percy Fernández von der Nationalistisch Revolutionären Bewegung MNR und wird damit vermutlich erneut zum Bürgermeister gewählt.

Zweimal Fernández

In Potosí gewann die Sozialistische Partei (PS) 9 von 11 Sitzen im Stadtrat und ist damit direkt gewählt. Den Wahlsieg in den Hauptstädten der gering besiedelten Departements des Amazonastieflands trug die ADN davon, die demnach in Pando und Trinidad für die nächsten fünf Jahre den Bürgermeister stellen wird. In Sucre, Tarija und Oruro verhandeln die Kandidaten von MIR, MNR und MBL (Bewegung Freies Bolivien) noch mit den VertreterInnen kleinerer Parteien um den Preis für deren Stimme.
Auch wenn landesweite Trends schwer auszumachen sind, so reklamieren bereits jetzt mehrere Parteien aufgrund des Wahlergebnisses Ansprüche für die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2002. Dies bezeugt, daß noch immer viele Politiker die lokale Ebene nicht ernst nehmen, sondern einen Bürgermeisterposten als Sprungbrett für die Präsidentschaftskandidatur sehen. Hier Abhilfe zu schaffen ist eine der zentralen Herausforderungen der nächsten Jahre für die bolivianische Gesellschaft.

Das Zünglein an der Waage

Mißachtung von Gesetzen hat in Kolumbien Tradition. Schon die ersten Spanier übten sich darin, als die Spanische Krone 1542 die Leyes Nuevas verabschiedeten, die die physische Ausrottung der indigenen Völker verhindern sollten. Sie wurden nie in Kraft gesetzt. Landnahme erfolgte ohne jegliche Rücksicht auf die Rechte indigener Völker. Nach und nach mußte die auf Selbstverwaltung gerichtete Landwirtschaft der indigenen Gemeinden den Viehweiden und Plantagen der Spanier weichen, die ihre Landtitel durch Zahlungen an die Krone legalisieren konnten.
Die Strukturen der extremen Konzentration des Landeigentums in wenigen Händen überlebten auch die Wirren der Unabhängigkeitskriege. Die Konservative Partei, von der sich vor allem die Großgrundbesitzer vertreten fühlten, dominierte das erste Jahrhundert der jungen Republik. Erst 1930 kamen als Konsequenz der beginnenden Industrialisierung die Liberalen an die Regierung. Im Rahmen des Reformprogramms mit dem Titel La Revolución en marcha war eine Agrarreform vorgesehen. Die gerechtere Verteilung des Bodens hatte neben der Prävention sozialer Unruhen vor allem Produktionssteigerungen zum Ziel. 1936 wurde für Entscheidungen in Landkonflikten die Agrargerichtsbarkeit geschaffen. Unproduktive Güter, die ihre soziale Funktion nicht erfüllten, konnten enteignet werden. Statt einer Umverteilung zugunsten landloser Bauern bewirkte die Reform jedoch eine weitere Konzentration von Landeigentum, da die Großgrundbesitzer Pächter, von denen ihnen Gefahr zu drohen schien, verjagten und ihnen die Pachtverträge nicht verlängerten. Statt Brachland zur Nahrungsmittelproduktion zu nutzen, weiteten sie das Weideland aus.
So weisen die Statistiken von 1960 aus, daß 1,4 Prozent Latifundisten – also Landeigner – mit mehr als 200 Hektar Land – 46 Prozent des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens kontrollierten, während die Masse der Kleinbauern (67 Prozent), die jeweils weniger als fünf Hektar zur Verfügung hatten, magere 6 Prozent untereinander aufteilten.

Agrarreform mit Negativergebnis

Die Sechzigerjahre brachten eine neue Agrarreform, verordnet von der durch die kubanische Revolution beunruhigten US-Regierung Kennedy. Im Rahmen der Allianz für den Fortschritt wurden die lateinamerikanischen Staatschefs angehalten, bewaffneten Revolutionen durch Sozialreformen vorzubeugen. In Kolumbien war der blutige Bürgerkrieg, bekannt als La violencia (1948-1957), in dem die beiden großen Parteien ihre Anhänger gegeneinander aufgehetzt hatten, noch in lebhafter Erinnerung.
Das Gesetz 135 aus dem Jahr 1961 sollte die Großgrundbesitzer zur Modernisierung zwingen und die bessere Nutzung der Böden garantieren. Der Erfolg dieser halbherzigen Reform blieb aber weit hinter den Erwartungen zurück. Erst unter Carlos Lleras Restrepo (1966-1970) wurde das Gesetz vertieft. Pächter sollten Anspruch auf das von ihnen bebaute Land bekommen und Brachland enteignet werden. Um die Bauern in den Reformprozeß einzubinden, ließ die Regierung die Bauernorganisation ANUC gründen. Gleichzeitig ließ sie die Bildung von Selbstverteidigungsgruppen zu. Diese Vorläufer der paramilitärischen Verbände waren der Armee unterstellt.
Die Bauern ließen sich allerdings nicht alle in die reformistische ANUC einzubinden. Nach der militärischen Zerschlagung der „unabhängigen Republiken“, jener Gebiete, wo sich die kommunistischen Bauernmilizen während der Violencia gegen die konservativen Horden verschanzt hatten, entstand mit den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) die erste Guerilla. Kurz nach der moskauorientierten Rebellenarmee formierten sich das kubafreundliche Volksbefreiungsheer (ELN) und das maoistische EPL, die mehr von städtischen Intellektuellen getragen wurden.
Nach zehn Jahren Landreform war das Land noch konzentrierter als 1960. Landlose und vertriebene Bauern emigrierten in die Städte, da sie den neuen Wachstumsrhythmus schlecht verkrafteten. Trotz höchster Landverteilungsraten unter den Präsidenten Lleras und Misael Pastrana, schritt die Reform so langsam voran, daß selbst die ANUC die Geduld verlor und zu Besetzungen von für die Enteignung fälligen Ländereien aufrief.

Repression zur Befriedung

Die Regierung wußte sich dagegen nicht anders zu helfen als durch Verschärfung der Repression. Die Anführer der Besetzungen kamen auf schwarze Listen von Campesinos, denen kein Land zugeteilt werden durfte. 1973 erklärten dann die Chefs der beiden großen Parteien gemeinsam mit den Eigentümerlobbies im Pakt von Chicoral die Agrarreform für „erfolgreich abgeschlossen“. Die entsprechende Ruhe wurde mit der Ausdehnung der militärischen Repression auf die Städte hergestellt. Dort hatte sich in den Invasionsvierteln das Movimiento Viviendista gegen Spekulanten und Großgrundbesitzer gebildet. Arbeiterproteste und Bürgerinitiativen komplettierten eine fast alle Gesellschaftsschichten erfassende soziale Bewegung, die tiefgreifende Veränderungen forderte.
Der liberale Präsident López Michelsen antwortete statt mit der versprochenen Öffnung mit mehr Repression. Und sein Nachfolger Julio César Turbay Ayala verabschiedete 1978 kurz nach seinem Amtsantritt das berüchtigte Sicherheitsstatut, das der Armee freie Hand bei der Bekämpfung des inneren Feindes gab. Allein in seinem ersten Regierungsjahr wurden 60.000 Menschen verhaftet und viele von ihnen gefoltert. Die durch das Statut eingeführte Zuständigkeit der Militärgerichtsbarkeit für Zivilisten wurde erst 1987 abgeschafft.
Während die sozialen Bewegungen brutal unterdrückt wurden, konnten rücksichtslose Drogenhändler kleine Imperien aufbauen. Die verstärkte Nachfrage nach Kokain in den USA hatte einen Boom des illegalen Handels in Kolumbien ausgelöst. Eine Entwicklung, die später nicht nur zu einer beispiellosen bewaffneten Konfrontation zwischen Staat und Drogenkartellen führen, sondern auch die bescheidenen Erfolge aller bisherigen Agrarreformprojekte zunichte machen sollte. Nachdem es zu mühsam und gefährlich wurde, den Rohstoff aus Peru und Bolivien, den traditionellen Anbauländern des Coca-Blatts, zu importieren, animierten die Drogenbosse landlose Bauern, im Urwald große Plantagen der verbotenen Pflanze anzulegen. Eine ökologische Katastrophe, die durch die Entlaubungsaktionen der Drogenpolizei noch verschlimmert wurde. Gleichzeitig investierten die Drogenhändler ihre Gewinne in Land. Transaktionen, bei denen mehrere Millionen Dollar in Bar den Besitzer wechselten und damit reingewaschen wurden, waren an der Tagesordnung. Man schätzt, daß sich rund acht Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche heute in Händen von Drogencapos befindet. Das sind zwischen drei und vier Millionen Hektar Land – genug, um die große Mehrheit der landlosen und vertriebenen Bauern auf rentablen Flächen ansiedeln zu können. Eine neue Agrarreform wäre längst angesagt, denn gegenüber 1960 hat sich an der extremen Konzentration von Land nichts geändert. Die Verhältnisse haben sich sogar noch zugespitzt.

Umverteilung nicht mehr Staatssache

Seit den neoliberalen Reformen von César Gaviria geht die Landumverteilung nur mehr über den Markt. Das Landreforminstitut INCORA wird nur aktiv, um Verkäufer und Käufer zusammenzubringen, und den Käufern bis zu 70 Prozent des Preises zuzuschießen. Gewöhnlich wird aber Land minderer Qualität zu überhöhten Preisen angeboten. Die Funktionäre des INCORA sollen dabei in der Vergangenheit auch nicht schlecht weggekommen sein. In einem Land, in dem die wirtschaftliche und politische Macht seit Generationen von einer kleinen Clique kontrolliert wird, ist der Markt mehr noch als anderswo eine Fiktion. Daß die Agrarreform via Markt daher in eine Sackgasse führen mußte, durfte die Verantwortlichen nicht überraschen.
In 16 Jahren sollten 721.000 Familien zu Land kommen und 4,5 Millionen Hektar Land gekauft werden. Tatsächlich wurde die für 1994 bis 1998 angepeilte Zahl von 250.000 Familien weit unterschritten. Beim gegenwärtigen Rhythmus wäre das für 16 Jahre ins Auge gefaßte Programm erst in 110 (!) Jahren erfüllt. Wenn man voraussetzt, daß die Bevölkerung nicht wächst und keine weiteren Vertreibungen stattfinden. Beides sehr unrealistische Annahmen.
Der US-amerikanische Historiker Samuel Huntington, der durch den umstrittenen Kampf der Kulturen auch bei uns bekannt wurde, schrieb schon 1968: „Die Landbevölkerung spielt das Zünglein an der Waage im Prozeß der politischen Modernisierung. Wenn sie das politische System unterstützt und sich nicht gegen die Regierung richtet, ist das System sicher vor Revolutionen. Wenn sie in Opposition ist, dann laufen das System und die Regierung Gefahr, gestürzt zu werden. Die Rolle der Stadt ist immer die Opposition. Die Rolle des Landes ist unterschiedlich: es kann ein Stabilitätsfaktor oder der Funke zur Revolution sein. Die Opposition der Landbevölkerung ist fatal. Wer sie kontrolliert, kontrolliert den Staat.“
Daß die FARC-Comandantes sich an dieser Erkenntnis orientieren und sich daher in erster Linie auf die Landbevölkerung stützen, ist weniger erstaunlich als das mangelnde Bemühen der Regierungen, sich die Sympathie dieser Bevölkerungsgruppe zu sichern. Ihre Politik scheint einzig auf die Städte konzentriert zu sein, wo inwischen 78 Prozent der KolumbianerInnen leben. Das Land wird sich selbst beziehungsweise der Guerilla und den Paramilitärs überlassen. Mit Folgen, wie wir sie alle kennen: Zwangsrekrutierung, Massaker, Vertreibungen und der Militarisierung ganzer Regionen. Vor allem in den Gebieten, die von strategischem Wirtschaftsinteresse sind, werden die Paramilitärs auf Bauern angesetzt, deren Land plötzlich im Wert gestiegen ist.
Alle Konfliktparteien haben die Agrarreform als zentralen Punkt in ihre Wunschliste für Friedensverhandlungen aufgenommen. Doch während die Regierung und die USA eine Landreform in erster Linie als Instrument der Antidrogenpolitik sehen, also um Cocabauern aus dem Urwald herauszuholen und wieder in die legale Wirtschaft einzubinden, fordern die Guerillaorganisationen und selbst die Paramilitärs eine Strukturreform, die das exportorientierte Latifundium zugunsten der Nahrungsmittelproduktion in Klein- und Mittelbetrieben schwächt. Wenn bei den zögernd anlaufenden Verhandlungen zwischen Regierung und FARC eine ernsthafte Agrarreform herauskommt, wäre das schon ein Erfolg, der den Dialog rechtfertigt.

Umverteilung der Macht

Lautsprecherwagen mit Fahnen fahren in arme Stadtviertel und verteilen T-Shirts und Baseball-Kappen. Öffentliche Anschuldigungen und politische Beschimpfungen der Kandidaten sind an der Tagesordnung, die ersten Gerichtsverfahren laufen. Häuserwände, Brückengeländer, Felsbrocken und Strommasten werden in den jeweiligen Parteifarben bemalt und mit den Namen der Kandidaten verziert: Schwarz-weiss-rot für die regierende rechte ADN (Nationalistische Demokratische Aktion), blau-orange für den Koalitionspartner MIR (Bewegung der Revolutionären Linken), weiss-blau für die rechtspopulistische UCS (Bürgerunion Solidarität), rosa für die oppositionelle MNR (Nationalistische Revolutionäre Bewegung), gelb-rot für die linke MBL (Bewegung Freies Bolivien). Unverkennbar: Es ist Wahlkampf im Land. In allen 314 Kommunen des Landes geht es Anfang Dezember um die lokale ökonomische und politische Macht.
Das war in Bolivien nicht immer so. Bis zur Verabschiedung des Ley de Participación Popular (Gesetz zur Volksbeteiligung, kurz: LPP) vor vier Jahren gab es nur in den größeren Städten des Landes gewählte Vertretungen, die dann auch jeweils nur für den städtischen bebauten Bereich zuständig waren. Der Großteil des Landes, und damit praktisch die gesamte Landbevölkerung, unterstand den Unter-Präfekten der einzelnen Provinzen, die von den Präfekten der neun Departamentos des Landes eingesetzt wurden. Die Präfekten ihrerseits wurden direkt vom Präsidenten benannt und eingesetzt.

„Der Tanz der Millionen“

Die Einführung der Kommunalautonomie durch das Gesetz zur Volksbeteiligung war ein grosser Schritt nach vorne in dem Bemühen, den bolivianischen Staat zu dezentralisieren und zu demokratisieren. Zwar hat es bereits 1995 die ersten landesweiten Lokalwahlen nach dem neuen System gegeben, doch überschauten damals in vielen Fällen die Wähler die vollzogenen Änderungen kaum. Das wird diesmal anders sein. Die Bedeutung der lokalen Ebene ist ins allgemeine Bewußtsein eingedrungen, auch wenn sie gelegentlich einzig am Finanzvolumen gemessen wird. So betitelte unlängst die seriöse Tageszeitung La Razón einen längeren Artikel über die anstehenden Kommunalwahlen mit „Der Tanz der Millionen“ und rechnete vor, daß im laufenden Jahr zusammengenommen über eine Milliarde bolivianischer Pesos (rund 400 Millionen DM) von den Kommunen des Landes verwaltet wurden. In einem Land wie Bolivien ist dies keine Kleinigkeit.
Als ungeliebtes Erbe von der vorangegangenen Regierung unter MNR-Parteichef Gonzalo „Goni“ Sánchez de Lozada übernommen, begannen mit dem Amtsantritt des Ex-Diktators Banzer 1997 schwere Zeiten für Bürgerbeteiligung und Gemeindeautonomie. Es wurde jedoch sehr schnell deutlich, daß die erreichte Dezentralisierung und Demokratisierung nicht einfach mehr zurückzudrängen ist – zumindest nicht mit demokratischen Mitteln. Zu selbstbewußt treten mittlerweile die Vertreter der Kommunen auf. Sie beginnen sich in Gemeindeverbänden zu organisieren und ihre gesetzlich verankerten Rechte zu reklamieren. Und dabei geht es gewiß nicht allen um das demokratische Prinzip. Viele Parteienvertreter haben vielmehr einen der über 300 lukrativen Bürgermeisterstellen oder einen Gemeinde- beziehungsweise Stadtratsposten im Auge, von denen es an die 1 600 gibt.
Die Parteien möchten sich bei den Wahlen eine Basis für die nationalen Wahlen im Jahr 2002 schaffen, Politiker können in den Gemeinden eine lukrative Nische oder ein Sprungbrett zu anderen Posten finden. Nur mühsam begeben sich die Parteipolitiker selbst auf den Weg der (internen) Demokratisierung und Dezentralisierung. Viel zu oft bestimmen nationale und regionale Parteikalküle die Bürgermeister-Kandidaten und nicht die jeweiligen Bürger. Doch es sind Ansätze zu erkennen, daß die Bürger vielerorts sich dies nicht länger gefallen lassen werden. Somit könnte der Ausgang der Wahlen großen Einfluß auf die längst überfällige Modernisierung der politischen Parteien haben.

Kandidatenvielfalt in großen Städten

In den vier großen Städten des Landes steht der Wahlausgang noch keineswegs fest, jedoch ist hier die traditionelle politische Elite unter sich. In der im östlichen Tiefland gelegenen Millionenstadt Santa Cruz wird die Entscheidung vermutlich zwischen dem UCS-Chef und amtierenden Bürgermeister Johnny Fernández und seinem stärksten Herausforderer Percy Fernández von der MNR fallen.
In La Paz selbst stehen 15 Kandidaten zur Wahl, von denen wohl keiner mehr als ein Drittel der Stimmen auf sich vereinigen können wird. Am aussichtsreichsten sind Ronald McLean von der ADN, Guido Capra (MNR), Cristina Corrales (Revolutionäre Vorhut 9. April) und Juan del Granado (MSM). Letzterer hatte vor einigen Monaten für Aufsehen gesorgt, als er aus der MBL austrat und – von einer großen Öffentlichkeitskampagne begleitet – die „Bewegung ohne Angst“, MSM, (Movimiento Sin Miedo) gründete, deren Vorsitzender und Spitzenkandidat für das Bürgermeisteramt er nun ist.
In El Alto, der auf dem kalten und windigen Altiplano gelegenen Nachbarstadt von La Paz, stehen ebenfalls eine Vielzahl von Kandidaten zur Wahl. Da die populistische Condepa (Gewissen des Vaterlandes) des 1997 verstorbenen Parteigründers Carlos Palenque vollkommen zerstritten und gespalten ist, verfügt keine der Parteien mehr über eine Hegemonie, und der Wahlausgang ist völlig offen. Ähnlich wie in La Paz wird vermutlich auch hier ein Vielparteien-Stadtrat nach komplizierten Koalitionsverhandlungen einen schwachen Bürgermeister aus seiner Mitte wählen.
Einzig in Cochabamba scheint die Wiederwahl des seit 1993 amtierenden Bürgermeisters Manfredo Reyes Villa von der1997 gegründeten NFR (Neue Republikanische Kraft) sicher zu sein. Seine Amtsführung gilt in Bolivien als effizient und erfolgreich.

Ethnische Vielfalt auf dem Land

Sehr viel unübersichtlicher ist die Situation in den kleineren und mittleren Kommunen des Landes. Eine Vielzahl von politischen, ethnischen und historischen Unterschieden macht es fast unmöglich, allgemeine Aussagen zu machen. Auffällig ist aber insbesondere im Altiplano und den Koloni-sierungsgebieten des nördlichen Amazonas-Tieflandes die Kandidatur von Bauernvertretern. Die gewerkschaftliche Organisationskultur – speziell der Aymaras und Quechuas aus dem Hochland – hat viele Landgewerkschaften bewogen, eigene Kandidatenlisten aufzustellen, um die traditionelle Vormachtstellung der (klein-)städtischen Eliten aufzubrechen. Da unabhängige Kandidaturen laut Wahlgesetz nicht möglich sind, dienen unterschiedliche politische Parteien als Vehikel. Das erschwert den Überblick erheblich.
Bereits bei den Lokalwahlen 1995 wurden 630 „indianische“ Gemeinderatsvertreter gewählt. Ihre Zahl wird diesmal sicherlich höher liegen, denn in vielen ländlichen Gemeinden hat sich ein beachtlicher politischer Orientie-rungs- und Organisationsprozeß vollzogen. Auch dies ist letztlich ein direktes Ergebnis des Gesetzes zur Volksbeteiligung.
Die Durchführung von demokratischen Wahlen ist kein leichtes Unterfangen in einem Land, in dem es kein Melderegister gibt und die Mehrzahl der Bevölkerung keine Personalausweise oder andere Identitätspapiere besitzt. Kein Wunder, daß es trotz erheblicher Bemühungen immer wieder zu kleineren Pannen und Un-regelmäßigkeiten kommt: So übernahmen in Santa Cruz Parteiaktivisten der rechten ADN und ihres – zumindest formell – linken Koalitionspartners MIR zeitweise das Austeilen von Personaldokumenten. Präsident Banzer ließ es sich bei seinem Besuch im Departamento Pando nicht nehmen, die Bevölkerung aufzurufen, „die zu wählen, die Euch schon immer gut vertreten haben“ – immerhin ohne direkt seine eigene Partei zu nennen.
Bei der Präsentation der Kandidatenlisten der einzelnen Parteien tauchten Namen mehrfach und in verschiedenen Gemeinden auf; mitunter fehlte die Angabe des Geschlechts oder war offensichtlich falsch. Dies ist von erheblicher Bedeutung, fordert doch das bolivianische Wahlgesetz bei der Aufstellung der Kandidatenlisten eine Frauenquote von 30 Prozent. Mehr noch: Wird der erste Listenplatz mit einem Mann besetzt, so muß der zweite in jedem Fall einer Frau zugeteilt werden. Dies gilt theoretisch auch andersherum, die praktische Anwendung ist jedoch durch die geringe Anzahl von Bürgermeisterkandidatinnen sehr eingeschränkt. Nicht nur die Parteien haben im Vorfeld der Wahlen eine Reihe administrativer Hürden zu nehmen. Auch die Wähler mußten sich zunächst in das Wahlregister eintragen lassen, um zur eigentlichen Wahl zugelassen zu werden. Dies soll verhindern, daß Personen mehrfach wählen oder Tote an der Wahl teilnehmen. Zudem wird es am Wahltag ein landesweites absolutes Fahrverbot geben. Nicht verhindern läßt sich allerdings, daß die per Los aus dem bereits bestehenden Wahlregister ermittelten Vorsitzenden der Wahllokale möglicherweise längst verstorben sind, denn die Aktualisierung des Registers erfolgt nur zu den Wahlen selbst. Der Vorsitzende des Nationalen Wahlkomitees kommentiert dies humorvoll: „Unsere Verstorbenen haben sich noch nicht daran gewöhnt, sich korrekt abzumelden, wenn sie sterben. Sie sterben einfach, ohne uns das mitzuteilen“. Statistisch gesehen ist jedoch die Chance, einen „Toten“ als Wahlvorsitzenden anzutreffen relativ gering. Derzeit ist das Nationale Wahlkomitee damit beschäftigt, die Listen der ungefähr 18 000 Kandidaten und der etwa 720 000 eingeschriebenen Wähler auf Doppelungen und Unstimmigkeiten zu überprüfen. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, daß Ausländer, die länger als zwei Jahre in Bolivien leben, ohne großen Aufwand an den Kommunalwahlen teilnehmen dürfen.

Demokratie als Prozeß

Ein Problem, das momentan für heftige Streitigkeiten sorgt, stellt die im Wahlgesetz festgelegte Anforderung dar, die Kandidaten müßten im Jahr vor der Wahl ihren Wohnsitz in der jeweiligen Kommune gehabt haben. Dies ist bei vielen Kandidaten ganz offensichtlich nicht der Fall. Ronald Mc Lean, Ex-Bürgermeister von La Paz und Vertreter der ADN, lebt beispielsweise seit längerem in den USA. Remedios Loza, Condepa-Chefin und Spitzenkandidatin für El Alto, lebt und arbeitet in La Paz. Die Liste läßt sich fast beliebig fortsetzen.
Nun wird diskutiert, ob der Besitz eines Hauses (auch wenn es nicht bewohnt wird) als Wohnsitz gelten kann. Jedenfalls stehen mächtige politische Interessen einer objektiven Gesetzesinter-pretation entgegen. Ein Beobachter formuliert: „Wenn Banzer sagt, der wohnt dort (in Santa Cruz), dann wohnt der dort“ – auch wenn der gemeinte Präsidialamtsleiter Guido Nayar im Vorjahr öffentlich in La Paz seiner Tätigkeit für die Regierung nachging.
Von derlei Formen der politischen Einflußnahme abgesehen, kann der Rahmen der Kommunalwahlen insgesamt jedoch als weitgehend fair und demokratisch bezeichnet werden. Demokratie ist eben kein „Ereignis“, das sich mit dem Ende der Diktatur von García Mesa 1982 plötzlich eingestellt hat, sondern ein Prozeß, der in Bolivien gerade erst auf der lokalen Ebene angekommen ist und noch viel Zeit braucht.
Die Ergebnisse der Wahlen werden mit Spannung erwartet, denn der Ausgang wird neben seiner großen Bedeutung für die über 300 eigenständigen Kommunen interessante Rückschlüsse zulassen über das Funktionieren des bolivianischen Parteiensystems. Die spannende Frage ist, ob vor Ort weiter nach dem alten Muster der Parteihörigkeit gewählt wird, oder ob der politische Reifeprozeß der letzten Jahre neue lokale Mehrheiten hervorbringt.

Brot, Land und Freiheit!

In der honduranischen Hauptstadt Tegucigalpa versammelten sich 15 000 Menschen, die vom Obersten Gerichtshof Richtung Präsidentenhaus marschierten. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, bei denen 19 Personen verletzt wurden. Politisch war die Demonstration ein großer Erfolg: Im Parlamentsgebäude wurde eine Vereinbarung mit dem Kongreßpräsidenten unterzeichnet, nach der sich die Regierungspartei verpflichtet, ein neues Gesetz für Agrarreform und Forstwirtschaft zu erarbeiten. In Peru riefen die Bauernorganisationen CNA und CCP einen Agrarstreik aus, um gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik der Regierung zu protestieren, die eine Gegenreform im Agrarbereich darstellt. In Brasilien organisierte die MST zusammen mit der Landpastoral und anderen Organisationen einen bundesweiten Marsch für die Durchführung der Agrarreform. Der Marsch kam in Brasília am 7. Oktober an, fünf Tage später riefen 3 000 Menschen die Agrarreformkampagne aus. In Bolivien demonstrierten Mitglieder der Bauernorganisation CSUTCB, insbesondere in den Provinzen Santa Cruz und Cochabamba, massiv für das Recht auf Land. Nationale Kundgebungen gab es am 12. Oktober außerdem in Mexiko, Guatemala, El Salvador, Nepal, den Philippinen und mehrere regionale Aktionen in Indien.
Zu symbolischen Landbesetzungen kam es vor dem Reichstag in Berlin und auf dem Heldenplatz vor der Hofburg in Wien. Einfache Zelthütten, mit Plastikplanen bespannt, wurden vor den monumentalen Kulissen der historischen Bauwerke aufgestellt. Außerdem wurden in Österreich und Deutschland Petitionen an die Regierungen überreicht, in denen gefordert wird, Agrarreformen im Süden durch die Entwicklungspolitik zu unterstützen.
Obwohl Millionen Bauernfamilien tagtäglich Hunger und Armut erleiden müssen, weil ihnen der Zugang zu Land und produktiven Ressourcen verwehrt wird, sind in den meisten Ländern des Südens die Agrarreformprozesse ins Stocken geraten. Im Zeichen der Strukturanpassungsprogramme und neoliberaler Agrarpolitiken werden Agrarreformen zunehmend durch die Liberalisierung der Bodenmärkte abgelöst. Das Paradigma der Agrarreform, nach dem das Land denen gehören soll, die es bearbeiten, wird ersetzt durch ein anderes: Recht auf Land hat nur noch, wer das Geld hat, es zu kaufen. Die soziale Funktion des Landeigentums wird mehr und mehr an den Rand gedrängt.
Auch der Zugang zu anderen Ressourcen wie Kapital, Beratung und Bildung unterliegt diesem Trend. An die Stelle der Umverteilung tritt die Polarisierung, an die Stelle der Dezentralisierung des Ressourcenbesitzes tritt die Rekonzentration. En vogue ist nicht mehr die Agrarreform, sondern Prozesse zwischen Bodenmarkt und Gegen-Agrarreform. In starkem Kontrast mit dieser Wirklichkeit stehen zahlreiche Beschlüsse und Deklarationen der internationalen Staatengemeinschaft zur Durchführung und Unterstützung von Agrarreformen. Die Dokumente reichen von der Weltkonferenz für Agrarreform und ländliche Entwicklung von 1979 bis zum Welternährungsgipfel 1996. Da dieser Diskurs bisher sehr wenig an den Lebensumständen der landlosen Bauernfamilien geändert hat, beschlossen La Via Campesina und FIAN eine weltweite Agrarreformkampagne zu starten, um die Forderung nach Land auf die Tagesordnung von nationalen Regierungen und internationalen Organisationen zu setzen.

Eine Aufgabe für die ganze Gesellschaft

Wenn heute von Agrarreform die Rede ist, geht es zwar zunächst um den Zugang der armen und landlosen Bäuerinnen und Bauern zu Land, aber es geht gleichzeitig um wesentlich mehr. Die Agrarreform ist keine rein technische Angelegenheit, bei der einfach Land verteilt wird. Die neue Agrarreform ist ein Modell des Übergangs zu einer anderen Landwirtschaft und einer Zukunft der ländlichen Räume, das die ganze Gesellschaft und die internationale Gemeinschaft angeht. Das Menschenrecht, sich zu ernähren, und das Recht der Bäuerinnen und Bauern, Nahrungsmittel zu erzeugen, bilden die Ausgangspunkte für die weltweite Kampagne für Agrarreform.
Das Menschenrecht auf Nahrung, wie es im Art. 11 des internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte anerkannt ist, bedeutet für Bäuerinnen und Bauern, daß sie Zugang zu den Ressourcen bekommen müssen, mit denen sie Nahrungsmittel erzeugen können, vor allem der Zugang zu Land. Alle Mitgliedsstaaten dieses internationalen Vertrages sind daher verpflichtet, einzeln und im Rahmen ihrer Zusammenarbeit diesen Zugang zu den produktiven Ressourcen zu respektieren, zu schützen und zu gewährleisten. Die Agrarreform ist das zentrale Mittel, um armen Bäuerinnen und Bauern den Zugang und die Kontrolle über das Land, das Saatgut, das Wasser und andere produktive Ressourcen zu sichern.

Das Recht auf Nahrung ist ein Menschenrecht

Das Menschenrecht, sich zu ernähren, enthält auch das Recht auf eine gesunde Ernährung. Um dieses Recht zu gewährleisten, muß die Nahrungsproduktion auf nachhaltige Produktionsweisen umstellen, die sich durch höhere Arbeitsintensität und Reduzierung chemischer, gesundheitsschädlicher und kapitalintensiver Betriebsmittel auszeichnen. Das Recht auf Nahrung zukünftiger Generationen verlangt die Bewahrung der nahrungsmittelproduzierenden Ressourcen, insbesondere des Bodens, des Wassers und der genetischen Vielfalt. Daher ist eine nachhaltige und auf Vielfalt ausgerichtete Landwirtschaft erforderlich, die sich im Gegensatz zu der von Großunternehmen kontrollierten industriellen Landwirtschaft befindet. Die Kontrolle über die lokalen und regionalen Märkte gehört in die Hände der Bäuerinnen und Bauern.
Die sozialen Beziehungen auf dem Lande müssen in Zukunft die Gleichberechtigung der Frauen respektieren. Es ist notwendig, im Rahmen der Agrarreform die vielfältigen Formen der Diskriminierung von Frauen zu überwinden, die in traditionalen patriarchalen Systemen ebenso vorherrschen wie in der modernen, männlich dominierten Agroindustrie. Nach Ansicht von Vía Campesina und FIAN ist die Agrarreform ein grundlegendes Element für die Demokratisierung des Landes, der Wirtschaft und der Gesellschaft. „Es ist das Recht und die grundlegende Aufgabe der Bäuerinnen und Bauern, das Land zu bebauen, um die Ernährungssouveränität ihrer Familien und Völker zu verwirklichen“, heißt es in der Plattform der Kampagne.
Die grundlegende Aufgabe der Kampagne ist es, diejenigen Bauernbewegungen international zu unterstützen, die sich in ihren Ländern für Agrarreformen einsetzen. Ebenso kann die Kampagne Impulse dafür geben, daß neue Bewegungen dieser Art entstehen. So wird die Kampagne ein Netz für Eilaktionen aufbauen, um mit internationalem Protest in den Fällen zu intervenieren, in denen das Recht, sich zu ernähren, verletzt wird oder Aktivisten der Agrarreform verfolgt werden. Die Kampagne wird auch internationale Lobbyinitiativen starten, um für politische Unterstützung der Kampagne zu werben und die Forderung nach Agrarreformen als prioritäres Thema auf die Agenda nationaler und internationaler Agrar-, Menschenrechts- und Entwicklungspolitiken zu setzen. Außerdem wird die Kampagne ein Informationsnetz aufbauen, das die Agrarreforminitiativen miteinander verbindet und darauf abzielt, die gegenseitige Kommunikation zu intensivieren und neue Bündnispartner zu gewinnen.

Agrarreformen und Entwicklungszusammenarbeit

Als Vertragsstaaten des internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte haben sich die Länder des Nordens darauf verpflichtet, andere Staaten bei der Einhaltung der Menschenrechte zu unterstützen. Für eine Entwicklungszusammenarbeit, die sich an Menschenrechten, Armutsüberwindung und nachhaltiger Entwicklung orientiert, ist die Unterstützung von Agrarreformen eine zentrale Aufgabe. Deshalb richtet die Kampagne an die Regierungen der Industrieländer Forderungen auf drei Ebenen: Im Bereich des politischen Dialogs fordert die Kampagne, daß neben den Verletzungen politischer und bürgerlicher Rechte auch die Verletzungen der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte systematisch in den Politikdialog einbezogen werden. Das bedeutet, daß insbesondere erzwungene Landvertreibungen, Verletzungen der Rechte von LandarbeiterInnen und Verschleppungen von Agrarreformen als Brüche der Respektierungs-, Schutz- und Gewährleistungspflichten der Staaten gegenüber dem Menschenrecht auf Nahrung thematisiert werden müssen.
Im Bereich der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit fordert die Kampagne, die Unterstützung von Agrarreformen als Priorität der bilateralen Kooperation zu definieren. Im Bereich der multilateralen Abstimmung fordert die Kampagne, daß multilaterale Entwicklungs- und Strukturanpassungsprogramme Agrarreformprozesse fördern sollen, keinesfalls aber behindern dürfen. Die Kampagne schlägt in diesem Sinn eine Überprüfung und Revision der bisherigen Strukturanpassungsprogramme des Agrarsektors unter dem Gesichtspunkt ihrer Implikationen für die Agrarreformprozesse in den jeweiligen Ländern vor. Die Möglichkeit von Schuldenumwandlungen für Agrarreform im Zeichen der Entschuldungsinitiative für arme und hochverschuldete Länder soll geprüft werden.
Vía Campesina und FIAN sind die Organisationen, die zu der Kampagne aufrufen und ihren Start ermöglicht haben. Die Kampagne ist jedoch offen für die Mitarbeit weiterer Organisationen und Personen, die daran Interesse haben.

Die Autorin ist Politikwissenschaftlerin und im internationalen Sekretariat von FIAN in Heidelberg für die Agrarreformkapagne verantwortlich.

KASTEN

Die neue Agrarreform orientiert sich an den Menschenrechten und an einer Landwirtschaft,
– die armen Bäuerinnen und Bauern den Zugang und die Kontrolle über Land, Saatgut, Wasser und andere produktive Ressourcen verschafft, so daß sie in Würde leben können;
– die gesunde und gentechnikfreie Nahrungsmittel für alle produziert;
– die auf eine nachhaltige Weise die Ernährungsgrundlagen der zukünftigen Generationen bewahrt;
– die die Rechte der Bäuerinnen stärkt;
– die die Ernährungssouveränität fördert;
– die die Gemeinden in den ländlichen Räumen stärkt.
Weitere Informationen zu der Kampagne sind erhältlich im deutschen FIAN-Sekretariat Overwegstr. 31, 44625 Herne, Tel. 02323-490099, Fax: 02323-490018, Email: fian@home.ins.de.

Weiß und wohlhabend

„Papa, kann ich heute Abend das Auto haben?“ Die 21-jährige Bolivianerin Jimena will noch ausgehen. Tagsüber studiert sie Betriebswirtschaft an der Universidad Católica Boliviana in La Paz, der renommiertesten privaten Universität der Stadt. An diesem Abend steht Interkulturelles auf dem Programm. Nach der Schule war Jimena mit einem Jugendaustausch für ein Jahr in den USA. Jetzt arbeitet sie im bolivianischen Komitee der Organisation mit und betreut die ausländischen Jugendlichen, die für ein Jahr in Bolivien sind. Jimena genießt es, in La Paz den Kontakt zu Ausländern zu halten. Heute wird eine kleine Begrüßungsfiesta stattfinden für die neuen Austauschjugendlichen. Noch ein kurzer Blick in die Mailbox, vielleicht hat Eddie aus Chicago eine Message geschickt, dann kann es losgehen.
Die Szene könnte sich ähnlich in Deutschland abspielen. In vielerlei Hinsicht unterscheidet sich das Alltagsleben lateinamerikanischer Mittelschichts-Jugendlicher kaum von dem Gleichaltriger aus der hiesigen Mittelschicht: Freiheit von existentiellen Sorgen, Studium, nebenbei vielleicht ehrenamtliches Engagement oder auch nicht… Den Unterschied macht der Kontext: In Gesellschaften, in denen sich die große Mehrheit der Menschen diesen Lebensstil nicht leisten kann, wird für unsereins fast Selbstverständliches zu Privilegien einer Minderheit.
Jimenas Eltern haben mehrere tausend Dollar für den USA-Aufenthalt ihrer Tochter hingeblättert, eine Investition in die Zukunft ihrer Tochter. Nicht daß die Familie diese Summe aus der Portokasse bezahlt hätte. Der Vater ist Beamter, die Mutter arbeitet schon lange nicht mehr, hat aber Vermögen mit in die Ehe gebracht. Es reicht für ein großzügiges Einfamilienhaus in guter Lage und für zwei Autos. Auch die Präsenz der empleada, die sich um die Hausarbeit kümmert, ist selbstverständlich, für Mittelschichts-Jugendliche in Lateinamerika so normal, wie für Deutsche das Vorhandensein einer Waschmaschine.

Sicherheit gibt Freiheit

Die Risiken des Lebens werden privat abgesichert. Das Vermögen liegt sicher vor eventuellen Revolutionen auf einem Auslandskonto. Bei Krankheit stehen die teuren Privatkliniken der Stadt bereit, die über die besten Ärzte verfügen, schließlich ist von diesen kaum einer bereit, für einen Hungerlohn in einem staatlichen Krankenhaus zu arbeiten.
Solche Sicherheit verleiht die Freiheit, sich in seiner Freizeit anderweitig zu engagieren oder sich ganz der Karriere zu widmen. Andere leisten sich ein umfangreiches Nachtleben. Die einschlägigen Bohème-Kneipen lateinamerikanischer Großstädte liegen in der Regel nicht – wie meist in Deutschland – in vergleichsweise ärmeren, „szenigen“ Innenstadtbereichen, sondern in teureren Vierteln. Die Preise sind dementsprechend und sorgen dafür, daß die Jugendlichen aus besseren Kreisen unter sich bleiben.
Das Wohlstandsgefälle führt dazu, daß auch Sicherheit vor Überfällen und Diebstahl privat organisiert werden muß. Bestimmte Regeln sind ohnehin in Fleisch und Blut übergegangen. Abends werden unsichere Gegenden gemieden, Papiere und Geld rund um die Uhr sicher vor Taschendieben verwahrt. In Städten wie Rio oder Bogotá, in denen bewaffnete Kriminalität ein ernsthaftes Risiko darstellt, gelten auch tagsüber ganze Stadtviertel als no-go-areas. Zahlreiche privat bezahlte Wächter patrouillieren durch die besseren Wohnviertel, wenn nicht gleich ganze Straßenzüge abgesperrt sind, in die nur Zutritt erhält, wer angemeldet ist.

Unsichtbare Grenzen

Das soziale Leben von Jugendlichen aus wohlhabenden Familien findet dementsprechend wenig im öffentlichen Raum und umso mehr in privaten Bereichen statt: im Haus der Eltern, in den Wohnungen von Freunden oder in privaten Clubs und Discos, neben denen das Auto auf dem privat bewachten Parkplatz steht. Nur in den oft räumlich sehr überschaubaren Kneipenvierteln flaniert man auf der Straße.
So beschränkt sich die „Szene“ in Limas Ausgehviertel Barranco auf vier, fünf Straßen. Erste „Risikozonen“ sind nicht weit, aber kaum jemand hätte einen Grund, die unsichtbaren Grenzen zu überschreiten. Man kennt niemanden in den ärmeren Stadtvierteln. Die extremen sozialen Unterschiede manifestieren sich in lateinamerikanischen Metropolen als stadträumliche Trennung. Kaum eine Stadt, in der es nicht Straßen gäbe, die als „Grenzen“ gelten: Bis hier hin und nicht weiter, drüben fängt die Welt „der anderen“ an.
Schon im Bildungssystem ist die Trennung angelegt. Für Mittelschichtsfamilien geht es nicht darum, ob das Kind in eine Privatschule kommt, sondern in welche. Staatliche Schulen gelten dagegen aus gutem Grund als indiskutabel. Das Niveau des Unterrichtes ist dort in der Regel mit völlig unterbezahlten Lehrkräften sehr niedrig. Dazu kommt die Frage der sozialen Verortung: In welche „Kreise“ geriete ein Kind in einer staatlichen Schule? Im privaten Bildungssystem bleibt man unter sich, und gleichzeitig ist die Wahl der Schule eine Prestigefrage für die Eltern.
Ähnliches gilt für die universitäre Bildung. Zwar gibt es auch in einigen Ländern Lateinamerikas staatliche Universitäten mit einem guten Ruf, aber auch sie kämpfen oft mit Finanzknappheit und mit dem Problem der niedrigen Gehälter für die Lehrkräfte. So blickt die staatliche San Marcos in Lima als älteste Universität Südamerikas auf eine lange Tradition zurück. Mit den finanziellen Möglichkeiten der privaten Católica aber kann sie nicht mithalten, ganz zu schweigen von Eliteuniversitäten wie der Universidad de Lima. Folgen für die Qualität des angebotenen Studiums sind unvermeidlich.

Beziehungen sind alles

Die Wahl der Universität bedeutet für lateinamerikanische Jugendliche nicht nur eine Entscheidung für eine gute Ausbildung, sondern auch die Weichenstellung für eine spätere Karriere. Zum einen ist ein Abschluß der Universidad de Lima bei der Jobsuche unendlich viel mehr wert als der einer staatlichen Universität. Zum anderen werden auf den Universitäten Netzwerke geknüpft. An einer teuren Eliteuniversität zu studieren bedeutet, später im Berufsleben überall auf alte Bekannte von der Uni zu treffen. In Gesellschaften, in denen persönliche Beziehungen eine so überragende Bedeutung für Karrieren haben wie in Lateinamerika, wird die Entscheidung für die Investition in die private Bildung zu einer Schlüsselfrage für die berufliche Zukunft.
Auch im Ausland entstehen Netzwerke. Die Kinder der Wohlhabenden treffen sich an den prestigereichen Universitäten in den USA und Europa und greifen nach der Rückkehr ins Heimatland gerne auf diese Bekanntschaften zurück. Es muß dabei nicht immer die berufliche Zukunft sein, die in dieser Phase im Ausland vorbereitet wird, auch politische Bewegungen können ihren Anfang unter Gruppen von lateinamerikanischen Studenten im Ausland nehmen.
Ein Beispiel dafür bieten die Gründer des bolivianischen MIR, der „Bewegung der Revolutionären Linken“. Mehrere von ihnen erlebten die 68er-Zeit als Studenten an der Universität von Leuven in Belgien, darunter Jaime Paz Zamora, der von 1989 bis 1993 Präsident Boliviens war. Anfang der 70er nahmen sie in Bolivien die politische Arbeit im Widerstand gegen die Militärs auf. Sie bilden dabei, was ihre soziale Herkunft angeht, keine Ausnahme unter den Führungspersönlichkeiten der politischen Linken in Lateinamerika. Ob in El Salvador oder Nicaragua, Peru oder Bolivien: Die Namen von Elitefamilien sind unter – mehr oder weniger – revolutionären Spitzenpolitikern keine Seltenheit.
Beziehungen sind auch für die Lösung anderer Probleme von entscheidender Bedeutung. So gilt in vielen lateinamerikanischen Staaten die allgemeine Wehrpflicht. Wer unter jungen Männern aus besseren Kreisen fragt, wie es denn bei der Armee war, erntet allerdings kaum mehr als ein Grinsen. Militärdienst ist etwas für Jugendliche, die nicht über Beziehungen oder über Geld verfügen. Wer eines von beidem hat, der organisiert sich die im Alltag so wichtige libreta militar als angeblichen Beleg für den abgeleisteten Militärdienst, ohne ein einziges Mal stramm gestanden zu haben.

Kulturelle Distanz

Die strikte Trennung der Lebenswelten lateinamerikanischer Jugendlicher nach sozialer Herkunft hat eine kulturelle Dimension. Es ist kein Zufall, daß Jimena im Zuge ihres Engagements in Sachen Interkulturalität mit ausländischen Jugendlichen Kontakt hat und nicht etwa mit Aymaras oder Quechuas. Europäische Jugendliche sind ihr, trotz aller Unterschiede, kulturell viel näher, der Vorrat an Gemeinsamkeiten und Anknüpfungspunkten ist um vieles größer als mit indianischen Jugendlichen, die wie sie in La Paz aufgewachsen sind. Es ist nicht leicht, die kulturelle Distanz unter Jugendlichen verschiedener Herkunft zu überwinden.
Diese Orientierung als elitär und als Ausdruck fehlender Bereitschaft zu denunzieren, sich mit den Kulturen innerhalb der eigenen Gesellschaft auseinanderzusetzen, würde zu kurz greifen. Zwar gibt es die Miami-Boys und -Girls, die es als eine Art biographischen Unfall betrachten, in Lateinamerika geboren worden zu sein und die jede Identifikation mit ihrem Heimatland ablehnen. Aber sie taugen nicht als Klischeebild für die lateinamerikanischen Mittel- und Oberschichten insgesamt.
Jimena ist eine ebenso „echte“ Bolivianerin wie jede andere. Lateinamerikanische Mittelschichten sind kulturell fest in der europäisch-christlich geprägten Welt verankert, angereichert durch die zweifellos vorhandenen Einflüsse aus den USA. Sie stellen keinen „kolonialen Fremdkörper“ in ihren Gesellschaften dar gegenüber einer vermeintlich „authentischen“ Kultur der Unterprivilegierten, sondern sind Teil des kulturellen Spektrums dieser Gesellschaften. So macht es keinen Sinn, diesen Jugendlichen ihre Herkunft und ihre kulturelle Prägung zum Vorwurf zu machen.
Bleibt die Tatsache, daß Wohlstand und Sicherheit, Bildungs- und Karrierechancen entlang der kulturellen Grenzen eindeutig verteilt sind. Auch hier hat allzu platte Kritik daran, daß Jugendliche ihre Privilegien nutzen, schnell einen Beigeschmack der Unehrlichkeit. Wer würde schon freiwillig zur Armee gehen, wenn er sich herauskaufen kann, und wer würde darauf verzichten, die Qualität privater Schulen und Universitäten zu nutzen?
Eine andere Frage ist, ob qua Geburt privilegierte Jugendliche über eine Vorstellung darüber verfügen, daß Ungerechtigkeit, soziale Ausgrenzung und Rassismus existieren und ob sich diese Erkenntnis – in welcher Form auch immer – in ihrem Alltagshandeln niederschlägt. Diese Frage allerdings richtet sich nicht nur an die privilegierten Minderheiten in Lateinamerika, sondern eben auch an Jugendliche in Europa.

Die Gewalt rückt ins Zentrum

Es ist Mittagszeit im Zentrum von Buenos Aires. Ohrenbetäubender Lärm dringt durch die Straßenschluchten der argentinischen Metropole. Die spätsommerliche Hitze treibt den in ihre Mittagspause strömenden Menschen den Schweiß auf die Stirn. Taxis haben die breiten Avenidas zur Rennstrecke auserkoren. An der Kreuzung langweilt sich ein dunkelblau gekleideter Polizist, die Mütze tief ins Gesicht gezogen. Schlagstock, Handschellen, Pistole, eine Unmenge von Taschen am Gürtel.
Marta Palma Echeverría hat gerade die Tür ihrer kleinen Bar in der Avenida Corrientes aufgesperrt. Schon seit Jahren führt sie gemeinsam mit vier anderen die Kneipe, eine Mischung aus Café und Restaurant. Bis der Koch kommt, möchte sie die Stühle von den Tischen gestellt haben, die Kasse überprüfen, einige Dinge vorbereiten. Wenige Minuten später erscheint Carolina, die nachmittags die wenigen Gäste bedient. Der größte Teil der Kundschaft kommt erst gegen Abend, wenn die porteños, wie die Bewohner der argentinischen Hauptstadt genannt werden, die zahlreichen Theater und Kinos auf dem Broadway von Buenos Aires aufsuchen und in das gegenüberliegende Kulturzentrum La Plaza, ins benachbarte Teatro Astral oder ins unweit entfernt liegende Teatro General San Martín gehen.

Überfall mit Angstschweiß

Beide Frauen stehen gerade an der Theke, als plötzlich zwei Jungen durch die Glastür in die Kneipe stürmen. Die beiden 15- bis 16jährigen fackeln nicht lange, einer von ihnen zieht eine Pistole unter seinem T-Shirt hervor, hält sie an Carolinas Stirn, schreit, Marta solle alles Geld herausrücken, das in der Kasse ist. Die Wirtin öffnet die Kasse, doch der andere der beiden, etwas kleiner, stößt sie beiseite, zieht die wenigen Geldscheine aus den Fächern. Er sagt nichts, über sein Gesicht rinnen Schweißperlen. Er hat Angst. Der andere brüllt, schubst Carolina weg, wartet auf seinen Kumpanen, der über die Theke springt. Beide rennen nach draußen. In wenigen Augenblicken ist alles vorbei, wie ein Film in Zeitraffer, und unversehens sind die zwei Halbwüchsigen in der Menge verschwunden.
Marta und Carolina haben Glück gehabt. Nicht immer kommen die Opfer der Überfälle, die in Buenos Aires in letzter Zeit stetig zugenommen haben, ungeschoren davon. Die zumeist jugendlichen Täter sind nicht nur fast immer bewaffnet, sie sind oft nervös oder stehen unter Drogen. Und viel schlimmer: Sie haben nichts zu verlieren. Die chorros, wie in Lateinamerika die Diebe genannt werden, kommen aus den Vorstädten, dort, wo in den villas miserias die Armut grassiert, viele Menschen arbeitslos sind und die Kinder keine Perspektive haben. Ihre Eltern können ihnen keine anbieten. Viele Frauen sind alleinerziehend, da sich der Mann aus dem Staub gemacht hat, weil er die Familie nicht ernähren kann. Oft kommen sie aus der Provinz, aus dem Nordwesten, aus Tucumán, Santiago del Estero, Salta oder San Salvador de Jujuy, wo die Arbeitslosigkeit noch höher liegt als in der Bundeshauptstadt und in der Provinz Buenos Aires. Oder sie sind Immigranten aus den noch ärmeren Nachbarländern Bolivien oder Paraguay, oder solche, die den weiten Weg aus Kolumbien oder Peru an den Río de la Plata gemacht haben, um sich am Stadtrand der 15-Millionen-Megalopolis niederzulassen, zwischen streunenden Hunden und Wellblechsiedlungen.
Die brasilianische Wirtschaftskrise hat Argentinien, das mit dem großen Nachbarn im Norden über den Mercosur, den gemeinsamen Markt, verbunden ist, schwer getroffen. Die Arbeitslosigkeit erlebte einen neuen Schub. Offiziell soll sie bei 14 Prozent liegen, in Wirklichkeit sind eher doppelt so viele Menschen ohne feste Arbeit. Und wer einen Job hat, bekommt wenig, 300 oder 500 Pesos im Monat – Peso und Dollar stehen immer noch im Verhältnis 1:1. In einer Stadt wie Buenos Aires, wo die Preise auf europäischem Niveau liegen, ist dies zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig. „Feste Arbeit ist rar, dagegen blüht der informelle Sektor. Die Leute schlagen sich mit Gelegenheitsjobs oder als Straßenhändler durch“, sagt Natalia, die Jura an der Universität Buenos Aires studiert hat und jetzt Ledergürtel und -taschen im Centenario-Park vekauft. Davon kann sie einigermaßen leben, für große Sprünge reicht es nicht. Eine kleine Wohnung im Viertel Villa Crespo, Miete 300 Pesos ohne Nebenkosten, ein Fernseher auf Raten, Futter für die zwei Katzen, einmal Ausgehen im Monat, mehr nicht.
„Früher war die Stadt relativ sicher“, erzählt Natalia. Aber die Armut ist immer schlimmer geworden.“ Nicht nur die Unterschicht ist davon betroffen, mehr und mehr Leute aus der einst für südamerikanische Verhältnisse breiten Mittelschicht fallen durch das soziale Sieb und leben in Armut und Unsicherheit. „Unsere Politiker sind schuld“, sagt Natalias Freundin Graciela, die Räucherstäbchen verkauft. „Die belügen uns nur. Präsident Menem hat das Land in die Hände der Mafia gegeben, die staatlichen Unternehmen an das Ausland verscherbelt.“ Die neoliberale Wirtschaftspolitik von Carlos Menem und seiner Wirtschaftsminister Domingo Cavallo und Roque Fernández war erfolgreich – für die Reichen. Für die Armen und die Mittelschicht hieß das: Rückgang des Realeinkommens, Arbeitslosigkeit, steigende Kriminalität.

Argentinien lateinamerikanisiert sich

„Argentinien hat sich lateinamerikanisiert. Der Mittelstand verschwindet. War Buenos Aires einst eine der sichersten Millionenstädte Lateinamerikas, war die Straßenkriminalität eine Angelegenheit der kleinen Taschendiebe und Trickbetrüger, so sind die Räuber heute schwer bewaffnet“, weiß der Rechtsanwalt Ricardo Rosental. „Dazu kommt die ansteigende Drogenkriminalität.“
Cristian, der aus der nordöstlichen Provinz Missiones stammt, hat eine Arbeit als Kellner gefunden: „In der Provinz gab es keine Arbeit. Meine fünf Brüder und ich lungerten nur herum oder drehten krumme Dinger, kleine Diebstähle oder Drogendeals. Wir waren richtige kleine chorros. „Eduardo Duhalde ist oberster Chef der Provinzpolizei und gleichzeitig einer der wichtigsten Leute im Drogenhandel“, sagt Cristian. Er meint den Gouverneur der Provinz Buenos Aires, der sich für die Präsidentschaftswahlen am 24. Oktober bewirbt. Bis dahin muß Duhalde noch die internen Wahlen der peronistischen Regierungspartei, der Partido Justicialista (PJ), überstehen und gegen Menems Favoriten Ramón Ortega antreten – auch der Ex-Formel-1-Fahrer Carlos Reutemann war zeitweise im Gespräch. Und Menem setzt alle Hebel in Bewegung, um durch einen Beschluß des obersten Gerichts zum dritten Mal antreten zu dürfen. Dann kann sich der Kandidat der PJ erst mit dem Gegenkandidaten messen, dem Bürgermeister von Buenos Aires, Fernando De la Rua, von der eher sozialdemokratisch orientierten Unión Cívica Radical, der ältesten Partei Argentiniens. De la Rua setzte sich in den Vorwahlen des Oppositionsbündnisses Alianza gegen Graciela Fernández Meijide von der Bürgerrechtsbewegung FREPASO durch, Mutter eines während der Militärdiktatur Verschwundenen.

Kein Vertrauen in Politik und Polizei

Natalia, Graciela, Marta, Carolina, Ricardo und Cristian: Sie alle sind für Meijide oder De la Rua. Duhalde schenken sie kein Vertrauen. „Er gibt sich jetzt sozial, eröffnet Schulen und zeigt sich bei jeder Gelegenheit. Aber er ist ein Wolf im Schafspelz“, sagt Natalia. Graciela pflichtet ihr bei: „Die Provinzpolizei ist eine der größten Verbrecherbanden des Landes.“ Die Polizei der Provinz Buenos Aires ist berüchtigt für ihre Korruption und für ihre Skandale: Die Polizei war verwickelt in die Attentate auf die israelische Botschaft 1992 und auf das jüdische Kulturzentrum 1994 mit über hundert Toten, wenn nicht gar selbst Täter und Auftraggeber.
„Wie können wir der Polizei vertrauen, wenn sie selbst kriminell oder zumindest unfähig ist“, mein Natalia. Die Polizei ist zudem hilflos gegen die geballte Explosion der Kriminalität. Eine Hilflosigkeit, die sich in Schießwut ausdrück: Täglich liest man, daß einer der chorros, der Diebe, erschossen worden ist von einem Polizeibeamten. Und das löst Gegengewalt aus: Einem Autofahrer wurde in den Kopf geschossen, als er an einer Kreuzung hielt und sich weigerte, seine Armbanduhr einer Gruppe von Jugendlichen zu geben; dem Gast in einem Café wurde eine tödliche Kugel verpaßt, als er bei einem Überfall selbst zur Waffe greifen wollte.
Nach einer Untersuchung des argentinischen Justizministeriums sind 40 Prozent der Einwohner von Buenos Aires im vergangenen Jahr Opfer von Einbrüchen oder Überfällen geworden. Folge sind Ohnmacht und Resignation. Die Wut vieler Menschen richtet sich nicht nur auf die Regierenden, sondern auf die noch Schwächeren: Die Ausländerfeindlichkeit gegenüber den Einwanderern aus den Nachbarstaaten hat zugenommen – was die Regierung gerne aufgreift. Sie legte kürzlich ein neues Gesetz gegen illegale Immigranten vor. Und die Polizei macht Jagd auf die Illegalisierten. Kriterien sind: dunkle Haut, schwarze Haare und indianisches Aussehen. Die politische Opposition im Parlament hüllt sich in Schweigen. Und Menem sammelte mit seiner harten Linie Pluspunkte im Kampf um eine Verfassungsreform, die vor allem ein Ziel hat: ihm eine erneute Kandidatur zu ermöglichen.
Derweil befassen sich die Medien ausführlich mit dem Thema Kriminalität. Andrea Rodríguez von der neuen kritischen Wochenzeitschrift veintiuno (einundzwanzig), die von dem von Página 12 kommenden Jorge Lanata gegründet wurde, sprach mit dem ehemaligen Chef der New Yorker Polizei, William Bratton, der am Río de la Plata zu Gast war. Sowohl Menem als auch De la Rua liebäugeln mit dem New Yorker Modell der „Nulltoleranz“, das in Nordamerikas Big Apple mitverantwortlich für den Rückgang der Kriminalität war – eine Politik, deren Kehrseite auch eine weit ausufernde polizeiliche Brutalität war.
Bratton antwortete auf die Frage der Übertragbarkeit der „Nulltoleranz“ auf Buenos Aires mit dem Hinweis, daß seine Vorgehensweise nicht umzusetzen sei: „Die Kriminalität sinkt nicht, solange es Korruption bei der Polizei gibt. In New York gibt es keine Gratis-Pizza als Schutzgeld für Polizisten.“ Die Löhne und Gehälter der Polizisten müßten angemessen sein. Bratton vergaß zu sagen, daß der Rückgang der Kriminalität in New York auch am wirtschaftlichen Wiederaufschwung und der verbesserten Arbeitsmarktsituation lag, eine Perspektive, die für argentinische Verhältnisse momentan utopisch scheint.
Marta steht noch unter dem Schock des Überfalls. Zwei Polizisten, die mit heulende Sirene angekommen waren, nehmen desinteressiert die Personalien auf und registrieren den Tathergang. Eine Chance auf Aufklärung besteht nicht. Marta zittert. Nur langsam schöpft sie wieder Kraft, um weiterzuarbeiten. Die ersten Gäste kommen. Sie sagt: „Wir müssen weitermachen. In unserem Land gibt es so viele arme Menschen, denen es an Geld, Bildung und an einer guten Regierung fehlt. Hoffentlich wird es irgendwann mal anders. Am schlimmsten ist die fehlende Aussicht auf Verbesserung.“

Die Bevölkerung schließt sich ein

Ricardo, der Rechtsanwalt, hat den Eingang zu seiner Dachterrasse im Stadtviertel Palermo Viejo mit einem Gitter versehen. Er meint: „Jeder muß damit rechnen, daß er überfallen wird. Wir schließen uns allmählich ein in unseren Wohnungen, leben in einem goldenen Käfig, wie es in brasilianischen Städten schon lange üblich ist. Buenos Aires ist dabei, Rio als gefährlichste Stadt im Mercosur zu überholen.“ Selbstkritisch fügt Ricardo hinzu: „Wir glaubten immer, wir seien eine europäische Exklave auf einem anderen Kontinent. Nun steht Lateinamerika mit all einen Problemen vor der Tür: Willkommen, Lateinamerika.“

Schuld haben immer die Anderen

Drei Damen besteigen mit einiger Mühe den Bus Nummer 92. Sie unterhalten sich laut. Plötzlich verkündet die eine mit schriller Stimme: „Die muß man alle töten, bevor sie geboren werden.“. Ihre Freundinnen nicken zustimmend. Dreimal noch wiederholt die Dame diese Forderung. Keiner im Bus zeigt auch nur die leisteste Regung. Eine Szene, beobachtet vor wenigen Wochen in Buenos Aires, Argentinien. „Die“ waren in diesem Fall Peruaner.
Es ist Wahlkampf in Argentinien. Es geht um den Präsidentenstuhl, den Carlos Menem im Oktober räumen muß. Und da wird schon mal zu schmutzigen, auch in Europa bewährten Mitteln gegriffen: die Angst vor dem Fremden, die Suche nach Schuldigen für Arbeitslosigkeit und Kriminalität und das Anbieten einfacher Lösungen. Argentinien überschwemmt eine Welle der Ausländerfeindlichkeit. Eigentlich ein Paradox in einem Land, in dem ein großer Bevölkerungsanteil, wenn nicht der größte, Nachfahren von spanischen und portugiesischen Eroberern und italienischen, türkischen, russischen, polnischen, englischen, deutschen…. Einwanderern ist. „Die Ausländerfeindlichkeit in einem Land von Immigranten ist eine Verrücktheit“, erklärt Héctor Recalde, Doktor der Soziologie und Geschichte. „Man läßt jetzt andere erleiden, was unsere Großeltern erleiden mußten.“
Anfang Januar brach Carlos Menem die Polemik vom Zaun, als er im Kongreß einen Vorschlag zur Änderung des Immigrationsgesetzes vorlegte. Nach seiner Ansicht sind neue Kontrollen an den Grenzen nötig, „um skrupellosen Schmugglern das Handwerk zu legen“. So sieht der Vorschlag bis zu sechs Jahre Gefängnis für all jene vor, die bei illegaler Einwanderung helfen. Die Strafe erhöht sich auf bis zu acht Jahre für „Gewohnheitstäter“. Und sollte ein öffentlicher Funktionär die Hände mit im Spiel haben, so droht sogar lebenslänglich. Diejenigen, die Einwanderern ohne amtliche Aufenthaltsgenehmigungen Arbeit geben, müssen mit Geldbußen von 500 bis 50.000 US-Dollar rechnen.
Aber auch die „Legalen“ müssen sich nach dem neuen Gesetz verschärften Auswahlkriterien für die Einreise nach Argentinien unterziehen. Und wer straffällig geworden ist, wird bei einer Strafe von mehr als zwei Jahren Gefängnis abgeschoben.
Auch wenn sich die Mehrzahl der Vorschläge für die Gesetzesänderung auf die Helfer der illegalisierten Einwanderer und weniger auf diese selbst bezieht, so richten doch Medien und Politiker, Menem eingeschlossen, ihr Hauptaugenmerk auf die „Invasion“ aus den Nachbarstaaten. Denn im Blickpunkt der Kampagne stehen vorallem die bolitas – die Bolivianer, die peruches – die Peruaner und die paraguas (Regenschirme) – die Paraguayer. Solche Umgangssprache erinnert fatal an Polacken und Kanacken. Den Nachbarn wird von höchster Stelle die Schuld für Unsicherheit in den Straßen und Arbeitslosigkeit in die Schuhe geschoben. Nach Angaben des Sekretärs für Einwanderung, Hugo Franco, werden 60 Prozent der Delikte von Ausländern begangen. Er meint außerdem, eine Einwanderungswelle beobachten zu können. Seine Äußerungen waren der Anlaß für den Vorschlag Menems.
Andere Zahlen, zum gleichen Zeitpunkt veröffentlicht, belegen allerdings das Gegenteil. Bei einem Durchschnitt von 5 Prozent Ausländern in ganz Argentinien während der letzten Jahre kann von einer Einwanderungswelle wahrlich keine Rede sein. (Zum Vergleich: 1914 waren 30 Prozent der Argentinier Ausländer). Von diesen 5 Prozent werden außerdem laut dem Gerichtshof von Buenos Aires nur ganze 10 Prozent straffällig.
Der Aufschrei in Argentinien war angesichts der Zahlendrehereien der Regierung groß. Opposition, Kirche und Menschenrechtsorganisationen warfen Menem, seinen Ministern und der Polizei Ausländerfeindlichkeit vor. Der Gesetzesvorschlag ist für sie zudem nicht mit der Verfassung in Einklang zu bringen, die in der Präambel „allen, die argentinischen Boden besiedeln wollen“ ihre Rechte garantiert.

Daily Crime

Doch auf subtile Weise bestätigen Fernsehen und Zeitungen die Version der Regierung. Polizeiaktionen gegen illegale Straßenhändler werden täglich live übertragen. Schießereien und Raubüberfälle sind in Argentinien sowieso Lieblingsthema – jetzt haben sie als Hauptaktoren die Nachbarn aus Peru und Bolivien. Und selbst gut gemeinte Artikel schlagen ins Gegenteil um. So veröffentlichte die Tageszeitung „Página/12“ eine Reportage über die unmöglichen Lebensbedingungen peruanischer Familien, die ein leerstehendes Haus besetzten, weil ihnen nichts anderes übrigblieb. Die Zeitung merkte nicht, daß sie genau die Klischées bediente: Armut, Kinderreichtum, Aneignung „argentinischen“ Eigentums und Heimlichtuerei in dunklen Ecken.

Die Vorurteile zeigen auch die Idiotie der Kampagne

Geurteilt wird nach dem Äußeren. Selbst der Chef der Polizei gab das zu. Es wird verhaftet, wer dunkle Haut, ein breites Gesicht und glattes schwarzes Haar hat und von kleiner untersetzter Statur ist. Verwechslungen mit „ehrwürdigen“ Argentiniern des gleichen Aussehens enthüllen in ihrer ganzen Idiotie die Kampagne.
Peru und Bolivien, für die Argentinien wichtiger Handelspartner ist und die auf eine Aufnahme in den Mercosur, den gemeinsamen Markt von Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay, hoffen, standen dem Vorstoß Menems ersteinmal sprachlos gegenüber. Dann entschlossen sie sich, die genauere Kontrolle der Grenze zu begrüßen. Meterlange Schlangen bildeten sich vor ihren Konsulaten in Buenos Aires. Peruaner und Bolivianer versuchten, in Anbetracht der Situation alle Papiere in Ordnung zu bringen. Und beschwerten sich über den Umgang mit ihnen auf der Straße, wo sie alle wie potentielle Täter schief angesehen werden und jederzeit von der Polizei kontrolliert werden können.
Mittlerweile werden nicht nur in den Medien der Andenländer, sondern auch innerhalb ihrer Regierungen Stimmen laut, die solche diskriminierenden Methoden verurteilten. Aber ihre Empörung ist gedämpft. Zu viel stände auf dem Spiel, würde man sich mit einem der wirtschaftlich entwickeltsten und einflußreichsten Länder im Süden Lateinamerikas anlegen.
Die Welle, die Klischees heraufbeschwört und bis zur Unkenntlichkeit vereinfacht, wird sich nur noch schwer aufhalten lassen. Von oberster Stelle, aus dem Munde des Innenministers Carlos Corach beispielsweise hört man die Forderung nach Arbeit für Argentinier. Und die Bevölkerung klatscht Beifall. Laut einer Umfrage der politischen Zeitschrift „Siglo XXI“, einer der kritischsten im Land, halten acht von zehn Argentiniern die Maßnahmen von Regierung und Polizei für richtig. Und die Popularität der Partei Menems steigt langsam, aber sicher, von der Talsohle, auf die sie gesunken war, wieder in die Höhe. Das Wahlkonzept scheint aufzugehen. Trotz Brasilienkrise –oder vielleicht auch deshalb.
Noch brennen in Argentinien keine Häuser. Noch ziehen Skinheads, die es auch gibt, nicht mit Baseballschlägern gegen Ausländer los. Und Argentinien ist nicht Deutschland. Doch der Samen ist gesät. In einem Land, in dem europäische, „weiße“ Einwanderung nicht abgelehnt worden war, wird den indigenen Nachbarn jetzt die Tür vor der Nase zugeschlagen.

Zwischen Diktatur und Demokratie

Unter denen, die sich im Be-
reich der Sozialwissenschaften mit Lateinamerika beschäftigen, gehört Dieter Boris zu den eher wenigen, die sich den Blick für das Ganze bewahrt haben, weil sie mit Recht meinen, nur so könne die Dimension und Bedeutung einzelner Erscheinungen sinnvoll eingeschätzt werden. Dieser Blick des Generalisten bewahrt ihn auch vor der Gefahr, den wechselnden wissenschaftlichen Modetrends hinterherzulaufen. Das geschieht zunächst in der sehr lesenswerten Einleitung. Hier wird deutlich gemacht, daß die sozialen Bewegungen in Lateinamerika nicht allesamt neu sind, denn Aufstände der indigenen Bevölkerung, Rebellion der Bauern und Bäuerinnen, später die ArbeiterInnenbewegung und regionale StudentInnenbewegungen hat es schon lange vor der „Hochkonjunktur“ der „neuen sozialen Bewegungen“ in den achtziger Jahren gegeben. Auch stellen nicht alle Bewegungen eine lateinamerikanische Besonderheit dar, denn die Frauenbewegung und die Umweltbewegung beispielsweise nahmen in Lateinamerika etwa zur gleichen Zeit an Bedeutung und Stärke zu wie in Europa oder Nordamerika. Die während der siebziger und achtziger Jahre in den meisten Ländern Lateinamerikas etablierten Militärdiktaturen haben allerdings mit der Unterdrückung der normalen Möglichkeiten politischer Artikulation durch Parteien einerseits und der Schaffung von dramatischen Notsituationen durch politische Verfolgung und soziale Gefühllosigkeit andererseits den Boden für eine Reihe von Bewegungen bereitet, die unter „normalen“ Umständen wahrscheinlich nie entstanden wären. Dazu gehören vor allem die Menschenrechtsbewegungen, die sich um die verschwundenen politischen Gefangenen gekümmert haben und noch kümmern, die solidarischen Organisationen einer Art Volksökonomie, die Stadtteilbewegungen und andere mehr.
Lesenswert ist die Einleitung auch besonders, weil Dieter Boris hier die seither unternommenen Versuche zur Bildung von Theorien über soziale Bewegungen einer kritischen Revision unterzieht und sich gegen die Ansicht zur Wehr setzt, die „veraltete“ Klassenanalyse sei in Zukunft durch die Analyse sozialer Bewegungen zu ersetzen (statt zu ergänzen). Natürlich könnten, so argumentiert er, die sozialen Bewegungen nicht auf ein Klassenphänomen reduziert werden. Das schließe aber nicht aus, daß sie in der Klassengesellschaft „verortet“ seien. Fast nebenbei vermittelt Dieter Boris an dieser Stelle auch, daß der modische und sehr unscharfe Begriff der „Zivilgesellschaft“ in Lateinamerika eher vernebelnde als aufklärerisch-erkenntniserweiternde Funktionen gehabt hat.

Analyse im Vergleich
und am Beispiel
Nach einem kurzen Ausblick auf neuere Tendenzen der Entwicklung der Sozialstruktur in den Ländern Lateinamerikas unternimmt Dieter Boris den Versuch, die Konsequenzen der Demokratisierungsprozesse für die Weiterentwicklung der sozialen Bewegungen zu kennzeichnen. Nach seinem Urteil sind diese Bewegungen in Ländern wie Chile und Uruguay mit dem Wiederaufkommen der politischen Parteien sehr geschwächt worden, während sie ihren Einfluß etwa in Bolivien und Paraguay halten und in Brasilien oder Ecuador sogar ausbauen konnten. Diese Typenbildung ist nicht ganz unproblematisch; richtig ist aber sicherlich, daß die Veränderungen in den Ländern unterschiedlich waren und sind. Dabei erstaunt, daß Dieter Boris eine ganze Reihe von Faktoren anführt, die diese Unterschiede bewirkt haben könnten, aber nicht auf das Ausmaß eingeht, in dem eine neoliberale Gesellschaftspolitik es geschafft hat, mit „Modernisierungsreformen“ entsolidarisierende Wirkungen zu entfalten. Das war eben in Chile und Uruguay weitaus mehr der Fall als etwa in Brasilien.
Der größte Teil des Buches ist der Analyse der einzelnen Bewegungen gewidmet. Dabei geht Dieter Boris jeweils von einer Schilderung der Strukturprobleme aus, die die Entstehung oder das Wiederaufblühen einer sozialen Bewegung bewirkt haben, also: der Mangel an Land für die Bewegung der Bauern und Bäuerinnen, die kulturelle Benachteiligung für die indigenen Bewegungen, die Wirkungen der Öffnung zum Weltmarkt für die ArbeiterInnenbewegung, Mord, Folter und Unterdrückung für die Menschenrechtsbewegungen, Machismus und männliche Vorherrschaft für die Frauenbewegung, die steigende Belastung der Umwelt für die Umweltbewegung usw. Daran knüpft jeweils eine sehr nützliche differenzierende Übersicht über die Entwicklung der jeweiligen Bewegungen in ganz Lateinamerika an, die schließlich in eine detailreiche Darstellung am Beispiel eines einzelnen Landes mündet.
Daß Brasilien im Unterschied zu allen anderen Ländern gleich dreimal erscheint, hat nicht nur mit der Größe dieses Landes zu tun, welches – nach geographischer Größe und Bevölkerung – fast die Hälfte Lateinamerikas ausmacht, sondern auch mit der größeren Bedeutung, die die sozialen Bewegungen hier eingenommen haben. Die neue Gewerkschaftsbewegung mit ihrer engen Beziehung zur Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores), die Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) und die kirchlichen Basisbewegungen innerhalb des größten katholischen Landes der Welt konnten in solch einem Buch einfach nicht fehlen.

Soziale Bewegungen
und Neoliberalismus?
Daß Dieter Boris im allgemeinen die eher erfolgreicheren nationalen Bewegungen als Beispiele für seine Einzeldarstellungen ausgesucht hat, wird man kaum kritisieren können, zumal ja die Einschätzung der Situation in ganz Lateinamerika diesen immer vorausgeht. Das einzige Kapitel, bei dem eine andere Auswahl sicher besser gewesen wäre, ist das Kapitel über die Guerilla, in dem Nicaragua im Mittelpunkt steht. Selbst wenn man zugesteht, daß es sich bei den Guerillas um soziale Bewegungen handeln kann – und in Nicaragua wurden sie 1979 zum Kristallisationspunkt sehr breiter Bewegungen –, läßt sich fragen, ob der Sieg der Sandinisten damals nicht eine untypische Ausnahme darstellt, die ganz besonderen Bedingungen zu verdanken war und ob nicht etwa Kolumbien besser als Beispiel gedient hätte, um die Vielfalt der Probleme zu beleuchten. Wichtig wäre in diesem Kapitel auch gewesen, etwas stärker zu differenzieren. Jedenfalls kann die bündnisunfähige und auch gegenüber der übrigen Linken zum Terror entschlossene peruanische Guerilla Leuchtender Pfad (Sendero Luminoso) ebenso wenig mit den anderen (maoistischen, trotzkistischen, castristischen) Guerillas in einem Atemzug genannt werden wie die zapatistische Guerilla in Chiapas (Mexiko), die sich vom Kampf um die politische Macht offiziell verabschiedet hat und mit den modernsten Methoden weltweiter Kommunikation arbeitet.
Die Menschenrechtsbewegungen in Argentinien um die „Mütter der Plaza de Mayo“, die Avantgarde der lateinamerikanischen Frauenbewegung in Chile, die Bewegungen von ElendsviertelbewohnerInnen in Lima, die erfolgreich agierende indigene Bewegung in Ecuador und die ökologische Bewegung in Mexiko-Stadt, der größten Metropole der Welt mit entsprechend großen Umweltproblemen bieten dagegen gute Gelegenheit, die allgemeinen Probleme der jeweiligen Bewegungen vertiefend zu analysieren.
Wer sich in der deutschsprachigen Welt mit zentralen gesellschaftlichen und politischen Problemen Lateinamerikas beschäftigen will, wird auf die Lektüre dieses wichtigen Buches – auch wegen seines sehr ausführlichen Literaturverzeichnisses – kaum verzichten können.

Dieter Boris: Soziale Bewegungen in Lateinamerika. VSA-Verlag, Hamburg 1998, 254 Seiten.

Jenseits von Kuba

Wie ein Gewohnheitstier, das seine Route schon im Schlaf kennt, rattert der gelbe guagua durch die Landschaft. Wie jeden Morgen hat der Bus die Angestellten der Internationalen Filmschule, die in Havanna wohnen, an verschiedenen Haltepunkten eingesammelt. Nachdem die verschlafene Kleinstadt San Antonio de los Baños durchquert ist, gibt es nur noch Felder und Bäume und Felder und Bäume. Zischend legt das Gefährt sich in eine leichte Kurve und kommt vor einem Wachhäuschen zum stehen. Ein Mann in Uniform steigt ein, sondiert in den Sitzreihen nach unbekannten Gesichtern und kassiert die Pässe der Tagesgäste ein. Dann rumpelt der Bus eine großzügige, palmengesäumte Auffahrt entlang. Vor einem weißen Gebäude hält er an: „Escuela Internacional de Cine y Televisión“ steht in sachlich blaugrauem Schriftzug an der Wand des weißen Haupttraktes. Davor ein luftiger Korridor, von dem zu beiden Seiten Glastüren und kleine Gebäude abzweigen. Vor der offenen Cafetería mit dem weißen Plastikmobiliar plaudert eine Gruppe von Leuten. Zwei Studenten haben sich in eine Nische mit rötlichen Designer-Sitzgebilden zurückgezogen und spielen Schach. Nebenan, wo der Durchgang sich zum Park öffnet, malt die Sonne Lichtflecken auf sechseckige Bodenplatten aus Beton, zwischen denen Grün hervorsprießt.
Vögelzwitschern mischt sich mit Heavy-Metal Musik. Die Beats kommen eindeutig aus einem der Schnitträume. Dort sitzt ein Typ mit Dreitagebart und orchestriert diverse Knöpfe und Tasten. Mit seinem Schlabber-T-Shirt von der brasilianischen WM-Mannschaft sieht man Dull den Dozenten für Schnitt nicht unbedingt an. „Wenn ich könnte, würde ich in Havanna Filme machen wie Wong Kar-Wai in Hongkong“, meint er. Seine Augen, die von einem schwarzen Brillengestell eingerahmt sind, leuchten dabei. Gerade bearbeitet Dull seinen neuesten Kurzspielfim am Schneidetisch.
Sein Kumpel Hacek, der Schnitt studiert und auch aus Havanna stammt, sowie einige andere Studenten haben bei den Dreharbeiten assistiert. Da von dem Werk erst ein paar Minuten fertig sind, erläutern Dull und Hacek die Geschichte: „Es una pelicula negra“ – ein Film im Stil der Schwarzen Serie. „Er handelt von einem Italiener, der nach Havanna kommt und dort erschossen wird.“ Die Dreharbeiten in Havanna hätten wahnsinnig viel Spaß gemacht. Nachdem sie eine offizielle Version des Drehbuchs bei den Behörden eingereicht hatten und die Genehmigung in der Tasche trugen, hatten sie bei den Filmarbeiten ziemlich freie Hand.
Während Dull und Hacek sich in Fahrt reden, fliegt die Tür des Schnittraums auf. Ein hellblonder junger Mann rauscht herein. „Das ist Christian. Der ist auch Deutscher“, erklärt Hacek. Die Sichtung wird für einen Moment unterbrochen. In fließendem, übersprudelnden Spanisch erzählt Christian, wie er hier an die Schule gekommen ist. „Es gibt mittlerweile eine Quote für Studenten aus der Europäischen Union. Da kann man sich einfach bewerben.“

Offen für Leute aus aller Welt

Deutsche, Spanier, Norweger, Österreicher – mittlerweile studieren hier etliche Europäer, erzählt Hacek. Auch wenn er die Campusatmosphäre angenehm findet und auch ein eigenes Zimmer hat, ist Hacek froh, daß er, wenn er möchte, jeden Abend mit dem Bus nach Havanna fahren kann. Heute wollen er und Dull unbedingt auf ein Konzert mit kubanischem Rock. Lebhafte dunkle Augen in einem schmalen Gesicht und die hippe Kombination aus rasierten Schädel und Kinnbärtchen – Hacek wirkt nicht gerade wie jemand, der sein Leben im Elfenbeinturm zubringen möchte. Er bedauert, daß die Studierenden aus dem Ausland während ihrer Zeit in der Filmschule kaum etwas vom Leben auf Kuba mitbekommen. „Es ist schade, daß die Schule so weit außerhalb von Havanna liegt. Aber offenbar war es von politischer Seite aus auch so erwünscht.“

Spannung vor dem Festival

Für das bevorstehende „Internationale Festival des Neuen lateinamerikanischen Films“ ist jedoch für alle ein täglicher Buspendelverkehr nach Havanna eingerichtet. Am heutigen Freitag – vier Tage vor der Eröffnungsgala – liegt eine Mischung aus Anspannung und Vorfreude in der Luft. Es ist der letzte Unterrichtstag im Seminarzyklus. In den Pausen kleben StudentInnen vor dem Schwarzen Brett mit den Informationen über das Festival. Dieses Jahr werden neben österreichischen Filmemachern auch die Coen-Brüder in der Filmschule erwartet: „Besonders gespannt bin ich auf deren Film ‘The Big Lebowski’“, meint Hacek.
Was internationale Gäste angeht, kann sich die Filmschule über mangelndes Interesse nicht beklagen. Besonders im Dezember geben sich Filmschaffende und Journalisten die Klinke in die Hand. „Wir haben im Moment so viel zu tun, ich weiß gar nicht, wie ich das alles schaffen soll“, meint Dania, die im Organisationsbüro arbeitet. Nervös schielt sie auf ihre Uhr, eine blaugrundige Swatch mit Alpenmotiven. Zwei Nächte zuvor ist Dania von einem Filmfestival in der Schweiz zurückgekommen. Die energische junge Frau, die ihre krause schwarze Mähne in einem Dutt zusammengerafft hat, kramt aus einem Regal einen kleinen, türkis-auberginefarbigen Katalog hervor: „Der gibt einen guten Überblick über unser Jahresprogramm. Hier steht alles über den Inhalt unserer regulären Studiengänge und über die Workshops.“

Hier wurde und wird debattiert

Gleich die ersten Seiten des Katalogs sind der Geschichte der Schule gewidmet. Ins Leben gerufen von der „Stiftung des Neuen Lateinamerikanischen Films“, die ihren Sitz in Havanna hat, wurde die „Escuela Internacional de Cine y Televisión“ (EICTV) am 15. Dezember 1986 eingeweiht. Erklärtes Ziel war die Schaffung einer „Institution, die der technischen und künstlerischen Aus- und Weiterbildung von Profis in den Bereichen Kino, Fernsehen und Video dient“. Diese sollen „mehrheitlich aus Lateinamerika und der Karibik, Afrika und Asien stammen“.
Der Untertitel der Schule „Escuela de Tres Mundos“ unterstreicht diese Programmatik. Stolz resümiert der Katalogtext: „In den elf Jahren ihres Bestehens hat die EICTV als ein Ort fortlaufender Debatten über audiovisuelle Themen und als eine Schnittstelle zwischen verschiedenen Kulturen fungiert. In ihren Seminarräumen haben 238 Studenten aus 36 Ländern der Erde ihren Abschluß gemacht. 1829 Personen aus 34 Ländern nahmen hier an Workshops teil.“ Auch bei dem Präsidentenposten geben sich Filmleute aus verschiedenen Ländern die Staffel in die Hand. Auf den gebürtigen Argentinier Fernando Birri, der von 1986 bis 1991 die Leitung hatte, folgte für drei Jahre der Brasilianer Orlando Senna, dann für zwei Jahre der Kolumbianer Lisandro Duque. Seit März 1996 amtiert der spanisch-argentinische Drehbuchautor Alberto García Ferrer als Generaldirektor.
Den Innenteil des Katalogs schmücken neben Fotos vom Campus auch Auszüge aus dem „Familienalbum“ der Filmschule: Da spazieren die Mitbegründer, der kolumbianische Nobelpreisträger Gabriel García Márquez, der Regisseur Fernando Birri und die kubanischen Filmemacher Tomás Gutiérrez Alea und Julio García Espinosa über den Vorplatz. Da diskutieren Garcia Márquez und Birri mit Robert Redford auf einem Veranstaltungspodium.
Die Liste illustrer Gäste, nicht nur aus Lateinamerika und Europa, sondern auch aus der unabhängigen Filmszene der USA, ist lang. Zum Beispiel Francis Ford Coppola, der auch diesmal wieder zum Filmfestival erwartet wird. „ArT NeveR SLEEPS. F COPPOLA“ hat er vor Jahren mit raumgreifender roter Graffitischrift an die Wand der Drehbuchwerkstatt gesprüht. Die Schrift prangt als irritierender Blickfang an den kahlen Wänden des abgedunkelten Raumes.

Geld regiert auch in Kuba so manches…

Am hinteren Ende einer Reihe von Computern kauert ein Student. Das Kinn auf die Hand gestützt wie Rodins „Denker“, blicken seine Augen gebannt in den Monitor. Direkt hinter ihm Coppolas Graffito: „Die Kunst schläft nicht.“ Rechts daneben steht wesentlich kleiner, in verspielt dahingekritzelten Lettern: „…sondern sie träumt mit offenen Augen. Fernando Birri“.
„Seitdem Fernando Birri weg ist, hat sich hier einiges verändert. Die Schule ist mittlerweile kommerzieller ausgerichtet, weniger politisch.“ Der Bolivianer Roberto studiert seit ein paar Monaten an der Filmschule. Persönlich fühlt er sich hier sehr wohl, das Seminarangebot gefällt ihm. Besonders interessant sei, daß man sich erst im zweiten Ausbildungsjahr auf eine bestimmte Richtung spezialisieren müsse. Im ersten bekäme man einen Überblick über die unterschiedlichen Fachrichtungen wie Regie, Kamera und Schnitt.
Er hat mit seinen Anfang zwanzig eine sehr überlegte Art zu reden. Während er in der Kantine beim Mittagessen sitzt, fixiert er die Dinge in seiner Umgebung genau. Den vollen Teller mit dem wenigen Fleisch und den vielen Sättigungsbeilagen, aber auch das Glas Milch in seiner Hand. Roberto weiß, daß die Verpflegung an diesem Ort für kubanische Verhältnisse gut, wenn auch alles andere als luxuriös ist. Und er weiß, daß ein Studium hier an der Filmschule mittlerweile für viele aus Südamerika wieder zum Luxus geworden ist. „Da inzwischen für das erste Jahr 5.000 und für das zweite 7.000 Dollar Studiengebühren erhoben werden, können sich viele das Studium hier nicht mehr leisten. Früher bewarben sich von Bolivien aus 300 Leute pro Jahr. Heute sind es vielleicht vierzehn.“

…aber kein Kubaner „regiert“

Dagegen müssen KubanerInnen wie Hacek nach wie vor nur 1.000 Pesos – umgerechnet etwa 50 Dollar – pro Jahr bezahlen. Eine Summe, die vergleichsweise lächerlich klingt. Stellt man jedoch in Rechnung, daß der staatliche Mindestlohn bei 200 Pesos monatlich liegt, ist es für die meisten schon wieder viel zu kostspielig. Was die Anzahl der Studierenden angeht, existieren für Leute von hier die gleichen Höchstquoten wie für die anderen lateinamerikanischen Länder. Zur Zeit absolvieren drei Kubaner den zweijährigen Studiengang. „Darunter ist allerdings kein einziger, der Regie studiert“, merkt Hacek an. „Das liegt daran, daß es auf Kuba so schwer ist, Filme zu machen. Bei Studiengängen wie Kamera oder Schnitt sind die Chancen, nachher irgendwo unterzukommen, etwas besser.“
Um das Filmemachen auf Kuba geht es auch bei dem Interview, das gerade im Foyerbereich vonstatten geht. Mit Videokamera und Mikrofonangel ausgerüstet, haben vier StudentInnen den Regisseur Daniel Díaz Torres umringt. Er soll zu Übungszwecken interviewt werden. Während Bild und Ton laufen, beantwortet das „Trainingsobjekt“ mit spitzbübischem Lächeln Fragen zu seiner Tätigkeit als Dozent.
Zur Zeit ist Díaz Torres einer der beiden „Akademischen Leiter“ der Filmschule. Auf die Kritikpunkte von Roberto und Hacek angesprochen, meint er zu einem späteren Zeitpunkt: „Am Anfang war alles noch kostenlos. Aber mittlerweile, mit all dem wirtschaflichem Druck, dem das Land ausgesetzt ist, muß man andere Formeln finden. Es geht nicht um Rentabilität um jeden Preis, denn wir haben es hier mit Kunst zu tun. Es handelt sich weiterhin um eine Schule, die keine kommerziellen Ziele verfolgt. Sie muß jedoch Wege der Selbstfinanzierung finden.“
Auch bei einer Studiengebühr von 7.000 Dollar für das zweite Jahr würden bei weitem nicht die Unkosten abgedeckt: „Die Examensarbeiten werden auf 35mm-Material gedreht: 10 Minuten mit Schauspielern, Ausstattung und so weiter. Ein Kurzfilm dieser Länge ist bekanntlich kaum unter 15.000 oder 20.000 Dollar zu produzieren. Dieses Material bezahlt selbstverständlich die Schule. Auch die Dozenten, die zum überwiegenden Teil Europäer sind.“ Die Öffnung der regulären Studiengänge für Leute aus Westeuropa sei ein Versuch, aus der finanziellen Misere herauszukommen. Eine alte Vereinbarung ließ bereits vier SpanierInnen pro Studienjahr zu. Mittlerweile können noch vier Personen aus anderen EU-Ländern hinzukommen. „Die überweigende Mehrheit der 40 Studenten pro Jahr stammt jedoch weiterhin aus Lateinamerika.“
Wenn man am Schwarzen Brett die Teilnahmelisten für die Workshops studiert, scheinen die EuropäerInnen in einigen Kursen ziemlich dominant zu sein: Bei dem Workshop zu „Szenischer Regie“ finden sich ein Deutscher, neun SpanierInnen, ein Kubaner und neun Personen aus Südamerika. Bei einem Drehbuchkurs kommen sogar auf sieben Latinos und Latinas doppelt so viele SpanierInnen. Gerade die mehrwöchigen Workshops verhelfen, so Daniel Díaz Torres, der Schule zu dem notwendigen Geld, um die anderen Sektoren zu subventionieren. „Die Workshops sind für alle offen. Da gibt es keine Quoten. Es können zehn Australier kommen und vier Marokkaner und 14 Spanier, das ist ganz egal. Die Workshops sind dafür gedacht, daß die Schule sich tatsächlich weiter internationalisiert.“
Der bolivianische Student Roberto sieht die Entwicklung nicht ganz so positiv. Nachdenklich meint er: „Die lateinamerikanische Idee ist ein Stück weit verloren gegangen.“

KASTEN

Der Tanz um den Film

Lateinamerikanische Filme auf der Berlinale

Wenn plötzlich im wintergrauen Berlin nicht nur Hundekacke, sondern auch Filmplakate en
masse die Bürgersteige säumen und Menschenschlangen fröstelnd, aber mit erleuchetem Blick vor dem „Zoopalast“ oder dem „Delphi“ ausharren, dann ist es wieder so weit: Zehn Tage lautet das Motto „Das Leben ist Filmegucken“ – zumindest für diejenigen, die sich diesen zeitlichen Luxus gönnen können. Dieses Jahr findet die Berlinale vom 10. bis 21. Februar statt.
Mit Walter Salles’ „Central do Brasil“ gewann letztes Jahr zum ersten Mal in der Festivalgeschichte ein südamerikanischer Film den Tanz um den Goldenen Bären. Zwar soll der neue Film von Salles „O primeiro día“ im Panorama zusehen sein, allerdings hat das quantitativ nicht den erhofften Sogeffekt gehabt. Im Gegensatz zu Festivals wie denen von San Sebastian oder Cannes muß man auf der Berlinale lateinamerikanische Filme immer noch mit der Lupe suchen. – Was die LN-Redaktion getan hat. Mit Ausnahme der Wettbewerbsfilme – die vor dem Festival nicht gezeigt werden dürfen – ist es uns gelungen, fast alle Produktionen vorab zu Gesicht zu bekommen.

Fundgrube Vallegrande

An einem trüben, windigen und kalten 19. September wurden die kubanischen Spezialisten in dem bolivianischen Andenstädtchen Vallegrande für ihre monatelange Ausdauer belohnt: Unter einer Erdschicht von nur etwa einem Meter Tiefe fanden sie die Leiche der vor 31 Jahren ermordeten Guerillera Tania.
Die am 19. November 1937 in Buenos Aires geborene deutsch-Argentinierin hatte zwei Jahre lang von La Paz aus das Eintreffen von Che Guevaras Gruppe aus Kuba vorbereitet und sich später selbst der Guerilla angeschlossen. Am 31. August 1967 war sie mit der gesamten Nachhut am Rio Grande in einen Hinterhalt gelockt und erschossen worden; es gab nur einen Überlebenden. Ihre Leiche wurde eine Woche später flußabwärts entdeckt und per Hubschrauber nach Vallegrande gebracht, einem kleinen Städtchen in den östlichen Andenausläufern Boliviens. Dort wurde sie von den Militärs auf Drängen einheimischer Frauen zunächst in einem Holzsarg auf dem Dorffriedhof beerdigt.

Ein namenloses Grab auf dem Dorffriedhof

Wenig später allerdings gruben Militärs die Leiche wieder aus, und seither fehlte jede Spur. Trotzdem hielt sich beharrlich das Gerücht eines namenlosen Grabes auf dem Friedhof, wo regelmäßig Touristen auf Spurensuche gehen. Der Friedhofswärter zeigt bereitwillig einen kleinen Hügel, den ihm wiederum einige Argentinier als die Stelle des Grabes gezeigt haben sollen, und fügt hinzu, daß er denselben regelmäßig aufschütte, damit er auch weiterhin zu sehen bleibe.
Die kubanischen Experten, die bereits im Juli vergangenen Jahres die Gebeine von Che Guevara und sechs seiner Gefährten unter dem ehemaligen Flugfeld von Vallegrande gefunden hatten, maßen den Gerüchten jedoch keine Bedeutung zu. Sie setzten ihre Suche und die Befragung von Zeitzeugen an anderen Stellen in Vallegrande fort. Und so wurde am 19. September wahr, woran viele nicht mehr geglaubt hatten: auf dem Gelände des Rotary-Clubs, gleich neben der Müllkippe, wurde der Sarg von Tamara Bunke gefunden. Erstaunlich gut erhalten sind ihre Schuhe, der Patronengürtel, BH und Slip – eben die Teile der Kleidung, die überwiegend aus Kunstfasern bestanden.
Im Laufe des darauffolgenden Tages wurde das gesamte Skelett sorgsam freigelegt, die Knochen beschriftet und letztlich alles zu weitergehenden Untersuchungen in das örtliche Krankenhaus gebracht. Obwohl die Kubaner nicht daran zweifeln, daß es sich bei der Leiche um Tamara Bunke handelt, wollen sie durch wissenschaftliche Untersuchungen eindeutige Sicherheit über die Identität der gefundenen Reste bekommen.
Wenige Tage später organisierte die Bevölkerung Vallegrandes eine Gedenkmesse für Tania und eine Prozession zu der Fundstelle am Ortsrand. Im Anschluß an die Feierlichkeiten, an denen etwa 100 Personen teilnahmen, wurde der Sarg dem Leiter der kubanischen Spezialisten, Jorge González, übergeben. González fungiert außerdem als Vertreter der Familienangehörigen von Tamara Bunke. Mit bewegter Stimme berichtet er von seiner Begegnung mit Tamaras Mutter Nadja, die im vorigen Jahr der Beisetzung von Che Guevara im Mausoleum von Santa Clara beigewohnt hatte. Auf den ausdrücklichen Wunsch der Mutter wird dort nun auch seine Weggefährtin Tania la Guerillera ihre entgültige Ruhestätte finden.
In Vallegrande bleibt die ausgehobene Grube nach einer Verordnung des Gemeinderates, ebenso wie die Fundstätte Che Guevaras und seiner Compañeros, als Ort des Gedenkens erhalten. Eine von Vallegrande geplante Gedenkstätte existiert momentan allerdings nur auf dem Papier, denn noch fehlt es der Stadtverwaltung an den nötigen Geldern.

Die Suche geht weiter

Für die Kubaner ist die Arbeit in Bolivien jedoch noch lange nicht beendet. Sie haben große Hoffnungen, auch die anderen sieben Guerilleros aus Tamaras Gruppe noch zu finden. Doch parallel dazu wird die Suche nach weiteren Toten in der Gegend von Lagunillas und Camiri ausgedehnt, wo Che’s Guerillafeldzug Ende 1966 seinen Anfang nahm.

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