Schöne Frauen und sterbende Helden

Zwei Dinge sind im mexikanischen Film of­fenbar unverzichtbar: Eine wunderschöne Frau und ei­n/e ster­bende/r Pro­tagonistIn am Schluß. Dieser Eindruck drängt sich jedenfalls nach dem Genuß von fünf der insge­samt sieben cineastischen Werke aus dem mit­telamerikanischen Land auf, die im Rahmen des diesjährigen Berli­ner Film­festivals gezeigt wurden. Von beidem können es auch mal mehrere sein, aber ganz ohne geht es offenbar nicht. Re­alitätsnah erscheint das häu­fig, aber nicht immer auftauchende Motiv “Fluchtpunkt USA”. Das Sym­bol für den Traum vom besseren Le­ben. Und Sex­szenen finden, wenn sie in mexikanischen Filmen vor­kommen, fast immer auf (Schreib-)Tischen oder Stühlen statt, die sich bisweilen auch eher ma­gisch denn realistisch durch den Raum bewegen.
Verwunderliche Gasse
Um mit dem mexikanischen Wett­bewerbsfilm anzufangen, hier waren gleich alle genannten Elemente anzu­treffen. Ob gerade “El Callejón de los Milagros” (Die Gasse der Wunder) deshalb für den Wettstreit um den ‘Gol­denen Bären’ auserkoren wurde, weil darin eine ausgesprochen attrak­tive Darstellerin zum Einsatz kommt oder eine besonders tragische Haupt­person am Ende aus dem Leben schei­det, läßt sich nicht hin­reichend klären. Es han­delt sich jedenfalls um die auf Mexiko übertragene Verfilmung des gleich­namigen Romans des ägyp­tischen Literaturnobel­preisträgers Nagib Mahfuz, der Ende vergangenen Jah­res in seinem Heimatland nur knapp einen Anschlag fundamentalistischer Grup­pen überlebte. Wäh­rend das Original in den 40er Jahren in Kairo spielt, hat Regisseur Jorge Fons die Geschichte über das Schicksal der “einfachen” Leute” auf das moderne Mexiko über­tra­gen. Dabei ließen sich gewisse Un­gereimtheiten nicht vermeiden. Der Film besteht aus vier Teilen, wobei die ersten drei an ein und demselben Sonn­tagnachmittag in der ‘Gasse der Wunder’ in Me­xikos Altstadt ihren Aus­gang nehmen. Sie be­ginnen immer mit der derselben Szene eines Do­minospiels von vier recht wunder­lichen Gestalten und schildern die Ereignisse aus der Sicht der drei Hauptfiguren, wobei je­weils neue Aspekte hin­zugefügt werden.
Im Mittelpunkt der er­sten Episode steht Ru­tilio, der Besitzer der Bar in der ‘Wundergasse’, in der nicht nur re­gelmäßig Domino gespielt wird, son­dern wo sich auch die Nachbarschaft trifft. Unmittelbar nach seinem 30. Hochzeitstag entdeckt er ebenso plötz­lich wie unvermittelt ho­mosexuelle Gefühle, die er überraschend offen zu le­ben beginnt. Eine fami­liäre Katastro­phe bahnt sich an, der aufmüpfige Sohn wird verstoßen und landet schließlich im Wunderland USA. Auch wenn das Bemühen von Regisseur Fons löblich ist, sich dem im mexika­nischen Kino stiefmütterlich behan­delten Thema der Homosexualität ernsthaft zu nähern, wirkt dieser Ver­such doch sehr bemüht und in einer machistischen lateinamerikanischen Gesellschaft un­glaubwür­dig.
Der zweite Teil des Films dreht sich um Alma, jene im mexikanischen Film unvermeidliche Schönheit, die von der populären Se­riendarstellerin Salma Hayek gespielt wird. Sie ist hin- und hergerissen zwischen drei Män­ner­(stereotype)n: Da gibt es den ju­gendlichen Lieb­haber, den Friseur Abel, einen alternden lüsternen Laden­besitzer, auf den eigentlich ihre Mutter ein Auge geworfen hatte, und einen Zuhälter im schicken roten Sport­coupé, der Reichtum und ein anderes Leben verspricht. Abel zieht mit sei­nem ver­stoßenen Freund in die USA, um mit viel Geld zu­rückzukommen, der ältere Herr erliegt rechtzeitig vor der geplanten Hochzeit dem plötzli­chen Herztod und Alma landet nach an­fänglichem Zögern im Edelpuff. Die dritte Epi­sode schildert das Leben aus der Sicht der Haus­besitzerin Susanita, einer ältlichen Jung­fer, die sich regel­mäßig die Kar­ten legen läßt und in un­verkennbarer Torschluß­pa­nik den unheilbar klep­tomanischen Ange­stell­ten aus Rutilios Bar ehelicht.
Der vierte und letzte Aufzug führt die Schick­sale der Hauptfiguren schließlich zusammen. Abel und der Sohn Rutilios kehren aus den USA zurück – allerdings ohne den erhofften Reichtum – und das Schicksal nimmt un­weigerlich seinen Lauf. Der fast zweistündige Streifen lebt dabei von der Sympathie für die einzelnen Figu­ren, und das mit unverkennbarem sozialem Anspruch. Es ist auch ein Film über die trostlosen Aussichten der heranwachsenden Generation im NAFTA-Land Mexiko, ge­mischt mit der nötigen Dosis Romantik und ver­klärter Illusion. Das Potpourri von so unter­schiedlichen Schicksalen liefert dabei viel eher den Stoff, aus dem üb­licherweise Telenovelas gestrickt wer­den. Aus­gedehnt auf 25-30 halb­stün­dige Folgen hätte die “Gasse der Wunder” Mil­lionen Fernsehzuschauer in Lateinamerika in ihren Bann ziehen können, an­statt das Berlinale-Pub­likum mit recht trivialer Romantik zu trak­tieren. Dann hätte sich auch die Hauptdarstellerin Hayek die von mäßi­gem Erfolg gekrönten Versuche er­sparen können, zum Genre des Spiel­films zu wech­seln.
Los vuelcos del corazón
Dem komplexen Thema von Dog­matismus, Parteidis­ziplin und Gewissen widmet sich der Film des Dreh­buch­autors und Regisseurs Mitl Valdez aus dem Jahre 1993. Im Unterschied zu den meisten anderen me­xikanischen Filmen spielt die Geschichte in der Vergangenheit, mitten im Zweiten Weltkrieg irgendwo in Mexiko. Auf der Grundlage der Erzählung “Resurrección sin vida” (Auferstehung ohne Leben) von José Revueltas be­schreibt Valdez das Leben des Ro­manautors José An­telmo Cruz. Als po­li­tischer Aktivist verübte dieser Atten­tate auf US-amerikanische Waffen­transporte durch mexika­nisches Terri­torium, bis die Parteileitung nach dem Überfall des Deutschen Reichs auf die Sowjetunion derartige Aktionen auf­grund der neu entstandenen Allianz zwischen Rußland und den USA um­gehend untersagt. José verliebt sich in die unvermeidliche attraktive Frau des Films und wird mit dem Wunsch kon­frontiert, aus der Parteiarbeit auszu­stei­gen. Da verlangt die Füh­rung eine Aktion, die nicht nur seine uneinge­schränkte Loyalität er­fordert, sondern den Ro­manautor in unüberwind­liche Gewissenskonflikte stößt.
Der einzige Ausweg liegt in der all­zeitig prä­senten und nie vollen Te­quila-Flasche. José findet bei der frustrierten Prostituierten Raquel Un­terschlupf und schreibt sich, sofern es der Al­koholspiegel ermöglicht, seine Probleme mit der Partei und ihren dog­matischen Vorstellungen von der hochgradig ge­schädigten Leber. Ein Selbstmordversuch wird von Raquel vereitelt, doch das Schicksal nimmt in Form ihres früherem Zuhälters, dem Drogenhändler Nerei­das, seinen un­auf­halt­samen Lauf.
Insgesamt ein gut ge­meinter, redli­cher und se­henswerter Film über ein wichtiges Thema, der allerdings einige Fragen offen läßt und um schwer nachvollziehbare Kon­struktionen of­fenbar nicht herumkommt. Die Ver­bindung zwischen dem aus dem Ge­fängnis aus­gebrochenen Drogenhändler und Zuhälter und der Hauptfigur José entsteht gänzlich un­vermittelt und wirkt künstlich. Eine Ne­benhandlung, die aus allzu sichtbaren dra­ma­turgi­schen Gründen in das Dreh­buch ein­gearbeitet wurde. Unglücklich er­scheint die deutsche Übersetzung des Film­ti­tels. Zwar ist ‘Herz­flimmern’ eine denk­bare Todesursache im alkoholi­sierten Zustand, aber José stirbt of­fensichtlich nicht daran, sondern an einer Kugel im Bauch. Und das nicht mit dem Leben vereinbare ‘Kammerflim­mern’ ist ja ohnehin nicht gemeint, so daß entweder ‘Überschläge des Herzens’ oder aber auch ‘Herz­stiche’ zutreffender wäre, sofern auf der wörtlichen Übertragung des Titels bestanden wird.
Hasta morir
Bei diesem Film von Fernando Sa­riña, der ebenso wie die folgenden auf der Suche nach hie­sigen Verleihern auf dem Film-Markt gezeigt wurden, ent­hält bereits der Titel unübersehbare Hinweise auf das typisch mexikanische Ende. Zwei Kindheits­freunde, die ir­gendwann ihre Blutsbrüderschaft besiegelt hatten, treffen sich wieder, nachdem der ältere in Tijuana an der US-Grenze die Grundzüge des krimi­nellen Handels und Überlebens gelernt hatte. Mit kleinen Über­fällen wollen sie Geld zusammenbekommen, um ih­ren großen Coup, die Entführung eines Ge­schäftsmanns in Tijuana, ausführen zu können. Mit dem Lösegeld wollen sie sich in Los Angeles ein schönes Leben machen. Durch einen Affekt des Jüngeren wird bei einem Überfall auf einen Su­permarkt ein Wachmann er­schossen, er muß aus der Stadt flie­hen und zieht nach Tijuana. Dort er­fährt er Dinge, die ihn an der Zuver­lässigkeit sei­nes älteren Bluts­bruders zweifeln lassen. Dieser er­liegt wäh­renddessen bei dem Versuch, sich als sein Intimfreund auszuge­ben und so an ein Erbe heranzukommen, dem Charme von dessen Cousine, des un­vermeidlichen wunderschönen Ge­schöpfs. Die Gefühle zu ihr ver­mögen es nicht nur, den als Unterlage beim Sex benutzten Stuhl gar wun­derlich durch die Wohnung zu bewegen, son­dern läu­tern ihn derart, daß er seine kriminellen Pläne begräbt. In den Au­gen seines Freundes ist das der letzte Beweis dafür, daß er verraten wurde. Das Ende ist nicht schwer zu erraten, wenn auch durch einige dramaturgi­sche Tricks recht spannend ge­staltet. Ein mäßig un­terhaltsamer Film, ir­gendwo im Niemandsland zwischen spanischem Pun­donor-Roman, Action-Story und Geschichte über die Gene­ration X.
Dos crímenes
Zwei Verbrechen kündigt der Titel dieses Streifens von Regisseur Roberto Sneider an, der Verfilmung des gleich­namigen Romans von Jorge Ibarguen Goita. Deren vier sind jedoch im Ver­lauf der 107 Minuten zu beobachten. Zwei davon zeichnen sich allerdings dadurch aus, daß die Hauptfigur Marcos fälsch­licherweise als Täter ver­dächtigt wird. Nach einem Überfall auf die staatliche Behörde, in der er ar­beitet und ohne es zu wissen an der Aktion teilnimmt, kann er in letzter Sekunde fliehen, getrennt von seiner Ehe­frau. Die bei ihnen zu Hause ver­sammelten Freunde werden verhaftet und in den Massenmedien als Terrori­sten vorge­führt. Marcos flieht zu ei­nem wohlhabenden Onkel aufs Land, der von drei seiner Cousins in kaum kaschierter erbschlei­cherischer De­votheit um­garnt wird. Alle sehen in Marcos einen Konkurrenten, so daß er zunächst von allen geschnitten wird. Nur der halbseitig ge­lähmte Onkel sel­ber fin­det Gefallen an seinem neu auf­getauchten Neffen und gibt ihm trotz aller Skepsis Geld für ein fingiertes Minenprojekt. Derweil verliebt sich Marcos in eine ebenfalls im Hause le­bende Nichte, eine wunderbar geheim­nisvolle und kindliche Schönheit. Vor­übergehend landet er bei deren Mutter – ausnahmsweise nicht auf dem Tisch, sondern im Bett. Vollends zwischen den Stühlen sitzt er, als seine Ehefrau unverhofft auftaucht. Trotz der Kom­plikationen wohl der Traum eines je­den Machos! Plötzlich stirbt der rei­che Onkel, die Arsen­vergiftung ist nicht zu ka­schieren. Wieder wird Marcos des Mordes be­zichtigt. Es folgt ein heillo­ses Durcheinander, das in einem großen Fa­mi­lienpicknick seinen Hö­he­punkt findet. Denn hier gibt es noch einmal Mord­versuche und den tra­gi­schen Tod einer Haupt­darstellerin. Insgesamt ein phasen­weise witzig in­szenierter Film mit reich­lich Situationsko­mik, schönen Bildern, ei­nem Schuß Realsatire und Gesell­schaftskri­tik, also gute, wenn auch nicht be­son­ders anspruchsvolle Unterhaltung.
Jonás y la ballena rosada
Eher ärgerlich weil verworren und unklar ist der Streifen ‘Jonas und der rosa Wal’ von Juan Carlos Valdivia, dem fraglos der Preis für das sexi­stischste Filmplakat zugestanden hätte, sofern es ihn gäbe. Die Ge­schichte spielt in Boli­vien Mitte der 80er Jahre. Im Mittelpunkt steht, wie sollte es an­ders sein, eine ausgesprochen at­traktive junge Frau, deren wohlgeformten Körper der/ die ZuschauerIn nicht nur auf dem Werbeplakat, son­dern auch in vielen Szenen bewundern darf. Sie ist die Schwägerin von Jonás und verliebt sich in ihn, als er sich in einem skurril ausgestatteten Kellerraum im Haus der Verwandtschaft seiner Ehefrau ein Fotolabor einrichtet. Dort werden nicht nur unschuldige Fo­tos von der Schönen ver­größert und zu einem Ab­bild in Originalgröße montiert, sondern der einzige Stuhl muß das eine oder andere Mal für Sex­szenen herhalten. Und plötz­lich kippt zunächst der Stuhl und dann das Gan­ze, völlig unmotiviert tritt die Drogenmafia auf den Plan. Was in Bolivien zwar nicht so unge­wöhn­lich, aus dem Drehbuch jedoch nicht nachvoll­ziehbar ist. Der Zu­schauerin oder dem Zu­schauer bleibt zudem völ­lig unver­ständlich, warum sich die Schwägerin mit dem Sohn des örtlichen Drogenbosses li­iert, ihr Vater nach anfänglichem Sträuben ge­mein­same Sache mit ihm macht und Jo­nás ziemlich blöd aus der Wäsche guckt. Bei diesen chaotischen und unmoti­vierten Ver­strickungen bleibt nur die Lösung à la me­xicaine: Diesmal macht’s eine Über­dosis Kokain.

“El callejón de los milagros”
Mexiko 1994, 140 Min, Regie: Jorge Fons
“Los vuelcos del corazón”
Mexiko 1993, 130 Min, Regie: Mitl Valdez
“Hasta morir”
Mexiko 1994, 100 Min., Regie: Fernando Sariñara
“Dos crímines”
Mexiko 1994, 107 Min, Regie: Roberto Sneider
“Jonás y la ballena rosada”
Mexiko 1994, 94 Min, Regie: Juan Carlos Valdivia

Editorial Ausgabe 249 – März 1995

Ein Gast fehlte zur Geburtstagsfeier: Alberto Fujimori, peruanisches Staats­oberhaupt. Am 3. Februar hatten sich die Präsi­denten der Staaten Venezuela, Pa­nama, Kolumbien, Ecuador und Bolivien im ve­nezolanischen Städtchen Cumaná ge­troffen, um des 200. Geburtstags Anto­nio José de Sucres zu gedenken. Sucre war ein Untergebener und enger Ver­trauter Simon Bolívars, des Gran Li­bertador, an dessen Seite er für die Unab­hängigkeit von Spanien und den großen Traum eines vereinten Amerikas kämpfte. Ohne Angabe von Gründen hatte der pe­ruanische Präsident sein Kommen in letzter Minute abgesagt. Da­bei waren die Gründe offensichtlich. Schließlich war nur eine Woche zuvor mit dem Abschuß eines peruanischen Militär­hubschraubers in der Sierra del Condor der Grenzstreit der beiden “Brudervölker” Ecuador und Peru in einen Grenzkrieg umgeschlagen.
Knapp einen Monat zuvor hatten sich die Präsidenten der “Bolívar-Erben” schon einmal in Cumaná, der Geburts­stätte Sucres, getroffen. Es ging um den 1969 ins Leben gerufenen Andenpakt, der wie kaum ein anderer Wirtschaftsverbund der Welt an chronischer Lethargie krankt. Die meisten Planungen wurden wieder ver­worfen oder schlicht nicht umgesetzt. Kaum eine einzige der beschlossenen wirtschaftlichen Kooperationsmaßnahmen wurde in die Tat umgesetzt. Das letzte Treffen hatte 1991 stattgefunden. Danach verabschiedete sich Peru unter Berufung auf interne Schwierigkeiten zunächst ein­mal von den Andenpaktverhandlungen. Jetzt, vier Jahre später, wagt man einen erneuten Anlauf. Doch die Begeisterung hält sich in Grenzen. Kolumbien und Ve­nezuela schielen gen Norden nach Me­xiko, Peru hält sich zurück und Bolivien entdeckt seine Sympathie für den Mer­cosur.
Die Einheit, von der Bolívar und Sucre geträumt hatten, ist damit so weit entfernt wie nie zuvor. Zumal Peru und Ecuador bei genauerem Hinsehen nicht die einzi­gen Staaten der Region sind, in denen unterschwellig alte Gebietsansprüche be­stehen, die früher oder später zu einem ähnlichen Grenzkonflikt eskalieren könn­ten. Bolivien träumt vom erneuten Zugang zum Pazifik, Peru von Wüstengebieten im heutigen Chile, usw. Weit entfernt sind die betroffenen Länder von der Einheit, die Bolívar als Ideal entworfen hatte. Einer Einheit, die auch da­mals mit der Realität wenig gemein hatte. So wurde schon Sucre, den Ecuador als eigenen National­held beansprucht, da er die meiste Zeit seines Lebens in der Hauptstadt Quito verbrachte, von den ei­genen Leuten ver­raten, als er in Peru ge­gen den gemein­samen Feind Spanien kämpfte.
Heute ist die Unabhängigkeit Perus und Ecuadors erneut gefährdet. Die Be­dro­hung kommt aus den Zentralen der Welt­bank und des Internationalen Wäh­rungs­fonds, von wo aus immer neue Struk­tu­ranpassungen zu Lasten der Be­völke­rungsmehrheit verordnet werden. Die Re­gie­rungen verkommen auf diese Weise zu bloßen Ausführungsorganen. Um ihre ei­gene Machtlosigkeit zu kaschieren, set­zen die herrschenden Politiker und Mili­tärs auf Nationalismus und beschwören die in­nere Einheit durch chauvinistische Parolen.
So ging es dem peruanischen Schrift­steller und früherem Präsidentschafts­kandidaten Mario Vargas Llosa an den Kragen, der als einer der wenigen In­tellek­tuellen seines Landes das Blut­vergießen verurteilte: Er wurde als “vater­landsloser Verräter” gebrandmarkt und aus dem na­tionalen Schriftstellerver­band aus­ge­schlossen. Im Säbelgerassel der letzten Wochen wurden vernünftige Stim­men leicht über­hört. So etwa, als Ge­werk­schaftsführer beider Länder den Krieg kri­ti­sierten und darauf hinwiesen, daß Hunger und Elend der eigentliche Feind seien, den es zu be­kämpfen gilt.

“Null-Option” geht gegen Null

Einmal mehr nahm Bolivien an einer internationalen Verhandlungsrunde teil, um seine Pläne zur nationalen Entwick­lungspolitik vorzustellen, Interesse an den 1994 eingeleiteten Reformplänen zu wek­ken und dementsprechende Unterstützung durch internationale Finanzierungsorga­nisationen zu bewerkstelligen. In diesem Fall handelte es sich um die jährlich zu­sam­menkommende Beratungsgruppe der Welt­bank, die vom 2. bis 4. November 1994 in Paris tagte.
Boliviens Präsident Gonzalo Sanchez de Lozada, inzwischen bekannt dafür, die Vorhaben seiner Regierung vor dem strengen Auge der internationalen Ge­mein­schaft diplomatisch, routiniert und selbst­bewußt zu präsentieren, hatte seine wichtigsten Minister nach Paris geschickt. Das unumgängliche Thema der Drogen­kontroll­politik stand auch in Paris auf der Tagesordnung. Die Minister waren gut vorbereitet, um auf die “wachsende Sorge” der internationalen Gemeinschaft über die steigende Kokainproduktion zu reagieren. Bolivien legte ein Strategiepa­pier vor, das all` das erfüllte, was die Vertreter der von Drogenproblemen ge­quälten Gesellschaften – die gleichzeitig Geldgeberländer sind – an Moral und In­itiative erwarteten: das Aufzeigen von bisherigen Erfolgen, gepaart mit dem Eingeständnis relativer Schuld angesichts unzureichender Ergebnisse in der Verrin­gerung der Koka- und Kokainproduktion sowie die Willensbekundung zur künfti­gen Besserung.
Was angesichts der Komplexität des Themas aus den präsentierten Punkten als klarste Absichtserklärung hervorzuste­chen schien, wurde zum griffigen, me­dien­ge­eig­neten Slogan: die “Opción Cero”, die “Null-Option”.
Panik in der bolivianischen Öffent­lichkeit
Der Slogan ging durch die Weltpresse und schlug in Bolivien selbst wie eine Bombe ein. Die bolivianischen Medien, Gewerkschaften, die Kirche und vor allem die betroffenen Kokabauern standen Kopf. In diesem Moment wußte niemand, in welchem Zusammenhang diese “Null-Op­tion” wirklich stand. Nicht einmal Regie­rungsstellen konnten eine klare Definition dessen liefern, was in Paris vorgeschlagen worden war. Für die öffentliche Meinung Boliviens, der nur einige Stichworte vor die Füße geworfen worden waren, lag die Sache jedoch auf der Hand: Zwangsum­siedlung aller im Koka-Anbaugebiet des Chapare lebender Bauern in andere Re­gionen des Landes, sofortige Vernichtung aller Kokapflanzungen, das Ganze nicht nur assoziiert mit staatlichen Gewaltmaß­nahmen, sondern – wie auch anders vor­stellbar – mit Militarisierung des betref­fenden Gebietes unter Zuhilfenahme der anwesenden, nicht gerade beliebten US-amerikanischen Spezialeinheiten.
Die Panik war perfekt. Die Kokabauern des Chapare kündigten an, daß sie ihr Land und ihre Kokapflanzungen mit allen Mitteln auf Leben und Tod verteidigen würden. Der Sprecher und Vorsitzende der Kokabauern-Zentrale, Evo Morales, hielt einen Bürgerkrieg nicht mehr für unmöglich, sollte die Regierung diese Pläne wahr machen.
Die Empörung, Angst und Ankündi­gung drastischer Gegenaktionen gegen­über dem nun quasi täglich erwarteten Beginn solch` apokalyptischer Maßnah­men waren weder verwunderlich noch lä­cherlich. Hatte sich doch die Regierung Sanchez de Lozada seit ihrem Antritt im August 1993 vor allem damit hervorgetan, daß sie mit den Kokabauern unendliche Diskussionsrunden abhielt, aber den ein­gegangenen Verpflichtungen bezüglich alter­nativer Entwicklungsprojekte im Cha­pare nicht nachkam. Gleichzeitig stieg nicht nur der zwischen 1987 und 1993 um 40 Prozent reduzierte Kokaanbau wieder kräf­tig, sondern damit auch der in erster Linie von den USA auf Bolivien aus­geübte Druck, endlich hart durchzugrei­fen.
Nicht zuletzt war zwei Monate vor der Konferenz in Paris ein vom letzten Präsi­denten Jaime Paz Zamora unterzeichnetes Abkommen mit dem großen Bruder aus dem Norden wegen Nichterfüllung der Quo­te geplatzt. Darin war vorgesehen ge­wesen, als Gegenleistung für die jährliche Reduzierung von 5.000 Hektar Koka 20 Millionen Dollar zum Ausgleich der boli­vianischen Zahlungsbilanz zur Verfügung zu stellen.
Bill Clintons Ankündigung, das Dro­gen­problem der USA anhand von Präven­tions- und Rehabilitationsprojekten zuerst “zuhause” anzugehen und die Pro­du­zen­ten­länder – darunter Bolivien – ihren eigenen Weg der Drogenkontrolle gehen zu lassen, entpuppte sich mittler­weile als pure Rhetorik. Die Produzen­tenländer stehen weiterhin im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, entsprechend der Logik “das Angebot bestimmt die Nach­frage”. Mit anderen Worten: Die Drogen­politik Boliviens, die in erster Linie auf alternative Entwicklung setzt, leidet unter chronischer Agonie, während der Außen­druck permanent steigt. In dieser Situation ist alles vorstellbar, eben auch eine “Null-Option”.
Viel Lärm um nichts??
In dem elfseitigen Dokument zur “Opción Cero”, das vom bolivianischen Minister für Entwicklung und Umwelt, José Guillermo Justiniano, in Paris vorge­stellt wurde, wird betont, daß die Fläche der illegalen Kokapflanzungen künftig schneller als bisher reduziert werden soll. Die “Null-Option” war erstmals 1993 vom Präsidenten Sanchez de Lozada während der “Beratungsgruppe” der Weltbank in Washington als Möglichkeit vorgeschla­gen worden, deren Durchführbarkeit aller­dings noch erforscht werden müsse. Bis zur Konferenz in Paris wurde sie aller­dings nie wieder öffentlich erwähnt oder nahm in irgendeiner Weise Form an.
Nun ist in dem Papier die Rede von “schockartigen Aktionen”, einem “Kon­zept ähnlich dem Marshall-Plan in Europa”, von “jetzt handeln”, “jetzt ein­greifen”, bevor es zu spät sei, die Lage zu kontrollieren und die Kosten einer öko­no­mischen Umstrukturierung des Chapare unbezahlbar würden.
Starke und beeindruckende Worte… Doch spiegeln sie letztlich nur das Be­wußtsein der wachsenden Kokainproduk­tion und der damit zunehmenden Wich­tigkeit des organisierten Drogenhandels im Lande wider. Alte Pläne werden im Licht neuer und aggressiver Aktionen prä­sentiert. In der “Opción Cero” ist alles enthalten, was theoretisch vorstellbar ist: Angefangen mit dem Wunsch, die Ko­kaanbauregion Chapare könnte sich so­wohl in einen Industriepark heimischer und ausländischer Unternehmer als auch in einen für den Öko-Tourismus offenen Naturpark verwandeln, bis hin zu der Vor­stellung, daß Großunternehmen in harmo­ni­scher Koexistenz mit diversifizierte Land­wirtschaft betreibenden Kleinbauern produzieren und so die Abhängigkeit vom Drogengeschäft vergessen machen kön­tnen. Die Kokabauern sollen dabei für 2.500 US-Dollar pro Hektar schnell ihre Kokaproduktion reduzieren oder sich ge­gen Entschädigungsleistungen in andere Gebiete umsiedeln lassen. – Die Frage ist allerdings, wohin? Etwa wieder zurück ins karge Altiplano, aus dem sie gekommen sind, oder ins unerschlossene Tiefland, um dort das Nächstliegende anzubauen…?
Vor allem aber basiert die “Null-Op­tion” auf einem der bolivianischen Regie­rung äußerst wichtigen Prinzip, das jegli­che Zwangsmaßnahme, ob Massenum­sied­lung oder Radikalvernichtung der Ko­ka, per se ausschließt: Die entspre­chende Lö­sung soll und muß in ihrem Konzept “in­tegral” sein und auf einem “freiwilligen Kom­promiß zwischen allen Betroffenen be­ruhen”.
Ein integrales sozio-ökonomisches Ent­wick­lungskonzept sowohl für die Pro­blemzone Chapare als auch für die die Mi­granten hervorbringenden verarmten Hoch­landregionen, ist begrüßenswert und kommt auch bereits so – fernab irgendei­ner Option “0”, “1” oder “2”, – im “Inte­gralen Entwicklungsplan” für diese tro­pische Region vor: Dieser wurde unter Teil­nahme aller nationalen und internatio­nalen Entwicklungsorganisationen, Koka­bauern­verbände und Regierungsvertreter ausgearbeitet und im Dezember 1994 offi­ziell vorgestellt.
Wohlwissend um diese offensichtlichen Widersprüche, wird in dem in Paris vor­gelegten Papier die “Ausführung” der “Null-Option” auch gleich auf die Praxis hin relativiert: Zunächst sollen Berater des Drogenkontrollprogramms der Vereinten Na­tionen in Bolivien die Strategie auf ihre Reali­sierbarkeit hin prüfen. Man rechnet mit einer Bearbeitungszeit von einem Jahr!
Was bleibt, ist ein Teufelskreis
Im Chapare also nichts Neues? Ein großer schwarzer Luftballon mit heißer Luft? – Es sieht so aus. Denn abgesehen davon, daß alle vorgeschlagenen Strate­gien – allerdings in weniger starken Wor­ten – schon theoretisch und praktisch dis­kutiert, in Dokumenten und Konventionen niedergelegt wurden, und selbst die aktive Teinahme der Kokabauern bei der Ausar­beitung solcher Konzepte zunehmend zur Realität wird, fehlt das Geld für die Reali­sierung einer 2 Milliarden Dollar teuren “Schock-Therapie”.
Was bleibt, ist ein Teufelskreis. Die internationalen Geldgeber sind nur be­dingt bereit, ein internationales Problem gemeinsam zu lösen und entsprechende Programme zur integralen sozio-ökonomi­schen Entwicklung finanziell mitzutragen. Die Demonstration von glaubwürdigen, sofort wirkenden Drogenkontrollmaß­nah­men auf bolivianischer Seite, sollte er­sterem dabei möglichst vorausgehen. Das eine ist aber ohne das andere nicht mög­lich.
Es wird also wahrscheinlich alles beim Alten bleiben: Die konzertierte Aktion zwischen Regierung und Kokabauern zur Verbesserung der technischen, sozialen und produktiven Infrastruktur für den Cha­pare, mit der alle einverstanden sind, wird für Bolivien weiterhin Priorität ha­ben. Dabei wird versucht, den illegalen Kokaanbau so weit wie möglich zu redu­zieren. Leider gibt es immer noch uner­trägliche Mängel bei der konkreten Um­setzung dieser Pläne. Die bolivianische Regierung muß einen permanenten Ba­lance­akt vollführen, zwischen dem außenpo­litischen Druck, eine sofortigen Reduzie­rung des Kokaanbaus herbei­zuführen, und dem Eigeninteresse des Landes, trotz der schwierigen Situation den sozialen und politischen Frieden zu wahren.
Bolivien setzt auf freiwillige Kokareduzierung
Bisher ist ihr das relativ gut gelungen. Denn unter offizieller Nichtanwendung des relevanten Artikels im Gesetz 1008 zur “Kontrolle illegaler Substanzen und chemischer Materialien”, das auch die zwangsweise Reduzierung illegaler Koka­pflanzungen vorsieht, setzt die boliviani­sche Regierung weiterhin auf Freiwillig­keit der Kokareduzierung. Diese Haltung erwies sich bisher als die politisch und so­zial geeignetste. Der internationale Geld­segen kann allerdings eines Tages genau deswegen versiegen.
Die “Null-Option” symbolisiert viel­leicht besser als jeder andere Begriff, daß sich tatsächlich “null” Neues abspielt im Streit um die beste Art der Drogenkon­trolle, daß “null” Sofort-Optionen für die­ses langwierige Problem existieren und daß es “Null-Bock” gibt, sich durch Droh­gebärden von außen erpressen zu lassen.
Wie Außenminister Antonio Aranibar bezeichnenderweise in einem Interview zur “Null-Option” meinte: “Angesichts der Möglichkeit, die (mündlich zugesagten, d. Verf.) finanziellen Ressourcen für die “Null-Option” nicht zu erhalten, (…) ver­fügt Bolivien über genügend politische und moralische Autorität, um Pressionen zur Erfüllung eingegangener Kompro­misse nicht zu akzeptieren.”

Kasten:

Reduzierung des “übermäßigen” Kokaanbaus

Bolivien ist mit einer Anbaufläche von ca. 47.000 Hektar das welweit zweitgrößte Kokaanbauland. Durch die internationale Drogenkontrollkonvention von Wien (1988) wird der traditionelle Anbau von Koka in den Yungas des Distrikts von La Paz bis 12.000 Hektar (real existierend: ca. 9.000 Hektar) erlaubt und als legal definiert, während der hauptsächlich für die Kokainherstellung betriebene Kokaanbau des Chapares im Di­strikt Cochabamba (aktuell: 26.462 Hektar) als “übermäßig” gilt und zum größten Teil illegal ist.
Der Chapare ist ein subtropisches Tieflandgebiet mit 25.000 Quadratkilometer Fläche und wird von ca. 35.000 Familien bewohnt, die sich nach drei verschiedenen Migrationswellen dort ansiedelten: 1953 bis 1964 im Zuge der Agrarreform und auf der Suche nach neuem Land, 1970 bis 1975 aufgrund staatlicher Kolonisierungsprogramme und 1981 bis 1986 nach schweren Dürreperioden auf dem Altiplano und aufgrund der Entlassung tausender von Minenarbeitern ab 1985. Generell also kommen die heutigen Bewohner des Chapare , in ihrer Mehrheit Bauern, aus verarmten ländlichen Hochlandzonen (Cochabamba, Potosí, Oruro, La Paz). Die fehlende Besiedlungsstrategie und -hilfe seitens der Regierung in Zeiten dieser Migrationswel­len und die Unkenntnis der Migranten über tropische Landwirtschaft sind nur einige Gründe für die Orientie­rung am Kokaanbau, der für die Bewohner immer soziale und ökonomische Absicherung bedeutete.
Die Produktion an illegaler Koka betrug in ganz Bolivien im Jahr 1993 knapp 72.000 Tonnen (20 Prozent der Weltproduktion), die Netto-Kokainproduktion 72 Tonnen (7 Prozent der Weltproduktion). Der Mehrwert des gesamten Koka-Kokains (einschließlich der Produktion des Zwischenproduktes der “pasta base” für Ko­kain = 183 Tonnen) sank in den vergangenen Jahren aufgrund der Substitutionspolitik der Regierung, bei der Koka schrittweise durch alternative Produkte ersetzt wird, folgendermaßen:

Mehrwert Koka / Kokain:
1988: 425 Mio US-Dollar 8,6% des Bruttoinlandproduktes (BIP)
1993: 166 Mio US-Dollar 2,7% des BIP

Exportwert:
1988: 453 Mio US-Dollar 84% des BIP
1993: 162 Mio US-Dollar 23% des BIP
1993: 116 Mio US-Dollar 1,9% des BIP

Mehrwert Koka/Kokain, der im Land bleibt:
1988: 279 Mio US-Dollar 5,6% des BIP

Gesamtanbaufläche von Koka (1993): 47.200 Hektar
davon im Chapare: 26.462 Hektar (abzüglich legaler Koka der Yungas, neu gesäter und noch unreifer Pflanzen)

Reduzierte Hektarzahl im Chapare (1987 – 1993): 26.140 Hektar
Neu gepflanzte Koka im Chapare (1987 – 1993): 33.240 Hektar
Andere Produkte im Chapare bis 1994: 49.757 Hektar
Zuwachs an alternativen Produkten (1986 – 1993): 22.369 Hektar

(BI)(Quelle: Informe de Datos 06/10/94, USIS, US-amerikanische Botschaft in Bolivien
Alle Daten basieren auf technisch möglichst genauen Schätzungen. Die angegebene Quelle wurde gewählt, da sie sich bisher als relativ zuverlässig erwiesen hat)

Die Drogenhändler müssen sich totlachen

Nach einer Reihe von Treffen mit ho­hen Funktionären des State Department in Washington schloß Justizminister Néstor Humberto Martínez Neira daß “die Stati­stiken, die wir hier in Washington vorge­legt haben, zeigen, daß leider im Gegen­satz zu dem, was in Peru und Bolivien ge­schieht, in Kolumbien der (Koka-) Anbau weiter im Wachsen begriffen ist”. Hiermit war klar, daß die kolumbianische Regie­rung auch in diesem Jahr nicht ohne Wei­teres ihr Wohlverhalten von der US-Re­gierung bescheinigt bekommen würde.
Bereits 1993 hatte es nicht gut ausgese­hen für besagte Wohlverhaltensbescheini­gung durch die USA, aber, so die kolum­bianische Zeitung El Espectador, “wie immer am Ende des Jahres strengte sich der gute Schüler an, und… lieferte den to­ten “Kopf” des Medellín-Kartells Pablo Emilio Escobar Gaviria”. Daraufhin be­kam die Regierung Gaviria zuletzt doch die volle Bestätigung seitens der USA und bleibt dadurch in dem Genuß finanzieller Hilfen durch die US-Regierung, die Welt­bank und den internationalen Währungs­fonds.
In diesem Jahr jedoch konnte die neue Regierung unter Samper bislang keinen nennenswerten Erfolg im Kampf gegen die Drogenproduktion in Kolumbien vor­weisen, und so mehrten sich die Stimmen in den USA, die neben der Verweigerung der Wohlverhaltensbescheinigung auch drastische Sanktionen forderten.
Der US-amerikanische Botschafter in Kolumbien, Myles Frechette, äußerte, “daß sein Land Schwierigkeiten habe, Kolumbien die volle Mitarbeit im Kampf gegen den Drogenhandel zu bescheini­gen”. Währenddessen ging der ehemalige “Antidrogenzar” William Bennet weiter: “Solange die Regierung (Samper) keine wirklichen Anstrengungen im Kampf ge­gen den Drogenhandel unternimmt, müs­sen wir sowohl den Import kolumbiani­schen Kaffees, wie auch aller anderen Produkte aus diesem Land verbieten”.
Die Reaktionen der kolumbianischen Presse waren dementsprechend heftig. Eine Bogotaer Zeitung forderte, den Bot­schafter zur persona non grata zu erklä­ren. Die Krise, die in dieser Auseinander­setzung zutage trat, hat freilich tiefere Wurzeln.
Die Wohlverhaltensklausel
Bereits seit 1961 existiert in den USA ein Gesetz, das zur Bekämpfung des Han­dels und der Produktion illegaler Drogen die Befugnisse der Exekutive erweitern soll. 1986, als in der Ära Reagan die Ko­kainproduktion vor allem in Kolumbien ihre größte Blüte erreichte, verabschiedete der US-amerikanische Kongress ein Ge­setz, das es dem Präsidenten gestattete, eine Länderliste der bedeutendsten Drogenproduzenten und -transporteure zu erstellen und nach eigenem Ermessen de­ren Kooperation bei der Bekämpfung des Drogenhandels einzustufen. Für ein Land, das sich voll der Bekämpfung des Dro­genhandels verschreibt und die US-ameri­kanischen Auflagen erfüllt, fließen militä­rische, wirtschaftliche und humanitäre Hilfe ungehindert weiter. Vor allem aber werden weiterhin intensive logistische und finanzielle Hilfen für die Drogenbekämp­fung zur Verfügung gestellt.
Wird ein Land allerdings nicht als be­dingungslos kooperativ eingestuft, ist die Exekutive berechtigt, die nicht-humanitäre Hilfe an dieses Land solange auszusetzen, bis sich dessen Regierung dem Kampf ge­gen die Drogenwirtschaft anschließt. Gleichzeitig verpflichtet ein negatives Votum die Regierung bei den internatio­nalen Finanzinstitutionen ein Veto gegen Kredite an das in Ungnade gefallene Land einzulegen.
Der kolumbianische Fall
Das strategisch wichtigste Land für Drogenhändler, und -produzenten auf dem amerikanischen Kontinent ist mit Sicher­heit Kolumbien. Fast die gesamte Kokain­produktion und Distribution läuft in Ko­lumbien ab; dort befinden sich fast sämtli­che Labore, in denen mithilfe von Chemi­kalien wie Äther und Aceton die Droge Kokain aus der – zum großen Teil aus Peru und Bolivien importierten Kokapaste raffiniert wird. Allgemein wird der Anteil allein des sogenannten Cali-Kartells an sämtlichem in den USA konsumierten Kokain auf etwa 80 Prozent geschätzt. In den letzten Jahren haben sich die Anbau­flächen für Koka, sowie von Schlafmohn, dem wichtigsten Rohstoff zur Herstellung von Heroin, vor allem in Kolumbien ra­sant vergrößert. Es ist davon auszugehen, daß die Einnahmen aus Drogengeschäften teilweise für die niedrige Inflationsrate in den letzten zehn Jahren mitverantwortlich sind, da der starke Zustrom von Dollars aus Drogengeschäften dessen Wert ge­genüber dem Peso drückt.
Im Gegensatz zu dem Kartell von Me­dellín, dessen Mitglieder nie die Integra­tion in die gesellschaftliche Elite des Lan­des erlangt haben, ist das Kartell von Cali bis hinein in die Regierung mit dieser ver­flochten und somit weitaus schwerer an­zugreifen. Gerüchte sprechen auch davon, daß ein Teil der Präsidentschaftskampa­gne des jetztigen Präsidenten Samper mit Geldern des Cali-Kartells finanziert wurde (vgl. LN 241/242). Gerade in diesen Tagen brachte die kolumbianische Zeit­schrift Cambio 16 eine Liste zutage, auf der eine Reihe von Namen auftauchen, die in Sampers Wahlkampf wichtige Positio­nen einnahmen und angeblich auf der “Gehaltsliste” von Gilberto Rodríguez Orejuela, dem mutmaßlichen Kopf des Kartells standen.
Clinton und die Republikaner über­zeugen
Es ist daher nicht verwunderlich, daß man in den Vereinigten Staaten den Be­mühungen der Regierung Samper bei der Vernichtung von Anbauflächen und der Bekämpfung des Kartells von Cali mit ei­nem gewissen Mißtrauen begegnet. Zumal die Clinton-Administration der Ansicht ist, daß Samper seit seinem Amtsantritt vor einem halben Jahr keine signifikanten Ergebnisse vorweisen kann.
In Kolumbien sieht man das freilich anders. Aber da die Regierung nicht auf die Hilfen aus den USA und den interna­tionalen Institutionen verzichten will, flo­gen in der vergangenen Woche der kolumbianische Botschafter in den USA, Carlos Lleras de la Fuente, Verteidi­gungsminister Fernando Botero Zea und der Außenminister Rodrigo Pardo García Pena (der den Platz des unter Korrupti­onsvorwürfen ausgeschiedenen General­staatsanwalts Gustavo de Greiff einnahm) in die USA, um dort mit verschiedenen Mitgliedern des Kongresses zusammen­zutreffen. Ihre Aufgabe war in den letzten Tagen eine positive Stimmung für Ko­lumbien zu hinterlassen, bevor Bill Clin­ton dem Senat die Untersuchungen und Einschätzungen zur Abstimmung über die Wohlverhaltensbescheinigung für das süd­a­merikanische Land unterbreitet. Keine ein­fache Aufgabe angesichts der Tatsache, daß seit den letzten Wahlen der Kongreß von den Republikanern be­herrscht wird. Auch Clinton mußte sich bereits den neu­en Machtverhältnissen beugen und eine här­tere politische Gangart einschlagen, um sich nicht vor­zeitig die Chancen auf eine Wiederwahl in zwei Jahren zu verbauen.
Auch aus diesem Grunde hat Bill Clin­ton nun die Flucht nach vorn angetreten und nach zwei Jahren verminderter Inten­sität im Drogenkrieg nun, wie bereits seine republikanischen Vorgänger Reagan und Bush, den Kampf gegen den Drogen­handel zur obersten Priorität erklärt. Auf 14,6 Milliarden US-Dollar will der ame­rikanische Präsident nun die Mittel zur Drogenbekämpfung aufstocken, was ei­nem Anstieg von fast 10 Prozent ent­spricht. Davon sollen etwa 64 Prozent (9,3 Milliarden US$)in die Bekämpfung von Anbau und Transport im Ausland aufge­wendet werden, während 34 Prozent (4,9 Milliarden US$) in die Prävention und den Drogenentzug fließen sollen. Da der damals demokratisch dominierte Kongress be­reits im letzten Jahr die vorgeschlage­nen Aufwendungen für Prävention und Be­handlung zusammenstrich, ist aller­dings die Frage, ob Clinton sich bei den Re­publikanern mit seinem Vorschlag durch­setzen kann.
Die Tendenz jedoch wird klar bei der Betrachtung des neuen Vorstoßes von Clinton, mit dem er seinen politischen Feinden, wie dem republikanischen Sena­tor Jesse Helms, den Wind aus den Segeln zu nehmen versucht. Und ver­ständlich wird so auch, daß die kolumbia­nische Re­gierung nach beendeter Mission in den USA viel ruhiger ist: nach Ein­schät­zung des kolumbianischen Botschaf­ters Carlos Lle­ras de la Fuente ist die Wahr­schein­lichkeit einer negativen Beur­tei­lung durch die US-amerikanische Re­gie­rung nur gleich 5 Prozent, während er mit 75prozentiger Sicherheit von zu­min­dest einer bedingt positiven Einschät­zung (im nationalen Interesse der USA) aus­geht. Zu diesem Ergebnis kam der Di­plo­mat, nachdem die jeweiligen “Gesprächs­partner auf die von Außenmi­nister Rodri­go Pardo vorgelegten Fakten in Sachen Ver­nich­tung von Anbauflächen durchweg positiv reagiert hätten”. Die Ankündigung Sampers, im Falle einer nur bedingten Approbation durch die USA zu prüfen, ob man die Hilfen der USA über­haupt annehmen will, darf aber lediglich als eine starke Geste verstanden werden, mit der Samper versuchen will, in der ko­lum­bianischen Öffentlichkeit nicht als Hand­langer der US-Amerikaner dazuste­hen.
Für dieses Jahr scheint die Krise be­wältigt, wenngleich sich dies letztendlich erst nach dem 1. März entscheidet, wenn Clinton dem Kongreß seine Fakten auf den Tisch legt. Aber es kann mit Sicher­heit davon ausgegangen werden, daß sich die USA in den kommenden Jahren bei steigendem Koka-Anbau in Kolumbien nicht mit einer PR-Veranstaltung der ko­lumbianischen Regierung zufriedenstellen lassen werden. Der Druck, den die Repu­blikaner auf Clinton ausüben, wird sich in den nächsten Jahren mit einer ständigen Verschärfung der US-amerikanischen An­ti­drogenpolitik bemerkbar machen. Die Dro­genbarone aus Cali, die sich in diesem Jahr nach den Worten von Vizepräsident Humberto de la Calle angesichts des pein­lichen Verlaufs der Debatte in Kolumbien noch “totlachen müssen”, werden sich in den nächsten Jahren zunehmend leiser gebärden.

Im Sog der Integrationswelle

WirtschaftswissenschaftlerInnen be­kom­men bei Begriffen wie Freihandels­zone, Zoll­union oder gar Ge­mein­samer Markt feu­chte Augen. Wach­sende Märkte ohne Gren­zen bedeuten stei­genden Han­del, er­höhte Binnennachfrage und intensi­vierte In­ves­titionstätigkeit, Pro­dukt­ivitätsge­winne und freien Kapital- und Personen­verkehr. Soviel zur Theorie.
Die Europäische Union (EU) hat vorge­führt, wie ein Zusammenschluß funktio­niert: Zunächst wird eine Freihandelszone ver­einbart, innerhalb der die Zölle schritt­weise abgebaut werden. Dann folgt der Über­gang zu einer Zollunion mit ge­meinsamem Außenzoll und immer mal wieder werden ein paar neue Mitglieder auf­genommen. Schließlich versucht mensch sich am Gemeinsamen Markt, also der makroökonomischen Koordinie­rung und Harmonisierung des Personen-, Ka­pi­tal-, Güter- und Technologieverkehrs und stößt dabei auf Grenzen, wie die Rück­schläge bei der angestrebten Wäh­rungs­union zeigen.
Der Trend des Sich-Zusammenschließ­ens ist also nicht neu; wohl aber hat er sich seit Anfang der 90er Jahre weltweit enorm verstärkt. Nach der jahrzehntelan­gen Binnenorientierung, die mit der Zah­lungs­unfähigkeit Mexikos 1982 ein ab­ruptes Ende nahm, kann sich auch Lateinamerika der zunehmenden Block­bildung nicht mehr entziehen, wenn es auf dem Weltmarkt bestehen will. Einzelne Länder erweisen sich gegenüber den Ko­lossen in Europa, Asien und Nordamerika als Peanuts, deren Handlungsfähigkeit und Beeinflussungsmöglichkeiten des Welt­marktes ständig weiter sinken.
Von den vielen subregionalen Freihan­delszonen, die sich im Laufe der letzten 30 Jahre in Lateinamerika gebildet haben, heben sich die beiden jüngsten – MER­COSUR und NAFTA – durch ihre Größe und das Tempo hervor, mit dem sie in Kraft traten: Der MERCOSUR hat bereits den Sprung zur Zollunion zumindest ein­beinig vollbracht.
Appetithappen Uruguay
Der MERCOSUR besteht aus äußerst ungleichen Ländern, was sich sowohl auf die geographische als auch auf die wirt­schaftliche Größe bezieht.
Brasilien dominiert den MERCOSUR wirtschaftlich und ist gleichzeitig auch das von diesem Markt unabhängigste Land, da es nur jeweils 14 Prozent seiner Ex- und Importe mit den Nachbarländern abwik­kelt. Diese Dominanz drückt sich vor al­lem in einem wettbewerbs- und damit ex­portfähigen Industriesektor, insbesondere dem Kraftfahrzeug- und Maschinenbau, aus. Brasilien hat daher seit Einrichtung der Freihandelszone 1991 am meisten pro­fitiert, indem es seine Exporte um knapp 130 Prozent steigern konnte. Seit Cardosos Wahl redet auch niemand mehr von der Instabilität des Landes in Sachen Währung und Inflation. Auch die von Mexiko ausgehende Finanzkrise wird das Land aufgrund seiner exportorientierten Technologiesektoren nicht so schwer tref­fen wie den Partner Argentinien. Brasilien ist der unangefochtene Motor des Integra­tionsprojektes MERCOSUR. Wie auch im Falle Deutschlands in der EU zeigt sich, daß das dominante Land die positivsten wirtschaftlichen Effekte aus fortschreiten­den Wirtschaftszusammenschlüssen für sich verbuchen kann.
Argentinien folgt Brasilien mit weitem Abstand, trotz des angegebenen höchsten Pro-Kopf-Einkommens. Während Brasi­lien hauptsächlich kapitalintensive Indu­st­riegüter nach Argentinien exportiert, be­wegen sich die Exporte in die andere Rich­tung vorwiegend im traditionellen Be­reich der Rohstoffe und der wenig ver­ar­beiteten Produkte. Das Land muß nach der derzeitigen mexikanischen Finanz­krise am stärksten mit dem Übergreifen die­ser Krise, dem sogenannten “Tequila-Effekt”, rechnen. Schließlich gilt Argenti­nien als Abwertungs- und Krisenkandidat Num­mer eins. Jahrelanges Festhalten am per Gesetz festgelegten 1:1-Wechselkurs zum US-Dollar haben zu einer starken Über­bewertung des Pesos geführt, da die Inflationsraten der beiden Länder weit auseinander liegen. Durch hohe Zinsen wur­den massiv Kapitalanlagen aus dem Ausland angezogen – allerdings nur kurz­fristige. Für Investitionen sind jedoch mittel- und langfristige Kredite erforder­lich, für deren Vergabe die Banken wie­derum mittel- und langfristige Einlagen von KapitalanlegerInnen benötigen. So wurde Argentinien die letzten vier Jahre stabilisiert, ohne daß starke Produktivitäts­steigerungen durch Investitionen ereicht wurden. Die Verbesserung der Wettbe­werbsfähigkeit ist zu kurz gekommen, das Handelsbilanzdefizit gestiegen. Sollte es noch vor oder kurz nach dem Ende der Amtszeit Menems zu einer Abwertung kommen, die auf bis zu 45 Prozent ge­schätzt wird, so wäre kurzfristig mit einer weiteren Verschlechterung der Handels­bilanz zu rechnen, da inbesondere Großunternehmen, die hohe Importrechnungen zu begleichen haben, in arge Zahlungs­schwierigkeiten geraten würden.
Die Einbeziehung Uruguays und Para­guays hat rein strategische Gründe. Böse Zungen behaupten, Paraguay sei nur in den MERCOSUR gekommen, weil es über genügend Wasser für die Stromver­sorgung der Nachbarländer verfügt (vgl. hierzu den Paraguay-Artikel über den Yasyretá-Staudamm in diesem Heft). Uruguay liegt als kleiner Sandwichhappen zwischen Brasilien und Argentinien. Wäh­rend in vielen Ländern der Kauf eines di­rekt am Heimatland liegenden Grund­stückes durch AusländerInnen verboten ist, ist in Uruguay der Nordosten des Lan­des mittlerweile sozusagen eine Provinz von Südbrasilien geworden: Brasiliani­sche UnternehmerInnen beschäftigen bra­silianische ArbeitnehmerInnen.
Als Trostpflaster und zur Beruhigung der Uruguayos ist in Montevideo das ständige Sekretariat des MERCOSUR eingerichtet worden, durch welches die weitere Integration koordiniert werden soll.
Die beiden kleinen Länder haben Angst davor, von den großen – zumindest wirt­schaftlich – geschluckt zu werden, können sich aber gleichzeitig nicht alleine auf dem Weltmarkt behaupten und sind daher auf eine Integration angewiesen. Sowohl Paraguay als auch Uruguay sind extrem ab­hängig von ihren Nachbarländern: Für Uruguay liegt die Exportquote in die MERCOSUR-Länder bei 42 Prozent, die Importe bei 56 Prozent, für Paraguay nur unwesentlich darunter. Beide Staaten ver­suchen, den Integrationsprozeß so weit wie möglich zu bremsen, ohne tatsächlich hin­ausgeworfen zu werden. Ihre Anpas­sungslast an zunehmende Konkurrenz soll durch Ausnahmeregelungen und Kompen­sationsmechanismen verringert werden. Viele der Ausnahmen der verkappten Zollunion, für die noch kein gemeinsamer Nenner gefunden werden konnte und die bis zum Jahre 2006 beseitigt sein sollen, beruhen auf paraguayischen und uru­guayischen Einwänden.
Die Ungleichgewichte werden sich in ab­sehbarer Zeit kaum abbauen lassen. Selbst in der EU, die über einen Regional­fonds als Kompensationsinstrument ver­fügt, kann von einer merklichen Anglei­chung kaum die Rede sein: Portugal und Grie­chen­land bilden weiterhin die Schluß­lich­ter der Gemeinschaft, und auch die üb­rigen “rückständigen” Regionen kom­men durch die Fondszahlungen kaum an die “fortschrittlichen” heran.
Gewissensfrage: NAFTA oder MER­COSUR?
Trotz der Schwierigkeiten bei der Ver­wirklichung der Zollunion, haben sich be­reits weitere Kandidaten für den Beitritt aus­gesprochen. Bolivien hat Interesse an einer Aufnahme angemeldet – in der Re­gion um Santa Cruz haben sich immer mehr bra­silianische Unternehmen an­ge­sie­delt und sind zu einem wichtigen Faktor der bo­livianischen Wirtschaft geworden -, even­tuell wollen auch Kolumbien und Vene­zuela beitreten. Chile ist grundsätz­lich interessiert, hat aber seinen Spagat zwi­schen NAFTA und MERCOSUR durch die Verhand­lungsaufnahme mit der NAFTA seit kurzem sogar noch vergrö­ßert.
Hat der MERCOSUR Chancen gegen die NAFTA? Das US-Angebot des NAFTA-Beitritts könnte auf der einen Seite gerade durch die Mexiko-Krise für andere Länder attraktiv werden: massive Zah­lungen des reichen Partners im Nor­den sollen ein komplettes Ausscheren Mexi­kos verhindern. Innerhalb des MER­COSURS verfügt kein Land über aus­reichende Möglichkeiten, die Krise ei­nes anderen aufzufangen: Brasilien steht noch am Anfang einer Stabilitätsphase und Ar­gentinien am Ende. Beide Länder wer­den sich hüten, kriselnde MERCOSUR-Mit­glieder durch Stüt­zung­s­käufe zu retten.
Auf der anderen Seite zeigt die Mexi­ko­krise, wie schwierig eine Integration selbst für ein im lateinamerikanischen Raum wirtschaftlich so fortschrittliches Land wie Mexiko sein kann. Eine großa­meri­kanische Gemeinschaft rückt erst einmal in weite Ferne; wer sich der NAFTA anschließt, muß sich auf eine längere Zeit der lockeren Zusammenarbeit einrichten.
Derweil hat sich der MERCOSUR schon einen Schritt weiter gewagt als die NAFTA und will zum Ende der 90er Jahre eine gewisse Eigenständigkeit vorweisen, mit der er dann geschlossen in Verhand­lun­gen mit anderen Blöcken auftreten kann, beispielsweise eben mit der NAFTA. Ein regionaler Zusammenschluß, der ausnahmsweise nicht unter der Herr­schaft Nordamerikas steht, sondern eine ei­gene Regionalmacht – Brasilien – hat, ist eine nicht zu unterschätzende Option, um den USA nicht nur als Rohstoffversorger und verlängerte Werkbank zu dienen.

Zelle No. 34 steht bereit

Für Antonio Araníbar wäre es ein Höhe­punkt seiner Amtszeit: Der bolivianische Außenminister hat mit allen Kräften daran gearbeitet, García Meza nach Bolivien ins Gefängnis zu bringen. Luis García Meza ist nicht irgendeiner der in Bolivien zahl­reichen Ex-Diktatoren. Seine Diktatur gilt als die blutigste und brutalste in der jünge­ren Geschichte Boliviens und als dieje­nige, die am offensichtlichsten in den Drogenhandel involviert war. Die Ge­schichte von Araníbars Partei, des sozial­demokratischen Movimiento Bolivia Libre (MBL), ist eng mit der Diktatur García verknüpft. Der MBL ist eine Ab­spaltung des Movimiento de Izquierda Revolu­cionaria (MIR), der zur Regie­rungszeit García Mezas zu den bevorzug­ten Zielen der Repression gehörte. Die Parteige­schichte hat mit dem “Massaker der Calle Harrington” einen traurigen Hö­hepunkt zu verzeichnen: Am 15. Januar 1981 brachte ein Militärkommando in be­sagter Calle Harrington acht Mitglieder der Parteifüh­rung des MIR um. Das sind nicht die ein­zigen Opfer der Diktatur: Im Zuge des Putsches am 17. Juli 1980 stürmten die Militärs die Zentrale des Gewerkschafts­dachverbandes COB. Unter den Toten war auch Marcelo Quiroga Santa Cruz, einer der profiliertesten so­zialistischen Politiker dieser Zeit.
Rechtzeitig untergetaucht
Unter anderem wurde Luis García Meza wegen dieser Morde vom Obersten Ge­richtshof Boliviens in Abwesenheit zu 30 Jahren Haft in Chonchocoro verurteilt, nur einer von 32 Anklagepunkten neben ande­ren wie Korruption, Drogenhandel und dem Raub der Tagebücher Che Guevaras. Am 7. April 1986 begann der “Jahrhundertprozeß” vor dem Obersten Gerichtshof. García Meza lebte während­dessen in Sucre. Erst als am 12. Januar 1989 neue Anklagen zu bisher noch nicht einbezogenen Punkten erhoben wurden, tauchte er unter. Der Prozeß mußte in Abwesenheit des Angeklagten beendet werden. Am 11. März 1994 schließlich wurde García Meza im brasilianischen Sao Paulo verhaftet, wo er unter falschem Namen lebte. Die gefälschten Papiere wurden ihm zum Verhängnis, stellten sie doch den Grund für seine Verhaftung in Brasilien dar. Die bolivianische Regierung gewann damit die notwendige Zeit, um das Auslieferungsverfahren in Gang zu bringen. Am 12. April schließlich war es soweit: Bolivien beantragte offiziell ge­genüber der brasilianischen Justiz die Auslieferung Luis García Mezas. Das Oberste Bundesgericht Brasiliens mußte die Entscheidung über den bolivianischen Antrag fällen und tat es am 19. Oktober mit überwältigender Mehrheit: Zehn der elf Richter sprachen sich für die Ausliefe­rung aus. Die einzige Gegenstimme kam pikanterweise von Marco Aurelio de Mello, einem Cousin des früheren Präsi­denten Collor de Mello. Er sah in García Meza einen Fall von politischer Verfol­gung im Heimatland, eine sehr eigenwil­lige Meinung, mit der er dann auch alleine blieb.
Laute Freude, leise Sorgen
In Bolivien brach nach dem Urteil der brasilianischen Richter Euphorie aus. Die Parteien im Parlament, der Oberste Ge­richtshof, die Presse, sie alle schwelgten in lautstarkem Jubel darüber, daß gerade in Bolivien zum ersten Mal in Lateiname­rika ein Ex-Diktator im eigenen Land wahrscheinlich für den Rest seines Lebens hinter Gitter gehen sollte.
Dabei werden einige Politiker der Rück­kehr García Mezas nicht ganz ohne Sor­gen entgegensehen. Der frühere Diktator weiß viel über all diejenigen, die an der Militärregierung 1980/81 beteiligt waren, Vorteile davon hatten oder sie nur still­schweigend im Sinne ihres eigenen politi­schen Kalküls begrüßt hatten. García Meza selbst äußerte sich dazu in einem Interview am 29. Oktober: “Den Prozeß vom 17. Juli (1980) führten die Streit­kräfte mit der Unterstützung einiger politi­scher Kräfte durch”, so der frühere Dik­tator unter Verweis auf die Mitwir­kung der heutigen Regierungspartei MNR, da­mals noch unter Victor Paz Estenssoro, und der größten Oppositionspartei ADN unter Hugo Bánzer Suárez, ebenfalls Ex-General und Ex-Diktator. Er sei aller­dings, so fügte García Meza hinzu, ein Mensch, der verzeiht und nicht auf Rache sinnt – was nichts anderes bedeutet, als daß er keine Namen nennen wird.
Morddrohungen an García-Meza-GegnerInnen
Luis García Meza hat noch FreundInnen in Bolivien, die zum Teil mit drastischen Maßnahmen auf die eindeutige Entschei­dung in Brasilien reagierten: Mehrere pro­filierte García Meza-GegenerInnen, er­hielten Morddrohungen, so zum Beispiel Juan del Granado, MBL-Abgeordneter, Vorsitzender der Menschenrechtskommis­sion des Parlaments und Anwalt im Gar­cía-Meza-Prozeß. Carlos Mesa, der be­kannteste bolivianische Fernsehjourna­list, erhielt, nachdem er sich sehr eindeu­tig zum Fall García Meza geäußert hatte, eine Briefbombe. Die Bombe wurde in der Hauptpost entdeckt und entschärft, sorgte aber trotzdem für öffentliche Unruhe. Derartige Formen der “politischen Aus­einandersetzung” schienen abgehakt zu sein in einem Land, das sich seit 1985 an relative Stabilität und Ruhe gewöhnt hat. Die politisch stürmischen Zeiten liegen allerdings noch nicht so weit zurück, als daß man nicht sehr empfindlich auf neue Anzeichen reagieren würde.
“Niemand kann sich darüber freuen…”
Nicht gerade beruhigend wirkten dabei of­fensichtlich verärgerte Stimmen aus Mili­tärkreisen. Niemand könne sich über die Auslieferung García Mezas freuen, so der Oberkommandierende der Streitkräfte, General Fernando Sanjinés, die Rückkehr García Mezas habe allerdings einen ge­wissen Wert für die Konsolidierung der Demokratie. Andere höhere Offiziere, so die Tageszeitung “La Razón”, erklärten in Interviews ihre Loyalität gegenüber den “militärischen und patriotischen Prinzi­pien, die General García Meza während seines Dienstes an der Institution (dem Militär) und dem Vaterland vertrat… Der General hat Freunde in den Streitkräften.” Unzufriedenheit herrscht vor allem dar­über, daß García Meza seine Strafe in einem normalen Gefängnis unter einem Dach mit gewöhnlichen Kriminellen ver­büßen soll und nicht unter Verantwortung der Militärjustiz in einem Militärgefäng­nis. Von “Unwohlsein in den Streitkräf­ten” sprach am 31. Oktober Enrique Toro, Parlamentsabgeordneter von ADN, unter Verweis auf die guten Kontakte seiner Partei in Militärkreisen. Allerdings, so Toro, wüßten die Militärs, daß sie nicht putschen können, “denn der internationale Gendarm, die Vereinigten Staaten, ist da und wird sie nicht putschen lassen. Aber es gibt Unzufriedenheit.”
Winkelzüge, um Zeit zu gewinnen
Die Anwälte von García Meza geben in­dessen nicht auf. Nach brasilianischem Recht muß Bolivien García Meza inner­halb von 60 Tagen nach Rechtsgültigkeit der Auslieferungsgenehmigung tatsächlich abholen, sonst muß er in Brasilien freige­lassen werden. Zunächst einmal wurde García Meza mit Herzbeschwerden ins Krankenhaus eingeliefert. Die Ärzte aller­dings entließen ihn nach 18 Stunden wie­der, es liege kein schwerer Fall vor, so ihr Kommentar. Kurz darauf legten García Mezas Anwälte auf der Grundlage des Votums von Marco Aurelio de Cello noch einmal Beschwerde gegen die Ausliefe­rungsentscheidung ein. Nach überein­stimmender Einschätzung der boliviani­schen Presse hat die Beschwerde juristisch keine Chance, müßte das Oberste Bundes­gericht Brasiliens doch seine eigene Ent­scheidung revidieren. Aber wieder werden Stellungnahmen, Einsprüche, Kommen­tare durch den bürokratischen Urwald schleichen. Ob die ominösen 60 Tage da­bei weiterlaufen oder nicht, in jedem Fall gewinnt García Meza Zeit: Zeit, damit seine FreundInnen in Bolivien die Diskus­sion um den Sicherheitsstandard von Chonchocoro anheizen können. Aber auch Zeit, um Druck auf die Verantwortlichen in Bolivien auszuüben, ihn gegen das Ur­teil des Gerichtshofes doch in einem Mi­litärgefängnis unterzubringen.
Die Auslieferung García Mezas an Boli­vien hat vor allem symbolischen Wert. Ein erster wichtiger symbolischer Akt war der Prozeß vor dem Obersten Gerichtshof, wenn er auch durch das Abtauchen García Mezas und durch die Frage, wer ihm dabei geholfen hat, verdüstert wurde. Mit der Verfolgung García Mezas bestätigt sich das demokratisch-rechtsstaatliche Boli­vien symbolisch und grenzt sich von der Vergangenheit der unzähligen Militärput­sche ab. Aber die Vergangenheitsbewälti­gung hat Grenzen. García Meza ist nicht der einzige mit einer dunklen Vergangen­heit aus den Zeiten der Diktatur. Seine Diktatur war nicht die einzige in den letz­ten zwanzig Jahren. Ein anderer ehemali­ger Diktator, Hugo Bánzer, gehört als Gründer von ADN zu den zentralen Figu­ren der bolivianischen Politik. Bei jeder Wahl seit Ende der Diktatur trat er als Präsidentschaftskandidat an. Aber es geht nicht nur um die ehemaligen Diktatoren. Nicht wenige, die unauffälliger aus der zweiten Reihe heraus in die Verbrechen der Diktatur verwickelt waren, wären er­leichert, würde das Kapitel “juristische Aufarbeitung der Verbrechen der Diktatu­ren” abgehakt, sitzt García Meza erst ein­mal hinter Gittern.

Öko-Zuschüsse als entwicklungspolitische Neuerung

Was ist von der noch relativ jungen GEF zu halten? Handelt es sich tatsächlich nur um ein weiteres Kreditangebot im Menü von IWF und Weltbank, wodurch sich die beiden einen grünen Touch geben können? Oder steckt diesmal vielleicht mehr als nur ein Lippenbekenntnis dahin­ter?
Wie alles anfing
Die GEF wurde 1990 auf Initiative der deutschen und französischen Regierung in erstaunlichem Tempo eingerichtet: bereits 1992 erfolgten die ersten Auszahlungen. Sie hat – trotz des IWF-typischen Begriffs “Fazilität” – nichts mit diesem zu tun; da­für aber ist die Weltbank als Durchfüh­rungsorganisation beteiligt – neben dem Nuten Nations Development Pro­gramme (UNDP) und dem United Nations Environment Programme (UNEP). Diese Konstellation ist grundsätzlich neu, da ge­rade Weltbank und UNDP ansonsten in vielen Bereichen konsequent aneinander vorbeiarbeiten. Zwar sind auch bei der GEF die Aufgaben nach dem üblichen Muster – Weltbank für finanzielle und UNDP für technische Projekte – getrennt, immerhin aber unter einem Dach zusam­mengefaßt. Die UNEP darf in einer Ne­benrolle einen Wis­sen­schaftlichen und Tech­nischen Bei­rat einsetzen, der die Kriterien für die Mit­tel­vergabe er­ar­bei­tet. Diese werden als reine Zu­schüsse, also nicht als Kredite, vergeben.
Da in den meisten Fällen staatliche Orga­nisationen die Empfänger dieser GEF-Zu­schüsse sind, wurde von Anfang an ein Programm für Klein(st)zuschüsse über die UNDP für Projekte auf kommunaler, nichtstaatlicher Ebene als Gegengewicht etabliert. 10-15 Mio. US-Dollar bei Pro­jekten in über 30 Ländern machen aus diesem Programmteil aber höchstens ein Fliegengewicht.
In der Pilotphase wurden insgesamt 750 Mio. US-Dollar für die genannten Berei­che verwendet, davon allein 42 Prozent für die Erhaltung der Artenvielfalt. (Zum Ver­gleich: Die Weltbank zahlt jährlich ca. 20 Mrd. US-Dollar aus.) Dieser Topf ist für Lateinamerika besonders interessant, da aus ihm die meisten Gelder nach Latein­amerika fließen, allen voran nach Mexiko und Brasilien mit jeweils 30 Mio. US-Dollar.
Kritische Stimmen und Reform
Die GEF wurde seit ihrer Einrichtung von vielen Seiten scharf kritisiert, insbeson­dere auch von internationalen Natur­schutzorganisationen, die über die GEF Zuschüsse erhalten. Eine 1993 vom World Wildlife Fonds veröffentlichte Studie von über 100 Nichtregierungsorganisationen (NRO) in Lateinamerika, Afrika und Asien kommt zu den folgenden Ergebnis­sen:
– Die GEF wurde von einigen wenigen Nord-Ländern unter Mißachtung jeglicher Süd-Perspektive (Umweltprobleme durch Armut, Bevölkerungsentwicklung, Ver­schuldung und mangelhaften Zugang zu Ressourcen) gegründet. Mit dem Stichwort “global” versuchen die Länder des Nor­dens in die Politik der Entwicklungsländer hineinzuregieren, wobei sie gleichzeitig von ihrer Verantwortung ablenken wollen.
– Die Weltbank, UNDP und UNEP sind für die GEF-Aufgaben ungeeignet. Die Bank hat bisher grundsätzlich soziale und Umweltaspekte von Projekten beflissent­lich übersehen und ist nicht gerade für Transparenz und demokratische Konsul­tationen bekannt. UNDP und UNEP sind zu bürokratisch, um effektiv arbeiten zu können.
– Die GEF konzentriert sich auf kurzfri­stige Projekte, obwohl gerade der Um­weltbereich langfristige Investitionen und Programme erfordert.
– Der Schwerpunkt der GEF liegt im Be­reich staatlicher Unterstützung und läßt NRO fast überall außen vor.
Zu besonders heftigen Kontroversen hat die Beteiligung der Weltbank an der GEF geführt. Während einige NRO die Beteili­gung der Weltbank an der finanziellen Verwaltung der GEF akzeptieren, bezwei­feln die meisten die allgemeine Kompe­tenz der Bank im Bereich Umwelt. Die Kompetenz einzelner MitarbeiterInnen aus der Weltbank wird hingengen hoch gelobt.
Die Kritik an der GEF hat dazu geführt, daß sie nach der Pilotphase im März 1994 restrukturiert wurde bzw. werden soll. Um den Entwicklungsländern mehr Mitspra­che zu verschaffen, wurde der GEF-Auf­sichtsrat tatsächlich paritätisch besetzt: 16 Sitze gehen an die Entwicklungsländer, 14 an Industrie- und zwei an osteuropäische Transformationsländer. Für die Projekt­durchführung bleiben allerdings weiterhin die drei genannten Organisationen ver­antwortlich, so daß von einer “grund­sätzlichen Reform”, wie es die Ge­ber­län­der gerne darstellen, bisher nicht die Rede sein kann.
Artenvielfalt: wann gibt’s Geld wofür?
Die von der UNEP aufgestellten Vergabe­kriterien für GEF-Zuschüsse sind sehr vage und werden teilweise recht fragwür­dig gehandhabt.
Die GEF finanziert grundsätzlich nur Projekte, bei denen die Kosten für das Land gegenüber dem Nutzen zu hoch sind, als daß das Land das Vorhaben durchführen könnte. Einfaches Beispiel: Der Aufbau eines Nationalparks zum Schutz bedrohter Tierarten wird von der GEF als förderungswürdig eingestuft. Komplizierter wird es, wenn dieser Park für den Tourismus attraktiv sein könnte und das Land dadurch höhere Einnahmen (= höheren Nutzen) besäße. Aufgrund die­ser Annahme finanziert die GEF nur die “Zusatzkosten”, die ihrer Ansicht nach nicht aus nationaler Tasche bezahlt wer­den können. Daraus ergeben sich so ab­surde Situationen wie die in Costa Rica: Durch den vom IWF-Programm aufge­zwungenen Sparkurs mußte Costa Rica zwei Drittel des Personals für die Natio­nalparks entlassen. Dies erschwerte die Erhaltung des erreichten Parkstandards. Überdies sanken die Einnahmen durch den Ökotourismus, da nicht mehr ausrei­chend ReiseführerInnen zur Verfügung standen. Gleichzeitig finanzierte die GEF lediglich zwei Projekte zur “biologischen Forschung und Training des Parkmana­gements”, da potentiell Einnahmen aus dem Ökotourismus vorhanden wären.
Die Vergabe von Geldern richtet sich weiterhin danach, ob das Projekt innovativ ist. Großvaters Lehren über den Umgang mit natürlichen Ressourcen sind nicht ge­fragt: neu ist gleich gut. Daß bei moderner Technologie oftmals die Kostenkontrolle aus den Augen verloren wird, liegt auf der Hand. Viele Pilotprojekte haben sich als so teuer erwiesen, daß sie nach Vergabe der GEF-Gelder nicht weitergeführt, ge­schweige denn auf andere Gebiete über­tragen werden können.
In Lateinamerika werden neben den ge­nannten in Costa Rica, folgende Projekte im Bereich Artenvielfalt gefördert:
Weltbank:
– Bolivien: Stärkung des Schutzzonen-Managements und der nationalen Institu­tionen über bolivianischen Treuhand­fonds. (5 Mio. US-Dollar)
– Brasilien: noch kein Projekt festgelegt. (30 Mio. US-Dollar)
– Ecuador: Schutz der Artenvielfalt durch Stärkung der legalen Rahmenbedingungen und des Parkmanagements. (6 Mio. US-Dollar)
– Mexiko: Unterstützung des Manage­ments von 20 Schutzgebieten. (30 Mio. US-Dollar)
– Peru: Etablierung eines Treuhandfonds für Management, Training, Ausbildung usw. im Bereich Artenschutz. (4 Mio. US-Dollar)
UNDP:
– Amazonasregion: Strategien zur Erhal­tung natürlicher Ressourcen. (5 Mio. US-Dollar)
– Argentinien: Entwicklung eines regio­nalen Managementplans für Patagonien. (3 Mio. US-Dollar)
– Belize: Forschung und Beobachtung so­wie Entwicklung eines Managementplans für das längste Felsenriff Lateinamerikas. (3 Mio. US-Dollar)
– Costa Rica: Finanzierung von biologi­scher Forschung und Training von Park­management (8 Mio. US-Dollar)
– Dominikanische Republik: Protektion von Samana Bay, incl. wissenschaftliche Basisstudien. (3 Mio. US-Dollar)
– Guayana: Programm für nachhaltiges Tropenwaldmanagement. (3 Mio. US-Dollar)
– Kolumbien: Bewahrung der Artenvielfalt im Chocó. (9 Mio. US-Dollar)
– Kuba: Schutz und nachhaltige Entwick­lung des Sabana-Camaguey Archipels. (2 Mio. US-Dollar)
– Uruguay: Schutz der Artenvielfalt in den östlichen Feuchtgebieten. (3 Mio. US-Dollar)

Bemerkenswert ist zunächst einmal die vage Formulierung der meisten Projekte und insbesondere auch der Fall Brasilien. Gerade dieses Beispiel zeigt, daß die Auswahl der Länder und Schutzgebiete eher aus politischen als aus ökologischen Gründen erfolgte.
Die oben genannte Kritik an kurzfristiger Finanzierung gilt auch für die aufgeliste­ten lateinamerikanischen Projekte: sie machen nur Sinn, wenn sie auch nach der GEF-Projektperiode (2-5 Jahre) weiterge­führt werden. Die meisten Länder sind aber zur Zeit nicht in der Lage (oder auch nicht willens), für Projekte zum Schutz der Artenvielfalt Geld bereitzustellen. Ein geplanter Treuhandfonds wie in Peru oder die Unterstützung eines bereits existieren­den wie in Bolivien ist unter diesen Um­ständen besser als stark eingegrenzte Pro­jekte, da hierdurch Zahlungen über einen langen Zeitraum garantiert werden kön­nen. Eine Weiterfinanzierung der meisten anderen Projekte ist unwahrscheinlich, da bei der bisherigen Projektfinanzierung Länder mit großer Artenvielfalt wie Gua­temala, Indien, Madagaskar, Malaysia, Tansania und Zaire ausgelassen wurden, die sich bei einer weiteren Runde stark zu Wort melden werden.
Die Projekte decken zudem sehr unter­schiedliche Ökosysteme ab, vom tropi­schen Regenwald über Meeresbiotope, Feucht- und Trockengebiete. Wenn man sich die zur Verfügung stehenden Gelder ins Gedächtnis ruft und bedenkt, daß mehr oder weniger zu jedem Projekt intensive Studien aufgestellt und ausländische Ex­perten bezahlt werden, dann entsteht der Eindruck, die GEF wolle ihre Vielfalt be­weisen und übernimmt sich ganz ordent­lich. Viele der genannten Projekte wurden unter – politischem – Zeitdruck bereits Ende 1993 eingeführt; Diskussionen und Evaluierungen von unabhängigen Gut­achter oder NRO haben so gut wie gar nicht stattgefunden bzw. wurden mit der Entschuldigung “Mittelabflußdruck” un­terbunden. Die meisten lateinamerikani­schen Projekte fallen in die Kategorie der “wenig beeindruckenden Mittelabfluß­druckprojekte”, allen voran Brasilien und auch Mexiko.
Erstaunlich ist auch die mangelhafte Aufmerksamkeit gegenüber politischen Zwängen. Selbst bestens geplante Projekte können scheitern, wenn Wirtschaftspoli­tik, Handelsabkommen, Strukturanpas­sungsprogramme und Gesetze über Bo­deneigentum einen dauerhaften Schutz der Artenvielfalt behindern. Hinzu kommen noch Entwicklungsprojekte, die den Um­weltschutz konterkarieren und oft von derselben Durchführungsorganisation stammen. Eine Aufstockung der GEF-Gelder, wie sie von allen Seiten berech­tigterweise gefordert wird, wird unter die­sen Umständen keine erhebliche Verbes­serung des Artenschutzes bringen.
Scheitern an alten Strukuren
Nach dem bisher Gesagten verlief die GEF-Pilotphase nicht sehr beeindruckend. Auch in Zukunft wird sich daran nicht viel ändern, da insbesondere die Weltbank an ihrer üblichen Praxis festhalten wird: Auswahl nach politischen Gesichtspunk­ten, fast nur öffentliche Organisationen als Ansprechpartner, mangelnde Flexibilität bei Projektdesign und -durchführung, keine sozioökonomischen Studien, kurze Projektzyklen, Einsatz ausländischer Ex­pertInnen und rein symbolische Beteili­gung der lokalen Bevölkerung. Bei der GEF können diese Probleme allerdings wenigstens abgemildert werden, wenn die beteiligten NRO – und gerade die großen – ihren Einfluß so stark wie möglich geltend machen. Die Weltbank läßt sich sonst normalerweise nicht in die Karten sehen, daher sollte jede Möglichkeit der Einflußnahme ausgenutzt werden. Bei der derzeitigen fi­nanziellen Ausstattung ist die Auswirkung der GEF auf globale Umweltschutzmaßnahmen jedoch nur von marginaler Be­deutung. Die GEF bleibt ein Trostpflaster, das die eigentlichen Ursachen der Um­weltzerstörung nicht angeht.

Die Dinge stehen schlecht

Als der junge Kommunist Carlos Cerda nach dem Putsch im September 1973 wie Tausende seiner Landsleute den Weg ins Ostberliner Exil antritt, beschränkt sich seine literarische Pro­duktion auf einschlä­gig Weltanschau­liches. Der Doktor der Philosophie an der Universidad de Chile, der unter anderem auch Unterricht an der Theaterschule genommen hat, kann auf die Veröffentlichung eines Essays mit dem Titel “El leninismo y la victoria po­pular” (Der Leninismus und der Sieg des Volkes) zurückblicken.
In der DDR weitet Cerda, der dort den Doktortitel für Literaturwissen­schaft er­wirbt und zuletzt an der Humboldt-Uni­versität über lateiname­rikanische Literatur doziert, sein schriftstellerisches Schaffen aus. Er schreibt Erzählungen, Hörspiele, Ro­mane. Im Gegensatz zu vielen anderen ChilenInnen hat er es relativ leicht, auch das Leben westlich der Mauer kennenzu­lernen. Im Dezember 1984 kehrt er nach Chile zurück.
In “Morir en Berlín” zeichnet Cerda den Alltag und die spezifischen Kon­flikte der ExilchilenInnen in kalten Farben und ohne Mitleid. Fremd geblieben in einer grauen und büro­kratischen Welt mit schwer nachvoll­ziehbaren Spielregeln, im Ost­berliner Winter, überschneiden sich und kolli­dieren die Schicksale mehrerer Prot­agonisten(paare):
Zunächst ist da der Chilene Mario, der für die Beziehung mit der Tochter ei­nes Mini­sters seine Frau Lorena ver­lassen hat. Cerda stellt literarischen Bezug zum Mo­tiv der “Medea” aus der griechischen Tra­gödie her: Der Verbannte, der “die Toch­ter des Kö­nigs” zur Frau nimmt, steigt auf, fällt heraus aus dem Chor der Minderpri­vilegierten, der Bewohner des chileni­schen “Ghettos”, für die er zum Fremden wird.
Lorena, die Verlassene, begehrt gegen das enge Korsett staatlicher Bevor­mundung auf und beantragt gegen den erbitterten Protest der mit Partei und Bürokratie kooperierenden chilenischen Oficina die Ausreise nach Mexiko. Sie erfährt vom unerwarteten Besuch ihrer Eltern aus Chile. In einer Szene voll­kommener Trostlosigkeit zerbrechen die “frommen Lügen” der Exilantin, die zur Beruhigung Briefe voller gefäl­liger Schilderungen des Lebens in Deutschland nach Hause ge­schickt hat, aber auch die der Eltern, die in Wirklichkeit im Zuge des wirtschaftli­chen Zusammenbruchs den Glauben an das Pinochet-Regime sowie ihre ganze Habe verloren haben und nun Zuflucht bei der Tochter suchen.
Schließlich der ehemalige Senator, ein alt gewordener orthodoxer Kommunist, des Deutschen nicht mächtig, der aus einer unreflektierten Dankbarkeit dem soziali­stischen Staat und “Gastgeber” gegenüber seine Landsleute zu system­konformem Verhalten anzuleiten sucht. Am Tag, an dem er von seiner tödli­chen Krankheit er­fährt, macht er die Zufallsbekannschaft einer jungen deutschen Tänzerin. In dieser vielleicht ersten echten Begegnung mit ei­ner Bürgerin des von ihm verehrten Staa­tes bekommt er mit einem Mal das ganze Ausmaß seiner Isolation zu spüren. Gleichzeitig aber verschließt er verzwei­felt die Augen vor den Schat­tenseiten ei­nes Sozialismus, der die junge Frau als Vorzeigeobjekt seiner kulturellen “Leistungsfähigkeit” mißbraucht.
Das Buch ist eine – nicht polemische – Abrechnung mit dem System der DDR, das für viele zur Rettung nach der Verfol­gung durch die Militärs ge­worden war, gleichzeitig aber auch eine virtuose und beklemmende Studie über menschliche Abgründe, über das Fest­klam­mern an brüchig gewordenen Ideologien, über Schuld, Lüge und Depression. Dabei be­wahrt Cerda – trotz des kalten, ana­ly­tischen Blicks – eine solidarisch wirkende Anteilnahme am Schei­tern seiner Figuren.

Interview mit Carlos Cerda
Inwieweit spiegeln das Leben und die Konflikte der Personen in Ihrem Buch “Morir en Berlín” Ihre persönlichen Er­fahrungen in der DDR wider?
Jeder Roman ist zu einem guten Teil au­tobiographisch – und jedes Zeugnis einer persönlichen Erfahrung enthält einen großen Anteil an fiktiven und poetischen Elementen. “Morir en Berlín” ist ein Ro­man, der mein Le­ben, aber auch das vieler anderer Chi­lenen in der DDR zum Thema macht. Darüber hinaus ist es aber auch ein Buch über den Zusammenstoß zwi­schen den Idealen, den Utopien, die uns hierher ins Exil gebracht hatten, und der für uns außerordentlich span­nungsreichen, kon­fliktgeladenen und bis zu einem gewissen Grad entfrem­denden Wirklichkeit dieses Staates. Dessen Fehler sind zu Genüge be­kannt, und ich halte es schlichtweg für eine Dummheit, aus einer falsch verstan­denen Loyalität heraus diese Defizite rechtfertigen zu wollen. Wenn nun Chile­nen, aber auch Deutsche, die in der DDR gelebt haben, mein Buch mit dem Hinweis auf heute ge­schehende, von einem ande­ren System verübte Ungerechtigkeiten kri­tisieren, dann hat das eine mit dem ande­ren einfach gar nichts zu tun. Ich habe Ge­spräche mit vielen Exil-Chilenen geführt, die nach dem Anschluß der DDR ihre Ar­beit, aber auch die Aner­kennung ihrer per­sönlichen Würde verloren haben. Das wa­ren Willkürakte, die mit nichts zu recht­fertigen sind. Aber dieses Buch handelt von etwas ganz anderem, von der Realität in der DDR bis zum Jahre 1985, als ich hier lebte. Ich hätte übrigens nach 1989 die Gunst der Stunde nutzen und in Chile einen Roman über den Fall der Mauer veröffentlichen können – aus kommer­zieller Sicht sicherlich ein größerer Erfolg. Aber das hätte ich unredlich gefunden: Ich kann nur über das be­richten, was ich selbst erlebt habe.
In der Tat habe ich auf indirekte Weise von vielen Seiten Kritik an mei­nem Buch erhalten. Der Tenor dieser Kritik – meist von chilenischen Kom­munisten, die mit mir hier im Exil ge­lebt haben, aber auch von solchen, die in der BRD lebten und gleichzeitig das System der DDR vertei­digten – unter­stellt mir eine Art Verrat. Verrat an den kommunistischen Idealen zu einem Zeitpunkt, da es angebracht wäre, diese mehr denn je zu verteidigen.
Ich habe früher nie einen Hehl aus meiner Mitgliedschaft in der Kommu­nistischen Partei gemacht. Ausgetreten bin ich 1983, ein Jahr vor meiner Rückkehr nach Chile. Seitdem habe ich keine Verbindung mehr zur Partei. Mein Austritt hatte zwei Gründe: Ei­nerseits die absolute Unfähig­keit der Kommunisten, zu erkennen, daß das System der DDR sozialistischen Idealen einfach widersprach. Anderer­seits die verfehlte Strategie des bewaff­neten Kampfes gegen die Diktatur in Chile: Er hat nicht zum Erfolg geführt, aber den Tod von hunderten hervorra­genden Ge­nossen bedeutet. Vor die­sem Hintergrund meiner Trennung von der KP läßt sich mein Buch besser verstehen.
Hat sich in den 12 Jahren ihres Exils in der DDR ihr Urteil über diesen Staat zur Kritik hin gewandelt oder waren Ihnen die Widersprüche der re­alsozialistischen Wirklichkeit von An­fang an bewußt?
Für uns Chilenen, die wir aus einem Land der Dritten Welt – und darüber­hinaus aus einer brutalen Diktatur – in die DDR kamen, war der erste Ein­druck außeror­dentlich positiv. Nicht nur aufgrund der Geste umfassender Solidarität, die uns zuteil wurde. Uns beeindruckte zutiefst ein Staat, der so massiv ein kulturelles Leben förderte; uns faszinierte eine Ge­sellschaft, die sich als antirassistisch defi­nierte. Die Ideale von Gleichheit und Menschlich­keit, die beschworen wurden, schienen unsere eigenen zu sein. Und das Le­bensniveau war in unseren Augen – vielleicht nicht im Vergleich zur BRD – relativ hoch. Vor allem aber hatten wir das Gefühl, in einem Land zu sein, das nach vorn schaute und das – so kam es uns damals vor – gar nicht so viel Angst vor Kritik, vor Dissidenz hatte.
Der erste Schritt zu einer realistische­ren Sichtweise war das Erlernen der deut­schen Sprache. Wir begannen uns mit dem Arbeitskollegen, der Sekretä­rin, dem Taxifahrer zu unterhalten, mit dem Nach­barn, der zum selben Fußballspiel ging. Das waren teilweise sehr offene Gesprä­che. Sie fragten mich: “Warum sind Sie eigentlich hierher ge­kommen?” – “Weil es in meinem Land eine Diktatur gibt.” – “Aber wie konnten Sie denn dann hierher aus­reisen?” – “Ich bin hier im Exil.” – “Aber kann denn ein Chilene, der in sei­nem Land lebt, nach Argentinien, nach Peru, nach Bolivien reisen?” – “Wenn ihm das seine ökonomische Situation erlaubt, natürlich.” – “Sehen Sie, ich kann nicht einmal meine Mutter in Bremen besu­chen.” Solche Gespräche waren irgend­wann aus­schlaggebender als das, was uns der Hauswart oder die Lehrerin über Mar­xismus-Leninismus erzählten. In “Morir en Berlín” habe ich dies in eine Szene zu fassen versucht, in der zwei Chileninnen im “Linden-Korso” auf zwei junge Deutsche treffen, die in die Partei­schule gehen. Da kommt es nicht nur zu einem billigen Flirt, sondern zu einer echten Annäherung, als einer der beiden sagt: “Die Dinge stehen schlecht bei euch und hier auch.”
Desillusionierung angesichts innenpo­litischer Verhärtung
Uns Chilenen jedenfalls gingen späte­stens zu dem Zeitpunkt die Augen auf, als sich die Lage in Polen zuspitzte und Jaruzelski an die Macht kam. Plötzlich wurde offenbar, daß die DDR zweierlei Maß an­legte: Was sie im Falle Chiles so scharf verurteilt hatte, lobte sie auf einmal in ih­rem Nach­barland. Und die Ähnlichkeit der Vor­gänge war erschreckend: das Parla­ment aufgelöst, die Gewerkschaft verbo­ten, die im Ansatz kritische Presse zen­siert – mit anderen Worten: eine Diktatur. Selbst der General Jaruzelski mit seiner dunklen Brille glich dem General Pi­nochet – auch wenn das eine zufällige Parallele ist.
Zuletzt begann sich ja das System der DDR unter dem Eindruck der Ereig­nisse in Polen, später in der So­wjetunion, im­mer mehr zu verhärten. In der Humboldt-Uni, wo ich arbei­tete, wurden plötzlich renommierte und beliebte Dozenten, die nicht der SED angehörten, gegen Partei­kader ausge­tauscht. Es wurde an keinem Punkt mehr eine Öffnung zugelassen. Vor dem Hintergrund dieses Prozesses habe ich damals die DDR verlassen.
Als ich zurück in Chile war, war der ge­sellschaftliche Protest gegen die Diktatur in vollem Gange. Die regel­mäßigen De­monstrationen auf den Straßen, die offene Ablehnung des Re­gimes hatten eine ziemlich breite Basis, bis diese zusam­menschmolz – nicht zuletzt aufgrund der Option der KP für den bewaffneten Kampf gegen die Militärherrschaft. In die­sem Zusam­menhang stand auch das At­tentat ge­gen Pinochet 1986, das eine enorme Repression, aber auch einen Stim­mungsumschwung zugunsten der Rechten bewirkte. Der Schluß, den ich daraus ziehe, ist, daß die Kommuni­stische Partei hier und dort die falschen Wege ge­gangen ist. Daß ich dies in meinem Buch benenne, hat mir aus diesem Lager freilich schärfste Ablehnung beschert.
Hätten Sie dann nicht schon viel frü­her, noch in der DDR, offen Kritik an den von Ihnen empfundenen Mißstän­den üben sollen?
Im Rahmen meiner Möglichkeiten glaube ich, das getan zu haben. Bei­spielsweise habe ich Anfang der acht­ziger Jahre ein Hörspiel für den Rundfunk der DDR ge­schrieben. Die Geschichte hieß “Die Zwillinge von Calanda” und schilderte auf metapho­rische, aber ziemlich offensichtli­che Weise die Doppelmoral, die Schizo­phrenie von Menschen, die in einem tota­litären System leben: Den Men­schen von Calanda wächst eine Art siamesischer Zwilling aus dem eigenen Körper, der immer das sagt, was der andere gewohnt war zu verschweigen. Am Ende töten diese Menschen ihr verhaßtes, uner­wünschtes alter ego. Als ich mit dem Ent­wurf zu den verant­wortlichen Redakteuren kam, die sehr offen für kritische Töne waren, sagten sie: “Tja, das könnte ganz schön schwierig werden. Aber wenn man ge­nügend lateinamerikanische Musik unterlegt…” Schließlich wurde es gesen­det, und nicht ohne Erfolg. Für mich ist so etwas durchaus Kritik.
Wie wurde Ihr Buch in Chile aufgenom­men? Beschränkt sich das Interesse auf den Personenkreis derer, die auch das Exil durchgemacht haben, oder gibt es eine breitere Aufmerk­samkeit?
Das Buch erschien in erster Auflage im Sommer 1993. Inzwischen ist die vierte Auflage á 3000 Exemplare ge­druckt wor­den, was für Chile einen enormen Erfolg darstellt. Die Kritik war bis auf Ausnah­men sehr positiv, selbst im Punto Final, einer Zeitschrift des linken MIR, wurde es gelobt. Im Mai diesen Jahres hat es den zweiten Preis beim Premio Pegaso ge­wonnen, einem lateinamerikanischen Lite­raturpreis, an dem über 400 Romane aus den Jahren 1990 bis 1993 teilnah­men.
Welche kulturelle, aber auch politische Rolle kann Literatur heute in Chile spie­len? Welche Rolle sollte sie spie­len?
Ich glaube, die Literatur – und die Kunst im allgemeinen – spielt immer eine positive Rolle, wenn es darum geht, ein von Vernunft, von Respekt gegenüber kontroversen Ansichten ge­prägtes Klima zu schaffen. Vor allen Dingen aber schärft sie das moralische Urteilsvermögen. Die Länder Latein­amerikas sind heutzutage im Begriff, wirtschaftlich wieder Fuß zu fas­sen, meine ich. Sie bieten ihre Produkte mit zunehmendem Erfolg auf dem Welt­markt an und stehen davor, Rück­stände aufzuholen, die sich in Jahr­zehnten aufge­baut haben. Aber dieser Prozeß, der an und für sich positiv zu beurteilen ist, birgt die Gefahr, daß unser alltägliches Leben in zunehmen­dem Maße nur noch von den Charak­teristika des Produktionsprozesses und des Konkurrenzdenkens geprägt wird. Unter dem ökonomischen Druck wird un­ser Lebensstil von Tag zu Tag entfremde­ter, vom Prinzip der Kon­kurrenz diktiert. Die Fähigkeit zur Kritik, zum Urteilen, das Gefühl für unsere Identität als Latein­amerikaner gehen dabei verloren.
Bücher sind in unserem Kontinent – und zumal in Chile – ein knappes Gut: Für den größten Teil der Bevölkerung sind sie zu teuer, und Leihbüchereien gibt es praktisch überhaupt nicht. Freilich muß man in Be­tracht ziehen, daß es immer weitaus mehr Leser als Käufer von Büchern gibt. Pro ver­kaufter Ausgabe zirkulieren oft vier oder fünf kopierte Versionen eines Wer­kes. Aber ich finde sehr interes­sant, was Carlos Fuentes vor­geschlagen hat: Die lateinamerikanischen Regie­rungen sollten bei ihrer nächsten Ver­handlung zum Ab­bau von Handels­hemmnissen als ersten Tagesordnungs­punkt die Frage der Lite­ratur behan­deln. Noch vor allen anderen Gütern – Kiwis, Orangen, Kaffee – vor irgendei­nem Pro­dukt unseres Bodens und un­serer Arbeit sollten Bücher – als gei­stige Produkte der Völker unseres Kontinents – ohne einen Peso Abga­ben oder Zölle die Grenzen passieren. Das hätte auch eine Verbilli­gung der Literatur zur Folge.
Vergangenheitsbewältigung der Dikta­tur
Die Hauptfigur in Ihrem Buch, ein Chi­lene im Ostberliner Exil, erklärt ei­ner Deutschen in einer Metapher, daß es “viele Chilenen gibt, die in Weimar woh­nen und von Buchenwald nichts wissen wollen”. Sie ziehen also Paral­lelen zwi­schen der deutschen und der chileni­schen (jüngsten) Vergangenheit. Kann und muß die Literatur in Chile einen Beitrag zu ei­ner Vergangenheitsbewäl-tigung leisten?
Auf jeden Fall. Das muß in der Kunst, in der Literatur geschehen, denn die Politik kann das in Chile nicht leisten, was ich durchaus nachvollziehen kann. In der lite­rarischen Reflexion, aber auch im Theater und im Film können Rechnungen begli­chen werden, können Konflikte ausgetra­gen werden, die auf dem Gebiet der Poli­tik nur zu unheil­vollen Konfrontationen führen würden. Ein Beispiel aus einem anderen Land: Die Konflikte, die der ku­banische Film Fresa y Chocolate auf­greift, werden auf diese Weise bewußter und kon­kreter, als eine Behandlung des The­mas auf politischer Ebene. Wenn wir also heute drängende ethische Fragen, die unser Land beschäftigen – die To­ten, Ver­schwundenen, das Exil etc. – ins Bewußt­sein rufen wollen, dann funktio­niert das besser in der Einsam­keit des Le­sens als in einer Auseinan­dersetzung zwi­schen Par­teien. Die Romane von Heinrich Böll ha­ben mehr zur Aufarbeitung der deutschen Ver­gangenheit beigetragen als die meisten Diskussionen im Bundestag über dieses Thema. Die moralischen Kon­flikte ei­ner Gesellschaft werden am tief­gründigsten durch ihre kulturellen Akti­vitäten bewäl­tigt.
Was wäre – nach Ihren Erfahrungen mit dem Leben in der DDR und vor dem Hintergrund des politischen Pro­zesses in Chile – Ihre Definition, heute links zu sein?
Eine zutiefst humanistische Antwort auf die heutigen Probleme zu geben. Auf die alten, wie Armut, Ungerech­tigkeit, Ras­sismus, Diskriminierung, und auf die neuen: Umwelt, öffentliche Moral, Indivi­dualismus. Für die Linke, wie ich sie defi­niere, gibt es den un­umstößlichen Wert des Menschen und das Verdienst, gegen jede Art von Diktatur gekämpft zu haben – und ge­gen die egoistischen Partialinteres­sen der Unternehmen. Diese Welt ist mo­mentan eine Welt der Unternehmen. Um sie wieder zu einer Welt des Men­schen zu machen, muß der Staat regulie­rend ein­greifen, die Wirtschaft den Inter­essen der Menschen unter­ordnen.
In Chile, glaube ich, läßt die Demo­kratie selbst in ihrer jetzigen Form Platz für alle möglichen Ziele – auch für dieses. Ob im Jahr 2000, wenn eine neue Regierung ge­wählt wird, die Concertación (die Regierungs­koalition in Chile, Anm. d. Red.) weiter­macht wie bisher, oder ob sich die Macht nach links oder rechts verschiebt, ist voll­kommen offen. Aber genau das führt zu einem größeren Verantwortungsbewußt­sein bei denen, die heute Politik machen.
Gibt es irgendeinen Zusammenhang, ein verbindendes Element zwischen den Auto­ren der sogenannten “Nueva Nar­rativa Chilena”, der auch Sie zu­gerechnet werden?
Es gibt einen Zusammenhang, der über die Tatsache hinausreicht, daß wir mehr oder weniger der selben Genera­tion an­gehören. Ich halte es für ein relativ neues kulturelles Phänomen in Chile, daß ausge­rechnet chilenische Autoren zu den meist­gelesenen gehö­ren. Es ist ungeheuer be­deutend für ein Land wie das unsere, daß auf ein­mal die eigene Literaturproduktion im Mittelpunkt des Interesses steht. Wohlgemerkt: das soll zu keinem kul­turellen Nationalismus führen. Aber früher gab es einfach kein Vertrauen in unsere eigene Literatur. Kein Wunder, denn wer seine Bücher während der Diktatur veröf­fentlichen konnte, mußte ja von vornher­ein das Plazet der Zen­sur erhalten haben. Genauso war es unter der Franco-Herr­schaft in Spa­nien: Plötzlich gab es einen Nachfra­geboom nach latein­ame­rikanischer Li­teratur, denn zensierte Kul­tur hat nun mal einen faden Beige­schmack.
Was die Nueva Narrativa Chilena an­geht, so vereint sie AutorInnen mit teil­weise sehr unterschiedlichen politi­schen Über­zeugungen, mit sehr ver­schiedenen Stilen, und das ist gut so. Wir sind kein Fußball­team, wir suchen kein gemeinsa­mes Pro­gramm, sondern wollen unabhän­gig von­einander dem Beruf des Schrei­bens nach­gehen.
Zu guter letzt: Was machen Sie jetzt, und was sind Ihre Projekte?
Ich schreibe an einem neuen Roman und an einem Hörspiel. Darum dreht sich für mich momentan alles: weiter­schreiben und weiterleben.
Und vom Schreiben leben?
Nie und nimmer! Das können die wenig­sten, und in Chile schon gar nicht. Was mich betrifft, ich arbeite vormittags in ei­ner Werbeagentur, die ich auch leite. Die Nachmittage gehö­ren dann ausschließlich der Schrift­stellerei.
Stellt das für Sie keinen Widerspruch dar, Werbung und Literatur?
Schon. Aber man muß eben lernen, mit Widersprüchen zu leben.
Herr Cerda, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Alles paletti

Bis zum Vertragsabschluß war es ein weiter Weg: der BGI hatte ein ‘Gütesiegel für kolumbianische Blumen’ schon zum Muttertag 1993 angekün­digt. Allerdings erwiesen sich die weiteren Schritte – allen voran das Einver­ständnis der kolumbiani­schen Exporteure – schwieriger als ge­dacht, so daß noch einige Zeit verging, bis endlich zu­mindest das grundlegende Ver­tragswerk der Öffent­lichkeit vorgestellt werden konnte. Nach den bisherigen in­haltlichen Ausführungen bleibt jedoch Skepsis angebracht, ob sich damit die Verhältnisse auf den Blu­menplantagen tatsächlich verbessern. Die kolumbiani­sche Blumenindustrie, welt­weit zweit­größter Schnitt­blumenexporteur, hat auf­grund der Produktions- und Arbeitsbedin­gungen in ihren Betrieben in den letzten Jahren vor allem in Europa zunehmend Negativschlagzei­len gemacht. Eine allzu kri­tische Presse und Öffent­lichkeit, dazu Debatten bis ins Europaparlament hinein sind nicht gut für einen Bereich, in dem täglich neue Anbieter auf den interna­tionalen Markt drängen.
Alter Hase im Blumengeschäft
Für Kolumbien sind Blumen ein wichtiges Geschäft: schon in den 60er Jahren wur­den die ersten Betriebe in der Hochebene rund um die Hauptstadt Bogotá ge­gründet. Die Sabana de Bo­gotá bot günstigste Voraus­setzungen für den Blumen­anbau, die diesem Wirt­schaftszweig schon bald traumhafte jährliche Zu­wachsraten be­scherten: ein hervorragendes Klima mit hoher Sonneneinstrahlung, fruchtbarer Boden zu gün­stigen Preisen, ausreichend Wasser, eine gute und schnelle Anbindung an den Flughafen von Bogotá, nur wenige Stunden entfernt vom Importmarkt der USA, Miami. Und nicht zuletzt gab es ausreichend billige Arbeits­kräfte, deren Entlohnung um ein vielfaches niedriger lag als in den industrialisierten Ländern: Betrug der durch­schnittliche Tageslohn im landwirtschaftlichen Bereich der USA 1966 18 US-Dollar und 1970 21,25 US-Dollar, waren es in Kolumbien gleichblei­bend nur ganze 82 Cent, die ein/e Blumenar­beiterIn im Durchschnitt pro Tag verdiente.
Heute sind Blumen das drittwichtigste landwirt­schaftliche Exportprodukt Kolum­biens nach Kaffee und Bananen, mit dem immerhin noch 4 – 5 Prozent des Ge­samt­exportvolumens des Landes erwirtschaftet wer­den. Im letzten Jahr wurden über 130.000 Tonnen Blumen im Gesamtwert von über 380 Millionen US-Dollar expor­tiert. Etwa drei Viertel des Exports gehen in die USA, jedoch kommt auch den Märkten Westeuropas eine wichtige Rolle bei der Ver­marktung inmitten einer im­mer größer werdenden Kon­kurrenz von ande­ren ‘Drittweltlän­dern’ zu.
Steigender Konkurrenzdruck – Suche nach der Nische
Trotz Wirtschaftskrise und Rezession sind die hiesigen Märkte noch ausbaufähig, und Blumen werden immer gekauft. Spitzen­reiter im Konsum ist die Bundesrepu­blik, in die Kolumbien bisher nur etwa ein Viertel seiner EU-Exporte liefert. Das ent­spricht jedoch nur zwei Prozent des jährlichen deut­schen Blumen­umsatzes. Mög­lich ist da noch viel: nir­gends sonst wird pro Kopf so viel Geld für Blumen ausgegeben wie in Deutsch­land, dem weltweit größten Importmarkt für Schnittblu­men mit einem Jahresumsatz von 8 Milliarden Mark. Etwa 80 Prozent der Blumen sind Importware. Diese wird zwar zum größten Teil aus Holland eingeführt, aber es bleibt immer noch ge­nügend Spiel für Zuwachsraten anderer Produzentenländer wie etwa Kolumbien. Zudem ist der Export nach Europa vor al­lem im hiesigen kalten Winter ein wichti­ges Geschäft, wenn auch die beste Heiz­anlage in niederländischen Gewächshäu­sern nicht mehr das rechte Resultat bringt und umsatz­starke Feiertage wie Weih­nachten, Silvester, Valen­tins- und Mut­tertag ins Haus stehen.
Auch die anderen westeuro­päischen Län­der sind wich­tige Exportmärkte: In den englischen Handel geht etwa die Hälfte der EU-Trans­porte, den Rest teilen sich die übrigen Mitgliedsländer. Nimmt man die Fast- und -Im­mer-noch-nicht-EU-Staaten Norwegen, Schweden, Öster­reich oder die Schweiz hinzu, werden insgesamt etwa 20 Prozent der gesamten ko­lumbianischen Blumenproduk­tion in die EU impor­tiert. Zudem können Blumen seit dem 1990 im Rahmen der ‘internationalen Drogenbekämpfung’ geschlos­senen Zoll­präferenzabkommen mit den Andenlän­dern (Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Peru) zollfrei in die EU einge­führt wer­den. Die Ver­längerung dieses bis Ende 1994 befristeten Abkommens um weitere 10 Jahre wird gerade in den Gre­mien der Europäischen Union innerhalb des Allge­meinen Zollpräfe­renzsystems diskutiert.
Blühende Landschaften – ausgelaugte Menschen
Gerade in Westeuropa je­doch, und hier vor allem in der Bundesrepublik, Öster­reich und der Schweiz, nah­men in den letzten Jahren die Stimmen derer zu, die die Produktionsbedingungen auf den Blumenplantagen und die Lebens- und Arbeitsbe­dingungen der Blumenarbei­terInnen kritisieren und ih­ren Klagen über die zahl­reichen Verletzungen mini­malster Grundrechte auch in den Verkaufsländern öffent­liches Gehör verschaffen. In Ko­lumbien arbeiten heute etwa 80.000 Men­schen, in der Mehrzahl Frauen, direkt in der Blumenindustrie. Weitere 50 – 60.000 sind in ange­gliederten Produktionszwei­gen beschäftigt, in der Zu­lieferung, dem Transport, der Herstellung von Ver­packungsmaterial und Pla­stikplanen usw. 600.000 Per­sonen sind, so die Schät­zungen, insgesamt von der Arbeit auf den Blumenplan­tagen abhängig. Der Preis, den sie und vor allem die Arbeiter und Arbeiterinnen bezahlen, ist hoch: Der Ar­beitsalltag ist lang mit nur kurzen Pausen, um sich von den körperlichen Strapazen stundenlangen Stehens oder Arbeitens in der Hocke und auf den Knien zu ‘erholen’. Kommen längere Anfahrwege hinzu, sind die Frauen und Männer schon an norma­len Arbeitstagen häufig 12 Stunden und länger außer Haus. Vor allem zur Haupterntezeit, die im Ok­tober beginnt, kommen Über­stunden hinzu, die die ge­setzlich erlaubten Maximal­zeiten oft weit überschrei­ten und häufig auch noch den einzigen arbeitsfreien Tag, den Sonntag, ein­schließen. Bezahlt wird dabei gerade einmal der gesetzlich vorgeschriebene Mindestlohn. Der liegt im Moment bei etwa 120 US-Dollar im Monat – was bei weitem zu wenig ist, um eine Familie auch nur mit dem Notwendigsten zu ver­sorgen.
hire and fire
Die Anstellungsverhältnisse sind unsicher. Immer mehr ArbeiterInnen sind nicht fest beim Betrieb ange­stellt, sondern arbeiten über Leihfirmen und mit Zeitarbeitsver­trägen. Dies ermöglicht es beispielsweise, Sozialversicherungspflichten oder Ver­pflichtungen zu Lohnfortzahlungen bei Kün­digung zu umgehen. Auch das 13. Monatsgehalt wird auf diese Weise einge­spart. Die Beschäftigung über Kurzzeit­verträge ermöglicht es den Unternehmern auch, aus­schließlich nach dem aktuel­len Bedarf und den gerade anfallenden Ar­beiten einzu­stellen und zu entlassen. Zu­dem werden Zeit-, bezie­hungsweise Leih­arbeits-“verträge” oft nur mündlich ge­schlossen. Entspre­chend er­schwert ist der Gang vor ein Ar­beitsgericht, um vor­enthaltene Rechte einzukla­gen. Die mit den kurzfristi­gen Verträgen und der großen Arbeitsplatzunsi­cherheit verbun­dene hohe Rotationsrate unter den Arbei­terInnen macht zudem eine gewerkschaft­liche Or­ganisierung schwierig. Ein ausge­sprochen positiver Effekt aus Sicht der Un­ternehmer, die alles daran­setzen, eine un­abhängige Organisierung in ihrem Be­trieb zu vermeiden. Dabei reicht die Pa­lette von Re­pressionen über Prämien für Wohlverhalten bis hin zu Entlassungen. Ausnahmen gibt es lediglich dort, wo eine arbeitgeberfreundliche Be­triebsgewerk­schaft existiert, auch wenn in Kolumbien das Grundrecht auf freie Organi­sierung und gewerkschaftli­che Be­tätigung gesetz­lich garantiert ist.
Ein weiteres großes Pro­blemfeld ist der permanente und intensive Pestizidein­satz im Blumenanbau – 120 bis 230 kg Pesti­zid-Wirk­stoff, so Schätzungen, wer­den pro Jahr und Hektar auf den Plantagen aus­gebracht, etwa das Doppelte der hol­ländischen Mengen. Der Blu­menanbau er­fordert im Schnitt 14 verschiedene ma­nuelle Arbeitsschritte, bei denen die Pflan­zen direkt angefaßt und berührt wer­den – mehr als in allen anderen landwirt­schaft­lichen Produk­tionsbereichen. Man­gelhafte Arbeits- und Schutzkleidung, die Nicht­ein­hal­tung von Wiederbetretungsfri­sten nach Ausbringung von Schädlings­be­kämpf­ungsmitteln, unter­lassene Ausbil­dung der Ar­beiterInnen, mangelnde hygieni­sche Einrichtungen… all das heißt, jeden Tag aufs Neue die Gesundheit zu gefährden und zu ruinieren. Vergif­tungs­erscheinungen wie Schwindel, Kopf­schmer­zen, Übelkeit, Hautausschläge und Aller­gien sind alltäglich und “nur” die “leichteren” Ge­sundheitsschäden. Ar­beits­unfälle mit Todesfolge kommen im­mer wieder vor.
Ein erhebliches Problem für die Gemein­den der Sabana ist der Wasserverbrauch der Blumenplantagen, die oftmals direkt bis an die Häuser der Ortschaften heran­reichen oder sie teilweise vollstän­dig ein­schließen. Drei Vier­tel des gesamten Wasser­verbrauchs in den Hauptan­bau­gebieten gehen auf das Konto der Blumen­unterneh­men. Der Grundwasser­spiegel fällt jährlich um ca. 3,5 bis 5 Me­ter. Infolgedessen sind Trinkwasserpro­bleme inzwi­schen weit verbreitet. Viele Ge­meinden haben nur noch stundenweise am Tag Wasser – sofern sie es sich über­haupt leisten können, immer tiefere Brunnen­bohrungen vorzunehmen. Wer das nicht kann, muß eben das noch vor­handene Oberflächenwas­ser nutzen – oft genug eine schillernde Brühe zweifel­hafter Qua­lität.
Der Blumenboykott
Die vielen Berichte über diese Lebens- und Arbeits­verhältnisse führten dazu, daß im Frühjahr 1991 in der Schweiz, in Österreich und der Bundesrepublik ver­schiedene Organisationen und Hilfswerke mit einer Infor­mations- und Öffentlich­keitskampagne begannen. Diese war ver­bunden mit dem Versuch, in einem konstruk­tiven Dialog mit den ver­schiedenen Verantwortlichen eine Verbes­serung der Si­tuation der ArbeiterInnen zu erreichen. Sie stießen dabei nicht nur auf taube Ohren: der Verband der deutschen Blumenimporteure BGI kün­digte schließ­lich im Frühjahr vergangenen Jahres an, eine ‘Colombian Clean Flower De­claration’, wie sie zunächst hieß, zusam­men mit den ko­lumbianischen Exporteu­ren verabschieden zu wollen, die die Ein­haltung der gesetzli­chen Grundlagen in Kolumbien innerhalb der Bereiche Ar­beitsrecht, Sozialbestim­mungen, Umwelt­schutz und Einsatz von Pestiziden ga­rantieren sollte. Die Organi­sationen der deutschen Blu­men-Kampagne begrüßten die­sen Schritt, bedeutete er doch eine indi­rekte Aner­kennung der immer wieder ge­äußerten Kritik an den Zu­ständen in der kolumbiani­schen Blumenindustrie auch durch die Unternehmer. Und könnte tatsächlich durchge­setzt werden, daß die ge­setzlichen Vorschriften eingehalten würden, wäre dies in einem Land wie Ko­lumbien, in dem massive Men­schenrechtsverletzungen an der Tagesord­nung sind, doch schon ein erster Erfolg, auch wenn die Blumen damit noch lang nicht ‘sauber’ sind und ein wirkliches ‘Güte’-Siegel sicher mehr erfüllen muß als die Einhaltung der nationalen Gesetzge­bung.
Ob mit dem jetzt in Frank­furt vorgestell­ten Siegel tatsächlich Verbesserungen er­reicht werden können, bleibt abzuwarten und muß bislang noch mit einiger Skepsis betrachtet werden. Das Abkommen zwi­schen BGI und Asocolflores sieht vor, daß die kolumbianischen Betriebe, die das Siegel benutzen wollen, sich zunächst kontrollieren las­sen müssen. Fällt diese Kontrolle zufriedenstellend aus, werden die Unternehmen auf eine ‘Weiße Liste’ ge­setzt und erhalten das Recht, ein Em­blem auf ihren Verkaufskartons zu führen. Bisher liegen für das Siegel des ‘Colombia Flower Council, Germany’ allerdings le­diglich Richtlinien für den biolo­gisch-ökologischen Bereich vor, mit denen der Pesti­zideinsatz gesenkt, die Handhabung der Agrochemika­lien ungefährlicher ge­macht und die Einhaltung der Si­cherheitsvorschriften und Wiederbetre­tungsfristen er­reicht werden sollen. Dazu, wie die schwierigen Bereiche des Sozial- und Arbeits­rechts in das Siegel einge­bunden werden können, was von diesen Bereichen sinn­vollerweise wie kontrolliert und von wem überprüft wer­den soll, gibt es bislang al­lerdings keine genaue Vor­stellung, obwohl kolumbiani­sche und deutsche Gruppen immer wieder Vor­schläge hierzu gemacht haben.
Die deutschen Unternehmer möchten mit dem Siegel schnell auf den Markt kom­men, möglichst schon Anfang nächsten Jahres. In Frank­furt kündigten sie an, daß schon im Oktober die ersten Betriebe dazu ‘gecheckt’ werden sollten – aufgrund der geschilderten Situation bislang nur für den biologi­schen Bereich. Wie die feh­lenden Aspekte so schnell integriert werden kön­nen, so daß der ins Auge gefaßte Zeitplan eingehalten werden kann, ist unklar. Reine ‘Öko-Blumen’ aber aus Betrieben, die nicht bereit sind, Ge­werkschaften zuzulas­sen und ihren sozial- und arbeits­rechtlichen Verpflichtungen nachzukom­men, können kei­nesfalls das Ziel der Be­mühungen sein.
Für die deutsche Blumen­kampagne gibt es einige weitere zentrale Punkte, die bei der Einführung eines Blumensiegels grundle­gend sind: 1. Eine Trennung zwi­schen Umwelt- und sozialen Rechten oder auch eine Vernachlässigung letzterer ist nicht durchführbar. Wie soll beispielsweise gewähr­leistet werden, daß die Vor­schriften eingehalten und Sicherheitsvor­kehrungen bei der Handhabe von Pestizi­den beachtet werden? Oder die Arbeits­kleidung komplett und funktionstüchtig ist? Wer könnte den Arbeitsalltag in den Betrieben besser und kompetenter kon­trollieren als die Arbeiter und Arbei­terinnen, die dort beschäf­tigt sind? Wie aber sollen sie dies tun und sich auch äu­ßern können, wenn grund­legende soziale Rechte wie das Recht auf Koalitions­freiheit nach wie vor miß­achtet werden? Vorausset­zung ist, daß es den Arbei­terInnen möglich ist, ihre eigenen unab­hängigen Ge­werkschaften aufzubauen, und zwar ohne damit ihre Entlas­sung zu riskieren oder Repressalien im Betrieb fürchten zu müssen.
2. Den Berichten und Be­schwerden der ArbeiterInnen muß ein besonderes Ge­wicht eingeräumt werden – und hierzu ist mehr notwendig als die Möglich­keit, sich bei den Be­triebsbesichtigungen an eine Kontroll­kommission zu wen­den, die möglicher­weise ein­mal pro Jahr im Un­ternehmen vorstellig wird. Es muß eine dauerhafte neutrale Mög­lichkeit für die ArbeiterIn­nen geben, sich zu ihren Ar­beitsbedingungen zu äu­ßern, ohne daß sie negative Folgen für sich befürchten müs­sen. Gleichzeitig muß ein Modus gefun­den werden, der gewährleistet, daß den Be­schwerden der ArbeiterInnen über die Situation in ihren Betrieben auch nachge­gangen wird.
3. Für eine Glaubwürdigkeit des Siegels muß auch die Unabhängigkeit der Kommis­sion garantiert sein, die die Ein­führung und Einhaltung des Siegels und der Dekla­ration in den Betrieben kontrol­lieren soll. Bisher ist vorgesehen, daß über die Besetzung der Kontrollkom­mission nur von Unterneh­merseite entschieden werden soll, während andere betei­ligte Gruppen keinerlei Mit­spracherecht haben. Die Ge­fahr einer reinen Eigenkon­trolle durch eine Kommis­sion, die größtenteils den Wünschen der Unternehmer ent­spricht, liegt so auf der Hand. Die kolum­bianischen Unternehmer haben es bisher immer wieder abgelehnt, sich mit kolum­bianischen Gruppen, den ArbeiterInnen und selbst mit WissenschaftlerInnen der staatlichen Nationaluniver­sität von Bogotá zusammen­zusetzen, die an einem in­terdisziplinären For­schungsprojekt zur Blumen­industrie arbeiten. Eine auch für die Öffentlichkeit nachvollziehbare Unabhän­gigkeit der Kommission, die das Vertrauen aller am Konflikt beteiligten Gruppen genießt, ist jedoch unab­dingbare Voraussetzung da­für, daß das Siegel auch glaubwürdig ist. Nicht zu­letzt für die hie­sigen Ver­braucherInnen, die schließ­lich die kontrollierten Blu­men auch kaufen sollen.
4. Ein weiterer kritischer Bereich ist die Check- oder Kontrolliste, anhand derer die Betriebe in Kolumbien überprüft werden sollen. Auch hier liegt ein Konzept für den arbeits- und sozi­alrechtlichen Bereich nach Aussagen der deutschen Blu­menimporteure noch nicht vor, obwohl es in Kolumbien an kompetenten Personen nicht mangelt, auf die bei ihrer Erstellung zurückge­griffen werden könnte.
Alle vorgenannten Punkte müssen zunächst einmal in zufriedenstellender und für alle Seiten überzeugender Weise gelöst sein, damit das in Frankfurt vorge­stellte Siegel zu einem Instrument werden kann, mit dem eine Verbesserung der Si­tuation für die kolumbianischen Blu­menarbeiterInnen erreicht werden kann.
Unterschrieben –
aber auch umgesetzt?
Doch zunächst einmal ist das geschlos­sene Abkommen ein Vertrag zwischen zwei Ver­bänden, das für sich genom­men noch keinerlei Auswir­kungen und Ver­pflichtungen für die, den Verbänden ange­schlossenen Betriebe mit sich bringt. Das heißt, in Kolumbien muß sich nach der Unterschrift von Asocolflo­res noch kein einziges Un­ternehmen in Zukunft kon­trollieren lassen, so lange nicht die Besit­zer selbst noch einmal der Deklaration beitreten. Daß die Unterneh­mer nicht ge­rade euphorisch reagierten, kann daran ab­gelesen werden, daß bislang nur sechs oder sieben der über 400 kolumbianischen Blumenbe­triebe ein Interesse an dem Sie­gel gezeigt haben. Und selbst für den eher unwahr­scheinlichen Fall, daß alle Mitgliedsbe­triebe Asocolflo­res’ sich dem Abkommen an­schließen, sind die Blumen­betriebe Kolumbiens noch nicht vollstän­dig erfaßt. ‘Interessant’ ist das Abkom­men ohnehin zunächst nur für diejenigen Be­triebe, die in die Bundesrepublik expor­tieren. Wenn der deutsche Einzelhandel sich aber ver­pflichten würde, nur noch Blumen von Betrieben der ‘Siegelliste’ zu vermarkten und zu verkaufen, wäre es ein Instrumen­tarium , das die kolumbiani­schen Unter­nehmer dazu bewegen könnte, dem Ab­kommen beizu­treten.
Der deutsche Blu­menimporteursverband (BGI) hat in Frankfurt angekün­digt, in ei­nem nächsten Schritt seinen Mitgliedern eine entspre­chende Empfeh­lung geben zu wollen und fügte hinzu, der deutsche Flo­ristenverband habe das Abkommen bereits begrüßt. Eine Möglichkeit, die Einzel­händler über eine eigene freiwillige Ent­scheidung hin­aus zu einer Unterstützung des Siegels zu bewe­gen, hat der BGI al­lerdings nicht. Kom­men vom hiesigen oder anderen Märkten nicht ent­sprechende ‘Anreize’, wird sich wohl kaum ein Unterneh­mer finden, der freiwillig und ohne damit verbundene Vorteile eine Umstrukturie­rung seines Betriebes vor­nehmen wird.
Natürlich sind hiermit noch längst nicht alle Verantwort­lichen erfaßt, die – nicht nur im Falle der Blumen – in der Verpflich­tung stehen, wenn es um die Durchsetzung menschenrecht­licher Min­deststandards und sozialer Grundrechte geht: der ko­lumbianische Staat, weit ent­fernt davon, alles ihm Mögliche zur Durchset­zung und Garantie der Men­schenrechte zu tun und seine Kontroll­pflichten wahrzunehmen, die (deutsche) chemische Industrie, die alljährlich Rie­sengeschäfte mit dem Ex­port hochgiftiger Pestizide macht, die deut­sche Regierung, gerade jetzt in der EU-Präsidentschaft mit einer ‘besonderen’ Chance zum Handeln, natio­nale wie inter­nationale Verbände und Regierungen… Auch die deutschen Konsu­mentInnen werden es mit ih­rer ei­genen Verantwor­tung nicht dabei bewen­den lassen können, sich mit ‘kontrollierten’ und ‘besiegelten’ Blumen ein reines Ge­wissen zu (er)kaufen. Bis zu einer echten ‘Sozio-Öko-Blume’ ist es noch ein weiter Weg.

Eine Materialliste zum Thema ‘Blumen’ ist erhältlich bei: FIAN, Overwegstr. 31, 44625 Herne.

Jenseits des Staates?

Im Editorial weist Albrecht Koschützke darauf hin, daß die Autonomie der latein­amerikanischen Staaten (politisch und ökonomisch) seit jeher begrenzt war, die “Durchsetzung des neoliberalen Paradig­mas (…) jedoch eine extreme Form von außen induzierter Transformation der na­tionalen Gesellschaften mit einer offenbar weiterreichenden Eingriffstiefe” darstellt. Bietet der neoliberale Staat neue Frei­räume für die multinationalen Kapitale, ist seine nationale Autonomie nach dem Um­bauprozeß der achtziger Jahre noch stär­ker reduziert. Auch die Binnenreichweite des lateinamerikanischen Staates war tra­ditionell begrenzt. Er garantierte zumeist weder ein fächendeckendes Bildungs- und Gesundheitssystem, noch kümmerte er sich beispielsweise um die indianische Bevölkerung und die verarmten Massen.
Der Unterschied zu früher liegt darin, “daß die strukturellen Schwächen des Staates nunmehr zu Tugenden erklärt werden, daß die Vernachlässigung seiner sozialen Funktionen nicht mehr vorwerf­bar, sondern lobenswert, weil freiheits­stiftend ist, daß nur rudimentäre staatliche Dienstleistungsangebote statt als Defizit jetzt zum Ziel deklariert werden, kurz, be­stehende Not wird in eine Chance zur Entwicklung umgelogen. Praktisch heißt das: Der immer schon miserable Staat wird noch miserabler; er liquidiert Hoff­nung, Erwartungen, Rechte und Ansprü­che auf Zukunft und Entwicklung gerade für jene, deren eigene materielle Kraft schon bisher nicht ausgereicht hat, indivi­duell Armut, soziale Ungerechtigkeit und Unterentwicklung erfolgreich anzugehen und die jetzt auf die Chancen des Wett­bewerbs und des Marktes reduziert werden.”
Die negativen Auswirkungen der Privati­sierung staatlicher Funktionen beschreibt Thomas Fatheuer in seiner Analyse der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro: Ganze Stadtviertel werden von Drogen­banden, Glücksspielkartellen und Todes­schwadronen kontrolliert. Das Problem ist hierbei, wie so oft, jedoch weniger die Aufgabe des staatlichen Gewaltmonopols – die Polizei wird von den BewohnerInnen der Favelas eher als Bedrohung denn als Schutz gesehen und ist zudem mit den Strukturen privater Gewalt “symbiotisch verwachsen” -, sondern ganz allgemein die Macht der Gewalt über die Gesell­schaft. Auch jenseits des Gewaltmonopols werden die staatlichen Aufgaben wie Bil­dungs- und Gesundheitssystem zuneh­mend privatisiert und von Drogen- und Glücksspielbossen übernommen. In der tiefgreifenden sozialen Krise bilden sich laut Fatheuer “neue Formen einer sich barbarisierenden gesellschaftlichen Ver­mittlung, die vielleicht, und das ist das Bestürzende, gar nicht so schlecht funk­tionieren.” Vor allem aber wirken sie sy­stemstabilisierend, begünstigen “autoritäre und faschistische Antworten” und er­schweren den Aufbau basisorientierter Alternativen innerhalb der Favelas.
Daß der Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung und der Abbau der staatlichen Regulierungsfunktionen auch Chancen bietet und die politische Organisierung der Betroffenen fördern kann, zeigt Juliana Ströbele-Gregor an­hand des Hoch- und Tieflands Boliviens. Der (Wieder-)Aufbau basisorientierter Entscheidungsstrukturen und Organisatio­nen der indianischen Landbevölkerung in den achtziger Jahren resultierte aus der Notwendigkeit, der Austeritätspolitik der bolivianischen Regierungen zu begegnen, wurde aber auch durch die neuen Frei­räume erleichtert, die der Rückzug von “Stiefvater Staat” schuf. Der unabhängige Organisierungsprozeß beförderte gleich­zeitig ein neues Selbstbewußtsein und die Besinnung auf die eigenständige kulturelle Identität und Tradition der indianischen Bevölkerung. Zwei Faktoren spielten in diesem Prozeß eine bedeutsame Rolle: die Führungspersönlichkeiten und die Nicht­regierungsorganisationen (NGOs). Hatten erstere als “soziale Grenzgänger” eine wichtige Funktion als “Mittler von Ideen, Werten, politischen Vorstellungen und Kontakten” nutzten die Basisorganisatio­nen die NGOs insbesondere zur Finanzie­rung notwendiger Projekte und Hilfsmaßnahmen. Dabei erwies sich die massive Ausbreitung der NGOs nicht nur als posi­tiv: mit der Macht des Geldes korrum­pierten sie Führungspersönlichkeiten und zerstörten gewachsene Dorfstrukturen.
Diese Ambivalenz der NGOs in ganz La­teinamerika diskutiert Albrecht Koschützke in seinem Artikel über “Die Lösung auf der Suche nach dem Problem: NGOs diesseits und jenseits des Staates”. Waren diese in den Jahren der Diktatur in vielen lateinamerikansichen Ländern oft dem antidiktatorialen Kampf verpflichtet und nicht selten ein Refugium für Oppo­sitionelle, veränderten sie sich mit dem Redemokratisierungsprozeß der frühen achtziger Jahre und übernahmen oft die Aufgaben, die der neoliberale Staat nicht mehr zu erfüllen bereit war – während der Staat “immer weniger Staat wird und sich qua Privatisierung schrittweise auf reine Vermittlerfunktionen reduziert, also ten­denziell einer NGO ähnlich wird”. Ohne die Bedeutung der NGOs, die seit den achtziger Jahren einen riesigen Boom er­leben, in vielen Teilbereichen in Frage zu stellen, kritisiert Koschützke die verbrei­tete Meinung, daß diese per se effizient, kostengünstig, uneigennützig, demokra­tisch und basisnah seien. In der Realität bilden sich durch den expandierenden Hil­femarkt vielmehr neue Abhängigkeiten. Zudem bestehe die Gefahr, daß die NGOs, statt demokratisches Bewußtsein, Erfah­rung und Organisierung zu fördern, in der Praxis insitutionelle und soziale Prozesse demokratischer Teilhabe untergraben.
Aus einer ganz anderen Perspektive unter­sucht Lothar Witte den Privatisierungs­prozeß der letzten Jahre: Anhand der Re­form der Sozialversicherung in Chile, Peru und Kolumbien macht Witte deut­lich, daß die Ausformung der notwendi­gen Veränderungen in hohem Maße von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängt. Das “chilenische Modell”, das während der Diktatur realisiert wurde, trägt vor allem den Interessen des Privat­kapitals Rechnung. Die kolumbianische Reform berücksichtigt zumindest zum Teil auch die sozialen Interessen der ein­kommensschwachen Versicherten. Vor allem aber zeigt Witte – dem das Ver­dienst gebührt, ein so trockenes Thema wie eine Versicherungsreform anregend und anschaulich dargestellt zu haben -, daß weder ein staatliches System automa­tisch sozial gerechter, noch ein privates effizienter ist.
Hans Petter Buvollen und Robert Große zeichnen den schwierigen und wider­sprüchlichen Autonomieprozeß an der ni­caraguanischen Atlantikküste nach. Histo­risch von der Zentralregierung in Mana­gua kaum beachtet, begann erst die sandi­nistische Regierung Anfang der achtziger mit dem verstärkten Aufbau staatlicher In­stitutionen und Entwicklungsprogramme – und machte vieles falsch. Nachdem sich insbesondere die Miskito dem bewaffne­ten Widerstand gegen die Revolutionsre­gierung angeschlossen hatten, initiierte die FSLN einen Verhandlungsprozeß, der 1987 in die Verabschiedung eines Auto­nomiegesetzes mündete. Der Widerspruch zwischen den wirtschaftlichen und politi­schen Interessen der Zentralregierung und den BewohnerInnen der Atlantikküste, zwischen Staat und Gesellschaft, wurde allerdings bis heute nicht gelöst. Die At­lantikküste ist noch immer “Spielball von Kräften, die außerhalb der Region liegen”.
Den Schwerpunkt des Jahrbuchs be­schließt eine – bereits in den Lateiname­rika Nachrichten Nr. 241/242 vorabge­druckte – sehr persönliche Einschätzung von Ingrid Kummels über die Gleichzei­tigkeit von Sozialismus, Kapitalismus und Santería für die Menschen in Kuba. In Ge­sprächen mit FreundInnen und Familien­mitgliedern hat Kummels festgestellt, wie in den letzten Jahren der ökonomischen Krise die Santería für die Menschen zu ei­nem wichtigen Bezugspunkt ihrer All­tagskultur “jenseits des sozialistischen Staates” wurde. Auch die Regierung hat ihre rigide Haltung gegen diese Volksreli­gion in den achtziger Jahren gelockert: “Ihre Strategie war, die Musik und die Rituale der Santería durch ihre Folklori­sierung für den Tourismus zu nutzen und zugleich deren religiöse Bedeutungen auszuhöhlen.” Doch die AnhängerInnen der Santería entzogen sich auf ihre eigene Art dieser Funktionalisierung.
Insgesamt bietet der Schwerpunkt des diesjährigen Jahrbuchs einen interessanten Einblick in die Prozesse, die jenseits des (neoliberalen) Staates vor sich gehen. Er­freulicherweise werden nicht nur die ne­gativen Auswirkungen der neoliberalen Restrukturierung analysiert, sondern auch die Chancen berücksichtigt, die der Rück­zug des Staates bietet. Dies hätte aller­dings noch vertieft werden müssen: Wie in dem Beitrag von Juliana Ströbele-Gregor über die Bauernorganisationen in Bolivien deutlich wurde, sind die sozialen Bewegungen entscheidende Akteure, um der neoliberalen Transformation Wider­stand entgegenzusetzen. Auf sie wird al­lerdings kaum eingegangen. Hier hätte sich – ähnlich dem Beitrag über die NGOs – ein Überblick über die sozialen Bewe­gungen in Lateinamerika angeboten.
Abgerundet wird das Jahrbuch wie in je­dem Jahr durch Länderberichte: Diesmal über Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, El Salvador, Gua­temala, Kuba, Mexiko und Peru. Wer keine brandaktuellen Informationen er­wartet – Redaktionsschluß war bereits im April -, wird auch diese Berichte mit Ge­winn lesen.

Jenseits des Staates?. Lateinamerika – Analysen und Berichte 18, hrsg. von Dietmar Dirmoser u.a., Horlemann Verlag (Bad Honnef), 278 Sei­ten, 29,80 DM, ISBN 3-89502-008-7

Einseitiger Blick auf Bolivien

Kurz und informativ will das “Latin Ame­rica Bureau” aus London mit seiner Reihe “In Focus” die Länder Lateinamerikas und der Karibik präsentieren, Länderkunde zum Einstieg für Nicht-ExpertInnen. Nach der Eröffnung der neuen Reihe mit einem Band über Jamaica (vgl. LN 235) ist nun “In Focus. Bolivia” erschienen, verfaßt von den Niederländern Paul van Lindert und Otto Verkoren. Auf 75 Seiten versu­chen die Autoren, in vier Kapiteln einen historischen Überblick, eine Analyse der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Situation und eine Einführung in Gesell­schaft und Kultur unterzubringen, ein Vorhaben, das leider nicht ganz geglückt ist.
Der Schwerpunkt liegt in den drei Haupt­kapiteln auf Wirtschaft und Politik. Ge­schichte und Gegenwart werden mit ihren Regierungen und Revolutionen, Politikern und Parteien kurz und doch detailreich be­schrieben. Die Revolution von 1952, die Entwicklung der Koka- und Kokainwirt­schaft, der Umbruch seit 1985 mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik: Die wichtigsten Fakten sind jeweils auf weni­gen Seiten zusammengefaßt. Allerdings klafft im Bereich Wirtschaft eine große Lücke: Das Stichwort Ökologie scheint den Autoren fremd zu sein. Über das öst­liche Tiefland Boliviens schreiben sie ohne weiteren Kommentar, die moderne Landwirtschaft erreiche “thanks to the use of high-grade seed and seed plants, artifi­cial fertiliser, herbicides and pesticides … very high yields per hectare” und fahren fort, die hohen Erträge seien möglich “due to a combination of capital investment, technology and natural fertility” (S.58/59). Die grüne Revolution läßt grüßen.
Noch mehr geraten van Lindert und Ver­koren ins Schlingern, sobald sie den Be­reich von hoher Politik und Wirtschaft verlassen. Bezeichnenderweise steht das dritte Kapitel, nachdem es schon zuvor vor allem um Wirtschaftspolitik ging, un­ter dem Titel “Economy and Society” und nicht etwa “Culture and Society”. Tatsächlich folgt mehr economy als so­ciety ohne weitere Bezugnahme auf Kul­tur. Was Wirtschaft und Kultur in ei­nem Land mit indigener Bevölkerungs­mehrheit miteinander zu tun haben, wird nicht zum Thema. Die LeserInnen erfah­ren in Sa­chen Gesellschaft gerade noch etwas über das Leben im informellen Sektor in den Städten. Aber Informationen zur ländli­chen Gesellschaft, zu lokalen Macht­strukturen, zu ökonomischen Stra­tegien von Indígenas, zu Indígenabewe­gungen und ihren Diskussionen? Leider Fehl­anzeige.
Das Inhaltsverzeichnis läßt darauf hoffen, daß diese Lücken wenigstens nachträglich gefüllt werden, steht doch das vierte, kurze Kapitel unter dem Titel “Culture. An Indian Country”. Auf knappen sieben Seiten folgt aber eine Enttäuschung: Es geht ausschließlich um fiestas und um Musik, angereichert mit einigen Hin­weisen auf ihre gesellschaftliche Bedeu­tung. Das “Indianische” an Bolivien: Folklore und Feste – und das war’s zum Thema Kultur.
“A Guide to the People, Politics and Cul­ture” soll “In Focus. Bolivia” laut Unter­titel sein. Ein geraffter Überblick über Ge­schichte, Wirtschaft und Politik Boliviens ist – mit Lücken – durchaus darin zu fin­den, aber von Gesellschaft und Kultur wissen EinsteigerInnen nach dem Lesen nicht viel mehr als vorher.

Paul van Lindert, Otto Verkoren: In Focus. Bolivia; 75 S.; Latin American Bureau, London 1994. Be­zug: LN-Vertrieb, Gneisenausstr. 2, 10961 Berlin. 16,80 DM.

Lateinamerika im Fußballfieber

Kolumbien – auf leisen Sohlen zum Titel?

Die Vorstellung mit Kolumbien zu begin­nen, rührt aus der schlichten Tatsache, daß die Kolumbianer als einzige Mannschaft die Qualifikation ungeschlagen überstan­den. Zu zwei Siegen über Peru und zwei Unentschieden gegen Paraguay gesellten sich zwei Siege gegen den Topfavoriten und Südamerikameister Argentinien. Nach dem 2:1 Heimsieg gelang den Kolumbia­nern im Rückspiel in Buenos Aires Histo­risches. Mit 5:0 wurde Argentinien die höchste Heimniederlage in seiner Ge­schichte verpaßt. Kurz nach Schlußpfiff füllten sich in Kolumbien landesweit die Straßen mit fünf Finger zeigenden, enthu­siastisch feiernden AnhängerInnen. Über­schäumende Begeisterung mit tödlichen Folgen für Dutzende. Gewalt als Begleit­erscheinung des Massenspektakels Fußball ist leider auch in Kolumbien an der Tagesordnung.
Dem hohen Stellenwert des Fußballs im allgemeinen und dieses Triumphes über Argentinien im besonderen, trug auch Prä­sident Gaviria Rechnung. Alle Spieler und der Trainer wurden mit dem höchsten Or­den des Landes dekoriert. In Kolumbien träumen viele vom Titel, auch die Fußball­fachwelt traut den Supertechnikern den Coup zu. Unbestritten der populärste und schillerndste Fußballer des Landes ist der Kapitän und Mittelfeldregisseur Carlos Alberto Valderrama. Nach einer Kniever­letzung Ende Februar bangte eine ganze Nation um seine Teilnahme. Tausende von Kerzen wurden angezündet, tausende von Gebeten gesprochen. Unerwartet schnell wurde “El Pibe” (der Kleine) wie­der fit und die Träume vom Titel erhielten mit seinem Comeback neue Nahrung.

Der Kopf Kolumbiens: “El Pibe” – “Ich liebe das Leben in seiner ganzen Buntheit”

Schon äußerlich fällt Carlos Valderrama mit seinem blonden Afro-Look aus dem Rahmen. So eigenwillig wie seine Haar­tracht, die er als Ausdruck seiner Lebens­freude beschreibt, so eigenwillig zeigt er sich auf dem Spielfeld. Der Ball als Spiel­zeug und nicht als schnöder Arbeitsgegen­stand. Dieser Spielauffassung zu Folge “streichelt” Valderrama erst ausgiebig den Ball, bevor er ihn zu einem Mitspieler weiterpaßt. All dies mit ausgefeilter Tech­nik, die den ÄsthetInnen unter den FußballanhängerInnen das Herz höher schla­gen läßt. Brillant seine Spielübersicht, die exakten Pässe, die nahezu Ausgang jedes Angriffes seiner Mannschaft sind. Als Kopf von seinen Mitspielern unum­schränkt anerkannt, wird er als Anspiel­station permanent gesucht und meist auch gefunden. Zumindest so lange die Kondi­tion von “El Pibe” reicht. Laufen war vor allem zu Beginn seiner Karriere nicht sein Ding. “Ich bin keiner, der anderen hinter­herrennt. Ich muß das Spiel machen und Tore schießen, sonst nichts.” Im reifen Alter von knapp 33 Jahren hat er sich scheints doch noch besonnen. Bei der “Copa America” (Südamerika­meister­schaft) im letzten Jahr zeigte er neben den ge­wohnten techni­schen Kabinettstückchen auch unge­wohnten kämpferischen Einsatz. Der dem Nationaltrainer Francisco Matu­rana vor Jahren zugeschriebene Satz: “Ein Län­der­spiel ohne Carlos ist wie ein Tag ohne Sonne”, gewinnt so gesehen zusätz­liche Berechtigung. Die Wertschätzung ist in­des nicht auf Kolumbien beschränkt. Sowohl 1987, als Valderrama bei der “Copa America” erstmals international in Erscheinung trat, als auch 1993 wurde er zum südamerikanischen Fußballer des Jah­res gewählt.

Europäische Effizienz und lateinamerikanisches Genie

In Europa gehen die Meinungen bezüglich Valderrama auseinander. Bei den deut­schen Fans ist er durch seine Schauspiel­einlage im WM-Spiel 1990 gegen die deutsche Elf unrühmlich in Erinnerung geblieben. Mehrere Minuten lang spielte er den “toten Mann”, ließ sich mit der Bahre vom Platz tragen, um Sekunden später, wie von Geisterhand genesen, wie­der quicklebendig auf dem Platz aufzutau­chen und zu allem Überfluß mit einem genialen Paß das kolumbianische Aus­gleichstor vorzubereiten.
Als erster Kolumbianer suchte Valder­rama 1988 das lukrative Legionärsdasein in Europa. Seine Leistungen während der drei Jahre im französischen Montpellier und dem halbjährigen Aufenthalt im spa­nischen Valladolid waren aber eher durchwachsen. Seine lateinamerikanische Spielauffassung vertrug sich nicht recht mit europäischem Effizienzdenken. Rich­tig glänzen konnte Valderrama nur bei seinen Auftritten im Nationaltrikot. Folg­lich kehrte er 1992 nach Kolumbien zu­rück. Seit 93 spielt er nun in Barranquila, unweit entfernt von seiner Geburtsstadt Santa Marta an der kolumbianischen Ka­ribikküste. Mit dem dortigen Klub Atlé­tico Junior wurde er erstmals in seiner Laufbahn kolumbianischer Meister. Viel­leicht doch von europäischem Effizienz­denken beeinflußt oder etwa nur ein Aspekt des Lebens in seiner ganzen Bunt­heit?

Mexiko – Heimvorteil im Gringoland

An der Qualifikation zur letzten WM durfte Mexiko nicht teilnehmen. Der Grund: Bei einer Junioren-WM hatte Me­xiko diverse ältere Spieler mit getunten Pässen eingesetzt. Nachdem die Verfeh­lung ruchbar wurde, folgte die empfindli­che Strafe durch den Weltfußballverband (FIFA) auf dem Fuß. Nach achtjähriger WM-Abstinenz war die Freude nun um so größer, daß Mexiko seiner Favoritenrolle in der Nord- und Mittelamerika-Ausschei­dung gerecht wurde und somit neben dem automatisch qualifizierten Veranstalter­land USA als einziges Land diese Region vertritt. Die Spiele der mexikanischen Mannschaft werden wohl die stimmung­vollsten der WM werden – zumindest, was die Atmosphäre auf den Rängen betrifft. Hauptspielort für Mexiko ist Washington. Die riesige mexikanische Gemeinde in den USA wird zu Tausenden in die Hauptstadt pilgern.
Zwei Niederlagen in der Qualifikation in Costa Rica und El Salvador konnte das mexikanische Team verkraften, da der Hauptkonkurrent Kanada zweimal ge­schlagen wurde. In zwölf Spielen nur acht Gegentore. Nicht zuletzt ein Verdienst des Ausnahmetorwarts Jorge Campos, der als populärster Spieler dem in Spanien spie­lenden Hugo Sanchez den Rang abgelau­fen hat.

Der komplette Spieler:Campos – “Ich liebe grelle Farben und verrückte Kleider­kombinationen”

Der jetzige US- und ehemalige mexikani­sche Nationaltrainer Bora Milutinovic hält ihn für den kompletten Spieler der letzten hundert Jahre. Einfach deshalb, weil Jorge Campos auf den zwei gegensätzlichsten Positionen, die es im Fußball gibt, zumin­dest nationale Spitzenklasse darstellt. Sowohl in der Nationalmannschaft, als auch vor allem im Verein, spielt er je nach Lage Torwart oder Mittelstürmer, mitunter gar in einem Spiel. Den Höhepunkt seiner Doppelrolle zelebrierte er 1992 bei einem Erstligaspiel. Zuerst vom Tor in den Sturm gewechselt, sorgte er für den Aus­gleich, um kurz vor Ende der Partie bei einem Elfmeter für die gegnerische Mannnschaft ins Tor zurückzukehren und mit seiner Abwehrparade das Unentschie­den zu sichern. “Das Ganze ist keine in­szenierte Show von mir. Ich kann mich einfach nicht entscheiden, ob ich nur Tore verhindern oder nur Tore schießen soll.” Aber Entscheidungen über die Aufstellung trifft im Fußball ja gemeinhin der Trainer, womit Campos aus seinem Dilemma be­freit wäre. Seinem Spieltrieb gibt Campos mit Billigung seiner Trainer auch als Tor­wart nach. Da sowohl die mexikanische Nationalmannschaft als auch seine Ver­einsmannschaft UNAM Mexiko ohne letzten Mann (Libero) spielen, bekleidet Campos diese Position ersatzweise.
Seine für einen Torhüter geringe Größe von 175 cm gleicht er mit einem enormen Sprungvermögen aus. Entwickelt hat er diese Sprungkraft nach eigenen Angaben beim Fußballspiel am Strand seiner Hei­matstadt Acapulco. Andere Berichte kol­portieren indessen, daß er seiner Tätigkeit als Hühnerfänger auf der großväterlichen Farm einen Gutteil seiner Fangtechnik und Sprungkraft verdankt.

Kleider machen Leute

Seine Position als Torwart verleiht ihm alle Freiheiten bei der Kleiderwahl. Haben Feldspieler ob des einheitlichen Trikots nur geringen Spielraum, mit ihrer Kluft auf sich aufmerksam zu machen, so sind der Phantasie des Torhüters keine Gren­zen gesetzt. Kein Torhüter nützt dies so weidlich aus, wie Jorge Campos. “Das meiste Geld gebe ich für meine ausgefal­lenen Torhüterausrüstungen aus, ich liebe grelle Farben und verrückte Kleiderkom­binationen.” Wenn er auch verrückte Kleiderkombinationen bevorzugt, verrückt ist er keineswegs, sondern mit einer guten Portion Realitätssinn ausgestattet. Nach Europa will er auf keinen Fall wechseln. Er befürchtet wohl zu Recht, daß er mit seinem Stil im nüchternen Europa nicht ankommen würde.

Bolivien – Höhenflug in dünner Andenluft

Bolivien hatte nun wahrlich bei der Pro­gnose der WM-Teilnehmer niemand auf der Rechnung. Während ihrer zweier WM-Teilnahmen 1930 und 1950 gelang ihnen weder Punkt noch Tor. Einer der “Fußballzwerge” schlechthin. Die Fuß­ballgrößen Brasilien und Uruguay galten vor Beginn der Qualifikation als haushohe Favoriten, Ecuador als Außenseiter und Bolivien als Punktelieferant. Aber es kam ganz anders. Seine Heimspiele trägt Boli­vien auf 3800m Höhe in La Paz aus. Folglich geht den gegnerischen Mann­schaften in La Paz im wahrsten Sinne des Wortes gegen Ende des Spiels die Luft aus. Dies ist nicht neu, doch noch nie schlug Bolivien soviel Kapital daraus wie diesmal. Brasilien mußte in den letzen drei Minuten zwei Gegentore hinnehmen und verlor 0:2. Uruguay bekam in den letzten zehn Minuten gar drei Eier ins Nest gelegt und verlor 1:3. Daß Bolivien in Brasilien mit 0:6 unter die Räder kam, konnte verschmerzt werden. Der zweite Platz hinter Brasilien blieb dank der impo­santen Heimbilanz gewahrt. Die erste WM-Teilnahme seit 44 Jahren war ge­schafft. Der Verkehr brach zusammen. Nicht nur in La Paz, auch in den Exil­gemeinden Washington-Georgetown, Bu­enos Aires, Santiago und Lima.
Sechs aktuelle Nationalspieler entstam­men der berühmten Academia Tahuichi Aguilera (Fußballnachwuchsschule) in Santa Cruz, die 1978 vom jetzigen Staats­sekretär für Sport Rolando Aguilera ge­gründet wurde. Auch der Stürmerstar Marco Antonio Etcheverry erlernte dort sein fußballerisches Rüstzeug.

“El diabolo”: Ein teuflischer Dribbler

Seine Ausbildung an der Tahuichi-Aka­demie verdankt Marco Etcheverry der Antidrogen-Organisation “Seamos”. “Sea­mos” kam für den Monatsbeitrag von 16 DM auf, da dieser die finanziellen Mög­lichkeiten seiner Eltern überstieg. Mit 17 Jahren unterschrieb “El diabolo” (der Teufel) seinen ersten Profivertrag bei Bo­livar La Paz. Mit 21 Jahren feierte er 1991 sein Debüt in der Nationalmannschaft. Im gleichen Jahr glänzte er mit spektakulären Dribblings bei der “Copa America” (Südamerikameisterschaft) so sehr, daß er ins All-Star-Team der besten 11 Spieler des Turniers gewählt wurde. Der Weg ins lukrative Europa war geebnet. Der spani­sche Erstligist Albacete sicherte sich flugs die Dienste des umworbenen Stürmers. Doch alles Geld konnte das überhand­nehmende Heimweh nicht kompensieren. Etcheverry wurde mehr in Kneipen als auf dem Trainigsplatz gesehen. Nach einem halben Jahr brach “El diabolo” seine Zelte im europäischen “Paradies” wieder ab, um nach La Paz zu seinem Stammverein Bo­livar zurückzukehren. Die in Bolivien für einen Fußballprofi kärglichen Verdienst­möglichkeiten von im Schnitt 1700 DM, ließen ihn aber nach einem Jahr das chile­nische “Exil” bei Colo Colo Santiago su­chen. Mit diesem Club wurde er 1993 auf Anhieb Meister, wenngleich eine schwere Knieverletzung im November sein Mit­wirken in der Schlußphase der Meister­schaft verhinderte. Bei der WM soll er aber wieder fit sein und kann somit im Er­öffnungsspiel dem deutschen Team die Hölle heiß machen.

Argentinien

Bei den letzten zwei Weltmeisterschaften jeweils Endspielgegner der deutschen Mannschaft, war der Weltmeister von 1978 und 1986 und amtierende Südamerika­meister (1993) natürlich Top­favorit in seiner Gruppe. Doch Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Das unterentwickelte Kolumbien könne in Ar­gentinien doch gar nicht gewinnen, soll Diego Maradona vor dem Rückspiel in Buenos Aires geäußert haben. Mit dem schon erwähnten 5:0 Sensationssieg gaben die Kolumbianer auf dem Spielfeld eine deutliche Antwort. Das ruhmreiche Ar­gentinien mußte so eine interkontinentale Zusatzqualifikation gegen Australien be­streiten, um das Ticket für die USA zu er­halten. Mit diesen beiden Spielen kehrte auch Argentiniens bester Fußballer aller Zeiten, Diego Armando Maradona nach dreijähriger Abstinenz wieder ins Natio­nalteam zurück. Trotz mangelhafter Fit­ness trug Maradona mit seiner Vorlage zum 1:1 in Australien und beim knappen 1:0 in Buenos Aires mit seinem Mythos entscheidend zur Qualifikation bei. Wenn auch im Moment ohne Verein und von seiner Höchstform weit entfernt, hofft Ar­gentinien, daß Maradona auch bei der WM mit Genieblitzen die Mannschaft führen und inspirieren kann.

“Dieguito”: “Fußballgott” und “Kokain­sünder” – der Mythos Maradona

Neben dem Brasilianer Pelé gilt er als weltbester Spieler aller Zeiten. Schlag­zeilen produziert er im Privatleben ebenso ausgiebig wie auf dem Spielfeld. Seine Größe als Fußballer ist ebenso unumstrit­ten, wie seine Persönlichkeit umstritten. Politisch zeichnet sich Maradona durch wechselnde Positionen aus. Einst Verehrer von Menem, schenkte er als Zeichen sei­ner Wertschätzung unlängst dem máximo líder Fidel Castro sein Trikot. Bei den kürzlichen Kommunalwahlen in Argenti­nien sprach er sich für das Mitte-Links­Bündnis Frente Grande aus.

Teures Wunderkind

Seine von zahlreichen Rekorden und Er­folgen gekrönte Profikarriere begann Diego Armando Maradona schon zehn Tage vor seinem 16. Geburtstag als Ein­wechselspieler der Argentinos Juniors Bu­enos Aires. Vier Monate später feierte das Supertalent als jüngster Nationalspieler des Landes aller Zeiten seinen Einstand in der Nationalmannschaft. Mit 21 Jahren wechselte er für die damalige Rekordablö­sesumme von ca. 20 Millionen DM zum spanischen Club FC Barcelona; 1984, mit 23 Jahren, für die neue Rekordablöse­summe von ca. 24 Millionen DM an den Vesuv zum SSC Neapel. Größere sportli­che Erfolge hatte “Dieguito” bis dato überhaupt noch nicht errungen. Allein sein Ruf als weltbester Fußballspieler ließ die Ablösesumme in ungeahnte Höhen schnellen. Mit der Zeit in Neapel (84 bis 91) ist der Aufstieg zum verehrten “Fußballgott” wie auch der Fall zum “Kokainsünder” verbunden.

Eine Stadt und ihr Spieler – die Symbiose

Schon zu seiner Vorstellung pilgerten 80.000 ZuschauerInnen ins Stadion San Paolo. Maradona, einer, der den Aufstieg geschafft hat, als Symbol der Hoffnung für die Armen. “Bienvenuti a Italia” – so wurde das Afrika zugeordnete Neapel in Genua oder Mailand hämisch empfangen. Maradona als Symbol eines neuen Selbst­bewußtseins gegenüber den reichen Städ­ten des Nordens.
Maradona gab die Sympathien, die ihm in Neapel entgegenschlugen, zurück. Auf dem Spielfeld ließ er mit seinen Tricks Alltagssorgen verblassen. Privat lud er des öfteren Kinder für ein Wochenende in seine Prunkvilla ein. Wenn überhaupt, dann wurde in Argentinien der Gewinn der Weltmeisterschaft 1986 enthusiasti­scher gefeiert als in Neapel. Auch Neapel war Weltmeister geworden, schließlich war es ihr “Dieguito”, der als überragen­der Spieler dem Turnier seinen Stempel aufgedrückt hatte. Unsterblich machte sich Maradona im Jahr darauf. Der Begriff scudetto (italienischer Meistertitel) war aus dem neapolitanischen Vokabular ent­fernt worden, schien doch ein Fluch auf ihm zu lasten oder wie anders konnte er­klärt werden, daß Neapel noch nie Meister geworden war. Maradona, der Magier, lö­ste auch diesen Fluch. Meisterschaft und Pokal in einem Jahr. Maradona war auf dem Höhepunkt seines Ruhms angekom­men. Eine ganze Stadt lag “Dieguito” zu Füßen, umarmte ihn – und hätte ihn fast erdrückt.

Maradona auf der Flucht – die Tragik

Maradona, der sich anfangs in seiner un­antastbaren, gottähnlichen Rolle gefiel, wurde es zuviel. “Ich fühle mich wie ein Gefangener” äußerte er 1989. Er wollte weg, obwohl der sportliche Erfolg immer noch gegeben war. 1990 wurde die Mei­sterschaft ein zweites Mal errungen. Maradona gehen lassen, Neapel ohne Gott und Hoffnung? Wie sollte ein Präsident das verantworten? Maradona im Käfig. Im Februar 91 wurde Maradona mit ersten Drogenvorwürfen konfrontiert. Im März wurde es amtlich. Nach einem Ligaspiel wurde ihm der Kokaingenuß nachgewie­sen. Er habe zu den Drogen gegriffen, um dem Rummel um seine Person zu entflie­hen. Er floh weiter. Zunächst vor der ita­lienischen Justiz nach Argentinien. Dort wiederum in die Drogen. Nach seiner Festnahme wegen Drogenbesitz bewahrte ihn nur sein Name und die Bereitschaft, sich einer Entziehungskur zu unterziehen, vor einer Haftstrafe. Seine Karriere schien beendet.
Nach Ablauf seiner 15monatigen Spiel­sperre wegen Dopings wollte er seine Kar­riere bei Boca Juniors Buenos Aires fort­setzen. Neapel gab seinen Sohn preis – für 11,3 Millionen DM. Nie war er so billig und dennoch für Boca zu teuer. So hieß der glückliche Erwerber Sevilla. Mit Ma­radona setzte ein Zuschauerboom ein. Der Mythos Maradona hatte an Zugkraft nichts eingebüßt. Glücklich wurde Diego in Sevilla jedoch nicht. Die Eskapaden häuften sich. Im Sommer 93 hatte Mara­dona sein Ziel erreicht. Er wurde entlassen und kehrte nach Argentinien zurück. Sein neuer Club hieß Newell’s Old Boys aus Rosario – bis zum 1. Februar. “Maradonas Vertrag mit unserem Klub ist beendet, weil Diego psychisch nicht in der Lage ist, mit Anstand und Würde in einer ihm ge­mäßen Art zu spielen.” Mit diesen Worten beendete der Vereinspräsident die Zu­sammenarbeit mit dem enfant terrible. Die WM ist Maradonas neuer Fluchtpunkt. “Die Argentinier können beruhigt sein. Ich werde bei der WM dabei sein und in den USA wie um mein Leben spielen” ließ er kurz nach seiner Entlassung verlauten. Wohin sein Weg oder seine Flucht danach führen wird, ist noch offen. Der Mythos lebt weiter. Nur so ist zu erklären, daß dem bald 34jährigen Maradona auch für die Zeit nach der WM schon wieder An­gebote vorliegen. Darunter eins vom SSC Neapel.

Brasilien

Brasilien ist das einzige Land der Welt, das an allen 14 Weltmeisterschaften teil­genommen hat. Brasilien ist das einzige Land, das auf einem fremden Kontinent Weltmeister wurde (1958 in Schweden). Die glorreiche Zeit des dreifachen Welt­meisters liegt indessen weit zurück. Seit 24 Jahren kein Weltmeistertitel mehr. Dennoch gilt Brasilien immer noch als In­begriff für Fußballkunst und Fußballzau­ber. Wenngleich auch die Kolumbianer inzwischen als “die letzten Brasilianer” tituliert werden, gilt Brasilien wie immer als einer der Topfavoriten auf den Titel. Daran ändert auch die erstmals in einer Qualifikation erlittene Niederlage gegen Bolivien nichts. Gruppensieger wurden die Brasilianer trotzdem. Im letzten und entscheidenden Spiel gegen Uruguay be­rief der Nationaltrainer Parreira nach neunmonatiger Verbannung den Stürmer­star Romário wieder ins Aufgebot. Dieser bedankte sich mit zwei Toren. Unbestrit­ten als Torjäger, ist er innerhalb der Mannschaft ob seiner Starallüren jedoch ständiger Unruheherd.

Heirat im Strafraum: Romário: “Training ist Kalorienverschwendung”

“Ich wollte schon seit frühester Jugend immer ganz vorne spielen und Tore schie­ßen.” Romário hat sein Vorhaben ein­drucksvoll umgesetzt. Von 89 bis 91 wurde er dreimal in Folge holländischer Torschützenkönig. Auch in seiner ersten Saison beim FC Barcelona wurde er die­ses Jahr souveräner Schützenkönig. In Eu­ropa zog er als Torschützenkönig bei den Olympischen Spielen 1988 erste Auf­merksamkeit auf sich. Sein darauffolgen­der Wechsel zum Philips-Sport-Verein (PSV) Eindhoven sorgte durch die unge­wöhnliche Finanzierungsart für Schlag­zeilen. Philips hatte von der brasiliani­schen Zentralbank mit einem Abschlag Schuldentitel in Höhe von 2,8 Millionen US-Dollar aufgekauft, der Verein Romá­rios (Vasco da Gama) erhielt im Gegen­zug von der Zentralbank Cruzados zum Tageswert von 3,91 Millionen US-Dollar (siehe LN 176). Zum ersten Mal wurde so ein Fußballspieler zum Zwecke staatlicher Schuldentilgung verwendet.

Der launische Strafraumkönig

Der Strafraum ist Romários Lebensfeld. Nicht nur, daß er seine Tore fast aus­schließlich aus kurzer Distanz im selbigen erzielt, nein selbst geheiratet hat er in ihm. Zu seiner Trauung wurde eigens ein Altar auf dem Elfmeterpunkt eines Fußballplat­zes aufgebaut. Launisch zeigt er sich auch bei der Wohnungssuche in Barcelona. Nach knapp einem Jahr wohnt er immer noch in einem Luxushotel, weil er sich für kein Appartement entscheiden kann. Mal hat’s keinen Meeresblick, mal ist’s zu klein, mal ist’s zu weit vom Trainingsplatz entfernt. Ansonsten mißt er dem Training eher weniger Bedeutung bei. Training sei “Kalorienverschwendung” ließ er einmal verlauten. Dementsprechend häufig blieb er ihm fern. Tore schießen läßt sich nun­mal nicht trainieren. “Ich glaube, daß ich mit diesem Talent auf die Welt gekommen bin”, äußerte er sich zu seinen Torjäger­qualitäten. An Selbstvertrauen mangelt es Romário wirklich nicht. Dem brasiliani­schen Nationalheiligen Pelé unterstellte er kürzlich sogar in aller Öffentlichkeit “Schwachsinnigkeit” und “Museums­reife”. Seinen Stürmerkollegen in der Na­tio­nalmannschaft, Muller, kriti­sierte er hef­tig und kündigte an, daß er nicht mit ihm zusammenspielen wolle. Pelé rea­gierte gelassen: “Manchmal sagt man in Eu­ropa eine Sache und sie wird in einer anderen Art und Weise in Südame­rika be­richtet”. Er bezeichnete sich sogar als Fan Romários und erwartet ihn als einen der Super­stars bei der WM. Die Mitspieler des Torjägers reagierten gar nicht. Der Grund: Nationaltrainer Parreira verhängte ei­nen “Maulkorberlaß”. Keiner darf sich in der Öffentlichkeit negativ über den Hoff­nungsträger der Nation äußern. Vor neun Monaten noch hatte Romários For­derung nach einem Stammplatz zu sei­ner Ver­bannung geführt. Jetzt hält ganz Bra­silien in der Hoffnung still, daß Romá­rio Bra­silien zum Weltmeistertitel schießt. Wehe Romário, wenn er nicht trifft.

Vom Metall des Teufels zum “Eldorado”?

Die Tendenz, in die Goldminen zu investieren, zeichnet sich bereits seit einigen Jahren ab. Vor allem der Zufluß ausländischen Kapitals richtete sich nicht wie erhofft auf den Aus- und Umbau der traditionellen Zinnminen, sondern fand im Bereich Gold statt. So investierte “Inti-Raimi” (nordamerikanisches Kapital) 1992 150 Mio US-Dollar, um den “Kori-Kollo” (Berg des Goldes) im Dep. Oruro mit verbesserter Technologie ausbeuten zu können und neue Abbauebenen zu erschließen. Die Produktion konnte daraufhin auch auf 120 kg pro Monat gesteigert werden. Neben Inti Raimi ist auch die COMSUR (Companía Minera del Sur) des neuen Präsidenten Gonzales de Lozada im Goldabbau tätig. Der Hauptteil der Produktion jedoch wird von sogenannten Kooperativen gefördert.
Die Gesamtproduktion von Gold wird in den offiziellen Statistiken mit drei bis vier Tonnen jährlich (1990) angegeben. Die Federación de Mineros beziffert die Mengen Gold, die das Land in den letzten fünf Jahren auf dem Schmuggelweg verließen, auf annähernd 28 Tonnen, so daß insgesamt von einer weit höheren Fördermenge ausgegangen werden muß.
Die Produktion der letzten 30 Jahre wurde zu etwa 60 Prozent von den Kooperativen erarbeitet, zu 38 Prozent von den Minengesellschaften (vor allem von Inti Raimi und COMSUR) und zu einem verschwindend geringen Teil von der staatlichen Minengesellschaft COMIBOL (Cooperativa Minera Bolivianer). Interessant hierbei ist die Verteilung der Schürf- und Eigentumsrechte. Von den Kooperativen werden insgesamt 50.000 Parzellen von jeweils etwa einem Hektar bearbeitet, das sind 3,4 Prozent der gesamten Eigentumsrechte. 9 Prozent teilen sich die Minengesellschaften, aber 87,6 Prozent sind nach wie vor in den Händen der COMIBOL. Diese Verteilungspraxis wird stark von den Kooperativen kritisiert, deren Situation sich seit 1985 permanent verschlechtert hat. Per Dekret wurde 1985 der Handel mit Gold freigegeben, der zuvor der staatlichen Kontrolle unterlag und damit den Händlern die Preisgestaltung in die Hände legte. Zwar sollten 1,5 Prozent Steuern vom Gesamterlös abgeführt werden, durch den immensen Schmuggel entgeht dem Staat jedoch diese Einnahmequelle. Darüber hinaus sind die Mitglieder der Kooperativen dem Preisdiktat der Goldaufkäufer stärker ausgeliefert als zuvor. Allein in der Provincia Lareja, der “Goldregion” im Departamento La Paz, sind über 200 Händler tätig, und ihre Zahl steigt nach der Liquidation der Banco Minero, die den Goldaufkauf zu festen Preisen im Auftrag des Staates tätigte, ständig an.

Die große Versuchung

Gold hatte in der Geschichte schon immer eine besondere Anziehungskraft. Geologischen Studien weisen praktisch auf dem gesamten Territorium Boliviens Goldvorkommen nach, so im Departamento Santa Cruz, im Pando, im Amazonastiefland, aber auch im Hochland und den subtropischen Gebieten nördlich von La Paz. Eine der traditionellen Regionen war und ist die Provinz Lareja und hier vor allem Tipuani, am gleichnamigen Fluß gelegen. Tipuani, 560 Meter über dem Meer und ca. 180 km von La Paz entfernt, mit subtropischem Klima, liegt zu Füßen der Cordillera Real. Durch Tipuani führt der legendäre Inkapfad, der sich von Sorata über Yani, Chusi und Llipi bis Paititi zieht. Die Indígenas zogen vor und während der Kolonialzeit in langen Pilgerreisen an den Goldfluß, von wo sie glänzende Kleinode mitführten, die die Spanier dazu animierten, in die Region vorzudringen, um nach Gold zu suchen.
Bis in die 30er Jahre arbeitete die bolivianische Gesellschaft “BOLGO” mit modernster Technologie in den Minen der Region. Später gingen die Schürfrechte an die Companía Aramayo (Aramayo = einer der sog. “Zinnbarone”). Aufgrund der unmenschlichen Arbeitsbedingungen – den Quellen läßt sich entnehmen, daß die Bergarbeiter nackt in der Mine arbeiten mußten und schärfsten Kontrollen unterzogen wurden – , vor allem aber aufgrund des Vorwurfes, die Gesellschaft schmuggle hohe Goldmengen außer Landes, sah sich das Parlament 1951 gezwungen, den Mineneingang zu sprengen, um die weitere Förderung zu verhindern. Nach 1952 übernahm die Federación de Mineros die Kontrolle über die Goldminen von Lareja.
Bereits 1959 gründeten sich die ersten Kooperativen, die heute in den 7 Produktionszentren allein dieser Region auf über 200 angewachsen sind und etwa 10.000 Mitglieder zählen. Auch diese Zahlen sind nur ein vager Anhaltspunkt, da die Zahl derer, die auf eigene Faust oder auch nur tageweise in den Stollen oder in den Flußbetten arbeiten, seit 1985 – nach der ersten Welle der Entlassungen in den Zinnminen – stark zugenommen hat.
In der Region wird 30 Prozent der Gesamtproduktion von Gold gefördert, größtenteils mit rudimentären Mitteln. Die Methode des Abbaus in den Minen hat sich seit 1954 nicht wesentlich geändert; man arbeitet in Terassen oder Plattformen und die Stollen werden vertikal geschlagen. Laut FERRECO (Federación de Cooperativas) arbeitet zur Zeit keine Mine rentabel. Zudem ist die Hierarchie innerhalb der Kooperativen in den Goldzentren noch stärker ausgeprägt als in den Kooperativen der Zinnminen. So trifft man hier oft auf GesellschafterInnen, die sich in die Kooperative “einkaufen”, dann aber Wanderarbeiter für sich arbeiten lassen, die bis auf einen geringen Anteil der Goldproduktion alles an die GesellschafterInnen abliefern müssen. Um die Arbeits- und Lebensbedingungen der Kooperativenmitglieder zu verbessern, fordert FERRECO ein der aktuellen Situation angepaßtes Gesetz für die Minen, das den Zugang zu den Schürfrechten klärt und die Vermarktung regelt. Darüber hinaus werden Kredite gefordert, um die Technologie anpassen zu können und den Ausbau der Infrastruktur, vor allem den Straßenbau, der den Zugang zur Region erleichtern soll, voranzutreiben.
Problematisch für die gesamte Region sind die negativen ökologischen Auswirkungen des Goldabbaus. Allein in der Region Lareja werden für die Goldförderung mehr Benzin und Diesel verbraucht, als in allen anderen Sektoren. Monatlich werden annähernd zwei Millionen Liter benötigt, um die Bagger und anderen schweren Maschinen zu betreiben.

Der Erdrutsch in Llipi

Noch kein Jahr ist vergangen, seit der Bergbau Boliviens von einer seiner größten Katastrophen heimgesucht wurde. Am 7. Dezember 1992 gegen fünf Uhr morgens wurde Llipi, eine Goldarbeitersiedlung nahe bei Tipuani, am Fuß des gleichnamigen Berges, nach schweren tagelangen Regenfällen von einer Lawine aus Geröll, Steinen und Erde verschüttet. Die Zahl der Toten konnte nie ermittelt werden. Nach Einstellung der Bergungsarbeiten, fünf Tage später, zählte man 200 Tote und hunderte Verletzte. Die Zahl der noch Vermißten wurde mit 200-400 angegeben. In dem Camp befanden sich zur Zeit des Unglücks etwa 1200 Menschen. Durch die nicht nachprüfbare Zahl der sogennante “flotantes”, die sich den Kooperativen nur tageweise anschließen und auf eigene Faust nach Gold suchen und die nicht genau feststellbare Zahl von Händlern wird man die genaue Zahl der Toten nie ermitteln können. Die meisten der 400 Überlebenden waren Bergarbeiter, die sich zur Zeit des Erdrutsches in der etwa einem km entfernten Mine auf Schicht befanden. Von den 120 Häusern blieben noch 30 stehen. Die Rettungsarbeiten gestalteten sich äußerst schwierig, da auch Llipi nur über Wege erreichbar ist, die von den Kooperativen selbst angelegt wurden. Männer und Frauen, Erwachsene, Jugendliche und Kinder treibt die Hoffnung, Gold zu finden, ohne Rücksicht auf die schlechten Lebensbedingungen in die Region. In Llipi gab es weder Strom noch eine Schule oder eine Krankenstation. Die Häuser sind völlig ungesicherte Konstruktionen an Berghängen und Flüssen. Durch das Schlagen von Stollen an den verschiedensten Stellen des Berges wird dieser unterminiert und die Gefahr von Erdrutschen bei den jährlichen, zum Teil sehr starken und anhaltenden Regenfällen erhöht. Viele Camps liegen auch direkt an Flußufern und die Menschen dort sind der Gefahr durch Überschwemmungen ausgeliefert. Die Bedingungen in Llipi sind keine Ausnahme, sondern vielmehr die Regel in den Goldgräberorten.
Durch die nun bevorstehenden Umsiedlungen wird sich die Zahl der Kooperativen und die Zahl derer, die für sich selbst arbeiten, in den nächsten Monaten noch immens erhöhen. Die Kooperativen gelten als Auffangbecken für Arbeitslose, vor allem von Ex-Minenarbeitern aus dem Zinnbergbau – so kann die Regierung die offizielle Arbeitslosenstatistik nach unten korrigieren.
Zwischenzeitlich dringen die Goldsucher entlang der Flüsse weit bis in die Tiefen des Amazonasbeckens, in die Territorien der Indígenas des Tieflandes vor, was neue Konflikte vorprogrammiert. Immer neue geologische Studien werden vor allem von US-amerikanischen Firmen, die die “große Chance” wittern, in Auftrag gegeben. Es bleibt abzuwarten, wie die neue Regierung das Problem des Bergbaus lösen wird, und ob nach der Ära von Silber und Zinn nun die Stunde des Goldes für Bolivien schlagen soll.

Kreative Unruhe inmitten des ökonomischen Desasters

Es ist eine seltsame Sturmnacht. Wind und Regen peitschen von der Karibik her gegen das kolumbianische Festland. Krebse krabbeln aus der Gischt und retten sich an Land. Ein Baby wird unruhig. In Windeseile bedeckt das glitschige Getier den Boden der Strohhütte. Das Baby schreit. Draußen hat das Unwetter ein anderes verstörtes Wesen an den Bootssteg gespült: “Un señor muy viejo con unas alas enormes” – einen sehr alten Herrn mit enormen Flügeln. Ein Geschenk des Himmels?
Fernando Birri, Kuba, 1989

Wie jeden Tag sitzt sie in der Küche und weint beim Zwiebelschneiden, als sie spürt, daß es soweit ist: Der gewölbte Unterleib krampft sich zusammen, die Fruchtblase platzt, und ein Meer von Tränen ergißt sich über die Holzdielen, schwappt bis zur Türschwelle. Das Mädchen, das in diesem Moment das Licht der Küchenfunzel erblickt, wird den Großteil seines Lebens in diesem Raum verbringen und als Köchin kleine Wunder vollbringen. Tief im Inneren wird sie sich nach den samtigen Schlafzimmeraugen ihres Geliebten und späteren Schwagers verzehren. Sie gehören zueinander “como agua para chocolate” – wie das Wasser und die Schokolade, die sie ihm täglich in emsiger Fürsorge zubereitet…
Alfonso Arau, Mexiko, 1992

Mexikanische Knäste sind nicht besonders angenehm, dieser ist keine Ausnahme: Die Mittagshitze brennt aufs Wellblechdach, apathisch hängt die Wärterin hinterm Schreibtisch und zählt Schmiergeld. Auch der einzige Insasse langweilt sich – und sinnt auf Rache: Er weiß, wessen Verrat er diesen Aufenthalt verdankt. Da ist das Schlagen einer Autotür zu hören. Breitbeinig, die Knarre im Anschlag, betreten sie die Baracke. Damit der Chef die neue Freiheit auch genießen kann, haben sie ihm gleich was mitgebracht: einen schwarzen Gitarrenkoffer – drinnen eine kleine Waffensammlung. Der Weg ist frei für die Revanche – wenn da nicht ein unschuldiger “Mariachi”-Sänger mit einem ähnlichen Koffer wäre…
Roberto Rodriguez, Mexiko, 1992

Von einem Tag auf den anderen beschließt er, das wenige zu verkaufen, was er sich in all’ den Jahren als Sargtischler erarbeitet hat. In La Paz begreift niemand, warum er zurück will in sein Aymara-Dorf. Vor Jahren hatte ihn die Gemeinschaft verstoßen: Er hatte Geld unterschlagen. Eine rituelle Tanzmaske auf den Rücken geschnallt, macht er sich zu Fuß auf den Weg, um dort zu sterben, wo er hingehört: zur “nación clandestina” – der geheimen Nation.
Jorge Sanjinés, Bolivien, 1991

Bloß raus aus dem feuerländischen Winter, weg vom spießigen Stiefvater, der resignierten Mutter, den Schikanen in der Schule und der verwickelten Liebesaffäre. – Wohin? Mal sehen: erst mal mit dem Rad durch Patagonien, dann weiter nach Norden… Quer durch den unbekannten lateinamerikanischen Kontinent, auf den Spuren des Vaters, der vor Jahren das Weite suchte: “El viaje” – die Reise – vielleicht ist der Weg schon das Ziel?
Fernando Solanas, Argentinien, 1992

Eingangsquenzen von fünf lateinamerikanischen Filmen, die in den letzten Jahren entstanden: Ein Panoptikum unterschiedlicher Geschichten und Bildsprachen. Nicht alle haben eine klare “mensaje”, eine politische Botschaft. Im Gegenteil: “El Mariachi” und “Como agua para chocolate” stehen eher in der Tradition populärer Unterhaltungsgenres, treiben sie auf die Spitze, lavieren zwischen parodistischer Brillianz und schnöder Trivialität hin und her.
Ganz anders dagegen Filme wie “La nación clandestina” und “El viaje”. Auf sehr unterschiedliche Art und Weise befassen sie sich mit der Suche nach einer persönlichen und kollektiven Identität: “La nación clandestina” des Bolivianers Sanjinés hält sich als künstlerisches Werk zurück. Der Film, der mit Aymara-Indígenas in ihrer Sprache gedreht wurde, paßt sich in Tempo und Schnittfolge der Lebensphilosophie dieses Volkes an. Ganz anders dagegen der abenteuerliche Trip von Solanas Protagonisten, einem Jungen aus dem weißen Mittelstand: “El viaje” ist vom ständigen Wechsel der Verkehrsmittel, der Umgebung, der Eindrücke geprägt: Ein surreal-dekadentes Argentinien, von Wassermassen überschwemmt und in seiner eigenen Scheiße erstickend. Ein postkartenschönes Machu Picchu, das inmitten des touristischen Rummels Ahnungen von der präkolumbianischen Vergangenheit aufsteigen läßt. Ein von grotesken Gegensätzen zerrissenes Brasilien, in dem es futuristische High-Tech-Metropolen gibt, während gleichzeitig im Amazonasgebiet Minenarbeiter sich zu Tode schuften müssen wie schon zu den Zeiten der Conquista. – Zwei Filme, der eine von stoischer äußerer Ruhe und Verschlossenheit, der andere opulent, teilweise überladen mit Eindrücken und Metaphern – Porträts der widersprüchlichen Gesichter eines Kontinents.

Filme zur Conquista: Jubiläumsspektakel oder kultureller Dialog?

Pünktlich zum Jahr 1992 entstanden auch einige Filme, die sich direkt mit der Geschichte der Eroberung Amerikas auseinandersetzen: Im Gegensatz zu den US-amerikanischen Mammutschinken “1492” und “Columbus”, die sich auf die Heldengestalt des “Entdeckers” bezogen, erzählen “Jericó” (Luis Alberto Lamata, Venezuela, 1991) und “Cabeza de vaca” (Nicolás Echevarría, Mexiko, 1991) andere Versionen vom “Aufeinandertreffen zweier Welten”, die ebenfalls auf historische Quellen zurückgehen: In beiden Fällen sind die Protagonisten spanische
Conquistadoren, die von ihrer Armee getrennt werden, nach und nach immer mehr vom alten Ich abstreifen, in die fremde Umgebung und Kultur eintauchen – bis sie gegen ihren Willen von den Spaniern “gerettet” und in die “Alte Welt” zurückgeholt werden.
Das Paradoxe ist, daß die meisten dieser “500 Jahre”-Filme nur mit Hilfe von Geldern aus Europa realisiert werden konnten. Besonders der staatliche spanische Fernsehsender TVE ließ sich das historische Gedenken schon einiges kosten und trat als Koproduzent bei der Finanzierung einiger Filme auf – unter anderem bei “La nación clandestina” von Sanjinés und “Un señor muy viejo con unas alas enormes”, den Fernando Birri nach einer Kurzgeschichte von Gabriel García Márquez verfilmte.

Allgemein konnte im letzten Jahr durchaus der Eindruck enstehen, als ob die europäische Medienöffentlichkeit ganz wild darauf sei, die koloniale Vergangenheit durch eine hohe Durchlaufzahl von lateinamerikanischen Filmproduktionen aufzuarbeiten. Sowohl auf den Leinwänden der Filmfestivals als auch in der ersten Reihe bei ARD und ZDF waren so viele amazonische Ureinwohner und großstädtische Straßenkinder zu sehen wie nie zuvor. Jetzt, wo der Jahrestag der Betroffenheit abgefeiert worden ist, scheinen sich die Bedürfnisse des Marktes und das Angebot in den Massenmedien erst mal wieder in andere Weltregionen verlagert zu haben.

Zwischen “Ästhetik des Hungers” und Happy End für “Juliana”

Und wie sieht es in Lateinamerika selbst aus? Mehr als 30 Jahre sind seit der Entstehung des Neuen Lateinamerikanischen Films vergangen. Beeinflußt von der kubanischen Revolution und linken Bewegungen anderswo auf dem Kontinent, versuchten in verschiedenen Ländern FilmemacherInnen, neue Wege zu gehen. Stilistisch waren sie unter anderem vom italienischen Neorealismus oder vom Surrealismus Luis Buñuels beeinflußt, der damals im mexikanischen Exil lebte. Das Kino sollte keine illusionistische Traumfabrik sein, sondern Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse und gleichzeitig Motor politischer Veränderungen. Entsprechend programmatisch waren die Namen: “Cine Imperfecto”, “Cine de Liberación”, “Ästhetik des Hungers”. Regisseure wie Fernando Solanas und Octavio Getino (Argentinien) propagierten ein “Drittes Kino” in Abgrenzung sowohl von der kommerziellen Filmindustrie als auch vom individualistischen Autorenkino.
Ziel war die “Entkolonialisierung der Köpfe” – Film als politisches und pädagogisches Instrument: Entsprechend groß war auch die Bedeutung, die dem Kino in Kuba und auch im sandinistischen Nicaragua beigemessen wurde. Einige dieser Filme beeindrucken nicht nur durch die “Botschaft”, sondern auch durch die expressive Bildsprache: Zum Beispiel “Lucía” von Humberto Solás (Kuba, 1968), der die Geschichte Kubas anhand dreier Frauen aus unterschiedlichen Epochen dieses Jahrhunderts zeigt. Andere Filme arbeiteten dagegen vorwiegend mit dem didaktischen Zeigefinger: Die Charakterisierung der Personen wurde dem vereinfachenden Pinselstrich des “sozialistischen Realismus” untergeordnet.
Einige RegisseurInnen oder Filmkollektive versuchten, nicht nur die Inhalte zu “revolutionieren”, sondern auch die Entstehung eines Films zu einem Gemeinschaftsprojekt zu machen: In den achtziger Jahren arbeitete Grupo Chaski in Peru fast ausschließlich mit LaiendarstellerInnen, die aus ähnlichen Lebensverhältnissen stammten wie die Personen des Films. Ihre Erfahrungen sollten in die Handlung einfließen. Dieser Anspruch wurde allerdings nur begrenzt realisiert – unter anderem, da es nicht gelang, mit gruppeninternen Hierarchie- und Machismo-Konflikten fertigzuwerden. Bei den Filmen von Grupo Chaski flossen Realität und Fiktion ineinander. Und auch Wunschträume hatten ihren Platz, beispielsweise bei dem Film über das Straßenmädchen “Juliana” (Peru 1989), der auf Wunsch der Kinder, die mitspielten, ein Happy End bekam. – Dies löste übrigens bei der Präsentation des Films in Europa bei vielen BetrachterInnen Befremden aus, wurde angesichts der Situation in Peru als unpolitisch und naiv angesehen…

Vor dreißig Jahren: Aufbruch trotz wirtschaftlicher und politischer Zwangsjacken

Das Neue Lateinamerikanische Kino sah sich natürlich von Anfang an mit großen ökonomischen Problemen konfrontiert. Nur in wenigen Ländern, wie etwa Argentinien, Brasilien und Mexiko, gab es eine funktionierende Infrastruktur im Filmbereich, die in erster Linie der Herstellung kommerzieller Unterhaltungsspektakel diente. In den siebziger Jahren begannen Länder wie Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Peru und Venezuela, Gesetze zur Förderung der nationalen Filmindustrie zu verabschieden. So schreibt beispielsweise seit 1972 ein Gesetz in Peru vor, daß in den Kinos vor jedem ausländischen Spielfilm ein peruanischer Kurzfilm gezeigt werden muß und ein Teil der Kinoeinnahmen seinen ProduzentInnen zufließt. Dies führte immerhin dazu, daß zwischen 1972 und 1990 mehr als 800 Kurzfilme entstanden.
Während der Zeit der Militärdiktaturen in Argentinien, Chile, Bolivien und anderen Ländern waren viele FilmemacherInnen gezwungen, ins Exil zu gehen. Erst die Rückkehr der Länder zur formalen Demokratie brachte wieder Impulse für den Film, der zum Sprachrohr der progressiven Bewegungen wurde: In Argentinien entstanden ab Mitte der achtziger Jahre eine Reihe von Werken, die sich mit der Zeit der Diktatur auseinandersetzten, so etwa “La historia oficial” von Luis Puenzo (“Die offizielle Geschichte”, 1985), “La noche de los lápices” (“Die Nacht der Bleistifte” 1986) von Héctor Oliveira und “Sur” (Süden, 1987) von Fernando Solanas.

Ökonomische Krise und Videoboom: schlechte Zeiten fürs Kino

Die neunziger Jahre sind für das lateinamerikanische Kino nicht gerade die Zeit der großen Hoffnungen, und das hat in erster Linie ökonomische Ursachen: Die in den meisten Ländern ohnehin nicht sehr stabile Filmindustrie leidet zum einen unter der immer größeren Konkurrenz durch Fernsehen und Video. Die ökonomische Krise der letzten Jahre und vor allem die neoliberale Wirtschaftspolitik haben gleichzeitig die Kaufkraft so weit geschwächt, daß ein Kinobesuch auch für Leute aus der Mittelschicht zum Luxus geworden ist.
Als Konsequenz des Publikumsschwundes mußten in den vergangenen sechs Jahren mehr als die Hälfte der Kinosäle in Lateinamerika schließen. Die übrig gebliebenen Lichtspielhäuser setzen vorwiegend auf US-amerikanische Massenware. Oft werden sie auch von den Verleihfirmen dazu verpflichtet, mehrere Streifen en bloc einzukaufen, was es schwer macht, unabhängig produzierte in- oder ausländische Filme ins Programm zu nehmen.
Anders als in der Fernsehindustrie gibt es im Filmbereich kaum Strukturen für den Vertrieb und Austausch lateinamerikanischer Produktionen. Mit paradoxen Folgen: Die Wahrscheinlichkeit, einen kolumbianischen Film in einem Programmkino in Köln oder einem Dritte Welt Zentrum in Münster zu sehen, ist weitaus größer als die Möglichkeit, das Werk im Nachbarland Ecuador zu Gesicht zu bekommen. Das gilt auch für viele Filme, die internationale Preise erhalten haben.
Insbesondere die brasilianische Filmindustrie wurde von den Privatisierungen unter Collor de Mello stark getroffen. Dieser löste nach seinem Amtsantritt die staatliche Filmförderungsbehörde Embrafilm auf und schaffte das Gesetz ab, das den brasilianischen Filmen eine Abspielmöglichkeit garantierte. – Mit dem Ergebnis, daß das Land, das zeitweise bis zu 90 Filme pro Jahr produzierte, seit Anfang der neunziger Jahre nur noch durchschnittlich 3 Filme herstellt. Die Programmlücken, die so im Kinoangebot entstanden, wurden rasch mit US-Produktionen gefüllt.
Lediglich Mexiko gelingt es nach wie vor, seine – größtenteils recht kommerziell orientierte – Filmproduktion relativ stabil zu halten. Dies liegt zum einen an der vergleichsweise sicheren politischen und ökonomischen Situation des Landes. Wichtig für die künstlerische Filmproduktion sind die Aktivitäten des staatlichen “Instituto Mexicano de Cinematografía” (IMCINE), das unter anderem gezielt junge FilmemacherInnen fördert. Einige Filme wurden sogar kommerzielle Erfolge im Ausland, zum Beispiel “Como agua para chocolate”: In den USA wurde das Küchendrama überraschend zum Kassenschlager und spielte allein in den ersten 16 Wochen 8,5 Millionen Dollar ein.
Und wie steht es mit Kuba? In den drei Jahrzehnten nach der Revolution entstand auf der Insel unter Federführung des nationalen Filminstitutes ICAIC eine Filmindustrie, die zwischen 1984 und 1990 ungefähr 10 Spielfilme pro Jahr sowie zahlreiche Kurz- und Dokumentarfilme produzierte. Entscheidend ist allerdings nicht die Anzahl der Filme, sondern die politischen Impulse, die vom kubanischen Film ausgingen, sowie die Infrastruktur, die der kubanische Staat aufbaute und auch Filmschaffenden anderer Länder zur Verfügung stellte.
So wurde 1986 auf Kuba die “Filmschule der drei Welten” gegründet – ein weltweit einmaliges Projekt, das jungen Leuten aus Lateinamerika, Asien und Afrika die Möglichkeit bietet, gemeinsam zu studieren und sich auszutauschen. Das Internationale Filmfestival von Havanna, das seit 1980 jährlich stattfindet, entwickelte sich schnell zum wichtigsten Forum des lateinamerikanischen Films.
Die ökonomische Krise, unter der Kuba seit dem Zusammenbruch der Länder des Warschauer Paktes leidet, hat natürlich auch Auswirkungen auf die Filmindustrie: So konnten im vergangenen Jahr nur zwei Spielfilme fertiggestellt werden. Folglich fand das Filmfestival in Havanna in den letzten beiden Jahren in einer Atmosphäre der Widersprüche statt: Inmitten des immer größer werdenden Mangels gelang den OrganisatorInnen zwar das Kunststück, einen reibungslosen Ablauf des Festivals zu organisieren. Gleichzeitig sorgte 1992 die de-facto-Zensur des kubanischen Films “Alicia en el pueblo de las maravillas” (“Alice im Wunderland”), einer systemkritischen Satire von Daniel Díaz Torres, für einen Skandal.

Lateinamerikanische Filmkooperation – erste zaghafte Schritte

Was ist aus der kontinentalen Vision der Väter – und wenigen Mütter – des Neuen Lateinamerikanischen Films geworden, die sich 1967 im chilenischen Badeort Viña del Mar zum ersten lateinamerikaweiten Treffen versammelten?
1986 wurde von Filmschaffenden aus verschiedenen Ländern die “Fundación del Nuevo Cine Latinoamericano” (“Stiftung des neuen lateinamerikanischen Kinos”) ins Leben gerufen, die sich zum Ziel gesetzt hat, “die nationalen und kulturellen Werte Lateinamerikas wiederzubeleben” und die bereits bestehenden Bewegungen auf kontinentaler Ebene zu verknüpfen. Auf Initiative der Stiftung, die ihren Sitz in Havanna hat, wurde beispielsweise 1989 die “Conferencia Iberoamericana de Autoridades Cinematográficas” CACI (“Iberoamerikanische Konferenz der Filmbehörden”) gegründet. Ziel ist, die Zusammenarbeit staatlicher Institutionen und der Filmindustrien auf dem Kontinent zu verbessern und verstärkt Koproduktionen herzustellen. Mittlerweile haben 13 Länder eine “Ibero-amerikanische Film-Vereinbarung” unterzeichnet, die unter anderem die Einrichtung einer jährlichen internationalen Filmkonferenz vorsieht. Auch soll ein Exekutivorgan geschaffen werden, das die gesetzliche und praktische Umsetzung der Vereinbarung in den verschiedenen Ländern überprüft. – Ein gemeinsamer lateinamerikanischer Filmmarkt – die Patentlösung gegen die erdrückende Dominanz der US-amerikanischen Medienindustrie? Gabriel García Márquez, einer der Gründer der “Stiftung des neuen lateinamerikanischen Films”, betont, das Ziel sei nicht, die US-Konzerne aus dem Geschäft zu drängen, sondern lateinamerikanischen Filmen die gleichen Vertriebs- und Präsentationschancen zu verschaffen.
Der lateinamerikanische Film, ein schillernder Vogel, zur Zeit ziemlich gerupft, versucht, ökonomisch fliegen zu lernen. Ein schweres Unterfangen in einer Zeit, in der die wirtschaftliche Krise eine solch beklemmende Schwerkraft entwickelt wie in den neunziger Jahren.

Rein in die öffentliche Debatte

Radio Latacunga bildet einen integralen Bestandteil des Lebens der Bauern aus der Gegend, hält die Gemeinschaft zusammen und stärkt die lokale Kultur und Identität. Jeden Tag schalten die Indios das Radio ein, um Lokalnachrichten zu hören und Ratschläge über Landwirtschaft, Gesundheit und Hygiene zu erhalten. Andere hören begierig Radiobotschaften von Verwandten, die aus dem Dorf abgewandert sind, um in den Städten zu arbeiten.

Alternative Medien – eine Stimme für die Marginalisierten

Radio Latacunga ist ein Beispiel für die Rolle, die populäre und alternative Medien im Demokratisierungsprozeß spielen können. Populäre und alternative Medien bilden für marginalisierte Gesellschaftsschichten -zum Beispiel Frauen, Jugendliche, Bauern und Indios -ein Vehikel, um an der öffentlichen Debatte teil-nehmen zu können. Diese Projekte gehorchen nicht dem Gesetz der Profitmaximierung, sondern wollen den oft vernachlässigten Interessen und Standpunkten eine Stimme geben. Sie wollen die Gesellschaft ändern. Die Medien, von denen hier die Rede ist, sind sowohl populär -sie erwachsen aus den Graswurzeln -als auch alternativ -sie zeigen Perspektiven auf, die sich vom Mainstream unterscheiden. Um es kurz zu machen, werde ich das Wort “medios populares” benutzen. Politischer und ökonomischer Einfluß hängt vom Zugang zu Informationen ab. Parallel zum Kampf um ökonomische Ressourcen in Lateinamerika findet auch im Kommunikationsbereich ein Kampf statt. Während der siebziger und frühen achtziger Jahre kristallisierte sich dieser Konflikt in der Forderung von Dritte-Welt-FührerInnen nach einer “Neuen Weltinformationsordnung”, in der Information nicht von den westlichen Mächten monopolisiert würde. Dies sollte Hand in Hand gehen mit einer “Neuen Weltwirtschaftsordnung”, in der ökonomische Ressourcen gerechter zwischen Norden und Süden aufgeteilt werden sollten. Diese Parole implizierte auch, daß die Medien der Dritten Welt immer im Öffentlichen Interesse agieren würden. Bis in die Gegenwart haben lateinamerikanische Eliten die Medien benutzt, um gesellschaftliche Kontrolle auszuüben und ihre Herrschaft zu legitimieren. Heute sind die Interessen der heimischen und der ausländischen Eliten enger miteinander verknüpft als je zuvor. Nun liegt es bei den medios populares, nach einer Neuverteilung der Informationsressourcen zu rufen.

Neue Probleme in der Demokratie

Während des dunklen Zeitalters der Militärdiktaturen in Lateinamerika gediehen die medios populares. Sie hatten ein festes Publikum und verbreiteten Botschaften des Widerstandes. Heute, im Zeitalter der Demokratie haben Einfluß und Zahl der medios populares abgenommen. Die Gründe dafür sind nicht Zensur und Repression, sondern die knappen wirtschaftlichen Ressourcen. Der Existenzkampf besteht heute nicht mehr darin, zu vermeiden, von Sicherheitskräften niedergeschossen zu werden. Heute steht im Vordergrund, in einem Zeitalter der Ernüchterung über traditionelle Politikformen relevant zu bleiben.
In vielen lateinamerikanischen Ländern hat die Öffnung der Märkte starke Auswirkungen im Kommunikationsbereich. Lateinamerikanische Medien werden zunehmend von großen Privatunternehmen dominiert. Diese Machtkonzentration wird noch verstärkt durch das verwickelte Netz persönlicher und geschäftlicher Verbindungen von RegierungsfunktionärInnen, UntemehmensmanagerInnen und EigentümerInnen von Medien. Die Nichtregierungsorganisationen-mit deren Unterstützung die meisten medios populares entstanden -haben ihre Mit-tel gekürzt oder ihre Aufmerksamkeit in andere Bereiche verlagert. Um alles noch schwieriger zu machen, richten sich die medios populares ausgerechnet an den Teil der Bevölkerung, der die geringsten Mittel hat, um Zeitschriften zu kaufen oder die alternative Kommunikation anderweitig zu unterstützen. Im Dschungel des Kapitalismus und des freien Marktes werden kleine, unabhängige Medien entweder von größeren Unternehmen geschluckt oder scheitern aufgrund mangelnder Ressourcen.

Netzwerke gegen die Zersplitterung

Medios populares müssen sich also auf diesem für alle offenstehenden Konkurrenzmarkt gegen größere und besser ausgestattete Gegner durchsetzen. Viele von ihnen sind jedoch sehr schlecht auf den Kampf vorbereitet. Die internationale Vernetzung und der Informationstransport in die entlegensten Winkel der Welt wird immer effizienter. Medios populares sind dagegen sehr zersplittert -ein wahrer Turm zu Babel verschiedener Bereiche und Interessen. Sie arbeiten vor-wiegend auf der lokalen Ebene in kleinen Gemeinden. Als eine Konsequenz davon sind sie landesweit kaum präsent.
Um die öffentliche Debatte zu beeinflussen und ein größtmögliches Publikum zu erreichen, sind eine Anzahl neuer Netzwerke geschaffen worden. Als Modell dient die Associación Latinoamericana de Educación Radiofonica (ALER), ein Dachverband freier Radios. Über diese Netzwerke wollen Organsationen Ressourcen und Information teilen.
Das lateinamerikanische Treffen der alternativen Medien und medios populares, das im April dieses Jahres in Quito stattfand, war ein erster Schritt in diese Richtung. Sechzig VertreterInnen trafen sich, um über die Herausforderungen zu diskutieren, denen sie sich gegenübersehen. Sie sprachen unter anderem über den Aufbau eines festen Kreises von JoumalistInnen, um z.B. größere Konferenzen und Ereignisse abzudecken, die Schaffung einer Datenbank und die Ein-richtung einer permanenten elektronischen Konferenzschaltung.
Auch anderswo sprießen auf kleinerer Ebene ähnliche Versuche: Zum Beispiel gründeten neun Medienorganisationen, die bei dem Treffen “Caminos de Integración U im Februar in La Paz/ Bolivien zusammenkamen, ein Netzwerk im Be reich Gewerkschaften und comunicación popular. Die TeilnehmerInnen beschlossen, Material auszutauschen, zweimal pro Jahr einen Rundbrief herauszugeben und eine Datenbank einzurichten.

High-Tech bei den Alternativmedien

Diese Informationsnetzwerke und Zusammenschlüsse werden durch die neuen Kommunkationstechnologien ermöglicht, wie etwa Telefax, Computer, Electronic Mail, Satelliten, Videokameras etc. Diese Technologien dezentralisieren den Zugang zu Informationen und beschleunigen die Nachrichtenübermittlung. Die Massenmedien waren selbstverständlich die ersten, die aus diesen technologischen Durchbrüchen Vorteile zogen. Aber genauso, wie Pancho Villa während der mexikanischen Revolution die Eisenbahnen benutzte, haben sich auch die
medios populares die neuen Technologien angeeignet, um sie für ihre eigenen Ziele zu nutzen.
Dies hat jedoch seinen Preis: Um Electronic Mail zu benutzen (siehe Kasten), braucht eine Organisation beispielsweise einen Computer, ein Modem und eine Telefonleitung -alles Dinge, die wohl jenseits der finanziellen Möglichkeiten einer ums Überleben kämpfenden lokalen Radiostation liegen. Medios populares werden sich eventuell bald danach unterteilen, ob sie Zugang zu neuen Technologien haben oder nicht. Bei dem Treffen in Quito diskutierten die TeilnehmerInnen enthusiastisch über Pläne für ein elektronisches Kommunikationsnetzwerk, bis die Diskussion von dem wütenden Kommentar einer Frau unterbrochen wurde, die sagte, daß ihr kleines vierteljährliches Magazin für soziale Bewegungen sich nicht die erforderliche Ausrüstung leisten könne, um elektronisch mitzuhalten.

Alternative Dienstleistungen für etablierte Medien

Medios populares dehnen ihre Reichweite auch aus, indem sie Kontakte zur Massenpresse pflegen: Chiles fernpress zum Beispiel, ein feministisches Kommunikations-und Informationsnetzwerk, das ein weitverbreitetes monatliches Magazin veröffentlicht, gibt Informationen und Themenvorschläge an JoumalistInnen der Massenmedien weiter, die sich für Frauenfragen interessieren. Zusätzlich brachte die Organisation Media Service letztes fast Jahr 700 fernpress-Artikel in den Massenmedien unter. In Venezuela hat die wirtschaftliche Krise viele medios populares ausgelöscht. Gleichzeitig gelang es Leuten aus den sozialen Bewegungen, ihre Standpunkte in “mainstream”-Fernseh-Programmen wie “Buenas Noticias” und “Comunidad con …” zu äußern, sowie in Kolumnen und Anzeigen in regionalen und landesweiten Zeitungen.
Medios populares haben ebenfalls begonnen, die Möglichkeiten und Grenzen verschiedener optischer Aufmachungen und Druckformate zu nutzen.
Print-medien haben ein schweres Handikap, wenn sie sich an Bevölkerungsgruppen wenden, die kaum oder gar nicht lesen können. Um solche Leute anzusprechen, benutzt die kolumbianische Zeitschrift Encuentro: revista de comunicación popular große Buchstaben. Ein Teil des Heftes besteht aus einer Fotogeschichte mit Sprechblasen.
Das Radio gilt als das einflußreichste Medium in Lateinamerika. CEPALC in Bogotá schätzt beispielsweise, daß 90 Prozent der KolumbianerInnen Radio hören, zwischen 60 und 70 Prozent fern-sehen, und nur 30 Prozent Zeitschriften oder Tageszeitungen lesen.
Daher haben eine Anzahl von Printmedien begonnen, ihre Möglichkeiten im Radio-und Fernsehbereich auszuloten: Um nicht-organisierte Frauen zu erreichen, beispielsweise Hausfrauen oder Analphabetinnen, startete fernpress letztes Jahr ein Frauenradio mit Informationsservice. Das Zentrum zur Förderung der Minenarbeiter (CEPROMIN) in Bolivien hat begonnen, mit Videotechnologie zu experimentieren. Zusätzlich zu seiner traditionellen Arbeit im Radio-und Zeitschriftenbereich produziert CEPROMIN mittlerweile Dokumentarvideos für die Gemeinden im Umkreis der Minen.

Raus aus den Ghettos

Um mit kommerziellen Medien konkurrieren zu können, müssen medios populares in der Tat ein größeres Publikum gewinnen. “Haben wir nicht Basisarbeit mit Marginalität verwechselt?” -So die pointierte Frage von José Ignacio López Vigil, Vertreter Lateinamerikas im weltweiten Verband der Lokalradios (World Association of Community Radios). Medios populares haben sich traditionell an organisierte Gruppen der Bevölkerung gerichtet. Statt zu versuchen, sich an das riesige nicht-organisierte Publikum mit seinen verschiedenen Geschmäckern und Interessen zu wenden, wurde lieber auf Sicherheit gesetzt, indem für die bereits Bekehrten gepredigt wurde. Comunicación popular wurde oft als Instrument an- gesehen, um zu erziehen oder bestimmte Werte einzuimpfen. Als Folge davon war der Inhalt oft streng und pedantisch.
Medios populares können sich nicht länger den Luxus einer so engen Sichtweise leisten. KritikerInnen fordern, daß sie ein Forum für die harte Debatte zwischen Leuten verschiedener politischer Überzeugungen bieten sollen. Sie sollten nützliche Informationen auf unterhaltsame Art präsentieren. Uruguays zweiwöchentliche Zeitschrift Mate Amargo veröffentlicht beispielsweise außer prägnanten politischen und wirtschaftlichen Analysen auch einen Sportteil und druckt Fernsehprogramme und Buchrezensionen ab.

Die Professionalisierung der Alternativpresse

Die Alternativpresse schenkt mittlerweile auch der Gestaltung und Aufmachung ihrer Publikationen größere Beachtung. Viele sind auch der Meinung, daß medios populares nicht länger einzig und allein vom guten Willen freiwilliger AmateurInnen abhängen können und fordern, ausgebildetes Personal einzustellen -was auch bedeuten würde, faire Gehälter zu zahlen. Medios populares beginnen, sich die professionellen Werkzeuge und Techniken des etablierten Journalismus anzueignen. Magazine wie Colombia Hoy und La otra Bolsa de Valores aus Mexiko sind voller Großfotos und einfallsreicher Karikaturen. Cien Dias aus Kolumbien geht darin besonders weit: Das Magazin ist voller farbiger Illustrationen, Diagramme und Graphiken.

Chancen und Gefahren der Kommerzialisierung

Auch die geschäftliche Seite der medios populares wird unter die Lupe genommen. Marketing, der Verkauf von Werbeplätzen und die Rationalisierung von Arbeitsprozessen sind nicht länger tabu. Viele in den medios populares bestehen darauf, daß diese finanziellen Überlegungen nicht zur Aufgabe von Werten führen müssen. “Geld ist wie Blut”, sagt López Vigil. “Das freie Lokalradio, ein lebendiger Organismus, braucht es. Aber es lebt nicht dafür. In anderen Worten: Wir sind keine Vampire.”
Aber riskieren die Altemativmedien nicht, für den Sieg des kommerziellen Erfolges ihre Seelen zu verkaufen? “Du mußt mit der Zeit Schritt halten”, sagt Juan Serrano, Leiter von Radio Mensaje im Norden Ecuadors. “Du kannst Kapitalist werden, ohne deine Philosophie zu verändern. Sobald wir ein Publikum und eine Finanzierung haben, wird es leichter sein, unsere Botschaft unter die Leute zu bringen.”
Medios populares begehen einen gefährlichen Drahtseilakt. Die Ziele, die Kommunikation zu demokratisieren und die Kämpfe der sozialen Bewegungen zu unterstützen, werden sicher nicht immer mit den Erfordernissen des Marktes vereinbar sein. Medios populares wollen die NutzerInnen von Informationen in den Kommunikationsprozeß einbeziehen. Ein Ergebnis des Kommerzialisierungsdruckes kann jedoch sein, daß die medios populares immer weniger die Gruppen vertreten, für die sie gemacht sind. Erst die Zeit wird zeigen, ob die Kommerzialisierung ein glitschiger Abhang ist -und wie weit manche hinunterrutschen werden.

Gekürzt übernommen aus: NACLA No 2, Sept/Oct. 1993

Kasten:

Telematischer Autobahnbau

Das Zauberwort heißt E-Mail (“elektronische Post”). Um in das elektronische Universum einzutauchen braucht man einen Computer, ein Modem und ein Telefon. Die Nachricht gelangt dann über Telefonleitung und Satellit in weniger als 24 Stunden an die EmpfängerInnen – zum Niedrigpreis: Eine gesendete Seite kostet in der Regel höchstens zehn bis 20 Pfennig. In welches Land die Nachricht geht, spielt dabei keine Rolle.
Der elektronische Datenaustausch, über den ein Großteil der Informationsübermittlungen stattfindet, ist mittlerweile zum Nervensystem der Industrienationen herangewachsen. Schon in den fünfziger Jahren waren elektronische Netzwerke für diverse Vorhaben des Pentagon von großem Nutzen. Später profitierten auch Diktatoren Lateinamerikas von den neuen Informationstechnologien, mit deren Hilfe sie ihre Repressionsmethoden ausfeilen konnten.
Doch seit Beginn der 80er Jahren nisten sich auf den “telematischen Autobahnen” neben Regierungen und transnationalen Konzernen auch Nichtregierungsorganisationen aus aller Welt ein. Sie nutzen die neuen Technologien zu einem demokratischen und egalitären Informations- und Erfahrungsaustausch auf den verschiedensten Gebieten.
Im Gegensatz zum Fax erlaubt elektronisches Networking über Konferenzen grenzenlose Diskussionen, an denen Organisationen und Fachleute via Computer teilnehmen. Für jeden Geschmack ist etwas dabei: Die Konferenz “Aibi-L@Uottawa” nimmt biblische Texte und Computer unter die Lupe, auf “Muoski-C@PV136587” unterhalten sich ein paar Dutzend MusikerInnen über Beethovens späte Symphonien, während “Bras-J@falio” die neuesten brasilianischen Witze auf Hunderte von PCs in aller Welt schickt und “argentina@asterix.eng.buffalo.edu” die besten Zubereitungsarten von Matetee sendet. Die meisten Konferenzen über Länder Lateinamerikas behandeln allerdings Neuigkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft.
Die Möglichkeit, über PC und Telefon Gruppen aller Kontinente fast zeitgleich miteinander zu verbinden, revolutionierte die Beteiligung von NROs an internationalen Konferenzen. Auf dem Rio-Gipfel und während den UN-Menschenrechtsdebatten dieses Jahres in Genf hingen Menschenrechtsgruppen aus 95 Ländern von Australien bis Zimbabwe am direkten Draht zur Konferenz. Fast zeitgleich waren sie auf dem neusten Stand der Diskussion, konnten Ideen austauschen, Initiativen koordinieren und schnell reagieren.
Für viele Gewerkschaften, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen in Lateinamerika ist das elektronische Networking heute eine Voraussetzung dafür, regionale und internationale Aktionen zu koordinieren und an wichtige Informationen heranzukommen. Fast alle Länder haben hierfür eigene Rechenzentren, sogenannte nodos (“Knoten”).
Manche lateinamerikanischen E-MailerInnen haben mit dem elektronischen Networking den Stein der Weisen im Informationszeitalter gefunden: Nord-Süd-Wissensklüfte in den Wissenschaften, so träumen sie, werden über internationale E-Mail-Fachkonferenzen und elektronisch zugängliche Datenbanken abgebaut. JournalistInnen enthüllen nach elektronischer Recherche transnationale Skandale und speisen die Meldung in entsprechende Konferenzen ein. Sofort haben betroffene Basisgruppen und NROs in Nord und Süd die Neuigkeit in ihren PCs, sprechen sich online ab, reichen Klage bei zuständigen Gerichten ein und stürmen umgehend nationale und internationale Behörden mit Stellungnahmen und Forderungen – alles auf elektronischem Wege.
Während einige die langersehnte Demokratisierung der Kommunikation mit dem Ausbau telematischer Autobahnen in Lateinamerika erahnen, sehen andere Gräben zwischen informationsarmen und -reichen NROs aufbrechen. Denn längst nicht jede Umweltgruppe hat einen PC, geschweige denn das Geld für ein Modem.

Hans Koberstein

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