Die Gewerkschaften und der MERCOSUR

Der MERCOSUR birgt viele Ge­fahren für die Bevölkerungen der sich integrierenden Län­der. Der Druck der Welt­markt­kon­kurrenz veranlaßt die Re­gie­run­gen der MERCOSUR-Staa­ten, die nationale Wirt­schafts­po-litik maximal auf die Be­dürfnisse der inländischen Un­ternehmen aus­zurichten. Die In­teressen der ar-beitenden Be­völ­kerung fallen so wieder ein­mal unter den Tisch. Die Aus­gangs­situation war schon bei Vertragsabschluß nicht rosig: So sind alle Mit­gliedsstaaten von ho­her Arbeits­losigkeit betroffen. Schwarzar­beit und das Vorent­halten von So­zi­alleistungen ste­hen ebenso auf der Tagesord­nung wie un­sichere Arbeitsplätze und Ein­stellungen außerhalb der ta­rif­li­chen Bestimmungen und Ar­beits­gesetzgebungen.
In Argentinien beträgt die Ar­beitslosigkeit heute fast 20 Pro­zent. Die Regierung Menem hat mit Über­nahme liberaler Pro­gram­ma­tik die traditionelle Funktion der Peronisten, die so­zialen In­teressen der Bevöl­kerung zu ver­treten, aufgegeben. Große Be­völ­ker­ungsgruppen ver­fügten somit über keinerlei Mittel mehr, die Ver­schlechterung ihrer Lebens­be­dingungen aufzuhalten. Die Regierung verschärft die­se Ent­wicklung zur Zeit noch im Zu­sammenspiel mit den ar­gen­ti­ni­schen Großunternehme­rIn­nen. So unterstützt die Regie­rung das von UnternehmerInnen­seite ge­for­derte Arbeitsflexibili­sie­rungs­pa­ket. Inhalt ist die Auf­hebung von flächendeckenden Tarifver­hand­lun­gen und -verträgen. Diese sollen zu­künf­tig in­ner­halb einzelner Un­ternehmen ge­führt werden. Zu­dem werden die Entschädigungs­re­gelungen bei Ent­lassungen mo­difiziert. Die Verwirklichung des MER­CO­SUR ist Teil der neo­liberalen Wen­de der Regie­rung Me­nems, die insbesondere auch mit um­fas­senden Privatisie­run­gen ar­gen­tinischer Staatsun­ter­nehmen einhergeht. So ent­stan­den in den letzten Jahren neue privat­wirt­schaftliche Mo­nopol- und Oligo­pol­gruppen, die häufig mit aus­län­dischen Unter­nehmen ver­floch­ten sind. Diese Gruppen pro­fi­tieren in erster Li­nie von der Au­ßenöffnungspoli­tik, da sie am ehesten in der Lage sind, sich den neuen Bedingungen anzu­pas­sen.
Für den MERCOSUR insge­samt gilt, daß durch die unter­schiedlichen Lohnniveaus der Mit­gliedsländer (zum Beispiel lag der Mindest­lohn in Argen­tinien 1995 bei 250 US-Dollar, in Brasilien jedoch nur bei 122 US-Dollar) Stand­ort­verla­ge­rungen und Sozial­dump­ing zu erwarten sind. Dazu kommt, daß sogenannte Wander­ar­beitneh­merInnen nicht nur aus den Mit­gliedsstaaten kommen, son­dern auch aus den Anrainer­staaten wie zum Beispiel Peru. Hier sind keine bilateralen Sozi­alabkommen in Sicht. Auch die Ar­beit im Informellen Sektor wird eine immer größere Rolle spie­len. In diesen werden viele verstärkt gedrängt, da der offi­zielle Arbeitsmarkt keine Per­spektive und da­mit keine Existenzgrund­la­ge mehr bietet. Diese Ent­wick­lung wird durch die wachsende Konkurrenz zwi­schen den Un­ter­neh­men noch verschärft. Ent­las­sungswellen und Betriebs­schlie­ßungen bezie­hungsweise -ver­le­gun­gen sind als Folge dieser Markt­konstellation absehbar.

Gegenmacht durch Gewerkschaften?

Nach einer derartigen Analyse stellt sich schnell die Frage nach ge­sellschaftlicher Gegenmacht. Die Gewerkschaften in Argenti­nien sind eine der gesellschaftli­chen Gruppen, die überhaupt Stel­lung zur Wirtschaftspolitik ihrer Regierung und zu Zielen und Strategien des MER­CO­SUR-Projektes genommen ha­ben. Indes sind die wirtschaft­li­chen und politischen Bedin­gun­gen, die den argentinischen Syn­dikalismus entstehen ließen, im Lau­fe der Zeit fast vollstän­dig ver­schwunden.
Das grundlegende Modell der Ge­werk­schaftsbewegung ent­stand mit der Regierung Peróns in den vierziger Jahren und war darauf angelegt, die sozialen Kämpfe innerhalb des Landes zu regulieren. Die Entstehung von großen Industrien und Fabriken förderte gewerkschaftliches Den­ken und Handeln nach euro­pä­ischem Vorbild. Es entstanden branchenbezogene Gewerk­schaf­ten, die sich in großen Dach­verbänden zusammen­schlossen.
Die Einflußnahme der Ge­werk­schaften schlug sich bei den Tarifverträgen vor allem in höhe­ren Löh­nen und sozialen Absi­cherungen nieder. Und das in ei­nem wirt­schaftlichen Sze­nario, in dem die Löhne mit ihrer Wir­kung auf die effektive Nachfrage als dynamischer Ent­wick­lungsfak­tor erachtet wur­den, da sie, inmitten einer binnenmarkt­orien­tierten Öko­nomie, in die “eigenen” Unternehmen zurück­flos­sen. Zu­sätzlich zeichnete sich Ar­gen­tinien bis in die sieb­ziger Jahre infolge wachsender Indu­stria­lisierung durch eine sehr ge­ringe Arbeitslosigkeit aus.
Die argentinische Gewerk­schafts­bewegung hatte aufgrund ihrer Beziehungen zum Staat und zu den Peronisten immer eine star­ke und mächtige institutio­nelle Funktion. Trotz der Staats­streiche in den Jahren 1955, 1969, 1976 sowie der wieder­holten Zeiten der Repression hat die­se vom Peronismus geschaf­fene Struktur fast unverändert bis zum heutigen Tage überlebt.
In den letzten zwei Jahrzehn­ten hat sich die politische und wirt­schaftliche Landschaft im Co­no Sur verändert. Nicht zu­letzt die Schaffung des MER­COSUR macht deutlich, daß sich die Südländer auf den Weltmarkt orientieren und eine Öff­nung ih­rer Ökono­mien für ausländ­ische Produkte und ausländ­isches Ka­pital an­streben. Die Löhne wer­den nun nur noch als Kosten­faktor gese­hen, die Bedeutung als Nachfra­ge­faktor wird ver­nachlässigt. Die so­zialen Kosten der Wirtschafts­politik der Regie­rung Menem sind enorm: Die Reallöhne in In­dustrie und Bau­gewerbe sind im Vergleich zu 1988 um 26,3 Pro­zent gefallen. Der Wohlfahrts­staat wurde de­mon­tiert: Schul­bil­dung und die Gesundheitsver­sor­gung sind für gro­ße Bevölke­rungsschichten un­erschwinglich ge­worden. Kein Wun­der, wenn die ärmsten 20 Prozent gerade mal 5 Prozent des nationalen Einkommens bezie­hen.
Infolge dem Schrum­p­fen der Produktions­sek­to­ren in den letz­ten Jahr­zehnten, verkleinerte sich die Klasse der In­dustriearbeiterIn­nen, die in ab­soluten Zahlen und im Verhältnis zur Gesamtzahl der Bevölkerung Ar­gentiniens immer weniger Be­deutung hat.
In Argentinien war in den letz­ten 40 Jahren der Dachver­band CGT ohne Konkurrenz und pfleg­te immer sehr enge Bezie­hungen mit den Regierungen. Jahr­zehntelang galt der argenti­nische Gewerkschaftsbund CGT als Inbegriff des staatskonfor­men, kooperativistischen, par­tei­ab­hängigen Gewerk­schafts­mo­dells in Lateinamerika.Heute existieren schon zwei große offi­zielle Gewerkschafts­verbände neben der CGT. Zum einen die 1992 gegründete CTA (Congreso de Trabajadores Ar­gentinos), die als kritikfreudiger gegenüber dem Menemismus gilt. Zumin­dest auf formeller Ebene verläßt sie das klassische Kon­zept der Interessengruppen­ver­tre­tung, in­dem sie sogenannte In­dividualmitglieder, zum Bei­spiel Arbeitslose, akzeptiert.
Zum anderen gründete sich 1993 die MTA (Movimiento de los Trabajadores Argentino), die sich als Opposition zum CGT ver­steht.
Des weiteren existieren heute mehr als 30 Gewerkschaften auf nati­onaler Ebene und dutzend­weise Un­ter­gliederungen im Landesin­nern.
Bis in die 80er Jahre organi­sierten sich die Gewerkschaften im Cono Sur nur auf nationaler Ebene. 1985 wurde nun die CCSCS gegründet (Coordi­na­do­ra de los Centrales Sindicatos del Cono Sur), die die zentralen Ge­werk­schaftsver­bände Argen­tini­ens, Boliviens, Brasiliens, Chi­les, Paraguays und Uruguays um­faßt.
Im Hinblick auf die zu er­wartenden sozialen Folgen ver­ur­sachte der MERCOSUR große Ver­unsicherung: Welche Ar­beits­markteffekte, welche Loh­n­entwicklung würde es geben und wie würde sich die soziale Lage breiter Bevölkerungs­schichten ver­ändern? In Argenti­nien sind vor allem wesentliche Teile der Massenkonsum- und der Ka­pi­tal­gü­terindustrie durch den MER­COSUR betroffen. Die CCSCS einigte sich An­fang der 90er Jahre auf folgende Forderungen: 1. Einrichtung eines Sozial- und Strukturfonds zum Aus­gleich struktureller Ungleichge­wich­te,
2. Aufwertung der Funktion der ArbeitsministerInnen als Haupt­vertreterInnen in den MER­COSUR-Institutionen
3. Angleichung der rechtli­chen Bestimmungen aller Länder an das internationale Ar­beits­recht, sprich die Normen der In­ter­na­tionalen Arbeits­orga­ni­sa-tion ILO. Angestrebt wird eine So­zi­alcharta, die Grundrechte wie Tarifautonomie, gewerk-schaft­li­che Organisationsfreiheit und so weiter festlegen soll.
4. Erhöhung des Wissens- und In­formationsstandes über den MER­COSUR.
Entweder gehen diese Aussa­gen und Forderungen an den ge­sell­schaftlichen Problemen vor­bei oder sie sind so allgemein ge­halten, daß die Gewerkschaf­ten keine Alterantive mehr gegen die Politik ihrer Regierungen (nicht nur gegen den MER­CO­SUR) zu bieten scheinen. Das ist nur zum Teil darauf zurück­zu­führen, daß die Schnelligkeit des Integrati­onsprozesses die ver­schie­denen Gewerkschafts­ver­bän­de über­rascht und deshalb über­fordert hat.
Der Zusammenschluß CCSCS be­stand bei Verhandlungsbeginn zum MERCOSUR erst seit kur­zem und verfügte über keine kon­kreten gemeinsamen Hand­lungs­strategien. Bis heute be­wah­ren die Gewerkschaftsver­bän­de ihre nationale Ausrich­tung.
Entscheidend für die Schwä­che der Gewerkschaften ist au­ßerdem, daß sie unter fehlender An­erkennung in der Bevölke­rung leiden. Im Falle Argentini­ens wird der CGT-Spitze, des einzigen argentinischen Dach­ver­bandes, der in der CCSCS or­ganisiert ist, Korruption, unde­mokratische Strukturen und das Verfolgen eigener Machtinteres­sen vorgeworfen.

Unkoordinierte Proteste

Im Zusammenspiel mit dem Ver­sagen traditioneller Gewerk­schafts- strategien scheinen ange­sichts des freien Spiels der Markt­kräfte, der Privatisierung der öffentlichen Unternehmen und der wirtschaftlichen Außen­öffnung kaum erfolgreiche Kon­zepte für Gegenmacht in Sicht. Eine Auseinandersetzung mit der steigenden Armut, der Beschäf­tigung im Informellen Sektor so­wie deren fließenden Grenzen zum formellen Arbeitsmarkt fehlt. Dies läßt die Gewerk­schaf­ten zunehmend zu ständi­schen Ver­tretungen immer klei­ner wer­dender Interessensgruppen wer­den.
Die Angst der Bevölkerung in Ar­gentinien, insbesondere vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, ist etwas sehr Greifbares gewor­den.
Die Gewerkschaften setzen der offiziellen Politik und der Durchsetzung von Unterneh­mens­interessen nur sehr schwa­chen Widerstand entgegen. Nichtsdestotrotz bleiben die Ge­werk­schaftsmitglieder eine mo­bili­sierbare Basis, wie sich unter an­derem in dem Generalstreik am 8. August 1996 gegen den So­zi­al­abbau gezeigt hat. Aufse­hen hat auch die einige Minuten dau­ernde “Dunkelheit” in Bue­nos Aires erregt, ausgelöst durch das kollektive Licht-Ausschalten in Privathaushalten. Diese Pro­testmomente sind in Argentinien in den letzten Jahren eher unko­ordiniert und entfachen sich meist regional und in punktuel­len Aktionen. Schon in den Zei­ten der Hyperinflation 1990 kam es zu beträchtlichen sozialen Un­ruhen, die jedoch nicht in eine gezielte oppositionelle Strategie, sondern in Überfällen und Plün­derungen von Supermärkten mün­deten. Diese Form von Pro­test wiederholte sich im Juli 1996, als über 400 RentnerInnen und Arbeitslose verschiedene Supermärkte in der argentini­schen Hauptstadt plünderten. Ei­ne Protestaktion, die durch die An­kündigung erneuter Kündi­gungs­wellen und Rentenkürzun­gen durch Präsident Menem aus­gelöst wurde.
In der Bevölkerung besteht al­so Widerstand gegen die sozialen Einschnitte, die durch den MERCOSUR auf­grund seiner Durchsetzung “von o­ben” nur ver­schärft werden kön­nen. Ein neu­er Ansatzpunkt, diese Kräfte zu organisieren, kön­nte bei den (gewerkschaftlich ori­entierten) Gruppen liegen, die sich in den letzten Jahren in Ar­gen­tinien ge­bildet haben und die ein ständi­sches Interessenver­tre­tungs­konzept abzulehnen be­ginnen.

KASTEN

MERCOSUR

Anders als frühere Integrati­onsprojekte in La­tein­amerika, die hauptsächlich auf den Ab­schluß ei­ner Freihandelszone ab­zielten, ist der MER­CO­SUR aus­drücklich nicht als Instrument eines de­fen­siven Regionalismus kon­zipiert. Am 26. März 1991 unterzeichneten die Präsidenten aus Ar­gen­ti­nien, Brasilien, Para­guay und Uruguay in As­un­c­ión, Paraguay, den Vertrag, der den MER­CO­SUR (Mercado Común del Cono Sur) ins Leben rief. Hauptziel des MERCOSUR soll­te die suk­zes­sive ökonomi­sche Integration der beteiligten Staa­ten über die Etap­pen Frei­han­dels­zone, ge­mein­same Zollunion und ge­mein­sa­mer Markt sein. Mit dem Ver­trag von Asunción ent­stand ab dem 1. Januar 1996 der Bin­nen­markt für den freien Waren-, Diens­tleistungs- und Ka­pi­tal­ver­kehr. Jedoch offe­riert der Ver­trag jedem Land ei­ne Schutzklausel, um zeit­wei­lig Im­portquoten für bestimmte Güter fest­zu­setzen, falls eine Branche durch den drastischen An­stieg der Einfuhren aus ande­ren Mit­gliedsländern schwere Schä­den bei Produktion und Be­schäftigung erleiden würde. Da­mit soll den unterschiedlichen Gegebenheiten der MER­CO­SUR-Mitgliedsländer Rech­nung ge­tragen wer­den: An dem gemeinsamen Bruttoinlandspro­dukt im Entstehungsjahr hat Bra­silien einen An­teil von fast 80 Pro­zent, Ar­gentinien 18 Prozent, der Rest entfällt auf die beiden kleinen Länder. Sehr unter­schiedlich strukturierte Volks­wirt­schaften treffen aufeinan­der: Während Kapital­gü­ter und lang­lebige Kon­sumgüter vor al­lem aus Bra­silien und Agrar-, Verbrauchsgüter sowie Le­bens­mittel aus Argen­tinien kommen, sind Para­gu­ay und Uruguay über­wiegend Rohstoffexpor­teu­re. Die Parlamente al­ler vier Mitgliedsstaaten ha­ben den TRATADO DE ASUNCION in­ner­halb von acht Monaten nach seiner Unter­zeich­nung ratifiziert, so daß er am 28.11.1991 in Kraft tre­ten konnte. Seit diesem Zeit­punkt haben die Ins­titutionen des MER­COSUR ihre Arbeit aufge­nom­men. Das oberste politische Gremium ist der “Rat des Ge­meinsamen Marktes” CMC. Exe­ku­tiv­organ ist die “Gruppe des Gemeinsamen Mark­tes” GMC. Die Bearbeitung “fach­lich-tech­ni­scher” Aspekte des In­tegrationsprozesses findet auf Expertenebene in elf ver­schie­den­en Arbeits­gruppen statt. Diese AGs erar­beiten Vor­schläge, welche für die GMC jedoch nur Empfeh­lungs­charakter haben. Nur in der 11. Ar­beits­gruppe (“Arbeitsbezieh­ung­en, Beschäf­ti­gung, Soziale Si­cherheit”), die den ab­surden An­schein erweckt, daß diese An­ge­legenheiten un­ab-hän­gig von den 10 Fachge­bieten (wie zum Bei-spiel Land­wirtschaft und Steuerpolitik) be­trachtet werden könnten, haben die Gewerk­schafts­ver­bän­de ein formelles Rede- und Vorschlags­recht. Als fünf­tes Land des ame­rikanischen Südhälfte ist 1996 Chile dem MER­COSUR beige­treten. Da­durch wird die direkte Öffnung zur Pazifikküste und damit zum Südost-Asien-Handel geschaf­fen. Außer­dem wird zur Zeit der Beitritt Boliviens vorbe­reitet.”Neu” am MERCOSUR ist, daß im Ge­gensatz zu früheren wirt­schaftlichen Inte­gra­tions­pro­jek­ten in Latein­amerika die Ziel­setzung sich nicht nur auf Zoll­präferenzen beschränkt, son­dern auch die politi­schen Gren­zen am Schluß überflüssig ge­worden sein sollen – ganz nach Vorbild der EU. Je­doch hat – weder im voraus noch innerhalb des ge­schaf­fenen Institutionen­gebäudes – eine Kon-sul­tierung gesell­schaftlicher Kräfte jenseits von Staat und Unternehmensfüh­run­gen stattgefunden. Die Schaf­fung ei­nes gemeinsamen Gremi­ums, wie zum Beispiel ein ge­meinsames Parlament, das eine gewisse Kontrollfunktion ein­neh­men könn­te, ist auch länger­fristig für den MER­COSUR nicht geplant. Der MERCOSUR ist die süd­amerikanische Ant­wort auf die weltweite kapitali­stische Dynamik, in der sich zur Zeit re­gionale wirtschaftliche Blöcke bilden, die so die natio­nalen Unternehmen für den in­ternationalen Wettbewerb stär­ken sollen, nicht zuletzt durch die Entwicklung weltmarktfähi­ger kosten­sen­ken­der Produkti­onskonzepte. Besonders großen An­reiz bietet die neue Freihan­delszone den mul­ti­na­ti­onalen Kon­zernen. Diese können nun ihre Pro­duktionen zentralisieren und dabei den kos­tengünstigten Standort wählen. Innerhalb der welt­weiten kapitalistischen Ar­beitsteilung kommt dem MER­COSUR eine ganz bestimmte Rolle zu. So sind die Länder des Cono Sur insbesondere auf stei­gende Exporte in die Indu­strienationen an­ge­wiesen. Sie er­füllen die Funktion eines “Hin­ter­hofes”, in denen die Multis profitabler pro­duzieren kön­nen. Der MERCOSUR, des­sen Mit­gliedsstaaten in ihren Handelsbeziehungen tra­di­ti­onell stark mit den USA verflochten sind, be­deutet einen weiteren Schritt in diese Richtung. Da­raus erklärt sich auch die sehr wach­same Hal­tung der Europäischen Union, die schon erste Ver­handlungen mit MERCOSUR-Ver­tre­terInnen zwecks der Schaffung einer Freihandelszone MER­COSUR-EUROPÄISCHE UN­ION geführt hat. Die EU entdeckt Lateinamerika als noch nicht voll genutzten Ab­satz­markt. Den USA soll das Feld nicht allein überlassen wer­den.

Castro contra Aznar

Die Regierung Aznar vom konservati­ven Partido Popular (PP) tut sich schwer mit der Ausübung der traditionellen Vorreiter­rolle Spa-niens in der Beziehung Kuba – eu­ropäische Außenpolitik. An den seit 1993 ent­standenen joint-venture-Un­ternehmen auf kuba-nischem Bo­den, vorwie-gend in der Tou­ristenbranche, ist mehr-heitlich spanisches Kapital be­teiligt. Die BewohnerInnen der ibe­rischen Halb­insel machen auch einen Großteil der Urlau-berInnen auf dem Antillen-Ei-land aus, das ehedem von ihnen “entdeckt” wurde. Die Regierung Aznar fühlt sich jedoch sichtlich der etwas weiter nördlich gelten­denden Argumentationsweise verpflichtet und unter­breitete in diesem Sinne dem politischen Au­ßenminister­kommitee der EU eine Textvorlage, in der zu einer gemeinsam zu verabschie­denden härteren Vorgehensweise gegen­über Kuba aufgefordert wurde. Knackpunkte die­ses Textes wa­ren die bereits bei vorange­gangenen Gelegenheiten aufs Tapet gebrach­ten Forderungen nach Demokratisierung, Re­spektierung der Menschenrechte und wirt­schaftlicher Öffnung, und – als Novum – die Aufforde­rung, die Türen der jeweiligen Bot­schaften der 15 Mitglieds­staaten sollten “jederzeit der (kubanischen) Opposition” of­fenstehen.
Letzteres brachte auf kubani­scher Seite das Faß zum Über­laufen und führte dazu, daß Ca­stro am 26. Novem­ber 1996 dem neu designierten Botschaf­ter der spanischen Re­gierung, José Co­derch, das Diplomatenplazet ent­zog. Eine Vorgehensweise, die einerseits als Über­reaktion, als ein Zei­chen wachsender Nervo­sität Castros gedeutet wird, ande­rerseits aber auch als improvisa­to­rische Geste eines alten Gueri­llero-Hasen: Angriff und Ver­tei­digung zu­gleich.

Remis oder schachmatt?

Die Interpretation der EU-Vorlage von ku­banischer Seite fiel denkbar leicht, paßt doch alles ins vorgestrickte Schema: Es han­dele sich um eine “Blaupause” der Empfeh­lungen des Sonderbeauftragten der US-Re­gierung, Stuart Eizenstadt, was sonst ? In einer ersten Erklä­rung, die dem noch amtie­renden spanischen Botschafter Edualdo Mira­peix, den Coderch Mitte Dezember hätte ablö­sen sollen, überbracht wurde, heißt es unmißverständ­lich, die spanische Regie­rung habe sich “in die Speerspitze der nordamerikani­schen Interessen im Rahmen der EU” verwandelt. Um den aktu­ellen bila­teralen Zu­stand der beiden Länder ins rechte Licht zu rücken, bezeich­nete Castro Aznar als “Pferdchen”, das mit der Karibik­insel wohl eine Schach­partie führen wolle.
Die Begründung Havannas für den Ent­zug des Diplomatenpas­ses für Coderch grün­det auf drei Argumenten: Die Einmischung in in­nere Angelegenheiten Ku­bas, die “grobe Will­kür”, eine derartige Eskalation der Span­nungen herbeizuführen, und die Verletzung der Normen der Wiener Konvention über diplo­matische Be­ziehungen – so ein Kommuniqué des ku­banischen Außenministeriums.
Provokationen spanischer Diplomatie
Coderch selbst, der zum be­treffenden Zeitpunkt ja noch gar nicht Amtsinhaber war, ist hier eher als “Zugpferdchen” in ei­nem ohnehin schwelenden Kon­flikt zu sehen. Dennoch wurde seine Erklärung in einem ABC-Inter­view, “jede Botschaft habe zwei Türen”, von Kuba als Pro­vokation wie auch Drohung auf­gefaßt, erin­nerte sie doch an die sogenannte “Botschaftskrise” vom Juli 1990, als sich zahlrei­che kubanische Dissidenten in die spanische Botschaft in Ha­vanna flüchteten. In ähnlicher Weise ist die Gründung der “His­pano-Kubanischen Stiftung” in Madrid durch den Hardliner Mas Canosa und PP-Politiker noch nicht verwunden, die Kuba als Akt der offenen Feind­se­lig­keit und als Komplizenschaft der spa­nischen Regierung mit der “an­ti­revolutionären Mafia” be­zeich­nete.
Coderch provozierte zudem mit einer Anspielung auf das histori­sche Datum 1898. Damals “verlor” Spanien Kuba im Krieg an die USA, was mittlerweile als koloniale “Un­abhängigkeit” ge­feiert wird. Coderch äußerte den frommen Wunsch, das 100-jäh­rige Ju­biläum in zwei Jah­ren möge in einem de­mokratischen Kuba gefeiert wer­den. Natürlich Wasser für die rhetorische Mühle Castros: Da­mals wie heute sei man an den Yankee-Im­perialismus ausgelie­fert wor­den.
Das kubanische Außenminis­terium von Ro­berto Robaina legte indes Wert darauf, das Pro­blem als ein bilaterales darzu­stellen, und lud alle europäischen Bot­schafterInnen ausschließlich des spanischen zu einer Erklä­rung. In dieser betonte Vizemini­sterin Isabel Allende, die derzei­tige Eskalation sei für beide betei­ligten Länder kontrapro­duktiv und nutze allein der “antikubanischen Mafia in Miami”. Es wurde Dialogbereit­schaft signali­siert und die indi­rekte Zusage gemacht, man werde einem neu vorgeschla­genen Bot­schafter nicht die An­erkennung verwei­gern – dies habe man schließlich bisher nie getan. An Aznar erging dennoch die Auffor­derung, unter dem Vorzeichen der Nicht-Einmi­schung noch ein­mal alles zu überdenken. Insgesamt eine ku­banische Haltung, die Rücken­deckung ausgerechnet von den spanischen Investoren auf Kuba erfährt. Besonders die Hotel­ branche zeigt sich indig­niert: ei­ner von 450 spani­schen Unter­nehmern, der an einer interna­tionalen Handelsmesse in Ha­vanna teilnahm, sprach von einer “unglaublichen Fehlein­schätzung eines Marktes”, den die spani­schen Unternehmer schließlich geöffnet hät­ten, hier­bei Hürden für andere in­vestitions­willige Staaten aus dem Weg räumend. In der Tat sitzen potentielle In­vestoren, al­len vo­ran Mexiko, in den Startlöchern, sollten sich die ku­banisch-spanischen Beziehun­gen nach­hal­tig verschlechtern.

Stürmische Liebe

Die jetzige ist nicht die erste Bezie­hungskrise in besagtem bi­lateralen Verhältnis. Es gab be­reits seit Castros ersten Regie­rungsjahren teilweise heftige Auseinander­setzungen mit Spa­niens damaligem Franco-Re­gi­me, zu dem Castro jedoch nie Ge­genposi­tion bezog – bis heute nicht. Im Gegenteil: auf die spa­nische EU-Vorlage vom 16. No­vember folgte drei Tage später der Aus­spruch Castros, Franco habe mehr Würde be­sessen als Aznar, da er dem amerikani­schen Druck widerstanden habe.
Das Franco-Regime seines Zeichens stand Anfang der 60er Jahre der neuen kubani­schen Führung mit einer Mischung aus Vor­sicht und Hoffnung ge­genüber. Bald entstand eine ern­stere Krise, ausgelöst durch einen Fernsehauftritt in Kuba, bei dem sich der spanische Bot­schafter Lojendio und Castro ge­genseitig mit Verbalinjurien be­schuldigten, eine Diktatur auf­rechtzuerhal­ten. Das diplo­ma­tische Niveau wurde darauf­hin auf Handelsbeziehun­gen he­run­ter­ge­schraubt. Zu einem Eklat kam es dann, als Castro die auf der Insel tä­tigen etwa 700 spani­schen Pries­ter vor die Al­ternative stellte, entweder Zuk­kerrohr zu schneiden, oder nach Hause zu fahren – die Wahl fiel dann doch eher zu­gunsten der Heimat aus. Dieser Faux Pas Ca­stros ist wohl mittlerweile durch seine Papst­au­dienz im November ausge­merzt.
Trotz der Eklats stellte sich das Franco-Regime jedoch nie auf die Seite der USA und ihrer Strategie des Wirtschaftsembar­gos. 1973 wur­den die vollen di­plomatischen Beziehungen wie­derhergestellt, und als Franco 1975 starb, ord­nete Fidel Castro eine dreitägige Volkstrauer an.
Francos demokratisch ge­wählter konser­vativer Nachfol­ger Suarez war dann auch der er­ste westli­che Staatschef, der 1978 Kuba be­suchte. Mit dem sozialisti­schen Präsidenten Gon­zález ge­stalteten sich die Beziehungen später ohnehin un­komplizierter – seit 1993 setzten schließlich die spanischen Di­rekt­investi­tio­nen in Form von joint-ven­tures in großem Um­fang ein.

Spielsüchtige Duz-Freunde

Mit Aznar jedoch herrscht ein anderes Klima – aller Duzerei und der Geste des Kra­wattentauschs auf dem ibero­amerikanischen Gipfel im No­vember in Chile zum Trotz. Hier redete Aznar Tacheles: “Ich habe nichts ge­gen Kuba, aber ich habe alles gegen Dein Regime”, sagte er zu Ca­stro, und tags drauf: “Wenn Castro eine Schachfigur bewegt, wird auch Spanien eine bewegen”.
Während Castro am 2. De­zember mit Pomp und der nach zehn Jahren ersten Militärparade den 40. Jahrestag der Ab­fahrt des Revolu­tionsschiffs Granma be­ging, verabschiedete die EU zeitgleich die strittige Resolu­tion. Dies jedoch in einer stark abge­mil­derten Form, die nicht wesentlich von der bisherigen Kuba-Position der Gemeinschaft ab­weicht.
Die EU-Linie in der Kuba-Politik un­terschied sich seit jeher von der US-ameri­kanischen da­hingehend, daß Funktionalismus und Empfehlungen vorherrschen – “sanfter” Druck ohne Anschuldi­gungen. So wird auch in der jetzt ver­abschiedeten Re­solution die Forde­rung nach Demokratisie­rung, Öffnung und der Einhal­tung der Menschen­rechte ledig­lich positiv akzentu­iert, und ohne Terminangabe – “in dem Maße, wie Refor­men auf Kuba voran­schreiten” – eine über huma­nitäre Hilfe hinausge­hende wirt­schaftliche Hilfe in Aussicht ge­stellt. Von den ur­sprünglichen spanischen Forde­rungen, die – so die Kritik vor al­lem von schwedischer, belgi­scher und französischer Seite – fast sklavisch an der US-amerikani­schen Rhetorik orien­tiert waren, ist in dem Dokument nicht mehr die Rede. Anzu­mer­ken ist auch, daß die “gemein­sa­me Position” nicht vom Mini­ster­rat, sondern vom Ausschuß für Wirtschaft und Finanzen ver­ab­schiedet wurde, im Vor­der­grund standen also eher wirt­schaft­liche als politische Inter­essen.
Spa­nien machte schließlich auch nicht von seinem Recht Ge­brauch, den Entwurf noch einmal zu disku­tieren. Hierin ist wohl eine Re­aktion auf die scharfe Kritik aus den eige­nen Reihen zu sehen. Denn nicht nur die spani­schen Unterneh­mer, die auf Kuba inve­stieren, zeigten ihr Be­fremden, auch PP-Mitbegründer Manuel Fraga, der Gouverneur von Gali­zien, machte sich für eine ver­söhnliche und de-es­kalie­rende Kuba-Politik stark. Er beklagte, Aznar befände sich auf einem “emotionalen Irrweg”.

Demokratisierung – auf wessen Rücken?

Gerade mit der galizischen Provinz ver­binden viele Kubaner “familiäre Bande”, nicht nur die Castros. Dies ist jedoch nicht der alleinige Grund für Fragas Di­stanz zu Aznars Politik. Fraga, der von 1962 bis 1969 Minister unter Franco war, gehört zu der Generation, die den spanischen Übergang zur Demokratie aktiv und nicht wie die Altersgenossen Az­nars als passive Zuschauer mitbekommen ha­ben, von daher ist die Sichtweise eine an­dere und differenziertere.
Die spani­sche Zeitung El País kommen­tierte die Überreaktion Aznars ge­genüber dem Castro-Regime als eine Art Kompen­sation für die eigenen “weißen Sei­ten” in der politischen Bio­gra­phie, was De­mokratisie­rungs­pro­zesse angeht. Eine He­ran­ge­hensweise, für die letztendlich die um Demokratie bemühten Ku­ba­nerInnen die Ze­che zu zah­len hätten. Gerade das Bei­spiel Spa­niens habe gezeigt, wie die Demon­tage eines dikta­torischen Systems vonstatten ge­hen könne: Ohne eine Invasion von außen, einen bewaffneten Aufstand oder einen Bür­ger­krieg, vielmehr durch ausge­handelte Überein­künf­te zwischen reformistischen Kräf­ten des alten autoritären Re­gimes und der de­mo­kratischen Op­po­sition. Unter Aus­schluß der mi­litanten Flügel beider Gru­p­pie­rungen sei damals die Basis für einen politi­schen Konsens ge­legt worden, der trag­fähig war, die Konflikte ge­mäß den Regeln ei­nes Rechts­staates aufzulösen.

Wie gehabt: David gegen Goliath

Die Reaktion Castros auf Az­nars Affront war in ge­wisser Weise vor­aus­seh­bar. Bereits die Tat­sa­che, daß es ganze zwei Mo­nate dau­erte, bis Coderch das be­an­trag­te Diplomaten-Pla­zet über­haupt bekam, zeug­te von ei­ner ge­stör­ten politischen Be­zie­hung. Ein ge­fähr­li­cher Schachzug war dann der Entzug der di­plo­mati­schen Aner­ken­nung al­le­mal, da er Spa­nien durchaus in Kon­fron­ta­tion mit der EU hätte brin­gen kön­nen, die kein Inter­esse hat, von ih­rer nicht US-ame­ri­ka­nischen Po­si­tion ab­zu­rücken. Nun aber bleibt die Krise zwi­schen Spa­nien und Ku­ba vorerst auf bi­late­ra­ler Ebene.
Außenminister Jor­ge Matutes deutete be­reits unmittelbar nach dem Entzug des Pla­zets für sei­nen Unter­ge­benen an, man wer­de moderat vorge­hen, sich Zeit lassen. Bis auf weiteres wird sich die Auf­ent­haltsdauer des am­tierenden Bot­schaf­ters Mira­peix verlängern, Co­derch kann sich um seine Di­plomatenschule in Madrid küm­mern. Matutes freut sich, daß die EU endlich zu ei­ner einstimmi­gen Außenpo­litik ge­genüber Ku­ba gefunden hat, während sein Amts­kol­le­ge Ro­baina betont, ei­nen neu ge­fun­denen Bot­schaf­ter-Kan­dida­ten werde Kuba wohl anerkennen.
Für Cas­tro ist diese Schach­partie letztendlich alles andere als er­folglos, macht es sich doch im­mer wieder gut in der Rolle des David, für den ohnehin durch das Helms-Burton- Ge­setz mit der Verschär­fung des US-Em­bargos eine gro­ße Sympathie­wel­le in Latein­amerika losge­tre­ten wur­de. Dies zeigte sich erst kürz­lich auf dem chile­nischen Gip­fel. Auch in­nerhalb der spa­ni­schen Gesell­schaft überwiegt nach Umfragen neueren Datums die Solida­rität mit Kuba gegen­über einem Verständnis für Az­nars Hardli­ner-Politik.
Die anti­castristische Haltung ist sicher nicht der beste Weg, eine Demokrati­sie­rung in Kuba zu beschleuni­gen. At­tacken von au­ßen erwec­ken Na­tionalismus und bieten sich an, in autori­tärem Sinne ausge­schlachtet zu wer­den. Tou­ristische und sonstige wirt­schaftliche Pro­jekte sind wesent­lich besser geeignet, eine Öff­nung nach außen zu erzielen, was zwischen­zeit­lich bis hin zur Papstau­dienz von Castro ge­führt hat. Was auch immer man davon halten mag, so hat auch das Recht auf Religi­onsausübung zu­min­dest irgendetwas mit Freiheit zu tun.

Scheitern in der Autowerkstatt

“Bis vor die Tür des Lebens” habe sie das “verführerische Monster seines Schreibens” ge­trieben, beschreibt es Viviane Steiner. Die chilenische Schau­spielerin und Theater-Regisseu­rin hat in diesem Herbst in San­tiago Heiner Müllers Werk “Medea Material” inszeniert. In der Estación Mapocho wurde die Bühne in die Mitte des Saales verlegt, auf der verschiedene Szenen simultan gespielt wur­den. Die Zuschauer saßen auf drei verschiedenen Niveaus. Eher klassisch war hingegen die Inszenierung von “Quartett” durch Rodrigo Pérez in der Co­media. Zwei der renom­miertesten Schauspieler des Landes ließ der junge Regisseur als Haß-Liebes-Paar gegenein­ander antreten, voller Pathos und in üppig-historischen Kostümen. Und dann war da noch der Berli­ner Theater-Regisseur Alexander Stillmark, der zur gleichen Zeit eigens nach Chile gekommen war, um mit dem chilenischen Teatro La Memoria den “Auftrag” zu inszenieren. Auf einer leeren Bühne, auf der die ganz in weiß gekleideten Schau­spieler noch von den an die Wand projizierten Lichtbildern überlagert wurden.
Warum diese Heiner-Müller-Euphorie? Darüber machten sich bei einem Seminar des Goethe-Instituts in Santiago Ende No­vember Theaterleute aus ganz Lateinamerika Gedanken. Mül­lers Werk besteht aus Fragmen­ten – und das scheint ihn interna­tional so interessant zu machen. Revolution, Gewalt, Unterdrük­kung, das gibt es auf der ganzen Welt, und Müllers Texte lassen den Interpretierenden genug Luft, das Werk mit ihren ganz eigenen Erfahrungen auszuklei­den. In Lateinamerika gilt Heiner Müller keineswegs als einer, der sich an deutsch-deutschen oder europäischen Konflikten festge­bissen hat. Vielmehr reizen hier­zulande die Metaphern des Deut­schen, die Platz für die latein­amerikanische Wirklichkeit schaffen. Müller behandelt das Thema eines Landes, seines Landes, aber wie er es be­schreibt, gilt es für alle Länder.

“Hamletmaschine” in Ecuador

“Europäisches Theater mit Platzangebot”, so bezeichnet es der Berliner Literaturprofessor Frank Hörngk. Müllers Werke lassen sich nicht einfach spielen, sie müssen erkämpft werden. Sie müssen in Amerika wiederge­funden werden. So berichtet der argentinische Theaterregisseur Luis Fernando Lobo, wie er sich mit seiner Truppe im Argenti­nien des Jahres 1994, bei stünd­lich steigender Inflation, auf die Suche nach einem Raum des Scheiterns und der Niederlage gemacht hat. Ein Raum, in dem “Der Auftrag” sich entfalten konnte. Sie fanden ihn schließ­lich am Rande von Buenos Aires in einer Autowerkstatt, in die seit Monaten kein Auto mehr ge­bracht wurde. Von dieser Wirk­lichkeit ausgehend, so Lobo, ge­lang es ihnen dann, Zugang zu Heiner Müller zu finden.
Ende der 80er Jahre wurde Heiner Müller das erste Mal in Argentinien aufgeführt. Danach tauchten seine Stücke immer wieder auf den Spielplänen der kleineren Theater auf. Die Schauspieler hatten Gefallen an der Herausforderung gefunden. Das Publikum tat sich etwas schwerer, war es doch an leich­tere Kost gewöhnt. So wurde “Hamletmaschine” im Jahre 1991 in Quito ein großer Rein­fall, 1995 gab es in Ecuador einen neuen Heiner Müller-Ver­such mit “Der Auftrag” – diesmal mit Erfolg. Das Land befand sich mitten in einer schweren Krise, ein Minister nach dem anderen strauchelte im korrupten Regie­rungssystem, die Erdölarbeiter verharrten im Hungerstreik. Eine kaputte Welt, wie von Müller skizziert. In Quito hing in dieser Zeit ein Hauch von Revolution in der Luft, in der der Aufschrei “Unsere Hure, die Freiheit” (“Der Auftrag”) nicht ungehört verhallte.
Die Gewalt und der Kampf gegen die Unterdrückung, the­matisiert in Müllers Werken, ist in Chile auch sieben Jahre nach dem Ende des Pinochet-Regimes noch präsent. Mit seinen Szena­rien von Leere, Hoffnungs- und Ratlosigkeit trifft der deutsche Autor genau den Nerv der Zeit. Viele, die über Jahrzehnte gegen die Diktatur gekämpft haben, hat die Demokratisierung des Lan­des 1990 in eine Orientierungs­losigkeit fallen lassen. Zufrieden sind sie mit den Zuständen kei­neswegs, doch wie schwer fällt es, den Kampf, nachdem das Ziel doch eigentlich erreicht sein müßte, wieder aufzunehmen.
Die Dritte Welt hat bei Mül­ler, ähnlich wie bei Brecht, die Funktion, die europäische Tradi­tion in Frage zu stellen, meint der Berliner Regisseur Alexan­der Stillmark. Drei ganz unter­schiedliche Personen finden sich im “Auftrag” in Jamaica zur Sklavenbefreiung zusammen. Zur Zeit der französischen Re­volution, den Ruf nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit noch im Ohr, sehen sie sich vor die konkrete Frage gestellt: Sind wir denn gleich? Die Dritte Welt, das ist bei Müller gleichzeitig Auf­bruch und Zurücknahme, das Aufgeben einer Hoffnung. So geht es in “Der Auftrag” um den Aufstand in der Dritten Welt, um die “Schwarze Revolution”. Der schwarze Sasportas ist der neue Hoffnungsträger der Geschichte – und kommt schließlich um.
Jeder kann nach Meinung von Stillmark zum Sklaven Sasportas in “Der Auftrag” werden – weit über die soziale Metapher hinaus einfach aus dem Gefühl heraus, mißachtet zu werden. Sasportas ist der, der bis zuletzt an die große Revolution als Allheil­mittel, als Utopie glaubt und schließlich dafür stirbt. Daneben Debussant, der mitten im Stück die Bühne verläßt, weil er keinen Weg mehr sieht, der individuell konsequent bleibt. Und schließ­lich Galudec, der seinen revolu­tionären Auftrag zurückgibt. Für Hörngk ist das Müllers allge­meines revolutionäres Ver­mächtnis: Die Bitte zur Entlas­sung aus dem Auftrag. “Der Auftrag”, Mitte der 70er Jahre geschrieben, beschreibt die Selbstverleugnung des Individu­ums in der Revolution. Aber dann ist gerade das Abnehmen der Maske, das Gesicht-Zeigen in Zeiten der Niederlage die ein­zige Alternative zum Verrat.
Als Lichtbilder im Hinter­grund der Inszenierung hat Stillmark Impressionen aus Chambuco gewählt, Eindrücke aus der öden, harten und verlas­senen Salpeterwüste. Daneben Momentaufnahmen von der Bombardierung der Moneda in Santiago, deutsche KZ-Häft­linge, zerstörte deutsche Städte nach dem Zweiten Weltkrieg, das Stadion in Santiago nach dem Putsch, die Totenmaske Ul­rike Meinhofs. “Müller stellt uns alle vor die gleiche Barbarei”, beschreibt es ein Seminarteil­nehmer. Und dennoch gibt es un­terschiedliche Arten, damit um­zu­gehen. Müller hat dafür den Humor, die Ironie.

Aufzug nach Peru

Da steht ein Mann im Fahr­stuhl, ein Büroangestellter, die Aktentasche fest an die gerade zurechtgerückte Krawatte ge­drückt. Auf dem Weg zum Chef. Stolz, gleich einen wichtigen Auftrag zu bekommen. Verzwei­felt, weil ihm plötzlich, ir­gendwo zwischen dem vierten und zwanzigsten Stock, die Zeit wegrennt und seine Mission, noch bevor sie begonnen hat, scheitert. Daß weniger als fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit zu erscheinen schon beinahe die totale Niederlage bedeutet, wie soll man das in einem süd­amerikanischen Land vermit­teln?
Stillmark läßt in seiner Insze­nierung den Deutschen Deutsch sprechen und setzt einen Über­setzer daneben – der angesichts dieser nicht nachvollziehbaren Ängste seine professionelle Ge­lassenheit verliert und auch mal fragend die Stimme hebt. Schließlich landet der Ange­stellte statt beim Chef mit sei­nem Aufzug irgendwo in Peru, sein Auftrag ist passé, doch das Publikum hat sich köstlich amü­siert.
Das Scheitern, das sich in Heiner Müllers Texten wider­spiegelt, ist das Scheitern einer europäischen Linken, die von ei­ner sozialistischen Emanzipation geträumt hatte. Den Glauben an die Revolution hatte Müller al­lerdings schon lange verloren, im ungarischen Herbst 1956. Der späte Müller hat denn auch noch die letzte Hoffnung aufgegeben. Findet sich in den frühen Texten immmer noch ein Moment der Perspektive, eine mögliche Lö­sung, so zeichnet die späten Werke das verlorengegangene Vertrauen in Veränderbarkeit und auch eine Ratlosigkeit aus. “Verdammt noch mal, der wußte nichts mehr!”, so Hörngk. Der letzte Traumtext, Oktober 1995, beschreibt einen hilflosen Heiner Müller im Betonloch, hoch über ihm die kleine Tochter, die noch nicht hineingefallen ist.
Das ist die Hoffnung, die Müller bleibt- die Hoffnung auf die Nachwelt. Eine Aufforderung weiterzumachen, sich stets aufs Neue – nicht nur in Deutschland – an seinen Texten zu reiben. Und sie in aktuelle Kontexte zu stel­len, ohne dabei europäisch sein zu wollen. “Müller zu spielen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat an Müller”, mahnte der Berliner Literaturprofessor und Freund Heiner Müllers die jungen Schauspieler in Chile.

Brecht plus Artaud

Herr Pérez, Sie sind Chilene und haben “Quartett” von Heiner Müller in Santiago de Chile inszeniert. Wie sind Sie auf Heiner Müller gekommen?

Ich habe Heiner Müller in Deutschland kennen­gelernt, und auch seine Texte, die mir ungeheuer interessant und auch beunruhigend erschienen. Und gleichzeitig auch unheimlich komplex.

Warum haben Sie dann aus der Vielzahl von Müllers Stücken gerade “Quartett” ausgewählt?

Ich hatte vorher keinerlei Zugang zu Müllers Texten, da sie in deutscher Sprache erschienen. Der erste Text, der sich mir schließlich erschlossen hat, war “Quartett”. So kam mir die Idee, eine Ver­sion hiervon in Chile zu inszenieren, denn soweit mir bekannt war, war bisher von Müller nichts in Chile aufgeführt worden. Dabei ist Müller einer der Großen, wenn nicht der Große dieses Jahrhun­derts, nicht nur im Hinblick auf die Dramaturgie in Deutschland, sondern weltweit. “Quartett” reizte mich auch, weil der Text nicht ganz so fragmenta­risch ist. Deshalb schien er mir ideal, um mit dem Autor hier in Chile zu beginnen. Weil Heiner Müller eben komplex ist – und wunderbar.

Komplex, fragmentarisch… ist es schwierig, einen solchen Autor in Chile einzuführen?

Ich glaube nicht. Ich denke, daß die Schwierig­keit eher im Ideentheater als solchen liegt, nicht nur in Chile, sondern in ganz Lateinamerika. Es geht darum, den Leuten eine andere Sprache nahe­zubringen, die Fähigkeit, neue, ungewohnte Ideen zu denken. Und diese Funktion erfüllt “Quartett” für mich. Ich weiß nicht, ob es einfach oder schwierig ist, glaube aber, es war wichtig, hier einen Weg zu öffnen, und wenn er einmal offen ist, in dieser Richtung weiterzugehen.

Sie bezeichnen Heiner Müller als einen der Großen des Jahrhunderts. Warum?

Ich weiß, daß ich ein wenig übertreibe – nun gut, ich bin Lateinamerikaner. Ich denke, er ist ei­ner, dem es gelingt, zu vereinigen. Und das ist für mich das wichtigste am Ende eines Jahrhunderts, das von sehr großen Schrecken geprägt ist. Ein Jahrhundert, in dem Menschen brutal ihre Herr­schaft über andere Menschen ausüben. Ein Jahr­hundert, in dem einem Menschen brutal durch die Hand eines anderen Menschen das Leben genommen wird. Und am Ende eines solchen Jahr­hunderts ist es Müller meiner Meinung nach ge­lungen, die beiden wichtigsten Strömungen des Theaters zu vereinen. Das sind Brecht und Artaud – Verstand und Leidenschaft. Und in diesem Sinne ist es ihm gelungen, über das Bisherige hinauszu­gehen.

Das Werk Heiner Müllers ist demnach also kein sehr deutsches Werk, das nur in Deutsch­land verstanden wird?

Heiner Müllers Ursprung ist ein Land, das mei­ner Meinung nach die realgewordenen Ängste die­ses Jahrhunderts in Europa konzentriert. Dort wur­den die Greueltaten des Jahrhunderts verübt, un­glaublich Schreckliches, das natürlich genausogut auch an einem anderen Ort stattfinden könnte. Ich meine damit, die Menschheit sucht sich einen Ort, an dem diese Schreckensängste Wirklichkeit wer­den, und dies geschah eben in Deutschland. Jen­seits von der konkreten politischen Lage dort. Und das macht diesen Schrecken wieder universal.

Sie waren eine Zeitlang in Deutschland. Macht es das für Sie einfacher, das Werk von Heiner Müller zu verstehen? Aufgrund der Tatsache, daß Sie Deutschland, das deutsche Theater kennen?

Mehr als die Kenntnis des Theaters ist es die Kenntnis der Straßen. Das Kennenlernen einer Stadt wie Berlin – mit wie auch ohne Mauer. In die S-Bahn einsteigen und “auf der anderen Seite” wieder aussteigen. Friedrichstraße – das ist eine andere Welt, das ist “der Osten”. Da liegt dieser Schrecken aus den Werken Heiner Müllers spürbar in der Luft.

Nochmal zu “Quartett”. Heiner Müller hat die Szene in einen Bunker nach dem Dritten Welt­krieg verlegt, aber das klingt in Ihrer Inszenie­rung nur ganz sacht an.

Der Krieg hier tritt nicht so unmittelbar in Er­scheinung wie der europäische Krieg – ein Krieg im eigenen Haus. Heiner Müller sagte selbst, daß sein Werk absolut von dem Ort abhängt, an dem es inszeniert wird. Also vom sozialen, kulturellen und politischen Kontext, in dem das Werk gespielt wird. Aus meiner Sicht, als Chilene, denke ich, daß der von mir gewählte Ort der Handlung der rich­tige ist, um das Stück in dieser Kultur aufzuführen. Alles andere wäre europäisch: Mitten im Schutt und Valmont mit einem Hakenkreuz. Aber das ist nicht hier, das ist nicht Chile.

Zu Ihrer Inszenierung gibt es die Kritik, sie re­duziere das Werk auf eine Liebesbeziehung. Was sagen Sie dazu?

Neben dem gerade genannten politischen Ele­ment gibt es noch ein zweites, mit dem ich diese Idee des verliebten Paares grundsätzlich aufbre­chen wollte: Die Besetzung. Alfredo Castro und Delfina Guzman sind zwei große chilenische Schauspieler aus zwei unterschiedlichen Genera­tionen (ich gehöre bereits der nächsten an), die meiner Auffassung nach die wichtigsten in der Ge­schichte dieses Landes sind. Mittels der zwei kämpferischen Persönlichkeiten, die diese beiden Schauspieler verkörpern, prallen zwei Strömungen aufeinander, die sich in Chile anscheinend nicht versöhnen ließen. Und hier ist der politische Kommentar. Wer sind diese beiden, die sich da einander stellen, die sich nicht verstecken, die sich gegenübertreten mit ihrer unterschiedlichen Art, Theater zu spielen? Das ist eine Reflexion über das Theater innerhalb des Theaters.

Die beiden Schauspieler waren zum ersten Mal gemeinsam auf der Bühne?

Richtig. Und niemand hätte erwartet, diese bei­den jemals zusammen in einem Stück zu sehen, denn sie vertreten zwei entgegengesetzte Strömun­gen.

Sie sind selbst auch Darsteller in La Misión (“Der Auftrag”), einem anderen Stück von Hei­ner Müller, das hier in Santiago mit dem deut­schen Regisseur Alexander Stillmark inszeniert wurde. Wie sind Ihre Erfahrungen mit dieser chilenisch-deutschen Zusammenarbeit?

Ich glaube nicht groß an Unterschiede zwischen deutschem und chilenischem Theater. Ich glaube, es gibt Regisseure und Schauspieler. Es war für mich die Arbeit mit einem neuen Regisseur. Dabei ging es besonders um die Beziehung, die der Schauspieler zum Text hat, nicht der Schauspieler zur Person.

In La Misión spielen sie den Mann im Aufzug. Diese Überpünktlichkeit, dieses Duckmäuseri­sche mutet “typisch deutsch” an. Ist es Ihnen schwergefallen, diesen Büroangestellten zu spie­len?

Mehr noch als in Personen versetzt man sich in Situationen. Und diese Situation lebt von der Iro­nie, die ich auch gemeinsam mit Alexander ent­deckt habe. Der Kommentar zu unserem Theater in Chile ist immer, daß wir zuviel weinen. Das stimmt, wir weinen viel, ihr in Deutschland weint weniger. Ihr seid dem Schrecken näher als dem Schmerz. Wir sind dem Schmerz näher. Wir hatten hier in Chile unseren eigenen Krieg, einen bewuß­ten Krieg mit viel Idealismus. Aber in Deutschland nicht. Dort fielen die Bomben in die Häuser, und Du mußtest fliehen, um nicht zu verbrennen. Es gab kein Zurück, das war das Schreckliche. Die Beziehung zu Schmerz und Schrecken ist also eine unterschiedliche. Diese Erkenntnis hat mir sehr für die Szene im Aufzug geholfen. Ich habe gelernt, daß man einen Text auch über die Ironie erreichen kann und nicht unbedingt durch Schmerz.

Und die Idee, diese Szene in deutsch zu spielen und einen Übersetzer daneben zu setzen? Diesen Ausländer, der so absurde Gedankengänge über­setzen muß?

Die Ironie verdoppelt sich. Zusätzlich verstärkt sie sich noch, wenn ich, mit dunkler Hautfarbe, ab­solut ein Lateinamerikaner, sage: Ich, Europäer. Ich blicke ein bißchen von oben herab auf Peru, aber gleichzeitig bin ich Peru. Da wird vieles ver­dreht. Die Idee ist, die Dinge auf den Kopf zu stellen: Durch eine Tür eintreten und durch eine andere wieder zurückzukehren. Meiner Meinung nach ist dies die Basis für das, was Ironie im Theater sein könnte: Sich durch Humor vom Text distanzieren, damit sich der Text verständlich ma­chen kann.

José Donoso ist tot

Der chilenische Schriftsteller José Donoso starb am 7. Dezember in Santiago.
Donoso, Jahrgang 1924, trat vor allem durch seine Romane hervor. Bereits Coronación (Krönung, 1957) wurde begeistert aufgenommen. Es folgten El lugar sin límites (Ort ohne Grenzen, 1967), El obsceno pájaro de la noche (Der obszöne Vogel der Nacht, 1970), Casa de campo (Das Landhaus, 1978) und Deseperanza (Die To­teninsel, 1986) – Bücher, die ihm den Ruf als einer der bedeutendsten Schriftsteller Lateinamerikas si­cherten.
Insbesondere Casa de campo und Desesperanza sind Bücher mit deutlichen Anklängen an Chile und seine jüngste Geschichte, und dennoch kann man Donoso wohl als Weltbürger par excellence bezeichnen. So schrieb der Anglist seine ersten Er­zählungen auf Englisch und veröffentlichte sie 1950 als Stipendiat in Princeton. Später lebte er in Argentinien, Me­xiko, den USA und schließlich lange in Spanien, bis er 1981 nach Chile zu­rück­kehrte. Das Werk Donosos ist in viele, auch außer­europäische Spra­chen übersetzt. Für die kom­men­den Jahre ist mit einigen weiteren, bis jetzt noch nicht auf Deutsch erschienenen Büchern zu rech­nen, so mit Donde van a morir los elefantes (Wo die Elefanten ster­ben, 1995) und den Memoiren Conjeturas sobre la memoria de mi tribu (Ver­mutungen über das Ge­dächtnis meines Stammes, 1996). In El Mocho, das in den nächsten Monaten auf Spanisch erscheinen soll, geht es um “Verschwundene” während der Pi­nochet-Diktatur.
Für das Februar-Heft der LN ist ein ausführli­cher Beitrag über José Donoso vorgesehen.

Zweckehe im Isthmus?

Da gab es die kriegerischen Unternehmungen des Söldnerführers William Walker aus Tennessee, der in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Nicaragua aus den ganzen Isthmus unterwerfen wollte, und die des liberalen Präsidenten von Guatemala, Justo Rufino Barrios, der eine Einheit unter guatemaltekischer Hegemonie anstrebte. Walker scheiterte weil sich alle fünf Republiken gegen ihn zusammentaten, Barrios dagegen scheiterte weil die fünf für eine gemeinsame Regierung doch zu individualistisch waren. In diesem Jahrhundert setzte man eher auf friedliche Mittel und wirtschaftliche Integration. Meist steckten hierbei Interessen der USA dahinter.
Wer Zentralamerika kennt, der weiß, wie schwierig es ist, den Isthmus auf dem Landweg zu durchqueren. Die bis vor kurzem bestehende Visapflicht, umständliche Amtswege für die Grenzüberschreitung mit Privatfahrzeugen, Willkür bei der Zollabfertigung und schlechte Straßen garantieren den Fluggesellschaften, die zwischen den Hauptstädten verkehren, ein sicheres Geschäft. Und das, obwohl die Tarife für die Anzahl der Flugkilometer deutlich überhöht ist. Der grenzüberschreitende Busverkehr – mit Ausnahme der Strecke Guatemala-El Salvador – ist mühsam und unbequem. Eine moderne Eisenbahnlinie von Guatemala bis Panama, die das Reisen und den Gütertransport innerhalb der Region dramatisch vereinfachen und verbilligen würde, ist bisher nicht einmal ernsthaft diskutiert worden. Es wird den Brüdern und Schwestern der Region also nicht leichtgemacht, einander näherzukommen. Deswegen gibt es auch mehr NicaraguanerInnen, die Miami kennen, als solche, die schon einen Urlaub in Guatemala verbracht haben und mehr Salvadorianer, die in Los Angeles aus- und eingehen als im nur zwanzig Flugminuten entfernten Tegucigalpa. Das Vorurteil blüht: so gelten die Ticos (Costa Rica) als hochnäsig, die Nicas als faul und gewalttatig, die Catrachos (Honduras) als doof, die Guanacos (El Salvador) als übertrieben strebsam und die Chapines (Guatemala) als verschlagen.
Eine Ausnahmeerscheinung ist das Volk der Miskitos am Río Coco, für die der Grenzfluß zwischen Nicaragua und Honduras nie eine maßgebliche Trennungslinie gewesen ist. Für sie war es bis zur Aufrüstung der Konterrevolution während der sandinistischen Jahre selbstverständlich, auf der einen Seite zu leben und auf der anderen das Feld zu bestellen. Und die Mobilität der Arbeitskraft war schon in den 70er Jahren eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Ohne die ArbeiterInnen aus Honduras und El Salvador wären die Expansion der Kaffeewirtschaft und der Baumwollboom in Nicaragua nicht denkbar gewesen. Und heute würden die Bananenplantagen in Costa Rica ohne die legal oder illegal eingereisten WanderarbeiterInnen aus Nicaragua nicht auskommen.

Versuche der Kooperation

Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua und Costa Rica, mit einer Gesamtfläche von 432.000 Quadratkilometern und 27 Millionen EinwohnerInnen, sind nicht nur Länder mit einem guten Stück gemeinsamer Geschichte, sie sind auch Konkurrenten, die ihre traditionellen Produkte wie Kaffee, Bananen, Zucker und Baumwolle auf denselben Märkten placieren wollen. Bis in die 60er Jahre waren es fast reine Agrargesellschaften, die ausreichend Nahrungsmittel für den Eigenbedarf produzierten, aber gleichzeitig mit Exportmonokulturen einem zunehmenden Bedarf in den USA entgegenkamen. Erst nach 1960, als die Kennedy-Regierung mit der Allianz für den Fortschritt in Lateinamerika ein Bollwerk gegen das castristische Kuba schaffen wollte, wurden politische Reformen und Industrialisierung gefördert. In diesem Rahmen wurden in Zentralamerika drei Organisationen geschaffen: auf der politischen Ebene die Organisation Zentralamerikanischer Staaten (ODECA), auf der militärischen der Zentralamerikanische Verteidigungsrat (CONDECA) und auf der wirtschaftlichen der Zentralamerikanische Gemeinsame Markt (MCCA). Dem letzteren lag die Idee zugrunde, daß nur der gemeinsame Markt die Industrieproduktion lohnend mache. In jedem Land sollte ein Zweig für die Versorgung der gesamten Region angesiedelt werden, um größere Mengen zu vertretbaren Stückkosten herzustellen: etwa Zahnpasta in Guatemala, Schuhe in El Salvador und Seife in Nicaragua. Die Anfänge waren vielversprechend, zumal die wirtschaftliche Konjunktur die Kaufkraft der Konsumenten steigerte. Doch MCCA und CONDECA scheiterten mit dem Ausbruch des sogenannten Fußball-Krieges zwischen Honduras und El Salvador. Nicht an primitivem Sportchauvinismus, wie der Name der dreitägigen bewaffneten Auseinandersetzung suggeriert, sondern an der unterschiedlichen demographischen Struktur der Länder. Aus dem überbevölkerten El Salvador hatten sich tausende BäuerInnen auf honduranischem Boden angesiedelt, von wo sie im Zuge einer demagogischen Agrarreform des honduranischen Militärdiktators vertrieben wurden.

Der Wunsch der USA: gegen Nicaragua vereint

Diese Wunden waren noch nicht verheilt, als in Nicaragua die sandinistische Revolution ausbrach. Die Solidarität, die die honduranische Bevölkerung während des Volksaufstandes den Flüchtlingen vor Somozas Nationalgarde entgegengebracht hatte und die Sympathien der Nachbarvölker für das neue Gesellschaftsmodell waren bald gebremst. Als Flüchtlinge kamen jetzt Soldaten der aufgelösten Nationalgarde, und das Grenzgebiet wurde in eine Aufmarschbasis für die Konterrevolution verwandelt. Auch an der Südgrenze zu Costa Rica wurde Nicaragua zunehmend isoliert. Während Nicaragua mit einem Wirtschaftsembargo bestraft wurde, bekamen die loyalen Länder Vorzugsquoten für den Export von Zucker und anderen Rohstoffen in die Vereinigten Staaten zugebilligt. Die USA förderten aber auch eine Integration Zentralamerikas gegen Nicaragua, vor allem auf der Ebene der Streit- und Sicherheitskräfte. Bleibendster Effekt dieser Vernetzung sind die Autoschieberringe und Drogenbanden, die in den Polizeiapparaten von El Salvador, Honduras und Guatemala aufgebaut wurden.
Von der Europäischen Gemeinschaft wurde die diskriminierende Wirtschaftspolitik nicht geteilt. Im Gegenteil: die EuropäerInnen setzten auf Integration statt Isolation Nicaraguas und machten seit Mitte der 80er Jahre ihre multilaterale Wirtschaftshilfe von einer regionalen Einigung abhängig, die jedes Jahr bei den San-José-Nachfolgetreffen erneuert wird. Doch die Programme waren zu dürftig, um gegen die Machtpolitik der USA eine echte Annäherung der verfeindeten Regierungen durchsetzen zu können.

Die neunziger Jahre: Ära des Freihandels

Erst im Jahre 1990, als die Sandinisten in Nicaragua abgewählt wurden, konnte die regionale Integration aller wieder versucht werden. Seit sich in den USA unter Präsident George Bush die Überzeugung durchsetzte, daß die größte Wirtschaftsnation der Welt auf Dauer gegenüber einem geeinten Europa und einem boomenden Ostasien nur bestehen kann, wenn sich der ganze Kontinent in einen gemeinsamen Wirtschaftsraum verwandelt, ist von Labrador bis Feuerland Integration angesagt. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen zwischen Kanada, Mexiko und den USA (NAFTA) sprengte die Grenzen zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern – für den Kapitaltransfer, nicht für den Verkehr menschlicher Arbeitskraft. Freihandel heißt die Devise, die in ganz Lateinamerika aufgegriffen wurde. Plötzlich wurde dem Mercosur, zu dem sich Argentinien, Brasilien, Uruguay und Chile schon lange zusammengeschlossen hatten, neues Leben eingehaucht. Mexiko, Venezuela und Kolumbien schlossen ein Freihandelsabkommen und auch der Andenpakt wurde wiederbelebt.
Da konnte Zentralamerika nicht nachstehen. Die Region hat nur eine Chance ernstgenommen zu werden, wenn sie ihre traditionelle Zersplitterung überwindet. Deswegen nehmen seit einigen Jahren auch Panama und Belize, die zwar geographisch, aber nicht historisch zu Mittelamerika gerechnet werden, seit einigen Jahren an den Gipfeltreffen der zentralamerikanischen Präsidenten teil. Für Guatemala bedeutet diese Erweiterung einen stillschweigenden Verzicht auf die offiziell noch immer aufrechten Ansprüche auf das Territorium von Belize, das 1981 von Großbritannien in die Unabhängigkeit entlassen wurde.
Die Integration schreitet jetzt in Riesenschritten voran. Zumindest auf dem Papier. Im Dezember 1991 wurde in Tegucigalpa das Zentralamerikanische Integrationssystem (SICA) als Folgeorganisation der ODECA gegründet. Dies ist für die ZentralamerikanerInnen weniger ein neuer Versuch echter regionaler Integration, sondern eine Voraussetzung, um sich irgendwann in den NAFTA einzuklinken und ihre Exporte ohne Handelshemmnisse in diesen gigantischen Wirtschaftsraum liefern zu können.

Sozialpolitik und Umwelt haben das Nachsehen

Die im Interesse der Globalisierung gefaßten Beschlüsse der Gipfeltreffen dienen den einzelnen Regierungen dazu, unpopuläre Maßnahmen innenpolitisch zu rechtfertigen. Zum Beispiel den Sozialabbau und die Beschneidung von Gewerkschaftsrechten, mit dem Hinweis, der Wirtschaftsstandort müsse verteidigt werden.
Freihandel und Sozialabbau können die strukturellen Probleme der Region gewiß nicht lösen. Für die 68 Prozent der ZentralamerikanerInnen, die laut United Nations Development Programm (UNDP) in “kritischer” Situation leben oder überleben, sind dringende Programme gefordert. So hat zuletzt der Sozialgipfel von Tegucigalpa die extreme Armut weder national noch regional eingedämmt.
Auch bei der Umweltzerstörung liegt Zentralamerika mit sechs Prozent Entwaldung jährlich weltweit im Spitzenfeld. Trotzdem hat der Umweltgipfel von Managua außer vielen schönen Worten nicht viel Konkretes gebracht.

NGOs haben es schwer: Integration als Chefsache

Deswegen sind die zentralamerikanischen NGOs immer weniger bereit, die Integration allein den Regierungen zu überlassen. Der Globalisierung widersetzt sich heute keiner mehr ernsthaft. Doch: “Damit die nachhaltige Entwicklung der Menschheit möglich wird, müssen drei Aktoren zusammenwirken: Staat, Markt und Zivilgesellschaft”. Mit diesem Vorstoß brachte sich die Concertación Centroamericana auf der UNO-Sozialkonferenz von Kopenhagen ein. Unter diesem Namen haben sich nichtregierungsgebundene Organisationen der Region zusammengeschlossen, um mit einer gemeinsamen Stimme gegen die Regierungen – die Integration als Chefsache betrachten – auftreten zu können. Kurz darauf, im Oktober 1994, schufen die regierungsunabhängigen Organisationen die “Zivile Initiative der Zentralamerikanischen Integration” (ICIC), die alle Themen der folgenden Gipfeltreffen aufgriff und sich als ständiges Konsultativorgan einzubringen versucht. Mit bisher wechselhaftem Erfolg.
Zwar sind ICIC-Mitglieder inzwischen als ständige Beobachter beim SIECA, SICA und im Zentralamerikanischen Parlament anerkannt, doch ist ihr Einfluß gering. Die Präsidentengipfel, so heißt es in einem Papier der ICIC, benützten einen “scheinbaren Dialog” mit der Zivilgesellschaft, um bei der internationalen Gebergemeinschaft an zusätzliche Mittel zu kommen, “die in der Praxis weit entfernt sind, den Bedürftigen zu nützen.”
Konkrete Vorschläge der Zivilgesellschaft sind bisher von den Staatschefs ignoriert worden, so zum Beispiel die Vorlage für einen regionalen Sozialpakt. Dennoch unterbreiteten die Regierungen Zentralamerikas beim Sozialgipfel in Kopenhagen eine Konvention der Sozialen Integration, die sie als Produkt einer breiten Diskussion mit allen betroffenen Gruppen präsentierten.

Eigener Weg nur mit Druck von unten

Von einer gemeinsamen Sozialpolitik ist Zentralamerika aber noch genauso weit entfernt wie vom gemeinsamen Wirtschaftsraum. Zwar gibt es schon seit vielen Jahren einen Energieverbund, der auch während der Revolutionsjahre funktionierte und verhinderte, daß die Stromversorgung noch häufiger als ohnehin schon zusammenbrach. Doch wenn es um partikuläre Handelsinteressen geht, kehren die Regierungen schnell wieder zu protektionistischen Maßnahmen zurück. So läßt Costa Rica unter dem Vorwand der Lebensmittelhygiene nicaraguanische Bohnen an der Grenze verschimmeln, um die eigenen Produzenten zu schützen. Auch beim Aushandeln von Bananenquoten mit der EU stieg Costa Rica aus dem gemeinsamen Verhandlungsforum aus und suchte seine Exportquote im Alleingang zu erhöhen. Und bei der Verhandlung der Staatsverschuldung ziehen die Regierungen gesonderte Verhandlungen mit den Gläubigern vor, statt gemeinsam aufzutreten.
Investoren nützen die Konkurrenzsituation aus, um günstigere Bedingungen zu erpressen. Warum sollten sie sich Gewerkschaften in den Fertigungsbetrieben gefallen lassen, wenn im Nachbarland die Organisationsfreiheit eingeschränkt ist? Warum eine Erhöhung des Mindestlohnes hinnehmen, wenn nur 200 Kilometer entfernt für weniger Geld mehr gearbeitet wird? So gesehen ist die Unterzeichnung einer zentralamerikanischen Sozialcharta nicht nur eine legitime Forderung der Arbeitnehmer sondern muß auch im Interesse der Regierungen liegen. Die Integration “von unten” unter Mitwirkung der verschiedenen sozialen Akteure ist heute eine Notwendigkeit. Solange aber der Druck von unten fehlt, werden sich die Staatschefs der Region ihre Politik weiterhin “von oben”, also von den USA und dem Weltwährungsfonds, diktieren lassen.

Auf dem Weg in die Zivilgesellschaft

Anders als seine Nachbarn Guatemala, El Salvador und Nicaragua hat Honduras in den achtziger Jahren keinen Bürgerkrieg durchlitten. Nach Zehn- oder Hunderttausenden zählende Ermordete, Verschwundene oder Flüchtlinge blieben diesem Land damit erspart. Dennoch konnte von funktionierender Demokratie keine Rede sein, und mit der Einhaltung der Menschenrechte nahmen es Militär und Polizei nicht ernster als anderswo.
Honduras lag aus Sicht der USA strategisch ideal, um von dort in die Konflikte in Nicaragua und El Salvador einzugreifen. Das Land nahm im Konzept der Nationalen Sicherheit, das die Reagan-Administration in Zentralamerika durchzuführen versuchte, einen wichtigen Platz ein. Die honduranischen “Sicherheitskräfte” standen dabei in direktem Auftrag der nordamerikanischen Kollegen und setzten deren Vorgaben um. Damit war klar: Jede Opposition, die die Legitimität des Militärs in Frage stellte und es einer zivilen Macht untergeordnet sehen wollte, wurde rücksichtslos bekämpft. Politische Gegner, vor allem aus der Linken, verschwinden zu lassen, zu foltern und/oder zu ermorden, gehörte daher auch in Honduras zur Tagesordnung.
Die Aufarbeitung konkreter Fälle von Menschenrechtsverletzungen durch Militärs ist dem Engagement einzelner Gruppen und Personen zu verdanken und hat juristisch und, was für die honduranische Gesellschaft insgesamt vielleicht noch wichtiger ist, moralisch einige bemerkenswerte Konsequenzen nach sich gezogen. Aufsehenerregend war, daß das unabhängige honduranische Menschenrechtskomitee Codeh unter seinem Leiter Ramón Custodio 1988 beim Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof einen Prozeß gegen das Land Honduras wegen Entführung und Ermordung zweier Personen in Gang brachte – und Honduras tatsächlich verurteilt wurde. Es war das erste Mal, daß vor diesm Gericht ein Land wegen Menschenrechtsverletzungen der Armee für schuldig befunden wurde. Das Urteil, in dem Honduras zur Bestrafung der Täter und zur finanziellen Entschädigung der Opfer verpflichtet wurde, blieb zwar in der Praxis weitgehend wirkungslos. Auf die Verfolgung der Täter wurde stillschweigend verzichtet, und die festgesetzte Entschädigungssumme brauchte nach einer Geldentwertung nur teilweise gezahlt zu werden. Insofern ist zu Euphorie kein Anlaß. Aber dieses Urteil war erst der Anfang.
Leo Valladares und sein Büro hatten ganze Arbeit geleistet. Der 1992 ins Amt berufene Menschenrechtsbeauftragte der honduranischen Regierung legte im Dezember 1993 einen tausendseitigen Bericht vor, in dem belegt wurde, daß zwischen 1979 und 1989 184 Menschen “verschwanden”. Der Impuls, der von diesem Bericht ausging, war enorm. Daß er nicht von oppositioneller Seite kam, sondern vom Beauftragten der Regierung selbst, erhöhte die Chance, mit dem Bericht Druck auf die Justiz und das Militär ausüben zu können. Und er war und ist Grundlage für die tatsächliche strafrechtliche Verfolgung der Täter.

Tausend Seiten Aufklärung

Der Codeh, das unabhängige Menschenrechtsbüro unter Ramón Custodio, hat den Bericht von Valladares als einen Anfang anerkannt – und dokumentiert seinerseits 140 Fälle von “Verschwundenen”, die auf das Konto des inzwischen aufgelösten Sonderbataillons 3-16 der Armee gehen. Die Verbrechen, wegen derer Honduras 1988 angeklagt wurde, sind zwei dieser 140 gewesen.
Ohne daß von Regierungsseite Bereitschaft signalisiert worden wäre, irgendwelche Untersuchungen und Verfahren gegen Militärs zuzulassen, wäre der Aufklärungsprozeß insgesamt allerdings kaum denkbar und noch viel weniger politisch machbar gewesen. Insofern war es ein Glücksfall, daß Carlos Roberto Reina Anfang 1994 sein Amt antrat. Reina war vorher am Internationalen Gerichtshof in Den Haag tätig und hatte für seine Präsidentschaft eine “moralische Revolution” versprochen. Er brachte jene notwendige Bereitschaft mit und hat sich in den bereits angestoßenen Reformprozeß eingeklinkt, in dem die Macht des Militärs begrenzt und wenigstens eine gewisse Rechtsstaatlichkeit auf den Weg gebracht werden sollte.

Militärs vor dem Zivilgericht

Wichtiger Meilenstein in diesem Prozeß war noch vor Reinas Amtszeit der Parlamentsbeschluß vom 29. Juni 1993, der eigentlich nichts weiter tat, als geltendes Recht zu bestätigen – Recht jedoch, das bis dahin stets mißachtet worden war. Es ging um die Amnestierbarkeit von Menschenrechtsverbrechen, die die Militärs begangen hatten. Und damit um genau den Knackpunkt, an dem schon mehrere Versuche der strafrechtlichen Aufarbeitung solcher Verbrechen in anderen lateinamerikanischen Ländern gescheitert sind. Kern des Parlamentsbeschlusses ist, daß bereits ausgesprochene Amnestien für Armeeangehörige keine Gültigkeit haben, wenn es sich bei den Verbrechen um “gewöhnliche”, also zivilrechtliche handelt. Aus dem zivilrechtlichen Rahmen fallen nur politische Delikte, die auf Beseitigung oder Gefährdung der Staatsmacht abzielen. Bei den Menschenrechtsverletzungen war das jedoch nie das Ziel der Täter. Damit ist der Weg frei für die Diskussion um den Charakter einzelner Straftaten und – bei deren Anerkennung als “gewöhnliches” Delikt – ihre Aufarbeitung vor einem zivilen Gericht.
Einige dieser Prozesse sind in den letzten Jahren tatsächlich in Gang gekommen. Begonnen hatte es mit zwei Prozessen schon im Sommer 1993: In einem wurde ein ranghöherer Militär vor Gericht gebracht, der die Verantwortung für ein Massaker trug, im anderen ein Urteil gegen einen Oberst und einen Hauptmann wegen Vergewaltigung eines Mädchens gefällt.
Im Juli 1995 wurde dann das bislang spektakulärste Verfahren gegen 10 Offiziere des erwähnten Batailons 3-16 eröffnet, die in die Entführung und Folterung von sechs HonduranerInnen im Jahre 1982 verwickelt sind. Die Militärspitze ließ zwar nach Prozeßbeginn als Drohgebärde Panzer durch die Hauptstadt Tegucigalpa rollen, streute Putschgerüchte und nahm ihre damals noch in Dienst befindlichen “Kameraden” in Schutz. Dennoch scheint sie letzten Endes den juristischen Prozeß im besonderen und die Demokratisierung im allgemeinen hinzunehmen. Zumindest hat sie sich trotz aller Hindernisse, die sie der Verbrechensaufklärung in den Weg legt, im Prinzip zur verfassungsmäßigen Ordnung bekannt.
In der Aktualität findet ein Tauziehen zwischen den verschiedenen politischen Kräften statt.
Dadurch wird einerseits ein Fortschreiten der Aufklärung immer wieder gebremst. Beispiel dafür sind die Morde an führenden Militärs, die über Einzelheiten von konkreten Fällen Bescheid wissen; man nennt sie auch “menschliche Akten”. Mit ihnen gehen wichtige Zeugenaussagen verloren, so daß die Vermutung naheliegt, daß die Morde von denjenigen Militärs in Auftrag gegeben werden, die sich gefährdet sehen. Für diese Annahme spricht vor allem auch, daß die Morde in zwei Wellen stattfanden: die erste im Oktober 1995, als die Haftbefehle im erwähnten Prozeß gegen die zehn Offiziere erlassen wurden, die zweite im Juni und Juli 1996, gleichfalls im Kontext von Haftbefehlen aus einem 96er Prozeß.
Die Aufklärung dieser Morde geht schleppend voran. Der Codeh wirft Präsident Reina vor, sich nicht ernsthaft um die Aufklärung zu bemühen und generell zu lasch gegen jüngst begangene Menschenrechtsverletzungen vorzugehen.
Auch an anderer Stelle kam die Aufarbeitung kürzlich ins Stocken. Menschenrechtsombudsmann Leo Valladares hatte versucht, Licht in den Hintergrund der Verbrechen von Anfang der achtziger Jahre zu bringen. Damals waren neben US-amerikanischen Militärs auch dreizehn argentinische Spezialisten für Aufstandsbekämpfung in Honduras tätig gewesen. Die argentinische Regierung hat Mitte Oktober abgelehnt, Informationen über die Verwicklung ihrer Landsleute an Honduras weiterzugeben.
Trotz all dieser Erschwernisse gibt es jedoch zahlreiche positive Tendenzen. So haben Dokumente, die Valladares vom US State Departement erhalten hat, einige Erkenntnisse gebracht. Ihnen zufolge könnten mehr als die bisher bekannten 184 Fälle von “Verschwundenen” dokumentarisch nachweisbar sein.
Weiterhin haben seit 1995 Exhumierungen von außergerichtlich Ermordeten in Honduras stattgefunden. Diese zogen nicht nur erste juristische Konsequenzen nach sich, sondern riefen auch in der Bevölkerung Entsetzen hervor.
Honduras ist demzufolge längst in Bewegung geraten. Das Geflecht von Spannungen und Interessen, das sich dabei herausgebildet hat, ist zwar nicht leicht durchschaubar, und Prognosen sind nur schwer zu treffen: Offen ist, was passieren würde, wenn Präsident Reina bei einem Machtwechsel von einem weniger reformwilligen Politker abgelöst werden sollte. Offen ist auch, ob sich die Armeeführung tatsächlich auf Dauer die Beschneidung ihrer Macht gefallen läßt, die Reina zur Zeit mit aller Konsequenz betreibt. Mit Sicherheit lässt sich aber feststellen, daß Honduras mit seinen Menschenrechtsgruppen über einen Motor verfügt, der wichtige, fundamentale Arbeit geleistet hat und von dem noch viel zu erhoffen ist.

KASTEN:
Zum Thema Straflosigkeit

Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen, auch impunity oder impunidad, bedeutet etwa, daß die russischen Bombenangriffe auf die Zivilbevölkerung in Tschetschenien keine strafrechtlichen Folgen für die Täter haben. Weder für den Oberkommandierenden der russischen Streitkräfte, Boris Jelzin, noch für die – häufig nur Befehlen gehorchenden – Täter. Oder, daß der Oberbefehlshaber und politische Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, trotz eines internationalen Haftbefehls bis heute noch nicht vor dem Haager Jugoslawien-Gerichtshof steht. Impunidad bedeutet auch, daß staatlich gedeckte, initiierte oder geförderte Menschenrechtsverletzungen oder Menschlichkeitsverbrechen ungesühnt bleiben. Straflosigkeit hat schließlich auch eine rein persönliche Seite: Ehemalige Opfer treffen auf ehemalige Täter in Zeiten demokratischer Normalität, sei es auf der Straße oder anderswo; sie fühlen sich ohnmächtig und wütend.
Die Gründe der impunidad sind vielfältig und komplex. Menschenrechtsverbrechen werden regelmäßig nicht verfolgt, weil es am Verfolgungswillen und -interesse der darin verwikkelten Staatsführung fehlt. In vielen lateinamerikanischen Ländern behindern die staatlichen Sicherheitskräfte etwa massiv zivile Ermittlungen, indem sie Zeuginnen einschüchtern, Beweismittel vernichten etc., oder sie erschweren die Ermittlungen schon dadurch, daß sie die Taten anonym begehen (Benutzung von Fahrzeugen ohne Kennzeichen, Tragen von Zivilkleidung). Über diese faktischen Ursachen der Nichtverfolgung hinaus gibt es jedoch auch normative Ursachen. Entweder werden umfassende Generalamnestien oder amnestieähnliche Regelungen erlassen (so in Peru, Chile und Argentinien) oder die extensive Zuweisung von Verfahren wegen Menschenrechtsverletzungen – so es denn überhaupt zu Verfahren kommt – an die Militärgerichtsbarkeit erweist sich als zentraler Faktor der Straflosigkeit. Einzelne strafrechtliche Regelungen, etwa die Anerkennung des Handelns auf Befehl als Strafausschlußgrund, runden das Bild ab.
Die beschriebenen nationalen Straflosigkeitsmechanismen stehen freilich in krassem Gegensatz zum geltenden Völkerstrafrecht. Zwar existieren noch keine völkervertraglichen Bestrafungspflichten, doch folgt aus einer Analyse des Völkergewohnheitsrechts und der allgemeinen Rechtsgrundsätze, daß bestimmte schwere Menschenrechtsverletzungen, insbesondere Folter, extralegale Hinrichtungen und das sogenannte Verschwindenlassen von Personen, Verfolgungs- und Bestrafungspflichten unterliegen. Für diese Auffassung lassen sich nicht nur eine beträchtliche Zahl völkerrechtlicher Quellen anführen (vor allem Beschlüsse von UN-Organisationen und Staatenvertretern) sondern auch eine umfassende völkerstrafrechtliche Spruchpraxis. Sie reicht vom Nürnberger Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher bis zum jüngsten Beschluß des Haager Jugoslawien-Gerichtshofs im Fall Tadic.
Demzufolge sind Amnestien oder amnestieähnliche Regelungen zwar nicht unter allen Umständen ausgeschlossen – Art.6 Abs.5 des zweiten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen erlaubt sie etwa nach Beendigung der Feindseligkeiten zum Zwecke der nationalen Versöhnung. Doch unterliegen sie relativ klaren völkerrechtlichen Schranken. So kann eine umfassende Amnestie von schweren Menschenrechtsverletzungen (Verletzungen des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit), die zudem die eigenen Sicherheitskräfte begünstigt, nur als völkerrechtswidrig bezeichnet werden. Ebenso gebietet das geltende Völkerstrafrecht eine Reform der Militärgerichtsbarkeit. Nur noch ausschließlich militärische Dienstvergehen dürfen danach in die Zuständigkeit der Militärgerichtsbarkeit fallen, während allgemeine Straftaten, zu denen Menschenrechtsverletzungen zählen, vor die zivilen Strafgerichte gehören.
Das Völkerstrafrecht allein wird Menschenrechtsverletzungen sicherlich niemals verhindern können. Es enthält jedoch schon heute Regeln, die die Verantwortlichen als internationale Verbrecher stigmatisieren und ächten können. Diese zum großen Teil noch ungeschriebenen Regeln müssen zusammengeführt und in einem für alle Rechtsordnungen tragbaren Regelwerk kodifiziert werden. Mit der Verabschiedung eines Entwurfs für einen Internationalen Strafgerichtshof im Jahre 1994 und eines internationalen Strafgesetzbuchs im Jahre 1996 durch die ILC sowie entsprechende Alternativ-Entwürfe wurde entsprechende Vorarbeit geleistet. Es geht nun darum, sie zu verbessern.

Kai Ambos

Von Kai Ambos ist erschienen: Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen. Zur impunidad in südamerikanischen Ländern aus völkerstrafrechtlicher Sicht. edition iuscrim, Freiburg i.Br., 1996, ISBN 3-86113-987-7.

Das Ende eines Sonderweges

Tatsächlich kamen zentrale Sektoren der costarikanischen Wirtschaft in den letzten Jahren durch externe Schocks und hausgemachte Probleme unter Druck. Von besonderer Bedeutung war dabei der Verfall der Kaffeepreise zu Beginn der neunziger Jahre, ausgelöst durch den Zusammenbruch des Internationalen Kaffeeabkommens. Dem Kaffeanbau kommt aufgrund der langen Anbautradition und seiner breiten sozio-ökonomischen Basis eine entscheidende Rolle in der costarikanischen Gesellschaft zu. In den Nachkriegsjahrzehnten wurde die Kaffeproduktion kontinuierlich ausgebaut, es entstanden viele ganzjährige und saisonale Beschäftigungsmöglichkeiten und Einkommensquellen. Der Preisverfall bei gleichzeitigem Anstieg der Produktionskosten brachte viele kleinbäuerlicher Erzeuger in eine existentielle Krise. Zeitgleich reduzierte die EU durch ihre Quotenpolitik die Ausfuhrmöglichkeiten für costarikanische Bananen, was nicht nur die im Land agierenden transnationalen Konzerne sondern in besonderem Maße die nationalen Erzeuger in Schwierigkeiten brachte. Kaum sind die offenen Krisenerscheinungen in diesen wichtigen Segmenten des Agrarexports halbwegs überwunden, zeigen sich in jüngster Zeit Krankheitsymptome in Industrie und Handel in Form gehäufter Firmenpleiten und der Schliessung von Produktionsstätten internationaler Firmen. Auch der internationale Tourismus als neuer Hoffnungsträger beginnt, den CostarikanerInnen Kopfzerbrechen zu bereiten: Nach mehreren Jahren mit zweistelligen Zuwachsraten bei den Touristenzahlen gibt es 1995/96 Stagnation in wichtigen Marktsegmenten.
Zu diesen eher extern verursachten Krisenerscheinungen kommen Probleme hinzu, die vor allem durch interne politische Entscheidungen selbst zu verantworten sind. So verfolgt die amtierende Regierung Figueres derzeit eine Austeritätspolitik mit dem Ziel, die über viele Jahre angehäufte interne Staatsverschuldung abzubauen. Rückgang staatlicher Ausgaben und Reduzierung der öffentlichen Beschäftigung sowie hohe Konsumsteuern (bei nicht-essentiellen Gütern und Diensten liegen diese derzeit bei 25 Prozent) wirken notwendigerweise als Konjunkturbremse. Zudem liegen auch im privatwirtschaftlichen Bereich die Lohnzuwächse unterhalb der Inflation. Die hohen Kreditzinsen (derzeit bei 24 Prozent) verhindern private Investitionen, die das Wirtschaftswachstum ankurbeln könnten.

Wandel des costarikanischen Entwicklungsmodells?

Steht angesichts der skizzierten ökonomischen Probleme und ihrer unverkennbaren sozialen Folgen das costarikanische Modell eines sozialverträglischen Entwicklungsprozesses vor dem Ende, wie viele CostarikanerInnen befürchten, oder handelt es sich lediglich um vorübergehende Spannungen im notwendigen Umbauprozeß von Wirtschaft und Gesellschaft?
Beide Fragen greifen zu kurz. Einerseits kann kaum Zweifel daran bestehen, daß Costa Rica nach wie vor günstige Vorraussetzungen für einen nachhaltigen und breitenwirksamen Entwicklungsprozeß aufweist. Ein im regionalen Vergleich sehr hoher Grad an Grundbildung, ein starkes Segment von Familienbetrieben in der Landwirtschaft und eine breite Basis von einheimischen und zugewanderten Unternehmern sind einige Faktoren, die für eine hohe Innovations- und Transformationsfähigkeit der costarikansichen Gesellschaft sprechen. Andererseits gehen die erkennbaren und teilweise beschriebenen Krisensymptome über eine schlichte Konjunkturflaute deutlich hinaus. Die derzeitige Krise in Costa Rica kann man auch als Ausdruck einer unvollständigen und inkonsistenten Weltmarktöffnung begreifen. Sie kann nur nur über eine aktive, strukturschaffende Politik und nicht über ein Warten auf das “Wiederanspringen des Konjunkturmotors” überwunden werden.
Costa Rica hat in den 80er Jahren früher als die Nachbarländer auf ein neues, weltmarktoffenes Entwicklungsmodell gesetzt. Damit war das Land über viele Jahre weitgehend erfolgreich. Vor allem das rasche Wirtschaftswachstum “nicht-traditioneller Agrarexporte” wie Blumen, exotische Früchte führte dazu, daß Costa Rica häufig mit dem “lateinamerikanischen Tiger” Chile verglichen wurde. Für die mittelfristige Entwicklungsperspektive besonders wichtig ist dabei, daß eine große Zahl von Klein- und Mittelbetrieben sowie Genossenschaften und Produzentenvereinigungen Träger dieses Exportbooms waren. Allerdings bleiben die Beschäftigungswirkungen der neuen Exportsegmente und das Einbeziehen der kleinbäuerlicher Betriebe unzureichend.

Nachhaltige Weltmarktöffnung

Um die Weltmarktöffnung nachhaltig weiterzuführen und die sozioökonomischen Breiteneffekte zu erhöhen, ist einiges notwendig: Die Unternehmen müssen in die Lage versetzt werden, die Palette an Exportprodukten ständig auszuweiten und dabei auch in anspruchsvollere Märkte vorzudringen. Zunehmend verarbeitete Rohstoffe und Industrieprodukte müssen ausgeführt werden, das bringt ein höheres Maß an Wertschöpfung und Beschäftigng mit sich. Kleine und mittlere Betriebe in die Exportwirtschaft müssen einbezogen werden und ihre Position gegenüber Exportfirmen rechtlich abgesichert werden.
Diese stärkere Weltmarktöffnung hat bislang nur in geringem Maße stattgefunden. In den 80er Jahren reichten die politischen Entscheidungen auf der Makroebene in Verbindung mit guten Ausgangsbedingungen auf der Mikroebene – eine breite unternehmerische Basis, qualifizierte Arbeitsplätze – aus, um ein exportorientiertes Wachstum anzuregen. Demgegenüber liegen die Herausforderungen heute im Aufbau eines angemessenen, institutionellen Umfeldes für eine nachhaltige und sozialverträgliche Weltmarktintegration, was einen Umbau öffentlicher Institutionen und der Hochschulen voraussetzt, aber auch private Akteure (unternehmensbezogene Dienste) einbeziehen muß.
Diesen schwierigen Herausforderungen stellt sich die costarikanische Politik derzeit kaum. Staatlicherseits wird auf die Probleme einzelner Wirtschaftssektoren mit kurzfristigen “Feuerwehrmaßnahmen” regiert, die meist in sich wenig schlüssig wirken. So wurde für einzelne Gütergruppen kurzfristig wieder ein hoher Zollschutz eingeführt, obwohl dieser mittelfristig mit dem GATT/WTO, dessen Mitglied Costa Rica seit einigen Jahren ist, nicht vereinbar ist. Auch zukunftsträchtige Entscheidungen, zum Beispiel im Umweltbereich, sind kaum mit begleitenden Maßnahmen verknüpft und verlieren so an Wirksamkeit.
Insgesamt ist für die Bevölkerung nicht erkennbar, daß die Regierung ein mittelfristig angelegtes politisches Projekt verfolgt, welches die derzeitigen materiellen Opfer rechtfertigen und zu einer Neubelebung des costarikanischen Entwicklungsweges führen könnte. Dies trägt zweifellos dazu bei, daß Zukuftsängste und Verunsicherung in weit stärkerem Maße auftreten, als es durch die wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren gerechtfertigt erscheint.

Literaturhinweis:
Andreas Stamm: Strukturanpassung im Costarikanischen Agrarsektor: Neue Perspektiven für die Entwicklung ländlicher Räume? Lit-Verlag Münster

Guanacos und jaguares

Selbst Kommunalwahlen versetzen Chile in eine Art Ausnahmezustand: Wenn sich das Volk in Sachen Demokratie übt, werden Selbstverständlichkeiten des neoliberalen Alltags außer Kraft gesetzt. Supermärkte und Läden, die gewöhnlich an 365 Tagen im Jahr bis in den späten Abend hinein zum Kaufrausch einladen, bleiben diesmal geschlossen; bereits am Abend zuvor werden Gesetze aktiviert, die von einem tiefen Mißtrauen in die Einhaltung der ersten Bürgerpflicht sprechen: Einer im Volksmund ley seca genannten Regelung zufolge wird jeglicher Alkoholausschank und -verkauf streng geahndet, Versammlungen von mehr als fünf Personen sind unzulässig. Der den feierlustigen ChilenInnen heilige Samstag-abend fällt der “staatsbürgerlichen Verantwortlichkeit” zum Opfer.

Wahlkampf nach allen Regeln des Marktes

Auch im Jahre 6 nach der Machtübergabe an eine wieder demokratisch gewählte Regierung ist ein Urnengang auf nationaler Ebene noch keine Routinehandlung für die beinahe neun Millionen stimmberechtigten ChilenInnen. Und dennoch ordnete sich der Aktionismus des demokratischen Machtkampfes den weitgehend verinnerlichten Marktgesetzen unter. Uneingeweihten BetrachterInnen mochten die schier allgegenwärtige KandidatInnenwerbung auf allen Mauern und Straßen und die lautstarken Autokarawanen als Ausdruck eines überbordenden politischen Idealismus erscheinen, zu dem Chile nach zwei Jahrzehnten der Apathie zurückgefunden hat. Tatsächlich ist es lediglich eine Frage der Parteikassen und der persönlichen Investitionsfähigkeit und -bereitschaft der KandidatInnen, ob für Stimmung gesorgt wird.

Die heimlichen Kandidaten: Foxley und Lagos

Im Vorfeld des 27. Oktobers mangelte es an Stimmung nicht. Schließlich hatten sich Regierung und Opposition tatkräftig darum bemüht, die Ergebnisse der in den 341 Gemeinden des Landes abgehaltenen Wahlen zu einem politischen Stimmungsbarometer von überregionaler Tragweite aufzuwerten: Politische Gestaltungsmöglichkeiten bieten sich auf Gemeindeebene in einem weiterhin stark zentralistischen Chile kaum. In der Tat markierte das Datum die Halbzeit der aktuellen Regierungsperiode und den Auftakt zu den 1997 anstehenden Parlamentswahlen, bei denen über die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses und eines Teils der Senatorenämter entschieden wird.
Mit besonderer Nervosität – oder Zuversicht – erwarteten die Führungsriegen zweier am Regierungsbündnis Concertación beteiligten Parteien den Wahlabend: Innerhalb der nächsten Monate steht die Bestätigung des Vorsitzenden der Christdemokraten (PDC), Alejandro Foxley und seines Amtskollegen Jorge Schaulsohn von der sozialdemokratischen Sammelpartei Partido por la Democracia (PPD) auf der Tagesordnung. Foxley, der sich mit seiner wenig populistischen Amtsführung des Finanzministeriums in der ersten Regierung der Concertación kaum Anhänger in der chilenischen Bevölkerung geschaffen hat, gilt in der PDC immer noch als sicherer Kandidat der Koalition bei den nächsten Präsidentschaftswahlen. Daß ihm der PPD-Sozialist Ricardo Lagos, zur Zeit Minister für öffentliche Infrastrukturmaßnahmen, den Sessel in der Moneda abspenstig machen möchte, ist ein offenes Geheimnis. Auf seiner Haben-Seite kann Lagos, dessen Partei nicht einmal an die Hälfte christdemokratischer Wahlergebnisse herankommt, eine enorme Popularität verbuchen. Noch bewahrt er sich bei vielen ChilenInnen das Image des Mannes, der es 1988 als einer der ersten wagte, Pinochet öffentlich und live im Fernsehen anzuklagen.

Christdemokratische Schlappe

Die politische Landkarte, die sich am Abend des 27. Oktobers geformt hat, mißfällt der PDC am meisten. Entgegen allen Erwartungen steht sie als die Verliererin inmitten einer erfolgreichen Concertación da: Von den beinahe drei Prozentpunkten, die die Regierungsallianz im Vergleich zu den letzten Kommunalwahlen 1992 zulegen konnte (von 53,3 auf 56,02 Prozent), fiel nicht der geringste Teil auf die Partei von Präsident Eduardo Frei ab – im Gegenteil. Um annähernd drei Prozente schrumpfte sie zugunsten ihrer tendenziell sozialdemokratischen Bündnispartner zusammen. Sozialisten (PS), PPD und Radikale konnten jeweils zwischen 3 und 1,5 Prozent wachsen. Spektakulär erscheint diese Gewichtsverschiebung vor allem im Hinblick auf die Rolle, die nun der kürzlich aus der Wiedervereinigung von Partido Radical und Socialdemocracia hervorgegangenen PRSD zukommen wird. Als Zünglein an der Waage kann die älteste Partei Chiles, die im vergangenen Jahrhundert als bürgerlich-liberale und laizistische Bewegung entstanden war und nach ihrer Spaltung 1971 zumindest teilweise an der sozialistischen Regierung Allendes teilhatte, sich nach Belieben auf die “linke” oder “rechte” Seite der Concertación schlagen. Ob sie zusammen mit dem Block PS/PPD die Christdemokraten zur Minderheit macht oder den entgegengesetzten Weg wählt, hängt im weiteren von der innerkoalitionären Diplomatie ab.

UDI im Aufwind

Strahlende Gesichter auch bei der Rechten: Sie hat zwar um ein Haar das “historische Drittel” von 33 Prozent verfehlt, befindet sich jedoch weiterhin im Aufwind. Profitieren konnten die beiden untereinander in stetem Clinch liegenden Parteien – die seit Jahr und Tag pinochettreue Unión Democrática Independiente (UDI) und die gemäßigtere Renovación Nacional (RN) unter ihrem jungcharismatischen líder Andrés Allamand – vom Absturz des Errazurismo, der rechtspopulistischen Sammlungsbewegung von Großunternehmer und Allround-Talent Francisco-Javier Errázuriz. Die Quittung für deren Uneinigkeit bei der Kandidatenauslese und die programmatische Leere jenseits der Person ihres Caudillos war ein Einbruch von über 5 Prozent der Stimmen.
Auch die Rechte hat spätestens seit dem 27. Oktober einen handfesten Führungsstreit. Ungeachtet der Tatsache, daß RN mit gut 18 Prozent das rechte Lager eindeutig dominiert und ihre Position als landesweit zweitstärkste Partei ausgebaut hat, setzte der Erdrutschsieg des UDI-Kandidaten Joaquín Lavín im Stadtteil der Hauptstadt Las Condes, Wohnort der oberen Zehntausend, neue Akzente. Die Amtsführung des Chicago-Boy, der es sich nicht nehmen ließ, zu wichtigen Fragen der Gemeindepolitik plebiszitäre Abstimmungen durchzuführen, wurde jenseits aller Parteiloyalitäten mit einem Ergebnis von knapp 80 Prozent belohnt. Der Bürgermeister von Las Condes als künftiger Präsident? Las Condes ist nicht Chile, lautet die Devise bei RN, der kein spektakulärer Einzelsieg gelang.
An Erfolgen wie dem Lavíns läßt sich freilich auch die fehlende Aussagekraft landesweit kumulierter Stimmenanteile für einzelne Parteien ablesen. Die ChilenInnen haben in den meisten Gemeinden mehr Wert auf eine glaubwürdige Administration und auf herausragende Persönlichkeiten, denn auf Parteiprogrammatik und Ideologie gelegt. In der Ersten Region, in der die PDC mehrere Parlamentarier stellt, kam sie angesichts populärer sozialistischer Bürgermeister nicht einmal auf 8 Prozent; ihr Kandidat für Santiago-Centro, Jaime Ravinet, steht mit über 45 Prozent Zustimmug auf der Liste der besten Ergebnisse im Land, obwohl sein Wahlkreis 1993 keinen einzigen christdemokratischen Abgeordneten oder Senator in den Kongreß von Valparaíso entsenden konnte.
Schlechte Karten hatte bei den Kommunalwahlen die linke Opposition, die dank der “binominalen Mehrheitswahl” auf nationaler Ebene auch eine außerparlamentarische ist. Zwar fielen die Kommunisten (PC) nicht unter die Schmerzgrenze von fünf Prozent, in ganz Chile sind sie jedoch nicht einmal mit einer Handvoll ihrer Politiker in den Gemeinderäten vertreten. Dabei hatten einige KandidatInnen der PC beachtliche Erfolge erzielt. Die Unterrepräsentierung ist auch in diesem Fall dem komplizierten System der Sitzverteilung geschuldet, das qua subpacto vielen Verlierern im Schlepptau erfolgreicher Bündnispartner den Weg in die concejos municipales eröffnete.
Keinen Profit konnte die PC aus dem zunehmend aufgeheizten sozialen Klima im Land ziehen. Seit mehreren Monaten meldet sich die Arbeitnehmergruppe, die eine reale Möglichkeit zu breitem gewerkschaftlichen Zusammenschluß – und zum Streik – besitzt, zu Wort: der öffentliche Dienst. Ist es der einst durch die Militärs zerschlagenen und in der Demokratie nur mühsam wiedererweckten Gewerkschaftszentrale CUT durch die höchst unternehmerfreundliche Arbeitsgesetzgebung kaum möglich, betriebsübergreifende Arbeitsniederlegungen zu organisieren, so protestieren Lehrer, Verwaltungsangestellte und Krankenschwestern mit wachsendem Unmut gegen miserable Löhne und inhumane Wochenarbeitszeiten. Anfang Oktober waren die LehrerInnen an der Reihe, die unter der Führung des Kommunisten Jorge Pavez auf die Straße gingen. Trotz anhaltenden Beteuerungen, das Haushaltsgleichgewicht vertrage keine Gehaltsangleichungen, und trotz der Auswechslung des Erziehungsministers (neben vier anderen Kollegen in politisch strapaziösen Ministerien) erreichte die Lehrerschaft teilweise ihre Ziele. Keine einschneidenden Verbesserungen, wenig Aussicht auf eine Verringerung der bis zu 70 Wochenstunden, aber immerhin merkliche Erhöhungen ihrer Bezüge.

Der öffentliche Dienst geht auf die Straße

Nach diesem relativen Erfolg ließen sich die Gemeindeangestellten nicht zweimal bitten und traten in den Ausstand, mit der zusätzlichen Drohung, die Durchführung der Wahlen zu boykottieren. Aus den staatlichen Krankenhäusern, die für die Versorgung des nicht vom privatisierten Gesundheitssektor abgesicherten Teils der Bevölkerung zuständig sind, drangen ähnliche Botschaften, mit dem Hinweis auf die katastrophale Ausstattung und den drohenden Bankrott.
Daß sich die zunehmende soziale Mobilisierung nicht stärker in den Wahlergebnissen niederschlug, hat auch mit dem instrumentellen, eher unpolitischen Charakter der erhobenen Forderungen zu tun. Nicht lange auf sich warten ließen auch kritische Stimmen, die gerade im Arbeitskampf der – meist noch zu Pinochets Zeiten eingestellten – Gemeindeangestellten einen von reaktionären Kräften angestoßenen Versuch der Destabilisierung von Freis Regierung erkennen wollen. Wie dem auch sei, die chilenische Demokratie bedient sich gerne einmal althergebrachter Rezepte zur Befriedung: Als die Streikenden zusammen mit der CUT am 23. Oktober zu einer nicht genehmigten Demonstration in unittelbarer Nähe des Präsidentenpalastes aufriefen, wurden die in letzter Zeit seltener in Erscheinung getretenen Wasserwerfer und Tränengaskanonen von Spezialeinheiten der Polizei ohne weitere Rücksichtnahme eingesetzt. Das erneute Auftauchen der im Volksmund guanacos genannten Wasserwerfer stellte für die Kolumnisten der Zeitschrift Hoy eine Rückkehr zur landesüblichen Fauna dar: Seit geraumer Zeit bedenken selbstbewußte chilenische Politiker ihr prosperierendes Land mit dem Ehrentitel jaguar – eine Art südamerikanische Variante der ostasiatischen “Tiger”.
Das repressive Erbe der Diktatur kam auch zwei Tage nach dem Wahltag zum Vorschein, als Gladys Marín, die Generalsekretärin der PC auf offener Straße von einem Sonderkommando der Kriminalpolizei verhaftet wurde. Grundlage dafür war eine Verleumdungsklage des Heeres, nachdem die Politikerin am 11. September, dem Jahrestag des Putsches, in einer Rede vor dem zentralen Denkmal für die unter dem Militärregime Verschwundenen Pinochet mit deutlichen Worten zur Rechenschaft gezogen hatte. Freilich wurde die Klage etwas kleinlaut zurückgezogen, als die Vorsitzenden aller Regierungsparteien geschlossen Solidarität mit der sonst eher ungeliebten Kollegin bewiesen und ihr noch am selben Tag eine Visite in der Untersuchungshaft abstatteten.

Politikverdrossenheit jenseits der Anden

Spätestens bei den Kongreßwahlen im kommenden Jahr wird sich klären, wieviel Engagement die eigentlichen Parteien mit ihrer Programmatik bei der Bevölkerung auslösen können, und ob die große Masse der Zukurzgekommenen weiterhin die Administration der concertacionistas belohnt. Ein deutliches Zeichen ihres Desinteresses an einer von Technokraten gestalteten Politik ohne nennenswerte Alternative haben die beinahe zwei Millionen Wahlberechtigten gesetzt, die sich auf unterschiedliche Art und Weise enthielten. Über eine Million – vor allem NeuwählerInnen – verzichteten auf den Eintrag in die Wahlregister, knapp 500.000 Wahlpflichtige ließen sich unter Hinweis auf Krankheit oder zu große geographische Entfernung von ihrem Wahlort freistellen. Etwa ebensoviele sahen zwar keine Möglichkeit, ihrer Verpflichtung nicht nachzukommen – Wahlverweigerung wird mit empfindlichen Geldstrafen sanktioniert -, brachten aber ihren Verdruß zum Ausdruck, indem sie ungültige Stimmzettel abgaben.

Kindesmißbraucg in der “Kolonie der Würde”

Eine Frau hatte Schäfer im Juni 1996 beschuldigt, ihren Sohn sexuell mißbraucht zu haben. Ob es zu einer Verhaftung und einem späteren Prozeß kommen wird, bleibt abzuwarten. Im Laufe der mittlerweile 35-jährigen Geschichte der Sekte auf chilenischem Boden hat es ihr Führer Paul Schäfer immer wieder geschafft, Verhaftungen und Nachprüfungen zu entgehen. Schon 1961, noch in Deutschland, war Paul Schäfer wegen Kindesmißbrauchs angezeigt worden. Die Staatsanwaltschaft in Bonn kam damals nicht mehr dazu, die Ermittlungen erfolgreich zu Ende zu führen. Bevor weitere Kinder gehört und Schäfer verhaftet werden konnte, hatte er sich bereits nach Chile abgesetzt. Seine Anhänger folgten ihm später. Dort tauchte er erst einmal auf dem großen Landgut der Sekte unter. Offiziell war er wieder aus Chile ausgereist. Die Sektenmitglieder erklärten, er sei tot. Erst nachdem die Delikte verjährt waren, leugnete die Sekte nicht mehr die Existenz ihres Führers, der bis heute darauf bedacht war, nie eine offizielle Funktion in der Sekte wahrzunehmen. An den Vorwürfen der chilenischen Mutter wird es keinen Zweifel geben. Ehemalige Sektenmitglieder bestätigen, daß sich Schäfer auch in Chile an Jungen vergangen hat. Zwei “Springer”, wie sie in der Sektensprache genannt wurden, mußten ihn ständig begleiten.
Noch immer leben in der Colonia Dignidad, nahe der Provinzstadt Parral in Südchile, 250 deutsche Staatsangehörige und 50 Chilenen. Ende 1995 waren schon einmal Haftbefehle gegen zwei führende Mitglieder der Sekte, Herman Schmidt und Kurt Schnellenkamp, wegen Steuerhinterziehung in Millionenhöhe ergangen.

Die Colonia Dignidad als Folterlager der DINA

Diese Haftbefehle waren offensichtlich die Folge des Abschlußberichtes des “Untersuchungsausschusses zur Auflösung der Rechtspersönlichkeit der Colonia Dignidad” des chilenischen Abgeordnetenhauses vom 15. November 1995. Die Verhafteten kamen gegen Zahlung einer Kaution frei. Die Kommission unter Leitung des sozialistischen Abgeordneten Jaime Naranjo hatte zahlreiche Verstöße gegen chilenische Gesetze festgestellt, auch wegen nicht gezahlter Steuern. Zur Unterdrückung der Rechte der Gruppenmitglieder hatte die Kommission festgestellt: “Es scheint weiterhin starke Einschränkungen der individuellen Bewegungsfreiheit der Einwohner der früheren Kolonie und im Briefgeheimnis zu bestehen.
Zu der Tatsache, daß die Colonia Dignidad nach dem Pinochet-Putsch im Jahre 1973 als Folterlager der DINA diente, sagte der Kommissionsbericht nichts. Darum bemüht sich eine Gruppe von etwa 80 ChilenInnen, die damals von der Geheimpolizei verhaftet, in die Colonia Dignidad verschleppt und dort gefoltert worden waren.
Derweil lebt die Colonia Dignidad weiter. Zwar hatten die Berufungen gegen die Auflösung der “Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad” durch das Justizministerium vom 31.1.1991 keinen Erfolg, die Sekte hatte jedoch schon vorher sämtliche Vermögensgegenstände und Grundstücke auf andere Gesellschaften, die im Eigentum von Sektenmitgliedern standen, übertragen, so daß das Auflösungsdekret praktisch ins Leere lief.
(Die LN haben über die Colonia Dignidad seit Jahren immer wieder berichtet, zuletzt in den LN 227, im Dezember 1989 gab es ein Sonderheft und im Januar 1988, Nr. 166, ein Schwerpunktheft zur Colonia Dignidad)

“No pasarán” – schon passé?

Zwei Schwerpunkte sollten auf diesem BUKO-Kongress bearbeitet werden: Die geschichtlichen Bezugspunkte der lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen – von den kolonialen Unabhängigkeitskämpfen über die Periode der bewaffneten nationalen Befreiungsbewegungen bis hin zum Zusammenbruch des Realsozialismus und der mehr oder weniger zeitgleichen Abwahl der Sandinisten – sowie die aktuelle Situation der linken Parteien und Bewegungen in Lateinamerika, als eines Spektrums, das von der die Massen einbindenden PT in Brasilien bis zur EZLN mit ihrer neuen Art des Diskurses und ihrer eigentümlichen und faszinierenden Rhetorik reicht.
Linke Traditionen
Zum Auftakt spannte Wilfried Dubois den geschichtlichen Bogen emanzipatorischer Bewegungen in Lateinamerika. Angefangen vom Tupac Amaru-Aufstand in Peru Ende des 18. Jahrhunderts und den Sklavenaufständen in Haiti, über die mexikanische Revolution und die Werdegänge der verschiedenen lateinamerikanischen KPs in den Zeiten der 3. Internationale, über die Rebellentruppe von Sandino, der vergeblichen Auflehnung gegen die Militärregierungen in Guatemala und El Salvador, bis zur Landung der Granma am 2. Dezember 1956 in Kuba.
Anschließend beschäftigte sich Knut Rauchfuß mit der Entwicklung der Stadt- und Landguerilla von 1959 bis 1976. Eine Periode, die in erster Linie durch den von Che Guevara und Regis Debray geprägten Begriff des foquismo gekennzeichnet ist: Die bewaffneten Aktionen ländlicher Widerstandsgruppen (foco = Brandherd, Brennpunkt) sollen schrittweise einen allgemeinen Volksaufstand auslösen.
Eine andere bestimmende Debatte dieser Zeit war die Kontroverse bewaffneter Kampf versus Revolutionierung der Gesellschaft durch das Parlament. In Chile beispielsweise wurden diese gegensätzlichen Standpunkte einerseits durch die revolutionäre MIR-Bewegung und andererseits durch die regierungsbildende Unidad Popular vertreten.

Nationaler Befreiungskampf im Hinterhof

In den 70er Jahren, zu einer Zeit als der foquismo bereits an Bedeutung verlor, betraten die mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen die politische Bühne. Allen voran, aufgrund ihres militärischen Sieges eindeutige Zeichen setzend, die FSLN.
Albert Sterr ging in einem Referat über die mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen auf die sehr unterschiedlichen Wurzeln und Bezugspunkte ihrer heterogenen Mitgliederschaft ein. Sie bezogen sich auf so unterschiedliche Quellen wie die der Überlebenden der Bewegungen der 60er Jahre (Nicaragua, Guatemala), der Basiskirche (El Salvador, Nicaragua), und den diskriminierten ethnischen Mehrheiten (Guatemala).
Die gemeinsame Basis, auf der diese Bewegungen wachsen konnten, war die schwindende politische Legitimation gewalttätiger Familien-/Militärdiktaturen, die durch offensichtlich gescheiterte “Modernisierungsprojekte” zusätzlich geschwächt wurden. Hinzu kam eine in weiten Teilen der Bevölkerung nationalistisch-antiimperialistische Haltung, die sich als Folge der klassischen “Hinterhof der USA”-Situation entwickelte.

Abgewürgte Konsruktivität

Eine Ende der 70er Jahre in Europa sozialdemokratisch geprägte Politik, die “sanfte” US-Außenpolitik der Carter-Regierung sowie die eigenständige, prolateinamerikanische Außenpolitik Mexikos und Venezuelas ließen Spielräume für eine revolutionäre, von den Massen akzeptierte Politik in Mittelamerika und erleichterten den Aufbau und Zusammenhalt der Befreiungsbewegungen unter Einbindung unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte.
Albert Sterr verwies hier auf die Politik der FSLN sowie auf die bedauernswerte Tatsache, daß diese nach mehreren Seiten offene Herangehensweise im Grunde nach 1982/83 keine substantielle Änderung mehr erfuhr, sondern schlichtweg der externen aufoktroyierten Aggression zum Opfer fiel. Dieser Außendruck – der bereits während der Carter-Administration einsetzte – führte zu einer Militarisierung beziehungsweise Lähmung der Gesellschaft und damit zum Abbruch konstruktiver politischer Entwicklungsprozesse.

Von der Uniform zur Krawatte

In der heutigen Situation der teilweisen Einbindung der ehemaligen Freiheitskämpfer in die legale politische Bühne stellt sich, so Albert Sterr, erneut eine Legitimationsfrage. Militärische Befehlshaber werden zu kompromißfreudigen zivilen Politikern und gehen auf demagogische Verhandlungsangebote ein.
Eine Umorientierung, die sich, so Sterr, bereits vor dem Zusammenbruch des Realsozialismus 1989 abzeichnete. Dieser noch keineswegs vollendete Prozeß ist widersprüchlich und schmerzhaft, ohne jedoch bislang zu direkten Auflösungserscheinungen der ehemaligen Befreiungsbewegungen zu führen. Hier spätestens stellten sich die Fragen nach dem Verbleib des ursprünglichen linken Anspruchs und den realistischen Alternativen, die diese Bewegungen heute noch haben: Ist eine Integration in die Institutionen des bestehenden politischen Systems der erstrebenswerte Kompromiß? Muß es früher oder später zu Spaltungen kommen? Ist die Teilnahme innerhalb der “Zivilgesellschaft” nicht letztendlich ein “Rübergezogenwerden”? Dies alles muß sich, speziell was die aktuelle Entwicklung in El Salvador und Guatemala angeht, noch herausstellen.

Ökonomische Programme “unter aller Sau”

Diskutiert wurden auch die wirtschaftlichen Konzepte der Befreiungsbewegungen. Klammert man den Krieg als kontraproduktiven Faktor aus, so bleibt vor allem Konzeptlosigkeit. Die SandinistInnen zum Beispiel beschränkten sich auf lediglich partielle Eingriffe in den Privatbesitz. Betrachtet man die ökonomischen Programme, die die militärisch mehr oder weniger erfolgreichen Befreiungsbewegungen auf die Beine stellten, so muß man – ungeachtet ihrer Nicht-Durchsetzbarkeit aufgrund der externen Bedrohung – feststellen, so Sterr, “daß sie unter aller Sau waren”.

Wegbereiter für Demokratie

Insgesamt läßt sich jedoch feststellen, daß es den mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen immerhin gelang, die Prozesse absoluter Verarmung und Überausbeutung zumindest zu bremsen, sowie Freiräume zu schaffen, in denen Begriffe wie Demokratie und Meinungsfreiheit wieder mit Inhalten gefüllt werden. Man mag angesichts der abrupten Kehrtwendungen und Sozialdemokratisierung ehemaliger Kampfgenossen anderer Meinung sein und diese als moralische Verräter empfinden: Vom bequemen Diskussionsschemel aus verurteilt sich’s leicht. Es gilt letztendlich zu berücksichtigen, daß Politiker wie zum Beispiel Joaquín Villalobos in El Salvador immerhin jahrelang ihr Leben im Untergrund für die Bevölkerungsmehrheiten eingesetzt haben – ein Engagement ohne das heute vieles nicht denkbar wäre.
Bei der Beurteilung des Scheiterns oder Nicht-Scheiterns von lateinamerikanischen Guerillabewegungen sollte man jedoch differenzieren: was ist wo und warum gescheitert? So kann man etwa die eher pragmatischen Bewegungen Mittelamerikas nicht mit dem dogmatisch verkrusteten Sendero Luminoso in die gleiche Guerilla-Schublade stecken. Es gilt sowohl regional als auch zeitlich, und nicht zuletzt auch ideologisch, zu unterscheiden und je nachdem unterschiedliche Erklärungsmodelle zu finden.

Kontinentale Vernetzung – das Foro Sao Paulo

Alfonso Moro, ein der FZLN nahestehender, zur Zeit in Paris lebender mexikanischer Journalist und Historiker, gleichzeitig der einzige lateinamerikanische Linke unter den Vortragenden, dokumentierte aus seiner Sicht die Lage der Linken und die Ansätze zur Koordination, die sich seit 1990 im Foro Sao Paulo manifestieren. Nach Moros Einschätzung könne man von einem Scheitern der Linken in Lateinamerika nicht sprechen, obwohl Unkoordiniertheit eines ihrer Charakteristika sei. Er sieht eine dringende Notwendigkeit darin, die Heterogenität und Diversität der Linken und ihre von Land zu Land unterschiedliche Verankerung zu beachten. So stehen etwa der brasilianischen PT, mit einer Basis von 600.000 Mitgliedern, über 50 linke Splittergrüppchen im Nachbarland Argentinien gegenüber. Eine derartige Vielfalt an einen Tisch zu bringen, könnte man wohl als das Hauptanliegen des Foro Sao Paulo bezeichnen, das 1990 auf Initiative der kubanischen KP und mithilfe der PT zum ersten Mal stattfand. Das Foro sollte keine Ersatz-Internationale werden, sondern die verschiedenen linken Strömungen des Kontinents zusammenbringen. Positiv ist zu den sechs Foros, die in jährlichem Abstand stattgefunden haben, anzumerken, daß sie als Novum einen anti-dogmatischen Diskussionsraum für alle “ista’s” und “ismo’s” bieten, und die neuen Eckpfeiler linker Politik auf dem Kontinent thematisieren: den Kampf gegen den Neoliberalismus, Demokratisierung und Wiederannäherung an die Macht.

Die neuen Lehren des Don Durito

Zum Abschluß analysierte Jutta Klaß die neue Art der ZapatistInnen, linke Politik zu machen. Im Mittelpunkt ihres Vortrags standen der Diskurs der EZLN, ihr an indigenen Traditionen orientiertes Demokratieverständnis sowie die aktuelle, brisante Situation in Mexiko nach dem Auftauchen der EPR-Guerilla.
Durch das Anknüpfen an Volks- beziehungsweise Maya-Mythen zeigt sich ein Lernprozeß innerhalb des zapatistischen Aufstandes. Das Aufgreifen indigener Konzepte innerhalb des Diskurses bedeutet nicht nur einen Erfrischungseffekt, sondern auch einen Bruch mit den sattsam bekannten Avantgarde-Traditionen und somit ein Bekenntnis dazu, sich tatsächlich für deren ureigenste Forderungen einzusetzen: Besagte Absage an die Machteroberung, die Impulse an die Basis zur Selbstorganisation, ein nicht nur formales, sondern an die konkrete Praxis in den Indígena-Gemeinden angelehntes Demokratieverständnis, die Eingliederung sozialer Bewegungen und die Integration eines historischen Selbstbewußtseins aus 504 Jahren Widerstand.
Letzteres ist auch treibender Motor und nach außen gekehrte Legitimation der neu aufgetretenen Guerilla EPR: sie beziehen sich auf die Guerrilla-Führer Cabañas und Vasquez aus den siebziger Jahren. Wesentliche Unterschiede gegenüber den Anliegen der EZLN liegen jedoch zum einen im Revolutionsprinzip – die EPR votiert für eine militärische Option, für die Machteroberung und gegen Verhandlungslösungen – und in den praktizierten Rekrutierungs- und Finanzierungsmethoden, die an Caudillismo erinnern. Obgleich es keine offizielle Abgrenzung zwischen EZLN und EPR gibt, warnt Subcomandante Marcos – der sich seitens der EPR den Vorwurf gefallen lassen muß, daß mit Poesie keine Kriege zu gewinnen seien – doch vor einer potentiellen Kontraproduktivität dieser neuen Guerilla, wenn auch deren Auftauchen vermutlich letztendlich unvermeidbar war.
Nach Moros Einschätzung ist es weder richtig noch angebracht von einem Scheitern der lateinamerikanischen linken Befreiungsbewegungen zu sprechen. Wenn auch das ursprünglich durchaus im Vordergrund stehende Ziel einer politischen Umwälzung in keinem der zu Popularität gelangten Fälle erfolgreich umgesetzt werden konnte, so muß man doch die Teilerfolge in Rechnung stellen. Stichworte wie Demokratisierung, Meinungsfreiheit sowie die Aufklärung von vertuschten beziehungsweise verdrängten Menschenrechtsverbrechen haben heute einen hohen Stellenwert.
Die lateinamerikanische Linke ist – so Alfonso Moro – durchaus lebendig. Sie ist jedoch auch mit einigen enormen Herausforderungen konfrontiert, unter denen als erstes der Neoliberalismus zu nennen ist. Weitere zu thematisierende Aspekte sind die Konfrontation mit der politischen Instabilität (wie derzeit in Mexiko), die Institutionalisierung linker Politik (wie etwa im Falle der brasilianischen PT), sowie die eher “neuen” Themen wie Frauen, Migration, Umwelt und kultureller Identität.
Bei der Abschlußdiskussion des Treffens in Radevormwald wurde bedauert, daß der Diskussionsteil zu kurz kam. Die Realisierung eines “Foro Remscheid Lennep” innerhalb von 2 1/2 Tagen wäre natürlich wünschenswerter gewesen als eine Bestandsaufnahme im Sinne eines “von dann … bis dann… ist dies erreicht, dies nicht erreicht worden”. Es gelang jedoch, mit dem kompakten Programm eine Aktualisierung und Verortung des linken Spektrums in Lateinamerika vorzunehmen. Eine Art Grundlage – diskutieren kann man ja immer noch.

Editorial Ausgabe 252 – Juni 1995

Fast zwanzig Jahre nach dem Mordanschlag auf Orlando Letelier, den chilenischen Außenminister unter Präsident Allende, wurden jetzt in letzter Instanz die Urteile gegen Ex-Geheimdienstchef Manuel Contreras und seinen Stellvertreter Pedro Espinosa Bravo bestätigt. Für beide führt juristisch kein Weg mehr am Gefängnis vorbei. Eigentlich ein eindeutiger Schlußpunkt unter einem Prozeß mit klar verteilten Rollen nach den Regeln des chilenischen Ubergangsprozesses. Nur spielt nun Contreras nicht mit und weigert sich, die Haftstrafe anzutreten.
Dabei schien der Fall zur Zufriedenheit (fast) aller zuendezugehen. Contreras sollte dar Bauernopfer sein, um das leidige Thema der Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur endlich abzuhaken. Die Regierung wollte nach außen Willen und Fähigkeit demonstrieren, daß sie Verbrechen der Diktatur juristisch verfolgte, ohne damit größere Konflikte zu riskieren.
Für die Menschenrechtsgruppen bedeutet dar Urteil einen kleinen Erfolg und eine, wenn auch begrenzte, Genugtuung. Zwar kritisierte beispielsweise Fabiola Letelier, Schwester des i Ermordeten und als Anwältin am Prozeß beteiligt, das geringe Strafmaß von knapp sieben und knapp sechs Jahren. Die meisten Chileninnen aber akzeptieren das Urteil, zu sehr würde ein weiteres Rühren in der Vergangenheit die so geschätzte Ruhe und Stabilität stören.

Das Militär war zerstritten über die Frage der Verurteilung, und Putschgerüchte bestimmten in den Tagen vor der Urteilsverkündung die öffentliche Diskussion. Alle blickten ängstlich auf General Pinochet. Würden Verfahren und Urteil Gnade vor seinen Augen finden? Obwohl ein Putsch Chile international völlig isolieren würde, funktionierte der Mechanismus, durch Putschgerüchte Druck zu erzeugen. Just zum Zeitpunkt der Verhandlungen über den NAFTA -Beitritt Chiles durfte das Land gegenüber den USA nicht das Bild eines Krisenherdes abgeben.
Pinochet selbst segnete dann auch das Urteil ab. Er konnte ohnehin zufrieden sein. Die Frage seiner persönlichen Verantwortung wurde im gesamten Contreras-Prozeß ausgeklammert. In einem Akt vorauseilenden Gehorsams betonten alle, es werde kein Präzedenzfall zur Aufarbeitung der Vergangen- heit geschaffen. Sogar Juan Pablo Letelier, der Sohn des Ermordeten, meinte, hier gehe “es weder um den General Pinochet noch um die Armee.”
Contreras war also der einzige, der sich nicht an die Spielregeln hielt, sondern sich in der Rolle des rebellischen Helden gefiel. Er verschanzte sich auf seinem südchilenischen Landsitz und betonte in vollmundigen Interviews mit ausgewählten Journalistlnnen seine Unschuld. Welche Druckmittel und Informationen er tatsächlich besaß, blieb unklar. Er schien sich jedenfalls der Solidarität der Armee sicher zu sein.
Nach Tagen der Unsicherheit und Spekulationen, wie seine Verhaftung erreicht werden könnte, deutete sich schließlich ein Kompromiß an: Eine Absprache zwischen Re-gierung und Armee soll es dem General iR. nun ermöglichen, sich zur Behandlung an Darmkrebs in ein Militärhospital zu begeben.
Contreras und Espinosa sind die einzigen Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur, die rechts-kräftig verurteilt wurden. Es war ein Urteil, das viel später als erwartet und nur unter massivem Druck der USA zustandekam. Zwar protestieren einzelne Offiziere weiterhin gegen das Urteil, in der Öffentlichkeit aber flacht das Interesse am Fall Contreras schon wieder ab. Die Chance, eben dieses öffentliche Interesse für eine wirkliche Aufarbeitung und Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen der Diktatur zu nutzen, wurde vertan. Wer in Chile noch darauf besteht, bleibt allein. Das ist nichts Neues, und insofern war dieses Urteil besser als gar nichts. Aber auch nicht viel mehr.

Deutsches Exil in Lateinamerika

Lateinamerika stand bei der Aufnahme von Flüchtlin­gen aus Deutschland an führender Stelle. Etwa 20 Prozent aller Emi­grantInnen fanden dort zumin­dest für eine gewisse Zeit Zu­flucht vor der Verfolgung durch das NS-Regime. Für viele war Latein­amerika anfangs jedoch nur ein Exil zweiter Wahl, was sich deutlich an der Chrono­logie der Emigration in die mittel- und südamerikani­schen Staaten zeigt. In den Jahren 1933-1937 sind wohl höchstens ein Viertel aller Lateinamerika-Flüchtlinge aus Deutsch­land eingewandert. Vor al-lem die auch früher als Ein­wan­derungsländer bevorzugten Staa­ten des “Süd­gürtels”, also Argen­tinien, Chile, Uruguay und das südliche Bra­silien, waren bis etwa 1937 eine Art Ge­heimtip für Emi­grantInnen, während in die übri­gen Län­der nur verein­zelte Personen­kreise sickerten. Auch die meisten in diesem Zeit­raum von einigen Staaten unter­nommenen Aktionen zur Auf­nahme von EmigrantInnengrup­pen betrafen in der Regel nur kleine Zahlen, die nur in Einzel­fällen die 100 überschrit­ten, – so die An­siedlung saarländi­scher Emi­grantInnen in Para­guay.
Die Erklärung für dieses Phä­nomen liegt darin, daß Latein­amerika kaum im Motivations­spek­trum von Hitler-Flücht­lin­gen angesiedelt werden konn­te. Wer nach dem erhofften Sturz der NS-Herr­schaft nach Deutsch­land zurückkehren woll­te, blieb nach Möglichkeit in einem Nach­barland, jedenfalls in Eu­ro­pa. Wer als Jude Deutsch­land den Rücken kehrte und end­gültig mit der angestammten Heimat brach, bemühte sich um die Aus­reise nach Palästina. Auch Emi­grationsbewegungen in die USA oder UdSSR waren in jener Zeit spärlich. Wer vor 1939 nach La­teinamerika emigrierte, war trotz des poli­tischen Hinter­grundes seiner Motive meistens auch eine Art Auswanderer, der sich in der Ferne eine von Be­drohungen und Repressalien freie Existenz auf­bauen wollte. Die bevorzugte Wahl der typi­schen Einwande­rungsländer des Süd­gürtels be­stätigt diese Beob­ach­tung.
Mit der weiteren Expansion des Dritten Reiches im Jahre 1938 und mit Restrik­tionen der europäischen Asylländer, welche die Flüchtlingsströme nicht mehr auf­nehmen konnten oder woll­ten, begann die Massen­emigra­tion in überseeische Länder, vor­zugsweise nach Lateinamerika. Sie hielt mit kriegs­bedingten Un­terbrechungen bis etwa 1942 an. Da die meisten lateinamerikani­schen Staaten daraufhin die Ein­wanderung bremsten und zeit­wei­lig die Grenzen völlig sperr­ten oder nur unter besonderen Be­dingungen öffneten, richtete sich der Flüchtlings­strom auch in “we­niger at­traktive” Länder. Wer unter größter Gefahr sein Leben retten wollte, ging auch nach Hon­duras oder Bolivien, ob­wohl er eigentlich nach Palä­stina oder Nordamerika emigrieren wol­lte. Man­che Länder nahmen den Cha­rakter von Wartesälen an, in de­nen Flüchtlinge bis zu ihrer mög­lichen Weiterreise vor­über­ge­hend Zuflucht nahmen. Wer in Ku­ba oder in der Domini­kanischen Republik Asyl ge­funden hatte, wartete meist auf die Weiterreise in die USA, wer nach Para­guay oder Bolivien ver­schla­gen worden war, zog oft nach Argentinien, Chile oder Uru­guay.
Fluchtwege und Fluchthelfer
Die Wege, auf denen deut­sche Flüchtlinge nach Lateinamerika ge­langten, wurden im wesentli­chen vom Zeitpunkt der Emigra­tion und von den Emigrations­motiven bestimmt. Es gab vom Feb­ruar 1933 bis zum Oktober 1941 eine vom NS-Regime ge­dul­dete legale Auswanderung aus Deutschland. Ihr Zahlenver­hält­nis zur fluchtartigen Emi­gration schwankte erheblich und stand 1939 zu dieser im Verhält­nis von 7:1. Von den rund 78.000 jüdischen Emi­grantInnen dieses Jahres gin­gen etwa 13.000 nach Latein­amerika, in der Regel von Hamburg aus. EmigrantIn­nen, die von einem europäischen Exil-Land aus weiterfuhren, schifften sich gewöhnlich in den Niederlanden, in den französi­schen Atlantik-Häfen und in Marseille oder aber in Genua ein. Nach Ausbruch des Krieges än­derten sich die Routen, zumal Belgien, die Niederlande und die französi­sche Atlantik-Küste be­setzt wurden. Marseille wurde zeitweilig der wichtigste Aus­reisehafen, gefolgt von Lissa­bon, das aber nur über Spa­nien er­reicht werden konnte. 1940-42 waren Spanien und Portugal wichtige Transitländer. In der Zeit vom Herbst 1939 bis Juni 1941 emigrierten zahlreiche Flüchtlinge über Sibirien nach Wladiwostok und von dort wei­ter nach Shanghai in die USA und nach Lateiname­rika. Ab No­vem­ber 1941 durften Juden aus dem deutschen Macht­bereich nicht mehr ausreisen – die Ent­scheidung über die so­genannte “End­lösung” war ge­fallen. Mit der Besetzung Süd­frankreichs durch deutsche Trup­pen im No­vem­ber 1942 wurden die letzten Aus­reisemöglich­kei­ten blockiert. Die Emigra­tions­be­wegung kam fast voll­ständig zum Stillstand.
Besonderes Interesse ver­dienen in diesem Zusammen­hang die Organisatio­nen, durch deren Aktivitäten die in der Re­gel mittellosen Flüchtlinge über­haupt nach Lateinamerika gelan­gen konnten. Der Erwerb von Visa und anderen Doku­menten, die Bezahlung der Schiffspassa­gen und sonstigen Reiseko­sten, Quartiere und Klei­dung, Kurse zur beruflichen Um­schulung so­wie die Ausrü­stung mit Werk­zeug – alles dies waren Pro­ble­me, die die EmigrantInnen ge­wöhn­lich aus eigener Kraft nicht be­wältigen konnten. Eine Reihe von Vereinigungen hat hier be­trächtliche Summen auf­gebracht, die selbst wiederum größtenteils aus Spenden stamm­ten. Zu nen­nen sind vor allem die jüdische Hilfs­organisation HICEM, die selbst wiederum ein Dachver­band an­derer Verbände war, und das “American Jewish Joint Distri­bution Commit­tee”. Diese beiden Organisa­tionen hat­ten für die Flucht­hilfe und für die Start­hilfe in den Exilländern eine große Bedeutung. Da­gegen rich­te­ten sich die Unter­stüt­zungen an­derer Hilfsorga­ni­sa­tio­nen nur auf einen kleinen und spe­ziel­len Teil der Emi­gra­tion. An­dere wich­tige Ver­ei­ni­gun­gen wa­ren die so­zial­de­mo­kra­tische Flücht­lingshilfe, so­wie die von der Liga für Men­schen­rech­te ge­tra­ge­ne Demo­kra­ti­sche Flücht­lings­fürsorge (beide wa­ren bis 1938 in Prag, da­nach in Lon­don).
Unter den Umständen der NS-Diktatur nahmen gele­gentlich auch solche Organi­sationen den Charakter von Fluchthelfern an, deren ei­gentliche Zielsetzung nichts oder wenig mit Emigra­tion zu tun gehabt hatte. Die JCA (Jewish Colonisation Associ­ation) verfolgte ursprünglich den Ge­danken jüdischer landwirt­schaftlicher Siedlungen in Ar­gentinien und Brasi­lien, ver­mittelte aber – teil­weise im Rah­men der HICEM – zahlreichen be­drohten Juden eine Zuflucht in Lateiname­rika. Der St. Rapha­elsverein unterstützte seit den 1890er Jahren katholische Aus­wanderInnen durch soziale und seel­sorgerische Betreuung, kon­zentrierte sich aber in den 1930er Jahren immer mehr auf bedrohte Personen aus Deutsch­land, ins­besondere auf die soge­nannten “ge­tauften Nicht-Arier”. Auch die ihm nahestehende “Gesell­schaft für Siedlung im Ausland” er­möglichte vielen katholischen Hitler-GegnernIn­nen eine Aus­wanderung und Ansiedlung in Brasilien, wobei hier die Gren­zen zwischen Emigration und Auswanderung verschwimmen. Die Zahl der ge­nannten Orga­nisationen muß noch ergänzt werden um weitere jüdische, christliche, politische und huma­nitäre Vereinigungen, die inner­halb und außerhalb Deutschlands Fluchthilfe leiste­ten; der Hilfs­verein der Juden in Deutschland, die Quäker und an­dere. Dagegen war die Hilfstä­tigkeit ein­zelner Staaten, zwischen­staatlichen und in­ternationalen Ein­rich­tungen wie dem Völker­bund erbärmlich ge­ring. Emi­gran­tInnen, die sich nach Über­see retten konnten, ver­dankten dies fast ausschließ­lich pri­vater Initiative.
Die Anzahl der deutschen be­ziehungsweise deutsch­sprachi­ge Emigrant­Innen in Lateiname­rika schwankt zwischen 90.000 und 120.000; man darf also von einer Grob­schätzung von rund 100.000 aus­gehen. Es besteht allenfalls weit­gehend Klarheit in der quan­titativen Reihenfolge der Auf­nahmeländer:

Argentinien 45.000
Brasilien 25.000
Chile 2.000
Uruguay 7.000
Bolivien 6.000
Kuba 5.000
Kolumbien 2.700
Ecuador 2.500
Dom. Rep. 2.000
Mexiko 1.200

Die übrigen Länder, ange­führt von Paraguay nahmen Emigran­tInnen nur in drei­stelliger, einige karibische und mittelamerikani­sche Staaten nur in zweistelliger Höhe auf. Über 90 Prozent aller Flüchtlinge fanden Zu­flucht in jenem Südgürtel, der sich von Rio de Janeiro über Montevideo und Buenos Aires bis nach San­tiago de Chile er­streckt. Dort la­gen daher auch die wichtigen Emi­grantInnenzentren. Einen Son­derfall bil­dete Mexiko, das zwar hin­sichtlich der Auf­nah­mezahl eines der Schluß­lichter bil­dete, aber wegen der hoch­karätigen politischen und lite­rarischen EmigrantInnen so­wie wegen der von ihnen ge­tragenen Ver­lage, Zeitschrif­ten und Ver­einigungen ein Exil­zentrum von be­sonderer Bedeu­tung war.
Soziale und kulturelle Integration
Die berufliche Qualifika­tion der EmigrantInnen in Lateiname­rika war nicht auf die Gesell­schaften der Asyl­länder zuge­schnitten, so daß die berufliche Eingliederung meistens große Pro­bleme ver­ursachte. Exakte Zah­len lie­gen nur für einzelne Länder und Städte vor, aber sämtliche Indizien verweisen da­rauf, daß kaufmännische und an­dere mittelständische Berufe, Selbständige und Angestellte, sehr stark vertreten, Hand­wer­ker­Innen, ArbeiterInnen und Land­wirte unterrepräsen­tiert wa­ren. Aber gerade sie, insbeson­dere die Landwirte, waren be­son­ders gefragt. Viele Exilländer hatten die Einreiseerlaubnis nur mit der Verpflichtung zu land­wirt­schaftlicher Siedlung er­teilt, worauf aber die wenig­sten vor­be­reitet waren. Von den etwa 1.000 Emigranten, die in Ar­gen­ti­nien, Brasilien, Paraguay, Bo­li­vien, Ecuador und Santo Do­min­go kleine Bauernhöfe grün­de­ten, sind die meisten gescheitert.
Die mittelständischen Be­rufe stießen deswegen auf be­sondere Schwierigkeiten, weil für sie zunächst kein Bedarf bestand. Wegen der für lateinameri­ka­ni­sche Gesellschaften seit lan­gem no­torischen Unterbeschäf­tigung in Handel und Dienst­leistung bil­de­ten die Emi­grant­Innen eher ei­nen Störfaktor und stießen oft auf Konkurrenz­neid und Frem­den­feindlichkeit, nicht selten mit an­tisemitischem Ak­zent. Einige Län­der verboten oder behin­der­ten die Ausübung be­stimmter Be­ru­fe. Leichter hat­ten es Fach­ar­beiterInnen und Hand­werker­In­nen, die wegen ih­rer im all­ge­mei­nen beträchtli­chen Überle­gen­heit an Berufs- und Allge­mein­bil­dung gefragt waren. Da­ge­gen standen Vertre­terInnen künst­lerischer und geisteswis­sen­schaftlicher Berufe vor be­son­deren Schwierigkeiten, weil ih­re Tätigkeiten nicht ge­fragt und teilweise engstens auf die deut­sche Sprache fi­xiert wa­ren.
Die soziale Integration aus ei­nem Abstand von 50 Jahren be­trachtet zeigt, daß nach ei­ner mehrjährigen Durststrecke die meisten EmigrantInnen und ihre Nachfahren wirt­schaftlich heute nicht schlecht gestellt und in der Regel in relativ wohlhabende Mittel- und Oberschichten auf­gerückt sind.
Die Gründe für diese über­wiegend gelungene so­ziale Inte­gration liegen in dem beruflichen und allgemeinen Bildungsvor­sprung der meisten EmigrantIn­nen vor ein­heimischen Arbeits­kräften. Aber wesentlich war wohl der Zusammenhalt der Emi­gran­tInnen über gemeinsame Zeit­schriften, Clubs, Vereinigun­gen und Einrichtungen, der trotz ideologischer, politischer und anderer Differenzen zumindest in den Zentren des Exils eine wechselseitige Kommunikation er­mög­lichte. Vor allem müssen hier die deutsch-jüdischen Ge­meinden, Verbände und Ins­ti­tu­tio­nen erwähnt werden, die – so­weit Informationen vorlie­gen – oft einen hohen Organi­sa­tions­grad hatten. Ihre Arbeit dürf­te in hohem Maße soziale Not­fäl­le aufgefan­gen und eine Mar­gi­na­lisierung und Verelen­dung von EmigrantInnen verhin­dert haben.
Politische Organisationen im Exil
Die politischen Organisa­tio­nen deutscher EmigrantInnen wa­ren, gemessen an der Zahl ih­rer aktiven Mit­glieder, recht klein. Aber sie standen stärker im öffentli­chen Rampen­licht und bean­spruchten einen höheren Re­präsentationsgrad als etwa deutsch-jüdische Sportver­eine. Aus der Perspektive der deut­schen Geschichte sind sie frei­lich interessanter, weil sie gewis­ser­ma­ßen “mit dem Blick nach Deutsch­land” ar­beiteten, wäh­rend ein großer Teil der jüdi­schen Emigran­tInnen mit ihrer al­ten Heimat innerlich gebrochen hatte und vielfach kein Interesse mehr an Deutschland zeigte. An­de­rerseits wurden rund 50 von den Organisationen herausge­ge­be­nen Blätter und Zeit­schriften, von denen aller­dings einige nur ein­mal oder nur sehr selten er­schienen oder aber über das For­mat hektographierter Rund­brie­fe nie hinausgelangten, doch auch von einem breiteren Spek­trum innerhalb der Emi­gration gele­sen; sie bezogen so­mit auch po­litisch weniger enga­gierte Per­sonen in die Diskussio­nen und Kontrover­sen ein. Wie in der ge­samten Exilszenerie wa­ren die Emi­grantInnen in Latein­amerika untereinander heillos zerstrit­ten und befehdeten sich aufs heftig­ste. Die Bedingungen für politi­sche Aktivitäten va­riierten von Land zu Land und waren stark von den inneren Verhält­nissen ab­hängig. So wa­ren ir­gend­welche Aktivi­täten un­ter der blut­rünstigen Herr­schaft des do­mi­nikani­schen Diktators Rafael Tru­jillo über­haupt nicht und in dem von Ge­tulio Vargas auto­ri­tär regierten Brasilien nur ein­ge­schränkt möglich. Dage­gen bo­ten demo­kratische Länder wie Chi­le und Uru­guay, das ge­mä­ßigt autoritäre Argentinien so­wie das nachrevolutionäre Mexi­ko gün­stige Voraussetzungen. Wäh­rend aber in Chile auf amtli­chen Druck die politischen Emigran­tIn­nenverei­nigungen fu­sionieren muß­ten, blühte in Bo­livien ein Chaos der Ver­bände, Clubs und Organisa­tionen.
Das politische Spektrum der EmigrantInnenorganisationen läßt sich grob in drei Richtungen ein­teilen. Die älte­ste von ih­nen war auch zugleich die kleinste, die aber zeitweilig lautstark auf­trat: die Stras­ser-Bewegung. Be­reits 1934 war ein Netz von Or­ganisationen in fast allen latein­amerikani­schen Staaten nach­weisbar, geführt von einem “Kampfleiter” mit Sitz in Pa­raguay. In Buenos Aires er­schien ab 1935 das Zentralorgan der Be­wegung “Die Schwarze Front”. Leser des Blattes und Mit­glieder der gleichnamigen Or­ganisation waren größtenteils dis­sidente Nazis sowie antinazi­stische, aber gleichwohl rechts­extreme Kreise – Auslandsdeut­sche wie auch EmigrantIn­nen.
Zu den bedeutenden politi­schen Stimmen des deutschen Exils in Lateinamerika ge­hörten Zeitschrift und Bewe­gung “Das An­dere Deutsch­land”. 1938 aus ei­nem gleich­namigen Hilfsko­mi­tee in Bu­enos Aires hervorge­gan­gen, wurde die Zeitung bald das führende Organ einer zu­nächst breiten linken und de­mokratischen Leserschaft. Erst infolge der Kontroversen um den Hitler-Stalin-Pakt schieden die KPD-Anhänger aus und gründe­ten ihre eigene Zeitschrift “Das Volksblatt”. Unter der Schrift­leitung des Gründers und Her­ausgebers August Siemsen ver­einigten sich im “Anderen Deutsch­land” in immer stärke­rem Maße SozialdemokratInnen und VertreterInnen anderer nicht-kommunistischer linker Grup­pen. Aus Lesezirkeln ent­stan­den in mehreren Län­dern La­tein­amerikas kleinere Grup­pie­rungen und Vereini­gungen, die in loser organi­satorischer Ver­bin­dung zur Zentrale in Bue­nos Ai­res standen und im we­sent­lichen nur durch die Zeit­schrift zu­sammengehalten wur­den. Die­se lockere Orga­nisations­form hat­te den Nachteil, daß die Be­we­gung “Das Andere Deutsch­land” in nur einge­schränktem Maße eine regel­mäßige Ver­bands­arbeit lei­sten konnte; sie hat­te den Vor­teil, daß sie nicht von politisch dissi­denten Emi­gran­tInnengrup­pen un­ter­wandert und um­funktioniert werden konn­te. Ihre Schwer­punkte hatte die Bewegung im südlichen La­tein­amerika, also in Argenti­nien, Uru­guay, Chile, Brasi­lien, Para­guay und Boli­vien. Doch gelang dem “Anderen Deutschland” nicht, über einen längeren Zeit­raum eine Mehrheit der politisch den­kenden deut­schen Emigran­tIn­nen zu verei­nen.

Der große Konkurrent der Bewegung “Das Andere Deutschland” war die Bewe­gung “Freies Deutschland”, die mit Blick auf die Namensähnlichkeit nicht mit Stras­sers “Frei-Deutschland-Be­wegung” ver­wech­selt werden darf. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt hatten sich in mehreren lateinamerikanischen Staaten die politischen Emi­grantInnengruppen gespalten, wo­bei die der KPD angehö­renden oder nahestehenden Mit­glieder in der Regel eigene Gruppierun­gen bildeten. Diese Spaltun­gen blieben, auch als mit dem Überfall auf die So­wjetunion ihr äußerer Grund ent­fallen war. Die Gruppierungen wa­ren auf die Sammlung eines möglichst breiten politischen Spektrums angelegt und ver­einigten in sich auch bürgerli­che, christliche, konservative, ja so­gar monarchistische EmigrantIn­nen. Ihre Pro­grammatik und Phraseologie war verschwom­men antifa­schistisch und ließ zahllose Interpretationen zu, je­doch blieben die Schlüssel­positio­nen fest in den Händen von KPD-FunktionärIn­nen. In Mexiko, wo sich 1941/42 eine meist aus dem besetzten Frank­reich geflüchtete relativ starke Gruppe kommunistischer Schrift­stellerInnen und Funktio­närInnen niedergelas­sen hatte und wo sich mit ei­ner kleinen Ausnahme keine anderen deut­schen Exil-Orga­nisationen bil­deten, wurde im November 1941 die Zeit­schrift “Freies Deutsch­land” gegründet. Um dieses poli­tisch-literarische Blatt scharte sich bald eine gleichna­mige Ver­einigung mit Ablegern in ande­ren Ländern. Im Mai 1943, vier Monate nach dem Kongreß des “Anderen Deutschland” in Mon­tevideo, wurde unter Führ­ung der mexikanischen Emi­grant­Innen­organisation das KPD-ge­lenkte “Latein­ameri­ka­ni­sche Komitee Freies Deutsch­land” gegründet, dem in der Folge­zeit kleinere Organisatio­nen beitra­ten. Man hatte Hein­rich Mann für das Amt des Ehren­präsidenten und für den Vor­stand Hubertus Prinzen zu Löwenstein und den konser­vativen böh­misch-österreichi­schen Schrift­steller Karl v. Lu­stig-Prean ge­wonnen, aber die tatsächliche Leitung hatte Lud­wig Renn als amtie­render Präsi­dent, Anna Seg­hers sowie der KPD-Funktio­när Paul Mer­ker als General­sekretär. Der Name des Ko­mitees und andere Indizien ver­weisen auf die Be­wegung “Freies Deutschland” in euro­päischen Exil­ländern sowie auf das gleich­na­mige Natio­nalkomitee in Mos­kau und lassen es als In­strument der damaligen sowjeti­schen Deutsch­land-Poli­tik erschei­nen.

In Kuba, Ecuador und den kleineren mittelamerikani­schen und karibischen Repu­bliken nahm die Bewegung “Freies Deutschland” bald eine dominie­rende Stellung ein, in Brasilien, Argentinien, Bolivien, Uruguay und Chile machte sie dem “Anderen Deutschland” Konkur­renz. In Uruguay und Chile fusionier­ten die beiden Bewe­gungen, in Chile aufgrund staat­lichen Drucks, in Uruguay auf frei­williger Basis. Insgesamt wa­ren die “Freien Deutschen” er­folgreicher in der Ausdehnung ihrer Bewegung, allerdings dür­fen Vereinsattrappen und Brief­kastenorganisationen vor allem in einigen mittelameri­kanischen Staaten nicht über ihre tatsächli­che Stärke hin­wegtäuschen. Die Bewegung verlor an Einfluß, als sie ge­gen Kriegsende kritiklos die sowjetischen Konzeptionen für Nachkriegsdeutschland über­nahm und beispielsweise die Abtretung der deutschen Ostge­biete befürwortete, was bei allen anderen EmigrantInnenorga­nisa­tionen auf heftig­sten Wider­spruch stieß. 1946 lößte sich das lateinamerika­nische Komitee “Freies Deutschland” auf. Neben die­sen überregiona­len po­litischen Bewegungen gab es noch Zusammenschlüsse von Emi­grantInnen, die sich auf ein­zelne Länder oder Städte be­schränkten und sich auch nicht einer der genannten Or­ganisationen zuordnen ließen.
Politische Aktivitäten im Exil
Neben den Aktivitäten in den politischen Organisatio­nen deut­scher EmigrantInnen gab es noch weitere Betäti­gungsfelder, die sich mit den Vereinigungen nicht völlig deckten und in denen auch nicht organisierte Hitler-Geg­nerInnen aktiv werden konn­ten. Dazu gehörte der Kampf gegen die sogenannte Fünfte Kolonne. Das Dritte Reich hatte mit gerin­gem propagan­distischem Auf­wand einen großen Teil der in Lateiname­rika ansässigen Volks- und Auslandsdeutschen gleich­ge­schaltet. Fast überall gab es NS-Organisationen, die das aus­landsdeutsche Vereinsleben so­wie Schulen und Presse be­herrschten und durch Hetz­propaganda und teilweise auch durch Gewaltakte die Emigran­tInnen drangsalierten. Hinzu kam, daß die diploma­tischen und konsularischen Missionen die EmigrantInnen ob­servierten und zu diesem Zweck meistens ortskun­dige auslandsdeutsche Spitzel mo­bilisierten. In einigen Län­dern, so etwa in Argentinien und Bolivien, verfügten sie durch Unterstützung einhei­mischer Nazi-SympathisantInnen in Poli­zei, Militär und Wirtschaft über einigen Ein­fluß. Es lag da­her im ureige­nen Interesse der EmigrantIn­nen, sich gegen diese Bedro­hung zur Wehr zu setzen und die einheimischen Regie­rung durch Sprach- und Sach­kenntnisse und andere Mittel zu unterstützen. Nach Ab­bruch der diplomatischen Beziehungen zwi­schen dem Dritten Reich und den meisten lateinamerikani­schen Staaten wurden die mei­sten NS-Organisatio­nen ver­bo­ten. In einigen Ländern al­ler­dings hatte es nie eine nen­nens­werte Fünfte Kolonne ge­geben.
Ein weiteres Aufgabenge­biet, an dem sich auch nicht­organisierte EmigrantInnen be­teiligten, waren Nach­kriegs­kon­zeptionen für Deutsch­land. Ei­ni­ge der inter­essantesten Über­le­gun­gen stam­men vom früheren li­be­ralen Reichsinnen- und -ju­stiz­minister Erich Koch-We­ser, der im brasi­lianischen Bundes­staat Paraná sein Asyl gefunden hat­te. Die der Be­wegung “Freies Deutschland” nahestehenden Emi­grant­Innen äußerten sich nur sehr allge­mein über Ver­fas­sungs­fragen und wollten ne­ben recht ver­schwommenen For­de­run­gen nach Ausrottung von Na­zis­mus und Antisemitismus die kon­krete Gestaltung Deutsch­lands den Alliierten überlassen. Ver­breitet war eine anti­ka­pi­ta­li­sti­sche Grundstim­mung und die Ab­sicht, mit einer weitgehenden So­zia­li­sierung auch die ge­sell­schaft­lichen Ursa­chen an­tidemo­kra­tischer Ent­wicklung zu besei­ti­gen. Die mei­sten Konzep­tionen hiel­ten am Na­tionalstaat fest, plä­dierten aber für eine Aus­söh­nung der ehemaligen Kriegs­gegner und für einen losen Ver­bund der eu­ropäischen Staa­ten. In den Be­reich der politi­schen Akti­vitäten gehören auch größ­tenteils die kulturellen Lei­stungen der deut­schen Emi­grantInnen, da sie auch dort, wo sie inhaltlich nicht unmit­telbar politische Fragen an­sprachen, indirekt darauf eingin­gen. Das war deutlich in der Presse und in den von ei­nigen Emigrant­Innen­or­ganisationen regelmäßig ge­stal­teten Rund­funksendungen der Fall, vor al­lem aber in den von Or­ga­ni­satio­nen unabhän­gi­gen Zeit­schriften und Ver­lagen. Zu er­wähnen ist hier vor allem die in Santiago de Chile heraus­ge­ge­be­ne, auch in Nord­amerika und Eu­ropa ge­lesene Monatsschrift Deut­sche Blätter, deren hohes Ni­veau und solide Aufmachung von allen po­litischen Richtun­gen res­pek­tiert wurde.
Emigration nach 1945
Mit der Niederlage des Drit­ten Reiches endeten we­der Exil noch Folgeprobleme der Emi­gration, vielmehr tauchten neue Probleme auf. Die Frage nach der Rückkehr ließ sich von Emi­grantInnen in keinem einzigen Falle leicht beantworten. Viele jü­dische EmigrantInnen hatten mit Deutschland gebrochen und somit kein Interesse mehr an ei­ner Rückkehr. Sie hatten in La­tein­amerika Wurzeln ge­schlagen oder aber bemühten sich um eine Wei­terwande­rung nach Palä­stina/Israel oder in die USA. Die Faustre­gel, derzufolge politische EmigrantInnen im allgemeinen zu­rückkehren wollten, die jüdi­schen EmigrantInnen aber nicht, gilt tendenziell auch für Latein­ame­rika, wenngleich hier stark differenziert werden muß. Aus den Jahren 1945-1949 sind etli­che Anfragen an den SPD-Vor­sitzenden Kurt Schumacher er­halten, ob man als Jude inzwi­schen wieder nach Deutsch­land zu­rückkeh­ren dürfe. Und umge­kehrt ent­schlossen sich manche der politischen EmigrantInnen, dort wo ihre Kin­der und teil­weise auch sie selbst heimisch geworden waren, zu bleiben. Hinzu kamen objek­tive Schwie­rigkeiten, zu denen einmal die Reisekosten und zum andern Einreisesperren der Alli­ierten gehörten. Am leichtesten hatten es Kommu­nisten, die – so­fern sie ge­braucht wurden – mit sowjeti­scher Hilfe in die Sowje­tische Besatzungszone zurück­kehren konnten. Andere betraten erst 1948/49 wieder deutschen Boden oder kehrten sogar erst in den 60er Jahren aufgrund be­stimmter politischer Ereig­nisse zurück – so Boris Gol­denberg aus dem in­zwischen kommuni­stisch gewor­denen Kuba. Für viele, die sich zum Bleiben ent­schlossen, war es aber eine un­angenehme ワber­raschung, daß nach 1945 eine gewisse “Emi­gration” ehema­liger NS-Funk­tionäre nach La­teinamerika einsetzte. De­ren Vertreter – wie beispiels­weise Eichmann oder Men­gele – woll­ten unter anderem Namen unter­tauchen und teil­weise aber auch mit Hilfe ein­heimischer Ge­sin­nungs­freunde ih­re un­rühmlichen Ak­tivitäten fortset­zen.
In den Jahren 1946-1949 lö­sten sich aber die meisten der po­li­tischen Organisatio­nen auf. Un­ter­schiedliche Auffassungen über die Zu­kunft Deutschlands und voll­ends der Kalte Krieg ent­zo­gen ihnen die gemeinsame Platt­form. Bemerkenswert ist, daß sich in drei Ländern – Me­xiko, Bra­silien und Bolivien – Nach­fol­georganisationen als so­zi­al­de­mo­kratische Landesver­bän­de konstituierten, nach­dem während der NS-Zeit die SPD als Par­tei oder als parteina­her Ver­band im lateinamerikani­schen Exil über­haupt nicht existiert hatte. Diese Organisa­tionen be­mühten sich einerseits um mate­rielle Hilfe für ihre aus­geblutete frühere Heimat, und veranstal­teten – wenigstens im Falle Bra­siliens – Sammlun­gen. Sie be­kämpften nach wie vor re­aktionäre Strömungen un­ter den Auslandsdeutschen und attackierten teilweise heftig die jun­ge Bundesrepu­blik, weil sie die diplomati­schen und kon­su­la­ri­schen Missionen in Lateiname­rika hauptsächlich mit erzkonser­vativem Personal be­setzte.
Lateinamerika hat die deut­sche Literatur in vielfältiger Weise beeinflußt. Ludwig Renn und Hilde Domin haben in ihren Memoiren ihr mexi­kanisches bzw. dominikani­sches Exil aus­führlich be­schrieben; Anna Seg­hers griff gelegentlich latein­amerikani­sche Motive auf; Egon Erwin Kisch veröffent­lichte noch in Mexiko eine bril­lant geschrie­bene Sammlung mit Episoden aus der mexikanischen Ge­schich­te und Paul Zech gab In­dianermärchen aus dem Chaco heraus, die sich aber nachträglich offensichtlich als seine Erfin­dung herausstell­ten. Manche EmigrantInnen vermittelten auf andere Weise den Deutschen ein differen­ziertes Lateinamerika-Bild, entweder durch Sachbücher über ihr jeweiliges Exilland oder durch Presseberichte. Erwähnt sei hier der langjäh­rige Süd­amerikakorrespon­dent der Frank­furter Rund­schau in Mon­tevideo, Her­mann P. Gebhardt. Aus den Reihen ehemaliger EmigrantIn­nen sind aber auch be­deutende Wis­sen­schaftlerInnen und Ver­tre­terInnen des öffentli­chen Le­bens in ihren Exilländern her­vor­ge­gangen. Der gegensei­tige Kul­tur­trans­fer bildet viel­leicht den er­freulichsten Aspekt des Exils, das mit Verfolgung und Flucht so leidvoll begonnen hatte.

Die schwierige Flucht

Ihre beruf­lichen Qualifikatio­nen stellten sich für die jüdi­schen Flüchtlinge als großes Hin­dernis heraus. Der Auf­bau einer neuen Existenz in vielen Ein­wanderungslän­dern konnte nur unter be­stimmten be­ruflichen Vor­aussetzungen ge­lingen, in man­chen Staaten fanden nur ge­wis­se Berufsgrup­pen Einlaß.
Aber auch die Politik zahl­reicher überseeischer Län­der, die im 19. und begin­nenden 20. Jahr­hundert die Einwanderung in dem Be­streben zu forcieren ver­sucht hatten, ihre gewalti­gen Ge­biete zu erschließen und zu be­völkern, gehörte der Vergangen­heit an. Die besondere Tragik für die Juden lag darin, daß die na­tionalsozialistische Ver­folgung in eine Zeit fiel, in der die Auswanderungs­möglichkeiten we­gen der Weltwirtschafts­krise so ge­ring waren wie niemals zu­vor.
Bizarre Listen, bitterer Ernst
Besonders die USA, die bri­tischen Dominions und Latein­amerika waren durch den Zu­sam­menbruch der Agrar- und Roh­stoff­preise schwer getroffen worden und suchten, jede neue Einwanderung abzu­wehren bzw. nur unter be­stimmten Vorausset­zun­gen zuzulassen. So be­schränk­te sich einem Infor­ma­tions­blatt der jüdischen Aus­wan­de­rungsberatungsstelle in Berlin zufolge das Ange­bot im Sommer 1938 auf nur wenige ausge­fal­le­ne Möglichkeiten: ge­sucht wur­de für Pa­raguay ein perfek­ter, selb­ständiger Bonbon­kocher und für San Salvador ein un­ver­heirateter, jü­discher In­genieur für den Bau elek­trischer Ma­schinen. Die Li­ste, die noch weitere ähnlich bi­zar­re of­fene Stel­len in Afrika und den Bri­tish Dominions nennt, könnte einem Sketch ent­nom­men sein, war aber bitterer Ernst.1
Die Entscheidung für ein Auswande­rungsland hing von vielen Faktoren ab. Zunächst galt es sich eine Art “Auswanderer-Dia­lekt” anzueignen. Begriffe wie “Chamada” (Visum­voraus­set­zung für Brasi­lien), “Leu­munds­zeugnis”, “Unbe­denk­lich­keits­erklärung”, “Bord­geld” und “Ge­sundheits­attest” be­stimmten den Alltag, die Reise in ferne Län­der wurde erwogen, deren La­ge erst mühsam auf dem Glo­bus eruiert werden mußte.
Papiere entscheiden
über Leben und Tod
Die Wahl eines Aus­wan­de­rungs­lan­des und der Besitz der ent­sprechen­den Un­terlagen sollte sich bald als eine Frage von Le­ben und Tod erwei­sen. Nachdem sich ein Staat nach dem anderen der Aufnahme von Juden aus Deutschland ver­schlossen hatte, wurde die Suche nach einem auf­nah­me­be­reiten Einwande­rungs­land zu einer Art “Gesell­schafts­spiel”, wie die Berlinerin Inge Deutsch­kron be­richtet: “Viel­leicht könnte man hierhin oder auch dorthin … Und die Finger wan­derten unru­hig auf der Land­karte hin und her. Oder: ‘Was ist eigent­lich mit Para­guay?’ ‘Hast du schon Neusee­land pro­biert?’ ‘Ich habe gehört, daß der X ein Vi­sum für Panama bekommen hat.’ ‘Zehntausend Mark soll ein Visum nach Vene­zuela ko­sten’…”2
Tatsächlich zahlten manche Unsummen für ein Visum. Im­mer wie­der fielen die verzweifelt nach einer Auswanderungs­mög­lich­keit su­chenden Juden auf zwie­lichtige Geschäftemacher he­rein. Nicht selten stellte sich nach wochen- oder monatelanger Fahrt bei der Ankunft im neuen Land heraus, daß es sich um ge­fälsch­te, un­autorisierte oder be­reits abgelau­fene Visa han­del­te. Oft war es nur durch Über­re­dungs­kunst und durch die Hilfe von jüdischen Organisationen vor Ort möglich, doch noch ein­zu­reisen, aber manche wurden auch zurückge­schickt, wie die Ge­schichte der St. Louis und der Ver­such der Passagiere, in Kuba an Land zu gehen, zeigt (vgl. den folgenden Artikel).
Obwohl die Emigration nach Süd­amerika bereits 1933 einge­setzt hatte, war ihr Anteil an der ge­samten Auswanderung an­fangs eher unbe­deutend. Insbe­son­dere we­gen der Sprachpro­ble­me blieb die Emigration dorthin lange Zeit nur zweite Wahl. Als sich die Lage in Eu­ropa allmählich zuzuspitzen be­gann, wurden ins­besondere Ar­gen­tinien und Bra­silien zu be­gehr­ten Auswande­rungszielen. Im­merhin rangierte Brasilien be­reits 1933 nach den Ver­einigten Staaten und Palä­stina an dritter Stel­le bei den Aufnahmeländern. Eine interes­sante Tatsache, vor al-lem weil zum damaligen Zeit­punkt die eu­ropäischen Länder noch einen erheb­lichen Teil der Emi­grantIn­nen aufnahmen und Süd­amerika eher exotisch und fern­ab er­schien. Deshalb wurden Län­der wie Ecua­dor, das von al­len latein­amerikanischen
Staa­ten die liberalste Einwanderungs­po­li­tik aufzu­weisen hatte, nur als letzte Hoffnung in Erwägung gezo­gen.3 Als nach der Pogromnacht im No­vember 1938 eine Massen­flucht einsetzte, hatten viele Län­der ihre Einwanderungspolitik neu geregelt und re­striktive Maß­nahmen eingeführt. 1937 ver­schärfte Brasilien die Ein­wan­derungsbestim­mungen dra­stisch, zunächst schien es so­gar, daß bereits eingewanderte Flücht­linge wieder ausgewie­sen wer­den sollten. Auch Argenti­nien, das seit 1935 zum Kreis der wichtigen Auswanderungs­länder ge­hörte, schränkte die Einwan­de­rungs­möglichkeiten deut­lich ein. Seit den Regierungsdekre­ten vom 28. Juli und 26. August 1938 hing die Aufnahmeerlaub­nis von der Einladung durch na­he Ver­wandte (Llamada) oder von spezieller beruflicher Quali­fi­kation ab. Danach sank die Zahl der Einwande­rerInnen ste­tig und er­reichte nach Beginn des Zweiten Weltkriegs den Nullpunkt. Auch in Uru­guay und Para­guay ver­schlechterte sich, vor allem durch die deso­late Wirt­schafts­lage, die Situa­tion seit 1937. Hinge­gen trat Kolum­bien 1937/38 mehr in den Vor­der­grund. Eine grö­ßere An­zahl Emi­gran­tInnen aus Deutschland fand in jener Zeit Zu­flucht in den klima­tisch gün­stigeren mittleren und höheren Lagen des Landes.
ワberleben in Avivgdor
Viele dieser EmigrantIn­nen wur­den in der Land­wirtschaft be­schäf­tigt. Daß es gerade hier noch einen Bedarf an Arbeits­kräf­ten gab, nutzten Organsatio­nen wie die 1891 als Auswan­derer- und Fürsor­gegesellschaft gegründet Jewish Colonisa­tion Asso­ciation (ICA) für Gruppen­aus­wanderun­gen. Die ICA ver­fügte über Ackerbauko­lonien in den Verei­nigten Staa­ten, Ka­nada, Argentinien und Bra­silien. So umfaßte etwa das Sied­lungsgebiet der ICA in Ar­gentinien ein Areal von 600.000 Hektar. 1936 hatte sie dort eine erste Grup­pe von 19 jü­dischen Fa­milien aus Deutschland in ih­rer Ko­lonie Avivgdor (Entre Rios) an­gesiedelt. Die Zeit­schrift “Jü­di­sche Wohl­fahrtspflege und So­zial­poli­tik” berich­tete dar­über: “Zum Zweck der An­siedlung er­hält jeder Kolo­nist von der ICA soviel Land zuge­wiesen, daß er bei dessen persön­licher Bear­beitung für sich und seine Fami­lie ein normales Aus­kommen hat und das Land im Verlauf einer Reihe von Jahren abzahlen kann. Es ist je nach Lage der Kolonie zehn bis hun­dert Hektar groß. Für jede Fami­lie wird auf dem ihr zugewie­senen Felde ein Haus aus zwei Zimmern und Küche gebaut. Sie ent­hält ferner die zur Be­wirtschaftung notwendige An­zahl von Pferden, Kühen und Acker­geräten und wird von land­wirt­schaft­lichen Experten wäh­rend der er­sten Zeit ihres Auf­ent­haltes zur Arbeit angesie­delt …
Die­se Kolonie ist im 32. Grad süd­licher Breite gele­gen, ihr Kli­ma ist gesund und für Eu­ropäer gut er­träglich … Jede Siedlung ist umzäunt und besitzt fol­gende An­lagen: 1 Haus, be­stehend aus 2 Zimmern und Kü­che mit not­wendig­ster Einrich­tung (1 Tisch, 4 Stühle, 4 Betten, 1 Schrank, 1 Herd und et­was Ge­schirr), eine of­fene Scheune, einen Hüh­ner­stall, ein Klosett und eine Dusch­vorrichtung. Ein Brun­nen wird im­mer gemeinsam für 2 oder 4 Sied­lungen angelegt. An le­ben­dem In­ventar wird je­der Sied­lungs­familie über­geben: Kü­he, Pferde, Hüh­ner. Eine Zucht­station ist für die Verbesse­rung des Vieh­bestandes vorgese­hen. Das Vieh wird dem Siedler ent­sprechend der Entwick­lung sei­ner Siedlung zuge­teilt. An Ma­schinen und Geräten erhält jede Sied­lungsfamilie 1 Wagen, 1 Pflug, 1 Egge, Milcheimer, Schau­feln, Hacke usw.”4 Die An­siedlung jü­discher Familien auf den ICA-Ko­lonien in Ar­gen­ti­nien blieb – neben der nach Pa­lästina – die wichtigste Form der Grup­pen­aus­wan­derung.
Ähnliche Organisationen wur­den in Brasilien tätig: Sie leiste­ten Bürgschaften, die ga­rantieren sollten, daß die Einwande­rerInnen nicht der Für­sorge zur Last fielen, und zahlten die gefor­derte Landungsgarantie­summe, in Höhe von rund 700 RM pro Per­son. Nach Uruguay konn­ten auf diese Weise mit ei­ner Ausnahmegeneh­migung des Prä­siden­ten 50 Bauernfamilien und einige land­wirtschaftliche Ar­beiter einwandern. Auch Chile nahm durch die Interven­tion ei­ner amerikanischen Hilfsorgani­sation 50 Fami­lien auf, Bedin­gung war, daß sie mit 4.000 RM aus­gestattet wurden.
Die schwierige Integration
Die südamerikanischen Län­der wurden seit 1936, besonders duch die indivi­duelle Immigra­tion, neben den USA und Palä­stina zu den bevorzugten Flucht­zie­len. Die schwierigen Le­bens­be­dingungen, das Klima und die Be­schäfti­gungssituation veran­laßten jedoch viele, später, als sich die Möglichkeiten boten, in die USA weiterzuwandern. Die kli­matischen Bedingun­gen waren zwar in Palästina ähnlich schlecht, aber dort versetzte der Wille, einen jüdischen Staat auf­zubauen, Berge. Die Arbeitssu­che war über­all, auch in den USA, kompliziert, aber in Süd­amerika war die Kluft zwischen den Einheimi­schen und den Zuwande­rerInnen besonders schwer zu überbrücken.
Die Emi­grantInnen wurden von der ansässi­gen Bevölkerung als Gringos – Weiße – angese­hen, die eigent­lich der Oberklasse an­gehören müßten. Sie verrichteten aber niedere Arbeiten, wa­ren in der Landwirtschaft tätig, eine Tatsache, die nicht in das Erscheinungs­bild passen wollte. Kon­flikte konnten nicht aus­blei­ben, eine Integration war kaum möglich, weder in die Gruppe der Indí­genas und Me­stizInnen noch in jene der “Wei­ßen”. Hin­zu kamen antise­mitische Vor­ur­tei­le, die von den dort lebenden Deutschen, ins­besondere dem Bot­schafts­per­sonal und ande­ren of­fiziellen VertreterIn­nen der NS-Re­gierung, geschürt wurden. So zeigt gerade Südamerika deut­lich, daß die Emigration, die Rettung vor der Verfol­gung, nicht gleichbedeu­tend war mit einer sicheren Existenz und ge­re­gel­ten Lebensumständen. Für die mei­sten be­deutete die Aus­wan­de­rung einen völligen Neu­an­fang, einen gänzlich verän­derten Kulturkreis und zumeist einen ge­sell­schaftlichen Abstieg mit all sei­nen Konsequenzen, insbeson­de­re dem Verlust eines per­sön­li­chen Umfelds, das dem eigenen so­zialen Niveau ent­sprach.

1 Walter Laqueur, Heimkehr. Reisen in die Vergangenheit, Berlin 1964, S. 53.
2 Inge Deutschkron, Ich trug den gelben Stern, Köln 1978, S. 46.
3 Marie-Luise Kreuter, Wo liegt Ecuador? Exil in einem unbekannten Land 1933-1945, Diss. Ms. Berlin 1995, S. IX
4 Jüdische Wohlfahrtspflege und So­zialpolitik, April 1936, S. 138f, Die Bedingungen der ICA-Kolonisation in Argenti­nien.

Das Schiff der Verdammten

Als sich zeigte, daß die USA jüdische Flüchtlinge nur be­grenzt aufnahm, und als selbst solche, die auf den Quo­tenlisten standen, wegen der langen War­tezeit ihre Aussichten auf recht­zeitige Rettung schwinden sahen, ergriffen viele die Möglich­keit, zunächst in süd- und mittelame­rikanische Länder auszuwan­dern. Dort hofften sie dann, ent­sprechend den Quoten für das jewei­lige Geburtsland, ein Vi­sum für die USA zu erhalten. Wichtig­ste Zwischenstation auf dem Weg in die Verei­nigten Staaten war Kuba. Vor allem nach der Pogrom­nacht im No­vember 1938 er­schien Kuba we­gen seiner Nähe zu den USA und seiner damals noch li­beralen Ein­wanderungspolitik am ge­eignetsten für einen vor­läufigen sicheren Aufent­halt.
Curt Eichelbaum, Berliner Rechtsanwalt und Notar, schrieb seinem Freund Hans Engelmann in Berlin über die Reise von Le Havre nach Havanna Anfang April 1939: “Wir genießen die Fahrt ins Ungewisse, erst recht, daß man uns durchaus als Men­schen behandelt. Tausend Kilo­meter und zwei Visa-Barrieren trennen uns noch von den USA … In drei Ta­gen werden wir auf den Ba­hamas sein; wenn alles gut geht, einen Tag später in Ha­vannna. Noch knapp 100 weitere Passagiere steigen dort aus, die rund 300 ande­ren reisen weiter nach Me­xiko, Panama, Costa Rica, Chile, einer sogar nach Neu­seeland. Wer hätte je ge­dacht, daß wir soweit her­umkämen. Join the Jews and see the world …!”1 Die Reina del Pacífico, auf der Eichelbaum und seine Familie reisten, war das letzte Schiff, dessen Kuba-Passagiere zumin­dest zur Hälfte an Land gehen durf­ten, zum Teil aber zunächst im Gefängnis Ca­stillo del Morro festgehalten wurden.
Ein hartes Schicksal traf dann jene, die sich am 13. Mai 1939 mit dem Dampfer der Hapag, St. Louis, von Hamburg nach Kuba ein­schifften. Dr. Oskar Schwartz war einer der Pas­sagiere: “In die­ser Zeit (Ende 1938) hatte sich die Möglichkeit erge­ben, für einen Betrag von einigen hundert Dollar ein Permit für Kuba zu erwerben. Wir nutzten diese Gelegenheit aus und erhielten von dem Agenten, der diese Sa­che durchführte, die Nachricht, da uns das Permit zugesagt sei und daß wir für sofortige ber­weisung des Betrages aus Paris Sorge tragen soll­ten … Durch Telegramm­wechsel und Tele­fonat mit Paris erreichte ich schließ­lich noch die rechtzeitige Überweisung nach Kuba, und wir erhielten umgehend das Permit. Die Be­schaffung der Schiffsplätze ging auch nicht ohne Schwierig­keiten vor sich. Die Hapag hatte für 1000 Passa­giere, die alle das gleiche Permit für Kuba hatten, ein besonderes Schiff, den größten Die­selmotordamp­fer, die St. Louis in Dienst gestellt … So fuhren wir am 13. Mai 1939 mit der St. Louis von Hamburg nach Kuba … Nach einer wunder­baren Reise in schönstem Wetter auf dem Atlantik kamen wir frohen Mutes in Havanna an. Als alle Passa­giere sich bereits zur Aus­schiffung bereit gemacht hatten, kam die katastro­phale Meldung, daß der Prä­sident von Havanna im letz­ten Moment die Landung verboten habe, und kubani­sche Polizei kam an Bord, um uns zu bewachen. Gründe für dieses Verbot sind uns nicht be­kannt.”2
Tatsächlich hatten die Passa­giere nicht erfahren, daß die Permits, die Lan­dungserlaubnisse der kuba­nischen Einwanderungsbe­hörde kurz vor dem Auslau­fen der St. Louis am 4. Mai ungültig gewor­den wa­ren.3 Anfang Mai 1939 hatte der kubanische Präsident Fede­rico Laredo Bru ein Dekret unterzeichnet, das von den Flüchtlingen ein Visum ver­langte, das vom Außen-, Ar­beits und vom Finanzmini­sterium in Kuba genehmigt sein mußte. Damit waren alle Blankogeneh­migungen, die der Hamburg-Amerika-Linie zum Weiterver­kauf überlas­sen worden waren, ungültig. Die Schiffahrtsgesell­schaft hatte die Reise mit den 936 Passagie­ren aber dennoch gewagt, weil die Hapag die Zusi­cherung er­hielt, daß die Flücht­linge an Land gehen dürften. Das Gegen­teil trat ein, wie Oskar Schwartz be­richtete: “Der amerikani­sche Joint nahm sich sofort der Sache an, es kamen führende Persönlichkeiten aus New York herübergeflogen, aber alle Be­mühungen blieben ver­geblich, selbst das Ange­bot des Joint, eine halbe Million Dollar für den Fall der Erlaubnis zu be­zahlen, wurde abgelehnt. So mußte die St. Louis mit allen jüdi­schen Auswanderern Ha­vanna verlassen, nachdem der Kapitän aus Hamburg die tele­grafische Weisung ‘Kurs Ham­burg’ erhalten hatte. Die Stim­mung an Bord war verzweifelt. Jetzt aber griff die Weltöffent­lichkeit durch Vermittlung des Joint ein, und als dies bekannt wurde, legte sich der erste Schock … Es trat keine Panik ein, nicht zuletzt durch das Ver­halten des Kapitäns Schröder, eines wahrhaften Menschen, dem alle Pas­sagiere nicht genug dankbar sein konnten. Schließ­lich gelang es dem Vertreter des amerikanischen Joint in Pa­ris, Monsieur Tropper, die Länder Belgien, England, Frankreich und Holland dazu zu bewegen, je ein Viertel der Passagiere gegen Zahlung des dem kubani­schen Präsidenten an­gebotenen Betra­ges bei sich aufzunehmen. Wir kamen auf die englische Liste und landeten im Juni 1939 in Southampton; wir waren geret­tet.”4 Andere hatten weniger Glück, sie gerieten später, nach der deutschen Besetzung, etwa in Holland oder Frankreich, erneut in die Verfolgungsmaschinerie der Natio­nalsozialisten und wur­den, soweit ihnen nicht abermals die Flucht gelang, deportiert und ermordet.
Erst in den Jahren 1940/1941 nahm Kuba dann erneut eine libe­ralere Haltung gegenüber den jüdischen Flüchtlingen ein; so konnten durch kubanische Visa noch eine großere Zahl von Ju­den und Jüdinnnen auf dem Weg über Lissabon gerettet werden.

1 Bernt Engelmann, Die unfreiwilli­gen Reisen des Putti Eichelbaum, Mün­chen 1986, S. 124.
2 Oskar Schwartz, Frustrated Emi­gration to Cuba, Sammlung Wiener Li­brary, P IIf, Nr. 200.
3 Vgl. Hans Herlin, Die Reise der Verdammten. Die Tragödie der St. Louis, Wiesbaden, München 1977, S. 16ff.
4 Schwartz, Frustrated Emigration.

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