Vielfältige Bündnisse

Die Ausgangsbedingungen für feministische Bewegungen unterschieden sich allerdings von Land zu Land, denn schließlich ist der lateinamerikanische Kontinent ein Konglomerat von Rassen, Ethnien, Sprachen und Kulturen. Diese Vielfalt hat sehr ungleiche ökonomische, kulturelle und politische Entwicklungen verursacht. Sie hat außerdem die komplexen Probleme, die sich aus der spanischen Kolonisierung und später aus der Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten ergaben, noch verstärkt. Für die Entstehung der neuen Republiken nach den Unabhängigkeitskriegen hat auch das ideologische Gewicht der katholischen Kirche eine entscheidende Rolle gespielt. Denn die Kirche hat ihren Einfluß über einen langen Zeitraum hinweg aufrechterhalten können – in den Sphären politischer Macht ebenso wie in großen Bereichen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Eine solche Präsenz wird in bestimmten historischen Epochen immer verhindern können, daß sich Strömungen der sozialen Erneuerung und Säkularisierung durchsetzen.
Andererseits haben auch Klassen- und Rassenunterdrückung den Republiken, die nach dem Ende der spanischen Herrschaft gegründet wurden, ihren Stempel aufgedrückt. Bis heute hat dies die Überwindung der gesellschaftlichen Ungleichheiten verhindert und jedwede Form der Integration erschwert, besonders in den Ländern wo die indigene Bevölkerung seit Jahrhunderten marginalisiert wird.

Erste Feministinnen

Als Auslöserinnen der feministischen Bewegungen Lateinamerikas können einerseits fortschrittliche Ideen und die politische Durchsetzung kapitalistischer Modernisierung benannt werden, die um die Mitte des letzten Jahrhunderts besonders in Ländern mit europäischer Einwanderung oder in geographischer Nähe zu den Vereinigten Staaten auftauchten. Genauso bedeutsam ist aber auch die Bildung sozialer Bewegungen, die soziale und wirtschaftliche Verbesserungen einforderten. Sie sind hauptsächlich gewerkschaftlichen oder indigenistischen Ursprungs, mit Wurzeln im Anarchismus wie im Sozialismus.
Die Bewegungen, die sich für das Frauenwahlrecht, für gleichberechtigten Zugang zu Bildung und für die Verleihung gleicher bürgerlicher Rechte für Frauen einsetzen sind so parallel zu den sozialen Bewegungen der Arbeiter und Indígenas entstanden. Manchmal haben sie sich angesichts gemeinsamer Ziele auch miteinander verbündet. Der Kampf um den Acht-Stunden-Tag und Protestbewegungen von LandarbeiterInnen und ethnischen Gruppen zum Beispiel, wurden durch einen Teil der frühen Frauenbewegung unterstützt.
Forderungen nach weiblicher Emanzipation gab es bereits 1836, als eine Gruppe mexikanischer Frauen die Zeitschrift El Semanario de las Senoritas Mexicanas gründete, in der feministische Ideen diskutiert wurden. Die Argentinierin Juana Manso, die heute als Vorläuferfigur der feministischen Bewegung in ihrem Land gilt, veröffentlichte 1852 in Brasilien O’Jornal das Senhoras, eine Zeitschrift “für die gesellschaftliche Verbesserung und die Emanzipation der Frau”. Es war die erste Zeitschrift, die ausschließlich von Frauen geleitet und hergestellt wurde. Ebenfalls in Brasilien initiierte die Feministin Nisia Floresta (1809-1885) eine Reihe von Konferenzen zu Frauenfragen. Sie übersetzte auch Mary Wollstonecraft ins Portugiesische, während die Chilenin Martina Barros de Orrego ihrerseits 1874 John Stuart Mill “Über die Unterdrückung der Frauen” ins Spanische übersetzte.
Zwei Jahre später, also 1876, trug sich eine Gruppe chilenischer Frauen in das Wahlregister eines Bezirks von Santiago ein, und lenkten so die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Ungerechtigkeit ihrer Situation. Empört verhinderte die Mehrheit der männlichen Politiker die Teilnahme der Frauen an der Wahl, nicht ohne klarzustellen, daß die chilenische Verfassung, wenn sie von “Bürgern” spricht, “Männer” meint.

Die Themenpalette erweitert sich

Der Kampf um das Wahlrecht dauerte noch lange an und umfaßte viele Aktionen in zahlreichen Ländern des Kontinents. Bald schon ging es jedoch nicht mehr nur um das Wahlrecht. Im Jahr 1910 fand in Buenos Aires der Erste Internationale Frauenkongress (Congreso Femenino Internacional) statt, und zwischen 1914 und 1915 fand der Feministinnenkongress von Yucatan in Mexiko statt. Die Debatten über Themen wie Prostitution, Scheidung oder die Situation der Arbeiterinnen begannen auf diesen Kongressen.
In den 20er und 30er Jahren dieses Jahrhunderts dann wurden erste lateinamerikanische Frauenparteien gegründet, die ihre Aufgabe darin sahen, die Forderungen von Frauen in die Tagespolitik einzubringen. So etwa die Partido Feminista Nacional de Argentina und die Partido Civico Femenino de Chile, beide 1919 gegründet. 1921 wurde auf einem Frauenkongress in Havanna die Gründung der Partido Nacional Feminista vereinbart.
Sicherlich hatten diese Aktionen nicht die gleiche Wirkung wie die angelsächsischen Bewegungen für das Frauenwahlrecht. Oft handelte es sich nur um sehr kleine Gruppen oder Einzelpersonen, die ihren Kampf über den Journalismus oder in den Konferenzsälen von Kultur- und Wohltätigkeitseinrichtungen austrugen. Die lateinamerikanischen Mentorinnen und ihre Anhängerinnen waren intellektuelle Frauen der Mittelschicht, die meist einen bürgerlichen Beruf erlernt hatten. Der sufragismo, der Feminismus vor und nach dem Ersten Weltkrieg, vertrat also mehrheitlich eine politisch liberale Ideologie, die den sozioökonomischen status quo nicht in Frage stellte. Angesichts der frühnationalen und kolonialen Züge der lateinamerikanischen Gesellschaften muß der frühen Frauenbewegung aber zugutegehalten werden, daß sie in der Lage war, eine wichtige Gruppe von Frauen zu mobilisieren und daß er für seine Zeit sehr progressive Ziele vertreten hat.

“Proletarierinnen aller Länder…”

Während sich die von den Anarchisten und Sozialisten verbreiteten Ideen in Gewerkschafts- und Parteigründungen kristallisieren, betrat eine neue Spielart des Feminismus die Bühne, die ihre Ursache der wachsenden Eingliederung von Frauen in die Lohnarbeit hatte: Man könnte sie als proletarischen Feminismus bezeichnen. Insbesondere der Anarchismus unterstützte die Organisierung der einfachen Arbeiterinnen und auch die Formierung von Frauen mit Führungsqualitäten. Ihre Diskussionen kreisten um die Thematik von Klasse und Gender, wie wir heute sagen würden. Hervorzuheben wäre hier die Kolumbianerin Maria Cano, die als Arbeiteraktivistin ihre sozialistischen Überzeugungen mit ihrem Engagement für die Emanzipation der Frauen verband. Sie organisierte nicht nur Streiks in den Bergbau – und Erdölregionen sowie in den Bananenanbaugebieten, wo sie stets von einer kämpferischen Menge begleitet wurde; sondern attackierte auch gleichzeitig scharf ein Gesellschaftssystem, das sie aus Sicht der Frauen für höchst ungerecht hielt. Sie betonte zum Beispiel 1925, daß Frauen nicht an den Universitäten zugelassen wurden, “wo sie sich die Stellung, die ihnen zusteht, erarbeiten könnten. Nicht einmal das Recht zu denken, das Recht, ihre Meinung zu sagen, gesteht man den Frauen zu. Eingeschlossen wie in einem eisernen Ring müssen sie schweigen, sich wie Wesen ohne eigenes Bewußtsein unterwerfen, während auf ihrem Heim Unterdrückung und Unrecht lasten…”.
In manchen Fällen hat sich der Kampf der sufragistas direkt mit dem Klassenkampf verbunden. Beispielsweise beteiligen sich 1991 einige sufragistas aus der von der Schriftstellerin Zoila Aurora Caceres gegründeten Gruppe Feminismo Peruano an der Organisation einer Frauenversammlung, die die Forderung nach “Verbilligung der Lebenskosten/Grundnahrungsmittel(??)” erhob. Die Versammlung mündete in einem “Marsch gegen den Hunger”, der durch die Straßen von Lima zog. Später gründete Caceres, die als eine der wichtigsten Vorkämpferinnen für das Frauenwahlrecht in ihrem Land gilt, die erste Telefonistinnengewerkschaft.

Errungenschaften der ersten Feministinnen

Was hat der frühe Feminismus in Lateinamerika und der Karibik erreicht? Er hat weite Teile der öffentlichen Meinung auf die defizitären bürgerlichen und politischen Rechte der Frauen, auf ihre Situation der gesetzlich verankerten Unmündigkeit aufmerksam gemacht. Viele Veröffentlichungen, Reden, Bücher und Zeitschriften aus dieser Epoche zeugen von dieser Sensibilisierungsarbeit. Feministinnen wie Juana Manso in Argentinien, Paulina Luisi in Uruguay, Serafina Davalos in Paraguay, Adela Zamudio in Bolivien, Francisca Senhorina da Motta Diniz in Brasilien, Luisa Capetillo in Puerto Rico, Amanda Labarca in Chile, Maria Jesus Alvarado Rivera in Peru und viele andere setzten sich vehement für den Zugang zu Bildung für Frauen und die Änderung diskriminierender Gesetze ein. Natürlich beschränkte sich der Einsatz für diese Sache nicht allein auf die sufragistas, auch Sozialistinnen und Anarchistinnen organisierten Kerngruppen und Schauplätze für den Kampf um Gleichberechtigung. Hier trafen Feministinnen, Gewerkschafterinnen, Parteiaktivistinnen, Berufstätige und Intellektuelle aufeinander. Gemeinsam übten sie erfolgreich Druck aus und erreichten schließlich auch die Unterstützung einiger männlicher Politiker für bestimmte Gesetzesänderungen. Dieser langwierige Kampf wurde 1929 in Ecuador das als erste Land der region Frauen das aktive Wahlrecht zusprach zum ersten Mal von Erfolg gekrönt.
Später wurden dann auch andere Gesetze verändert, die Scheidung, den Zugang zu den Universitäten, das Recht auf Berufsausübung und auf bezahlte Beschäftigung regelten. Diese Errungenschaften hingen auch mit den Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges und dem beschleunigten Verstädterungsprozeß zusammen, der Lateinamerika vor allem seit den 50er und 60er Jahren bestimmte. Paradoxerweise war aber gerade im letzteren Zeitraum der organisierte Feminismus eher schwächer, was in erster Linie mit dem Aufstieg der politischen Parteien und der Gewerkschaftsbewegung zu tun hatte.
Die Zweite Welle des Feminismus in Lateinamerika und der Karibik fand ihren ersten Auftritt vor einem sehr spezifischen Hintergrund: dem antiimperialistischen Kampf der Linken. Die 60er Jahre waren von intensiven ideologischen Debatten der Linken, besonders innerhalb der orthodoxen stalinistischen Parteien bestimmt, insbesondere nach dem Triumph der kubanischen Revolution und den Guerrilla-Aufständen in Bolivien, Kolumbien, Peru und Venezuela. Die romantische Figur des Guerrilleros, die Stilisierung des bewaffneten Kampfes zum “Wahren Weg” in Richtung Sozialismus prägten den Alltag einer ganzen Generation. Tiefgreifende Veränderungen und Mobilisierung kennzeichneten die lateinamerikanischen Gesellschaften: LandarbeiterInnenaufstände in den Andenstaaten, Migration vom Land in die Metropolen, die dort wiederum in Basisbewegungen mündete. LandarbeiterInnen und SlumbewohnerInnen trugen die politische Radikalisierung bis in Gruppen der Mittelschicht, wie StudentInnen, Intellektuelle und FreiberuflerInnen. Auch die Revolution vom Mai ’68 wirkte als ein weiterer Faktor von außen besonders auf Sektoren der marxistischen Linken ein, in denen sich nach dem Scheitern der Guerrilla-Bewegungen eine gewisse Unzufriedenheit breitgemacht hatte.
In dieser Zeit kanalisierte sich das Engagement von Frauen für Veränderungen besonders in den linken Parteien. Figuren wie Haydee Santamaria (Kuba), Lolita Lebron (Puerto Rico), Domitila Chungara (Bolivien), aber auch Tania La Guerrillera, die Gefährtin Che Guevaras in Bolivien, waren die Modelle feministischen politischen Engagements.
Um 1970 aber tauchte das Bild des Feminismus als Importprodukt auf. Die Massenmedien zeigten das Bild nordamerikanischer Feministinnen, die scheinbar nichts anderes zu tun hatten, als sich ihrer BHs zu entledigen. Der Begriff “Feministin” wurde zum Synonym für eine verbitterte Frau, einer Art Anti-Mann, und der aktive Feminismus wurde zur Gefährdung des Klassenkampfes stilisiert. Schon Fidel Castro hatte den Feminismus für schädlich erklärt, da er einer gut durchdachten Strategie des internationalen Kapitalismus gehorche. So litten die ersten Versuche feministischer Aktionen unter den Angriffen und der Ablehnung der Linken – auch der in linken Parteien organisierten Frauen.

Institutionalisierung des Feminismus

Als 1975 die “Frauendekade” der Vereinten Nationen ausgerufen wurde, intensivierten sich die Diskussionen über die “Frauenfrage”, den Feminismus, die Beziehungen zwischen Feminismus und Klassenkampf und Formen der Selbstbestimmung. Neue Gruppen traten auf den Plan, die den ersten Zusammenschlüssen aus den Jahren zwischen 1970 und 1973 folgen. Die erste Konferenz des Internationalen Jahres der Frau, die von den Vereinten Nationen im Juni 1975 ausgerichtet wurde, geriet zum ersten großen Treffen der lateinamerikanischen und angelsächsischen Feministinnen. Gleichwohl – bedingt durch das Engagement der meisten Delegierten in sozialen und parteipolitischen Organisationen – räumte das Schlußdokument auch dem Klassenkampf und umfassenden gesellschaftlichen Veränderungen eine zentrale Bedeutung ein. Bei dieser Gelegenheit bezeichnete die bolivianische BergarbeiterInnenanführerin Domitila Chungara den Feminismus als bourgeois und realitätsfern. Die Zeit war noch nicht reif für einen Dialog zwischen Feministinnen und Aktivistinnen der Linken.
Andererseits durchlebte der lateinamerikanische Kontinent eine schwierige und sehr schmerzhafte Etappe: Neben die bereits institutionalisierten Diktaturen in Brasilien und Paraguay traten die Militärherrschaften in Argentinien, Chile und Uruguay. Mord, Folter, Verfolgung, die Aufhebung der bürgerlichen Freiheiten, Exil und – in dessen Folge – die Auflösung familiärer Bezüge waren die Folgen. Vor diesem Hintergrund reduzierte sich der Handlungsspielraum des Feminismus auf ein Minimum; nur in Ländern mit einem formaldemokratischen System konnten feministische Aktivitäten überhaupt überleben, etwa in Selbsthilfegruppen oder den ersten Frauen-NGOs (1978-1980). Dennoch war gerade das Exil auch Auslöser eines Bewußtwerdungsprozesses bei argentinischen, chilenischen, uruguayischen und brasilianischen Frauen. Viele erlebten die Realität des europäischen Feminismus und gründeten während des Exils eigene Gruppen. Die Rückkehr der ersten Exilierten in ihre Heimatländer fiel so mit dem Erscheinen unabhängiger feministischer Gruppen seit 1980 zusammen.
Außerdem begannen Frauen in der politischen Linken aufzubegehren, die bezüglich ihrer Parteizugehörigkeiten ein neues Selbstbewußtsein entwickelt hatten – schließlich hatte sich ihre Rolle zuvor auch innerhalb ihrer Organisationen auf die “häusliche Arbeit” beschränkt.
Die Abspaltung eines Sektors dieser Parteiaktivistinnen ist in etwa zeitgleich mit dem Auftreten eines “sozialistischen Feminismus”, einer Spielart besonders klassenbewußter Prägung, die sich erst im Laufe der Zeit starrer Schemata entledigte und Konzepte von Patriarchat und Sexualität in ihre Gesellschaftsanalyse einbezog. Manche Ausprägungen des lateinamerikanischen Feminismus lehnten sich stark an den Feminismus des Nordens an, insbesondere in ihrer Betonung von “Bewußtwerdungsprozessen”, dem radikalen Anspruch auf Separatismus bezüglich der Parteien und indem sie die Betonung einer spezifisch weiblichen Sexualität (und auch eine sehr schüchterne Kritik von Zwangsheterosexualität) in den Status politischer Fragen erhoben.

Vielfältige Feminismen und Bewegungen

In den letzten Jahren sieht sich der lateinamerikanische Feminismus neuen praktischen und konzeptuellen Herausforderungen gegenüber. Vor dem Hintergrund der aktuellen neoliberalen Umwälzungen in den Gesellschaften des Kontinents ist seine Situation schwieriger geworden. Die unterschiedlichen Formen des Feminismus wurden nun dazu gezwungen, umfassendere Analysen zu erarbeiten und – beispielsweise – ethnische Fragen zu thematisieren, die in der Region von entscheidender Bedeutung sind. War die Bewegung in ihren Anfängen von akademisch gebildeten Frauen der Mittelschicht und von emanzipierten Berufstätigen dominiert, so stellt sich das feministische Universum heute als ein Konglomerat aus Frauen und Strömungen unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Ansätzen dar. In dem oft als movimiento amplio de mujeres bezeichneten Gesamtzusammenhang finden sich so verschiedene Ausdrucksformen, wie zum Beispiel der feminismo popular (in Organisationen der Armenviertel, der Landarbeiterinnen oder Indígenas), die corriente autonoma (der “Feminismus per se”), der Feminismus in den linken Parteien, in Gewerkschaften und Berufsverbänden, der Feminismus im akademischen Bereich, der NGO-Feminismus und nicht zuletzt der “Regierungs-Feminismus” von Frauen, die in Regierungsinstitutionen beschäftigt sind.
In jedem dieser Bereiche können die Forderungen, die erhoben werden, Elemente aus der liberalen Strömung, Teile des Radikalfeminismus oder aber einer klassenbezogenen Ausrichtung enthalten. Bei bestimmten Gelegenheiten, etwa in Wahlkämpfen oder während internationaler Konferenzen, hat sich gezeigt, daß die zu den jeweiligen Anlässen gebildeten Plattformen eine strategische Kombination aus reformerischen und radikalen Forderungen wählen. Allianzen müssen eingegangen werden, die von vornherein die spezifischen Unterschiede wahrnehmen und respektieren. Es ist dementsprechend unmöglich, weiterhin von nur einem Feminismus zu sprechen, der in der Theorie einheitliche Forderungen vertritt und sich auch in der Praxis homogen darstellt. Neuere Beiträge des postmodernen Feminismus zielen in diese Richtung. Um mit den US-Amerikanerinnen Nancy Fraser und Linda J. Nicholson zu sprechen: Die feministische politische Praxis “wird immer mehr zu einer Angelegenheit von Allianzen. Es gibt keine Einheitlichkeit mehr in bezug auf ein Interesse oder eine Identität, die von allen geteilt werden”. Eine solche Praxis “funktioniert nur in der Form vielfältiger Bündnisse. Keines davon läßt sich auf einen Wesensgehalt festlegen. Vielleicht wäre es besser, immer nur im Plural, von einer Praxis der Feminismen zu sprechen…”. Auch für Lateinamerika ist das ein wichtiger Denkanstoß kurz vor dem Jahr 2000.

aus: Perspectivas 3/1996, Isis Internacional

Tragische Königin im Zirkuszelt

Violeta Parra wurde 1917 in einem kleinen Ort im Süden Chiles geboren. Als ihr Vater, ein verarmter Dorflehrer, wenige Jahre später starb, besann sich ihre Mutter ihrer früheren Arbeit als Sängerin und tingelte mit ihren zehn Kindern jahrelang durch Zirkusarenen, Bars und Musikkneipen, den “Peñas”. Mit 15 Jahren kam sie nach Santiago, und gemeinsam mit ihrer Schwester trug sie in den Bars der Stadt die alten, von der Mutter gelernten Volkslieder vor und griff aktuelle Musik auf. Die dreißiger Jahre in Chile waren die Dekade der “Primera Onda Folklorica”, der ersten Volkslied-Welle. Das Volkslied war zu jener Zeit die Musik der städtischen Arbeiter und der Landarbeiterfamilien, die wegen der wirtschaftlichen Rezession in die Städte geflohen waren. Mit zwanzig heiratete sie einen fast doppelt so alten Eisenbahnangestellten, der ihr die Musik verbot, und bekam ihre beiden Kinder Angel und Isabel. Fast zehn Jahre sollte es dauern, bis sie sich aus dem Drama dieser Ehe befreite.

Volkslieder vor der Vergessenheit bewahren

Sie nahm ihre Gitarre bei der einen und ihre Kinder bei der anderen Hand und reiste kreuz und quer durch das Land, sang und begann, Lieder, die ihr unterwegs begegneten, aufzuzeichnen. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das ursprüngliche Volkslied in Chile vor der Vergessenheit zu bewahren. So sammelte sie mehr als 3000 Lieder und bekam dafür bei Radio Chilena gar eine eigene wöchentliche Sendung. Zu dieser Zeit entstanden auch ihre ersten selbst geschriebenen Lieder, die den traditionellen Rahmen der Volksmusik überschritten: Lieder voll zornigem Sarkasmus über die gesellschaftlichen Verhältnisse, zarte Liebeslieder, die jedes Klischee sprengten, eine Rückbesinnung auf die Rhythmen und Instrumente der Andenvölker. Violeta Parra war es, die fast vergessene Instrumente wie das Charango, die Zampona und die Quena wieder populär machte. 1954 wurde sie mit dem “Premio Caupolicán”, dem bedeutendsten Volksmusikpreis in Chile, ausgezeichnet.

Reisen für die Musik

Es folgten Jahre des Reisens, bis nach Europa, Skandinavien, und in die Sowjetunion. Allein in Paris blieb sie zwei Jahre, lernte dort Malraux und Sartre, Picasso und ihr großes Vorbild, Edith Piaf, kennen. Zurück in Lateinamerika, durchzogen ihre Wege auf der Suche nach Musik den ganzen Kontinent: Argentinien, Peru, Ecuador, Kolumbien und Bolivien. Wieder in Santiago, erkrankte sie schwer, blieb monatelang ans Bett gefesselt, lernte in der Zeit Töpfern, Malen und Weben, entfaltete darin ein derartiges Talent, daß sie bei ihrem zweiten Paris-Aufenthalt im weltberühmten Musée du Louvre ausstellte – als erste lateinamerikanische Künstlerin trat sie ein in den Pantheon der europäischen Kultur, damals eine Sensation.
Als sie 1964 abermals nach Santiago zurückkam, begann die Morgendämmerung der zweiten chilenischen Folklorewelle, die ohne sie nicht denkbar gewesen wäre. Zusammen mit ihren Kindern Angel und Isabel gründete Violeta Parra 1965 die legendäre “Peña de los Parra” im Zentrum Santiagos, und diesmal waren es die jungen Menschen, Arbeiter, Studenten, Schüler, die diese neue Bewegung emporhoben, die zu Violeta Parra kamen, um zu lernen: Victor Jara, Patricio Manns, die jungen Musiker von Illapu, Inti Illimani und Quilapayún. Sie errichtete am Rande von Santiago ein altes Zirkuszelt, Hommage an ihre Kindheit, und nannte es ironisch “La Carpa de la Reina”, das Zelt der Königin.

Selbstmord an der Schwelle zum Weltruhm

Hier fand man sie an einem lauen Sommermorgen des Jahres 1967 tot in ihrem Bett: Das Scheitern ihrer leidenschaftlichen Liebe zu dem Ethnologen Gilbert Favre, Geldsorgen, die Repressionen der Regierung Frei raubten ihr den Lebensmut, liessen sie sich selbst töten – an der Schwelle zum Weltruhm. Die Welle folkloristischer Musik, die Suche nach der Kraft der eigenen Wurzeln hatte den gesamten amerikanischen Kontinent erfaßt, für kurze Zeit die traditionellen kulturellen Grenzen überschritten. Posthum wurde ihr letztes Lied, interpretiert von der Nordamerikanerin Joan Baez, zu einem Welterfolg: “Gracias a la vida”.
In Chile selbst wurde sie zur Mutter des “Movimiento de la Nueva Canción Chilena”, der “Neuen Gesangsbewegung”, deren Schicksal sich eng mit dem Aufstieg und Fall von Salvador Allende, dem ersten frei gewählten sozialistischen Präsidenten Lateinamerikas, verbinden sollte. Allende war es dann auch, der gemeinsam mit Pablo Neruda den Trauermarsch für Violeta Parra durch die Straßen Santiagos anführte: Einen “Marsch tausender Menschen des Protestes, des unendlichen Bedauerns, der Blumen und der Tränen” (Patricio Manns).

Nach 19 Jahren wieder ganz oben

Gerade einmal gut 22 Prozent der Stimmen hat der 70-jährige General auf sich und seine Partei ADN vereinigen können, aber es reichte für den ersten Platz. Die Wähler und Wählerinnen haben ihre Sympathien so gleichmäßig auf fünf Parteien verteilt, daß sogar ein Anteil von nur 17,7 Prozent dem Kandidaten der jet­zigen Regierungspartei MNR, Juan Carlos Durán, für den zweiten Platz reichte. In Bolivien muß das Parlament bei der Wahl des Präsidenten zwischen den beiden stärksten Kandidaten ent­scheiden, es gibt – anders als in den meisten lateinamerikani­schen Ländern – keine Stichwahl.
Die notwenigen Koalitionsge­spräche waren schnell beendet, schon kurz nach der Wahl hatte Bánzer die Mehrheit beieinander. Gleich drei Parteien werden ne­ben ADN die Regierung stützen: Die MIR von Ex-Präsident Jaime Paz Zamora, CONDEPA, die in La Paz führende Partei, und UCS, die schon in der bisherigen Regierung Juniorpartner war (zu CONDEPA siehe LN 274). Für Bánzer geht damit zweifellos ein Traum in Erfüllung: Nachdem er schon 1985 – 1989 unter Víctor Paz Estenssoro und 1989 – 1993 unter Jaime Paz Zamora Junior­partner in der Regierung gewe­sen war, wird er am 6. August als demokratisch legitimierter Prä­sident sein Amt antreten.

Wieso ein Ex-Diktator?

Nur scheinbar ist es überra­schend, daß mit Hugo Bánzer ein ehemaliger Militärdiktator, der durch Menschenrechtsverletzun­gen während seiner früheren Re­gierungszeit belastet ist, nun de­mokratisch gewählt wird. Zum einen liegen die sieben Jahre der Präsidentschaft Bánzer von 1971 bis 1978 schon weit zurück, die jüngeren WählerInnen haben kei­ne persönliche Erinnerung mehr daran, wofür der Präsident Bánzer einmal gestanden hat. Ihr Bild von Hugo Bánzer ist viel­mehr davon geprägt, daß er mit seiner ADN seit 1985 bei jeder Präsidentschaftswahl einen der vorderen Plätze belegt hat und acht Jahre lang in der Regie­rungskoalition war – eine ziem­lich normale bolivianische Partei mit einem Caudillo, wie ihn auch andere Parteien besitzen. Aber auch diejenigen, die die Zeit der Bánzer-Diktatur noch erlebt ha­ben, verbinden damit nicht un­bedingt negative Erinnerungen. Das Land war in den 70er Jahren vergleichsweise stabil, und nicht selten ist in Bolivien die Ein­schätzung zu hören “Als Bánzer Präsident war, ging es uns bes­ser”.
Wozu also in der Vergangne­heit wühlen, so scheint es nahe­zuliegen, wenn doch heute von einem Präsidenten Bánzer kein Rückfall in alte Zeiten, sondern – ganz im Gegenteil – Kontinuität zu erwarten ist, so wie auch von allen anderen wichtigen Kandi­daten. Der Wahlkampf war langweilig, denn alle größeren Parteien standen mehr oder we­niger für die gleich Linie: Siche­rung von Stabilität und unspek­takuläre Verwaltung des alterna­tivlos herrschenden neoliberalen Wirtschaftsmodells. Eine Aus­nahme bildete lediglich CON­DE­PA mit dem vagen Schlag­wort von “endogener Ent­wick­lung”. Der Einstieg CONDEPAs in die Regierungs­koalition be­stä­tigt allerdings die Vermutung, daß es mit dem dif­fus-anti­im­pe­ri­alistischen Diskurs nicht weit her ist. Die Teilhabe an der Macht und damit der Zu­gang zu Po­sten und Pfründen ist allemal at­traktiver als die Aus­sicht, wei­ter auf den Oppositi­onsbänken sit­zen zu müssen.

Da weiß man, was man hat…

Wenn Bánzer mit knappem Vorsprung auf dem ersten Platz gelandet ist, dann vor allem weil er aus der Sicht vieler Wähler und Wählerinnen als bester Ga­rant für Stabilität auftreten konnte. Die MNR mit Juan Carlos Durán? Eine zerstrittene Partei, beschäftigt damit, sich selbst zu demontieren. Jaime Paz Zamora vom MIR? Als Präsident möglicherweise ein Risiko in Sa­chen internationale Kredite, seit die USA ihm wegen vermuteter Kontakte zum Kokainbusiness das Visum entzogen haben. Re­medios Loza von CONDEPA? In Symbolik und Diskurs zu sehr festgelegt auf die Aymaras des Altiplano. Und schließlich Ivo Kuljis von UCS? Ein relativ un­beschriebenes Blatt. Sie alle ha­ben sich Stimmenanteile in fast gleicher Höhe sichern können. Bánzer – da weiß man, was man hat – bot die solideste Aussicht auf risikolose Verwaltung des Staates in den nächsten fünf Jah­ren und schaffte damit die ent­scheidenden paar Prozent mehr.

Verdrängt im Hintergrund: der Reformprozeß

Voraussetzungen für einen interessanten, programmatischen Wahl­kampf waren gegeben. In den letzten Jahren war Bolivien ein vielbeachtetes Modell für ge­sell­schaftliche Reformen. De­zen­tra­lisierung und participación po­pular sollten für Machtvertei­lung von oben nach unten sor­gen, die Bildungsreform steht, zum Beispiel mit zweisprachiger Grund­schulbildung für Kinder, deren Muttersprache nicht Spa­nisch ist, für eine Aufwertung des indigenen Bolivien (siehe. LN 254/255 und 266/267). Die Frage ist, warum es nicht zu einem polarisierten Wahlkampf zwi­schen dem Reformlager – der jet­zigen Regierung – einerseits und der Opposition andererseits kam.
Die Antwort liegt in den in­ternen Auseinandersetzungen der größten Regierungspartei, der MNR. Diese sorgten dafür, daß das Reformlager überhaupt nicht mit Aussicht auf Erfolg zur Wahl stand. Der Parteiapparat hatte nie wirklich hinter den Reformen gestanden. An der Sptize der MNR steht seit 1985 eine Grup­pe von Unternehmern, allen vor­an der noch amtierende Prä­sident Gonzalo Sánchez de Lozada, die das Projekt eines ka­pitalistisch-mo­dernen Bolivien verfolgt und dazu die MNR sei­nerzeit “über­nom­men” hatte. Diese Un­ter­neh­mer, von denen viele nicht ein­mal in die Partei eintraten, blie­ben für den Partei­apparat ein Fremd­körper, gedul­det, weil Ga­ran­ten für Wahler­folg (und für Geld in der Partei­kasse), aber nie ge­liebt.
Die Auseinandersetzung um die Zu­kunft der MNR wurde vor der Wahl vorläufig ent­schie­den. Kurze Zeit durfte Ju­stiz­mi­ni­ster René Blattmann, ein Ver­trau­ter des Präsidenten, als Kan­di­dat auftreten, aber schon nach we­ni­gen Wochen trat er von der Kan­didatur zurück. Viel deutet dar­auf hin, daß er MNR-intern “ab­geschossen” wurde von den eta­blierten Platzhirschen der Par­tei­hierarchie, die endlich ih­ren Ein­fluß geltend machen wollten. An seine Stelle trat der farblose Juan Carlos Durán, der nicht ge­ra­de als vehementer Vertreter der Re­formen bekannt ist.
Das Problem der gonistas, der Mo­dernisierer um “Goni” Sán­chez de Lozada war, daß sie die Erwartungen der Parteibasis nicht erfüllen wollten. Der MNR-Apparat in seiner kliente­listischen Tradition wollte von der Macht profitieren. Wenn schon Dezentralisierung auf dem Pro­gramm stand, wollten die Par­teisodaten die dadurch neu ge­schaffenen Posten einnehmen – ein Wunsch, der unvereinbar bleiben mußte mit dem Anliegen der gonistas, tatsächlich Ent­scheidungen über Geld und Po­sten auf die lokale Ebene zu verlagern und damit zu demo­kratisieren.
Für die WählerInnen war so schon vor dem 1. Juni klar, daß von denjenigen politischen Kräften, die die Reformen durchgesetzt hatten, mit der go­nista-Fraktion in der MNR der wichtigste Pfeiler weggebrochen war. Die Oppositionsparteien ih­rerseits waren klug genug, im Wahlkampf nicht offen gegen die Reformen Front zu machen. Das Spektrum reichte von Jaime Paz Zamora, der sich selbst die Urheberschaft der Reformen zu­schrieb bis zu Hugo Bánzer, der vage davon sprach, die Refor­men mit sozialen Elementen an­reichern zu wollen. So ist von Seiten der neuen Regierung kaum ein Frontalangriff auf par­ticipación popular und Dezen­tralisierung zu erwarten, eben­sowenig allerdings eine gezielte Politik, um diese demokratisie­renden Reformen weiterzube­treiben. In den nächsten fünf Jah­ren wird sich auf lokaler Ebene zeigen müssen, ob der Reform­prozeß aus sich selbst heraus schon tragkräftig ist und ob rele­vante soziale Kräfte vorhanden sind, die darauf bestehen, daß der Sinn der Reformen nicht ausgehöhlt wird.
Von Ort zu Ort ist die Situation dabei sehr unter­schielich. So sorgen sich in nicht wenigen Kommunen einzelne etablierte lokale Machtgrupen um ihren Einfluß, beispielsweise die katholische Kirche in Teilen des Departements Santa Cruz oder Gewerkschaften in vielen Orten des Hochlandes. Die parti­cipación popular ist für sie eine Bedrohung, die durch Blockade oder Instrumentalisierung zu neu­tralisieren ist. Andernorts ist schon eine Eigendynamik in Gang gekommen. Nicht zuletzt werden sich die Kommunalver­waltungen gegen Versuche weh-ren, ihnen ihr neu gewon­nenes Privileg zu nehmen: die eigenständige Verfügungsgewalt über Mittel aus dem Staatshaus­halt.
In der bisherigen Regierungs­koalition galt sie oft als treueste Stütze des Präsidenten: die kleine Partei MBL, die im NGO-Spektrum und bei links-liberalen Intellektuellen auf Sympathie rechnen kann und dazu im süd­bolivianischen Chuquisaca, rund um die offizielle Hauptstadt Su­cre, auch eine gewisse ländliche Basis hatte. Das Wahlergebnis ist katastrophal, nur 2,5 Prozent der Stimmen kann die MBL ver­buchen. Es bleibt ein schwacher Trost, vier Direktkandidaten ha­ben über Siege in ihren Wahl­kreisen den Einzug in den Kon­greß geschafft. Darunter ist mit Juan del Granado einer der Spit­zenpolitiker der MBL, profiliert in Sachen Menschenrechten.

Die MBL als große Verliererin

Die MBL dürfte am meisten darunter gelitten haben, daß sich die Mo­dernisiererfraktion in der MNR nicht durchsetzen konnte. Zwar steht die MBL eindeutig für den Reformprozeß der letzten Jahre, aber sie vermittelt so stark das Image einer Partei von NGO-In­tellektuellen und sie ist mit Aus­nahme von Chuquisaca so wenig in größeren ge­sell­schaft­lichen Gruppen verankert, daß der Weg zur Massenpartei nahezu ausge­schlossen schien. Wer MBL wählte, wußte, daß es sich mit größter Wahr­schein­lich­keit mehr um eine symbolische Stimme gegen Bánzer handeln würde als um ein Votum für eine politische Option mit Aussichten auf die Macht. Daran konnte auch die Vizepräsident­schafts­kan­didatur von Marcial Fabri­cano nichts ändern, dem pro­mi­nenten Indí­genaführer aus dem östlichen Tiefland. Seine eigene Basis, die im Dachverband CIDOB organi­sierten Indígenas des oriente, ist numerisch sehr klein, und von den Indígenas des Hochlandes trennen Fabricano politische und kulturelle Welten.
Mit rund 3,7 Prozent stärker als die MBL wurde Izquierda Unida, das Sammelbecken unter­schiedlicher linker Parteien und Gruppierungen jenseits des unter den größeren Parteien herr­schenden Konsenses. IU hat ih­ren relativen Erfolg allerdings vor allem einem Faktor zu verdan­ken, der der Partei kaum zugute kommen dürfte: Evo Morales, der Vorsitzende der Kokabau­erngewerschaft aus der zentral­bolivianischen Tief­land­pro­vinz Chapare, kandidierte dort und siegte mit dem höchsten Stim­menanteil aller Direkt­kan­dida­ten. Er hat kaum einen Zweifel daran gelassen, daß die Kandi­datur auf der Liste der IU für ihn lediglich Vehikel für den Weg auf die parlamentarische Büh­ne war. In Bezug auf sein Verhält­nis zu seiner Basis im Chapare wird ihm eine aus­ge­prägte Nei­gung zu Selbst­dar­stel­lung und autoritärem Politikstil nachge­sagt – trotz aller radikaler Rheto­rik eher traditionelle Merk­male des bolivianischen Poli­ti­ker­da­seins. Er wird wohl Wortführer der kleinen, zumin­dest verbalra­dikal “system­kri­ti­schen” Oppo­stition im Parlament werden.

Fünf Jahre Warten

Auch die gonistas gehören auf die Liste der Verlierer, aber vermutlich hält sich die Trauer über das Wahlergebnis bei ihnen in Grenzen. Um weiter regieren zu können, waren sie auf die MNR angewiesen. Nachdem diese sich vorerst für einen ande­ren Weg entschieden hat, bleibt den gonistas das Warten auf die nächste Wahl im Jahr 2002. Zwar sind fünf Jahre eine poli­tisch sehr lange Zeit, aber warum sollte Sánchez de Lozada nicht eine zweite Amtszeit ansteuern? Die Verfassung verbietet nur zwei direkt aufeinander folgende Amtszeiten eines Präsindenten, für 2002 ist der Weg für ihn ver­fassungsrechtlich frei. Bis zu ei­ner Entscheidung über die MNR-Kandidatur 2002 werden noch Jahre vergehen, und auch andere Aspiranten werden eine gute Startposition suchen. Aber die politische Option des gonismo ist nach dieser Wahl nicht tot. Nach – soweit gegenwärtig ab­sehbar – möglicherweise un­sepktakulären fünf Jahren unter Hugo Bánzer könnte der jetzt wohl erst einmal auf Eis gelegte Reformprozeß dann wieder an Dynamik gewin­nen.

Schneller, breiter, größer, besser?

Fünf Länder sind an dem Projekt beteiligt: Bolivien, das über einen Kanal mit dem Rio Paraguay verbunden ist, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Argentinien. Ausgangspunkt ist der bolivianische Ort Cáceres, der Zielhafen am Atlantik ist Nueva Palmira in Paraguay.
Als infrastrukturelles Rückgrat des Mercosur soll die Mega-Wasserstraße die Wettbewerbsfähigkeit des südamerikanischen Wirtschaftsbündnisses auf dem Weltmarkt stärken. Verkürze sich, wie geplant, die 45-tägige Schiffsfahrt von Caceres nach Nueva Palmira um die Hälfte – so die beteiligten Regierungen – würden die Exportprodukte preislich attraktiver und die Region für Investoren lukrativer. Geltend gemacht werden zudem noch länderspezifische Interessen: Bolivien hätte endlich freie Bahn zum Meer, Argentinien verspricht sich Exportverbesserungen, für Brasilien bieten sich geopolitische Vorteile (bessere Kontrollmöglichkeit über die Nachbarländer) und auch Paraguay lockt ein besserer Meereszugang. Ein zwischenstaatliches Hidrovía-Komitee koordiniert die Vorhaben und Studien und beteiligt sich außerdem an der Suche nach Finanzquellen. Zugleich fungiert es als Ansprechpartner für Nichtregierungsorganisationen (NROs) und als Organisator von sogenannten Partizipationstreffen.

Flüsse für die Schiffe statt Schiffe für die Flüsse ?

Bisher besteht das Projekt aus 90 Einzelvorhaben, wie Eindeichungen, Begradigungen, Stillegung von Seitenarmen, Hafenbau, Baggerarbeiten zur Vertiefung und die Sprengung störender Felsformationen. Die Kosten werden sich (nach Berechnungen von 1989) auf 1,3 Mrd. US-Dollar belaufen, mit danach folgenden Unterhaltungskosten von ca. 3 Mrd. US-Dollar jährlich. Wer das finanzieren soll, ist zur Zeit noch unklar; gerechnet wird mit Geldern der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID), der Weltbank und verschiedener bilateraler Geber, die sich teils mit Projekten, teils mit Exportbürgschaften beteiligen. Auch von der EU sind – als zukünftigem Handelspartner – Hilfen zu erwarten.
Aus den selben Töpfen finanzierten sich die in den letzten zwei Jahren unter Beteiligung von norwegischen und nordamerikanischen Beratern durchgeführten Umwelt- und Durchführbarkeitsstudien.Zur Zeit werden die Studien von verschiedenen Gruppen und Institutionen evaluiert. So untersucht der World Wildlife Fund for Nature (WWF), ob die ökologischen Folgen realistisch abgesehen wurden, die holländische Regierung schätzt Kostenpläne ein, Nichtregierungsorganisationen vor Ort untersuchen die Verläßlichkeit der Studien. International anerkannte Hydrologen, die von der Interamerikanischen Entwicklungsbank herangezogen wurden, beschrieben die Durchführbarkeits- und Verträglichkeitsstudien in einem vorläufigen Dokument als “simplifizierend” und kritisierten, daß die komplexen Wasser- und Strömungsverhältnisse nicht ausreichend beachtet wurden. Sie forderten dazu auf, “die Schiffe den Flüssen anzupassen und nicht die Flüsse den Schiffen”.
Trotz der aufkommenden Protesten haben die Präsidenten der Länder im Februar 1997 eine pressewirksame “Eröffnung” des Projektes inszeniert, um Tatsachen zu schaffen. Diese Eröffnung, die mit Ausschreibungen von Ausbaggerungsarbeiten einhergeht, steht im Widerspruch zu den Versprechungen des Hidrovía-Komitee, nicht vor Ende der Studien- und Evaluierungen mit der Umsetzung zu beginnen und eine ausreichende Partizipation der Bevölkerung zu gewährleisten.
Bei den Auswirkungen des Projekts muß man zwischen jenen unterscheiden, die sich unmittelbar aus dem Flußausbau ergeben und solchen, die als mittelbare Folgen abzusehen sind. Beide Flüsse zusammen haben ein Einzugsgebiet von ca 720.000 km2 (entspricht etwa der doppelten Fläche der Bundesrepublik). Auf diesem Gebiet leben 40 Millionen Menschen direkt an den Flüssen, 14 Millionen sind in ihrer Lebensweise eng an die Flüsse gebunden. Unter ihnen sind zahlreiche indigene Gemeinden.

Ein Feuchtgebiet liegt auf dem Trockenen

Eine ökologische Katastrophe wartet auf das Pantanal. Hier, im größten Feuchtgebiet der Erde, leben zahlreiche Menschen vom Fischen, Sammeln, Jagen, Ökotourismus und kleiner Landwirtschaft. Sie alle würden Land und ihre Erwerbstätigkeit verlieren. Für die inianischen Völker bedeutet die Terstörung ihrer Umwelt darüber hinaus den Verlust einer kulturellen Umwelt. Von einer Kompensation wurde bisher nicht gesprochen. Die geplanten Sprengungen während des Baus der Hidrovía würden sozusagen den “Pfropfen” aus dem Gebiet ziehen. Das Zukunftsszenario: Weite Teile des Feuchtgebietes trocknen aus, umliegende Strömungsverhältnisse verändern sich, da das Pantanal seine Funktion als Wasserschwamm verliert. Im Unterlauf ist dann entsprechend mit riesigen Überschwemmungen zu rechnen. Veränderte Strömungsverhältnisse bedeuten aber auch Versalzung, Versandung und Erosion in der Umgebung der Flußufer. Fischbestände und Fischreichtum werden beeinflußt. Der bisherige Transport, Einnahmequelle für tausende, wird gefährdet, statt dessen wächst mit den Riesenfrachtverbänden die Unfallgefahr.
Offiziell soll im Pantanalgebiet nicht gearbeitet werden, der Hafen von Descalvados soll aus den Planungen herausgenommen werden. Zweifel kommen jedoch auf seit oberhalb des Pantanals am bolivianischen Tamengokanal ausgebaggert wird. Diese Arbeiten sind nicht zu erklären, wenn die Schiffe nicht auch Fahrterleichterungen durch das Pantanal bekommen.
Weitreichendere Folgen sind abzusehen: geplant ist eine Vergrößerung und damit ein Heranrücken der Agrarfront an die Flußufer. Die Landspekulation beginnt bereits. Dank ungesicherter Eigentums- und Verfügungsrechte der Kleinbauern und indigenen Gruppen, vertreiben Großfirmen in den betreffenden Gebieten die Menschen mittels Gewalt, Druck oder Geld mit Leichtigkeit von ihrem Land. Die erhofften Arbeitsplätze werden ausbleiben: Großplantagen wie die geplanten, die Frachtverbände bis zu 16 Schiffen füllen sollen, sind hochmechanisiert. Dazu kommt die Wasserbelastung durch den Transport, den Pestizideinsatz, die Abwässer aus Minen und aus Häfen. Es werden Straßen in umliegende Waldgebiete getrieben und damit indianische Gebiete zerstört.

…. auch die sozialen Unterschiede werden tiefer

Die Nachhut bilden in solchen Fällen weitere Entwaldung, Brandrodung, Erosion, Aufgabe der Subsistenzwirtschaft, die Anlage illegaler und legaler Minen, die Ausbreitung von Krankheiten und sozialen Konflikten durch die Zunahme Landloser und WanderarbeiterInnen – und führt letztendlich zu einer weiteren Konzentration produktiver Ressourcen in den Händen weniger.
Von den offiziellen Stellen werden der Zusammenhang Hidrovía und nachfolgende Entwicklung ignoriert. Partizipative Planungsmethoden existieren höchstens als selektive Alibiauslese, die Betroffenen wissen in der Mehrheit kaum um das Projekt.

Soja für Europa

Problematisch ist Hidrovía allerdings nicht nur als Einzelprojekt. Bei einer Betrachtung der Hintergründe wird deutlich, daß sich die ganze wirtschaftliche Struktur der Region verändern wird. Geplant sind Agrar-, Holz- und Bergbauprojekte in der gesamten Region, privat, staatlich oder durch Entwicklungshilfe finanziert. Drei Ölfirmen haben ihre Kapazitäten verdreifacht, und es gibt neue Holzeinschlagskonzessionen in Formosa. Die Produkte sollen auf der Hidrovía bzw. Zugangsflüssen,-kanälen und Zügen transportiert werden. Ziel der Transporte: die EU, mit der Mercosur zur Zeit ein Sonderabkommen aushandelt. Absurd erscheint in diesem Zusammenhang, daß in weiteren Teilen Südamerikas Flüsse in Wasserstraßen umgewandelt worden sind oder werden sollen, also eine direkte Konkurrenz darstellen. Darunter sind die beiden Wasserstraßen Madeira-Amazonas und Toncantins-Araguaia in Brasilien, die den Norden des Landes nach Westen öffnen.
Die einseitige Exportorientierung von Produkten, die sowieso schon von mehreren Ländern in Masse exportiert werden, wird zum Preisverfall auf dem Weltmarkt führen. Kommt noch der – allerdings schleppende – Subventionsabbau in der EU, und das Aufholen der osteuropäischen Staaten bei der Agrarproduktion.
Exportiert werden soll vorrangig eins: Soja. Schon seit Jahren gehört Brasilien zu den drei größten Sojaproduzenten der Welt – Spitzenreiter sind die USA. Als Exportschlager, um Devisen zur Schuldenreduzierung zu bekommen, um Importe zu ersetzen, und um billiges Sojaöl zur Verfügung zu haben, ist die Sojaproduktion in Brasilien mit Subventionen und Krediten massiv gefördert worden. Paraguay, stets wachsam angesichts der Konkurrenz, hat das Programm des Nachbarn importiert, große, kapitalkräftige brasilianische Firmen ins Land gelockt und ebenfalls mit Soja expandiert.
Auch im Osten Boliviens soll der Sojaanbau massiv ausgeweitet werden. Dazu wird die Hafenkapazität in Caceres verdreifacht – mit Hilfe der größten Agrarfirma der Welt, Cargill aus den USA, die 51 Prozent am Hafen besitzt. Ab März 1997 sollen über den oben erwähnten Transportweg Madeira-Amazonas 750 Tonnen Soja pro Tag verladen werden – das ist eine LKW-Ladung alle 2 Minuten.

Widerstand – die Rios-Vivos Koalition

Gegen das Projekt wenden sich mittlerweile viele NRO. Gegen HPP haben sich über 300 Gruppen aller fünf Länder, darunter indigene Organisationen, soziale NROs und Umweltorganisationen zu einer Koalition namens Rios Vivos zusammengeschlossen. Sie versuchen, das Projekt und die Bandbreite der Folgen in der Bevölkerung bekannt zu machen, organisieren Seminare, auf denen sich zum Beispiel Indígenas aus mehreren Ländern treffen, um gemeinsame Positionen zu überlegen. Sie bündeln und koordinieren die Kritik der NROs und haben international Kontakt mit Organisationen aufgenommen, um von außen Druck auf Regierungen und Finanzinstitutionen auszuüben. Zu Rios Vivos gehören daher mittlerweile auch eine europäische und eine amerikanische Organisation.
In der Bundesrepublik halten mehrere Organisationen ständigen Kontakt zu Rios Vivos und arbeiten mit ihnen zusammen. So waren im Frühjahr 1996 fünf Vertreter von Rios Vivos in der Bundesrepublik und haben das BMZ und andere Institutionen der Entwicklungshilfe besucht und über die fehlende Vorabinformation und Einbeziehung der Bevölkerung in das Projekt aufgeklärt.

Kein Fortschritt ohne Aufklärung

Rios Vivos ist nicht grundsätzlich gegen den Transport auf den Flüssen, da diese seit Jahrhunderten genutzt werden. Die Organisation wendet sich aber dagegen, daß ohne jede Mitwirkung und voraussichtlich ohne jeden Nutzen für die regionale Bevölkerung ein Megaprojekt durchgezogen wird. Sie fordern daher eine umfassende Information über HPP und alle angekoppelten Projekte. Sie fordern eine Beteiligung und Einbeziehung der Menschen und eine Diskussion über das mit HPP vorgegebene Entwicklungsmodell. In den Worten einer Resolution, die 70 VertreterInnen von 22 indianischen Gruppen im Mai herausgegeben haben, sieht das so aus: “Erlaubt uns, den Regierungen zu mißtrauen angesichts der Gleichgültigkeit, die sie uns bei anderen Großprojekten entgegengebracht haben, die sie uns immer als positive Projekte dargestellt haben und die uns nie etwas Positives gebracht haben. Wir wissen, daß der Fluß vertieft wird, und wir fürchten, daß unser Land austrocknet. Wir wollen, daß die Regierung uns garantiert, daß sich die Flüsse nicht verändern und wir wollen wissen, was getan wird, um unser Leben zu verbessern. Wir verlangen, daß mit HPP nicht eher angefangen wird, als bis gründliche Umweltstudien fertig sind, die die Belange der Anwohner und unsere miteinbeziehen. Wir wollen, daß unsere Territorien bestätigt werden. Wir empfinden HPP als Angriff auf das sozioökonomische und kulturelle System der indigenen Völker, weil es uns ein Entwicklungsmodell auferlegt, daß einem adäquaten Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen fremd ist.”

Hidrovía und Deutschland

Die Bundesrepublik ist bisher nicht direkt an der Finanzierung und den Bauvorhaben beteiligt, wird aber als “reiches Land” als eine potentielle Finanzquelle betrachtet. Finanzierungen könnten dabei über die offizielle Entwicklungshilfe oder Exportbürgschaften laufen. In Betracht gezogen werden muß dabei, daß es nicht nur um die Finanzierung der Flußarbeiten geht, sondern auch um Anschlußprojekte wie Bergbau und Agrobusiness.
Indirekt ist die Bundesregierung allerdings schon jetzt an dem Projekt beteiligt – und zwar über ihre Beteiligung an der Interamerikanischen Entwicklungsbank, dem UNDP (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (8,9 Prozent Beitragsanteil 1993) und der EU. Letztere hat für Studien zur Modernisierung mehrerer Häfen entlang der Flüsse 850.000 ECU zur Verfügung gestellt. Die Durchführung der Studien, die bis September 1997 fertiggestellt werden sollen, obliegt der deutschen Consulting Rogge Marine in Bremerhaven. Innerhalb der EU ist die Bundesrepublik ausserdem der wichtigste Handelspartner für Lateinamerika, besonders für Agrarimporte: 28 Prozent aller Agrareinfuhren stammen aus der Region, davon sind 30 Prozent Futtermittel, also auch Soja. Vor dem Hintergrund wachsender Handelskontakte zwischen EU und Mercosur würden nicht nur substantielle Handelsinteressen der EU befriedigt, sondern wären auch millionenschwere Aufträge für europäische Firmen zu erwarten. Nur einige, durch die Erfahrung mit dem Erzabbauprojekt Grande Carajas in Brasilien mißtrauisch gewordene EU-ParlamentarierInnen haben sich vorsorglich in einer informellen Hidrovía-Arbeitsgruppe zusammengeschlossen.
Auf Nichtregierungsebene haben sich ca. 15 deutsche Umwelt- und Entwicklungsorganisationen und Einzelpersonen zusammengeschlossen, darunter der WWF, KoBra (Koordination der Brasiliengruppen) und Pro Regenwald. Die Gruppen machen in der Bundesrepublik und auf EU-Ebene Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit. Gesucht wird auch der Kontakt zu Gruppen, die sich in Deutschland mit der Problematik Wasserstraßen, also dem geplanten Ausbau der letzten Kilometer freifließender Flüsse und dem Rückbau kanalisierter Flüsse beschäftigen, um den Partnern in Lateinamerika Vergleichsmöglichkeiten und Kritikpunkte bieten zu können.
Ob HPP in der jetzigen Form verhindert werden kann, hängt zu einem grossen Teil davon ab, ob und wie europäische und dabei besonders deutsche Gruppen und Personen anfangen, Öffentlichkeit zu schaffen und Druck auf PolitikerInnen auszuüben. Die weltweite Degradierung von Flüssen zu Verkehrswegen auf Kosten der AnwohnerInnen und der Natur führt in eine Sackgasse. Transport muß nicht billiger und schneller werden, sondern anders: vermieden, wo nicht notwendig und vor allem so teuer wie es den ökologischen und sozialen Schäden entspricht, die er verursacht.

Argentiniens Kampf gegen die Haare

Summa summarum war Ar­gen­tinien in den letzten 20 Jah­ren die er­folg­reichste la­tein­ame­ri­ka­ni­sche Mann­schaft. Zweimal Welt­meister (1978 und 1986) und zweimal Amerikameister (1991 und 1993). Seitdem ist al­ler­dings der Wurm drin. Bei der Qua­lifikation zur WM 94 setzte es in Buenos Aires mit dem 0:5 ge­gen Kolumbien die höchste Heim­schlappe in der Länder­spiel­geschichte, bei der WM selbst wurde Maradona des Do­pings überführt und Argentinien schied ohne ihn und den ver­letz­ten Caniggia bereits im Ach­tel­fi­nale aus. Der Trainer Al­fredo Ba­sile wurde entlassen und durch Maradonas Intimfeind Da­niel Passarella ersetzt. Passarella, der Kapitän der Weltmeister­trup­pe von 1978, ist bis heute sauer auf Maradona, den Welt­mei­ster­ka­pitän von 1986. Der Grund: Pas­sarella gehörte 1986 noch zum WM-Aufgebot und hätte als er­ster Argentinier zum zweiten Mal Weltmeister werden können. Spie­len durfte er indes nicht, sei­ner Meinung nach we­gen Mara­do­na, der ihm den Ruhm nicht gönnte und deswe­gen für José Luis Brown als Li­bero plädierte. Je­denfalls stellte Trainer Carlos Bi­lardo Brown auf, Argentinien wur­de Weltmei­ster und die In­tim­feindschaft Passarella-Mara­do­na nahm ihren Lauf.
Kettenraucher Passarellas er­ste Amtshandlung war denn auch ziel­gerichtet: Spieler mit langen Haaren und/oder mit Ohrringen hät­ten in der Nationalmannschaft fort­an nichts mehr zu suchen. Klar wem diese Maßnahme in er­ster Linie galt: dem ohrbe­ring­ten Maradona und dessen lang­mäh­nigem Freund Caniggia. Ei­ne glatte Überreaktion, war doch Ma­radona wegen seines Do­ping­ver­gehens ohnehin 15 Mo­nate ge­sperrt und damit für die Na­tio­nal­mannschaft kein Thema. Ca­nig­gia wiederum war in Europa wie­der einmal auf Ver­einssuche un es war äußerst un­klar, ob er über­haupt weiter für die Aus­wahl spielen wollte. Über­re­ak­tion aber insbesondere des­we­gen, weil neben Caniggia auch zwei andere Starspieler der Mann­schaft, Mittelfeldspieler Fer­nando Redondo und Torjäger Gab­riel Batistuta lange Mähnen zier­ten.

Der Trainer als Frisör

Die Reaktionen fielen un­ter­schiedlich aus: Caniggia wollte erstmal eine Pause einle­gen, Redondo machte klar, daß sei­ne langen Haare ein Teil sei­ner Persönlichkeit seien und er un­ter diesen Bedingungen nicht wei­ter spielen würde, Batistuta be­suchte hingegen flugs den Fri­sör und ließ sich die Haare schnei­den. Für ihn stand auch am mei­sten auf dem Spiel. Schließ­lich war er auf dem besten We­ge, Maradona als Rekordtor­schütze der Nationalmannschaft zu verdrän­gen, Pausen à la Ca­nig­gia kämen da ungelegen.

Die Krise geht weiter

Passarellas erstes Turnier, die Copa America 1995 in Uruguay, wur­de zum Fehlschlag. Mara­do­na ließ sich von seinem Feri­enort ein­fliegen, begutachtete die Spie­le und lästerte über die Dar­bie­tungen. Vor allem die bla­mab­le 0:3 Niederlage gegen die USA gab ihm dafür reichlich Muni­tion. Das unglückliche Aus­schei­den gegen Brasilien folgte auf dem Fuß, der Hausse­gen hing schief. Nur noch ein knap­pes Jahr bis zur Qualifika­tion und der argentinische Fuß­ball in der großen Sinnkrise. Zwei Tur­nie­re hintereinander frühzeitig ge­scheitert, die ein­stige Tur­nier­mann­schaft par ex­cellence be­gann an sich zu zwei­feln.

Ein haariger Kompromiß

Maradonas Sperre war unter­des­sen abgelaufen und Caniggia nach Argentinien zurückgekehrt. Bei seinem letzten Klub in Eu­ro­pa, Benfica Lissabon, war Ca­nig­gia wegen unmotivierten Auf­trit­ten bei den Fans derart in Un­gna­de gefallen, daß er auf of­fener Straße eine Abreibung ver­paßt be­kam. Daraufhin kehrte er der eu­ropäischen Diaspora den Rük­ken, zumal Maradona bei Boca Ju­niors sehnsüchtig auf seinen er­klärten Lieblingsmit­spieler war­tete. Wenn sie zu­sammen spiel­ten, harmonierten sie wie Zwil­linge. Wenn, denn oft war der eine oder der andere verletzt, be­ziehungsweise wegen roter Kar­ten gesperrt. Titel blie­ben so für Argentiniens populär­sten Club Boca Juniors de Bue­nos Aires aus.
Dennoch geriet Passarella zu­neh­mend unter Druck. Er mußte den Kader für das erste Qualifi­ka­tionsspiel gegen Bolivien be­nen­nen und Caniggia spielte im­mer stärker. Wiedereinmal mischte sich der Fuß­ball­fan und Staatspräsident Menem ein. Caniggia sei unver­zicht­bar, Maradona eigentlich auch, aber der würde ja nicht mehr wollen.
Was nun Passarella?
Caniggia zeigte sich kom­pro­miß­bereit. Um ganze drei Zen­ti­me­ter ließ er sich die Haare schnei­den. Passarella konnte an die­ser Geste des guten Willens nicht vorbeigehen und berief Ca­nig­gia ins Aufgebot. Alles in But­ter, da sich das Problem Re­don­do wegen dessen Verletzung zu diesem Zeitpunkt nicht stellte. Caniggia kam, sah und siegte. Ar­gentinien schlug Bolivien 3:1, Caniggia wurde zum man of the match gewählt und der große Fa­vo­rit schien wieder auf den Er­folgs­pfad zurückgekehrt zu sein.

Ecuadors bolivianische Taktik

Nach dem Heimspiel in Bue­nos Aires stand das Auswärts­spiel in Ecuador an. Ecuador konnte sich noch nie für eine Welt­meisterschaft qualifizieren. Bis 1994 hatten sie diese Bilanz mit Bolivien gemeinsam. Boli­vien setzte damals auf die Karte La Paz, Fußball in der Höhe von 3600 Meter, da geraten die Flach­landbewohner aus Argenti­nien, Uruguay und Brasilien aus der Puste. Nun, Ecuador besann sich seiner geographischen und kli­matischen Möglichkeiten und terminierte die Partie auf High Noon in der Höhe von 2700 Me­ter in Quito bei Temperaturen von 28 bis 30 Grad. Passarella be­zeichnete die Höhe als zusätz­li­chen Spieler Ecuadors. Mit 20 Li­tern Sauerstoff sollte dieser zu­sätzliche Spieler bekämpft wer­den. Es war vergebens und der ecuadorianische Torwart Car­los Morales behielt Recht: “Ba­tistuta und Caniggia werden Schwindel­anfälle bekommen und sich zeitweise nicht bewegen kön­nen”. Das argentinische Stür­mer­duo war wirklich nur ein laues Lüftchen, die 0:2 Nieder­lage die logische Konsequenz. Ecua­dor hat nebenbei bemerkt mit dieser Strategie vier seiner bis­herigen fünf Heimspiele ge­won­nen, nur gegen die Allklima­spie­ler aus Kolumbien gabs eine 0:1 Niederlage. Auch die Aus­wärts­bilanz Ecuadors spricht für sich: drei Spiele, ein Tor, null Punkte. Bisher reicht das für den vier­ten Platz.

Zurück in der Krise

Das nächste Auswärtsspiel Ar­gentiniens war nun in Perus Haupt­stadt Lima. Ausreden gebe es hier nicht, meinte Passarella. Mit viel Glück konnten die Ar­gen­tinier ein torloses Unent­schie­den retten. Neben dem Tor­wart Burgos war Abel Balbo der auf­fälligste Spieler Argenti­niens: Mit einem brutalen Foul setzte er sich gekonnt in Szene und durfte schon nach einer hal­ben Stunde duschen gehen. Ca­niggia übte nach dem Spiel Selbstkritik: “Ich schä­me mich nicht, zuzugeben, daß ich gegen Peru schlecht ge­spielt habe. Ich suche keine Ent­schul­digungen, ihr (die Medien) müßt schon die fragen, die nach Ent­schuldigun­gen suchen.” Vor­erst war es wiedereinmal das letzte Spiel Caniggias. Seit Juli 1996 macht er wieder Pause, suchte bisher erfolglos einen Ver­ein in Europa und befindet sich nun wieder in Ver­hand­lun­gen mit Boca, wie auch Spezi Diego Maradona.
Ohne seinen gewohnten Sturm­partner Caniggia machte sich Gabriel Batistuta im näch­sten Spiel gegen Paraguay auf die Socken, Maradonas Länder­spiel­torrekord von 34 zu über­bie­ten. Ein Schuß, ein Tor und Batigol hatte sein Ziel erreicht. Die Show wurde ihm dennoch ge­stoh­len. Im Tor Para­guays steht nämlich José Luis Chi­la­vert, Torhüter und Torjäger in ei­ner Person. Der Keeper des ar­gen­tinischen Vereins Velez Sars­field hatte vor dem Spiel an­ge­kün­digt, einen Treffer zu ver­sen­ken. Nichts ungewöhnliches für Chi­lavert, der schon über 30 Elf­meter- und Freistoßtore zu Buche stehen hat. Er hielt Wort, schnapp­te sich kurz vor Ende des Spiels den Ball und traf mit ei­nem Freistoß zum 1:1 Endstand. Ar­gentinien war schwer getrof­fen. Ausgerechnet der Gastar­bei­ter. Wenige Tage später stand eine Sportgerichtsverhandlung an. Chilavert hatte während eines Punkt­spiels eine leichte Tätlich­keit begangen, die nun schwer ge­ahndet wurde. Mehrere Mo­na­te Ausschluß vom Spielbetrieb lau­tete das erste Urteil. Chilavert war mit Recht sauer und kün­dig­te seinen Weggang aus Ar­gen­ti­nien zum Jahresende 1997 an. Das Urteil wurde revidiert, Chi­la­vert spielt und trifft weiter, aber nicht immer. Kürzlich ver­lor er seinen Nimbus als unfehl­ba­rer Elfmeterschütze und ver­sieb­te gleich deren zwei in einem Punkt­spiel. Paraguay hat es indes in erster Linie seinen Leistungen zu verdanken, daß es nach Ab­schluß der Vorrunde hinter Ko­lum­bien an zweiter Stelle steht, punkt­gleich mit dem Ersten und ge­radezu selbstverständlich mit den wenigsten Gegentoren.
Argentiniens Selbstbewußt­sein war heftig angeknackst, ge­gen Mannschaften wie Peru und Pa­raguay nicht zu gewinnen, war reich­lich ungewohnt. Venezuela kam da als Aufbaugegner gerade Recht. Jahrelang hatte das vene­zo­lanische Team kein Länder­spiel gewinnen können, von Punk­ten bei Qualifikationsspie­len ganz zu schweigen. Diesmal stand derweil schon ein Punkt aus dem Spiel gegen Chile zu Buche, deren Trainer daraufhin zu­rücktrat. Gegen Argentinien lang­te es immerhin zu einem Füh­rungs- und Anschlußtor. Zwei Tore in einem Spiel. Die Vene­zolaner hatten getroffen wie nie zuvor und doch verloren wie fast immer. Überzeugen konnten die Argentinier trotz ihrer fünf Tref­fer nicht, das Ziel Selbstbe­wußt­sein für die anstehenden Spie­le zu tanken, schlug fehl.
Die folgenden zwei Spiele gegen Chile und in Uruguay brach­ten das alte Leid. Krampf und Kampf und zwei schmei­chel­hafte Unentschieden. Und nur noch vier Wochen bis zum letz­ten Vorrundenspiel beim bis dato ungeschlagenen Tabellen­füh­rer Kolumbien. Unterdessen glänz­te der wiedergenesene Re­don­do beim designierten spani­schen Meister Real Madrid wäh­rend Passarella ungewohnte Töne von sich gab. Hatte er noch eini­ge Monate zuvor Maradona als abschreckendes Beispiel für den argentinischen Fußball be­zeich­net, jammerte er nun ge­gen­über dem Präsidenten von Lazio Rom, Dino Zoff: “Argentinien sehnt sich nach großen Namen. Wie Italien, das Zoff, Bettega, Causio und Paolo Rossi verloren hat. Wir in Ar­gentinien haben kei­nen Mara­dona mehr, das ist viel schlim­mer.” Maradona zu be­rufen kam im natürlich nicht in den Sinn, zum einen war die­ser vereinslos und zudem hatte er in seiner vor­erst letzten Spielzeit bei Boca vorallem dadurch auf sich auf­merksam gemacht, daß er sage und schreibe fünf Elf­meter hin­tereinander ver­schos­sen hatte. Von den gegnerischen Fans ver­spottet, von Selbst­zwei­feln ge­plagt, machte er sich dann zwecks Entziehungskur und Er­ho­lung Richtung Europa auf, um nach seiner Rückkehr nun wieder die Medien mit immer neuen Ver­tragsvorstellungen auf Trab zu halten. Maradona also nicht, den vereinslosen Caniggia auch nicht, da blieb nur noch Re­don­do. Dieser wurde berufen, kam aber nicht. Der Streit um die Haare war für ihn noch aktuell und in der Annahme, daß er sei­ne Haare mindestens um drei Zen­timeter kürzen müßte, sagte er ab. Batistuta war zudem we­gen einer Formkrise nicht mal be­rufen worden, so daß Argenti­nien zum ersten Mal seit der WM ohne einen der drei damali­gen langhaarigen Leistungsträger Re­dondo, Batistuta und Caniggia an­trat. Argentinien gewann 1:0 und ist nun Dritter. Die Zeichen ste­hen seitdem wieder auf Kurz­haar­schnitt, aber bis zur WM 1998 ist noch Zeit und Caniggia wird nicht ewig Pause machen.

Weißes Gold

Nach 200 Metern Staubpiste versperrt eine Schranke den Weg. Der dahinter liegende Ort wirkt gespenstisch, weit und breit keine Menschenseele. Die Stille wird nur vom böigen Wüstenwind und dem Scheppern der Wellblechplatten unterbrochen. Staub wirbelt um die Ecken und Wände verfallener Gebäude. Die perfekte Kulisse für einen Western! Die Sonne brennt erbarmungslos vom tiefblauen Himmel. Keine Wolke weit und breit. Im Osten läßt sich die Silhouette der Andenkordillere erahnen. Die wenigen Bäumchen haben sichtlich Mühe, unter den unwirtlichen Bedingungen zu gedeihen. Der verlassene Ort läßt nichts von dem lebendigen Treiben früherer Jahre ahnen. Einzig an den Eintragungen im aufgeschlagenen Gästebuch in der Eingangshütte ist zu erkennen, daß sich vor kurzem Menschen in dieser Geisterstadt aufgehalten haben müssen.
Ein überdachtes achteckiges Holzpodest, auf dem in den meisten Städten des Andenstaates längst unaufhörlich dröhnende Lautsprecher die Musikkapellen ersetzt haben, läßt die freie Fläche unschwer als typisch chilenische Plaza de Armas erkennen. Sie wird beherrscht von dem dreistöckigen Theaterbau mit seinen drei Bögen und zwei Ecktürmen. Die Plaza liegt zwischen ehemaligen Fabrikanlagen und den Wohnvierteln. Die nahegelegenen Arbeiterhäuser sind weitgehend verfallen, die Dächer und Wände eingestürzt. Überall warnen Schilder vor dem Betreten. Doch etwas abseits finden sich komplett erhaltene Blocks. In Form eines großen L sind jeweils zwei Dreizimmerwohnungen um einen Innenhof angeordnet. Auf einem offenen Platz, der sich in besonderer Weise als Appellplatz eignete, liegen verstreut die traurigen Reste einer verrosteten Dampfmaschine. Die berühmteste Geisterstadt in der chilenischen Wüste wirkt faszinierend und gleichzeitig bedrückend auf den Besucher. Das unaufhörliche Scheppern der Wellblechplatten, das Wehen des Wüstenwindes in der Einsamkeit der Ruinen scheint nicht von dieser Welt zu sein.

Kulisse für einen Western

Plötzlich ertönt ein Pfiff. In der Ferne winkt ein unverkennbar menschliches Wesen. Roberto Zaldívar hat sich für ein Leben fernab der Zivilisation entschieden. Seit Mitte 1991 lebt er in der Einsamkeit der Ruinen und Wellblechdächer, bis vor kurzem ohne Strom und fließendes Wasser. Im Auftrag des Goethe-Instituts in der Hauptstadt Santiago hütet er die verlassene Salpeterstadt. Fast sieben Jahre geht das Engagement der deutschen Kulturvertretung in der Atacama-Wüste zurück. Seither bemühen sich die BetreiberInnen, die Ruinenstadt vor dem Schicksal der allermeisten anderen oficinas zu bewahren. Denn wie an keiner anderen Stelle kristallisieren sich in Chacabuco die Salpetergeschichte, die ArbeiterInnenbewegung und politische Unterdrückung in Chile.
Mit dem Export des ‘weißen Goldes’ betrat die einstige spanische Kolonie zum ersten Mal die Bühne des internationalen Handels. Um die Vorkommen in der Atacama-Wüste wurden Kriege geführt, die entstehende Gewerkschaftsbewegung spürte hier den mächtigen Arm von Militär und Polizei. Viele Jahre später, als der Salpeterboom lange vorüber war, stellte die sozialistische Regierung von Salvador Allende die oficina unter Denkmalschutz. Kaum zwei Jahre später diente Chacabuco den putschenden Generälen um Augusto Pinochet als Gefangenenlager. Viele prominente politische Häftlinge wurden hier im extremen Wüstenklima zwischen Stacheldraht und Minenfeldern eingepfercht. “Die Idee bei der Erhaltung von Chacabuco ist es zu verhindern, daß die Erinnerung an das größte Konzentrationslager in der Geschichte Chiles in Vergessenheit gerät,” erklärt Roberto Zaldívar, der Wärter der Gedenkstätte. “Gleichzeitig ist die historische Bedeutung von Chacabuco unschätzbar, denn es ist fast die letzte erhaltene Salpeterstadt.”
Vom Winde verweht sind mittlerweile die allermeisten der ehemals über 100 Wüstensiedlungen. Allein Mauerreste und Abraumhalden in Form überdimensionaler Torten erinnern an die aufgegebenen oficinas. Und die gottverlassenen Friedhöfe, deren Holzkreuze und Eisenrosetten dem Wüstensand trotzen. Die einzige und letzte Erinnerung an die Menschen, die an dieser unwirtlichen Stelle des Globus gelebt und geschuftet haben. Nur die letzte Ruhestätte ist ihnen geblieben, ihre Heimat hat längst die Wüste geschluckt. Keiner kümmert sich um die Gräber, weil niemand mehr da ist. Ein unheimliches Gefühl beschleicht den Betrachter: Die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens wird dem Besucher hier bedrohlich nah vor Augen geführt.
Dabei macht gerade die trockenste Wüste der Erde Vergängliches auf besondere Art unvergänglich. Bei der extrem niedrigen Luftfeuchtigkeit, die jeden Schweißtropfen sofort auf der Haut verdunsten läßt, haben mumifizierte Atacameños die Jahrtausende ebenso unbeschadet überstanden wie die Salpeterarbeiter. Die menschlichen Zeugen vergangener Epochen hatten auch entscheidenden Anteil an der Entstehung des Chacabuco-Projekts. Der langjährige Leiter des Santiagoer Goethe-Instituts, Dieter Strauß, war von den Wüstenregionen derart fasziniert, daß er bei jeder Gelegenheit in Chiles unwirtlichen Norden reiste. “Eine Mumie auf einem der Salpeterfriedhöfe wird es gewesen sein, die mein Interesse an der versunkenen Salpeterwelt erweckte”, erinnert er sich. “Als dann noch die Geschichte ‘hinzutrat’, war es um mich geschehen.” Die Idee zum Erhalt der Salpeterstadt war geboren. Seither warb er in Chile wie in Deutschland für die Restaurierung der Werksanlage, hüben wie drüben gab es erhebliche Widerstände zu überwinden. Michael de la Fontaine, der Nachfolger von Dieter Strauß, setzte das Wüstenprojekt mit ungemindertem Elan fort: “An diesen Salpeterstädten ist vor allem interessant, daß sie nicht einfach industrial plants sind, sondern wirklich ganze Städte im Niemandsland. Sie lassen die gesamte Sozialstruktur erkennen.”

Die Anfänge reichen weit zurück

Als eins der jüngsten Salpeterwerke entstand Chacabuco zu einem Zeitpunkt, als das große Geschäft mit dem weißen Gold seinen Höhepunkt bereits überschritten hatte. Die Geschichte der Salpeternutzung geht weit zurück in die Zeit vor der Ankunft der Spanier. Frühe atacamenische Kulturen verwendeten das natürliche Nitrat als Düngemittel und allem Anschein nach auch als Sprengstoff, die Inkas übernahmen bei ihrem Vorstoß nach Süden deren Techniken. Bereits 1571 sicherte König Philipp II. der spanischen Krone die Rechte am Salpeterabbau, der bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts im wesentlichen von den Jesuiten betrieben wurde. 1809 entwickelte der reisende böhmische Naturwissenschaftler Thadäus Haenke ein Verfahren, das die systematische Nitratgewinnung durch Erhitzen des Rohmaterials caliche erlaubte. Ab 1920 begann der Salpeterexport, allerdings zunächst in sehr bescheidenem Umfang. Zudem mußten unvorhergesehene Schwierigkeiten überwunden werden. Als die ersten Frachtschiffe mit ihrer weißen Ladung in englischen Häfen einliefen, sahen sich die Hafenarbeiter vor ein unüberwindbares Problem gestellt: Wie sollten sie den riesigen verbackenen Klumpen aus dem Schiffsleib herausbekommen? Das Salpeterpulver war durch die Feuchtigkeit auf See steinhart geworden, die Schiffe mußten auf offener See versenkt werden. Seither geht das Salpeter als Granulat auf die lange Reise.
Ein wichtiger Schritt zur industriellen Salpeterherstellung gelang 1876 dem Chilenen britischer Herkunft, Santiago Humberstone: Durch ein Rohrsystem leitete er Wasserdampf ein, um das Salpeter aus dem caliche herauszulösen. Dieses Verfahren war wesentlich ökonomischer und erlaubte die Ausbeutung der natürlichen Nitratvorkommen in großem Stil. Mit der Industrialisierung in Europa waren immer mehr hungrige Mäuler zu stopfen, die Landwirtschaft mußte effektiver arbeiten. Der Gießener Chemiker Justus von Liebig wies Mitte des 19. Jahrhunderts die Vorzüge von Nitratdünger für den Ackerbau nach. Damit war der Weg zur weltweiten Vermarktung von Naturdünger geebnet. Als Rohstoffquelle für die Herstellung von Schießpulver erlangten die Salpeterfelder zudem strategische Bedeutung.
Mit dem Geschäft wuchsen die Begehrlichkeiten. Die größten Salpetervorkommen lagerten in der ehemaligen peruanischen Provinz Tarapacá und in der bolivianischen Atacama-Wüste. Deren Ausbeutung lag in dieser Zeit vorwiegend in der Hand chilenischer Unternehmer, die Nachbarstaaten kassierten Ausfuhrsteuer. Als Bolivien einseitig die Zollgebühren anhob, besetzten die Chilenen am 14. Februar 1879 kurzerhand den wichtigen Ausfuhrhafen Antofagasta. Im April folgte die offizielle Kriegserklärung an Bolivien und das verbündete Peru. Der Pazifikkrieg war nach zwei Jahren mit dem Einmarsch der nach preußischem Vorbild aufgebauten chilenischen Armee in Lima praktisch entschieden. Mit den beiden nördlichen Provinzen Atacama und Tarapacá hatte der Andenstaat seine Fläche um ein Drittel vergrößert und sich vor allem die reichen Salpetervorkommen einverleibt.

Rohstoff für Dünger und Sprengstoff

Im folgenden halben Jahrhundert brachte das Salpetermonopol dem Land einen Aufschwung unbekannten Ausmaßes. Zunächst schnellte der Export des weißen Goldes von Jahr zu Jahr in die Höhe. Doch bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts war die Nachfrage nach dem Rohstoff für Dünger und Sprengstoff zunehmenden Schwankungen unterworfen. Der Erste Weltkrieg bewirkte anfangs einen deutlichen Anstieg der Exporte. Doch die Seeblockade des Deutschen Reichs, des bisherigen Hauptabnehmers, traf die chilenische Salpeterindustrie kurz darauf empfindlich, bevor der steigende Düngemittelimport der Entente-Staaten die Verluste wieder ausglich. Allerdings hatte die Blockade eine Entwicklung in Gang gesetzt, die das Schicksal der chilenischen Salpeterwirtschaft endgültig besiegeln sollte.
Bereits 1912 war den beiden Ingenieuren Friedrich Haber und Karl Bosch in den Hauptwerken der BASF in Ludwigshafen ein bahnbrechender Erfolg gelungen: Sie entwickelten das nach ihnen benannte Verfahren zur Gewinnung von Stickstoff aus der Luft. In Ermangelung des Rohstoffs für Sprengstoffe setzte die preußische Kriegswirtschaft alles daran, sich von den ausbleibenden Salpeterlieferungen unabhängig zu machen. Mit dem Bau der beiden großen Nitratwerke in Oppau und Leuna machte sich das Reich vom chilenischen Salpeter unabhängig. Die anderen Länder zogen nach. Der chilenische Boom ging ebenso jäh zuende, wie er begonnen hatte. Mit Justus von Liebig sowie Haber und Bosch standen somit deutsche Chemiker an der Wiege und gleichzeitig an der Bahre des Salpeters.
Der Leiter des Naturhistorischen Museums in Santiago, Luis Capurro, kann sich denn auch nicht von dem Gedanken frei machen, hinter dem Engagement der Deutschen stünde der Versuch einer Wiedergutmachung. In seiner Würdigung des Chacabuco-Projekts heißt es: “Vielleicht wollten sie damit die Schuld bezahlen, die sie gegenüber Chile wegen des Zusammenbruchs der Natursalpeterindustrie haben.” Diese Art von Schuldgefühlen dürfte die Betreiber des Projekts weniger bewegen als das Ziel, welches Capurro im Anschluß formuliert: “Die derzeit restaurierte oficina salitrera sollte ein großes Kulturzentrum werden, das einen wichtigen Teil unseres kulturellen Erbes bewahrt, dessen Erhalt die Bewahrung der Identität eines Landes ermöglicht.” Der Weg dahin ist noch weit, aber die ersten Schritte sind getan. Zunächst wurde das großzügige Theater wieder aufgebaut, in dem einst in- und ausländische Künstler für Angestellte und Arbeiter des Werks auftraten. Kürzlich wurde die Restaurierung der angrenzenden Philharmonie abgeschlossen, deren Dach vor langem auf die Parkettbestuhlung heruntergestürzt war.

Gedenkstätte Chacabuco

Kaum ein Ort in Chile ist besser als Gedenkstätte geeignet als das vergleichsweise gut erhaltene Chacabuco. Wie keine andere verlassene Salpeterstadt symbolisiert es die bewegte Geschichte des Landes mit der verrückten Geographie. Das Musterwerk der Salpeterindustrie ist ein einzigartiges Denkmal der chilenischen Industriegeschichte. Es ist das größte und eins der letzten Werke, das nach dem englischen Shanks-System arbeitete. Dabei wird das salpeterhaltige Mineral mit Wasserdampf gelöst und aufbereitet. Für eine Million Pfund Sterling errichtete die britisch-chilenische Lautaro Nitrate Company zwischen 1922 und 1924 eine komplette Industrieanlage einschließlich Wohnungen für über 3000 Arbeiter und mehrere Hundert Angestellte. Nur wenige Meter neben den letzten Wohnhäusern zieht das dunkle Band der Panamericana entlang, der einzigen Landverbindung zwischen Santiago und dem Großen Norden. Eine architektonische Besonderheit prädestinierte Chacabuco ein halbes Jahrhundert später für den Mißbrauch als Konzentrationslager: Wie eine Industriefestung inmitten der Wüste war die oficina rundherum von einer Mauer eingefaßt, die gleichzeitig die Außenwände bildete.
Das Werk Chacabuco arbeitete mit modernster Technologie der 20er Jahre. Obwohl unter der Regie einer englischen Firma betrieben, enthält die Anlage vorwiegend deutsche Maschinen, Turbinen und Kessel, mehrheitlich von Siemens. Daß dieser Industriestandort nur 14 Jahre in Betrieb bleiben sollte, ahnte in der Bauphase wohl niemand. Nicht nur der weltweite Rückgang des Bedarfs an natürlichem Dünger trug zu dem raschen Ende von Chacabuco bei, sondern vor allem die hohen Stromkosten beim Betrieb dieser Anlage. Ab 1930 begann nämlich die US-Firma Guggenheim & Sons mit dem Aufbau neuer Werke, in denen unter Ausnutzung der Sonnenwärme mit wesentlich weniger Energie Salpeter aus minderwertigerem Rohmaterial gewonnen werden konnte. Die damals gegründeten Werke Pedro de Valdivia, María Elena und Coya sind als einzige bis jetzt in Betrieb und bilden das Rückgrat der heutigen Salpeterindustrie Chiles. Chacabuco dagegen stellte schon 1938 die Produktion ein. Ein Teil der Geschäftsleitung verblieb in der Stadt, so daß die Infrastruktur lange erhalten blieb. Die Armee schlug hier regelmäßig bei Manövern ihre Zelte auf.
Dadurch war die Salpeterstadt auch 33 Jahre nach Einstellung der Produktion noch in einem hervorragenden Zustand, als sie die Unidad-Popular-Regierung von Salvador Allende 1971 unter Denkmalschutz stellte. Der zuständige Staatssekretär im Kulturministerium, Waldo Suárez, konnte damals nicht ahnen, daß er nur zwei Jahre später als einer der ersten Häftlinge in das neu gegründete Gefangenenlager der Militärdiktatur in Chacabuco verschleppt werden sollte. Erst zwei Tage vor seinem Tod entließen ihn die Militärs aus der Gefangenschaft, schwerkrank wurde er nach Antofagasta gebracht, um dort zu sterben. Mehr als 3000 politische Gefangene wurden nach dem 10. November 1973 monatelang in dem Lager festgehalten, unter ihnen der Präsident des Abgeordnetenhauses. Der Journalist Guillermo Torres war fast ein Jahr in Chacabuco, bevor er ausreisen konnte und in Ostberlin politisches Asyl fand. Heute arbeitet er halbtags als Pressereferent im Rathaus von Santiago und die übrige Zeit als Redakteur bei der Tageszeitung La Nación. Er begrüßt die Initiative des Goethe-Instituts, denn die Erinnerung muß wachgehalten werden, auch und gerade wenn sie so belastend ist. “Das schlimmste war,” so erinnert er sich, “daß den Soldaten eingeimpft wurde, wir wären ganz gefährliche Verbrecher. Aber nach ein oder zwei Wochen hatten sie gemerkt, daß wir ganz normale, ganz harmlose Menschen waren. Darum wurde das Wachpersonal jeden Monat ausgewechselt.”

Pulverfaß in der Wüste

Das Militär gab das Gefangenenlager Chacabuco Ende 1976 auf, doch der Ort blieb noch bis 1989 oder 90 in Händen der Armee. Der lange schwelende Grenzkonflikt mit Argentinien hätte in den 80er Jahren beinahe zum offenen Krieg mit dem Nachbarland geführt. “Chacabuco verwandelte sich damals von einem Gefangenenlager in das größte Pulverfaß der Wüste,” erklärt Roberto Zaldívar vor einem riesigen Schuppen voller verrosteter Maschinen, “hier lagerte das gesamte Kriegsgerät für eine Invasion in Nordargentinien. Nach dem Ende der Diktatur stand der verlassene Ort eine Zeitlang allen offen, es wurde gestohlen, geplündert, zerstört und gesprengt.” Die häufigen Erdbeben in dieser Region taten ein übriges. Chacabuco verfiel binnen kurzer Zeit und verwandelte sich in die Ruinenstadt, die heute den Besucher mit ihren vielen Geheimnissen und allgegenwärtigen Spuren der Vergangenhheit in ihren Bann zieht. Nur das Theater am zentralen Platz erstrahlt seit kurzem in neuem Glanz und erinnert an das kulturelle Leben vergangener Tage.
In den abgeschiedenen Städten, in denen die Menschen den Unbillen des lebensfeindlichen Wüstenklimas trotzten, waren kulturelle Veranstaltungen eine überaus willkommene Abwechslung. In der Regel standen sie allen BewohnerInnen gleichermaßen offen. Zweifellos ein Ergebnis der langen sozialen Kämpfe. Zwar waren die sozialen Unterschiede zwischen Firmenleitung und Arbeitern auch in Chacabuco offensichtlich. Dennoch konnten die englischen Betreiber nicht mehr an den Erfahrungen jahrzehntelanger gesellschaftlicher Auseinandersetzungen vorbeigehen. Die wilden Jahre des unregulierten Kapitalismus waren auch in Chile vorerst vorüber. Die Forderungen einer starken Gewerkschaftsbewegung und erste Ansätze einer effektiven Sozialgesetzgebung in Chile zwangen die Lautaro Nitrate Company, ihren Arbeitern akzeptable Wohn- und Arbeitsverhältnisse zu bieten. Das war während des gut 50jährigen Salpeterbooms beileibe nicht immer so. “Die Salpetergeschichte war sehr blutig”, erklärt der Wärter Roberto beim gemeinsamen Rundgang durch die Ruinenstadt. “Aber gleichzeitig hat sie es möglich gemacht, das dieses Land trotz aller Vergeudung vorwärts kommen konnte.”
Die Geschichte des weißen Goldes ist geprägt durch die jahrzehntelange Ausbeutung der Arbeitskräfte, die überwiegend aus Zentral- und Südchile stammten und sich zumeist als Tagelöhner verdingen mußten. Die Abhängigkeit vom Werk und dessen Besitzer war vollkommen: Der Lohn wurde in fichas bezahlt, einer Art Lagergeld, das ausschließlich in dem ebenfalls werkseigenen Laden, der pulpería, ausgegeben werden konnte. Die Waren wurden dort üblicherweise zu überhöhten Preisen angeboten, unabhängige Händler ließ die Werksleitung regelmäßig vertreiben. Wer aufmüpfig wurde oder mehr Lohn verlangte, wurde kurzerhand entlassen und verlor damit automatisch seine werkseigene Unterkunft. Die Unternehmer in der Pampa bekämpften jeden Versuch der Arbeiter, sich zu organisieren, und zerschlugen anfangs auch alle entstehenden Gewerkschaften. Ging der starken Schwankungen unterworfene Salpeterabsatz im fernen Europa zurück, mußten viele Arbeiter wieder auf die Haciendas zurückkehren und dort für einen Hungerlohn weiterarbeiten. Die Schwerstarbeit in der trockensten Wüste der Welt, tagsüber unter der sengenden Sonne und nachts bei schneidender Kälte, wurde um ein Mehrfaches besser bezahlt als in der Landwirtschaft. Der durchschnittliche Tageslohn eines Salpeterarbeiters lag bei 6,13 Pesos, wenn er 300 Tage im Jahr arbeitete, brachte er 1838 Pesos zusammen, umgerechnet gerade einmal 82 Pfund Sterling.

Chilenische Salpeteraristokratie

Damit kam eine Familie der chilenischen Salpeterdynastie allerdings keine zwei Tage aus. Um es ihren Unternehmerkollegen aus England oder Deutschland gleichzutun, zogen viele der neuen Reichen dorthin, wo sie nach ihrer europaorientieren Auffassung standesgemäß leben konnten, nämlich nach Paris oder London. Auf 20000 Pfund werden die jährlichen Ausgaben einer einzelnen Familie geschätzt, allein im Jahr 1913 verpraßte die chilenische Salpeteraristokratie eine Million Pfund in den europäischen Metropolen. Der Grundstoff für Düngemittel und Sprengstoff warf in dieser Zeit ungeheure Profite ab. Der Große Norden Chiles, das sind die Provinzen Atacama und Tarapacá, war wirtschaftlicher und auch kultureller Mittelpunkt des Landes. Hier wurde das große Geld gemacht, nicht in Santiago oder auf den riesigen Haciendas im Süden. Den wohltemperierten Küstenort Iquique wählten die meisten britischen, chilenischen und später auch die deutschen Werksbesitzer zum Domizil. Sie lebten in ebenso großzügigen wie luftigen Palästen, die mit italienischem Marmor und kalifornischem Teakholz ausgestattet waren, gingen abends ins Theater, in dem sogar Caruso auftrat, oder tafelten im luxuriös ausgestatteten Spanischen Club.
Der Gegensatz zwischen der reichen Unternehmerkaste und den Lohnarbeitern konnte kaum eklatanter sein, und durch die enge Nachbarschaft in den Salpeterwerken war er für alle sicht- und spürbar. Um die Jahrhundertwende entstanden trotz massiver Attacken der Arbeitgeber erste größere Gewerkschaften in der Salpeterindustrie, die bessere Bezahlung und menschlichere Arbeitsbedingungen forderten. 1912 entstand in Iquique die Sozialistische Arbeiterpartei, die bereits 1920 der Dritten Internationale beitrat und aus der die mächtigste und größte kommunistische Partei in Lateinamerika hervorgehen sollte. Die Streiks häuften sich zu Beginn dieses Jahrhunderts. Der Staat konnte zwar in einigen Fällen vermittelnd eingreifen, meistens schlug er sich jedoch auf die Seite der Unternehmer. Soldaten wurden als Streikbrecher eingesetzt, Armee oder Polizei griffen in 40 Prozent aller Streiks ein. Dabei kam es immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen.
Der grausamste Militäreinsatz fand 1907 statt, als ein friedlich verlaufender Massenstreik in der nordchilenischen Hafenstadt blutig niedergeschlagen wurde. Es war kein gutes Jahr für die Salpeterindustrie. Die Ausfuhren gingen zurück. Die Konsequenz waren Massenentlassungen und Lohnkürzungen. In der Provinz Tarapacá traten daraufhin Salpeter-, Hafen und Transportarbeiter in den Ausstand, bald wurden alle oficinas der Region bestreikt. In Scharen zogen die Arbeiter, größtenteils mit der ganzen Familie, in die 40.000 Einwohner zählende Provinzhauptstadt. Ihre Forderungen erscheinen nach heutigem Verständnis recht gemäßigt: Lohnerhöhung oder Anpassung der Einkommen an das englische Pfund, Einlösung der fichas im Wert von 1:1 gegen Pesos, Kontrolle und Aufhebung des Monopols der firmeneigenen pulperías, Entschädigung bei fristloser Entlassung und Unfallschutzmaßnahmen. 10-15.000 Salitreros überschwemmten die Hafenstadt Iquique, in der sich die Gewinner des Salpeterbooms ihrem luxuriösen Leben hingaben. Mit ihren täglichen Demonstrationen legten sie den Verkehr und den Handel lahm, doch die überwiegend britischen Unternehmensleitungen waren zu keinerlei Zugeständnissen bereit. Auf ihr Drängen verhängte die Regierung drei Tage vor Weihnachten 1907 den Ausnahmezustand. Der Militärkommandant ließ die Schule Santa María, die den Streikenden als Unterkunft diente, noch am selben Tag umstellen. Als sie sich weigerten, das Gebäude zu verlassen, eröffnete er das Feuer auf die unbewaffnete Menge. Mindestens 500 Menschen, nach anderen Schätzungen mehrere Tausend, fanden bei dem Massaker den Tod.
Der Aspekt der kämpferischen Sozialbewegung liegt den Betreibern der Gedenkstätte Chacabuco besonders am Herzen. Doch damit steht das Goethe-Institut ziemlich alleine da. Sieben Jahre nach dem Ende der Pinochet-Diktatur rührt kaum jemand an den dunkelsten Kapiteln der jüngeren chilenischen Vergangenheit. Michael de la Fontaine hat seine Werbung für das Projekt der Stimmung angepaßt. “Ich verkaufe in den letzten drei Jahren auch unter den höchsten Autoritäten Chacabuco als Beispiel der jüngsten Industriegeschichte,” gibt er unumwunden zu. “Für mich steht aber fest, daß ein solches schillerndes historisches Denkmal in mehreren Funktionen zum Leben erweckt werden muß: Als Kultur- und Industriedenkmal, als soziale Gedenkstätte und nicht zuletzt als touristisches Zentrum. Darüber kann, salopp gesagt, das empfindlichste Kapitel der jüngeren chilenischen Vergangenheit mitverkauft werden.”

Halbherzige deutsche Beteiligung

Auf Widerstand stieß das Chacabuco-Projekt nicht nur in Chile. Auch von deutscher Seite gab es mehr Behinderungen als Unterstützung. Zwar betont Michael de la Fontaine die Rolle der deutschen Botschaft als Wortführerin in Sachen Restaurierung und verweist darauf, daß mit Restaurierungsgeldern im Umfang von 200.000 DM aus dem Kulturfonds des Auswärtigen Amts ein beachtlicher Batzen Geld in die chilenische Wüste gesetzt wird. Dabei verschweigt er allerdings die Schwiergkeiten, die es mit der diplomatischen Vertretung in Santiago gab. Das Engagement für das Chacabuco-Projekt war bestenfalls gering. Botschafter Werner Reichenbaum konterkariert geradezu die hinter dem Chacabuco-Projekt stehende Idee. In seinem Grußwort zu Beginn des eigens dazu vom Goethe-Institut herausgegebenen Buches “Chacabuco – Stimmen in der Wüste” hebt er die Bedeutung des Ortes als Industriedenkmal hervor, von dem Gefangenenlager spricht er mit keinem Wort. Offenbar fühlt sich die deutsche Diplomatie in Santiago immer noch einer unheilvollen Tradition verbunden. Im Unterschied zu anderen europäischen Botschaften vermied die deutsche immer kritische Töne gegenüber den uniformierten Machthabern um General Pinochet.
Die Parallelen der Vergangenheitsbewältigung drängen sich an Hand des Chacabuco-Projekts auf. Mehr als fünfzig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus in Deutschland steht eine ernsthafte Aufarbeitung der jüngeren Geschichte immer noch aus. In Chile hat keine Abrechnung mit dem Militärregime stattgefunden, jeder noch so zaghafte Versuch wird durch lautes Säbelrasseln der nie entmachteten Armee im Keim erstickt. Und die Bevölkerung will endlich ihre neue Freiheit genießen können, kollektiver Gedächtnisschwund macht sich breit. “Ein großer Teil der Gesellschaft will nur eins: vergessen!”, meint denn auch Projektinitiator Dieter Strauß. “Die Vergangenheit will nicht vergehen. Weder in Chile noch in Deutschland! Und schon gar nicht die Frage, wie wir mit der Vergangenheit umgehen sollen.”
In dieser Frage eine Hilfestellung zu geben und die Vergangenheit wach zu halten, dazu ist die Gedenkstätte Chacabuco wie geschaffen. Mahnend erhebt sich der dunkelbraune Schornstein in den strahlend blauen, wolkenlosen Himmel. Überdimensionalen Skeletten gleich ragen die Werkshallen und Wohnhäuser in die staubtrockene Luft. Seit kurzem beginnt sich dieses Fossil der Industrialisierung wieder mit Leben zu füllen. In einmaliger Lage, vor dem Panorama der schneebedeckten Andenkordillere, entsteht eine außergewöhnliche touristische Attraktion. In- und ausländische Besuchergruppen, Schulklassen und Einzelreisende sind hier zu einem kurzen Abstecher von der Panamericana eingeladen, um sich für einige Stunden in vergangene Zeiten versetzen lassen. Derzeit fehlt es allerdings noch an der notwendigsten touristischen Infrastruktur. Solange es keine Restaurants und Übernachtungsmöglichkeiten gibt, ist das ehrgeizige Projekt insgesamt gefährdet. Michael de la Fontaine vom Goethe-Institut bringt es auf den Punkt: “Wir können uns erst aus Chacabuco zurückziehen, wenn es ein McDonalds gibt!”

Blutige Zusammenstöße in Goldminen

Am 17. Dezember hatten, Bergarbeiter und Bauern die Miin Amayapampa und Capasirca in der PrBustillos, Departement Potosi, besetzt. Bergarbeiter und Bauern be-gründeten die Besetzung der Minen mit der Befü, der neue Eigentümer Vista Gold, eine kanadische Bergbaugesellschaft, werde für das geschürfte Gold -sind 11 kg monatlich geplant -die festgelegten Abgaben Departement Potosi zahlen. Dabei sind die Abgaben für Erze, ins-besondere für Gold, im Vergleich zu anderen Bodenschätzen wie Öl und Gas ohnehin schon sehr niedrig. Die Revidierung der viel zu geringen Abgabesätze könnte Gegenstand des neuen Bergbaugesetzes sein, das schon seit Monaten auf seine Verabschiedung durch den Senat wartet und nun im endlich diskutiert werden soll.
Die schweren Zusammenstösse , als zwei Tage nach Beginn der Besetzung Spezialeinheiten der Polizei, unter-stützt durch Truppen der Armee. besetzten Goldlagerstätten äum. Bei der Verder Besetzer sollen Polizei und Armee “aus nächster Nähe in die
Menge gefeuert haben, ohne auf Frauen, Kinder und AlRückzu nehmen”, so ein Augen-zeuge. Nachdem die Armee über Nacht Gebiet besetzt hatte, weiteten sich die Auseinandersetzungen am äcTag auf die nahegelegene Stadt Llallagua mit 20 000 aus. Von Seiten der Armee und Polizei wurden Gummigeschosse, großkalibrige Waffen, Maschinengewehre und Gasgranaten eingesetzt. Die mineros und carnpesinos wehrten sich mit Dynamitstangen und Gewehren, die zum Teil noch aus den Zeiten der Revolution (1952) und des Chaco-Krieges (1932-35) stammten. aber auch mit moderneren Schußwaffen. Während der vier Tage andauernden Unruhen waren etwa 2.000 Polizei-und Armeekräfte im , die Gein das verlegt worden waren. wenn sich die Regierung nicht veranlaßt , Ausnahmezustand über die Minzuerhängen, so die vollständige Militarisierung gesamten Gebietes von Norte dennoch zu einem faktischen Ausnahmezustand geführt: Versammlungen wurden verboten,
die Bewohner konnten ihre Dörund Siedlungen nicht verlassen, Journalisten wurde der Zu-tritt zu den Minengebieten untersagt-
Erst am Abend des 22. Dezember, nach vier Tagen immer wieder aufflammender Schiessereien, konnte der Konflikt bei-gelegt werden. Die traurige Bilanz: neun Tote unter den auf-ständischen Minenarbeitern und Bauern und mindestens 50 Verletzte auf beiden Seiten. Das zehnte Opfer war der Chef der Spezialgruppe für Sicherheit bei der Polizei. Womöglich sind den Schießereien aber noch mehr Menschen zum Opfer gefallen. Ein Rechtsanwalt des Gewerk-schaftsdachverbands COB will Beweise dafür haben, daß die Regierung den Tod von mindestens sechs Soldaten geheimhält
Besitzer und Besetzer
Die mineros und campesinos hatten die Goldminen besetzt, um “den Staatsbesitz und die nicht-erneuerbaren Ressourcen als nationales Eigentum zu verteidigen”, wie es der Generalsekretär des Gewerkschaftsverbandes der bolivianischen Bergarbeiter FSTMB, Jaime Solares, ausdrückte. Die kanadische Vista Gold hatte bereits mehrere Versuche unternommen, mit der Ausbeutung zu beginnen, war aber immer wieder auf den erbitterten Widerstand der Bergarbeiterkooperativen gestoßen (siehe auch Kasten).
Die Besetzer der Goldminen forderten die Zahlung von Abgaben für das geschürfte Gold an das Departement und soziale Leistungen durch den ausländischen Konzessionär. Der vorherige Eigentümer hatte -so klagen die Bergarbeiter -nicht die gesetzlich festgelegten Abgaben entrichtet. Außerdem forderten die Besetzer, daß der Ex-Eigentümer für die von ihm verursachten Umweltschäden zur Verantwortung gezogen wird.
Regierung unter
Rechtfertigungsdruck
“Die Armee ält diese Gegend sauber, und basta!” war der zynische Kommentar des Verteidigungsministers Kreidler zu den tragischen Vorfällen in Norte de Potosi. Die Regierung hatte -wegen ihres brutalen Vorgehens gegen die Minenbesetzer unter starken Druck geraten -schon bald die “wahren” Schuldigen des Konflikts ausgemacht: Die Gebrüder Mansilla (Mario alias “Comandante” oder “General” und sein Bruder Gerardo) seien die Nutznießer des illegalen Goldabbaus, der bisher in den Minen von Amayapampa und Capasirca stattfand, erklärte Informationsminister Mauricio Balcázar. Mit den Gewinnen aus der “heimlichen” Schürfung hätten sie Waffen und Munition gekauft und die Mineros zur Verteidigung der Minen angestiftet. Einige dieser Waffen, darunter ein Scharfschützen-Gewehr neuester Technologie samt Zielfernrohr, seien wahrend der ämpfe beschlagnahmt worden.
Doch damit nicht genug: Eine speziell für militärOperaausgebildete subversive
Gruppe soll maßgeblich an den Auseinandersetzungen um die Minen beteiligt gewesen sein. Als ein Indiz für diese Behauptung wurde die Art und Weise gewertet, wie der Kommandeur der Polizei-Spezialeinheiten zu Tode kam: Das gerichtsmedizinische Gutachten der Leiche er-gab, daß der Todesschuß zwischen die Augenbrauen des Opfers nur aus einem “militärisch organisierten Hinterhalt” und von Heckenschützen mit speziellen Präzisionswaffen abgegeben worden sein kann, erklärt der Staatssekretär für innere Ordnung und Polizei, Marco Tufino. Als ebenfalls “subversiv“ so Verteidigungsminister Kreidler -wurde die katholische Radiostation “Pio XII” in Siglo XX eingestuft, die die ersten Nachrichten über die heftigen Zusarnmenstöße hatte. Konkrete Beweise für al Behauptungen konnten Regiund Polizei- und ührung bisher nicht vorlegen. Präsident Sánchez de Lozada ließ sich in seiner Neujahrsansprache sogar zu der Andeutung hinreisen, die Minen seien durch Terrorgruppen besetzt worden.
Der Regierungsversion. wo-nach terroristische Gruppen den Konflikt in Amayapampa und Capasirca provoziert hätten, widersprach der Präsident der Menschenrechtskommission der Abgeordnetenkammer, Juan Del Granado der Koalitionspartei MBL (Bewegung Freies Bolivien), energisch. Unter seiner Leitung war kurz nach dem Ausbruch der Unruhen eine Parlamentskommission in die Minen- gebiete gefahren, um zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln. “Ich glaube, es hat keinen Sinn, über Aktivitäten mit terroristischem oder subversivem Charakter zu spekulieren”, er-klärte der Abgeordnete. Während der Zusammenstöße seien keinerlei Hinweise auf eine subversive Gruppe in den Reihen der mineros und campesinos zu beobachten gewesen. Daß die mi-neros in dieser Region über Schußwaffen verfügen, sei nicht weiter verwunderlich, nachdem es in der Vergangenheit mehrere Massaker in den Minen von Sig- 10 XX, Uncía und Llallagua ge-geben habe, sagte Del Granado. Er sprach von einem erneuten “Massaker” an den Mineros.
Die Ständige Versammlung für Menschenrechte in Bolivien gibt denn auch der Regierung die alleinige Schuld für die Toten und Verletzten des “Weihnachtsmassakers”, wie es inzwischen von Politikern der Opposition bezeichnet wird. Die Schuldigen für die traurigen Ereignisse dürften nicht unbestraft bleiben, fordert der Präsident der Organisation, Waldo Abarracin.
Das Friedensabkornmen
In der von der Regierung, COB und FMSTB unterzeichneten Vereinbarung zur friedlichen Lösung des Konflikts vernichteten sich die mineros zur Übergabe aller in ihrer Hand befindlichen Waffen und zum Verzicht auf jegliche gewalttätige Aktivität. Die Regierung, vertreten durch Innenminister Anaya und Verteidigungsminister Kreidler, verpflichtete sich ihrerseits. das Arbeitsministerium und das Staatliche Bergamt in die Verhandlungen zwischen Bergarbeitergewerkschaft und den Besitzern der Capasirca-Mine einzubeziehen sowie geltendes Recht durchzusetzen, wo-nach den Departements Abgaben für die abgebauten Bodenschätze zustehen. Die Armeeführung ordnete den allmählichen Abzug ihrer Truppen aus den kontrollierten Gebieten an. Die Mine in Capasirca blieb jedoch weiterhin unter Polizeiaufsicht.
Justiz und Parlament sollen, so sieht es der letzte Punkt des Friedensabkommens vor, Untersuchungen zur Aufklärung der Vorfälle einleiten. Die Regierung kündigte daraufhin die Bildung einer Untersuchungskommission an, bestehend aus Polizei und Sicherheitskräften. “Die Polizei kann doch nicht gegen sich selbst ermitteln”, kritisierte der Abgeordnete Jorge Medinacelli der Oppositionspartei MIR (Bewegung der Revolutionären Linken) diese Entscheidung und forderte, statt dessen eine unabhängige Kommission aus Vertretern mehrerer Parteien und Organisationen einzusetzen.
Genauere Erkenntnisse über die Vorfälle in den Goldminen sollte ein Bericht der Menschenrechtskommission der Abgeordnetenkammer geben. Dieser wurde am 10. Januar 97 dem Parlament vorgelegt und sollte in eine parlamentarische Anfrage an Innenminister Anaya, Verteidigungsminister Kreidler, Wirtschaftsminister Villalobos und Informationsminister Balcázar über die tragischen Vorfälle in Norte de Potosi münden. Zu dieser Anfrage im Parlament kam es jedoch noch nicht, da jedesmal zu wenige Parlamentarier anwesend waren. Diese parlamentarischen Bemühungen wurden al-lerdings überschattet von den Er-eignissen am Cerro Rico in der Stadt Potosi, wo seit dem 10. Januar etwa 5.000 Minenarbeiter den Berg besetzt halten und einige privatisierte Minengebiete von der Regierung zurückfordem.
Nach ein paar Tagen Verhandlungen sieht es so aus, als ob sich eine Lösung des Konfliktes anbahnt, und diesmal ist es Innenminister Sanchez Berzaín. der die Fäden zieht. Es wird jetzt nicht mehr von einem Konflikt zwischen Minenarbeitern und der Regierung gesprochen, sondern es handele sich um Interessenskämpfe zwischen den Minen-Kooperativen, gegründet von entlassenen Arbeitern der staatlichen Minengesellschaft COMIBOL, und den Eigentümern der Mine Pilaviri.
Aber der richtige “Schlag” der Regierung kam am 16. Januar, als der Innenminister eine “Konspiration” gegen Staat und Regierung verkündete. Dieses “gewerkschaftlich-politische Komplott”, wie er es nannte, werde von mehreren politischen Parteien der extremen Linken gesteuert und verfüge über “operative Einheiten”, die sich aus terroristischen Gruppen formierten, auch aus der peruanischen MRTA. Den Beweis dafür sollen Dokumente liefern, die der Staatsanwaltschaft von La Paz in einer Pressekonferenz am
21. Januar vorgelegt wurden. Darunter befindet sich eine Liste von 36 Personen, die unter anderem des bewaffneten Aufstandes beschuldigt werden. Die ersten Festnahmen von Gewerkschaftlern sind aus La Paz zu vernehmen.
Bolivien kommt unweigerlich in eine sehr gespannte und unruhige Phase, und das nicht nur wegen der bevorstehenden Wahlen im Juni 1997, sondern
auch weil nach 12 Jahren Demokratie weite Teile der Bevölkerung, und dazu gehören insbesondere die Minenarbeiter, immer mehr in die Armut gedräng wurden. Diese Gebiete brauchen den Bergbau, aber mit fairen Verträgen und Investitionen. Auch wenn sich die Minenarbeiter vom Staat alleingelassen fühlen, führen bewaffnete Aufstände für die mineros und ihre Familien sicher zu keiner befriedigen-den Lösung. Es gibt andererseits keinerlei Rechtfertigung für das übertrieben harte Vorgehen von Polizei und Militär, bei dem auch unschuldige Familienmitglieder erschossen wurden. Will die Regierung ihre Glaubwürdigkeit bewahren, muß sie auf eine rasche und vollständige Aufklä­rung der Vorfälle, vor allem von Seiten der Sicherheitskräfte, drängen.

aus: BOLIVIA-sago Informationsblatt Nr. 115

Wer zahlt?

“Die Welt wird kleiner, La­teinamerika rückt näher. Es ist auch unsere Sache, die dort ver­handelt wird”, hieß es im Vor­wort der ersten Ausgabe von “Lateinamerika – Analysen und Berichte”. Der Anspruch, den die HerausgeberInnen 1977 an ihre gerade aus der Taufe gehobene Jahrbuch-Reihe stellten, war es, die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Subkontinents darzustellen und kritisch zu dis­kutieren. Eine Entwicklung, die – so die AutorInnen – “in eine ein­deutige Richtung” ging: Hin zu einem Modell der Kapitalakku­mulation, das die Kombination von wirtschaftlichem Liberalis­mus mit extremer politischer Repression benötigte, um hohe Profite zu erzielen. Tatsächlich ergab der Blick auf Lateiname­rika in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre – nach Chile und Uruguay hatten sich nun auch in Argentinien die Militärs an die Macht geputscht – ein reichlich düsteres Bild. Hoffnungen auf revolutionäre Veränderungen hin zu einer gerechteren Gesell­schaft, sei es nach kubanischem oder chilenischem Vorbild, wur­den allmählich zu den Akten gelegt.
Zehn Jahre später stellten die unfreiwilligen “Chronisten von Niederlagen” zwar nicht ihre damaligen Einschätzungen in Frage, gingen aber dennoch mit sich ins Gericht: Skepsis sei an­gebracht gegenüber der in den ersten Bänden praktizierten Les­art der lateinamerikanischen Ak­tualität – basierend auf der Über­zeugung, anhand ökonomi­scher “Akkumulationsmodelle” ließen sich quasi automatisch Ten­denz­aussagen über die politi­sche Zu­kunft im “abhängigen Kapi­ta­lis­mus” treffen. Solcherlei “Ablei­tungen” hatten der kom­plexen Wirk­lichkeit der jeweili­gen Län­der nicht Rechnung ge­tragen und ließen umgekehrt auch nur man­gel­haft auf die Qualität der Ge­genkräfte zur herrschenden Ord­nung schlies­sen. Was die Beo­bachtung jener anbetraf, brauchte sich das Jahr­buch-Team freilich keine Vor­würfe gefallen zu las­sen. “Neue Organisations- und Kampffor­men” gegen wirtschaft­liche Mar­ginalisierung und poli­tische Un­terdrückung – Stadt­teil­bewegun­gen, Basisgemeinden, Indígena-Organisationen und lin­ke Par­teien jenseits leninistischer Kon­zeptionen – hatten von Be­ginn an das Augenmerk der Her­ausgebe­rInnen gefunden. Nur – vor­aus­sagbarer wurde die Zu­kunft La­teinamerikas damit auch nicht.

Verdrängung allerorten

Im zwanzigsten Jahr der “Analysen und Berichte” war es wieder einmal an der Zeit, sich anhand der Entwicklungen der vergangenen Jahre über die “Zukunftsfähigkeit” des Unter­suchungsobjektes Rechenschaft abzulegen. “Offene Rechnungen” heißt dementsprechend Band 20 der Reihe, denn – so die im Vor­wort geäußerte Ansicht – zu­kunftsfähig ist Lateinamerika nur, wenn nicht “Vergessen und Verdrängen” die Tagesordnung bestimmen. Vergessen und ver­drängt wird freilich überall, und in eigener Sache fehlt nicht der Hinweis auf die Gefahr, die “besseren Einsichten von ge­stern” – Solidarität mit den sozia­len Kämpfen und das Ziel einer befreiten Gesellschaft – der mo­dischen Anpassung an herr­schende Terminologie und The­mensetzung zu opfern.
Offensichtlich unbewältigte Schatten der Vergangenheit sprechen die ersten beiden Bei­träge an. Daß die Ökonomie in Chile “zur Staatsreligion erho­ben” worden ist, und die Regie­renden eine konsequente Aufar­beitung der unter der Diktatur begangenen Menschenrechts­verletzungen scheuen, schildert David Becker und liefert zudem eine überzeugende Analyse der psychischen Mechanismen bei den Opfern, aber auch der Be­völkerungsmehrheit. Die “inter­nalisierte Angst”, so Becker, ist das zentrale Element der neuen chilenischen Demokratie: Nach­dem die auf dem zuerst nur zäh­ne­knirschend akzeptierten Kon­sens­prinzip basierende tran­si­ción zumindest teilweise ge­lun­gen war, blieb die traumati­sche Er­innerung an Putsch und Repression der Garant für die “politisch wirksame Gleichung Konflikt = Zerstörung = Neuauf­la­ge der Diktatur”.
Unter diesem Vor­zeichen werden Mutlosigkeit und feh­len­der Wille der regie­renden Con­certación und ihrer christ­de­mo­kra­tischen Präsiden­ten ver­ständ­li­cher, wenn auch nicht le­gi­ti­mer. Tragischerweise deckt sich hier der Wunsch vieler Politiker nach schnellem Vergessen und weit­gehend fol­genlosen Sym­bol­hand­lungen mit dem Bedürfnis der nicht direkt von der dik­ta­to­riellen Repression betroffenen Chi­lenInnen, Kon­flik­ten aus dem Weg zu gehen. Folteropfer und An­gehörige von Ver­schwun­de­nen sehen sich in einem Umfeld man­gelnden Erin­nerungswillens neu­erlich diskri­miniert. Das, meint Becker, muß allerdings nicht so bleiben: Trotz aller Ver­su­che seitens Präsident Frei und sei­nem Technokraten­team, miß­lie­bige Erinnerungen an Ver­gangenes auszuklammern, mel­det sich dieses immer wieder zu Wort – und sei es durch das Sä­bel­rasseln der Militärs. “Das un­ver­mittelt Konflikthafte kann nicht mehr unter den Teppich ge­kehrt werden, es sucht sich sei­nen Weg an die Öffentlich­keit. Und das ist ein wesentlicher Be­stand­teil einer echten Demo­kra­ti­sierung.”

Linke Altlasten

Gedächtnislücken einer ganz an­deren Art beschreibt Ricarda Knabe in ihrem Bericht über die Studie, die eine salvadorianische Frauenorganisation unlängst der FMLN und der aus ihr hervorge­gangenen Partido Democrático vorgelegt hat. Das Thema ist bri­sant, geht es doch um die Rolle der Frauen im Guerillakampf, ge­nauer: um ihre Sexualität. Vie­le der guerrilleras – ent­stammten sie nun dem haupt­städtisch-intel­lek­tuellen Milieu oder den Dör­fern im Kriegsge­biet – litten nicht nur an der Brutalität der Kämpfe sondern ebenso an der se­xuellen Diskri­minierung durch ih­re eigenen com­pañeros und die Be­vormun­dung durch die FMLN-Hierar­chie. Diese, so die Au­torinnen der Studie, hatte in den ersten Kriegsjahren noch ei­ne rigide Kontrolle über das Pri­vat­leben der GenossInnen aus­ge­übt und qua selbst durch­ge­führ­ten Ehe­schließungen (revolutio­nä­re) Mo­ral praktiziert. Später, als Kampfbereitschaft Priorität vor ideologischer Festigkeit ge­wann und diese Einflußnahme nach­ließ, kamen etliche der in den Camps lebenden Frauen vom Re­gen in die Traufe. “Den Kör­per mit den Genossen solidarisch tei­len”, war ein häufig miß­brauch­tes Schlagwort. Den gue­rrilleras, die aus eigener Ent­scheidung ein promiskuitives Ver­halten praktizierten, schlug freilich nicht selten die geballte männliche Verachtung entgegen. Daß diese Problematik inzwi­schen offen thematisiert und dis­kutiert wird, hält Knabe freilich für eine hoffnungsvoll stim­men­de Errungenschaft.

Die “Multis”: unheilvolle Wohltäter

Der Frage “Was von den Multis noch zu erwarten ist” geht Urs Müller-Plantenberg in sei­nem Artikel nach. Dabei konsta­tiert er die bemerkenswerte Wandlung, die die Beurteilung trans­nationaler Unternehmen in Lateinamerika selbst in der Sichtweise einstiger Kritiker durchgemacht hat: Wurden die “Multis” zu Zeiten der “Import­substituierenden Indu­striali­sie­rung” mit Argwohn be­trachtet und nach Möglichkeit rigiden Kon­trollen unterworfen, hat spätestens seit den achtziger Jah­ren ein Wettlauf um die Gunst der ausländischen Wohl­täter ein­gesetzt.
Aufschlußreich ist Müller-Plan­tenbergs histori­sche Ana­ly­se, mit der er zu zei­gen ver­sucht, wie gering schon immer der tat­sächliche Beitrag transnationaler Un­ter­nehmen zum ersehnten Ka­pitalzufluß ge­wesen ist. Das ge­genwärtige, ge­rade von stei­genden Portfo­lio­investitionen ge­prägte Szena­rio ist noch be­denklicher: In dem Maße, in dem das global allge­genwärtige Kapi­tal dank moder­ner Technologie im­mer mobiler, ja “scheuer und flüch­tiger” ge­worden ist, über­wiegt das Risiko des unkon­trol­lierbaren Zusam­men­bruchs, ei­nes Kollaps, wie er Mexiko 1994 er­eilte.
Auch die Hoffnung auf Be­schäf­tigungsef­fekte und Tech­no­lo­gietransfer, die Direkt­in­ve­sti­tionen entge­gengebracht wird, hält einer ein­gehenderen Be­trach­tung nicht stand. Dennoch ist die Gier nach frischem Ka­pi­tal nicht einfach ein “frommer Selbst­betrug” wirt­schafts­li­be­ra­ler Regierung, fol­gert Müller-Plan­ten­berg. “Viel­mehr ent­sprechen massive Di­rekt­in­ve­sti­tio­nen auch den hand­festen In­te­res­sen derer, denen es darauf an­kommt, ein Wachs­tumsmodell zu fördern, das schnelle Be­rei­che­rung er­laubt und unter der Dro­hung von möglichen Ka­pi­tal­ab­flüssen im­mer weiter geführt werden muß.”
Handfeste Interessen weltweit agierender Konzerne stehen auch im Mittelpunkt der Debatte um “Biodiversität”, die Elmar Römpczyk nachzeichnet. Vor al­lem Pharmaunternehmen aus den USA versuchen, sich die Ver­fügungsgewalt über den ge­ne­tischen Reichtum des tropi­schen Lateinamerika zu sichern – sei es mittels Druck auf interna­tionale Gre­mien wie die Welt­han­delsorganisation WTO oder Lob­bying bei lateinamerikani­schen Regierungen. Sollte es diesen “Multis” gelingen, so Römpczyk, über die Schaffung eines ver­bind­lichen Patent­schutz­systems die Resultate ihrer Forschung zu mo­nopolisieren und dem­ent­spre­chend exklusiv zu verwerten, kä­me den Ländern des Südens einer ihrer größten Reichtümer – die Verfügung über ihre Artenvielfalt – abhanden. “Neben­effekt” der transnationa­len Offensive ist der skrupellose Eingriff in den Lebensraum der in­digenen Völker, die den Kapi­tal­interessen nur insofern von Nut­zen sind, als sie durch ihr tra­diertes Wissen eine Informa­tions­quelle über die Anwendung des “genetischen Materials” ab­ge­ben können.
Perspektiven für ei­ne gerech­tere Nutzung der Bio­diversität sieht Römpczyk in er­sten Ini­tia­ti­ven indigener Grup­pen, die sich ein Mitspra­cherecht erkämpft ha­ben, aber auch in einer Wei­ter­ent­wicklung der 1992 in Río ge­schaf­fenen Bio­di­ver­sitäts­kon­ven­tion.

Die Kosten der (De)industrialisierung

Anhand der brasilianischen Aluminiumproduktion versucht Dieter Gawora, “offene Rech­nungen” im Amazonasgebiet auf­zuzeigen. In diesem Falle handelt es sich zwar weniger um den direkten Einfluß der allge­genwärtigen Transnationalen, wohl aber um die ökologische Zerstörung und ethnische Ver­drängung, die Großprojekte wie die extrem energieintensive Alu­miniumgewinnung und -ver­ar­beitung zu verantworten haben.
Detailliert schildert Gawora die Situation am Rio Trombetas, ei­ner Region mit reichen Bauxit­vorkommen, in der seit Ende der sechziger Jahre entstandene För­derstätten und Retortenstädte die Nachkommen der vor zwei Jahr­hunderten in dieses Gebiet ge­flohenen afrikanischen Sklaven, der quilombos, verdrängen. Im Zusammenhang mit einem Stau­dammkomplex, der den Energie­bedarf der Produktion sichert, treiben die Aluminiumkonzerne die Umweltzerstörung voran; kri­tische GewerkschafterInnen wer­den mit zum Teil kriminellen Me­thoden mundtot gemacht. Gaworas Fazit: “Großprojekte sind immer geprägt von einer Ignoranz gegenüber ‘den ande­ren’. Sie sind unvereinbar mit ethnischen Differenzen und tra­ditioneller Wirtschaftsweise”.
Mit Akribie und einer Fülle an Datenmaterial schildert Paul Singer eine andere Facette brasi­lianischer Realität: die fort­schreitende Deindustrialisierung, ja “ökonomische Aushöhlung” des Großraums Sâo Paulo, wo sich vor den Inflationskrisen der achtziger Jahre und der in den Neunzigern forcierten Welt­mark­töffnung mehr als ein Drit­tel der industriellen Arbeitsplätze Brasiliens konzentrierte. Sym­ptomatisch für die Folgen der Strukturanpassung ist auch die stetige Zunahme prekärer, da informeller Arbeitsverhältnisse und ein Anwachsen der ohnehin starken Einkommenskonzentra­tion.
Eine Option, sinnvoll auf die kurz­fristig kaum umkehrba­ren Rah­menbedingungen von Markt­öff­nung und Strukturkrise zu re­agieren, erkennt Singer in de­zen­tralen Kompensationspoli­tiken. Dar­über hinaus denkt er über die Mög­lichkeit nach, “ausgehend von Initiativen der Stadt­re­gie­run­gen gemeinsam mit Kräften der Zi­vilgesellschaft einen neuen Wachs­tumszyklus zu eröffnen”, in­dem das enorme brachliegende Ar­beitspotential der Ar­beitslosen, Informellen und Un­ter­beschäftigten in “an­gepaßten For­men der Organi­sierung der Pro­duzenten” akti­viert wird. “Al­le Organisations­formen sind mög­lich, von iso­lierten oder zusammengeschlos­senen Privat­un­ternehmen bis zu kollektiven Un­ternehmen wie Ko­operativen, Pro­duktionsge­mein­schaften oder was sonst noch ausgedacht und aus­probiert werden könnte”.

Revolutionäre Werte in Erosion

Inwiefern die kubanische Re­volution alte Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten nicht restlos hat beseitigen, sondern nur ver­drängen können, beschreibt ab­schließend Bert Hoffmann. Lan­ge nicht für möglich gehaltene “Come­backs” – von der Wieder­kehr des Weihnachtsfestes über die öffentliche Akzeptanz der santería bis hin zum Aufleben des latenten Rassismus – haben die Versuche von Partei und Re­gierung den KubanerInnen be­schert, Wege aus der wirtschaft­lichen Misere zu finden. Daß mit der faktischen Legalisierung des Dollarbesitzes, der beginnenden Liberalisierung der Arbeitsver­hältnisse und den Privilegien des devisenträchtigen Tourismusge­schäftes neu-alte soziale Un­gleichheit entstanden ist, er­scheint noch weniger erschrek­kend als die Renaissance einer rassistischen Mentalität, die von einem ebenso neuen wie alten sozialen Gefälle zwischen den Ethnien genährt wird. Das ideo­logisch verordnete Gleichheits­postulat erweist sich hier als we­nig tragfähig, galten doch auf Kuba zaghafte Ansätze ethni­scher Selbstartikulation etwa als “schwarzer Rassismus”. Für Hoffmann stellt gerade die von der kubanischen Führung betrie­bene Ineinssetzung von Revolu­tion und sozialistischem Staat in diesen Krisenzeiten eine Gefahr dar, denn “wenn diese Verknüp­fung nicht aufgebrochen werden kann, droht der Legitimitätsver­lust des politischen Systems auch die der Revolution zugrun­deliegenden Werte insgesamt in Frage zu stellen”.
Trotz der zum Teil ausgespro­chen lesenswerten Artikel krankt die Konzeption des Jubiläums­bandes an der zu weit formu­lierten und locker gehandhabten Themenvorgabe. Vorausgegan­ge­ne Ausgaben konnten deutlich stringenter der bewährten Schwer­punktsetzung folgen. Si­cher: “Offene Rechnungen” wer­den präsentiert. Bloß läßt sich diese Interpretationshilfe mit ein wenig Geschick auf nahezu alle sozialen, politischen und öko­no­mischen Problematiken an­wenden.
Daß die Herangehensweise der AutorInnen an ihr Thema stark variiert, hat weniger Aus­wirkungen auf den Gehalt ihrer Darstellungen als auf die Les­barkeit. Während die Herausge­berInnen Singers Beitrag im Vorwort zu Recht als “sperrig” bezeichnen, fällt Hoffmanns feuilletonistischer Stil wohltuend auf.
Lesenswert sind wie immer die Länderberichte, die im zweiten Teil die Ereignisse des vergangenen Jahres in Brasilien, El Salvador, Guatemala, Haiti, Kolumbien, Kuba, Mexiko und Ve­nezuela nachzeichnen. Be­dau­erlich ist allerdings die im vor­liegenden Band reduzierte An­zahl von Ländern: Während durch den Kuba-Artikel eine ge­wis­se Dopplung entsteht, wäre der Blick auf ein anderes der hier fehlenden Länder – Argenti­nien, Bolivien, Peru oder Ecuador – wünschenswert gewesen.

Nichts Neues in Sicht?

Die Zeiten großer gesell­schaftlicher Gegenentwürfe sind vorbei. Zwar ist dem Herausge­berInnenteam zuzustimmen, daß sich “zentrale Fragen internatio­nalisierter Ausbeutung und des Spielraums von Emanzipations­be­wegungen gerade in Latein­amerika in exemplarischer Weise stellen”. Die Texte dieses Jahr­buches sind durchaus in der Lage, dies zu zeigen. Mit Vor­schlägen für gangbare linke Al­ternativen – etwa wie der Glo­balmacht der “Multis” zu begeg­nen sei – halten sich allerdings die meisten AutorInnen vorsich­tig zurück oder bleiben vage. Das Vorwort vermerkt dies mit Selbstkritik und verweist nur auf Singers locker konzipierten Ent­wurf einer Basisökonomie jen­seits von Staatsunternehmen und Finanzkapital, da dieser “eine Diskussion über vorhandene und nicht vorhandene Alternativen der Linken zum Neoliberalismus eröffnen könnte”.
Eine revidierende Feststellung mußten die HerausgeberInnen – zwanzig Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes – allerdings treffen: Lateinamerika steht nach den weltweiten Veränderungen der letzten Jahre zweifelsohne nicht mehr im Mittelpunkt der Auf­merksamkeit. Daß dennoch auch im deutschen Sprachraum aktuelle und kritische Forschung weiterhin ein Sprachrohr hat, ist nicht zuletzt auch ein Verdienst der “Lateinamerika”-Reihe.

Lateinamerika – Analysen und Be­richte 20: Offene Rechnungen, hg. von Karin Gabbert u.a., Horlemann 1996.

Bewegen sie sich doch?

Die Gespräche waren durch Vermittlung der Kirche und of­fensichtlich auch des Oppositi­onspolitikers Carlos Palenque zustandegekommen. Ein Besuch Palenques in der Präsidentenvilla am Abend des 23. April, der zu­nächst Spekulationen über ein politisches Techtelmechtel aus­gelöst hatte, scheint dazu gedient zu haben, die Herstellung von Kontakten zu abgetauchten Ge­werkschaftsführerInnen in die Wege zu leiten. Fünf Tage später versammelten sich die Gewerk­schafterInnen zu einem gehei­men Spitzentreffen, auf dem von ihrer Seite aus der Weg zu der Übereinkunft freigemacht wurde.
Wochenlange Streiks, insbe­sondere der LehrerInnengewerk­schaft, und tägliche Demonstra­tionen, die den Verkehr im Zen­trum von La Paz lahmlegten, wa­ren der Verhängung des Aus­nah­mezustandes vorausgegangen. Am Dienstag, dem 18. April, schien sich der Konflikt zwi­schen Regierung und Ge­werkschaften endlich einer Lö­sung zu nähern, ein vorläufiges gemeinsames Dokument lag vor. Wenige Stunden später klebte das Land vor Fernsehern und Radios. Die Führung des Ge­werkschaftsdachverbandes COB hat­te das Papier abgelehnt, und Präsident Sánchez de Lozada da­raufhin den Ausnahmezustand verhängt.
Aber die BewohnerIn­nen von La Paz nehmen die Re­gelungen des Ausnahmezustan­des nur be­dingt ernst. Allein für das erste Wochenende gingen 2.800 An­träge auf Genehmigung von pri­vaten Festen ein. Die Be­hörden lehnten nur wenige ab. In La Paz ist die Atmosphäre ent­spannt, und Präsident Sánchez de Lozada kann mit viel Zustim­mung dafür rechnen, endlich mit den permanenten Demonstratio­nen und Blockaden aufgeräumt zu haben. Die Einschränkungen des Nachtlebens sind eine unbe­queme Begleiterscheinung, nicht mehr, und viele Vorschriften wurden schon nach wenigen Ta­gen wieder aufgehoben. In Santa Cruz de la Sierra, der zweit­größten Stadt des Landes, gilt nicht einmal mehr das Nacht­fahrverbot, der Ausnahmezu­stand wurde “flexibilisiert”, so die offizielle Sprachregelung.
In Puerto Rico im extremen Norden Boliviens, in Colcha K in der eisigen Kälte des südli­chen Atliplano, und in anderen entlegenen Militärbasen sind die rund 300 GewerkschftsführerIn­nen interniert, die laut der jüng­sten Vereinbarung Anfang Mai freigelassen werden sollen. In La Paz saß Kokabauern-Chef Evo Morales mit mehreren Funktio­nären der Co­calero-Gewerk­schaft eine Woche in Untersu­chungshaft, wesentlich länger als die 48 Stunden, die von der Ver­fassung erlaubt wer­den. Inzwi­schen ist auch er in die Provinz verbannt worden. Jour­nalist­Innen berichten einiges über po­lizeiliche Übergriffe auf sie.
Zweifellos hat es die Regie­rung bei der Durchsetzung des Ausnahmezustandes nicht be­son­ders genau genommen mit der Verfassung, auf die sie sich be­ruft. Schon der Einsatz am Abend des 18. April, bei dem die gesamte Führung der COB ver­haftet wurde, war offensichtlich illegal, der Ausnahmezustand war noch gar nicht ausgerufen. Die Kritik von den großen Op­positionsparteien, von Intellektu­ellen und JournalistInnen richtet sich vor allem gegen diesen Rückfall in Methoden des Um­gangs mit Opposition, die mit dem von der Regierung propa­gierten “neuen Bolivien” nichts zu tun haben. Aber von massiver Begeisterung für die Gewerk­schaftspositionen ist nichts zu spüren. Eher herrscht tiefe Ent­täuschung darüber vor, daß alle Beteiligten offenbar nicht dazu fähig waren, zu konstruktiven Verhandlungen zu finden und damit die Grenzen der boliviani­schen Demokratie aufgezeigt ha­ben.
Die “drei verdammten
Gesetze”
Die Regierung war in den Wochen zuvor gleich an mehre­ren Konfliktfronten in Atem ge­halten worden. Am aktivsten wa­ren in der Hauptstadt die LehrIn­nengewerkschaft und in ihrem Schlepptau die COB. Sie alle ha­ben den “drei verdammten Ge­setzen” den Kampf angesagt, den drei großen Reformvorhaben der Regierung Sánchez de Lozada. Dabei handelt es sich um die “Kapitalisierung”, die boliviani­sche Version der Privatisierung von Staatsbetrieben, um die ley de participación popular, das Ge­setz, mit dem Dezentralisie­rung und demokratische Teil­habe von unten möglich gemacht werden sollen, und schließlich um die Reform des Bildungswe­sens.
Für die LehrerInnengewerk­schaft bildet, wie nicht anders zu erwarten, die Bildungsrefrom die Zielscheibe. Die Reform, so die Kritik der trotzkistischen Ge­werkschaftsführung, werde zu Massenentlassungen von Lehrer­Innen und zur Abschaffung der Kostenfreiheit und damit zu ei­ner “Elitisierung” der Bildung führen. Auch seien in dem Ge­setz keine klaren Konzepte wie Antiimperialismus und Antifeu­dalismus enthalten, und es stelle ein Angriff auf das Gewerk­schaftswesen überhaupt dar. Die participación popular sorge dar­überhinaus mit der Gründung von lokalen “Schulkomitees” mit Beteiligung der Eltern dafür, die Autorität der LehrerInnen in ih­rer Schule zu untergraben.
Tatsächlich garantiert das Ge­setz zur Bildungsreform die ko­stenlose Bildung auf Grund­schulniveau, nicht aber aus­drücklich für weiterführende Schulen. Als Bildungsziele ste­hen statt Antiimperialismus und Antifeudalismus so verwerfliche Begriffe wie “demokratisch, na­tional, interkulturell und zwei­sprachig” im Gesetz. Gerade der interkulturelle Ansatz des Geset­zes, eines der Hauptanlie­gen des Aymara und Vizepräsi­denten Víctor Hugo Cárdenas, gehört zu den Punkten, die in Bolivien auf breite Zustimmung stoßen. Die Notwendigkeit einer Reform des Bildungswesens ist in der Öf­fentlichkeit unumstrit­ten. Zu of­fensichtlich ist die ka­tastrophale Qualität der staatli­chen Schulbil­dung, der Haupt­grund dafür, daß fast nur Kinder aus Familien, die private Schulen bezahlen kön­nen, später für hö­here Positionen in Frage kom­men. Zwar haben viele volles Verständnis für die Forderung der LehrerInnen nach höheren Löhnen, aber der radi­kale ideo­logische Diskurs der Gewerk­schaftsspitze findet kein Echo. “Was bringen diese Lehrer bloß den Kindern bei”, so ein oft ge­hörter Satz.
Ein Kampf um Macht
Präsident Sánchez de Lozada hat nicht ganz unrecht, wenn er behauptet, daß es in diesem Kon­flikt vor allem um die Macht der Gewerkschaften geht. Die Bil­dungsreform sieht vor, daß auch UniversitätsabsolventInnen an­derer Fächer nach einer entsprechen­den Prüfung unter­richten dürfen. Ebenso sollen Beförderungen und Besetzungen von Führungs­posten nach fachli­chen Kriterien und nicht nach Dienstalter und bisherigem Rang besetzt werden. Die LehrerInnen sollen auch nach Beginn ihrer Berufslauf­bahn immer wieder Qualitäts­nachweise erbringen. Zu diesen Regelungen, die die Macht der Gewerkschaft erheb­lich ein­schränken, kommt ein weiteres pikantes Detail: Lehre­rInnen sollen nicht mehr auto­matisch Gewerkschaftsmitglied sein, und die Gewerkschaft soll in Zukunft selbst ihre Mitglieds­beiträge ein­ziehen. Bisher behielt der Staat die Beiträge von den Löhnen ein, nach Angabe der Tageszeitung La Razón rund 700.000 US-Dollar im Jahr.
Sowohl für die LehrerIn­nengewerkschaft als auch für die ganze COB geht es um die Ver­teidigung von Besitzständen, die zum Teil real gar nicht mehr vorhanden sind. Noch vor zehn Jahren war die COB mehr als ein Gewerkschaftsdachverband, sie war die Gegenmacht zum Staat. Sie, und vor allem die Gewerk­schaft der Minenarbeiter, war ih­rem Selbstverständnis nach die Avantgarde des Volkes gegen die repressive Staatsmacht. Tatsächlich waren es vor allem die Gewerkschaften, die Wider­stand gegen die Diktaturen lei­steten. Aber auch unter demo­kratisch gewählten Regierungen rückte die COB nicht von diesem Anspruch ab. Hernán Siles Zuazo, der von 1982 bis 1985 er­ste demokratisch gewählte Präsi­dent nach der García-Meza-Diktatur, kann ein Lied davon singen, weil die COB für die völlige Lähmung seiner Regie­rung sorgte. Die Schließung der meisten staatlichen Minen ab 1985 raubte der COB den best­organisierten Teil ihrer Basis und damit die Grundlage ihrer Macht. Heute vertritt sie nur ei­nen Teil der bolivianischen Ge­sellschaft, ihre Mitglieder eben, aber nicht wenige Funktio­näre nehmen rhetorisch weiter­hin “das bolivianische Volk” für ihre Positionen in Anpruch. Die Ge­werkschaftsführungen kämp­fen “im Namen des Volkes” ge­gen Reformen, über deren Vor- und Nachteile zwar heftig disku­tiert wird, die aber doch prinzi­piell weitgehend akzeptiert wer­den, und sie tut das mit einem radi­kalen Diskurs, der sogar für die eigene Basis nicht mehr glaub­würdig ist. “Die Lehrergewerk­schaft hat doch keine Basis, es sind die Füh­rungsgrüppchen, die die radikale Linie einschlagen”, so eine Leh­rerin in La Paz. “Ich habe ver­sucht, über andere For­men zur Vertretung unserer For­derungen zu reden, aber du hast keine Chance. Die Führung gibt die Parolen vor, und die Dum­men plappern sie nach.”
Für die Kokabauern ist es nichts Neues, im Chapare, der Hauptkokaanbauprovinz im De­partement Cochabamba, mit Po­lizei und Militär zu tun zu haben. Für sie geht es weniger um die großen Reformen der Regierung als konkret um ihre Kokafelder. Die Regierung Sánchez de Lo­zada hat in den knapp zwei Jah­ren ihrer Amtszeit einen Schlin­gerkurs verfolgt. Immer wieder gab es Verhandlungen über die Reduzierung der Ko­ka­an­bau­fläche, dann wieder Mi­li­täreinsätze im Chapare. Eine ko­härente Kokapolitik ist nicht in Sicht.
Kokapolitik in Bolivien wird wesentlich von der US-Botschaft mitgestaltet. Das Credo der US-Position: Kokasträucher müssen vernichtet werden, damit der Kokainproduktion der Rohstoff fehlt. Seit kurzem ist der US-Druck auf Bolivien erheblich an­gestiegen. Unzufrieden mit den schleppenden “Fortschritten” stell­ten die USA ein Ultimatum: Bis Ende Juni müssen 1.700 Hektar Ko­ka­felder ausgerissen sein, sonst wird die US-Hilfe für die Zahlungsbilanz eingestellt – für die Stabilitätspo­litik der boli­vianischen Regie­rung ein Hor­rorszenario. Aber die Kokafelder sind nicht ohne weiteres zu ver­nichten. Die co­caleros verfügen im Mo­ment über die wohl schlagkräf­tigste Gewerkschaft und wehren sich gegen jede Ein­schränkung ihrer Produktion.
Zunächst sollte ein schon öf­ter angewandtes Mittel helfen: Kokabauern wurden 2.500 US-Dollar pro Hektar ausgerissener Kokapflanzungen angeboten. Me­dienwirksam reiste Innenmi­nister Sánchez Berzaín in den letzten Wochen mehrmals mit einem Koffer voller Dollars in den Chapare und ließ sich bei der Übergabe fotografieren. Auch jetzt beteuert die Regierung, daß Bauern nicht zur Aufgabe ihrer Pflanzungen gezwungen würden, und daß das Angebot der 2.500 Dollar weiter bestünde. Ob die Sondereinheiten des Militärs im Chapare der “Freiwilligkeit” bei Bedarf nachhelfen, sei dahinge­stellt. Aber es ist durchaus wahr­scheinlich, daß sich genügend Kokabauern finden, die zu die­sem Schritt bereit sind. Zwar verlieren sie eine lukrative Ein­nahmequelle, aber für viele Campesinos ist die permanente Unsicherheit des Kokaanbaus in­zwischen so zur Belastung ge­worden, daß sie an den Umstieg auf andere Produkte denken. Außerdem bleibt der Weg, eine Kokapflanzung auszureißen und weiter im Wald wieder eines an­zulegen, eine in den vergangenen Jahren übliche Praxis.
Der Ausnahmezustand ver­hilft der Regierung zum nötigen Freiraum zur Durchsetzung die­ses Programmes. Die Gewerk­schaft der cocaleros hatte mit dem Ultimatum der USA ein Druckmittel von unschätzbarem Wert in der Hand. Jede Verzöge­rung des Vernichtungsprogram­mes von Kokafeldern mußte die Regierung in schwere Probleme stürzen. Kenner der Situation im Chapare weisen darauf hin, daß auch die Gewerkschaft gegen­über den Bauern starken Druck ausübt. Auch ihr gegenüber scheint die Entscheidungsfreiheit der Campesinos sehr relativ zu sein. Es ist wohl kein Zufall, daß die Regierung den Ausnahmezu­stand gerade zu diesem Zeit­punkt verhängte und damit die Gewerkschaft lahmlegte. Die Verfassung erlaubt den Ausnah­mezustand für maximal 90 Tage im Jahr, also bis Mitte Juli, kurz nach Ablauf des Ultimatums.

Auch die Regierung weiß, daß ihr der Ausnahmezustand nur eine Atempause verschafft hat, die Probleme aber dadurch nicht gelöst sind. Zwar bleiben die or­ganisierten Proteste im Land bislang punktuell. Aber früher oder später muß sie zu einer Ei­nigung mit Gewerkschaften und Kokabauern kommen, wenn sie ihren Anspruch der Demokrati­sierung Boliviens nicht völlig ad absurdum führen will. Präsident Sánchez de Lozada genießt nicht zuletzt deswegen immer noch relativ großes Vertrauen in der Öffentlichkeit, weil man ihm das ernsthafte Interesse an Demo­kratisierung glaubt, auch wenn seine großen Reformvorhaben mit einer Vielzahl von Proble­men belastet sind.
“Dialog” war nach der Ver­hängung des Ausnahmezustan­des eines der meistbenutzten Worte – von VertreterInnen der Oppositionsparteien über Kir­cheleute bis hin zu einigen Poli­tikerInnen der Regierungspar­teien. Zweifellos will auch der größte Teil der Bevölkerung, enttäuscht vom Rückfall der Re­gierung in undemokratische Methoden, und ebenso von der Verbohrtheit wichtiger Teile der Gewerkschaftsführung, nichts anderes.
Die erste Vorausssetzung für einen Dialog, die Freilassung aller Verhafteten, sagte die Re­gierung am 29. April zu. Über eine mögliche Übereinkunft zwi­schen der Regierung und der Gewerkschaft der Kokabauern war allerdings zu diesem Zeit­punkt noch nichts bekannt.
Auch der Ausnahmezustand soll einstweilen noch weiter gel­ten. Regierungssprecher Er­nesto Machicao sprach allerdings da­von, die Maßnahme könne auf­gehoben werden, sobald Ga­rantien für den sozialen Frieden vorlägen. Dafür wäre allerdings notwendig, daß Regierung und Gewerkschafter nicht beim er­sten Schritt stehenbleiben, son­dern die politische Kultur des “Alles oder Nichts”, des “gegenseitigen Niederkämpfens und Vernichtens”, wie es der Politologe Carlos Toranzo nennt, durch Kompromißfähigkeit er­setzen.

Deutsches Exil in Lateinamerika

Lateinamerika stand bei der Aufnahme von Flüchtlin­gen aus Deutschland an führender Stelle. Etwa 20 Prozent aller Emi­grantInnen fanden dort zumin­dest für eine gewisse Zeit Zu­flucht vor der Verfolgung durch das NS-Regime. Für viele war Latein­amerika anfangs jedoch nur ein Exil zweiter Wahl, was sich deutlich an der Chrono­logie der Emigration in die mittel- und südamerikani­schen Staaten zeigt. In den Jahren 1933-1937 sind wohl höchstens ein Viertel aller Lateinamerika-Flüchtlinge aus Deutsch­land eingewandert. Vor al-lem die auch früher als Ein­wan­derungsländer bevorzugten Staa­ten des “Süd­gürtels”, also Argen­tinien, Chile, Uruguay und das südliche Bra­silien, waren bis etwa 1937 eine Art Ge­heimtip für Emi­grantInnen, während in die übri­gen Län­der nur verein­zelte Personen­kreise sickerten. Auch die meisten in diesem Zeit­raum von einigen Staaten unter­nommenen Aktionen zur Auf­nahme von EmigrantInnengrup­pen betrafen in der Regel nur kleine Zahlen, die nur in Einzel­fällen die 100 überschrit­ten, – so die An­siedlung saarländi­scher Emi­grantInnen in Para­guay.
Die Erklärung für dieses Phä­nomen liegt darin, daß Latein­amerika kaum im Motivations­spek­trum von Hitler-Flücht­lin­gen angesiedelt werden konn­te. Wer nach dem erhofften Sturz der NS-Herr­schaft nach Deutsch­land zurückkehren woll­te, blieb nach Möglichkeit in einem Nach­barland, jedenfalls in Eu­ro­pa. Wer als Jude Deutsch­land den Rücken kehrte und end­gültig mit der angestammten Heimat brach, bemühte sich um die Aus­reise nach Palästina. Auch Emi­grationsbewegungen in die USA oder UdSSR waren in jener Zeit spärlich. Wer vor 1939 nach La­teinamerika emigrierte, war trotz des poli­tischen Hinter­grundes seiner Motive meistens auch eine Art Auswanderer, der sich in der Ferne eine von Be­drohungen und Repressalien freie Existenz auf­bauen wollte. Die bevorzugte Wahl der typi­schen Einwande­rungsländer des Süd­gürtels be­stätigt diese Beob­ach­tung.
Mit der weiteren Expansion des Dritten Reiches im Jahre 1938 und mit Restrik­tionen der europäischen Asylländer, welche die Flüchtlingsströme nicht mehr auf­nehmen konnten oder woll­ten, begann die Massen­emigra­tion in überseeische Länder, vor­zugsweise nach Lateinamerika. Sie hielt mit kriegs­bedingten Un­terbrechungen bis etwa 1942 an. Da die meisten lateinamerikani­schen Staaten daraufhin die Ein­wanderung bremsten und zeit­wei­lig die Grenzen völlig sperr­ten oder nur unter besonderen Be­dingungen öffneten, richtete sich der Flüchtlings­strom auch in “we­niger at­traktive” Länder. Wer unter größter Gefahr sein Leben retten wollte, ging auch nach Hon­duras oder Bolivien, ob­wohl er eigentlich nach Palä­stina oder Nordamerika emigrieren wol­lte. Man­che Länder nahmen den Cha­rakter von Wartesälen an, in de­nen Flüchtlinge bis zu ihrer mög­lichen Weiterreise vor­über­ge­hend Zuflucht nahmen. Wer in Ku­ba oder in der Domini­kanischen Republik Asyl ge­funden hatte, wartete meist auf die Weiterreise in die USA, wer nach Para­guay oder Bolivien ver­schla­gen worden war, zog oft nach Argentinien, Chile oder Uru­guay.
Fluchtwege und Fluchthelfer
Die Wege, auf denen deut­sche Flüchtlinge nach Lateinamerika ge­langten, wurden im wesentli­chen vom Zeitpunkt der Emigra­tion und von den Emigrations­motiven bestimmt. Es gab vom Feb­ruar 1933 bis zum Oktober 1941 eine vom NS-Regime ge­dul­dete legale Auswanderung aus Deutschland. Ihr Zahlenver­hält­nis zur fluchtartigen Emi­gration schwankte erheblich und stand 1939 zu dieser im Verhält­nis von 7:1. Von den rund 78.000 jüdischen Emi­grantInnen dieses Jahres gin­gen etwa 13.000 nach Latein­amerika, in der Regel von Hamburg aus. EmigrantIn­nen, die von einem europäischen Exil-Land aus weiterfuhren, schifften sich gewöhnlich in den Niederlanden, in den französi­schen Atlantik-Häfen und in Marseille oder aber in Genua ein. Nach Ausbruch des Krieges än­derten sich die Routen, zumal Belgien, die Niederlande und die französi­sche Atlantik-Küste be­setzt wurden. Marseille wurde zeitweilig der wichtigste Aus­reisehafen, gefolgt von Lissa­bon, das aber nur über Spa­nien er­reicht werden konnte. 1940-42 waren Spanien und Portugal wichtige Transitländer. In der Zeit vom Herbst 1939 bis Juni 1941 emigrierten zahlreiche Flüchtlinge über Sibirien nach Wladiwostok und von dort wei­ter nach Shanghai in die USA und nach Lateiname­rika. Ab No­vem­ber 1941 durften Juden aus dem deutschen Macht­bereich nicht mehr ausreisen – die Ent­scheidung über die so­genannte “End­lösung” war ge­fallen. Mit der Besetzung Süd­frankreichs durch deutsche Trup­pen im No­vem­ber 1942 wurden die letzten Aus­reisemöglich­kei­ten blockiert. Die Emigra­tions­be­wegung kam fast voll­ständig zum Stillstand.
Besonderes Interesse ver­dienen in diesem Zusammen­hang die Organisatio­nen, durch deren Aktivitäten die in der Re­gel mittellosen Flüchtlinge über­haupt nach Lateinamerika gelan­gen konnten. Der Erwerb von Visa und anderen Doku­menten, die Bezahlung der Schiffspassa­gen und sonstigen Reiseko­sten, Quartiere und Klei­dung, Kurse zur beruflichen Um­schulung so­wie die Ausrü­stung mit Werk­zeug – alles dies waren Pro­ble­me, die die EmigrantInnen ge­wöhn­lich aus eigener Kraft nicht be­wältigen konnten. Eine Reihe von Vereinigungen hat hier be­trächtliche Summen auf­gebracht, die selbst wiederum größtenteils aus Spenden stamm­ten. Zu nen­nen sind vor allem die jüdische Hilfs­organisation HICEM, die selbst wiederum ein Dachver­band an­derer Verbände war, und das “American Jewish Joint Distri­bution Commit­tee”. Diese beiden Organisa­tionen hat­ten für die Flucht­hilfe und für die Start­hilfe in den Exilländern eine große Bedeutung. Da­gegen rich­te­ten sich die Unter­stüt­zungen an­derer Hilfsorga­ni­sa­tio­nen nur auf einen kleinen und spe­ziel­len Teil der Emi­gra­tion. An­dere wich­tige Ver­ei­ni­gun­gen wa­ren die so­zial­de­mo­kra­tische Flücht­lingshilfe, so­wie die von der Liga für Men­schen­rech­te ge­tra­ge­ne Demo­kra­ti­sche Flücht­lings­fürsorge (beide wa­ren bis 1938 in Prag, da­nach in Lon­don).
Unter den Umständen der NS-Diktatur nahmen gele­gentlich auch solche Organi­sationen den Charakter von Fluchthelfern an, deren ei­gentliche Zielsetzung nichts oder wenig mit Emigra­tion zu tun gehabt hatte. Die JCA (Jewish Colonisation Associ­ation) verfolgte ursprünglich den Ge­danken jüdischer landwirt­schaftlicher Siedlungen in Ar­gentinien und Brasi­lien, ver­mittelte aber – teil­weise im Rah­men der HICEM – zahlreichen be­drohten Juden eine Zuflucht in Lateiname­rika. Der St. Rapha­elsverein unterstützte seit den 1890er Jahren katholische Aus­wanderInnen durch soziale und seel­sorgerische Betreuung, kon­zentrierte sich aber in den 1930er Jahren immer mehr auf bedrohte Personen aus Deutsch­land, ins­besondere auf die soge­nannten “ge­tauften Nicht-Arier”. Auch die ihm nahestehende “Gesell­schaft für Siedlung im Ausland” er­möglichte vielen katholischen Hitler-GegnernIn­nen eine Aus­wanderung und Ansiedlung in Brasilien, wobei hier die Gren­zen zwischen Emigration und Auswanderung verschwimmen. Die Zahl der ge­nannten Orga­nisationen muß noch ergänzt werden um weitere jüdische, christliche, politische und huma­nitäre Vereinigungen, die inner­halb und außerhalb Deutschlands Fluchthilfe leiste­ten; der Hilfs­verein der Juden in Deutschland, die Quäker und an­dere. Dagegen war die Hilfstä­tigkeit ein­zelner Staaten, zwischen­staatlichen und in­ternationalen Ein­rich­tungen wie dem Völker­bund erbärmlich ge­ring. Emi­gran­tInnen, die sich nach Über­see retten konnten, ver­dankten dies fast ausschließ­lich pri­vater Initiative.
Die Anzahl der deutschen be­ziehungsweise deutsch­sprachi­ge Emigrant­Innen in Lateiname­rika schwankt zwischen 90.000 und 120.000; man darf also von einer Grob­schätzung von rund 100.000 aus­gehen. Es besteht allenfalls weit­gehend Klarheit in der quan­titativen Reihenfolge der Auf­nahmeländer:

Argentinien 45.000
Brasilien 25.000
Chile 2.000
Uruguay 7.000
Bolivien 6.000
Kuba 5.000
Kolumbien 2.700
Ecuador 2.500
Dom. Rep. 2.000
Mexiko 1.200

Die übrigen Länder, ange­führt von Paraguay nahmen Emigran­tInnen nur in drei­stelliger, einige karibische und mittelamerikani­sche Staaten nur in zweistelliger Höhe auf. Über 90 Prozent aller Flüchtlinge fanden Zu­flucht in jenem Südgürtel, der sich von Rio de Janeiro über Montevideo und Buenos Aires bis nach San­tiago de Chile er­streckt. Dort la­gen daher auch die wichtigen Emi­grantInnenzentren. Einen Son­derfall bil­dete Mexiko, das zwar hin­sichtlich der Auf­nah­mezahl eines der Schluß­lichter bil­dete, aber wegen der hoch­karätigen politischen und lite­rarischen EmigrantInnen so­wie wegen der von ihnen ge­tragenen Ver­lage, Zeitschrif­ten und Ver­einigungen ein Exil­zentrum von be­sonderer Bedeu­tung war.
Soziale und kulturelle Integration
Die berufliche Qualifika­tion der EmigrantInnen in Lateiname­rika war nicht auf die Gesell­schaften der Asyl­länder zuge­schnitten, so daß die berufliche Eingliederung meistens große Pro­bleme ver­ursachte. Exakte Zah­len lie­gen nur für einzelne Länder und Städte vor, aber sämtliche Indizien verweisen da­rauf, daß kaufmännische und an­dere mittelständische Berufe, Selbständige und Angestellte, sehr stark vertreten, Hand­wer­ker­Innen, ArbeiterInnen und Land­wirte unterrepräsen­tiert wa­ren. Aber gerade sie, insbeson­dere die Landwirte, waren be­son­ders gefragt. Viele Exilländer hatten die Einreiseerlaubnis nur mit der Verpflichtung zu land­wirt­schaftlicher Siedlung er­teilt, worauf aber die wenig­sten vor­be­reitet waren. Von den etwa 1.000 Emigranten, die in Ar­gen­ti­nien, Brasilien, Paraguay, Bo­li­vien, Ecuador und Santo Do­min­go kleine Bauernhöfe grün­de­ten, sind die meisten gescheitert.
Die mittelständischen Be­rufe stießen deswegen auf be­sondere Schwierigkeiten, weil für sie zunächst kein Bedarf bestand. Wegen der für lateinameri­ka­ni­sche Gesellschaften seit lan­gem no­torischen Unterbeschäf­tigung in Handel und Dienst­leistung bil­de­ten die Emi­grant­Innen eher ei­nen Störfaktor und stießen oft auf Konkurrenz­neid und Frem­den­feindlichkeit, nicht selten mit an­tisemitischem Ak­zent. Einige Län­der verboten oder behin­der­ten die Ausübung be­stimmter Be­ru­fe. Leichter hat­ten es Fach­ar­beiterInnen und Hand­werker­In­nen, die wegen ih­rer im all­ge­mei­nen beträchtli­chen Überle­gen­heit an Berufs- und Allge­mein­bil­dung gefragt waren. Da­ge­gen standen Vertre­terInnen künst­lerischer und geisteswis­sen­schaftlicher Berufe vor be­son­deren Schwierigkeiten, weil ih­re Tätigkeiten nicht ge­fragt und teilweise engstens auf die deut­sche Sprache fi­xiert wa­ren.
Die soziale Integration aus ei­nem Abstand von 50 Jahren be­trachtet zeigt, daß nach ei­ner mehrjährigen Durststrecke die meisten EmigrantInnen und ihre Nachfahren wirt­schaftlich heute nicht schlecht gestellt und in der Regel in relativ wohlhabende Mittel- und Oberschichten auf­gerückt sind.
Die Gründe für diese über­wiegend gelungene so­ziale Inte­gration liegen in dem beruflichen und allgemeinen Bildungsvor­sprung der meisten EmigrantIn­nen vor ein­heimischen Arbeits­kräften. Aber wesentlich war wohl der Zusammenhalt der Emi­gran­tInnen über gemeinsame Zeit­schriften, Clubs, Vereinigun­gen und Einrichtungen, der trotz ideologischer, politischer und anderer Differenzen zumindest in den Zentren des Exils eine wechselseitige Kommunikation er­mög­lichte. Vor allem müssen hier die deutsch-jüdischen Ge­meinden, Verbände und Ins­ti­tu­tio­nen erwähnt werden, die – so­weit Informationen vorlie­gen – oft einen hohen Organi­sa­tions­grad hatten. Ihre Arbeit dürf­te in hohem Maße soziale Not­fäl­le aufgefan­gen und eine Mar­gi­na­lisierung und Verelen­dung von EmigrantInnen verhin­dert haben.
Politische Organisationen im Exil
Die politischen Organisa­tio­nen deutscher EmigrantInnen wa­ren, gemessen an der Zahl ih­rer aktiven Mit­glieder, recht klein. Aber sie standen stärker im öffentli­chen Rampen­licht und bean­spruchten einen höheren Re­präsentationsgrad als etwa deutsch-jüdische Sportver­eine. Aus der Perspektive der deut­schen Geschichte sind sie frei­lich interessanter, weil sie gewis­ser­ma­ßen “mit dem Blick nach Deutsch­land” ar­beiteten, wäh­rend ein großer Teil der jüdi­schen Emigran­tInnen mit ihrer al­ten Heimat innerlich gebrochen hatte und vielfach kein Interesse mehr an Deutschland zeigte. An­de­rerseits wurden rund 50 von den Organisationen herausge­ge­be­nen Blätter und Zeit­schriften, von denen aller­dings einige nur ein­mal oder nur sehr selten er­schienen oder aber über das For­mat hektographierter Rund­brie­fe nie hinausgelangten, doch auch von einem breiteren Spek­trum innerhalb der Emi­gration gele­sen; sie bezogen so­mit auch po­litisch weniger enga­gierte Per­sonen in die Diskussio­nen und Kontrover­sen ein. Wie in der ge­samten Exilszenerie wa­ren die Emi­grantInnen in Latein­amerika untereinander heillos zerstrit­ten und befehdeten sich aufs heftig­ste. Die Bedingungen für politi­sche Aktivitäten va­riierten von Land zu Land und waren stark von den inneren Verhält­nissen ab­hängig. So wa­ren ir­gend­welche Aktivi­täten un­ter der blut­rünstigen Herr­schaft des do­mi­nikani­schen Diktators Rafael Tru­jillo über­haupt nicht und in dem von Ge­tulio Vargas auto­ri­tär regierten Brasilien nur ein­ge­schränkt möglich. Dage­gen bo­ten demo­kratische Länder wie Chi­le und Uru­guay, das ge­mä­ßigt autoritäre Argentinien so­wie das nachrevolutionäre Mexi­ko gün­stige Voraussetzungen. Wäh­rend aber in Chile auf amtli­chen Druck die politischen Emigran­tIn­nenverei­nigungen fu­sionieren muß­ten, blühte in Bo­livien ein Chaos der Ver­bände, Clubs und Organisa­tionen.
Das politische Spektrum der EmigrantInnenorganisationen läßt sich grob in drei Richtungen ein­teilen. Die älte­ste von ih­nen war auch zugleich die kleinste, die aber zeitweilig lautstark auf­trat: die Stras­ser-Bewegung. Be­reits 1934 war ein Netz von Or­ganisationen in fast allen latein­amerikani­schen Staaten nach­weisbar, geführt von einem “Kampfleiter” mit Sitz in Pa­raguay. In Buenos Aires er­schien ab 1935 das Zentralorgan der Be­wegung “Die Schwarze Front”. Leser des Blattes und Mit­glieder der gleichnamigen Or­ganisation waren größtenteils dis­sidente Nazis sowie antinazi­stische, aber gleichwohl rechts­extreme Kreise – Auslandsdeut­sche wie auch EmigrantIn­nen.
Zu den bedeutenden politi­schen Stimmen des deutschen Exils in Lateinamerika ge­hörten Zeitschrift und Bewe­gung “Das An­dere Deutsch­land”. 1938 aus ei­nem gleich­namigen Hilfsko­mi­tee in Bu­enos Aires hervorge­gan­gen, wurde die Zeitung bald das führende Organ einer zu­nächst breiten linken und de­mokratischen Leserschaft. Erst infolge der Kontroversen um den Hitler-Stalin-Pakt schieden die KPD-Anhänger aus und gründe­ten ihre eigene Zeitschrift “Das Volksblatt”. Unter der Schrift­leitung des Gründers und Her­ausgebers August Siemsen ver­einigten sich im “Anderen Deutsch­land” in immer stärke­rem Maße SozialdemokratInnen und VertreterInnen anderer nicht-kommunistischer linker Grup­pen. Aus Lesezirkeln ent­stan­den in mehreren Län­dern La­tein­amerikas kleinere Grup­pie­rungen und Vereini­gungen, die in loser organi­satorischer Ver­bin­dung zur Zentrale in Bue­nos Ai­res standen und im we­sent­lichen nur durch die Zeit­schrift zu­sammengehalten wur­den. Die­se lockere Orga­nisations­form hat­te den Nachteil, daß die Be­we­gung “Das Andere Deutsch­land” in nur einge­schränktem Maße eine regel­mäßige Ver­bands­arbeit lei­sten konnte; sie hat­te den Vor­teil, daß sie nicht von politisch dissi­denten Emi­gran­tInnengrup­pen un­ter­wandert und um­funktioniert werden konn­te. Ihre Schwer­punkte hatte die Bewegung im südlichen La­tein­amerika, also in Argenti­nien, Uru­guay, Chile, Brasi­lien, Para­guay und Boli­vien. Doch gelang dem “Anderen Deutschland” nicht, über einen längeren Zeit­raum eine Mehrheit der politisch den­kenden deut­schen Emigran­tIn­nen zu verei­nen.

Der große Konkurrent der Bewegung “Das Andere Deutschland” war die Bewe­gung “Freies Deutschland”, die mit Blick auf die Namensähnlichkeit nicht mit Stras­sers “Frei-Deutschland-Be­wegung” ver­wech­selt werden darf. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt hatten sich in mehreren lateinamerikanischen Staaten die politischen Emi­grantInnengruppen gespalten, wo­bei die der KPD angehö­renden oder nahestehenden Mit­glieder in der Regel eigene Gruppierun­gen bildeten. Diese Spaltun­gen blieben, auch als mit dem Überfall auf die So­wjetunion ihr äußerer Grund ent­fallen war. Die Gruppierungen wa­ren auf die Sammlung eines möglichst breiten politischen Spektrums angelegt und ver­einigten in sich auch bürgerli­che, christliche, konservative, ja so­gar monarchistische EmigrantIn­nen. Ihre Pro­grammatik und Phraseologie war verschwom­men antifa­schistisch und ließ zahllose Interpretationen zu, je­doch blieben die Schlüssel­positio­nen fest in den Händen von KPD-FunktionärIn­nen. In Mexiko, wo sich 1941/42 eine meist aus dem besetzten Frank­reich geflüchtete relativ starke Gruppe kommunistischer Schrift­stellerInnen und Funktio­närInnen niedergelas­sen hatte und wo sich mit ei­ner kleinen Ausnahme keine anderen deut­schen Exil-Orga­nisationen bil­deten, wurde im November 1941 die Zeit­schrift “Freies Deutsch­land” gegründet. Um dieses poli­tisch-literarische Blatt scharte sich bald eine gleichna­mige Ver­einigung mit Ablegern in ande­ren Ländern. Im Mai 1943, vier Monate nach dem Kongreß des “Anderen Deutschland” in Mon­tevideo, wurde unter Führ­ung der mexikanischen Emi­grant­Innen­organisation das KPD-ge­lenkte “Latein­ameri­ka­ni­sche Komitee Freies Deutsch­land” gegründet, dem in der Folge­zeit kleinere Organisatio­nen beitra­ten. Man hatte Hein­rich Mann für das Amt des Ehren­präsidenten und für den Vor­stand Hubertus Prinzen zu Löwenstein und den konser­vativen böh­misch-österreichi­schen Schrift­steller Karl v. Lu­stig-Prean ge­wonnen, aber die tatsächliche Leitung hatte Lud­wig Renn als amtie­render Präsi­dent, Anna Seg­hers sowie der KPD-Funktio­när Paul Mer­ker als General­sekretär. Der Name des Ko­mitees und andere Indizien ver­weisen auf die Be­wegung “Freies Deutschland” in euro­päischen Exil­ländern sowie auf das gleich­na­mige Natio­nalkomitee in Mos­kau und lassen es als In­strument der damaligen sowjeti­schen Deutsch­land-Poli­tik erschei­nen.

In Kuba, Ecuador und den kleineren mittelamerikani­schen und karibischen Repu­bliken nahm die Bewegung “Freies Deutschland” bald eine dominie­rende Stellung ein, in Brasilien, Argentinien, Bolivien, Uruguay und Chile machte sie dem “Anderen Deutschland” Konkur­renz. In Uruguay und Chile fusionier­ten die beiden Bewe­gungen, in Chile aufgrund staat­lichen Drucks, in Uruguay auf frei­williger Basis. Insgesamt wa­ren die “Freien Deutschen” er­folgreicher in der Ausdehnung ihrer Bewegung, allerdings dür­fen Vereinsattrappen und Brief­kastenorganisationen vor allem in einigen mittelameri­kanischen Staaten nicht über ihre tatsächli­che Stärke hin­wegtäuschen. Die Bewegung verlor an Einfluß, als sie ge­gen Kriegsende kritiklos die sowjetischen Konzeptionen für Nachkriegsdeutschland über­nahm und beispielsweise die Abtretung der deutschen Ostge­biete befürwortete, was bei allen anderen EmigrantInnenorga­nisa­tionen auf heftig­sten Wider­spruch stieß. 1946 lößte sich das lateinamerika­nische Komitee “Freies Deutschland” auf. Neben die­sen überregiona­len po­litischen Bewegungen gab es noch Zusammenschlüsse von Emi­grantInnen, die sich auf ein­zelne Länder oder Städte be­schränkten und sich auch nicht einer der genannten Or­ganisationen zuordnen ließen.
Politische Aktivitäten im Exil
Neben den Aktivitäten in den politischen Organisatio­nen deut­scher EmigrantInnen gab es noch weitere Betäti­gungsfelder, die sich mit den Vereinigungen nicht völlig deckten und in denen auch nicht organisierte Hitler-Geg­nerInnen aktiv werden konn­ten. Dazu gehörte der Kampf gegen die sogenannte Fünfte Kolonne. Das Dritte Reich hatte mit gerin­gem propagan­distischem Auf­wand einen großen Teil der in Lateiname­rika ansässigen Volks- und Auslandsdeutschen gleich­ge­schaltet. Fast überall gab es NS-Organisationen, die das aus­landsdeutsche Vereinsleben so­wie Schulen und Presse be­herrschten und durch Hetz­propaganda und teilweise auch durch Gewaltakte die Emigran­tInnen drangsalierten. Hinzu kam, daß die diploma­tischen und konsularischen Missionen die EmigrantInnen ob­servierten und zu diesem Zweck meistens ortskun­dige auslandsdeutsche Spitzel mo­bilisierten. In einigen Län­dern, so etwa in Argentinien und Bolivien, verfügten sie durch Unterstützung einhei­mischer Nazi-SympathisantInnen in Poli­zei, Militär und Wirtschaft über einigen Ein­fluß. Es lag da­her im ureige­nen Interesse der EmigrantIn­nen, sich gegen diese Bedro­hung zur Wehr zu setzen und die einheimischen Regie­rung durch Sprach- und Sach­kenntnisse und andere Mittel zu unterstützen. Nach Ab­bruch der diplomatischen Beziehungen zwi­schen dem Dritten Reich und den meisten lateinamerikani­schen Staaten wurden die mei­sten NS-Organisatio­nen ver­bo­ten. In einigen Ländern al­ler­dings hatte es nie eine nen­nens­werte Fünfte Kolonne ge­geben.
Ein weiteres Aufgabenge­biet, an dem sich auch nicht­organisierte EmigrantInnen be­teiligten, waren Nach­kriegs­kon­zeptionen für Deutsch­land. Ei­ni­ge der inter­essantesten Über­le­gun­gen stam­men vom früheren li­be­ralen Reichsinnen- und -ju­stiz­minister Erich Koch-We­ser, der im brasi­lianischen Bundes­staat Paraná sein Asyl gefunden hat­te. Die der Be­wegung “Freies Deutschland” nahestehenden Emi­grant­Innen äußerten sich nur sehr allge­mein über Ver­fas­sungs­fragen und wollten ne­ben recht ver­schwommenen For­de­run­gen nach Ausrottung von Na­zis­mus und Antisemitismus die kon­krete Gestaltung Deutsch­lands den Alliierten überlassen. Ver­breitet war eine anti­ka­pi­ta­li­sti­sche Grundstim­mung und die Ab­sicht, mit einer weitgehenden So­zia­li­sierung auch die ge­sell­schaft­lichen Ursa­chen an­tidemo­kra­tischer Ent­wicklung zu besei­ti­gen. Die mei­sten Konzep­tionen hiel­ten am Na­tionalstaat fest, plä­dierten aber für eine Aus­söh­nung der ehemaligen Kriegs­gegner und für einen losen Ver­bund der eu­ropäischen Staa­ten. In den Be­reich der politi­schen Akti­vitäten gehören auch größ­tenteils die kulturellen Lei­stungen der deut­schen Emi­grantInnen, da sie auch dort, wo sie inhaltlich nicht unmit­telbar politische Fragen an­sprachen, indirekt darauf eingin­gen. Das war deutlich in der Presse und in den von ei­nigen Emigrant­Innen­or­ganisationen regelmäßig ge­stal­teten Rund­funksendungen der Fall, vor al­lem aber in den von Or­ga­ni­satio­nen unabhän­gi­gen Zeit­schriften und Ver­lagen. Zu er­wähnen ist hier vor allem die in Santiago de Chile heraus­ge­ge­be­ne, auch in Nord­amerika und Eu­ropa ge­lesene Monatsschrift Deut­sche Blätter, deren hohes Ni­veau und solide Aufmachung von allen po­litischen Richtun­gen res­pek­tiert wurde.
Emigration nach 1945
Mit der Niederlage des Drit­ten Reiches endeten we­der Exil noch Folgeprobleme der Emi­gration, vielmehr tauchten neue Probleme auf. Die Frage nach der Rückkehr ließ sich von Emi­grantInnen in keinem einzigen Falle leicht beantworten. Viele jü­dische EmigrantInnen hatten mit Deutschland gebrochen und somit kein Interesse mehr an ei­ner Rückkehr. Sie hatten in La­tein­amerika Wurzeln ge­schlagen oder aber bemühten sich um eine Wei­terwande­rung nach Palä­stina/Israel oder in die USA. Die Faustre­gel, derzufolge politische EmigrantInnen im allgemeinen zu­rückkehren wollten, die jüdi­schen EmigrantInnen aber nicht, gilt tendenziell auch für Latein­ame­rika, wenngleich hier stark differenziert werden muß. Aus den Jahren 1945-1949 sind etli­che Anfragen an den SPD-Vor­sitzenden Kurt Schumacher er­halten, ob man als Jude inzwi­schen wieder nach Deutsch­land zu­rückkeh­ren dürfe. Und umge­kehrt ent­schlossen sich manche der politischen EmigrantInnen, dort wo ihre Kin­der und teil­weise auch sie selbst heimisch geworden waren, zu bleiben. Hinzu kamen objek­tive Schwie­rigkeiten, zu denen einmal die Reisekosten und zum andern Einreisesperren der Alli­ierten gehörten. Am leichtesten hatten es Kommu­nisten, die – so­fern sie ge­braucht wurden – mit sowjeti­scher Hilfe in die Sowje­tische Besatzungszone zurück­kehren konnten. Andere betraten erst 1948/49 wieder deutschen Boden oder kehrten sogar erst in den 60er Jahren aufgrund be­stimmter politischer Ereig­nisse zurück – so Boris Gol­denberg aus dem in­zwischen kommuni­stisch gewor­denen Kuba. Für viele, die sich zum Bleiben ent­schlossen, war es aber eine un­angenehme ワber­raschung, daß nach 1945 eine gewisse “Emi­gration” ehema­liger NS-Funk­tionäre nach La­teinamerika einsetzte. De­ren Vertreter – wie beispiels­weise Eichmann oder Men­gele – woll­ten unter anderem Namen unter­tauchen und teil­weise aber auch mit Hilfe ein­heimischer Ge­sin­nungs­freunde ih­re un­rühmlichen Ak­tivitäten fortset­zen.
In den Jahren 1946-1949 lö­sten sich aber die meisten der po­li­tischen Organisatio­nen auf. Un­ter­schiedliche Auffassungen über die Zu­kunft Deutschlands und voll­ends der Kalte Krieg ent­zo­gen ihnen die gemeinsame Platt­form. Bemerkenswert ist, daß sich in drei Ländern – Me­xiko, Bra­silien und Bolivien – Nach­fol­georganisationen als so­zi­al­de­mo­kratische Landesver­bän­de konstituierten, nach­dem während der NS-Zeit die SPD als Par­tei oder als parteina­her Ver­band im lateinamerikani­schen Exil über­haupt nicht existiert hatte. Diese Organisa­tionen be­mühten sich einerseits um mate­rielle Hilfe für ihre aus­geblutete frühere Heimat, und veranstal­teten – wenigstens im Falle Bra­siliens – Sammlun­gen. Sie be­kämpften nach wie vor re­aktionäre Strömungen un­ter den Auslandsdeutschen und attackierten teilweise heftig die jun­ge Bundesrepu­blik, weil sie die diplomati­schen und kon­su­la­ri­schen Missionen in Lateiname­rika hauptsächlich mit erzkonser­vativem Personal be­setzte.
Lateinamerika hat die deut­sche Literatur in vielfältiger Weise beeinflußt. Ludwig Renn und Hilde Domin haben in ihren Memoiren ihr mexi­kanisches bzw. dominikani­sches Exil aus­führlich be­schrieben; Anna Seg­hers griff gelegentlich latein­amerikani­sche Motive auf; Egon Erwin Kisch veröffent­lichte noch in Mexiko eine bril­lant geschrie­bene Sammlung mit Episoden aus der mexikanischen Ge­schich­te und Paul Zech gab In­dianermärchen aus dem Chaco heraus, die sich aber nachträglich offensichtlich als seine Erfin­dung herausstell­ten. Manche EmigrantInnen vermittelten auf andere Weise den Deutschen ein differen­ziertes Lateinamerika-Bild, entweder durch Sachbücher über ihr jeweiliges Exilland oder durch Presseberichte. Erwähnt sei hier der langjäh­rige Süd­amerikakorrespon­dent der Frank­furter Rund­schau in Mon­tevideo, Her­mann P. Gebhardt. Aus den Reihen ehemaliger EmigrantIn­nen sind aber auch be­deutende Wis­sen­schaftlerInnen und Ver­tre­terInnen des öffentli­chen Le­bens in ihren Exilländern her­vor­ge­gangen. Der gegensei­tige Kul­tur­trans­fer bildet viel­leicht den er­freulichsten Aspekt des Exils, das mit Verfolgung und Flucht so leidvoll begonnen hatte.

“Ausharren oder Flüchten”

Das Exil in Chile um­faßte rund 13.000 “deutsche Staats­bürger jü­dischen Glaubens”, rassisch Verfolgte des nationalsozia­listischen Regimes, und 300 politische Emigrant­Innen, auch unter ihnen zahlreiche deutsche Juden und Jüdin­nen, die ihr Fluchtziel größtenteils zwischen 1937 und 1939 erreichten.
Bis zur Reichspogrom­nacht vom 9. auf den 10. November 1938 hoffte die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung, in Deutsch­land weiterleben zu kön­nen. Nach der ersten großen Fluchtbewegung des Jahres 1933 überwog bis ins Jahr 1936 der Entschluß, in der Heimat zu blei­ben. Danach stiegen die Flücht­lingszah­len, auch in die latein­ame­rikanischen Länder, deut­lich an. Der Prozeß der Loslösung von vertrauter Umgebung und gesicherten Lebensumständen brauchte Zeit. Dennoch gab es seit dem “Aprilboykott” gegen jüdische Geschäfte, An­walts- und Arztpraxen kaum noch eine jüdische Familie, in der nicht die Worte Flucht, Auswande­rung oder Emigration ge­fallen waren. Ihr Entschluß, Deutschland nicht zu ver­lassen, ist als ein Akt der Selbstbehauptung zu be­trachten. Bis 1938 ver­stärkte die außen- und wirtschaftspolitische Inter­essenpolitik des NS-Regi­mes die Hoffnung der deutsch-jüdischen Bevöl­ke­rung, daß sich das Re­gime auf eine rechtliche Aus­grenzung beschränken wür­de. Trotz der zuneh­menden ge­sellschaftlichen Aus­gren­zung und Isolation schien das öko­nomische Exis­tenzminimum ge­währ­leistet zu sein. Vor allem die ältere Generation, die der Kriegs­teilnehmer des Ersten Weltkrieges, hoffte, daß sich das Regime auf eine Dissimilation be­schränken würde. Zwischen der Al­ternative “Ausharren oder Flüchten” zu wählen, fiel der jüngeren Generation leichter. Sie erreichten frühzeitig die euro­pä­ischen Exilländer und die USA, während die ältere Genera­tion in südamerikanische Länder emi­grierte, die ihre Grenzen noch bis zuletzt offen hatten. So erklärt sich der hohe Alters­aufbau des chilenischen Exils: Über die Hälfte der Flüchtlinge war über 50 Jahre alt.
Die Immigrationsaffäre
Das Einwanderungsland Chile galt am Ende der dreißiger Jahre als vorbild­lich in seiner Haltung ge­genüber ImmigrantInnen. Es war die Rede vom “Ein­wan­de­rungsparadies Chi­le”. Im latein­amerika­nischen Vergleich nahm die Andenrepublik pro­portional zur Einwohnerzahl die größte Zahl der Flüchtlinge auf.
Zwei Phasen chilenischer Flüchtlingspolitik sind zwi­schen 1933 und 1941 auszumachen. Die erste, während der konser­va­tiven Regierung des Prä­sidenten Arturo Alessandris bis zum Herbst 1938, war von einer mehrfachen Verschärfung der Asylgesetzgebung ge­kenn­zeich­net. Diese Politik wurde als Re­aktion auf die Welt­wirt­schafts­krise be­zeichnet und mit dem Schutz des heimischen Ar­beits­marktes begründet. Re­strik­tionen wie die Quo­tierung der jüdischen Im­migration und die berufli­che Beschränkung auf Landwirte wiesen je­doch rassis­tische Ten­den­zen auf; bereits 1933 war ei­ne Einwan­derungsbe­schränkung der “semi­tischen Rasse” beab­sichtigt. 1937 wurde die Gesetz­ge­bung neuerlich ver­schärft. Nur noch Ver­wandte ersten Grades be­reits in Chile lebender Aus­län­derInnen sollten Visa erhalten. Die zweite Phase (von 1938 bis 1941) wäh­rend der Volks­front­regie­rung unter dem Prä­sidenten Pedro Aguirre Cerda cha­rak­te­ri­sierte demgegenüber eine groß­zügige, liberale Hand­habung der Asylge­setzgebung, die sich ne­ben Chile auch in anderen la­tein­ame­rikanischen Ländern ins­be­sondere von der Einwan­de­rungs­praxis der USA un­terschied.
Die politische Instru­men­ta­li­sierung der jüdi­schen Im­mi­gra­tion durch das seit 1938 verstärkt auf­tretende “Movi­miento Na­cio­nalsocialista de Chile” (MNS) und seinen “Füh­rer” Jorge Gon­zález von Marées erzwang 1940 den Rücktritt des Außen­mi­nisters der Volks­frontre­gierung.
Das MNS schürt
den Antisemitismus
Der Verlauf die­ser sogenannten “Immi­gra­tions­affäre” zeigte die Ge­fahren einer Politi­sierung der Asylgesetzge­bung. An­ti­se­mi­ti­sche Vor­urteile lebten auf, die vom MNS und ei­nigen konser­va­tiven Senatoren in den Par­la­mentsdebatten diskus­sions­fähig gemacht wurden und in der Pres­se weite Verbreitung fanden. Der Recht­fer­ti­gungs­zwang, den das MNS der Volks­frontre­gierung aufzwang, ging mit nationa­listischen Argu­men­ten (“Chile den Chile­nen”) ein­her und mün­dete in der Wahn­idee einer “jüdisch-kom­mu­ni­stischen Welt­verschwörung”.
Jorge González von Ma­rées erhob eine Verfas­sungsklage ge­gen den Au­ßenminister der Volksfront, Abraham Ortega, da er die Ehre der Nation mißachtet und Bestechungsgelder für “jüdi­sche Visa” angenom­men habe. Die Ergebnisse der eingesetzten Un­tersu­chungskommission reihten weder der Ab­ge­ord­ne­ten­kammer noch dem Senat aus, um der Anklage des “chi­le­ni­schen Führers” zu­zustimmen. Dennoch hatte das MNS seine politische Absicht erreicht, eine anti­se­mi­tische Stimmung in der Be­völ­ke­rung zu schüren.
Der Prozeß gegen den Au­ßen­minister offenbarte der (im übri­gen nach einem gescheiterten Putschversuch der chilenischen National­sozialisten mit den Stimmen des MNS) Volks­front­re­gie­rung, daß sich die ge­setz­lichen Einwanderungs­be­schrän­kungen – zum Glück der Ver­folgten – umgehen ließen, da sie nur mit großem bürokratischen Auf­wand kontrollierbar wa­ren. Zugleich aber de­monstrierte der Prozeß die schwerwiegenden Folgen einer lückenhaften Asyl­ge­setzgebung, die ihre Aus­führung wenigstens zum Teil dem Wohlwollen von Ein­zel­per­sonen anheim­stellte. Sie er­laubte es den chilenischen Konsuln, im Ausland vom Außenmini­sterium bereits er­teilte Visa zu blockieren. Durch ein ent­sprechendes “Informa­tions­schreiben” über die Person des An­tragstellers oder der An­trags­stellerin wurde der büro­kra­tische Apparat er­neut in Gang ge­setzt, wäh­rend den Verfolgten bereits die De­portation in ein Konzen­trationslager drohte. Häufig erwiesen sich die Konsuln als größtes “Emi­gra­tions­hindernis”, da sie dem na­tionalsozialisti­schen Regime durchaus positiv gegen­über­standen.
Der politische Druck der “Anti-Immigrationskampa­gne” zwang die Volks­frontregierung, ein Zeichen zu setzen, daß die Ge­setzgebung nicht will­kürlich auslegbar war: Mitte 1940 ver­hängte sie einen Ein­wan­de­rungs­stopp. Die hu­manitär be­gründete Asyl­praxis der Volks­front­re­gierung fiel damit politi­scher Interessenspolitik und ei­ner lückenhaften Asylge­setz­gebung zum Opfer, de­ren un­kon­trol­lier­bare Ver­fahrensregelung auf der an­deren Seite vielen Flücht­lin­gen das Leben rettete.
Die Fluchtbewegung aus dem “Dritten Reich” hätte längst vor Kriegsbeginn ei­ner flexibleren, internatio­nalen politischen Ant­wort bedurft. Zumindest für ei­nen kurzen Zeitraum ist die chi­lenische Volksfront­regie­rung diese Antwort nach der Flücht­lings-Kon­ferenz von Evian im Som­mer 1938 nicht schuldig geblieben.
Aus der Perspektive des Exils stellte sich das Auf­nahmeland Chile, obschon die Emi­grant­In­nen zu jenen “unbeliebten” ver­armten Flüchtlingen gehörten, als “vorteilhaft” heraus. Inso­fern kann der Integrations­prozeß in Chile im latein­amerikanischen Vergleich nicht als typisch be­zeichnet werden. So bot die Me­tro­pole Santiago den Flücht­lin­gen leichtere Integrati­ons­chan­cen als der Urwald Boliviens oder die Haupt­stadt La Paz, die viele ver­ließen, um nach Chile oder Argentinien weiterzuwan­dern. Im Gegensatz zu an­ti­se­mi­tischen Anfeindungen in Bo­li­vien erfuhren die Chile-Emi­grantInnen auch eine freund­lichere Auf­nahme.
Intgration und
Akkulturation in Chile
Der Ankunft folgte an erster Stelle die Wohnungs- oder Pen­sionssuche. Falls keine Ver­wandten oder Be­kannten in San­tiago und Valparaíso lebten und die Neuankömmlinge abholten, vermittelte die CHILEHI­CEM, eine jüdische Hilfs­organisation, häufig eine Adresse. Auf den­je­nigen, so der Wiener Emigrant Wal­ter Klein in seiner Auto­bio­graphie, dem es nicht gelang, “einen Landsmann für sich zu interessieren”, warteten Tage, Wochen, Monate “voller bitterer Not”, “bis es ihm glückte, ir­gendwo unterzuschlüpfen, im Hafen, auf dem Markt, als Haus­diener, als Landar­beiter, als irgendetwas.”
In den Pensionen, die zugleich zur Existenzsiche­rung früher ein­ge­troffener Flüchtlinge bei­tru­gen, wur­den Mittagstische an­ge­bo­ten, so daß man teures Essen im Restaurant ver­meiden konnte und den­noch Gelegenheit hatte, sich mit Bekannten oder Freun­den über Möglich­keiten eines Neubeginns, freie Arbeitstellen und Wohnungsmieten auszu­tau­schen. Die Pensions­zimmer wa­ren klein, manchmal ohne Fen­ster und mit bil­ligen Möbeln aus­gestattet. Aber sie hat­ten einen entscheidenden Vorteil: die Menschen konnten sich in deutscher Sprache verstän­digen. Al­lemal ein Um­schlagsplatz der Informa­tionen, entwic­kelten sich die Pensionen ebenso wie das Büro der CHILE­HICEM zur Nach­rich­ten­börse der deutschen Emi­gration.
Ökonomische und
soziale Integration
Den Pensionen und mö­blier­ten Zimmern folgte, wenn alles gut ging, der erste soziale Auf­stieg. Man wohnte zur Un­ter­mie­te oder teilte sich mit anderen ei­ne Wohnung, bis man schießlich ei­ne eigene mie­ten konnte oder sich in ei­nem besseren Stadtteil San­tiagos ein Wohnhaus kauf­te. Die ersten Monate be­standen aus Provisorien. Wer Umzugsgut verschiffen konnte, erst recht nach Kriegsbeginn, hatte großes Glück, wenn es auch manchmal absurd erschien, was man mit­ge­nommen hatte: Kopfkissen, Fe­der­betten, weißes Bettzeug, ein paar Tischtücher. Manche ba­stel­ten aus ihren Schiffs­kisten das erste Bett, den ersten Klei­der­schrank oder Küchentisch, der zugleich als provisorischer Arbeits­platz diente. Im “chi­le­n­i­schen Erfogsfall” ging der In­te­grationsprozeß von einer ersten Phase der Neuorientierung und Ar­beitssuche über in eine Phase größerer finanzieller Ab­sicherung und mündete schließ­lich in die Gründung einer neuen Existenz, die etwa dem gesell­schaftlichen Status vor der Flucht ent­sprach. Die Im­mi­grantIn­nen trafen auf günstige wirtschaftliche Bedingun­gen. Sie ließen sich in der Hauptstadt nie­der, und vie­len bot die her­stellende und verarbeitende Tex­tilin­dustrie den Neueinstieg ins Wirtschaftsleben, so daß sich ein ganzer, aus Deutschland bekann­ter In­dustrie- und Gewerbezweig re­produzierte.
Die Bilanz der ökono­mischen Integration fällt keineswegs nur positiv aus. Eine akademische Ausbil­dung, der Beruf des Rechtsanwaltes, Arztes oder auch Chemikers und Phar­ma­zeu­ten standen der Exi­stenz­gründung in Chile ebenso wie in Bolivien oder Peru in Wege. So arbeite­ten Rechstsanwälte als La­geristen, Büroangestellte, Ver­käufer von Erfrischun­gen und Schreibwaren. Ärz­te wurden Sanitäter, Kran­kenpfleger, Mas­seure, Begleiter von Fußball­grup­pen. Architekten wurden technische Zeichner und Innen­dekorateure; Apothe­ker arbei­te­ten in Drogerien und Labo­ra­to­rien als ge­wöhnliche Angestellte.
Vor allem fiel den Frauen eine besondere Bedeutung zu, deren Arbeitskraft manchmal ein Ab­sinken der Einwandererfamilien in die Armut verhindern half. In fast allen Veröffentlichun­gen über die Phase der Existenz­grün­dung im Exil findet sich der Hin­weis, daß Frauen die Hauptstüt­zen in finanzieller und emo­tio­na­ler Hinsicht waren. Psycho­logisch scheinen sie das Trauma der Flucht besser bewältigt zu haben und fanden sich in kürze­rer Zeit mit der Lebensumstel­lung zurecht. Frauen über­nah­men neben Haushalt und Kin­dern die Verant­wortung für den finanziel­len Unterhalt: sie wur­den Sekretärinnen, Gouvernan­ten, Lehrerinnen, er­öffneten Geschäfte, wurden Näherinnen, Kassiererin­nen, Verkäuferinnen und Buchhalterinnen. Auch die Pensionen wurden häufig von Frauen geführt.
Jüdischer Widerstand
im Exil
Im Jahr 1936 wurde das Komitee gegen den Anti­semi­tis­mus gegründet, das die Be­kämpfung solcher Tendenzen im Aufnahme­land Chile und Auf­klä­rungsarbeit über die natio­nal­sozialistische Rassenpo­litik zur Aufgabe hatte. Das Komitee wollte ohne jegli­che politische Parteilichkeit auf nationaler und interna­tionaler Ebene arbeiten und sich in der Tradition jüdi­schen Abwehrkampfes der Auf­klärungsarbeit widmen. Seine Tätigkeit blieb eher zu­rück­hal­tend. Die Immi­grantInnen wur­den dazu aufgefordert, sich nicht laut in deutscher Sprache zu un­ter­halten, bzw. in größe­ren Grup­pen in der Öffent­lichkeit auf­zu­tre­ten.
Synagoge in der Avenida Portugal in Santiago de Chile. Zwischen ’45 und ’94 funktionierte hier das Gemeindezentrum von B’ne Jisroel.
Eine weitere Aufgabe bestand darin, andere Or­ganisationen zu unterstüt­zen. Eine davon organi­sierte Handel und Industrie jü­discher Herkunft, um strategisch jene Marktbe­reiche aus­zu­schal­ten, die ansonsten von Nazis ge­nutzt wurden.
Chile: kein Wunschziel
Eine Bilanz der Akkul­tu­ra­tion, deren Probleme auch als ge­nerationsspezi­fisch zu cha­rak­te­risieren sind, muß die “Rück­wärtsgewandtheit des Exils” berücksichtigen.
Der Berufseinstieg fing nur zum Teil die durch die Flucht be­dingte soziale De­klassierung auf und ließ nicht immer den Wie­der­einstieg in eine bürgerliche Existenz erhoffen. Das Exil en­dete keineswegs mit dem Ab­schluß eines Arbeitsver­trages, der Eröffnung eines Geschäftes oder Kleinun­ternehmens in Chi­le. In Südamerika erkannte jeder sogleich die EmigrantInnen, und daß man überhaupt als Emigrant bezeichnet wurde, “das machte es umso schwerer, zum Im­mi­granten zu werden.”
Da die Europäer in den Län­dern Lateinamerikas den Ruf hö­herer Bildung genossen, kam die Bevöl­kerung den ImmigrantIn­nen zwar mit Respekt ent­gegen, allerdings ebenso mit ironischer Distanzie­rung von deutschem Fleiß und deutscher Pedanterie, Pünktlichtkeit und Ar­beit­sam­keit, aber auch Überheblichkeit. Dennoch zählten die Deutschen in Chile zur beliebtesten aus­län­dischen Minderheit: Wer heute unter EmigrantInnen zu wählen hätte, meinte der von 1939 bis 1943 amtie­rende US-ame­ri­kanische Botschafter in Chile Claude G. Bowers, der würde die Deutschen vorziehen.
Von den Einheimischen als Deutsche betrachtet, re­prä­sentierten die deutsch-jüdischen Emi­grantInnen die von Chile­nen als “typisch deutsch” bezeich­neten Tugenden. Dieser Rückzug brachte teilweise eine enorme Ab­grenzung gegenüber der chilenischen Kultur mit sich.
Indem sie die chilenische Staatsbürgerschaft erwar­ben, drückten die Immi­grantInnen zu­mindest in den ersten Jahren des Exils weniger ihre Dankbarkeit oder nationale Solidarität aus, als ihre Distanz zum Herkunftsland, das sie, wenn nicht bereits vor 1941, so doch seitdem kol­lektiv aus­gebürgert hatte. Sie wollten die allenfalls als Rehabilitation, keinesfalls jedoch als Wieder­gut­ma­chung zu bezeichnende Wie­der­einbürgerung nicht erwerben und sich nicht den hiermit ver­bun­denen , häufig ent­wür­di­gen­den und quälenden Ver­fahren aus­setzen, das sich über Jahre hin­ziehen konnte. Die Chile-Emi­grantInnen grif­fen die Frage der Staats­bürgerschaft insofern nicht im Kontext der Integration in das Exilland auf- viel­leicht, weil man erfahren hatte, wie we­nig die Staats­bürgerschaft zählen konnte.
Dennoch beantragte die zweite Generation der NS-Ver­folg­ten und ihre Kinder die chi­le­nische Staatsbür­gerschaft offen­bar weder sehr früh noch in über­wie­gender Mehrheit. Gründe hier­für sind nur mutzuma­ßen. Sie können wie in Ar­gentinien auf die unsiche­ren politischen Ver­hältnisse zurückzuführen sein, die viele ImmigrantInnen in La­teinamerika zur Wieder­an­nah­me der deutschen Staats­bür­ger­schaft veranlaß­ten. Im Jahr 1970 führte beispielsweise die Wahl Sal­vador Allendes zum Staats­prä­sidenten Chiles, die eine weit­aus stärkere Flucht­bewegung der deutsch­sprachigen Emigra­tion aus­löste, als der Putsch der Mi­li­tärs unter General Augusto Pi­nochet 1973, zu einem Anstieg der Wie­dereinbürgerungsanträge. Über 2.000 jüdische Emi­grant­Innen verließen 1970 in kür­ze­ster Zeit ihr Exilland.
“Selbstisolierung”
Den älteren jüdischen Emi­grant­Innen war und ist es be­wußt, daß sie trotz jahrelanger An­sässigkeit im Land “zu ihren ein­heimi­schen Nachbarn noch im­mer nicht den richtigen Kon­takt gefunden haben.” Handelte es sich um eine “Selbstisolierung”? Ein Teil der jüdischen Emi­grantInnen, von denen hier die Rede ist, schloß sich der 1938 gegründeten deutsch-jüdischen “B`ne Jisroel” an, um an ihrem Gemeindeleben, den Got­tesdiensten, Veranstal­tun­gen etc. teilzuhaben. Die Ge­mein­de übernahm die Funktion einer “Heimat in der Fremde” und gab den Flüchtlingen Halt und soziale Sicherheit. Die Teil­nahme beziehungsweise Mit­glied­schaft implizierte nur in gewissem Maße eine Hin­wendung zum religiösen Le­ben, in jedem Fall aber zu einem be­wußten Juden­tum und dessen na­tio­naler Heimat Israel.
Der eingangs erwähnte para­doxe Eindruck eines Rückzugs auf das Deutschtum sollte nicht vor­wiegend als Abgrenzung von der Kultur des Auf­nahmelandes, wel­che ein­zelnen häufig fremd ge­blie­ben ist, oder als “Ko­lo­ni­sten­mentalität” be­wertet werden. Die Emi­grantInnen bewahrten sich ein “deutsches Kulturle­ben”, von dem sie sich nicht trennen woll­ten, und über­brückten auf diese Weise die Fremdheit in der neuen Umgebung. Unter den deutsch-jüdischen Im­mi­grant­Innen der ersten bei­den Gene­rationen bil­dete sich viel­fach eine “drei­geteilte Identität” heraus: Man bekannte sich zum Juden­tum, fühlte sich der deutschen Kultur ver­bunden und be­trachtete das Auf­nahmeland weit über das Gefühl der Dank­bar­keit hin­aus als seine Heimat. Die chilenische Gesellschaft hat die­se Identität, wenn­gleich sie nach Auschwitz durchaus einer er­neuten Selbstversicherung be­durf­te, keinem Assi­mi­la­tions­druck ausgesetzt. Weitaus die Mehr­heit der deutsch-jü­di­schen Emi­grantInnen ist in Chile ge­blie­ben, eine Rückkehr nach Deutsch­land stand nicht zur Dis­kussion.

Von der Autorin liegt eine Dissertation über das “Exil in Chile” vor. Dort wird auch das politische Exil und die Haltung der deutschen Ko­lonie berücksichtigt.
Irmtrud Wojak, Exil in Chile. Die deutsch-jüdische und politische Emigration wäh­rend des Nationalsozialis­mus 1933-1945, Berlin, METROPOL;1994)

La Doctora – Eine ungewöhnliche Ärztin

Bolivien wurde zur Zu­flucht einer nicht unbe­trächtlichen An­zahl deut­scher Juden und Jüdin­nen, die vor der Verfol­gung durch das Nazi-Regime zwi­schen 1933 und 1945 aus Deutsch­land flohen. Oft wollten sie nicht nach Palästina auswan­dern, oder sie hatten keine Ein­reisegenehmigung in die westli­chen Länder bekom­men. Gleich­zeitig fanden in Bolivien auch eine nicht ge­ringe Zahl deutscher Natio­nalsozialisten nach dem Zweiten Weltkrieg Unter­schlupf. Opfer und Täter tra­fen in der Emigration wieder aufeinander. In diesem rela­tiv kleinen Land wieder in großer Nähe, von Her­kunft, Sprache und Kultur in der deutschen Nation verwur­zelt und so die gemeinsame Geschichte im Exil fortset­zend.
Dies ist der historische Kon­text, in den das Schicksal der deutschen Jüdin Ruth Tichauer verwoben ist.
Ein deutsch-jüdisches Schicksal
Sie wurde 1911 in Königs­berg in Ostpreußen als Tochter des Ägyptologie-Professors Wies­zinski gebo­ren. Sie ging dort auch auf die Schule, machte das Abitur und begann danach mit dem Studium der Medi­zin. Die Machtergreifung der Natio­nal­sozialisten zwang sie, ihr Stu­di­um in Italien fortzusetzen, das sie dann in Rom mit der Promo­tion ab­schloß. 1935 heira­tete sie Wal­ter Tichauer, einen deutsch-jüdischen Kaufmann, mit dem sie bald zwei Kinder hatte. Nach der Pogrom­nacht von 1938 ent­schlossen sich beide, Deutsch­land zu ver­lassen und fanden, nachdem ihr Einreisean­trag in die USA wie in Großbri­tannien abgelehnt worden war, schließ­lich 1942 in Bolivien Aufnahme.
Soweit handelt es von ei­ner in vielem typischen deutsch-jüdi­schen Ge­schichte. Der Vater war für seinen deutschen Patriotis­mus im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz ausge­zeichnet worden. Die Eltern wa­ren wie viele deutsche Ju­den und Jüdinnen in das Bil­dungs- und Wirtschaftsbür­gertum aufge­stie­gen, der Geist des Elternhau­ses war ein säkularisierter Bil­dungs­humanismus. Die politi­sche Ge­sinnung in der Weimarer Repu­blik war liberal. Die Toch­ter Ruth übernahm diese Welt und radikalisierte sie in Rich­tung frauenbe­wegter Eigenstän­digkeit und liberal-sozialisti­scher Ori­entierung. Sie heiratete einen Großbürger, mit der ent­schiedenen Vorstellung, Beruf und Kinder miteinan­der zu ver­binden. Eine Frau aus dem west­lichen deut­schen Judentum also, mit seinen Freundesbanden und Beziehungen zum deutschen Bürgertum, in Lebens- und Gei­steshaltung diesem oft ähnlich, wenn auch von ihm zunehmend durch den Riß des nationali­stisch-antise­mitischen Ressenti­ments getrennt. Was waren das für FreundInnen, die schwiegen, als Synagogen, jüdische Ge­schäfte und Wohnungen brann­ten?
In Bolivien arbeitete Ruth Tichauer zunächst beim Roten Kreuz, da bei ihrer Ankunft die ihr zugesagte Stelle an der Uni­versität in La Paz schon verge­ben war. Bald konnte sie jedoch eine Arztpraxis in La Paz eröff­nen und dadurch auch für den Unterhalt ihrer Fa­milie sor­gen. Wieder eini­germaßen auf siche­ren Fü­ßen begann sie ihr eigentli­ches Lebenswerk. Sie grün­dete eine Schule für Sozial­arbeit, dann einen medi­zini­schen Dienst im Frauenge­fängnis und schließlich eine zweite Praxis in einem Ar­men­viertel von La Paz: das Consul­torio del Gran Poder, in dem sie zunächst an zwei Ta­gen in der Woche kostenlos für die indiani­sche Bevölkerung Sprechstun­den abhielt. Über die Jahre er­weiterte sie diese Arztpraxis, so daß heute ein weiterer Arzt, ein Zahnarzt und ein Rechtsanwalt samt einigen Hilfskräften (auch deutsche PraktikantInnen) darin stän­dig tätig sind. Außerdem baute sie eine kleinere ärzt­liche Ver­sor­gungs­station am Titicaca-See auf dem Alti­plano und eine “Ur­wald­klinik” in Omeja in der Pro­vinz Yungas auf. Hin- und Rückweg dieser mobilen Klinik bestehen zusätzlich aus “Weg­rand­sprech­stunden”. Ihr Fahrer ist in insgesamt 35 Quechua-Dialekten kundig, wo­mit er die Verständigung mit den oft tage­lang gerei­sten Indí­genas ermög­licht. Die Behand­lung wird durch mitgebrachte Naturalien entgolten.
Heilung mit einfachen Mitteln
In der alltäglichen medizi­ni­schen Praxis konzentriert sich Ruth Tichauer vor allem auf die wich­tigsten Volks­krankheiten wie Tuberku­lose, Mageninfek­tio­nen, Würmer, Rheumatismus, Zahn­verfall oder durch Hunger ver­ursachte Mangel­symp­tome. Sie verwendet die einfachsten, aber doch ef­fektiven medizini­schen Techniken. Sie gibt die bil­ligste, aber doch ebenso hei­lende Medizin. Sie stu­diert und in­tegriert die ein­heimischen me­dizinischen und pflanzlichen Kenntnisse. Sie wendet westli­che Medi­zin im Rahmen der Lebens­welt, den Vorstellungs- und Wahrnehmungsweisen der in­di­a­ni­schen Bevölkerung an. Nur die kom­plizierteren Fälle verweist sie an die großen Klini­ken in La Paz. Sofern die Patien­tInnen die Be­handlung dort bezahlen kön­nen. Die ambulante me­dizinische Ver­sorgung wird ergänzt durch so­zialpoliti­sche Hilfen, wie etwa durch Mittel zur Empfängnisver­hü­tung, durch Fa­mi­lienbe­ratung oder durch Rechts­beistand ge­gen­über Nach­bar­Innen, dem Land­be­sitzer oder dem Fabrik­be­sit­zer. Ebenso wird sie durch ei­ne ba­sisnahe Entwick­lungs­po­li­tik ergänzt: die Unter­richtung im Anbau von nah­rungsreichen Pflan­zen oder in der Verwen­dung von Be­wäs­ser­ungstechni­ken.
Überflüssiges vermeiden
Die Philosophie, die die­ser mo­bilen medizinischen, sozialen und entwicklungspo­litischen Ver­sor­gung zu­grundeliegt, be­schrieb Ruth Tichauer einmal als ‘sophisticated simplifi­cation’, al­so als die auf kluger Erfahrung be­ruhende Vereinfachung me­dizini­scher Dienste. Ihr Grund­prinzip: “Alles Überflüssige ver­mei­den” unterscheidet sich von der paralysierenden Armut der Armen, und meint stattdes­sen die selek­tive Abwesenheit von Din­gen und Aktivitäten, die von den wesentlichen Zielen ab­lenken. Es ist vielleicht eine säkularisierte jüdisch-kos­mopo­litische, je­den­falls keine christ­lich-westlich-missionarische Philosophie. In ihren prakti­schen Konze­quenzen mußte sie aber zugleich immer wieder gegen die Versuchungen des west­lichen Wohlstands, ge­gen westliche Fort­schritts­medi­zin, gegen die Widrigkeiten fi­nan­zieller und praktischer Schwie­rigkeiten, gegen die Wi­der­stände von Kirche, In­dustrie und Mili­tär, aber auch ge­gen die ab­leh­nende Haltung und Einfluß­nahme eines Teils der deutschen Ge­meinschaft in Bo­livien durch­gesetzt werden.
Inzwischen ist “La Doctora” – wie sie von den Aymara ehr­würdig genannt wird – weit über 80 Jahre alt. Sie ist immer noch bewun­dernswert aktiv, aber auch besorgt über die Zukunft ihres Lebenswerks. Die En­kel bereiten sich darauf vor, es später auf ihre eigene Art fortzusetzen. Viel­leicht gibt es ja weiterhin me­di­zi­nische PraktikantInnen, aber auch SozialarbeiterInnen oder so­zial engagierte Natur- und So­zial­wissenschaftlerInnen aus Deutsch­land, die für ei­nige Mo­na­te daran mitwir­ken wollen.

W. Spohn, In­stitut für Soziologie, Freie Universität Berlin, Babels­bergerstr. 14-16, 10715 Ber­lin.

Collage eines Kontinentes

Havanna und Sao Paulo – diese beiden Namen ste­hen für die zwei lateiname­rikanischen Kunstbiennalen, und für zwei recht unter­schiedliche, konkur­rierende, aber auch sich gegen­seitig er­gänzende Konzepte, der bildenden Kunst dieses Kon­ti­nentes ein in­ternatio­nales Fo­rum zu ver­schaffen. Die Kunst­messe von Sao Paulo wurde 1951 gegrün­det, al­so zu einem Zeit­punkt, als das offizielle Bra­silien sich mit­ten im Mo­dernisierungs­fie­ber be­fand. Er­klärtes Ziel war, der lokalen Kunstszene Anre­gungen zu ver­schaffen und ihr gleichzeitig in­ternatio­nale Ab­satzmärkte zu er­schließen. Ent­spre­chend wurde von vornherein da­r­auf gesetzt, KünstlerInnen und KunsthändlerInnen aus der ganzen Welt einzula­den. Da­ge­gen entstand in den achtziger Jahren die Bien­nale von Ha­vanna ex­plizit als kul­turelles und po­litisches Pro­jekt, um – ähnlich wie bei dem In­ter­nationalen Film­festival von Havanna – Kunst aus La­teinamerika und anderen Re­gio­nen der Drit­ten Welt ein Forum zu verschaffen.
Die Ausstellung “Havanna – Sao Pau­lo” zeigt jetzt sa­lomoni­scher­weise eine Aus­wahl aus beiden Biennalen von 1994. Ölge­mäl­de, Skulptu­ren, Fo­tografien, Installationen, Envi­ronments – die Ar­beitsmate­ri­alien der 33 Künstle­rinnen und Künstler sind so un­terschiedlich wie ihre Aus­drucksweisen. Ein postmodernes Stil­gemisch mit ei­nigen gemein­sa­men Bezugs­punkten im in­halt­lichen Be­reich.
Religiöse Qualen
für Aug`und Seele
Wie es sich für katho­lisch so­zi­alisierte Künst­ler­Innen ge­hört, arbeiten sich einige an sakralen Mythen ab. Bei dem drei­flügeli­gen Altar des venezo­la­ni­schen Künstlers Nel­son Garrido um­armt die le­gen­däre ita­lie­nische Pornodar­stellerin Cic­ciolina einen schwar­zen Chris­tus am Kreuz, des­sen äußerer Er­schei­nung durch Heiligen­schein aus Neon sowie drei wul­stige Stoffpe­nis­se die Krone aufge­setzt wird. Umrahmt wird das ungleiche Paar von einem con­junto aus Pin-Up Fo­tos, Putten­glanzbil­dern, Totenschä­deln und anderen illustren Gestal­ten. Noch qual­vol­ler für Aug` und Seele ist die Rauminstalla­tion “Mea culpa” der ar­gentinischen Künstlerin Kuki Benski. Ein gruf­tiger Raum mit Devolutio­nalien, altertümlichen Sa­do-Maso-Por­nofotos und kle­rikalen Schriften, die vor Unzucht war­nen: “No for­nicarás!” Fast wie Inventar einer Gei­sterbahn er­scheint der dazu­gehörige Altar. Der züchtigen Ma­donna ist eine nackte Brust auf­geklebt, die diese als Schwester je­ner nackten Sex­puppe outet, die davor mit ver­renk­tem Körper und gefes­selten Händen kniet. Die Frau als Hure oder Heilige, klassi­scher Ausdruck bür­gerli­cher Dop­pel­moral, die blasphemische Provo­kation als Gegenreaktion – nichts neues, aber immer noch ak­tuell, wenn man an die Rolle der ka­tholischen Kirche in Lateiname­rika denkt.
Um die “Ausrot­tung des Bö­sen” geht es auch bei den zwei Bildern der Brasi­lianerin Adriana Varejao: Zwei makabre Va­ri­anten stehen zur Auswahl: Ex­or­zismus durch “Einschnitt” oder durch “Überdosis”. Zwei Leinwände, auf denen an Fran­ciso Goyas Monster erinnernde dämonische Fa­bel­wesen skiz­ziert sind, werden auf grausige Art zerstört. Während bei der “Über­dosis” zwei medi­zi­nische Infusionsständer eine blaue Flüs­sigkeit in die Leinwand injizie­ren, welche diese an einer Ecke auf­platzen und das Gift wieder ausbrechen läßt, ist das an­dere Bild unter das Messer eines Chi­rurgen geraten. Die Lein­wand als blutige, klaffende Wunde, das her­ausgerissene Stück einer Leichenhaut gleich auf dem Seziertisch. Die Lein­wand selbst erscheint als Op­fer eines blindwütigen Ein­griffs von außen, der das zerstört, was er angeblich retten will.
Von grotesker Gestalt sind die sieben Straßen­hunde des Argen­tiniers Luis Frei­stav: Sie kratzen sich, sie scheißen, sie ko­pulieren – und verenden. Auf den ersten Blick wir­ken die Skulpturen aus Papp­maché fast wie mumifi­zierte Kadaver, fast meint man den Geruch der Armut, der Ver­wesung in der Nase zu spüren.
Indianischer Kult und Da­daismus
In dieser Ver­bindung von Material und Thema liegt der Schlüs­sel zu einigen der ein­drucksvollsten Objekte: Statt ed­le Materialien zu verarbeiten, werden Ver­satz­stücke der Re­alität zu Assem­bla­gen montiert.
Diese Art des Arbeitens zeugt zum einen von ei­ner Auseinan­der­set­zung mit der europäischen Objektkunst der Moderne: 1917 hatten die Dada­ist­Innen das Ende der bürgerlichen Kunst verkün­det. Der Franzose Mar­cel Duchamp stell­te einen industriell ge­fer­tigten Fla­schentrockner auf ein Podest und erklärte diesen kurzerhand zur Kunst. Im Span­nungsfeld zwischen Kunst und Anti-Kunst ent­stand das Konzept des Materialbildes, der Installa­tion, der Assemblage aus “objets trouvés”, vorgefun­denen Ge­gen­ständen – mal kitschig, mal poe­tisch, mal geheimnisvoll, pro­vo­zierend oder von bra­chialer Heftig­keit.
Die moderne Kunst Eu­ropas entstand allerdings auch nicht im luftlee­ren Raum. Bekann­terweise ka­men die entscheidenden Im­pulse für die deutschen Expres­sionistInnen oder für Picassos Ku­bis­mus aus der sogenannten “pri­mi­tiven” Kunst “exotischer” Kul­turen. Frustriert vom blut­leeren Aka­demismus der euro­päischen Kunst Ende des 19. Jahrhunderts, un­ternahmen viele Künstler­Innen ausgedehnte Fern­reisen, um der mü­den Ima­gination wieder auf die Beine zu helfen. Dabei wur­den zu Spott­preisen “Neger­plas­tiken” oder Kultgegenstände er­worben, im hei­mischen Atelier mit ge­rin­gen Abwand­lungen kopiert und als bahnbre­chende künstlerische Neu­entdeckung ausgegeben. Die Daheimgebliebenen konnten sich zu­mindest von den völkerkundli­chen Sammlungen des Lou­vre, des Britischen Museums oder der Preus­sischen Mu­seen inspirieren las­sen, wo die ge­plünderten Kunst­schätze europäi­scher Kolo­nien hinter Glas zu bewun­dern waren.
In vielen außer­eu­ro­päi­schen Kulturen, darunter auch bei indi­genen Völkern Süd­amerikas, ge­hört das, was wir heute als Ob­jek­te, Installationen oder Perfor­mances bezeichnen, zur kul­turellen Tra­dition. So grup­pieren die Xing-India­ner bei ih­rem Kuarup-Fest be­malte Baum­stämme zu “Envi­ronments”, die Cu­nas in Panamá bauen bei Hei­lungszeremonien ihre “Uchu”-Holz­skulpturen instal­lations­ar­tig auf. Ganz zu schweigen von den vie­len reli­giösen und ästhe­tischen Mischfor­men, die aus dem Aufeinandertreffen indige­ner, euro­päi­scher und afroameri­kani­scher Kul­tu­ren entstanden sind. Da entsteht nichts Eindeu­tiges, Ge­fäl­liges oder Ein­dimen­siona­les, was sich auf den ersten Blick erschließen läßt.
Trotzdem bevorzugten jahr­zehntelang gerade viele latein­ame­rikanische Künst­lerInnen, denen an einer eigenstän­digen kulturellen Identität gelegen war, die gegen­ständliche Malerei. Be­kann­testes Beispiel hier­für sind die mexikanischen muralistas, die Wand­maler im Um­kreis von Diego Rivera. Eine in­nere Verbin­dungs­linie zur Ob­jektkunst liegt allerdings darin, daß auch die Wand­gemälde be­wußt den klas­si­schen Kunstrah­men ver­lassen und sich auf alltäg­li­ches Terrain, in öffentli­che Ge­bäude, auf die Straße be­geben.
Mittlerweile scheint die Ob­jektkunst gerade für junge latein­amerikanische Künstler eine ide­a­le Mög­lich­keit zu sein, Re­alitäts­split­ter aufzugreifen und gegenein­an­der­zu­montieren.
Objektkunst: Medium für Realitätssplitter
Hinzu kom­men aber si­cher auch ökono­mische Motive: Mate­ri­al, das sich auf der Straße finden läßt, ist ein viel billigeres Ar­beitsmittel als Leinwand, edle Höl­zer oder Bron­ze. Auch der Transport ist oft nicht so auf­wendig. So wurden im letzten Jahr, angesichts der wirtschaftli­chen Engpässe der Bien­nale von Ha­vanna, die aus­wär­tigen Künst­ler­Innen gebeten, keine riesi­gen Skulpturen oder Lein­wände zu schicken, sondern nach Möglichkeit an Ort und Stelle Installationen auf­zubauen.
Die wirtschaftliche und politi­sche Si­tuation auf Ku­ba spiegelte sich auch auf an­dere Art in den Ex­ponaten der Bien­nale 1994 wie­der. Es wim­melte von Schif­fen: Während Ob­jekte wie die Konquistadoren­boo­te von Mar­cos Lora Read aus der Dominikani­schen Republik gewis­ser­maßen die Nach­hut des Ge­den­kens an die 500 Jahre Kolo­nia­lismus bilde­ten, enthiel­ten die Boote einiger kubani­scher Künst­lerInnen ei­ne recht ex­plo­sive Fracht. So etwa die As­semblage “Die Re­gatta” von Alexis Leyva: Einer Völ­kerwan­derung gleich, durch­que­ren un­zählige kleine Boote aus Holz, In­du­striemüll und ka­putten Gummilat­schen den Raum. Ge­fährte, so schä­big und wak­kelig wie die Boote, auf denen im gleichen Jahr, wo sich in Ha­vanna die Kunstwelt traf, Tau­sende Kubaner versuchten, die In­sel für immer zu verlas­sen. Noch deutlicher drückt sich die kubanische Künst­lerin Sandra Ramos aus: “Migraciones” sind die bei­den 1993 bemalten Köf­ferchen eti­kettiert, deren In­nen­futter das Thema in einer Mi­schung aus na­i­ver Verspielt­heit und Grausam­keit il­lu­striert. Während in dem einen noch ein Fischer träu­mend in seinem Kahn liegt und von Segeljachten, schnel­len Autos und blon­den Frau­en träumt, be­her­bergt der zweite Behälter die bei der Flucht Ertrun­kenen, de­ren Träume auf dem Meeresgrund zwi­schen Haien und al­ten Auto­reifen ihr feuchtes Grab finden.
Flucht und geopferte Leidenschaften
Mit Tod und ge­scheiter­ten Träu­men setzten sich auch die bei­den großflä­chi­gen Fotocol­la­gen “La pa­sión sacrificada” – “Die geopferte Lei­denschaft” von Paolo Gasparini aus­einander. Der gebürtige Italie­ner, der seit 1967 in Venezuela lebt, widmete sie zwei Legenden der la­tein­amerikani­schen – und eu­ropäischen – Lin­ken: Che Gue­vara und Tina Modotti. Rechteckige Schwarzweißfotos, zum Teil blutrot oder in kühlem Blaugrau einge­färbt, konfron­tie­ren histo­ri­sche Fotos mit aktuel­len Bildern aus Mexiko, wo die Fotografin und linke Akti­vistin Tina Modotti jah­relang lebte, be­zie­hungs­weise aus Bolivien, wo Che Guevara als Guerillero starb. Ches toter Körper, aufgebahrt, be­gut­achtet und aus verschiedenen Rich­tungen foto­grafiert, kontra­stiert mit dem Foto eines ambu­lanten Poster­ge­schäftes, wo die Ikone Che neben Madonnen­bildchen und Rambopo­stern zum Verkauf aus­hängt. Noch kom­plexer die Col­lage zu Tina Mo­dotti: Alltags­fotos aus dem heu­ti­gen Mexiko, das Porträt eines alten Mannes, Ti­nas schönes, ru­higes Gesicht ne­ben einem Porträt von Emi­liano Zapa­ta, ihr nack­ter Körper auf einer Son­nenterasse, der am rechten Bildrand in das Bild ei­nes erschossenen Ar­beiters über­geht. Und ein Foto von einer Versteige­rung im Londoner Kunstauktions­haus Sotheby: Nach ih­rem Tod kommt Tina Modottis berühmtes Stilleben aus dem mexikanischen Bür­gerkrieg mit Gitarre, Sense und Patronengurt unter den Hammer.
“Die geopferte Leiden­schaft” oder “Die ver­marktete Leiden­schaft”: Wenn sich lateinamerika­nische Künstler­In­nen auf die internationalen Pu­bli­kums- und Han­delsmärkte be­ge­ben, müssen sie auf­passen, nicht auf Fol­klore, Armut oder Revolutionsro­man­tik festgelegt zu wer­den. Die Ausstellung “Ha­vanna – Sao Paulo” setzt der­artigen Klischees eine schil­lernde Stil- und Themenvielfalt entgegen. Allerdings um den Preis, daß es auch schon wieder etwas unübersichtlich wird.

“Havanna – Sao Paulo: Junge Kunst aus Latein­amerika bis zum 5. Juni im Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin, 030/397870

Stabilität auf Zeit

Die kleine Minderheit von vier Millionen BürgerInnen, die nach Jahren der Deindustrialisie­rung und Deregulierung von der argentini­schen Mittelklasse noch übriggeblieben sind, haben wohl am mei­sten von der Währungs­stabilität profitiert. Gestiegene Gehälter in der Pri­vatwirtschaft und in leitenden Positionen der Verwaltung bei einer erleichter­ten Kreditaufnahme haben ihr Zugang zu den mo­dernsten Im­portprodukten ermöglicht. In den Jahren galoppierender Inflation unter der Regierung Alfonsín schien ein gewisser Nach­holbedarf entstanden zu sein, der in den letzten Jahren befriedigt werden kann wie zu Zeiten des “süßen Geldes” (plata dulce) unter der letzten Militärdiktatur. In erster Linie wurden die flüssi­gen Dollar-paritätischen Pesos in langlebige Konsumgüter, Ap­partements und Reisen umge­setzt.
Mehr denn je ist der Konsum nicht nur auf die unmittelbare Bedürfnis­befriedigung ausge­richtet, sondern darauf, das neu Erwor­bene zeigen zu können. Ein Auto sollte importiert sein, auch wenn auf dem heimischen Markt vergleichbare Qualität zu bekommen ist. Bei Bekleidung und Schuhen zählt nichts mehr als das sicht­bare Markenzeichen. Reisen werden danach gebucht, was gerade “in” ist. Dazu zählen Disneyland in Orlando, Florida, oder Cancun in Mexico.
Heute fährt der Mittel­klasse-Argentinier allerdings auch nach Punta del Este, in den uruguayi­schen Badeort der “Reichen und Schönen” des Cono Sur, und wenn’s nur für eine Woche ist.
Konsum und Image
als Lebensinhalt
Natür­lich wird auch an die Bedürf­nisse der Kinder gedacht. So rechnete das bedeutendste politische Wochenmagazin “Noticias” kürzlich vor, was die Spröß­linge der Mittelklasse so benötigen: Für Studium, Un­terhaltung, Bekleidung, Miete und Fahrtkosten kommen mo­natlich ca. 850 US-Dollar zu­sammen, etwa das Dop­pelte ei­nes argentinischen Min­destlohns.
Viele haben sich zur Erfül­lung dieser lang gehegten Wün­sche bis über die Oh­ren ver­schuldet. Selbstverständlich sind Kredite in US-Dollars aufzu­nehmen. An­sonsten gilt nach wie vor die beliebte Zah­lungsweise mit Kreditkarte, wobei man bis zur Abbuchung im besten Fall zwei Monate gewinnen kann, und es wird auf Raten gekauft.
An­gesichts seiner eigenen Ver­schuldungssituation resü­miert ein selbstkritischer Gesprächs­partner, die Ar­gentinierInnen hätten wohl eine ökonomi­sche Harakiri-Mentalität entwickelt: Was zähle, sei der Konsum im Augenblick, auch wenn die Verschuldung beispiels­weise bei einer Abwer­tung des Peso sicher in den fi­nanziellen Ruin führe.
Für Aufsehen sorgte Ende 1994 die Veröffentlichung der offiziellen Arbeitslo­senstatistik. Mit über 13 Prozent wurde ein neuer Rekord aufge­stellt, in ei­nem Land, dem sein Präsident vor fünf Jahren eine “produktive Revolution” versprochen hatte. Gleich nach der Veröffentli­chung meldeten sich Regie­rungsvertreter und schließlich der Präsident, an dem Besorg­nis über die soziale Lage im Lande sonst abperlen wie an einem Re­gencape, höchstpersönlich zu Wort, um die Daten als übertrie­ben zu demen­tieren. Bei höchstens 9 Prozent liege die Arbeitslo­sigkeit, rechnete Menem vor.
Tatsächlich jedoch, so belegt Susana Torrado, ehe­mals hohe Funktionärin des nationalen Sta­tistikinstituts INDEC, haben rund 40 Prozent der Argenti­nierInnen Probleme mit dem Ar­beitsplatz. Offiziell würden je­doch le­diglich die Personen stati­stisch berück­sichtigt, die sich ar­beitslos gemeldet hät­ten. Wer sich dagegen innerhalb der letz­ten Woche nicht mehr arbeitslos gemeldet habe, falle aus der Sta­tistik. Ebensowenig tauchten diejenigen in der Da­tensamm­lung auf, die hoffnungslos unter­be­schäf­tigt seien, mit Ein­künften unter­halb des Ex­istenzminimums auskommen müßten oder schwarz arbeiteten. Dabei gebe es von Mal zu Mal weniger Lohnab­hängige und immer mehr unabhängig Be­schäftigte, womit in erster Linie infor­melle Tätig­keiten gemeint sind – etwa ambulante Händ­lerInnen.

An der Spitze der Arbeitslo­senstatistik stehen Städte wie San Mi­guel de Tucu­mán, die wichtigen Hafenstädte Bahía Blanca und Rosa­rio und die Provinzhaupt­stadt Santa Fé. Im Großstadtgürtel um Buenos Ai­res liegt die offi­zielle Arbeitslo­senquote bei 14,9 Prozent, und die Industriebetriebe sterben weiter. Gerade hier hat man Angst vor den Kon­sequenzen der Marktöffnung im Zuge des Mer­cosur. Der brasilianischen Industrie­produktion fühlt man sich nicht gewachsen. Schon jetzt sind in den Straßen zahlrei­che Volkswagen do Brasil zu se­hen, und auf den Landstraßen aus Richtung Norden rollen im­mer mehr brasilianische LKWs, ob nun mit Auto­teilen oder Brahma-Bier bela­den.
Der Besitzstand
wird verteidigt
Wichtigste Antwort der Poli­tik auf die wachsende Arbeitslo­sigkeit ist ein Geset­zespaket zur weiteren Flexibilisierung der Ar­beit. Erwartet werden Produktivitäts­zuwächse und eine Verbesserung der in­ternationalen Konkurrenzsitua­tion, denn die Arbeitskraft sei in Argentinien nach wie vor teurer als in den Nachbarländern – ver­sprochen wird eine rasche Ab­nahme der Arbeitslosenzahlen.
Publikums­wirk­samer ist aller­dings eine mit Unter­stüt­zung der Medien betriebene Kampa­gne ge­gen illegal Beschäftigte, die über­wiegend aus Chile, Peru und Bolivien kommen. Daß diese auf dem Bau und in einfachen Dienstleistungen Eingesetzten zahlenmäßig eigentlich keine Rolle spie­len, stört dabei wenig. “Die Chilenen nehmen uns die Ar­beitsplätze weg”, heißt es.
Der Staat, hier personifiziert durch den Innenminister, veran­laßt Raz­zien, und das Fernsehen setzt alles ent­sprechend ins Bild: Illegale ausländische Arbeiter werden wie Schwerverbrecher in Handschellen abgeführt, als erste Mel­dung in den Abendnach­richten. Die neue­sten Daten des INDEC belegen dagegen: Selbst wenn alle in den letzten fünf Jah­ren nach Argentinien ge­kommenen Arbeits­kräfte in ihre Heimat­länder zurückkehren würden, sänke die Arbeitslosig­keit um le­diglich 0,2 Prozent.
Insbesondere im Großstadt­gürtel von Buenos Aires sind Armut und soziale Ungerechtig­keit weiter gewachsen. Hier tei­len sich 54 Prozent der am unte­ren Rand der Einkommenspyra­mide Angesiedelten un­ter­einander ebensoviel wie die 6 Prozent an ihrer Spitze. Die so­zialen Konflikte und die Krimi­nalität nehmen drastisch zu, und auch hier reagiert der Staat demon­strativ mit harter Hand. Immer häufiger werden beson­ders jugendliche Delin­quenten von Polizisten umgebracht.
Medien, Glanz und Glitter trüben die Wahrnehmung
Wäh­rend die Reichsten in pri­vat bewachten Vierteln des Hauptstadtbezirks wohlge­schützt leben, sind in dieser Region ange­siedelte Kleinun­ternehmen und Mittel­klasse-Wohnungen Ziel von Einbrüchen und Rau­büberfällen. Immer häufiger verteidigen die Besitzer ihr Ei­gentum mit der Waffe in der Hand, und die Justiz zeigt dabei weitgehend Verständnis.
Vor etwa zwei Jahre erregte der Fall eines Mannes Aufsehen, dem mehr­fach sein Cassettenre­corder aus dem Wagen gestohlen worden war. Als er bei einem weiteren Diebstahlversuch den Täter stellen konnte, erschoß er ihn auf of­fener Straße. Nach wie vor befindet sich der Schütze, ein Ingenieur und braver Fami­lienvater, auf freiem Fuß. Das Ge­richt gestand ihm zu, er habe sich in einer Schocksituation be­funden.
Ähnliches wer­den wohl ein Vater und sein Sohn geltend ma­chen können, die im Dezember nach dem Diebstahl ihres Autos den po­tentiellen Täter verfolg­ten, mit mehreren Schüssen verletz­ten, auf ein leeres Grund­stück warfen und dort verbluten lie­ßen.
Daß die Wahrnehmung der wirklichen sozialen Lage allzumal bei der konsumorien­tierten Mittelklasse getrübt er­scheint, dafür sorgen die Wer­bung und die Me­dien, allen voran das Fernsehen. Geradezu obszön erscheinen in diesem Kontext die Hinweise auf Schlankheits­kuren, Diäten und Fitness, die neben der Markenklei­dung die äußere Er­scheinung der moder­nen Argen­tinierin und ihres männlichen Pendants vervollkommnen sol­len. Vor- und Nachmittagspro­gramme des Fernse­hens sind mit Telenovelas argentinischer Pro­duktion, venezo­lanischen oder mexi­kanischen Culebrones, die unendli­chen Fernseheserien, oder Spielshows ge­füllt.
Unterhaltung ist alles, je greller und lauter, um so besser. Die höchsten Ein­schaltquoten erzielt nach wie vor die nie al­ternde Mirta Legrand, die seit Jahren Gäste aus Politik, Sport und Showbusiness zum Small­talk beim Mittagessen einlädt. Einmal im Jahr darf auch der Präsident kommen und nach Herzenslust plaudern.
In den Abendprogrammen dominieren seit zwanzig Jahren dieselben Namen die Diskussionssen­dungen. Bernardo Neu­stadt (“Tiempo Nuevo”) ver­breitete seine reaktionären Weis­heiten schon unter der Militärdikta­tur. Mariano Gron­dona tat dies frü­her mit ihm ge­meinsam, hat mittlerweile jedoch sein eigenes Programm (“Hora Clave”). Die beiden Altmeister haben inzwi­schen mit “Hadad y Longobardi” eine ju­gendliche Konkurrenz bekommen. Und bei allen haben in den letzten Mo­naten Sex und Crime als Thema gegenüber der Politik an Ge­wicht gewonnen.
Die Korruption ist öffentlich wie selten – macht nichts
Die Korruption grassiert. Pa­gina/12 als einzige bedeutende kritische Tageszeitung mit einer Auflage von über 100.000 Ex­emplaren denun­ziert zwar nach wie vor unermüdlich die zahlrei­chen Korruptions­fälle. Aber auch sie mußte zum Jah­resende fest­stellen, daß zwar einige Fälle vor Gericht verhandelt wurden, kein einziger aber auch zur Verurtei­lung kam.
Zwar stehen über 70 hohe FunktionäInnen und persön­liche FreundInnen des Präsidenten aus Unter­nehmerkreisen vor Gericht, aber längst ist die Justiz selbst Teil des Korrupti­onssystems ge­worden. Um so un­verfrorener wird in die Kameras der Nach­richtenprogramme gelogen, um so heftiger werden Journali­stInnen der Ver­leumdung be­schimpft.
Während die argentinischen RentnerInnen nach wie vor für die pünkt­liche Auszahlung ihrer Renten demon­strieren müs­sen, wurden in der staatlichen Ren­tenversicherung PAMI in den Jah­ren der Menemregierung 1500 sogenannte ñoquis in den Gehaltslisten geführt. Das sind Funktionäre, die ledig­lich am Monatsende an ihrem Arbeits­platz erscheinen, um den Ge­haltsscheck entge­genzunehmen. Hier bediente die peronisti­sche Regierung ihre Klientel teilweise mit Gehältern zwischen 3.000 und 5.000 US-Dollar monatlich.
Lästig scheint die Denunzia­tion der Korruptionsskandale in den Me­dien für die Regierung trotzdem zu sein. Wie sonst er­klären sich die Versuche der Re­gierung, die Presse mundtot zu ma­chen. Der dritte Anlauf wurde Anfang des Jahres gestar­tet: Die neueste Gesetzesvorlage zum soge­nannten Ley Mordaza (Knebel) wurde von Menem selbst eingebracht. Es droht Jou­nalistInnen, die “Verleum­dun­gen” publi­zieren oder “falsch be­richten”, mit ho­hen Strafen. Für die veröffentli­chenden Me­dien sollen Geldstra­fen bis zu 200.000 US-Dollar und Ver­pflichtungen zur Ent­schädigung der Betroffenen bis zu 500.000 US-Dollar fällig werden.
Ein weiterer Schritt, kleinere, kritische Me­dien ökonomisch auszuschalten, ist die Verpflich­tung, sich unabhängig von ihrer Größe in Höhe von 500.000 US-Dollar versichern zu lassen. Zu­sätzlich soll eine neue Rechtsfi­gur geschaffen werden, die so­genannte “falsche Beschuldi­gung”. Da­nach dürfen keine Verdächtigungen, die “auf falschen Tat­sachen beruhen”, mehr veröffentlicht werden.
Die Mittelklasse steckt ob ih­rer vielen Kredite tief in der menemistischen Schuldenfalle. Sie wird den Präsiden­ten wählen, der am glaub­würdigsten die Fortsetzung der Währungs­stabilität ver­spricht. Menem machte mit der Wahl des jetzi­gen In­nenministers Ruckauf zu seinem Kandidaten auf die Vizepräsident­schaft ein weiteres Angebot an die Mittel­klasse.
Ruckauf, unter Isabel Peron 1975 schon einmal Mi­nister, ist ein aalglatter Law and Order-Vertreter. Er verspricht hartes Durch­greifen gegen Kriminelle und Schutz des Besitzstandes. Menem selbst scheint Garant für den Wahlsieg im alles entschei­denden Stim­menbezirk des ver­armenden Großstadtgürtels von Buenos Ai­res.
Ausschlaggebend auch hier: die Währungsstabi­lität nach den Jahren der Geldentwertung unter der Regierung Alfonsín mit sei­ner “Radikalen Bürgerunion”, UCR. Zudem bietet eben diese zweite große Volkspar­tei keine Alternative. Ihr erst vor wenigen Monaten gekürter Spit­zenkandidat Massa­chessi, bisher Gouverneur der Agrarpro­vinz Rio Negro, scheint von vorne­herein weit abgeschlagen. Auch er ver­spricht die Fortführung der Stabilität allerdings mit mehr so­zialer Gerechtigkeit. Die wich­tigsten wichtigsten Schritte der ökono­mischen Umstrukturie­rung hatte die UCR in den letzten Jah­ren mitgetragen.

Der politi­sche Pakt zwischen den beiden großen Parteien, der zur Verfas­sungsänderung zwi­schen dem aktuellen Präsidenten und seinem Vor­gänger arran­giert worden war, scheint für die Wäh­lerInnen ein weite­rer Grund, sich eher für eine be­reits bekannte Regie­rungspolitik zu entscheiden, anstatt mit der UCR ein neues Risiko einzuge­hen.
Die Frente Grande (FG), das linke Op­positionsbündnis, hat in den letzten Mona­ten vor allem personalpoli­tisch von sich hören lassen. Unter Protest gegen den Führungsstil und den Verlust linken Profils trennte sich Pino Solanas von der FG. Es gehe an­scheinend nur noch darum, wer Präsident­schaftskandidat werde, monierte der Filmema­cher. In­zwischen hat er selbst eine neue Partei gegrün­det, die ihn sicher als Präsident­schaftskandidaten auf­stellen wird.
In der FG selbst ist der pero­nistische Dissident Chacho Alva­rez Spit­zenkandidat. Unter seiner Führung schloß sich die FG mit anderen Oppositionsgrup­pie­run­gen zusammen, deren wichtigste von einem weiteren Sprößling des Anti­menemismus, dem Gou­verneur von Neu­quén, José Octavio Bordón, geführt wird. FREPASO heißt dieses neue Oppositions­bündnis nun, Frente País Solidario.
Zum Gründungs­akt im De­zember in Buenos Aires kamen immerhin rund 10.000 Men­schen. Nach der end­gültigen Verabschie­dung von radikalen Positionen etwa der PC und der Vereinigung mit Bordón, der al­lerdings ein relevanteres Stim­menpotential mitbringt, soll nun bald durch eine offene Wahl ent­schieden wer­den, wer von den beiden Ex-Peronisten gemeinsa­mer Präsident­schaftskandidat der FREPASO werden soll. Bisher treten Alvarez und Borbón ge­meinsam auf, Hauptthemen: Korruption und soziale Unge­rechtigkeit. Auf ihr wirt­schafts­po­liti­sches Konzept angespro­chen, läßt sich die Kernaussage der Link­sopposition jedoch so zu­sammenfassen: “Wir ga­ran­tie­ren die Stabilität besser als der Mene­mismus”, so Chacho Alva­rez in einem Inter­view.
Bei solch offen­sichtlichem Mangel an politi­schen Alter­nativen scheint die Wiederwahl Carlos Menems sicher. Politik ist darauf reduziert, Währungs­stabilität zu garan­tie­ren. Obwohl offensichtlich ist, daß auch die jetzige Regie­rung dies längerfri­stig nicht kann, hat die argen­tinische Mit­tel­klasse doch keine Wahl, sie hat nur eine Hoffnung und eine Op­tion.

Editorial Ausgabe 249 – März 1995

Ein Gast fehlte zur Geburtstagsfeier: Alberto Fujimori, peruanisches Staats­oberhaupt. Am 3. Februar hatten sich die Präsi­denten der Staaten Venezuela, Pa­nama, Kolumbien, Ecuador und Bolivien im ve­nezolanischen Städtchen Cumaná ge­troffen, um des 200. Geburtstags Anto­nio José de Sucres zu gedenken. Sucre war ein Untergebener und enger Ver­trauter Simon Bolívars, des Gran Li­bertador, an dessen Seite er für die Unab­hängigkeit von Spanien und den großen Traum eines vereinten Amerikas kämpfte. Ohne Angabe von Gründen hatte der pe­ruanische Präsident sein Kommen in letzter Minute abgesagt. Da­bei waren die Gründe offensichtlich. Schließlich war nur eine Woche zuvor mit dem Abschuß eines peruanischen Militär­hubschraubers in der Sierra del Condor der Grenzstreit der beiden “Brudervölker” Ecuador und Peru in einen Grenzkrieg umgeschlagen.
Knapp einen Monat zuvor hatten sich die Präsidenten der “Bolívar-Erben” schon einmal in Cumaná, der Geburts­stätte Sucres, getroffen. Es ging um den 1969 ins Leben gerufenen Andenpakt, der wie kaum ein anderer Wirtschaftsverbund der Welt an chronischer Lethargie krankt. Die meisten Planungen wurden wieder ver­worfen oder schlicht nicht umgesetzt. Kaum eine einzige der beschlossenen wirtschaftlichen Kooperationsmaßnahmen wurde in die Tat umgesetzt. Das letzte Treffen hatte 1991 stattgefunden. Danach verabschiedete sich Peru unter Berufung auf interne Schwierigkeiten zunächst ein­mal von den Andenpaktverhandlungen. Jetzt, vier Jahre später, wagt man einen erneuten Anlauf. Doch die Begeisterung hält sich in Grenzen. Kolumbien und Ve­nezuela schielen gen Norden nach Me­xiko, Peru hält sich zurück und Bolivien entdeckt seine Sympathie für den Mer­cosur.
Die Einheit, von der Bolívar und Sucre geträumt hatten, ist damit so weit entfernt wie nie zuvor. Zumal Peru und Ecuador bei genauerem Hinsehen nicht die einzi­gen Staaten der Region sind, in denen unterschwellig alte Gebietsansprüche be­stehen, die früher oder später zu einem ähnlichen Grenzkonflikt eskalieren könn­ten. Bolivien träumt vom erneuten Zugang zum Pazifik, Peru von Wüstengebieten im heutigen Chile, usw. Weit entfernt sind die betroffenen Länder von der Einheit, die Bolívar als Ideal entworfen hatte. Einer Einheit, die auch da­mals mit der Realität wenig gemein hatte. So wurde schon Sucre, den Ecuador als eigenen National­held beansprucht, da er die meiste Zeit seines Lebens in der Hauptstadt Quito verbrachte, von den ei­genen Leuten ver­raten, als er in Peru ge­gen den gemein­samen Feind Spanien kämpfte.
Heute ist die Unabhängigkeit Perus und Ecuadors erneut gefährdet. Die Be­dro­hung kommt aus den Zentralen der Welt­bank und des Internationalen Wäh­rungs­fonds, von wo aus immer neue Struk­tu­ranpassungen zu Lasten der Be­völke­rungsmehrheit verordnet werden. Die Re­gie­rungen verkommen auf diese Weise zu bloßen Ausführungsorganen. Um ihre ei­gene Machtlosigkeit zu kaschieren, set­zen die herrschenden Politiker und Mili­tärs auf Nationalismus und beschwören die in­nere Einheit durch chauvinistische Parolen.
So ging es dem peruanischen Schrift­steller und früherem Präsidentschafts­kandidaten Mario Vargas Llosa an den Kragen, der als einer der wenigen In­tellek­tuellen seines Landes das Blut­vergießen verurteilte: Er wurde als “vater­landsloser Verräter” gebrandmarkt und aus dem na­tionalen Schriftstellerver­band aus­ge­schlossen. Im Säbelgerassel der letzten Wochen wurden vernünftige Stim­men leicht über­hört. So etwa, als Ge­werk­schaftsführer beider Länder den Krieg kri­ti­sierten und darauf hinwiesen, daß Hunger und Elend der eigentliche Feind seien, den es zu be­kämpfen gilt.

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