Was bleibt von den Intellektuellen?

Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz ver­loren hat. Heute konkurriert es mit Musik und Fernsehbildern – oder wird sogar gänzlich ersetzt.
Der Schwarze Zeitabschnitt
Immanuel Wallerstein behauptete kürz­lich, der “Schwarze Zeitabschnitt” habe begonnen, “der symbolisch betrachtet be­reits 1989 begann und mindestens 20 bis 25 Jahre dauern wird.” In unserer Zeit gebe es keinen gemeinsamen sozialen Diskurs mehr, so daß in naher Zu­kunft “die Menschen blind handeln wer­den.” Wallerstein ist gewiß nicht der Ein­zige, der meint, die Gegenwart sei verwir­rend und die Zukunft unvorhersehbar. In La­teinamerika tragen Jugendliche aus Rand­gruppen T-Shirts mit dem Aufdruck “sin futuro”. Diesen Slogan könnten sich auch die Intellektuellen zu eigen machen, von denen viele immer noch dem Ende der Utopie nachtrauern. Wenn die Unsi­cherheit in dieser Region besonders tief verwurzelt ist, dann vielleicht deshalb, weil Lateinamerika von der Kolonialzeit an ein ausgewählter Ort für die Verwirkli­chung utopischer Projekte war, so wie die Gründung von Vera Paz durch die Domi­nikaner im 16. Jahrhundert, die tolstoi­schen Zurück-aufs-Land-Utopien jener, die die europäische Industriali­sierung An­fang dieses Jahrhunderts ab­lehnten sowie die politischen Utopien der Guerillabewe­gungen in den letzten Jahren. Die utopi­sche Zukunftsvision ist jedoch ver­schwunden. Wenn es überhaupt eine Vor­stellung von der Zukunft gibt, dann gleicht sie einer Stadt in Trümmern so wie in dem Roman “Maytas Gechichte” des peruani­schen Schriftstellers Mario Vargas Llosa, oder bestenfalls der gemäßigten sozial­demo­kratischen Form der “Utopía Desar­ma­da” des mexikani­schen Politik­wissen­schaft­lers Jorge Castañeda.
Das Projekt Kuba
Die utopische Vision wurde von einer lite­rarisch gebildeten Intelligenz aufrechter­halten, deren Medium die Schrift ist. Diese Intellektuellen formten die Identität von Nationen. Sie waren es, die als kriti­sches Bewußtsein der Gesellschaft agier­ten, als Stimme der Unterdrückten, als Lehrer der künftigen Generationen. Sie standen nicht nur in hohem Ansehen, son­dern hatten auch von sich selbst eine hohe Meinung. Kubas Unabhängigkeitsheld José Martí gilt noch immer als “der Apo­stel”. Der Mexikaner José Vasconcelos verglich sich selbst mit Moses, und für den nicaraguanischen Dichter Rubén Darío waren Dichter die “Bollwerke Got­tes”. Dieses Ansehen muß im Zusammen­hang von Gesellschaften mit einer gerin­gen Lesefähigkeit verstan­den werden. Die Intellektuellen traten nicht nur als Haupt­akteure auf der öffent­lichen Bühne hervor, sondern auch – zu­mindest in der öffentli­chen Wahrneh­mung- als Vermittler für die unteren Klassen und Anwälte sozialer Verände­rung.
Die kubanische Revolution war sowohl ein Ereignis von kultureller als auch poli­tischer Bedeutung für die lateinamerikani­sche Intelligenz. Carlos Fuentes, Gabriel García Márquez, Julio Cortázar und Mario Vargas Llosa gehörten zu ihren ersten Anhängern. Länger als ein Jahrzehnt hatte Kuba die politische Kultur in der Hemi­sphäre mitgestaltet. In den späten sechzi­ger Jahren wurde die Definition von re­volutionärem Schreiben immer enger ge­faßt. Die Homosexuellenverfolgung in Kuba sowie die Maßregelung und spätere Gefangenschaft des Dichters Heberto Pa­dilla Anfang der 70er Jahre spalteten die Autoren in jene, die wie García Márquez weiterhin die Revolution unter­stützten, und jene, die wie Vargas Llosa zu deren Kritikern wurden.
Die herrschende Unsicherheit
Aber die Desillusionierung bezüglich des Sozialismus, die Wahlniederlage der San­dinisten und der Zusammenbruch des Kommunismus erklären die herrschende Unsicherheit nicht vollständig. Die Werke der Gegenwartsautoren in Süd- und Zen­tralamerika spiegeln auch die traumati­schen Nachwirkungen repressiver Militär­regierungen und Bürgerkriege, gefolgt von einer neuen Ära der Modernisierung unter der Ägide des Neoliberalismus wider, die extreme Armut und schnelle technologi­sche Entwicklung vermischt hat. Diese Modernisierung macht sich besonders durch dramatische Veränderungen der Stadt bemerkbar. Die sonst so vertrauten Stadtlandschaften mit ihren Kneipen, zentral gelegenen Theatern und öffentli­chen Plätzen haben sich in einen urbanen Alptraum verwandelt. Kulturelle Orte wurden praktisch vernichtet. Zuhause Vi­deos anzusehen wird als sicherer und praktischer empfunden als abends in den gefährlichen Stadtzentren auszugehen.
Überall im heutigen Lateinamerika ver­spürt man die schwindende Bedeutung der Literatur und ihre Verdrängung aus den öffentlichen Diskursen. Diese Verdrän­gung wird von der wachsenden Pri­vatisierung der Kultur noch verschärft. Zuneh­mend werden kulturelle Institutio­nen wie Galerien, Musikunternehmen und Fern­sehkanäle von Privatunternehmern ge­führt. Sogar die nationalen Universitä­ten, traditionell Zentren politischer Akti­vitäten, konkurrieren heute mit un­zähligen privaten Universitäten, die in der Mehr­zahl eher auf Wirtschaft denn auf Kultur ausgerichtet sind. In Mexiko, wo die Kultur immer unter starker staatlicher Schirmherrschaft stand, ist der Fernseh­magnat Emilio Azcárraga, der Telenove­las in so entfernten Ländern wie Rußland und China vertreibt, heute zu einem der füh­renden Akteure der Kunstwelt gewor­den.
Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine neue Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz verloren hat. Heute konkurriert es mit der visuellen und oralen Kultur oder wird so­gar gänzlich abgelöst. Gleichzeitig hat die industrielle Herstellung volkstümlicher Kunst – wie Kunsthandwerk und regionale Musik – eingesetzt. Hinzu kommt die wachsende Massenkulturindustrie, vor al­lem die des Fernsehens. Der argentini­sche Kulturkritiker Nestor García Canclini be­zeichnet die Neuordnung des kulturel­len Terrains als “Rekonversion”. Im Zeit­alter von High-tech erfährt Kultur einen Be­deutungswandel. Ein hohes Niveau an Le­sefähigkeit ist nicht länger unbedingte Voraussetzung für Modernität. Nicht das gedruckte Wort, sondern Musik und Fern­sehbilder werden heute erforscht, wenn es um lateinamerikanische Identität geht. Sie sind zum Inbegriff der Modernität gewor­den.
Die Moderne ist nicht kreativ
Die Kritik der mexikanischen Literatin Elena Poniatowska, die in der kürzlich er­schienenen Ausgabe des Magazins Nexos den Verlust der goldenen Jahre der Volks­kunst beklagte, hört sich in diesem Zu­sammenhang anachronistisch an. “Heute produzieren sie in Unmengen San Martín de Porras, die alle nach demselben Muster geschaffen sind”, schreibt sie. “Die Jesus­kinder, die von den Gemeinden ein­gekleidet werden, die kleinen Babies, das heilige Kind von Atocha: sie alle hatten ihre eigene Persönlichkeit. Heute tragen sie den gleichen Hut, die gleichen Sanda­len und haben die gleichen Kürbisflaschen und Körbe. Populäre religiöse Kunst ist übel. Modernität ist nicht kreativ.”
Obwohl diese Furcht vor der Homogeni­sierung und Massenherstellung seit dem neunzehnten Jahrhundert ein Leitmotiv der Schriftsteller war, sagen uns heute die postmodernen Kulturkritiker, wir sollten diese Authentizität vergessen. Sie be­haupten, daß Fernsehen, Massenmarke­ting und neue Technologien die Kultur demo­kratisieren, die Grenzen zwischen “oben” und “unten” abbauen, und Hybrid­kreuzungen (wie zum Beispiel Salsa) möglich machen, was zur Bereicherung der lateinamerikanischen Kultur beiträgt. Ihrer Meinung nach war die lateinameri­kanische Kultur schon immer heterogen, hat sich immer aller Repertoires bedient und kann deshalb für sich beanspruchen, postmodern avant-la-lettre zu sein. Gegen die Position vom Sterben der lokalen Kulturen setzt García Canclini das Argu­ment, der Markt rege zu Neuerungen in der Kunstgestaltung an und ermögliche es der Kultur, ein neues Publikum zu errei­chen. Der Markt zwinge die Menschen, eine neue politische Symbolik und eine neue Form der sozialen Aktion zu erfin­den. Als Beispiel für das letztere verweist er auf den maskierten Superbarrio aus Mexiko-Stadt, dessen Kostüm sowohl an Supermann als auch an das kitschige Aus­sehen der Ringer erinnert und Fürsprecher der marginalisierten Bevölkerungsschich­ten ist. Eines der wichtigsten Merkmale des Aufstands in Chiapas war die Art und Weise, wie die Rebellen sich der moder­nen Technologie, besonders e-mail, Fax und Video bedient haben, um ihre Forde­rungen zu übermitteln.
Kulturelles Rückspiel Süd-Nord
Selbst wenn Technologien und Informa­tionen vorwiegend von Nord nach Süd fließen, verweisen viele Kritiker darauf, daß bestimmte Merkmale postmoderner Kultur – wie Persiflage, Zitat und Parodie – schon immer charakteristisch für latein­amerikanische Kultur gewesen seien. Was früher einmal als “Kulturimpe­rialismus” galt, in dem Lateinamerika der passive Abnehmer von Hollywood- und Mickey-Maus-Filmen war, wird nun als kulturelles Rückspiel betrachtet, bei dem importierte Technolo­gien und Moden be­nutzt werden, um Neues zu schaffen. Die Modernisierung des 19. Jahrhunderts, die eine rassisch heterogene Bevölkerung in die großen Städte zog, hat nicht nur die Erneuerung in der Kunst stimuliert, son­dern ließ auch einen Stil entstehen, der heute gern als “Latin” bezeichnet wird: eine Mischung aus afrikanischen, europäi­schen und indi­genen Einflüssen. Die eta­blierte Kultur hat sich später Tango, Bo­lero und Samba, die ihre Ursprünge in den ärmeren Stadtvier­teln haben, als die Ver­körperung des “Lateinamerikanischen” zu eigen gemacht. Romane wie “Der schön­ste Tango der Welt” des Argentiniers Ma­nuel Puig und “La importancia de llamarse Daniel Santos” (Wie wichtig es ist, Daniel Santos zu heißen) des puertoricanischen Autors Luis Rafael Sánchez, die Essays von Carlos Monsivais über Agustín Lara in “Lost Love” und Filme wie “Danzón” von der Mexikanerin Marla Novaro oder der des Argentiniers Fernando Solanas “Tangos: Das Exil Gardels” erkunden die Wege, wie populäre Lyrik, Tanz und Rhythmus eine gemeinsame regionale Sprache bilden, die soziale Gruppen und individuelle Verhältnisse miteinander ver­bindet.
Rockmusik und kultureller Wandel
Rockmusik ist ein hervorstechendes Bei­spiel für den kulturellen Wandel. Trotz­dem sie vom Zentrum der Macht ausging und Teil einer internationalen Musikindu­strie ist, wurde Rock zur Vorhut des Wi­derstandes gegen strenge Moral und Fa­milienhierarchien. Die südamerikani­schen Militärregierungen machten die Rock­musik zum Mittel einer Wider­standsbewegung, indem sie Musikmaga­zine verboten und junge Leute, die die falsche Kleidung trugen, verhaften ließen. In ganz Lateinamerika greift die Rock­musik den Autoritarismus der älteren Ge­neration, aber auch die idealistische Nost­algie der Linken an. Wie im Fall von Samba oder Tango kann man Rockmusik in unterschiedlicher Weise verstehen. Der enge Begriff des “rock nacional”, der in Argentinien benutzt wird, symbolisiert den Versuch, die Musik von ihren “satanischen” Ursprüngen in den USA zu säubern. Gerade während des Malvi­nen/Falkland-Kriegs organisierte die Mi­litärregierung ein Rockkonzert der Natio­nalen Solidarität, um so um die Unterstüt­zung der Jugend zu werben. Ebenso machte es Ex-Präsident Fernando Collor de Mello. Er ließ in Brasilien ein großes Rockkonzert veranstalten, um sei­nen neo­liberalen Sieg zu feiern. Auf der anderen Seite machen sich die marginali­sierten Gruppen der lateinamerikanischen Gesell­schaften Punk und Funk zu eigen.
Merengue: Rhythmus für die Füße, Botschaft für den Kopf
Popularität und Populismus hängen in Lateinamerika eng zusammen. Als der aus der dominikanischen Republik stammende Musiker Juan Luis Guerra in Lima ein Konzert gab, wurde es mit einem Fußball­spiel oder dem Besuch des Papstes vergli­chen. Wie der Salsa-Sänger Rubén Blades nutzte Guerra seine Popularität, um auf Armut und andere soziale Mißstände hin­zuweisen. Die Titel seiner Lieder sprechen für sich: “El costo de la vida” (Die Le­benshaltungskosten), “Si saliera petró­leo” (Wenn Erdöl sprudeln würde) und “Ojalá que llueva café” (Hoffentlich reg­net es Kaffee). Er beschreibt Merengue als einen Rhythmus für die Füße und eine Botschaft für den Kopf und meint, daß seine Texte von den Leiden des Konti­nents handeln. Bezeichnenderweise kan­didierte nicht nur ein Schriftsteller, wie der neoliberale Var­gas Llosa für die Prä­sidentschaft, sondern auch der progressive Musiker Blades.
Die gegenwärtige Verkünderin des “Lateinamerikanischen” ist die kubanisch-amerikanische Salsa-Sängerin Celia Cruz und nicht Rodó oder Bolívar. In “Pasaporte Latinoamericano” singt sie von “einem Volk Lateinamerikas”, das in der gemeinsamen Sprache des Sambas, Gua­rachas und der Salsa kommuniziert. Es sind Musiker wie Rubén Blades, der Bra­silianer Caetano Veloso und Juan Luis Guerra, die Themen wie soziale Gerech­tigkeit aufnehmen und – im Falle von Ve­loso – das Verhältnis zwischen Kon­sumkultur und “Authentizität” unter­suchen.
An der Musik wird deutlich, daß zwischen Tradition und Moderne, einheimischer Reinheit und aufgenommener Importe nicht mehr klar unterschieden werden kann. Musik formt die Konsumkultur, sie konzentriert Wünsche und Erwartungen in unberechenbarer Weise – einer Weise, die die literarische Intelligenz nicht unbedingt vermitteln kann.
Der mächtige Rivale des geschriebenen Wortes
Der andere mächtige Rivale des gedruck­ten Wortes ist das Fernsehen, dessen Ein­fluß auf das Publikum viel größer ist als der eines Buches oder einer Zeitschrift. Der mäßige Erfolg als Gastgeber von Fernsehshows von vielen bekannten Schriftstellern, wie Vargas Llosa, Octavio Paz und José Arreola, ist also kaum ver­wunderlich. In Chile macht der Roman- und Stückeschreiber Antonio Skármeta Literatur durch das Fernsehen populär. Durch zahlreiche Fernsehauftritte wurde Carlos Fuentes bis in die Vereinig­ten Staaten hinein zu einem der Sprecher für Lateinamerika.
García Márquez ist sich der Tatsache be­wußt, daß die durchschnittliche Teleno­vela ein viel größeres Publikum erreicht als die gesamte Leserschaft all seiner Romane. Márquez: “An einem einzigen Abend kann eine Episode allein in Ko­lumbien 10 bis 15 Million Menschen er­reichen. Ich habe noch immer nicht 10 bis 15 Millionen Exemplare meiner Bücher verkauft. Werdas Publikum erreichen will, findet Telenovelas selbstverständlich at­traktiv. Dieses Medium ist ein Mittel zur massenhaften Verbreitung der eigenen Ideen und muß daher genutzt werden. In einer Telenovela verfüge ich über diesel­ben Ausdrucksmöglichkeiten wie in der Literatur und im Film. Da bin ich absolut sicher.” Brasili­anische Produzenten über­nehmen häufig Romane für das Fernse­hen. Und das Melodrama als Standbein des populären Theaters ist jetzt wieder­entdeckt worden, wobei ein Typ von Tele­novelas produziert wird, der die US-Pro­dukte auf dem Weltmarkt übertrifft.
Während das gedruckte Wort früher Aus­druck der Modernität und der Bildung ei­nes nationalen Bewußtseins war, ist das Fernsehen der Wegweiser heutiger glo­baler Kultur geworden. Wie der argentini­sche Politikwissenschaftler Oscar Landi bemerkt, hat das Fernsehen eine zweideu­tige Wirkung auf die Kultur. Es “kolonisiert und zerstört unsere vorherige Lebensweise”, aber es “setzt uns auch in Verbindung mit der Welt und bringt uns dazu, Dinge zu verstehen, die wir ohne Fernsehen nie erfahren hätten.” Der frü­here Anspruch der Literatur, Einblicke in die tiefen Untertöne der Geschichte und der Natur der Sprache zu gewähren, ist heutzutage zur Domäne des Fernsehens geworden.
Aber der Gebrauch des Fernsehens ist in der jüngsten Vergangenheit zu eng mit autoritären oder Militärregierungen ver­knüpft gewesen. Es war in einigen Län­dern in ideologischer Hinsicht zu stark mit dem Staat verbunden, als daß die literari­sche Intelligenz in Bezug auf seine päd­agogischen Möglichkeiten optimistisch sein könnte.
Die argentinische Kritikerin Beatriz Sarlo führt aus, daß der öffentliche Raum, die einstige Domäne der Intelligenz, jetzt von den Massenmedien beansprucht wird. Die Parameter einer sozialen Debatte in einer massenmedialen Gesellschaft werden eher von impliziten als von expliziten Regeln bestimmt.
Marktkonformes Schreiben
Die Literatur ist außerdem in zunehmen­den Maße selbst massenmedialisiert. Mit der Globalisierung der Buchindustrie, mit Übersetzungen und Bestsellern sind die Anforderungen an Verallgemeinerbarkeit und Übersetzbarkeit gestiegen. Der Markt verhält sich nicht tolerant gegenüber den literarischen Werken, die zu experimentell oder “nicht übersetzbar” sind. Manche Schriftsteller bemühen sich jetzt um Kommerzialisierung, anstatt sie abzuleh­nen. Beispielsweise ist es offensichtlich, daß “Bittersüße Schokolade” der mexika­nischen Schriftstellerin Laura Esquivel geschrieben wurde, um einen breiten Markt zu erreichen. Auch der älteren Schriftsteller-Generation ist die Marktfä­higkeit nicht gleichgültig. In diesem Sinne ist es interessant, Vargas Llosas im Plau­derton geschriebenen “El Pez en el Agua” (Der Fisch im Wasser, 1993) mit seinem tiefschichtigen politischen Roman “Gespräch in der Kathedrale” (1969) oder den klaren Erzählstil von García Márquez in “Der General in seinem Labyrinth” (1989) mit dem barocken und verschlun­genen “Herbst des Patri­archen” (1975) zu vergleichen. Experimentelles Schreiben, das früher von kleinen Verlagsunterneh­men wie Joaquín Mortiz und Sudameri­cana gefördert wurde, ist jetzt auf der Strecke geblieben.
Rütteln an Tabus
Doch trotzdem floriert die Literatur – zu­mindest oberflächlich betrachtet. Es gibt eine Fülle neuer Schriftsteller, junger Dichter und Künstler, die in jedem denk­baren Stil, über jedes denkbare Thema schreiben. Literatur wird noch immer die Aufgabe zugewiesen, diejenigen zu ver­treten, die früher schon von der Staatsbür­gerschaft der “ciudad letrada” (Stadt der Schriftgelehrten) ausgeschlossen waren – wie Angel Rama sie nannte: Indígenas, Schwarze, Mulatten, Frauen und Homo­sexuelle. Die Literatur stellt sich noch immer gegen die offizielle Geschichts­schreibung, untersucht die Bedeutung des Exils und der Erinnerung und rüttelt an den Tabus, die der weiblichen Sexualität auferlegt wurden.
Zu einer Zeit, da die Grenzen zwischen den Gattungen und die Unterschiede zwi­schen oben und unten, Fiktion und Reali­tät verschwimmen, ist es schwierig, die Besonderheit der Literatur in ihrer oppo­sitionellen Bedeutung zu verteidigen. Octavio Paz hat vor kurzem behauptet, daß “die Lyrik eine Kunst an den Rändern der Gesellschaft geworden ist. Sie ist die andere Stimme. Sie lebt in den Katakom­ben, aber sie wird nicht verschwinden.” Nach Paz erlaubt dieser marginalisierte Status der “klandestinen Poesie” als “Kritik an der Konsumgesellschaft” zu handeln. Es ist schon eine Ironie, wenn Paz, dessen Achtung vor der abstrakten Frei­heit ihn oft als Freiheitlich-Konserva­tiven erscheinen ließ, sich nun in einer Allianz mit einigen jungen Kritikern in Opposition gegen die Kulturindustrie und den Markt wiederfindet.
Die Versuchung der Konsumgesellschaft
Was der Literatur in der Vergangenheit zu ihrem besonderen Anspruch – der Kon­sumgesellschaft zu widerstehen – verhol­fen hat, hatte mit der Natur des Lesens zu tun. Avantgardistische und modernistische Literatur lenkten die Aufmerksamkeit auf die Sprache, erforderten langsames und sorgsames Lesen und verlangten das Ent­schlüsseln von Kodes sowie das Lesen zwischen den Zeilen. Es galt als Autono­mie des literarischen Textes, wenn darin schnöde Populärität und All­gemeinverständlichkeit abgelehnt wurden. Durch diese Autonomie sollte die Oppo­sition zu sozialen Konventionen deutlich werden. Noch in den 60er Jahren konnte getrost behauptet werden, Literatur sei re­volutionär und der Schriftsteller führe Guerillakämpfe mit seinem Kugelschrei­ber.
Was für heutige Schriftsteller problema­tisch ist, ist nicht nur die Verlockung der Popularität, sondern die schnelle Verein­nahmung und Verwandlung des früher schockierenden oder innovativen Schrei­bens in Trend oder Stil. “Magischer Re­alismus” war einst ein Wegweiser für la­teinamerikanische Originalität und ist heute nur noch ein Markenname für Exo­tik. Es ist kein Wunder, daß für linke Kri­tiker die politischen und ethischen Funk­tionen der Literatur schon lange von der Zeugnisliteratur erfüllt wird.
Vielleicht das größte Problem für die Kri­tiker ist das der Wertung. In der heutigen Kultur scheint kritisches Urteils­vermögen im Hinblick auf gute und schlechte Kunst verschwunden zu sein. In einer Diskussion über Kunst, die auch auf Literatur bezo­gen werden kann, kritisiert Beatriz Sarlo die Verbreitung des “kulturellen Populis­mus” der Sozialkritik, der jede Kunst auf ihre Funktion redu­ziere. “In Anbetracht der Relativierung der Werte und des Feh­lens anderer Unter­scheidungskriterien wird der Markt als der ideale Raum für Pluralismus betrachtet.” Anstatt neutral zu bleiben, könnte mit dem Markt argumen­tiert werden, der Publikum und Künstler beeinflußt. Der Markt übt die absolute Macht aus, besonders über die künstleri­schen Produkte, die mit der Kulturindu­strie verbunden sind, und ver­drängt so die hierarchische Autorität der Fachleute tra­ditioneller Prägung. Hierar­chien stürzen ist eine Sache, aber kriti­sches Urteilsver­mögen zurückzuweisen, ist Sarlos Mei­nung nach eben schlimmer, weil der Ver­zicht, über Werte zu diskutie­ren, zur pas­siven Zusammenarbeit mit neoliberalen Demokratiemodellen führt und die Kunst ihres Widerstandcharakters beraubt.
Die Wiederaufwertung des Ästhetischen
Es ist gewiß nicht zufällig, daß die Forde­rung nach Wiederaufwertung des Ästheti­schen gerade im Zusammenhang mit Re­demokratisierung und angesichts wach­sender sozialer Unterschiede erhoben wird. Massenkultur und Neoliberalismus reduzieren das Widerstandspotential der Ästhetik. Andererseits kann Sarlos Ver­teidigung der ästhetischen Werte nicht so einfach aus der elitären Kultur enträtselt werden, wie sie dies gehofft hatte.
Für literarische Praktiker ist nicht das kri­tische Urteilsvermögen das entscheidende Problem, sondern die Schwierigkeit, den Versuchungen der Konsumwelt zu trot­zen. Diamela Eltit zum Beispiel, die mit dem Schreiben während der Pinochet-Diktatur begann, empfindet es als ihre Aufgabe, als Schriftstellerin “etwas ins Schreiben zu stecken, was sich Waren und Zeichen widersetzt.”
Vom Apostel zum Nomaden
Dies könnte sich anhören wie die Rück­kehr zu avantgardistischen Programmen, würde Eltit in ihren Romanen nicht die totale Wiedergestaltung von Geschlecht und Sexualität auf sich nehmen – etwas, das die Avantgarde als selbstverständlich betrachtet hatte. Eltit nutzt ein traditio­nelles Genre – in diesem Fall den Roman – obwohl sie seine Syntax völlig verändert. Interessanterweise ist dies eine literarische Gattung, die die Stimmung der Zeit sehr gut gestaltet, ohne sich dem Zeitgeist zu unterwerfen: “eine Chronik”, die durch das liberalistische Netz hindurchschlüpft. Auch das Essay hat sich verändert: es be­freit sich von pedantischem Anliegen und umfaßt das Phantastische.
Die Beispiele ähneln sich, indem sie sich weigern, die Grenzen der Gattung oder den klaren Unterschied zwischen Fiktion und Tatsachen zu respektieren. Gleichzei­tig betonen sie die Ausdrucksfähigkeit der Sprache als die zentrale Metapher für Künstler und für das Alltagsleben allge­mein.
Dies sind natürlich willkürlich gewählte Beispiele, aber sie zeigen doch die grundlegende Verschiebung vom Schrift­steller als Apostel zum Schriftsteller als Teil nomadische Randgruppen – was wie­derum die Ära der internationale Bennet­ton-Epoche und den E-mail-Universalis­mus kennzeichnet. Die Schlußfolgerung ist nicht so widersprüchlich wie sie er­scheinen mag: In der Epoche globaler In­formationsflüsse und Netzwerke sind die begrenzten lokalen Zusammenhänge zu den Orten mit der größten Intensität ge­worden.

Die Dinge stehen schlecht

Als der junge Kommunist Carlos Cerda nach dem Putsch im September 1973 wie Tausende seiner Landsleute den Weg ins Ostberliner Exil antritt, beschränkt sich seine literarische Pro­duktion auf einschlä­gig Weltanschau­liches. Der Doktor der Philosophie an der Universidad de Chile, der unter anderem auch Unterricht an der Theaterschule genommen hat, kann auf die Veröffentlichung eines Essays mit dem Titel “El leninismo y la victoria po­pular” (Der Leninismus und der Sieg des Volkes) zurückblicken.
In der DDR weitet Cerda, der dort den Doktortitel für Literaturwissen­schaft er­wirbt und zuletzt an der Humboldt-Uni­versität über lateiname­rikanische Literatur doziert, sein schriftstellerisches Schaffen aus. Er schreibt Erzählungen, Hörspiele, Ro­mane. Im Gegensatz zu vielen anderen ChilenInnen hat er es relativ leicht, auch das Leben westlich der Mauer kennenzu­lernen. Im Dezember 1984 kehrt er nach Chile zurück.
In “Morir en Berlín” zeichnet Cerda den Alltag und die spezifischen Kon­flikte der ExilchilenInnen in kalten Farben und ohne Mitleid. Fremd geblieben in einer grauen und büro­kratischen Welt mit schwer nachvoll­ziehbaren Spielregeln, im Ost­berliner Winter, überschneiden sich und kolli­dieren die Schicksale mehrerer Prot­agonisten(paare):
Zunächst ist da der Chilene Mario, der für die Beziehung mit der Tochter ei­nes Mini­sters seine Frau Lorena ver­lassen hat. Cerda stellt literarischen Bezug zum Mo­tiv der “Medea” aus der griechischen Tra­gödie her: Der Verbannte, der “die Toch­ter des Kö­nigs” zur Frau nimmt, steigt auf, fällt heraus aus dem Chor der Minderpri­vilegierten, der Bewohner des chileni­schen “Ghettos”, für die er zum Fremden wird.
Lorena, die Verlassene, begehrt gegen das enge Korsett staatlicher Bevor­mundung auf und beantragt gegen den erbitterten Protest der mit Partei und Bürokratie kooperierenden chilenischen Oficina die Ausreise nach Mexiko. Sie erfährt vom unerwarteten Besuch ihrer Eltern aus Chile. In einer Szene voll­kommener Trostlosigkeit zerbrechen die “frommen Lügen” der Exilantin, die zur Beruhigung Briefe voller gefäl­liger Schilderungen des Lebens in Deutschland nach Hause ge­schickt hat, aber auch die der Eltern, die in Wirklichkeit im Zuge des wirtschaftli­chen Zusammenbruchs den Glauben an das Pinochet-Regime sowie ihre ganze Habe verloren haben und nun Zuflucht bei der Tochter suchen.
Schließlich der ehemalige Senator, ein alt gewordener orthodoxer Kommunist, des Deutschen nicht mächtig, der aus einer unreflektierten Dankbarkeit dem soziali­stischen Staat und “Gastgeber” gegenüber seine Landsleute zu system­konformem Verhalten anzuleiten sucht. Am Tag, an dem er von seiner tödli­chen Krankheit er­fährt, macht er die Zufallsbekannschaft einer jungen deutschen Tänzerin. In dieser vielleicht ersten echten Begegnung mit ei­ner Bürgerin des von ihm verehrten Staa­tes bekommt er mit einem Mal das ganze Ausmaß seiner Isolation zu spüren. Gleichzeitig aber verschließt er verzwei­felt die Augen vor den Schat­tenseiten ei­nes Sozialismus, der die junge Frau als Vorzeigeobjekt seiner kulturellen “Leistungsfähigkeit” mißbraucht.
Das Buch ist eine – nicht polemische – Abrechnung mit dem System der DDR, das für viele zur Rettung nach der Verfol­gung durch die Militärs ge­worden war, gleichzeitig aber auch eine virtuose und beklemmende Studie über menschliche Abgründe, über das Fest­klam­mern an brüchig gewordenen Ideologien, über Schuld, Lüge und Depression. Dabei be­wahrt Cerda – trotz des kalten, ana­ly­tischen Blicks – eine solidarisch wirkende Anteilnahme am Schei­tern seiner Figuren.

Interview mit Carlos Cerda
Inwieweit spiegeln das Leben und die Konflikte der Personen in Ihrem Buch “Morir en Berlín” Ihre persönlichen Er­fahrungen in der DDR wider?
Jeder Roman ist zu einem guten Teil au­tobiographisch – und jedes Zeugnis einer persönlichen Erfahrung enthält einen großen Anteil an fiktiven und poetischen Elementen. “Morir en Berlín” ist ein Ro­man, der mein Le­ben, aber auch das vieler anderer Chi­lenen in der DDR zum Thema macht. Darüber hinaus ist es aber auch ein Buch über den Zusammenstoß zwi­schen den Idealen, den Utopien, die uns hierher ins Exil gebracht hatten, und der für uns außerordentlich span­nungsreichen, kon­fliktgeladenen und bis zu einem gewissen Grad entfrem­denden Wirklichkeit dieses Staates. Dessen Fehler sind zu Genüge be­kannt, und ich halte es schlichtweg für eine Dummheit, aus einer falsch verstan­denen Loyalität heraus diese Defizite rechtfertigen zu wollen. Wenn nun Chile­nen, aber auch Deutsche, die in der DDR gelebt haben, mein Buch mit dem Hinweis auf heute ge­schehende, von einem ande­ren System verübte Ungerechtigkeiten kri­tisieren, dann hat das eine mit dem ande­ren einfach gar nichts zu tun. Ich habe Ge­spräche mit vielen Exil-Chilenen geführt, die nach dem Anschluß der DDR ihre Ar­beit, aber auch die Aner­kennung ihrer per­sönlichen Würde verloren haben. Das wa­ren Willkürakte, die mit nichts zu recht­fertigen sind. Aber dieses Buch handelt von etwas ganz anderem, von der Realität in der DDR bis zum Jahre 1985, als ich hier lebte. Ich hätte übrigens nach 1989 die Gunst der Stunde nutzen und in Chile einen Roman über den Fall der Mauer veröffentlichen können – aus kommer­zieller Sicht sicherlich ein größerer Erfolg. Aber das hätte ich unredlich gefunden: Ich kann nur über das be­richten, was ich selbst erlebt habe.
In der Tat habe ich auf indirekte Weise von vielen Seiten Kritik an mei­nem Buch erhalten. Der Tenor dieser Kritik – meist von chilenischen Kom­munisten, die mit mir hier im Exil ge­lebt haben, aber auch von solchen, die in der BRD lebten und gleichzeitig das System der DDR vertei­digten – unter­stellt mir eine Art Verrat. Verrat an den kommunistischen Idealen zu einem Zeitpunkt, da es angebracht wäre, diese mehr denn je zu verteidigen.
Ich habe früher nie einen Hehl aus meiner Mitgliedschaft in der Kommu­nistischen Partei gemacht. Ausgetreten bin ich 1983, ein Jahr vor meiner Rückkehr nach Chile. Seitdem habe ich keine Verbindung mehr zur Partei. Mein Austritt hatte zwei Gründe: Ei­nerseits die absolute Unfähig­keit der Kommunisten, zu erkennen, daß das System der DDR sozialistischen Idealen einfach widersprach. Anderer­seits die verfehlte Strategie des bewaff­neten Kampfes gegen die Diktatur in Chile: Er hat nicht zum Erfolg geführt, aber den Tod von hunderten hervorra­genden Ge­nossen bedeutet. Vor die­sem Hintergrund meiner Trennung von der KP läßt sich mein Buch besser verstehen.
Hat sich in den 12 Jahren ihres Exils in der DDR ihr Urteil über diesen Staat zur Kritik hin gewandelt oder waren Ihnen die Widersprüche der re­alsozialistischen Wirklichkeit von An­fang an bewußt?
Für uns Chilenen, die wir aus einem Land der Dritten Welt – und darüber­hinaus aus einer brutalen Diktatur – in die DDR kamen, war der erste Ein­druck außeror­dentlich positiv. Nicht nur aufgrund der Geste umfassender Solidarität, die uns zuteil wurde. Uns beeindruckte zutiefst ein Staat, der so massiv ein kulturelles Leben förderte; uns faszinierte eine Ge­sellschaft, die sich als antirassistisch defi­nierte. Die Ideale von Gleichheit und Menschlich­keit, die beschworen wurden, schienen unsere eigenen zu sein. Und das Le­bensniveau war in unseren Augen – vielleicht nicht im Vergleich zur BRD – relativ hoch. Vor allem aber hatten wir das Gefühl, in einem Land zu sein, das nach vorn schaute und das – so kam es uns damals vor – gar nicht so viel Angst vor Kritik, vor Dissidenz hatte.
Der erste Schritt zu einer realistische­ren Sichtweise war das Erlernen der deut­schen Sprache. Wir begannen uns mit dem Arbeitskollegen, der Sekretä­rin, dem Taxifahrer zu unterhalten, mit dem Nach­barn, der zum selben Fußballspiel ging. Das waren teilweise sehr offene Gesprä­che. Sie fragten mich: “Warum sind Sie eigentlich hierher ge­kommen?” – “Weil es in meinem Land eine Diktatur gibt.” – “Aber wie konnten Sie denn dann hierher aus­reisen?” – “Ich bin hier im Exil.” – “Aber kann denn ein Chilene, der in sei­nem Land lebt, nach Argentinien, nach Peru, nach Bolivien reisen?” – “Wenn ihm das seine ökonomische Situation erlaubt, natürlich.” – “Sehen Sie, ich kann nicht einmal meine Mutter in Bremen besu­chen.” Solche Gespräche waren irgend­wann aus­schlaggebender als das, was uns der Hauswart oder die Lehrerin über Mar­xismus-Leninismus erzählten. In “Morir en Berlín” habe ich dies in eine Szene zu fassen versucht, in der zwei Chileninnen im “Linden-Korso” auf zwei junge Deutsche treffen, die in die Partei­schule gehen. Da kommt es nicht nur zu einem billigen Flirt, sondern zu einer echten Annäherung, als einer der beiden sagt: “Die Dinge stehen schlecht bei euch und hier auch.”
Desillusionierung angesichts innenpo­litischer Verhärtung
Uns Chilenen jedenfalls gingen späte­stens zu dem Zeitpunkt die Augen auf, als sich die Lage in Polen zuspitzte und Jaruzelski an die Macht kam. Plötzlich wurde offenbar, daß die DDR zweierlei Maß an­legte: Was sie im Falle Chiles so scharf verurteilt hatte, lobte sie auf einmal in ih­rem Nach­barland. Und die Ähnlichkeit der Vor­gänge war erschreckend: das Parla­ment aufgelöst, die Gewerkschaft verbo­ten, die im Ansatz kritische Presse zen­siert – mit anderen Worten: eine Diktatur. Selbst der General Jaruzelski mit seiner dunklen Brille glich dem General Pi­nochet – auch wenn das eine zufällige Parallele ist.
Zuletzt begann sich ja das System der DDR unter dem Eindruck der Ereig­nisse in Polen, später in der So­wjetunion, im­mer mehr zu verhärten. In der Humboldt-Uni, wo ich arbei­tete, wurden plötzlich renommierte und beliebte Dozenten, die nicht der SED angehörten, gegen Partei­kader ausge­tauscht. Es wurde an keinem Punkt mehr eine Öffnung zugelassen. Vor dem Hintergrund dieses Prozesses habe ich damals die DDR verlassen.
Als ich zurück in Chile war, war der ge­sellschaftliche Protest gegen die Diktatur in vollem Gange. Die regel­mäßigen De­monstrationen auf den Straßen, die offene Ablehnung des Re­gimes hatten eine ziemlich breite Basis, bis diese zusam­menschmolz – nicht zuletzt aufgrund der Option der KP für den bewaffneten Kampf gegen die Militärherrschaft. In die­sem Zusam­menhang stand auch das At­tentat ge­gen Pinochet 1986, das eine enorme Repression, aber auch einen Stim­mungsumschwung zugunsten der Rechten bewirkte. Der Schluß, den ich daraus ziehe, ist, daß die Kommuni­stische Partei hier und dort die falschen Wege ge­gangen ist. Daß ich dies in meinem Buch benenne, hat mir aus diesem Lager freilich schärfste Ablehnung beschert.
Hätten Sie dann nicht schon viel frü­her, noch in der DDR, offen Kritik an den von Ihnen empfundenen Mißstän­den üben sollen?
Im Rahmen meiner Möglichkeiten glaube ich, das getan zu haben. Bei­spielsweise habe ich Anfang der acht­ziger Jahre ein Hörspiel für den Rundfunk der DDR ge­schrieben. Die Geschichte hieß “Die Zwillinge von Calanda” und schilderte auf metapho­rische, aber ziemlich offensichtli­che Weise die Doppelmoral, die Schizo­phrenie von Menschen, die in einem tota­litären System leben: Den Men­schen von Calanda wächst eine Art siamesischer Zwilling aus dem eigenen Körper, der immer das sagt, was der andere gewohnt war zu verschweigen. Am Ende töten diese Menschen ihr verhaßtes, uner­wünschtes alter ego. Als ich mit dem Ent­wurf zu den verant­wortlichen Redakteuren kam, die sehr offen für kritische Töne waren, sagten sie: “Tja, das könnte ganz schön schwierig werden. Aber wenn man ge­nügend lateinamerikanische Musik unterlegt…” Schließlich wurde es gesen­det, und nicht ohne Erfolg. Für mich ist so etwas durchaus Kritik.
Wie wurde Ihr Buch in Chile aufgenom­men? Beschränkt sich das Interesse auf den Personenkreis derer, die auch das Exil durchgemacht haben, oder gibt es eine breitere Aufmerk­samkeit?
Das Buch erschien in erster Auflage im Sommer 1993. Inzwischen ist die vierte Auflage á 3000 Exemplare ge­druckt wor­den, was für Chile einen enormen Erfolg darstellt. Die Kritik war bis auf Ausnah­men sehr positiv, selbst im Punto Final, einer Zeitschrift des linken MIR, wurde es gelobt. Im Mai diesen Jahres hat es den zweiten Preis beim Premio Pegaso ge­wonnen, einem lateinamerikanischen Lite­raturpreis, an dem über 400 Romane aus den Jahren 1990 bis 1993 teilnah­men.
Welche kulturelle, aber auch politische Rolle kann Literatur heute in Chile spie­len? Welche Rolle sollte sie spie­len?
Ich glaube, die Literatur – und die Kunst im allgemeinen – spielt immer eine positive Rolle, wenn es darum geht, ein von Vernunft, von Respekt gegenüber kontroversen Ansichten ge­prägtes Klima zu schaffen. Vor allen Dingen aber schärft sie das moralische Urteilsvermögen. Die Länder Latein­amerikas sind heutzutage im Begriff, wirtschaftlich wieder Fuß zu fas­sen, meine ich. Sie bieten ihre Produkte mit zunehmendem Erfolg auf dem Welt­markt an und stehen davor, Rück­stände aufzuholen, die sich in Jahr­zehnten aufge­baut haben. Aber dieser Prozeß, der an und für sich positiv zu beurteilen ist, birgt die Gefahr, daß unser alltägliches Leben in zunehmen­dem Maße nur noch von den Charak­teristika des Produktionsprozesses und des Konkurrenzdenkens geprägt wird. Unter dem ökonomischen Druck wird un­ser Lebensstil von Tag zu Tag entfremde­ter, vom Prinzip der Kon­kurrenz diktiert. Die Fähigkeit zur Kritik, zum Urteilen, das Gefühl für unsere Identität als Latein­amerikaner gehen dabei verloren.
Bücher sind in unserem Kontinent – und zumal in Chile – ein knappes Gut: Für den größten Teil der Bevölkerung sind sie zu teuer, und Leihbüchereien gibt es praktisch überhaupt nicht. Freilich muß man in Be­tracht ziehen, daß es immer weitaus mehr Leser als Käufer von Büchern gibt. Pro ver­kaufter Ausgabe zirkulieren oft vier oder fünf kopierte Versionen eines Wer­kes. Aber ich finde sehr interes­sant, was Carlos Fuentes vor­geschlagen hat: Die lateinamerikanischen Regie­rungen sollten bei ihrer nächsten Ver­handlung zum Ab­bau von Handels­hemmnissen als ersten Tagesordnungs­punkt die Frage der Lite­ratur behan­deln. Noch vor allen anderen Gütern – Kiwis, Orangen, Kaffee – vor irgendei­nem Pro­dukt unseres Bodens und un­serer Arbeit sollten Bücher – als gei­stige Produkte der Völker unseres Kontinents – ohne einen Peso Abga­ben oder Zölle die Grenzen passieren. Das hätte auch eine Verbilli­gung der Literatur zur Folge.
Vergangenheitsbewältigung der Dikta­tur
Die Hauptfigur in Ihrem Buch, ein Chi­lene im Ostberliner Exil, erklärt ei­ner Deutschen in einer Metapher, daß es “viele Chilenen gibt, die in Weimar woh­nen und von Buchenwald nichts wissen wollen”. Sie ziehen also Paral­lelen zwi­schen der deutschen und der chileni­schen (jüngsten) Vergangenheit. Kann und muß die Literatur in Chile einen Beitrag zu ei­ner Vergangenheitsbewäl-tigung leisten?
Auf jeden Fall. Das muß in der Kunst, in der Literatur geschehen, denn die Politik kann das in Chile nicht leisten, was ich durchaus nachvollziehen kann. In der lite­rarischen Reflexion, aber auch im Theater und im Film können Rechnungen begli­chen werden, können Konflikte ausgetra­gen werden, die auf dem Gebiet der Poli­tik nur zu unheil­vollen Konfrontationen führen würden. Ein Beispiel aus einem anderen Land: Die Konflikte, die der ku­banische Film Fresa y Chocolate auf­greift, werden auf diese Weise bewußter und kon­kreter, als eine Behandlung des The­mas auf politischer Ebene. Wenn wir also heute drängende ethische Fragen, die unser Land beschäftigen – die To­ten, Ver­schwundenen, das Exil etc. – ins Bewußt­sein rufen wollen, dann funktio­niert das besser in der Einsam­keit des Le­sens als in einer Auseinan­dersetzung zwi­schen Par­teien. Die Romane von Heinrich Böll ha­ben mehr zur Aufarbeitung der deutschen Ver­gangenheit beigetragen als die meisten Diskussionen im Bundestag über dieses Thema. Die moralischen Kon­flikte ei­ner Gesellschaft werden am tief­gründigsten durch ihre kulturellen Akti­vitäten bewäl­tigt.
Was wäre – nach Ihren Erfahrungen mit dem Leben in der DDR und vor dem Hintergrund des politischen Pro­zesses in Chile – Ihre Definition, heute links zu sein?
Eine zutiefst humanistische Antwort auf die heutigen Probleme zu geben. Auf die alten, wie Armut, Ungerech­tigkeit, Ras­sismus, Diskriminierung, und auf die neuen: Umwelt, öffentliche Moral, Indivi­dualismus. Für die Linke, wie ich sie defi­niere, gibt es den un­umstößlichen Wert des Menschen und das Verdienst, gegen jede Art von Diktatur gekämpft zu haben – und ge­gen die egoistischen Partialinteres­sen der Unternehmen. Diese Welt ist mo­mentan eine Welt der Unternehmen. Um sie wieder zu einer Welt des Men­schen zu machen, muß der Staat regulie­rend ein­greifen, die Wirtschaft den Inter­essen der Menschen unter­ordnen.
In Chile, glaube ich, läßt die Demo­kratie selbst in ihrer jetzigen Form Platz für alle möglichen Ziele – auch für dieses. Ob im Jahr 2000, wenn eine neue Regierung ge­wählt wird, die Concertación (die Regierungs­koalition in Chile, Anm. d. Red.) weiter­macht wie bisher, oder ob sich die Macht nach links oder rechts verschiebt, ist voll­kommen offen. Aber genau das führt zu einem größeren Verantwortungsbewußt­sein bei denen, die heute Politik machen.
Gibt es irgendeinen Zusammenhang, ein verbindendes Element zwischen den Auto­ren der sogenannten “Nueva Nar­rativa Chilena”, der auch Sie zu­gerechnet werden?
Es gibt einen Zusammenhang, der über die Tatsache hinausreicht, daß wir mehr oder weniger der selben Genera­tion an­gehören. Ich halte es für ein relativ neues kulturelles Phänomen in Chile, daß ausge­rechnet chilenische Autoren zu den meist­gelesenen gehö­ren. Es ist ungeheuer be­deutend für ein Land wie das unsere, daß auf ein­mal die eigene Literaturproduktion im Mittelpunkt des Interesses steht. Wohlgemerkt: das soll zu keinem kul­turellen Nationalismus führen. Aber früher gab es einfach kein Vertrauen in unsere eigene Literatur. Kein Wunder, denn wer seine Bücher während der Diktatur veröf­fentlichen konnte, mußte ja von vornher­ein das Plazet der Zen­sur erhalten haben. Genauso war es unter der Franco-Herr­schaft in Spa­nien: Plötzlich gab es einen Nachfra­geboom nach latein­ame­rikanischer Li­teratur, denn zensierte Kul­tur hat nun mal einen faden Beige­schmack.
Was die Nueva Narrativa Chilena an­geht, so vereint sie AutorInnen mit teil­weise sehr unterschiedlichen politi­schen Über­zeugungen, mit sehr ver­schiedenen Stilen, und das ist gut so. Wir sind kein Fußball­team, wir suchen kein gemeinsa­mes Pro­gramm, sondern wollen unabhän­gig von­einander dem Beruf des Schrei­bens nach­gehen.
Zu guter letzt: Was machen Sie jetzt, und was sind Ihre Projekte?
Ich schreibe an einem neuen Roman und an einem Hörspiel. Darum dreht sich für mich momentan alles: weiter­schreiben und weiterleben.
Und vom Schreiben leben?
Nie und nimmer! Das können die wenig­sten, und in Chile schon gar nicht. Was mich betrifft, ich arbeite vormittags in ei­ner Werbeagentur, die ich auch leite. Die Nachmittage gehö­ren dann ausschließlich der Schrift­stellerei.
Stellt das für Sie keinen Widerspruch dar, Werbung und Literatur?
Schon. Aber man muß eben lernen, mit Widersprüchen zu leben.
Herr Cerda, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Agroexport unter ökologischem Anpassungsdruck

Die Wirtschaft hat die Zeichen der Zeit erkannt. Die westlichen Durchschnittskon­sumentInnen verlangen immer häufiger nach “Öko-Quali­tät”. Man reagiert zunächst vor allem mit Etiketten – Ecola­beling. Auch in den großen Supermärkten wird immer mehr “biologisch Abbau­bares” und “ökologisch Angebautes” an­geboten. Selbst die Automo­bilun­ternehmen bieten “grüne” Fahrzeuge an oder den Öko-Golf. Schließlich glänzt die deutsche Chemiein­dustrie momentan mit ganz­seitigen An­zeigen in Tageszei­tungen, um den Le­serInnen die “Nachhaltigkeit” ihrer Pro­duktionsweise nahezubringen. Jenseits des vielfachen Etikettenschwin­dels ist jedoch tatsächlich etwas in Bewe­gung gekom­men. Durch Produktnormen und gesetzli­che Bestimmun­gen wie etwa die Gefahr­stoffverordnung oder das Chemikalienge­setz, in neuester Zeit zu­dem durch die Etablierung eines Ökoau­dits (interne Be­triebskontrollen zur Er­stellung von Öko­bilanzen) wer­den die Produktionskreis­läufe in Unternehmen stärker unter die Lupe genommen. Eine wachsende Zahl von Firmen geht inzwi­schen Selbstver­pflichtungen ein und kann sich nach Um­stellung ihrer Pro­duktion be­rechtigte Hoffnungen auf wachsende Marktanteile machen. Unterstützt wird dieser Prozeß durch die Vergabepolitik öffentli­cher Verwaltungen. Auf nationaler Ebene gibt es seit 1977 ein Um­weltzeichen, das weit­gehend unabhängi­gen, wissenschaftlichen Kri­terien genügt. Auf internationaler Ebene strebt man eine einheit­liche Pro­duktnormierung an und die EU hat schließlich 1992 eben­falls ein Umweltzei­chen eingeführt. Die Anforde­rungen, die an euro­päische Produkte ge­stellt werden, sollen ebenso für außerhalb der EU er­zeugte Waren Gültigkeit haben. Davon sind zum Beispiel auch Agrarpro­dukte aus lateinamerikanischen Ländern betroffen.
Rahmenbedingungen für Agrar­exporte des Südens
Zwischen 1970 und 1992 ist der Anteil Lateinamerikas am Welthandel von 5,6 auf 3,3% zurückgegangen. Das internatio­nale Handelsklima ist durch einen wach­senden Protektionismus des Nordens ge­prägt ge­wesen, der die Länder Lateiname­rikas jährliche Exporteinnahmen von ca. 40 Mrd. US-Dollar gekostet hat. Dabei sind es vor allem die nichttarifären Han­delshemmnisse, die dem Süden zu schaf­fen ma­chen. Ende 1990 hatte der GATT 284 solcher Exportrestriktionen re­gistriert, wovon allein 59 auf landwirtschaftliche Produkte ent­fielen. Gleichzeitig subven­tionieren die Industrieländer ihre Agrar­produktion mit jährlich ca. 300 Mrd. US-Dollar. Darüber hin­aus leiden vor allem arbeitsintensive Branchen, die aufgrund nied­riger Lohnkosten bestimmten Ländern überhaupt erst eine Wettbe­werbschance einräumen, unter Handelsbeschränkungen. Dies trifft vor allem auf die Textilbranche zu. Der Verfall der Agrarpreise seit den 80er Jahren hat Lateinamerika wegen sei­ner hohen Ab­hängigkeit von diesen Ex­porterlösen, die zwei Drittel der Gesamt­erlöse ausmachen, schwer getroffen. Die FAO beziffert den Preis­rückgang in den letzten Jahren auf 26%. Die Schuldenlast und die einseitige Ausrichtung auf den Export weniger Agrarprodukte hat viele Länder dazu gezwungen, die Produktion von Primärgütern noch zu verstärken. Dies führte jedoch zu einem Überangebot und be­schleunigte damit den Preisverfall landwirtschaftlicher Produkte weiter. Der wachsende ökonomische Druck auf die Länder des Südens hat einer immer bedin­gungsloseren Ausbeutung von Roh­stoffen und einem rücksichtsloseren Um­gang mit Ressourcen weiter den Weg geebnet. Bis­her stellt gerade die nahezu uneinge­schränkte Umwelt­zerstörung einen kom­parativen Kostenvorteil der Länder des Südens dar. Der Berücksichtigung exter­ner Kosten stehen mehr denn je die Sach­zwänge des Weltmarktes entgegen. Gleichzeitig beginnt die auch für ihren Außenhandel relevanter werdende Um­weltpolitik der Indu­strieländer, die Länder des Südens unter einen neuen Anpas­sungs­druck zu stellen. Ein wichti­ges In­strument ist in diesem Zusammen­hang die Vergabe von Gütesiegeln für Waren, die auch lateinameri­kanische Ex­portpro­duzenten in Zukunft zwingen wird, Nachweis über ökologische Produktions­methoden zu führen.
Ökologischere Holzprodukte aus Chile?
Chile ist eines der Länder, dem es – von vielen inzwischen gar als “Modellfall” ge­feiert – gelungen ist, insbesondere durch die Diver­sifizierung seiner Agrarexporte ein erstaunliches Wachstum zu er­zielen. Neben dem traditionellen Exportrohstoff Kupfer sorgen vor allem Holzwirtschaft und Fischerei für die hohen Exporterlöse. Die holzverarbeitende Industrie wird als eine der Branchen betrachtet, mit der Chile den Einstieg in die “zweite Phase der exportorien­tierten Industrialisierung” gelingen könnte.
Überwiegend auf ausgelaugten Flächen wurden, seit Mitte der 70er Jahre mit staatlicher Förderung Pinus radiata- und Eukalyptus-Plan­tagen angelegt. Die inten­sive Forstproduktion erfolgte über­wiegend zur heimischen Zellstoffproduk­tion sowie zum Export von Holzchips. Weitere 10% des Holzverbrauchs werden durch die Waldnutzung gesichert. Auch hier macht die Holzchip-Produktion den größten An­teil aus, dazu kommt die Mö­belproduktion sowohl für den heimischen als auch den nordamerikanischen und eu­ropäischen Markt. Ungefähr 80% der Wälder werden von der lokalen Bevölke­rung zur Ent­nahme einzelner Bäume oder von Totholz als Brennholz genutzt. Die Ausdehnung der Plantagenbewirtschaf­tung hat zu einer Besitz­konzentration in den Händen weni­ger Unternehmen ge­führt, während Klein­besitzer zur Aufgabe gezwungen waren und in die Städte mi­grierten. Die größten ökologischen Pro­bleme bereiten ebenfalls die Plantagen. Ihre Anlage findet zwar auf überwiegend ausgelaugten Böden statt, womit die Forstunternehmer gerne ihre Tätigkeit rechtfertigen. Tatsächlich wurde sogar der Einsatz von Herbiziden redu­ziert. Es gibt jedoch in Chile bisher keine systematische und effektive Kontrolle über die tatsächli­che Bewirtschaftungs­weise und die Aus­dehnung der Plantagen­bewirtschaftung auf geschützte Waldge­biete.
Gütesiegel für den Forstsektor gibt es bis­her nur von einzelnen Privatunternehmen oder Nicht-Regierungs-Organisationen. Seit No­vember 1993 bearbeitet die EU einen Vorschlag für ein Gütesiegel für Pa­pierprodukte, das u.a. den Nachweis er­fordert, daß der Rohstoff Holz aus einer nachhaltigen Bewirtschaftung stammt. Die internationale Tropenholz­kampagne der Umweltorganisationen könnte sich mittel­fristig negativ auf den chilenischen Holz­export auswirken, da Chile im Ausland häufig fälschlicherweise für ein tropisches Land ge­halten wird. Angesichts zuneh­mender Produktanforde­rungen und der Tatsache, daß man kaum auf den europäi­schen Markt wird ver­zichten können, wird die bisherige Strate­gie einzelner Forstun­ternehmen, sich Märkte in weniger um­weltsensiblen Län­dern vor allem in Asien zu suchen, länger­fristig kein erfolgreicher Weg sein. Ob sich die chilenischen Unter­nehmen schließlich auf eine ökologischere Pro­duktionsweise einlassen, wird jedoch auch von der Einigung über ein neues Forstge­setz und der Einführung einer Landnut­zungsplanung abhängen.
Zellstoff ist das zweitwichtigste Exportprodukt
Von noch größerer Bedeutung für Chile ist die Produktion von Zellstoff zur Pa­pierherstellung. Diese ist inzwi­schen nach Kup­fer zum zweitgrößten Ex­portprodukt Chiles geworden. 70% der Ge­samtproduktion wird exportiert, wobei Eu­ropa der wichtigste Markt für ge­bleichten Zellstoff ist. Die ökologischen Anforde­rungen auf dem europäischen Markt sind in den letzten Jahren gewach­sen, ge­rade in Deutschland wird z.B. im­mer weniger chlorgebleichter Zell­stoff nachgefragt. Schließlich ist in den letzten Jahren auch die Möbelproduktion expan­diert, auch wenn ihr Anteil an den Exporterlö­sen für Chile noch nicht beson­ders relevant ist. Sollen gerade in diesem Bereich einer ar­beitsintensiveren Produk­tion auf höherer Wertschöpfungsstufe Fortschritte erzielt werden, wird man sich je­doch verstärkt mit Produktauflagen aus­einandersetzen müssen. Be­reits beste­hende ökologische Auflagen in mehreren europäischen Län­dern beziehen sich auf Grenzwerte für das krebserzeugende Formaldehyd und Penta­chlorphenol, dazu kommen die hochgifti­gen Stoffe Lindan, Arsen, DDT und Schwermetalle, die bei­spielsweise in Deutschland nicht Be­standteil von Holz­produkten sein dür­fen. In absehbarer Zeit wird dies wohl für die gesamte EU gelten. Schließlich wirkt sich sogar die deutsche Verpackungsverord­nung auf diesen Be­reich aus, da sie die Verwertung von Verpackungsmate­rial festlegt. Dies betrifft beispielsweise Holz­paletten, die als Son­dermüll entsorgt wer­den müssen, wenn sie mit Holzschutzmit­teln behandelt wurden. Bisher gehen die chilenischen Möbelex­porte zwar überwie­gend in die USA, wo noch keine so hohen Anforderungen ge­stellt werden. Aner Chile setzt auch hier auf Exportsteigerungen in Richtung Eu­ropa.
In Chile scheint in einigen der angespro­chenen Branchen ein ökolo­gisches Pro­blembewußtsein vorhanden zu sein. Dies ist im wesentli­chen durch die öffentliche Diskussion über die gerade durch die Ex­portproduktion verursachten Umweltschä­den, insbesondere die Wald­schäden, ent­standen. Bei manchen Unternehmen scheint zudem die Ein­sicht zu wachsen, daß eine bedingungslose Ausbeutung heimischer Ressourcen auch ökonomisch kontraproduktiv sein kann. Gerade res­sourcenabhängige und exportorientierte Unternehmen, die die Anfor­derungen der internationalen Märkte kennen, können es deshalb sein, die sich auf nationaler Ebene für eine Umstellung der Pro­duk­tionsmethoden stark machen. Unver­ändert stark scheint dagegen nach wie vor die Animosität gegen staatliche Eingriffe und Kontrollin­stanzen zu sein. Hier ver­trauen auch die chilenischen Unterneh­mer, die externe Produktauflagen per EU-Verord­nung hinzunehmen gezwun­gen sind, lie­ber auf den freien Markt.
Ökologischere Nelken aus Ko­lumbien?
Einer der dynamischsten Sektoren der kolumbianischen Agrarexport­wirtschaft ist in den letzten Jahrzehnten die Blumen­produktion. 1992 exportierte Kolumbien Blumen im Wert von mehr als 342 Millio­nen US-Dollar. Damit entwickelte sich der Blumensektor zur viertwichtigsten Ex­portbranche nach Erdöl, Kaffee und Ba­nanen. Für die Weltbank verbirgt sich da­hinter “eine der größten Entwicklungs-Er­folgsstories der letzten zwei Dekaden”.
Die ökologische Situation der Blumen­produktion ist jedoch durch einen extre­men Gebrauch von Pestiziden, durch die Belastung von Böden und Gewässern durch toxische Stoffe und eine zuneh­mende Luft­verschmutzung gekennzeich­net. Dies wirkt sich auf die nahegelegenen Ortschaften aus. Die absehbare Erschöp­fung der einst üppigen Grundwas­servorkommen, die zur Bewässerung ver­wendet wurden, ist ein weiteres Problem. Dazu kommt die extreme Ausbeutung der Arbeitskräfte, ur­sprünglich armer Bauern, inzwischen überwiegend Frauen aus den Ar­menvierteln Bogotas. Arbeitsschutzbe­stimmungen werden, wenn über­haupt vorhanden, kaum eingehalten. Vergiftun­gen durch toxische Stoffe sind an der Ta­gesordnung.
85% der kolumbianischen Blumenpro­duktion gehen heute in die USA, 13% in die EU. Gerade hier wachsen die ökologi­schen Anforderungen. In Holland ist man dabei, eine sogenannte “ökologische Blume”, das heißt, Kriterien für eine nachhaltigere Blumenproduktion zu ent­wickeln. Sie beziehen sich z.B. auf die Verwendung von Pestizi­den und Dünger oder einen rationellen Energieverbrauch bei der Produktion. Dies könnte in abseh­barer Zeit in ein Öko-Label für Blumen in der Europäischen Union münden.
In Deutschland hat die Menschenrechtsor­ganisation FIAN die Ar­beitsbedingungen der Beschäftigten in der Blumenindustrie öffentlich gemacht und soziale Nachhal­tigkeit sowie die Einhaltung von Arbeits­schutzmaßnahmen eingefordert (vgl. den Artikel “Alles paletti? Gütesiegel für ko­lumbianische Blumen” in diesem Heft). Die un­menschlichen sozialen Bedin­gungen bei der Blumenproduktion in Ko­lumbien und Kenia kamen schließ­lich im Juli 1993 im Europäischen Parlament zur Sprache. Es for­derte die Europäische Kommission auf, die Produktionsbedin­gungen zu überprü­fen und gegebenenfalls ein Importverbot auszusprechen. Dagegen setzt die kolum­bianische Regierung den Vorwurf des Protek­tionismus. Inzwischen versucht man jedoch von kolumbianischer Seite außerdem, durch die Veröffentli­chung einer “weißen Liste” von Unter­nehmen, die bestimmte soziale und ökolo­gische Mindest­standards einhalten, dem externen Druck durch ein europäisches Öko-Label zuvorzukommen. Bisher müs­sen die tatsächlich eingeleite­ten Schritte zur Ver­besserung der Arbeitssituation je­doch als un­angemessen bezeichnet wer­den.
Neuer Protektionismus oder mehr Nachhaltigkeit
“Das europäische Label ist ein Flop”, so die Süddeutsche Zeitung am 29.9.1994, nachdem sich die Europäische Kommis­sion aufgrund un­befriedigender Ergeb­nisse bei der Vergabe entschlossen hatte, das Umweltgütezeichen für Industriepro­dukte nun zu privatisieren. Was nach der Brüsseler Verordnung von 1992 bis zum Schluß strittig blieb, sind die entsprechen­den Vergabekriterien für industrielle Pro­dukte. Oftmals richten sich diese auch in­nerhalb der EU vor al­lem nach den Inter­essen der jeweiligen heimischen Industrie. Dies sagt einiges über den tatsächlichen Stand der Entwicklung in Eu­ropa aus. Un­fähigkeit, nationale Produktion ökologisch umzustel­len, und Protektionismustenden­zen untereinander herrschen noch bei denen vor, die im internationalen Handel verstärkt Ökostandards setzen wollen.
Sind überhaupt Fortschritte in Richtung nachhaltiger Produktion durch Öko-Eti­kettierung zu erzielen? Am chilenischen Beispiel ist erkennbar, daß die öffentliche Diskussion über die Zerstörung der heimi­schen Wälder, sowie die wachsenden in­ternationalen Produktan­forderungen, Un­ternehmen der Holzbranche dazu zwin­gen, sich in einen Politikprozeß zur Durchsetzung ihrer Kriterien bei der Ent­wicklung von Gütesiegeln zu begeben. Teilweise hat dies auch schon zur Um­stellung von Produktionsmethoden ge­führt. Exportunternehmen, das zeigt auch das kolumbianische Beispiel, werden sich in Zukunft einem zunehmenden Anpas­sungsdruck nicht entziehen können, wenn sie nicht auf den europäischen Markt ver­zichten wollen. Die Frage, ob ökologische Produktanforderungen einen Hebel zur Durchsetzung eines ökologischen Struk­turwandels im Exportbereich der latein­amerikanischen Länder darstellen können, ist zwar nicht von vorne herein zu vernei­nen. Man muß jedoch er­kennen, daß die­ser umweltpoliti­sche Hebel gerade in einem sehr sensiblen ökonomischen Be­reich ansetzt, der in ex­tremer Weise konjunktu­rellen Weltmarktentwicklungen ausgesetzt ist. Der Spiel­raum für latein­amerikanische Exportun­ternehmen, inno­vativ auf die neuen An­forderungen zu reagieren, ist sehr gering. Oft fehlt es da­für bereits an Information oder know how. Zugleich mangelt es oft­mals am politi­schen Willen nationaler Re­gierungen, über die Unter­zeichnung inter­nationaler Abkommen und die Festlegung gesetz­gebe­rischer Normen hinaus, die na­tionale Umweltpolitik mit Leben zu er­füllen, die Einhaltung von Verordnungen zu kontrol­lieren und tatsächlich durch­zusetzen. Dies ist nicht zuletzt ent­scheidend, wenn es darum geht festzu­stellen, wie weitrei­chend die Produkti­onsumstellungen in­folge der ökologischen Produktanforde­rungen tatsächlich sind. Für die arbeitsin­tensiven Branchen besteht schließlich die Gefahr, daß der ökologi­sche Anpassungs­druck zu einer weiteren Verschlechterung der sozialen Sicherung und der Arbeitsbe­dingungen für die Be­schäftigten führen könnte. Der Begriff der “Nachhaltigkeit” beinhaltet jedoch neben der Zukunftssi­cherung kommender Gene­rationen auch die Berücksichtigung sozi­aler Siche­rung der heute Lebenden.
Inwieweit ist eine Agrarexportwirtschaft, die sich in erheblichem Maße auf Pro­dukte konzentriert, die auch in Europa hergestellt werden können, überhaupt mit nachhaltigem Wirtschaften im globalen Maßstab vereinbar. Während in der EU subventionierte Nahrungsmit­tel vernichtet werden, erreichen nach langen Transport­wegen Holz, Fisch, Blumen oder Früchte aus Lateinamerika den europäischen Ver­braucher. Wie lange sich die vielgelobten, dynamischen Agroex­portbranchen, die sich bisher vor allem durch die Ausbeu­tung bil­liger Arbeitskräfte und ihrer na­türlichen Ressourcen ihre Nische im Weltmarkt sichern konnten, dort werden behaupten können, ist von zahlreichen Faktoren abhängig, die am wenigsten je­doch von den Exportnationen selbst beein­flußt werden. Der Preisverfall tradi­tioneller lateinamerikanischer Agrarpro­dukte wie Kaffee, Kakao, Zucker oder Baumwolle in den 80er Jahren sollte War­nung genug sein, erneut zu sehr auf unbe­ständige Weltmarktkonjunkturen zu ver­trauen. Wie nachhaltig negativ EU-Ent­scheidungen Dritt-Welt-Produktion betref­fen können, haben kürzlich erst wieder zwei – in diesem Fall afrikanische – Län­der betreffende Fälle gezeigt: Durch die in Kürze erfolgende Übernahme der in Großbritannien geltenden Schokoladen-Regelung in der EU wird es Herstellern erlaubt, die bisher zu verwendende Ka­kaobutter durch billige Pflanzenöle zu er­setzen. Dies bedeutet für die afrikanischen Kakaoproduzenten einen Einnahmeausfall von ca. 20%.
Im Senegal haben die mei­sten Land­wirte den Anbau von Weizen und Reis aufgege­ben, nachdem ihre Preise durch von Brüs­sel mit 6,4 Mrd. Mark jährlich subventionier­tes Exportgetreide unter die Produktionskosten gedrückt worden wa­ren. Dies sind die Rahmenbe­dingungen, die Schritte in Richtung zu mehr Nach­haltigkeit verhindern. Der Bei­trag, den eine Öko-Etiket­tierung zu einem ökologi­schen Umstrukturierungsprozeß leisten könnte, muß dagegen eher als be­scheiden angesehen werden.

Die permanente Invasion

Nun hat der UNO-Sicherheitsrat mit leichtem Zähneknirschen die Clinton-Regierung für eine Invasion in Haiti au­thorisiert. Dies wäre nicht das erste Mal. Bereits 1915 fielen die einschlägig be­rühmten marines in dem Land ein unter dem Vorwand, die haitianische Regierung habe “einige Verpflichtungen nicht einge­halten”. Sie blieben fast 20 Jahre und zo­gen erst 1934 ab. Nach der Amtszeit von Lescot, Estime und Magliore, drei pünkt­lich vom haitianischen Militär gestürzten Präsidenten, setzten die Vereinigten Staa­ten “Papa Doc” Francois Duvalier ein und unterstützten ihn bis zu seinem Tode 1971. Sein Sohn Baby Doc erbte die Prä­sidentschaft, bis er 1985 durch einen wei­teren Militärputsch gestürzt wurde. Unter den Regierungen der beiden Duvaliers herrschte eine grausame Repression. Es wird davon ausgegangen, daß allein unter der Regierung von Baby Doc mehr als 40.000 Personen ermordet wurden. Die Vereinigten Staaten wußten aus guter Quelle, wie auf Haiti mit ihrer tatkräftigen Unterstützung die Menschenrechte ver­letzt wurden.
Mißratener Zögling der USA
Raul Cédras, der gegenwärtige Diktator, der den demokratisch gewählten Priester Jean-Bertrand Aristide durch einen Putsch stürzte, ist lediglich der letzte in der bishe­rigen Reihe von haitianischen Tyrannen. Man weiß nicht genau, warum ausgerech­net er den Vereinigten Staaten so mißfällt, wo sie doch in der Vergan­genheit mit den Duvaliers so gut auska­men. Dem nicht genug, darf man nicht vergessen, daß Cé­dras, wie alle Diktator-Lehrlinge Latein­amerikas, auf einer nord­amerikanischen Militärakademie ausge­bildet wurde.
Die Geschichte Haitis ist wirklich drama­tisch: Der revolutionäre Kampf begann 1791 mit einem Sklaven, dem berühmten Toussaint l`Ouverture. Die Unabhängig­keitserklärung am 28. November 1803 machte Haiti zum ersten entkolonisierten Land Lateinamerikas. Aus dieser histori­schen und politischen Avantgarderolle stieg es zu dem heute ärmsten Land La­teinamerikas und einem der am stärksten geplünderten der Welt ab.
Angesichts des politischen Imageverlu­stes, den jede ihrer Interventionen in ande­ren Ländern nach sich zieht, haben die Nordamerikaner beschlossen, sich für je­den ihrer internationalen Angriffe Partner zu suchen. Die Idealformel ist, daß die Vereinten Nationen sie mit dieser oder je­ner Strafaktion beauftragen, wie sie es beispielsweise beim Golfkrieg erreichten. Aufgrund ihres Insistierens wurden sie schließlich von einigen französischen und englischen Flugzeugen begleitet.
Diplomatische Winkelzüge
Rony Lescouflair, ein haitianischer Dich­ter, der 1967 durch die Polizei Duvaliers ermordet wurde, schrieb dieses kurze Ge­dicht: “Dreimal krähte der Hahn; / Petrus war kein Verräter: / er wurde Diplomat.”
Mit Hilfe eines umfassenden und nach­drücklichen diplomatischen Manövers wollen die USA auch jetzt bei der Inva­sion in Haiti Begleitung haben. Die For­mel ist einfach: Wenn einige Länder zu kleinmütig sind, um Truppen, Schiffe und Flugzeuge zu entsenden, sollen sie zumin­dest applaudieren.
Bei den Regierenden in Lateinamerika kam, wie üblich, der einzige enthusiasti­sche Applaus von Präsident Menem. Bei allen anderen, ob sie jetzt der Rechten, der Mitte oder der Linken angehören, erzeugte die bloße Idee, eine nordamerikanische Invasion zu authorisieren, allergische Re­aktionen.
Nach wie vor mögen einige Arglose oder Einfältige sich fragen, warum das US-State Department nicht die Unterstützung des UNO-Sicherheitsrates erbat, um wäh­rend der Pinochet-Diktatur in Chile zu in­tervenieren, oder während der Videla-Zeit in Argentinien, oder während der Goyo Alvarez-Zeit in Uruguay, oder während der Stroessner-Zeit in Paraguay etcetera. Könnte es daran liegen, daß es sich hier um “befreundete Diktaturen” handelte, wie es Präsident Reagan ausdrückte? Wäre es möglich, daß das Regime Cédras` zufällig eine “feindliche Diktatur” ist? Oder existiert vielleicht ein Motiv, wel­ches nicht öffentlich genannt wird, wie zum Beispiel, daß die geplante Invasion dem ständigen Zustrom haitianischer Flüchtlinge an die Küsten Nordamerikas ein Ende bereiten würde?
Niemand hat das Züchtigungsmittel ver­gessen, das 1990 gegenüber Panama an­gewandt wurde, die sogenannte “Operation Gerechte Sache”. Um einen General gefangenzunehmen, der ihnen lä­stig fiel – er war CIA-Agent gewesen und hatte später mehrfach die Seiten gewech­selt – nahmen sie in Kauf, 2.000 unschul­dige Zivilisten zu töten und ne­benbei ei­nige Viertel der Hauptstadt Pa­namas in Trümmerhaufen zu verwandeln. Damals schrieb ich, daß Panama sich in die absto­ßendste Militäraktion dieses Jahrhunderts verwandelt habe. Man müßte hinzufügen: in die heuchlerischste. Erst 1994 geben einige Medien im Hinblick auf die ange­kündigte Invasion in Haiti zu, daß mehr als 2.000 Todesopfer auf das Konto der “Operation Gerechte Sache” gingen. 1990 dagegen, als das Massaker sich ereignete, war ein Großteil der Me­dien zu schwer­fällig, so viele Leichen zu erwähnen.
Sicherlich ist der Diktator Raoul Cédras nicht vorzeigbar, fügt sich doch sein re­pressives Regime perfekt in die nieder­trächtigsten Traditionen der Duvalier-Dy­nastie ein. Trotzdem scheint eine Invasion auf keinen Fall die adäquateste Lösung zu sein, auch wenn Aristide in den saubersten Wahlen in der Geschichte Haitis gewählt wurde.
Marionetten pflastern den Weg
Der Schlüssel zu dieser Verwirrung liegt wahrscheinlich darin, daß das dichte In­terventions-Curriculum der Vereinigten Staaten weder den Ländern der Dritten Welt allgemein noch speziell denen La­teinamerikas das geringste Vertrauen ein­flößt. Niemand vergißt, daß die USA nach jeder ihrer zahlreichen Invasionen in dem Moment, wo sie einen Rückzug für op­portun hielten, eine Marionettenregierung hinterließen: Somoza in Nicaragua, Bala­guer (immer noch unverwüstlich) in der Dominikanischen Republik, “Quissling” Endara in Panamá – eine Gestalt, deren Ernennung zum Präsidenten beschämen­derweise in einer nordamerikanischen Militärstation stattfand. Nach jeder Inva­sion blieb das jeweilige Land in einem schlimmeren Zustand als vorher zurück, tiefer in seiner Armut versunken, seiner Würde beraubt, in seiner Souveränität verletzt, überbrodelnd vor Groll.
Auch muß bedacht werden, daß es einen zusätzlichen, nicht zu verachtenden Vor­teil gibt, welchen sich die Vereinigten Staaten verschaffen, wenn es ihnen ge­lingt, untergeordnete Verbündete oder Helfershelfer für ihre Militäraktionen zu finden. Wenn sie ohne Alliierte ein Land ihres Hinterhofes angreifen – beispiels­weise Grenada oder Panama, entfallen die hohen Ausgaben für diese Operation not­wendigerweise auf die Posten im US-Haushalt, die für Invasionen, Blockaden und andere Lappalien vorgesehen sind. Heute dagegen, wo es niemand geringeres als der Weltsicherheitsrat ist, der die Ver­einigten Staaten mit der Bestrafung der haitianischen Diktatur beauftragt, handelt es sich um eine kollektive Verantwortung, und der militärische Exekutor muß nur für 25 Prozent der anfallenden Kosten auf­kommen.
Daher handelt es sich für die Vereinigten Staaten um ein rundes Geschäft: Sie füh­ren die geplanten Invasionen durch und kommen billig dabei weg. Zum ersten Mal versucht – und erreicht – es der Imperia­lismus in solch offener Form, daß seine militärischen Aktionen von den direkt oder indirekt untergeordneten Ländern fi­nanziert werden. Vor einigen Jahren gab es den Spruch, daß die Organisation Ame­rikanischer Staaten so etwas wäre wie das Ministerium der nordamerikanischen Ko­lonien. Seit kurzem ist die UNO auf dem Weg, sich in das US-Verteidigungsmini­sterium zu verwandeln.
Folgt die Herde der Stimme des Herrn?
Gibt es nach alldem keine andere Mög­lichkeit als die Kanonenbootpolitik, um die weltweiten Konflikte zu lösen? Die Imaginationskraft der Regierenden ist ge­fragt, um den Dialog als Instrument des Friedens zu nutzen. Während ich diese Zeilen schreibe (in der ersten August­hälfte, Anm. d. Red.), erreicht mich die Nachricht, daß der haitianische Diktator eingewilligt hat, eine Verhandlungskonfe­renz zu empfangen, an der Delegierte von fünf lateinamerikanischen Ländern betei­ligt sind. Hoffen wir, daß daraus eine an­ständige Lösung erwächst.
Auf jeden Fall hat das so konfliktträchtige haitianische Problem einen wichtigen Schritt provoziert: Die lateinamerikani­schen Länder – zumindest diejenigen, die über eine historische Erinnerung verfügen – sind dabei zu lernen, Nein zu sagen an­gesichts des Drucks von “the master`s voice”. Halleluja.

Der Irrsinn nimmt seinen Lauf

Die Dramaturgie wiederholt sich: Der UNO-Generalsekretär Boutros Ghali un­ternimmt einen “letzten Versuch”, die Haiti-Krise auf diplomatischem Wege zu lösen. Zu diesem Zweck wird ein schwe­discher UN-Emissär auf die Insel ge­schickt, um die technischen Absprachen für ein erneutes Treffen zwischen dem OAS-Vermittler Dante Caputo und den Militärs vorzunehmen. Während dieser vergeblich auf einen Gesprächstermin mit der de-facto-Regierung wartet, strecken MG-Salven einen engen Freund Aristides, den Priester Jean Marie Vincent, vor sei­nem Ordenshaus nieder. Wer denkt bei dem Attentat auf Vincent nicht an die un­gesühnten Morde an Antoine Izméry und Guy Malary, die vor knapp einem Jahr, als die Rückkehr Aristides unmittelbar bevor­stand, unter den Augen der UNO-Beob­achter begangen wurden? Mit Vincent wurde eine weitere wichtige Stütze für den demokratischen Wiederaufbau des Landes ausgeschaltet. Der UN-Gesandte kehrte unverrichteter Dinge wieder nach New York zurück. Was soll noch alles passieren, damit dieses entwürdigende Schauspiel endlich ein Ende hat?
Da sitzt ein mit überwältigender Mehrheit gewählter Präsident, überzeugter Katholik und konsequenter Pazifist, seit Jahren in den USA – also gewissermaßen in der Höhle des Löwen – und muß mitansehen, wie dieser in aller Seelenruhe seine Kral­len wetzt, um dem haitianischen Regime einen Hieb zu versetzen. Dieses hält den US-Löwen offenbar eher für einen kläf­fenden Hund, der bekanntlich nicht beißt, und zeigt sich daher relativ unbeeindruckt von den offiziellen Verlautbarungen aus dem Weißen Haus oder dem UN-Haupt­quartier.
Mörderbuben als Hätschelkinder des Heiligen Vatis
Und dennoch, die Zeit der Junta scheint endgültig abgelaufen. Die mit päpstlichen Weihen ausgestatteten haitianischen Narko-Gorillas haben länger als genug zu erkennen gegeben, daß sie dem völlig verwüsteten, wirtschaftlich herunterge­kommenen Land auch nicht den Schim­mer einer Perspektive zu bieten vermögen. Die Militärs und ihre mittlerweile dritte zivile Marionettenregierung sind seit drei Jahren von allen offiziellen politischen und wirtschaftlichen Handelskanälen ab­geschnitten, bis auf einen, den zum Vatikan. Der Heilige Vati kann es sich immer noch leisten, intime Beziehun­gen zu weltweit kompromittierten Mör­derbuben zu pflegen, ohne daß ein Auf­schrei durch seine internationale Fan-Ge­meinde geht. Haiti ist hierfür jedoch nicht das einzige Beispiel. Zu Pinochet in Chile bestanden und bestehen ebenfalls sehr herzliche Beziehungen. Der apostolische Nuntius in Mexiko betreibt offene Hetze gegen den äußerst populären Bischof Sa­muel Ruiz und empfängt gleichzeitig zwei der meistgesuchtesten Drogenkartell-Häuptlinge, um ihnen die Absolution zu erteilen beziehungsweise diplomatischen Schutz zu gewähren.
Eine Politik des Vatikans, die weniger auf das Wohl seiner Schafe, als vielmehr auf das seiner Hirten und Oberhirten bedacht ist, hat besonders in Lateinamerika eine lange Tradition. Im Falle Haitis jedoch hat sie Formen angenommen, die jeglichen, wenn auch noch so dürftigen Rechtferti­gungsversuchen bitter Hohn sprechen. Die von Rom protegierten Militärs gehen so­gar so weit, sich die internationalen UN-Hilfsgüter – Treibstoff, Lebensmittel, Me­dikamente – unter den Nagel zu reißen, mit denen die verheerenden Auswirkun­gen des “totalen” Handelsembargos zu­mindest für einen Teil der Bevölkerung abgefedert werden sollten.
Die Schmerzgrenze für die Gottesmänner in Rom dürfte aber nun überschritten sein, da selbst vor einem geweihten Priester nicht Halt gemacht wurde. Der kaltblütige Mord an dem Ordenspriester und ehema­ligen Caritas-Repräsentanten von Cap Haitien, Jean Marie Vincent, ist ein Indiz dafür, daß die Machthaber entweder im Begriff sind, eine neue Stufe der Repres­sion zu beschreiten, oder daß sie die Kon­trolle über ihre selbstgeschaffenen Mord­werkzeuge verloren haben. Beides wiegt gleich schwer. Jegliche Beileidsgeste von Seiten des Papstes oder auch der haitiani­schen Bischofskonferenz – deren Vorsit­zender der frühere Vorgesetzte von Vin­cent im Caritas-Verband ist – wirkt eher wie eine heuchlerische Pflichtveranstal­tung denn als aufrichtig gemeinte Äuße­rung der Betroffenheit.
Nach drei Jahren Schweigen zu den Ver­brechen gegen die Menschlichkeit hat die katholische Amtskirche jeglichen Kredit beim haitianischen Volk verspielt.
Die internationalen “Freunde” haben ihren Kredit verpokert
Aber gibt es überhaupt noch irgendeine Instanz, die der Bevölkerung gegenüber kreditwürdig ist? Die UNO etwa, die als säkuläre Repräsentanz der internationalen Gläubiger-Gemeinschaft seit drei Jahren ihren unerschütterlichen Willen und ihre Entschlossenheit bekundet, mit dem Un­rechtsregime aufzuräumen und die legi­time, demokratisch gewählte Regierung Aristide wieder in ihr Recht zu setzen? Oder gar ihr kontinentaler Ableger, die OAS, die seit ihrem Bestehen nichts als Machtlosigkeit dokumentiert? Die, wenn überhaupt, nur als Feigenblatt-Organismus für nordamerikanische Interessen in Er­scheinung tritt? Die “vier Freunde” etwa – USA, Kanada, Frankreich, Venezuela – von denen die drei Letztgenannten nur so lange etwas zu sagen haben, wie sie nicht mit eigener Stimme sprechen? Niemand spricht mehr von diesem Kreis. Und was ist mit den USA, dem angeblich aller­größten Freund?
Wer traut dem unaufhörlich grinsenden US-Präsidenten Clinton noch die Fähig­keit zu, einen überzeugenden Plan anzu­bieten, um zumindest sein Gesicht zu wahren? Clinton scheint rettungslos über­fordert in seinem Amt, weiß angesichts der wachsenden Anzahl von Flüchtlingen aus Haiti und Kuba weder ein noch aus. Innenpolitisch gerät er zunehmend unter Handlungsdruck – schließlich sind bald Halbzeitwahlen in den USA.
Überhaupt scheint in Washington ein wil­des Durcheinander zu herrschen: Stel­lungnahmen verschiedener Regierungs­funktionäre widersprechen sich teilweise diametral, von dem Haiti-Sonderbeauf­tragten William Gray ist seit Wochen nichts mehr zu hören. Der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses im Reprä­sentantenhaus, der Demokrat Lee Hamil­ton, sagt, das Parlament folge den Plänen der Entsendung einer 10.000 Mann star­ken Invasionstruppe nur sehr widerwillig und skeptisch. Der republikanische Sena­tor Richard Lugar bezeichnet ein bewaff­netes Eingreifen als einen “historischen Irrtum”. – Der “historische Irrtum” kann doch allenfalls darin liegen, Mr. Lugar, daß die von US-Streitkräften ausgebilde­ten haitianischen Militärs überhaupt je­mals so viel Macht und Einfluß erhalten haben. – Vielleicht dient das ganze wortreiche Geplänkel in den Vereinigten Staaten auch nur dazu, von ganz anderen gesamtkaribischen Überlegungen – Stich­wort Kuba – abzulenken?
Aristide: kompromißbereit bis zur Selbstaufgabe?
Und wie steht es um Aristide selbst? Ist es politisch, moralisch, ethisch noch zu rechtfertigen, daß an seiner Wiedereinset­zung mit allen Mitteln festgehalten wird? Wie kann er mit den jahrelangen Demüti­gungen, den permanenten Vertrags- und Vertrauensbrüchen von so vielen Seiten zurechtkommen? Welche Spuren in seiner Seele hinterlassen die täglichen Morde an Menschen, deren einziges Verbrechen es ist, als Sympathisanten seiner Politik zu gelten? Wie wirken Zeitungsmeldungen wie jene aus jüngster Zeit, wonach Ex-Präsident Bush in Buenos Aires vor ar­gentinischen Bankern heftig gegen eine militärische Invasion zu Felde zog, mit der Begründung, der vor drei Jahren ge­stürzte Aristide sei total unzuverlässig und zu keinerlei Kompromissen bereit? Solche und ähnliche Ungeheuerlichkeiten werden ständig unwidersprochen in den Medien verbreitet, sowohl in den USA als auch anderswo.
Gleichzeitig erscheint Aristide bis zur Selbstaufgabe zu Kompromissen bereit zu sein, um seinem vom Volk erhaltenen Auftrag bis zum verfassungsmäßigen Ende seiner Amtszeit zu erfüllen. Aber entspricht seine derzeitige Rolle, außer­halb Haitis gegen die Diktatur zu prote­stieren, noch dem vom Volk erhaltenen Auftrag? Hätte Aristide nicht längst – spätestens im Dezember ’93, nach dem of­fenkundigen Scheitern des Abkommens von Governors Island – zum militanten Widerstand des Volkes gegen seine Mör­der aufrufen beziehungsweise für dessen Bewaffnung sorgen müssen? Gibt es nicht auch ein christliches Widerstandsrecht?
Vielleicht kommt es letztendlich doch zu dem unwürdigen Moment, daß Aristide auf den Flügeln einer ausländischen Mili­tärmaschine nach Port-au-Prince segelt. Selbst wenn dies geschehen sollte, wird inzwischen so viel Zeit ins Land gegangen sein, daß er es kaum mehr wiedererkennt. Die politische Klasse Haitis wird im We­sentlichen noch dieselbe sein, wogegen die Menschen aus Aristides früherem Um­feld entweder nicht mehr da sein oder mittlerweile mit großer Zurückhaltung auf seine Wiederkehr reagieren werden.
Dem politischem Projekt Lavalas sind so tiefe Wunden geschlagen worden, daß eine Neuauflage dieses basisdemokrati­schen, transparenten und gerechten Ge­sellschaftsmodells auf Jahre hin erschwert sein wird.
Das zarte Pflänzchen Hoffnung, das da vor fast vier Jahren mit der Wahl Aristides erste Wurzeln geschlagen hatte, wurde zu lange von der brutalen Dummheit der Macht und ihren militärischen Stiefeln zertreten, als daß es sich in dem ohnehin verdörrten haitianischen Boden schnell erholen könnte. Ob dies auch für seinen Ableger, die für einen historischen Mo­ment lang wiedergewonnene Würde, gilt, wird sich in den kommenden Wochen und Monaten erweisen. Zur Zeit hat es eher noch den Anschein, als modere diese in den stinkenden Pfützen von Cité Soleil vor sich hin.

Nach dem Bombenanschlag wächst die Angst

Der Schaden ist unermeßlich
Die “Mutual”, wie sie von den Porteños genannt wurde, war im Gegensatz zu der vor zwei Jahren gesprengten israelischen Botschaft keine ausländische Vertretung, sondern ein 1894 gegründetes argenti­nisch-jüdisches Zentrum. In dem sieben­stöckigen Gebäude, das völlig zerstört wurde, waren unter anderem eine Anlauf­stelle für bedürftige Menschen, ein Thea­ter und ein Arbeitsvermittlungsbüro un­tergebracht. Auch die Dachorganisation aller jüdischen Vereinigungen DAIA (Delegación de Asociaciones Israelitas Argentinas), eine Art politische Vertre­tung der jüdischen Gemeinschaft in Ar­gentinien, befand sich im Gebäude in der Pasteur Straße. Samuel Rollansky, 92-jäh­riger Leiter des Instituts für jüdische Stu­dien: “Seit dem Anschlag kommt es mir vor, als hätte ich an meiner eigenen Beer­digung teilgenommen.” Das Lebens­werk des polnischen Immigranten, die 70.000 Bände umfassende Bibliothek über jüdische Kultur, ist fast vollständig ver­lorengegangen.
Präsident Menem, der versuchte, das At­tentat für einen weiteren Vorstoß zur Durchsetzung repressiver Politik zu nut­zen, versprach: “Die geistigen und materi­ellen Urheber des Anschlags werden eine unangenehme Überraschung erleben. Ich bin sicher, daß die Geheimdienste in kur­zer Zeit positive Ergebnisse vorweisen werden”. Die Opposition zeigte sich da­gegen wenig beeindruckt vom hektischen Aktivismus der Regierung, der von der Ankündigung eines Anti-Terrorismus- Gesetzes bis zur Schaffung eines Sicher­heitsrates ging. “Unsere Geheimdienste bewegen sich immer noch in einer Logik der kommunistischen Bedrohung”, er­klärte José Manuel Ugarte von der “Radikalen Bürgerunion” (UCR). Aus der ebenfalls angekündigten Einführung der Todesstrafe wurde in der verfassungsge­benden Versammlung in Santa Fe schließlich doch nichts. Gerade Urheber solcher Attentate werden sich kaum von der Todesstrafe abschrecken lassen. Auf dem großen Trauermarsch, an dem 150.000 Menschen teilnahmen, sah sich das Staatsoberhaupt schließlich einer ge­ladenen Stimmung gegenüber. Die Buh­rufe waren auf der Tribüne nicht zu über­hören.
Angesichts dieses zweiten großen Terror­anschlags auf eine jüdische Einrichtung in Argentinien wird deutlich, daß das, was für die “Gerechtigkeitspartei” des Präsi­denten noch vor kurzem als Erfolg ver­bucht werden konnte, sich inzwischen in ein großes Manko verwandelt hat: die Einmischung Argentiniens in das interna­tionale Politikgeschäft. “Die Teilnahme von zwei argentinischen Fregatten an der ‘Operation Wüstensturm’ im Golf hat das Land in das größte Pulverfaß der illusori­schen neuen Weltordnung gezerrt”, schrieb Horacio Verbitsky in seiner Sonntagskolumne in Página 12. Außer­dem sei diese Entscheidung ohne Zu­stimmung des Kongresses per Dekret ver­ordnet worden: “Dabei ging es nicht um argentinische Interessen, sondern darum, sich bei einer Supermacht beliebt zu ma­chen – eine pathetische Hinterwäldler-Phantasie, um in internationalen Ereignis­sen mitmischen zu dürfen.”
Obskure Beziehungen
des Präsidenten
Gerade in Anbetracht der Äußerungen Menems nach dem Anschlag erscheinen die privaten und familiären Beziehungen des syrienstämmigen Präsidenten interes­sant. Immerhin scheint der syrische Waf­fenhändler Al Kassar mehr als nur ein Verwandter der Präsidentenfamilie Me­nem zu sein. Der reiche Geschäfts­mann, dem eine Beteiligung am Lockerbie-Anschlag nachgesagt wird, er­hielt die ar­gentinische Staatsbürgerschaft in der Re­kordzeit von 30 Tagen – eine er­staunliche Leistung der sonst nicht gerade flinken ar­gentinischen Bürokratie. Den argentini­schen Reisepaß erhalten norma­lerweise selbst verheiratete AusländerIn­nen erst nach etwa einem Jahr. Noch leichter hatte es da Ibrahim al Ibrahim, ein Familienan­gehöriger der ehemaligen Prä­siden­ten­gattin. In elf Ta­gen erhielt er nicht nur das blaue Doku­ment, sondern auch noch einen verant­wortungsvollen Posten in der Zoll­behörde des internationalen Flughafens Ezeiza. Schließlich flog der famose nicht einmal des Spanischen mächtige Beamte wegen Korruption und Verwicklung in Dro­gen­geschäfte auf.
Während der mit der Untersuchung des Bombenanschlags beauftragte Staatsan­walt Juán José Galeano außer der zweifel­haften Aussage eines ehemaligen irani­schen Diplomaten noch Spuren nachgeht, die zum Käufer des beim Anschlag ver­wendeten Lieferwagens führen sollen, steht für Präsident Menem der Urheber des Verbrechens längst fest: “Wir können den fast vollständigen Beweis einer irani­schen Mittäterschaft erbringen.” Wie eine solche halbe Beweisführung aussehen soll, ist selbst in diplomatischen Kreisen nicht verstanden worden. Der Jurist Menem scheint sich der Tragweite des Ausdrucks “semiplena prueba” nicht ganz bewußt gewesen zu sein. Seine freie Übersetzung aus dem Juristenkauder­welsch bedeutet in etwa “feste, nicht nachweisbare Vermutung”. Auch die ira­nische Regierung hat das so verstanden: “Wo sind die Beweise?”, fragte das Mit­glied der Hisbollah Nahim Kassen. “Menem ist einem Trick der Vereinigten Staaten und Israels aufgesessen.” Die sonst eher zurückhaltende englischspra­chige Tageszeitung Buenos Aires Herald zweifelte an der Iran-Connection. Der Iran, so deren Herausgeber Andrew Graham-Yooll, habe gar nicht genügend Einfluß auf die schiitischen Fundamentali­sten. In Wirklichkeit habe Syrien hinter dem Attentat auf die israelische Botschaft 1992 gesteckt, diesbezügliche Nachfor­schungen seien aber damals aufgrund in­nenpolitischer Überlegungen und “wegen der persönlichen Verstrickungen des Prä­sidenten Menem mit Syrien” einge­stellt worden. Terroristenexperten gehen davon aus, daß verschiedene Motive Argentinien zum bevorzugten Angriffsziel internatio­naler Fundamentalisten gemacht haben. Hier befindet sich die größte jüdi­sche Gemeinschaft Lateinamerikas. Die etwa 300.000 Mitglieder, die in ihrer Mehrzahl vollständig in die argentinische Gesell­schaft integriert sind, lebten bisher ohne größere Schwierigkeiten mit den etwa 500.000 Moslems zusammen. Das Bemü­hen, dieses Zusammenleben jetzt nicht noch zu belasten, zeigt sich in den Erklä­rungen Rubén Berajas, Präsident der DAIA: “Keiner darf wegen seiner Natio­nalität oder seines Glaubens ver­dächtigt werden.”
Zweite Heimat deutscher Nazis
Neben der halbherzigen Grenzkontrollen wird als weiteres Motiv die Anwesenheit faschistischer Gruppierungen genannt. Der englische Terroristenexperte David Yallop: “Argentinien besitzt eine Vergan­genheit bestehend aus einer übertriebenen Gastfreundschaft für NS-Kriegsverbrecher und einem ausgeprägten Antisemitismus während der Militärjuntas.” Schon in den vierziger und fünfziger Jahren kam es un­ter Juan Domingo Perón zu Ausschreitun­gen gegenüber argentini­schen Juden. Über die “Rattenlinie” ge­langten Hunderte von Nazis ausgestattet mit Pässen des Roten Kreuzes und der Hilfe des Vatikans nach Argentinien. Unter den 30.000 “Vermißten” der letzten Militärdiktatur (1976 bis 1983) gibt es eine überdurch­schnittliche Zahl jüdischer Opfer. Gleich­zeitig fanden in Argentinien mehr als 5000 Nazi-Hierarchen Unter­schlupf, unter ihnen Joseph Mengele, Oberst Rudel, Klaus Barbie, Adolf Eichmann und Josef Schwammberger. Seit dem 9. Mai liegt ein Auslieferungs­antrag für einen deut­schen Nazi aus Italien vor: Der amerikani­sche Fernsehsender ABC hatte den ehe­maligen SS-Mann Erich Priebke in Bari­loche (Provincia de Río Negro) auf­gespürt, der nach eigenem Geständnis am Massaker an 335 Geiseln am Stadtrand von Rom beteiligt war. Priebke, der jetzt unter Hausarrest steht, erwartet im Sep­tember eine besondere Überraschung: An­gehörige der 1944 exe­kutierten Italiener beabsichtigen, den ar­gentinischen Luft­kurort in Kürze zu besu­chen, um dem Auslieferungsgesuch Nach­druck zu ver­leihen.
Die intensiven Kontakte dieser “alten Kameraden” zu neo-nazistischen Gruppie­rungen in der Bundesrepublik und Argen­tinien sind bekannt. Ein Forschungspro­jekt der DAIA, “testimonios” (etwa: Zeit­zeugen) genannt, das sich mit dem Thema der deutschen Kriegsverbrecher in Argen­tinien befaßte, fand noch im Dezember letzten Jahres ausführliche Erwähnung in der New York Times unter dem Titel “Argentine Files Show Huge Effort to Harbor Nazi” (14.12.93). In der deutschen Presse wurde diese Untersuchung nie er­wähnt. Die Lehrerin einer deutschsprachi­gen Begegnungsschule in Buenos Aires äußerte: “Wenn man in den Süden runter­geht nach Argentinien oder Chile, da gibt’s noch jede Menge von den alten Ex-Vertretern des tausendjährigen Reiches. Die sind da untergetaucht, leben unter falschem Namen, teilweise mit Wissen der deutschen Botschaft.” Unbekannt dürfte der deutschen Öffentlichkeit auch sein, daß die Goethe-Schule, deren Neubau für 1600 Schüler vor einigen Jahren mit 18 Millionen Mark von der BRD subventio­niert wurde, bis heute keinen jüdischen Schüler aufgenommen hat.
Menem, der der israelischen Regierung öffentlich sein Beileid aussprach, scheint argentinische Juden derweil immer noch mit Israelis zu verwechseln. Lediglich ein Fauxpas des Präsidenten, der auch schon mal behauptet, Sokrates gelesen zu haben? Von Kritikern wird der diplomatische Fehltritt bestenfalls als Ablenkungsmanö­ver bezeichnet. “Wir wissen nicht, warum die Mörder getötet haben. Aber ist es nicht offensichtlich, daß wir alle die Opfer sind?”, schrieb der Cartoonist Rudy erbost in einem Kommentar.
Die Angst wächst
Hundert verschüttete Personen, verzwei­felte Rettungsmanöver der Feuerwehr, täglicher Bombenalarm in jüdischen Schulen und Regierungsgebäuden, Schän­dung eines jüdischen Friedhofs in der Provinz La Pampa. Szenen eines neuen Alltags in Argentinien, zu dem inzwischen auch Skinheads gehören. “In Extremsitua­tionen zeigen sich sowohl die grausamsten Seiten des Menschen, als auch seine be­sten Züge”, erklärte ein Psychologe kurz nach dem Anschlag. Tatsächlich brachten un­zählige Porteños Werkzeuge und Lebens­mittel zu der israelischen Rettungsmann­schaft, die eigens eingeflo­gen worden war. Daß Angehörige von vermißten Per­sonen allerdings Anrufe er­hielten, in denen sie bewußt irregeführt wurden und ihnen neue Hoffnung ge­macht wurde: “Ich habe Ihre Tochter le­bend im Krankenhaus gesehen,” ver­deut­licht, wie weit derlei Grausamkeit gehen kann.
Nachdem die Regierung ankündigte, daß noch im September möglicherweise mit einem neuen Attentat zu rechnen sei, macht sich in der Bevölkerung Angst breit. So kämpfen die Nachbarn des neuen provisorischen Gebäudes der AMIA darum, die “Mutual” irgendwo, “aber nicht bei uns” zu errichten. Der Leiter des katholischen Colegio La Salle, er­klärte, daß viele Eltern ihre Kinder nicht mehr in die Schule gehen ließen, da sie die Nach­barschaft der AMIA fürchteten. Sportver­anstaltungen mit jüdischen Clubs wurden abgesagt. “Opfer sollen keine Nachbarn mehr sein”, entrüstete sich die Süddeut­sche Zeitung daraufhin im August.
Der argentinische Soziologe Juan Corradi sieht die Ursachen dieses unsolidarischen Verhaltens allerdings nicht nur in einer latent antisemitischen Grundhaltung. In­zwischen sei Argentinien in ein System des zwischenstaatlichen Terrors eingetre­ten. Diese neue, schwer begreifbare Di­mension des Terrors stelle die Gesell­schaft vor eine schlimme Entscheidung: “Entweder bist du Opfer oder einfach nur Zuschauer.” Um diesen Teufelskreis der Angst zu durchbrechen, empfiehlt Corradi das Informationsmonopol der Geheim­dienste durch eine eigenständige Bericht­erstattung zu durchbrechen und die Isola­tion der bedrohten Gruppe durch Solida­rität zu überwinden. Zudem sei die Mei­nung politisch unabhängiger Persönlich­keiten in solchen Krisensituationen äu­ßerst wichtig. “Die können eine psy­chologische Schutzfunktion übernehmen und symbolische Signale setzen, nicht nur für diejenigen, die hinter dem Anschlag stecken, sondern auch für die, die politi­sches Kapital daraus schlagen wollen”

Jenseits des Staates?

Im Editorial weist Albrecht Koschützke darauf hin, daß die Autonomie der latein­amerikanischen Staaten (politisch und ökonomisch) seit jeher begrenzt war, die “Durchsetzung des neoliberalen Paradig­mas (…) jedoch eine extreme Form von außen induzierter Transformation der na­tionalen Gesellschaften mit einer offenbar weiterreichenden Eingriffstiefe” darstellt. Bietet der neoliberale Staat neue Frei­räume für die multinationalen Kapitale, ist seine nationale Autonomie nach dem Um­bauprozeß der achtziger Jahre noch stär­ker reduziert. Auch die Binnenreichweite des lateinamerikanischen Staates war tra­ditionell begrenzt. Er garantierte zumeist weder ein fächendeckendes Bildungs- und Gesundheitssystem, noch kümmerte er sich beispielsweise um die indianische Bevölkerung und die verarmten Massen.
Der Unterschied zu früher liegt darin, “daß die strukturellen Schwächen des Staates nunmehr zu Tugenden erklärt werden, daß die Vernachlässigung seiner sozialen Funktionen nicht mehr vorwerf­bar, sondern lobenswert, weil freiheits­stiftend ist, daß nur rudimentäre staatliche Dienstleistungsangebote statt als Defizit jetzt zum Ziel deklariert werden, kurz, be­stehende Not wird in eine Chance zur Entwicklung umgelogen. Praktisch heißt das: Der immer schon miserable Staat wird noch miserabler; er liquidiert Hoff­nung, Erwartungen, Rechte und Ansprü­che auf Zukunft und Entwicklung gerade für jene, deren eigene materielle Kraft schon bisher nicht ausgereicht hat, indivi­duell Armut, soziale Ungerechtigkeit und Unterentwicklung erfolgreich anzugehen und die jetzt auf die Chancen des Wett­bewerbs und des Marktes reduziert werden.”
Die negativen Auswirkungen der Privati­sierung staatlicher Funktionen beschreibt Thomas Fatheuer in seiner Analyse der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro: Ganze Stadtviertel werden von Drogen­banden, Glücksspielkartellen und Todes­schwadronen kontrolliert. Das Problem ist hierbei, wie so oft, jedoch weniger die Aufgabe des staatlichen Gewaltmonopols – die Polizei wird von den BewohnerInnen der Favelas eher als Bedrohung denn als Schutz gesehen und ist zudem mit den Strukturen privater Gewalt “symbiotisch verwachsen” -, sondern ganz allgemein die Macht der Gewalt über die Gesell­schaft. Auch jenseits des Gewaltmonopols werden die staatlichen Aufgaben wie Bil­dungs- und Gesundheitssystem zuneh­mend privatisiert und von Drogen- und Glücksspielbossen übernommen. In der tiefgreifenden sozialen Krise bilden sich laut Fatheuer “neue Formen einer sich barbarisierenden gesellschaftlichen Ver­mittlung, die vielleicht, und das ist das Bestürzende, gar nicht so schlecht funk­tionieren.” Vor allem aber wirken sie sy­stemstabilisierend, begünstigen “autoritäre und faschistische Antworten” und er­schweren den Aufbau basisorientierter Alternativen innerhalb der Favelas.
Daß der Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung und der Abbau der staatlichen Regulierungsfunktionen auch Chancen bietet und die politische Organisierung der Betroffenen fördern kann, zeigt Juliana Ströbele-Gregor an­hand des Hoch- und Tieflands Boliviens. Der (Wieder-)Aufbau basisorientierter Entscheidungsstrukturen und Organisatio­nen der indianischen Landbevölkerung in den achtziger Jahren resultierte aus der Notwendigkeit, der Austeritätspolitik der bolivianischen Regierungen zu begegnen, wurde aber auch durch die neuen Frei­räume erleichtert, die der Rückzug von “Stiefvater Staat” schuf. Der unabhängige Organisierungsprozeß beförderte gleich­zeitig ein neues Selbstbewußtsein und die Besinnung auf die eigenständige kulturelle Identität und Tradition der indianischen Bevölkerung. Zwei Faktoren spielten in diesem Prozeß eine bedeutsame Rolle: die Führungspersönlichkeiten und die Nicht­regierungsorganisationen (NGOs). Hatten erstere als “soziale Grenzgänger” eine wichtige Funktion als “Mittler von Ideen, Werten, politischen Vorstellungen und Kontakten” nutzten die Basisorganisatio­nen die NGOs insbesondere zur Finanzie­rung notwendiger Projekte und Hilfsmaßnahmen. Dabei erwies sich die massive Ausbreitung der NGOs nicht nur als posi­tiv: mit der Macht des Geldes korrum­pierten sie Führungspersönlichkeiten und zerstörten gewachsene Dorfstrukturen.
Diese Ambivalenz der NGOs in ganz La­teinamerika diskutiert Albrecht Koschützke in seinem Artikel über “Die Lösung auf der Suche nach dem Problem: NGOs diesseits und jenseits des Staates”. Waren diese in den Jahren der Diktatur in vielen lateinamerikansichen Ländern oft dem antidiktatorialen Kampf verpflichtet und nicht selten ein Refugium für Oppo­sitionelle, veränderten sie sich mit dem Redemokratisierungsprozeß der frühen achtziger Jahre und übernahmen oft die Aufgaben, die der neoliberale Staat nicht mehr zu erfüllen bereit war – während der Staat “immer weniger Staat wird und sich qua Privatisierung schrittweise auf reine Vermittlerfunktionen reduziert, also ten­denziell einer NGO ähnlich wird”. Ohne die Bedeutung der NGOs, die seit den achtziger Jahren einen riesigen Boom er­leben, in vielen Teilbereichen in Frage zu stellen, kritisiert Koschützke die verbrei­tete Meinung, daß diese per se effizient, kostengünstig, uneigennützig, demokra­tisch und basisnah seien. In der Realität bilden sich durch den expandierenden Hil­femarkt vielmehr neue Abhängigkeiten. Zudem bestehe die Gefahr, daß die NGOs, statt demokratisches Bewußtsein, Erfah­rung und Organisierung zu fördern, in der Praxis insitutionelle und soziale Prozesse demokratischer Teilhabe untergraben.
Aus einer ganz anderen Perspektive unter­sucht Lothar Witte den Privatisierungs­prozeß der letzten Jahre: Anhand der Re­form der Sozialversicherung in Chile, Peru und Kolumbien macht Witte deut­lich, daß die Ausformung der notwendi­gen Veränderungen in hohem Maße von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängt. Das “chilenische Modell”, das während der Diktatur realisiert wurde, trägt vor allem den Interessen des Privat­kapitals Rechnung. Die kolumbianische Reform berücksichtigt zumindest zum Teil auch die sozialen Interessen der ein­kommensschwachen Versicherten. Vor allem aber zeigt Witte – dem das Ver­dienst gebührt, ein so trockenes Thema wie eine Versicherungsreform anregend und anschaulich dargestellt zu haben -, daß weder ein staatliches System automa­tisch sozial gerechter, noch ein privates effizienter ist.
Hans Petter Buvollen und Robert Große zeichnen den schwierigen und wider­sprüchlichen Autonomieprozeß an der ni­caraguanischen Atlantikküste nach. Histo­risch von der Zentralregierung in Mana­gua kaum beachtet, begann erst die sandi­nistische Regierung Anfang der achtziger mit dem verstärkten Aufbau staatlicher In­stitutionen und Entwicklungsprogramme – und machte vieles falsch. Nachdem sich insbesondere die Miskito dem bewaffne­ten Widerstand gegen die Revolutionsre­gierung angeschlossen hatten, initiierte die FSLN einen Verhandlungsprozeß, der 1987 in die Verabschiedung eines Auto­nomiegesetzes mündete. Der Widerspruch zwischen den wirtschaftlichen und politi­schen Interessen der Zentralregierung und den BewohnerInnen der Atlantikküste, zwischen Staat und Gesellschaft, wurde allerdings bis heute nicht gelöst. Die At­lantikküste ist noch immer “Spielball von Kräften, die außerhalb der Region liegen”.
Den Schwerpunkt des Jahrbuchs be­schließt eine – bereits in den Lateiname­rika Nachrichten Nr. 241/242 vorabge­druckte – sehr persönliche Einschätzung von Ingrid Kummels über die Gleichzei­tigkeit von Sozialismus, Kapitalismus und Santería für die Menschen in Kuba. In Ge­sprächen mit FreundInnen und Familien­mitgliedern hat Kummels festgestellt, wie in den letzten Jahren der ökonomischen Krise die Santería für die Menschen zu ei­nem wichtigen Bezugspunkt ihrer All­tagskultur “jenseits des sozialistischen Staates” wurde. Auch die Regierung hat ihre rigide Haltung gegen diese Volksreli­gion in den achtziger Jahren gelockert: “Ihre Strategie war, die Musik und die Rituale der Santería durch ihre Folklori­sierung für den Tourismus zu nutzen und zugleich deren religiöse Bedeutungen auszuhöhlen.” Doch die AnhängerInnen der Santería entzogen sich auf ihre eigene Art dieser Funktionalisierung.
Insgesamt bietet der Schwerpunkt des diesjährigen Jahrbuchs einen interessanten Einblick in die Prozesse, die jenseits des (neoliberalen) Staates vor sich gehen. Er­freulicherweise werden nicht nur die ne­gativen Auswirkungen der neoliberalen Restrukturierung analysiert, sondern auch die Chancen berücksichtigt, die der Rück­zug des Staates bietet. Dies hätte aller­dings noch vertieft werden müssen: Wie in dem Beitrag von Juliana Ströbele-Gregor über die Bauernorganisationen in Bolivien deutlich wurde, sind die sozialen Bewegungen entscheidende Akteure, um der neoliberalen Transformation Wider­stand entgegenzusetzen. Auf sie wird al­lerdings kaum eingegangen. Hier hätte sich – ähnlich dem Beitrag über die NGOs – ein Überblick über die sozialen Bewe­gungen in Lateinamerika angeboten.
Abgerundet wird das Jahrbuch wie in je­dem Jahr durch Länderberichte: Diesmal über Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, El Salvador, Gua­temala, Kuba, Mexiko und Peru. Wer keine brandaktuellen Informationen er­wartet – Redaktionsschluß war bereits im April -, wird auch diese Berichte mit Ge­winn lesen.

Jenseits des Staates?. Lateinamerika – Analysen und Berichte 18, hrsg. von Dietmar Dirmoser u.a., Horlemann Verlag (Bad Honnef), 278 Sei­ten, 29,80 DM, ISBN 3-89502-008-7

Editorial Ausgabe 243/244 – September/Oktober 1994

Haitianische und kubanische Flüchtlinge streiten um den Platz in den Zeltstädten des US-Marinestützpunktes Guantánamo, jenes ehernen Monuments offen imperiali­stischer Zeiten der US-Politik. Kuba und Haiti, zwei Länder, zwei Krisen. Und an beiden sind die USA beteiligt, sowohl heute als auch an ihrer Entstehungsge­schichte.
Das Militär, das bis heute eine demokrati­sche Entwicklung Haitis verhindert, wurde – wie auch in so vielen mittelameri­kanischen Staaten – unter der Ägide der USA aufgebaut. Kubas Revolution kam an die Macht, weil der von den USA unter­stützte Diktator Batista für die Bevölke­rung unerträglich geworden war. Die ur­alte Monroe-Doktrin, nach der außerame­rikanische Mächte keinen Einfluß auf die Hemisphäre ausüben dürfen, setzte sich in den Zeiten der Systemkonfrontation fort, noch dazu ideologisch auf­geladen durch einen fanatischen Anti­kom­munismus. Linke Regie­rung = sow­je­tischer Einfluß, das wurde zur Self-Fulfilling-Prophecy und im nä­chsten Schritt zur Rechtfertigung der Counterinsurgency-Doktrin.
Von außerhemisphärischem Einfluß kann heute keine Rede mehr sein, ebensowenig wie vom weltweiten Kampf gegen den Kommunismus. Hat sich damit die ideolo­gische Grundlage der US-Lateinamerika­politik verändert? Sollten andere Werte heute im Vordergrund stehen, vielleicht gar Menschenrechte und Demokratie, die bislang so offenkundigen Worthülsen, um den Hegemonieanspruch der USA zu be­mänteln?
Wenig spricht dafür. Die US-Politik scheint nur an einem interessiert: Ruhe im Hinterhof – will heißen, keine Aufstände und keine Flüchtlingsbewegungen – und freie Bahn für die eigenen wirt­schaftlichen Interessen. In weiten Teilen des Kontinents scheint es gelungen zu sein: Von Chile bis Mittelamerika herrscht relative Stabilität, und das neoli­berale Modell steht alternativlos da.
Bleiben Kuba und Haiti, die politischen Altlasten von Jahrzehnten US-amerikani­scher Lateinamerikapolitik, für die in Washington hilflos nach Entsorgungskon­zepten gesucht wird. Nur, eben diese feh­len. In Haiti laviert Clinton zwischen Nichtstun und Invasionsdrohungen und verschleppt damit die Krise immer mehr. Das Thema Kuba läßt währenddessen in den USA anachronistische ideologische Reflexe wiederauferstehen. Die Folge: In fataler Wechselwirkung mit der Unbe­weglichkeit des Castro-Regimes wird die Krise durch das Embargo und dessen Ver­schärfung noch geschürt.
Je länger sich die Krisen hinziehen, umso mehr wer­den in beiden Ländern nicht nur Volkswirtschaften, son­dern ganze Gesellschaften zerstört. Wo soziale Strukturen immer brüchiger werden, wo keine Perspektiven mehr sichtbar sind, sondern Angst vor Chaos oder, wie in Haiti, vor brutalem Terror herrscht, den­ken auch die, die gerne bleiben würden, an Flucht. Die US-Politik steckt in einem Dilemma. Worauf eigentlich sollen in Zu­kunft leidlich stabile Demokratien auf­bauen, wenn soziale Strukturen zuvor so nachhaltig zerstört werden? An die Stelle einer Macht, die sich auf ein Minimum an funktionierender Zivilgesellschaft stützt, könnten nur wieder autoritäre Regimes treten. Man sollte in Washington gelernt haben, daß Ruhe im Hinterhof damit auf Dauer gerade nicht zu erreichen sein wird. Es sei denn, den US-Strategen er­scheint dies als kleineres Übel gegenüber der Aussicht, ein geregelter Übergang und stabilere demokratische Verhältnisse könnten in Zukunft auch US-kritischen Tendenzen in Kuba und Haiti politische Spielräume für Veränderungen eröffnen, die sich den von Washington gewünschten Spielregeln entziehen. Altes Denken im Weißen Haus.

Insektizide auf Santiago

Der Insektizideinsatz über Santiago wurde mit der Entdeckung von rund 20 Frucht­fliegen, Schädlingen an Obstbäumen, be­gründet. Sie waren den Angestellten des “Servicio Agrícola y Ganadero” (SAG – Land- und Viehwirtschaftsbehörde) am 21. Februar bei den regelmäßig stattfin­denden Kontrollen aufgefallen. Zehn Tage ließ die Behörde danach verstreichen, um dann am 2. März völlig unvermittelt mit der Sprühaktion zu beginnen, ohne die zu­ständigen Ratsmitglieder und die Bevölke­rung zu informieren. Am 5.März kündigte der Leiter des SAG an, innerhalb der nächsten vier Wochen seien weitere vier bis neun Sprühflüge über denselben Stadtvierteln notwendig. Die Versuche der BewohnerInnen, sich mit Papiertüchern vor dem Mund zu schützen, konnten dabei nicht mehr sein als eine hilflose Geste.
Schon nach der ersten Sprühaktion herrschte in den betroffenen Gebieten Empörung und Unverständnis. In den Zeitungen wurde relativ breit darüber be­richtet, vor dem SAG-Gebäude fanden Kundgebungen von Umweltschutz-und Jugendorganisationen statt. Die zu Pro­testversammlungen zusammengekomme­nen lokalen BürgermeisterInnen sprachen sich allerdings mehrheitlich nicht gegen die Aktion als solche aus, sondern gegen den Mangel an Information und Abspra­che seitens des SAG. Bei den späteren Sprühflügen wurden die lokalen Stadt­verwaltungen und die Öffentlichkeit vor­her zumindest über den Termin informiert.
Tierfutter ins Haus!
Zur Kanalisation der Unruhe richteten die Kommunen ein Beschwerdetelefon ein. In den ersten drei Tagen gingen dort 460 An­rufe ein. Gemeldet wurden u.a. 97 Asth­maanfälle, 82 Fälle von Augenreizungen, mindestens zehn Menschen mit erhöhtem Blutdruck. Es gab auch einen Todesfall – jeglicher Zusammenhang mit der Be­sprühung wurde allerdings von den Be­hörden kategorisch abgestritten. Über­haupt wurde die Behörde nicht müde zu beteuern, wie absolut ungefährlich Mala­thion für Menschen und Tiere sei, und daß – trotz der gemeldeten und belegten Ge­sundheitsbeschwerden der BewohnerIn­nen – keinerlei Risiko bestehe. Paradox mutet da die Empfehlung an, als Vor­sichtsmaßnahme kein Tierfutter draußen stehen zu lassen, keine Wäsche aufzuhän­gen und im Haus zu bleiben, wenn die Flugzeuge kommen. Das hochtoxische Nervengift beschrieb die Behörde als “Sexuallockstoff für die Fruchtfliegen”, was sich wesentlich freundlicher anhört, aber kaum haltbar sein dürfte.
Exporterfolg Obst
Der Obstexport ist im “Modell Chile” ein so wichtiger Pfeiler der Wirtschaft gewor­den, daß die Behörden zu so drastischen Maßnahmen greifen. Der Präsident der Sociedad Nacional de Agricultura (SNA, Nationale Landwirtschaftsgesellschaft) Ernesto Correa sprach offen aus, worum es geht. Er bezeichnet die Besprühung der Stadtviertel als “tolle Sache” und be­glückwünschte den SAG dazu. Correa weiter: “Wieviele Proteste es auch geben mag, es ist unbedingt notwendig, einen guten Hygienestand zu haben, um Märkte (für Fruchtexporte-Verf.) zu öffnen und weiterhin in andere Länder zu exportie­ren… um den komparativen Vorteil (Chiles gegenüber anderen Obstexport­ländern) zu sichern.” Auch der Präsident der Vereinigung der Exporteure, Ronald Brown, warb bei der Bevölkerung um Verständnis für die “Lösung dieses Pro­blems, das die Wirtschaft des Landes be­einträchtigen kann”. Der Leiter des SAG, Sánchez, prognostizierte, die Lage auf den internationalen Märkten werde sich ver­komplizieren, gelinge es nicht, die Frucht­fliege schnell unter Kontrolle zu bringen. Denn die Importeure chilenischen Obstes, allen voran die USA, die allein 60 Prozent der chilenischen Früchte abnehmen, rea­gierten empfindlich. So mußte das Auf­tauchen der Fruchtfliege umgehend dem Landwirtschaftsministerium der USA ge­meldet werden. Wird die Fruchtfliege dann nicht mit allen Mitteln bekämpft, werden Importbeschränkungen ausgespro­chen.
Die Konkurrenten würde es freuen. Süd­afrika, Neuseeland, Spanien, Italien, Bra­silien und Argentinien bieten ebenfalls Obst an. Für Chile ist es zunehmend schwieriger geworden, seine Früchte auf dem immer weiter abgeschotteten EG-Markt, nach den USA zweitwichtigster Handelspartner, loszuwerden. 1993 be­legte die EG die chilenischen Äpfel mit Schutzzöllen, die Folge waren Verluste von 129 Mio. US-Dollar für die chileni­schen Exporteure. Nur noch halb soviele chilenischen Kiwis dürfen verglichen mit dem Vorjahr auf den EG-Markt, und das noch dazu zu einem schlechteren Preis. Neue Märkte sollen diese Verluste aus­gleichen. Die Exporte in die lateinameri­kanischen Nachbarstaaten konnten von 1993 auf 1994 um 54 Prozent gesteigert werden. Angesichts des enormen Konkur­renzdrucks der beteiligten Länder unter­einander dürften diese Märkte jedoch be­grenzt bleiben. Im März 1994 führte der Fund einer einzigen Raupe in einer La­dung chilenischen Obstes in Mexiko zu einem Importverbot für die gesamte be­troffene Fracht im Gesamtwert von sechs Millionen US-Dollar.
Der Obstanbau für den Export wurde wäh­rend der Pinochet-Diktatur im Rahmen der neoliberalen Umgestaltung besonders gefördert und machte eine atemberau­bende Entwicklung durch. Der “Erfolg” war so groß, daß der Obstexport als einer der Motoren des Modells bezeichnet wurde. In den 80er Jahren entwickelten sich die Obstanbau und Fischerei zu den nach dem Kupferbergbau zweitwichtig­sten Exportbereichen.
1973 exportierte Chile lediglich 45,1 Ton­nen frisches Obst, 1992 1,2 Mio. Tonnen. Chile hat heute einen Weltmarktanteil am Handel mit nicht-tropischen Früchten von 13 Prozent. Der Exportwert der Früchte machte 1987 527 Mio. US-Dollar aus. Der Anteil des Obstes am Gesamtexport Chi­les belief sich 1989 auf 11 Prozent. 1991 hatte sich dieser Betrag fast verdoppelt (993 Mio. US-$) und fiel 1992 wieder leicht.
Monokulturen für Devisen
Die Exporte verteilen sich auf fünf Früchte: Pflaumen, Kiwis, Äpfel, Birnen und vor allem Weintrauben, die 1992 al­lein 425 Mio. US-Dollar ausmachten. Die Zahl der Arbeitsplätze im Obstanbau, von denen die meisten saisonal begrenzt sind, stieg dagegen nur von 33.000 zwischen 1970 und 1973 auf 88.000 im Jahr 1993.
Die extreme Erhöhung der Produktivität in den achtziger Jahren ist darauf zurück­zuführen, daß in der Zeit der Pinochet-Diktatur transnationale Konzerne riesige Ländereien aufkauften, um dort pestizid- und düngeintensive Monokulturen für den Export entstehen zu lassen. Zur Zeit gibt es etwa 300 Exportunternehmen, von denen nur 30 Prozent überhaupt einen nennenswerten Marktanteil haben. Die größten zehn Unternehmen teilen sich da­bei 60 Prozent des Exportvolumens.
Viele ehemalige Kleinbauern ziehen in­zwischen als Saisonkräfte durch das ganze Land, je nachdem, wo gerade Erntezeit ist. Zwar gab es auch schon vor der Um­strukturierung SaisonarbeiterInnen, aber damals kamen auf eine Saisonkraft vier LandarbeiterInnen mit fester Arbeit. Heute ist dieses Verhältnis umgekehrt. Die Zahl der SaisonarbeiterInnen in diesem Bereich bewegt sich zwischen 500.000 und 800.000 bei einer Gesamtbevölkerung von nur 13 Mio. Menschen. Angesichts dieser Zahlen werden auch die offiziellen Ar­beitslosenstatistiken besser verständlich. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt in Chile lediglich bei ca. fünf Prozent. Die Saisonarbeitskräfte, die keine feste Arbeit haben und immer wieder Zeiten der Ar­beitslosigkeit überbrücken müssen, finden in dieser Berechnung keinerlei Berück­sichtigung.

Entscheidung für die Zukunft

Bis zum 2. Juli müssen sich alle Beitragszahle­rInnen entscheiden, ob sie im öffentlichen Rentensy­stem bleiben wollen oder Mitglied einer der über zwan­zig privatwirtschaft­lichen Administra­doras de Fondos de Jubilaciones y Pensio­nes (AFJP) werden wollen.
Nachdem der Ausverkauf der Staatsunter­nehmen inzwi­schen fast abgeschlossen ist, zieht sich der Staat als Akteur nun auch immer weiter aus dem sozialen Sektor zu­rück. Argentinien ist damit nach Chile das zweite Land des Cono Sur, das seine Rentenversiche­rung privatisiert. Doch während in Chile die Al­tersversorgung ausschlie?­lich nach dem neoliberalen Motto “JedeR spart für sich allein” funk­tioniert, wurde in Argentinien nach hefti­gen Diskussionen schlie?lich die Koexi­stenz eines öffentlichen und ei­nes privaten Systems gegen die Lobby der zukünftigen Versicherungsträger, vor allem nationale und inter­nationale Banken, durchge­setzt. Beide Länder haben sich damit von der Idee des Generationenvertrages zur Siche­rung der Renten verabschiedet, wobei aber die Rente in Argentinien noch stärker den Charakter einer Versicherung behält.
Dies war auch deshalb mög­lich, weil sich inzwischen gezeigt hat, da? die chi­lenischen privaten Rentenversicherungs-träger weit weniger rentabel für die Ein­zahlerInnen sind als vorher an­genommen worden war. Sie hatten auf eine Verzin­sung der Einzahlun­gen von jährlich minde­stens fünf Prozent speku­liert. Davon wird auch in Argentinien ausge­gangen. Die rentabelsten chilenischen Unterneh­men haben aber bisher nur um die vier Prozent, die schlechtesten sogar unter zwei Prozent er­reicht. Das unab­hängige Arbeitsfor­schungsinstituts PET in Chile geht in seinen Prognosen davon aus, da? eine Mehrheit der EinzahlerInnen später Auszahlungen unterhalb der Mindestrente erhalten wird. Das dreigliedrige ar­gentinische System wird das vermeiden.

Dreigeteilte Rente

Jede Rente wird sich in Zukunft aus drei Teilen zusammensetzen: in beiden Syste­men zahlt der Staat die Prestación Básica Uni­versal (PBU), eine Grund­rente von ungefähr 150 Peso (ca. 250 DM) und die Prestación Complementaria (PC), eine Ausgleichszah­lung für die bis zum Ein­tritt ins neue System geleisteten Beiträge. Diese Leistungen will der Staat aus den Arbeitgebe­rInnenbeiträgen und den höhe­ren Beiträgen Selb­ständiger finanzieren. Im dritten Teil der Renten­summe unter­scheiden sich das staatliche und das pri­vate System.
Für die Höhe der Zahlungen im staatli­chen System ist der Durchschnittslohn der letzten zehn Jahre vor der Pensionierung entschei­dend. Wer allerdings ins­gesamt weniger als 30 Jahre lang eingezahlt hat, bekommt nur die Grundrente ausgezahlt. Menschen, die lange arbeitslos sind, oder Un­terbrechungen machen, wie häufig Frauen zur Kin­dererziehung, gehen also das Risiko ein, ihre gesamten Einzah­lungen zu verlieren. Und bei 3660 Peso, das sind ungefähr 6200 DM, ist in der staatlichen Versicherung die maximale Auszahlung erreicht. Deshalb werden diejenigen mit einem hohen Ein­kommen in die Privatversicherungen gehen. Denn hier bestimmen die gesamte, indivi­duell ange­sparte Geldmenge, sowie die Lebens­erwartung und Familiensituation die Höhe der Rente.

Für wen lohnt sich was?

Der ideale Klient einer privaten AFJP ist deshalb heute unter 35 Jahre alt, nicht be­hindert, ledig, kinderlos, festangestellt mit guten Aufstiegschan­cen. Eine Frau mit glei­chen “Voraussetzungen” in gleicher Position wird al­lein aufgrund ihrer länge­ren Lebenserwartung schon eine geringere Rente be­kommen. Unglücklicherweise geht sie auch schon mit 60 in Rente, wäh­rend der Mann noch fünf Jahre weiterspa­ren kann. Doch eine jün­gere Ehefrau, de­ren Le­bensalter in die Berech­nung einbe­zogen wird, würde auch seine Rente ver­ringern.
Wer unter 3660 Peso ver­dient, wer gar nur den Mindestlohn von 200 Peso verdient oder häufig arbeitslos ist, wer riskiert, in den letzten zehn Jahren vor der Rente ar­beitslos zu sein und eine viel jüngere Frau heiraten will, obwohl er schon 55 ist; wer insgesamt weniger als 30 Jahre seines Le­bens arbeiten will…, kann versuchen, die individuel­len Vor- und Nachteile der Sy­steme zu vergleichen. Es wird kaum ge­lingen. Auch zum Vergleich der unter­schiedlichen Beitragssätze bleibt in zwei Monaten we­nig Zeit. Wenigstens sieht das Gesetz vor, da? die Mitglieder bis zu zwei Mal im Jahr die AFJP wechseln können.

Staatliche Kontrolle

Die Aufgabe der staatli­chen Kontrollbe­hörde Su­perintendencia de AFJP be­steht darin, über die Zu­lassung der Gesell­schaften zu entscheiden, die Tren­nung zwischen Ei­genkapital und Beiträgen bei den ein­zelnen AFJP zu überwachen und täglich die Transak­tionen der beste­henden Unternehmen auf dem Kapital­markt zu kon­trollieren. Die Superin­tendencia selbst finan­ziert sich durch Zahlungen der Versi­cherungsgesellschaften. Es bleibt zu hof­fen, daß ihre MitarbeiterInnen nicht bald schon in den nächsten großen argentini­schen Be­stechungsskandal verwickelt sein werden.
Die inzwischen über zwanzig zuge­lassenen AFJP erwarten kräftige Ge­winne. Alle nationalen und viele in­ternationale Banken betreiben eigene Ge­sellschaften, die, so hoffen sie, bald fünf Mil­lionen Mitglieder haben werden. Das würde ein mo­natliches Anlagevolumen von ungefähr 300 Millionen Peso bedeu­ten. Vom Bei­trag der EinzahlerInnen, 11 Prozent des Lohnes, behält die Gesell­schaft ungefähr ein Drittel ein, zwei Drit­tel bekommt die Ein­zahlerin ver­zinst. Konkurrenz zwi­schen Banken und Gewerkschaften
Den Konkurrenzkampf um Platz eins un­ter den AFJP werden voraussichtlich Siembra der Bankengruppe Citibank und Banco Rio so­wie Nación der Banco Nación austragen, die beide mit ungefähr 600.000 Mitgliedern rechnen. Um Platz drei werden sich wahrscheinlich Máxima, an der auch die Deutsche Bank beteiligt ist, Previnter von der Boston Bank und Consolidar mit Beteili­gung der Dresdener Bank schlagen. Allgemein wird davon ausgegangen, da? langfristig nur etwa zehn der heute einundzwanzig AFJP’s überleben werden.
Nicht nur Banken, sondern auch einige der gro?en Ge­werkschaften wie bei­spielsweise die Energiege­werkschaft Luz y Fuerza sind an AFJP’s beteiligt. Manche haben schon im vor­aus wie die Metallerge­werkschaft gegen Provision ihre Mit­glieder an eine der Versi­cherungen ver­schachert und hoffen, sich später direkt beteiligen zu können. Da­hinter steckt natürlich einerseits das Inter­esse, den Banken nicht die Ge­werkschaftsklientel und die absolute Macht auf dem Kapitalmarkt zu überlas­sen. Andererseits sind die Sozialwerke der Gewerk­schaften gefährdet, weil einige der AFJP’s auch gleichzeitig Kranken- und andere Versicherungen an­bieten wollen. Da wollen nun die gewerkschaftseige­nen Gesellschaften natür­lich mithalten.
Doch nicht alle Gewerk­schaften sind von der Pri­vatversicherung überzeugt. Die in­nerhalb des Gewerk­schaftsdachverbandes CGT agierende Oppositions­gruppe MTA (Movimiento de Trabajadores Argenti­nos), der zum Beispiel die Transportge­werkschaft an­gehört, empfiehlt ihren Mit­gliedern, mindestens noch ein halbes Jahr im staatlichen System zu ver­bleiben, um dann die Si­tuation einschätzen und die Verzinsung in den un­terschiedlichen AFJP’s vergleichen zu können.
Der oppositionelle Gewerk­schaftsverband CTA (Congreso de Trabajadores Argenti­nos), dem viele An­gestellte des Staates und der Provinzen angehören, hatte schon im Vorfeld eine Million Unterschrif­ten gegen die Privatisie­rung der Rentenversiche­rung gesammelt. Entspre­chend rät er seinen Mitgliedern die staatli­che Versicherung.

Angst vor wirtschaftlicher Insta­bilität

Niemand bestreitet, da? das bisherige argentini­sche Rentenversicherungs­system nicht mehr funktio­niert. Seit Jahren ist die staatliche Rentenkasse fast leer, weil sie immer wieder dazu verwendet wurde, Lö­cher in anderen Bereichen des Haushalts aufzufüllen. Monatelang be­kamen viele RentnerInnen deshalb nicht einmal ihre erbärmliche Mindestrente von 100 Peso ausbezahlt.
Eine Garantie für gutes Management der staatlichen Versicherung gibt es jetzt aber auch nicht, genauso­wenig wie die Sicher­heit und Rentabilität der pri­vaten Versi­cherungen ga­rantiert sind. Vor allem die Angst vor wirtschaft­licher Instabilität macht die Entscheidung für viele Argenti­nierInnen so schwierig. Nach dem Bör­sensturz in diesem Jahr wurden die Rege­lungen für Investitionen und Börsen­spekulation der AFJP noch einmal verän­dert, und die Frage bleibt offen, was beim nächsten Börsenkrach passiert.
Die Regierung hat gleich­zeitig wenig un­ternommen, die Entscheidungfindung der EinzahlerInnen zu er­leichtern. Erst knapp einen Monat vor dem Beginn der Ent­scheidungsfrist hat sie eine spärliche Infor­mationskampagne begonnen. In ei­nem Comic wurden die Unterschiede zwi­schen bei­den Systemen dargestellt, das private System aber als vorteilhafter vermit­telt. Die weit wichtigere, allerdings eindeutig par­teiische Informati­onsquelle sind so die knapp 30.000 VertreterInnen der einzelnen AFJP’s, die das Land mit Men­gen von Werbematerial über­schwemmen.
Das Gesetz sichert den Privaten au?erdem noch einen entscheidenden Vor­teil zu:
Aus dem staatlichen System können die Beitragszahle­rInnen jederzeit ins pri­vate wechseln. Wer sich in den zwei Monaten aber nicht explizit für den Verbleib im staatlichen System ausspricht, landet au­tomatisch im privaten, ohne Möglichkeit der Rück­kehr.

Henkel läßt weiterschnüffeln – fast überall

Auf dem International Forum for Child Welfare sprachen sich im letzten Jahr 45 Nationen für ein gemeinsames Vorgehen gegen die “zunehmende Zerstörung des lateinamerikanischen Kindes durch die Droge Klebstoff’ aus. Zudem wurde in vielen Veröffentlichungen vor den gesundheitlichen Folgeschäden der Klebstoffschnüffelei gewarnt. So schreibt Uwe von Dücker als Ergebnis seiner Untersuchung zur Aufdeckung der Schicksale lateinamerikanischer Straßenkinder im ded-Brief (Deutscher Entwicklungsdienst) 3/93: “Man weiß heute, daß Klebstoff, Lösungsmittel, Aerosole, Narkotine und ähnliche Stoffe Rauschmittel ganz besonderer Art sind. ihr Suchtpotential war je- doch den Herstellern so nicht bekannt. Bei dem Klebstoff handelt es sich um ein dem deutschen “Pattex” ähnliches Produkt, das in Lateinamerika unter unterschiedlichen Markenbezeichnungen vertrieben wird: In Argentinien ist es “Poxiran”, in Chile “Neopren”, in Peru “terocal”. […I Medizinische Untersuchungen über die Folgen der Klebstoffschnüffelei fanden wir trotz unserer regelmäßigen Nachfragen bei den die Straßenkinder behandelnden Ärzten in Lateinamerika nicht. Die Ärzte berichten uns jedoch von irreparablen Schädigungen der Stimmbänder, der Lunge, der Nieren, und der Zerebralfunktionen. Bei regelmäßiger Inhalation würden sich diese Schädigungen in besorgniserregender Geschwindigkeit verstärken und bereits nach einem Jahr als bleibende Behinderungen manifestieren.”
Uwe von Dücker ist Mitbegründer und Vorsitzender der “Internationalen Gesellschaft zur Förderung des lateinamerikanischen Kindes -educación para todos e.V.”.
Diese Organisation schrieb zusammen mit dem “deutschen Kinderschutzbund” und “CODECAL”, einem pädagogischen Ausbildungszentrum aus Bogota, im vergangenen September zum ersten Mal den Henkel-Konzern an: “Wir vertreten das Ziel, den allerorts in Lateinamerika auf die Straßen strömenden Kindern zu einer menschenwürdigen Zukunft zu verhelfen. Hierbei versuchen wir die am stärksten betroffene Gruppe, die auf der Straße lebenden Kinder, zu erreichen, und mit gezielten Programmen der Sozialarbeit zu unterstützen.” Weiter fordern sie eine Stellungnahme Henkels zu der weltweiten Produktion von Klebstoff und der Möglichkeit einer Entgiftung oder Einstellung der Produktion.
Henkel antwortet daraufhin: “Wir haben entschieden, zum 01.10.94 alle dem Endverbraucher in Zentralamerika angebotenen Kontaktkleber lösungsmittelfrei zu produzieren und auf den Markt zu bringen. Wir sind uns bewußt, daß wir damit einen Teil der Kunden aus dem Kleingewerbe verlieren werden, sind aber bereit, diese Verluste hinzunehmen.”
“Educación para todos” nahm diese Entscheidung zwar mit “Genugtung” entgegen, wies aber entschieden darauf hin, daß sich die Entgiftung von Pattex nicht allein auf den mittelamerikanischen Raum beziehen kann, wo Henkel nach eigenen Angaben nur mit 5-7 Prozent an der Klebstoffproduktion beteiligt ist. Es bleibt also abzuwarten, ob es Henkel nun wirklich um die Gesundheit der Straßenkinder geht, oder es sich einzig und allein um eine imageaufbessemde Alibiaktion handelt.
Vom 12.-17. September wird zum Thema Streetwork mit Straßenkindern ein internationaler Kongreß in Santiago/Chile stattfinden. Dort wird das zunehmende Problem der Klebstoffschnüffelei
zentrales Thema sein.

Kinder im Knast

Das Problem einsitzender Kinder und Ju­gendlicher wurde durch eine Katastro­phenmeldung dem Vergessen entrissen: Im Februar starben im Gefängnis von La Serena acht Minderjährige, nachdem sie einen Brand gelegt hatten, darunter zwei Kinder im Alter von 12 und 14 Jahren. Weitere Jugendliche überlebten schwer­verletzt. Eigentlich hätten sie gar nicht als Insassen in einem Gefängnis sein dürfen, denn auch nach chilenischem Recht sind Kinder nicht strafmündig. Daß sie doch dort waren, ist aber kein Einzelfall: Nach Angaben des Justizministeriums be­fanden sich im Juni 1993 etwa 700 Kinder in chilenischen Knästen.
Die Opfer des Brandes in La Serena wa­ren von einem Jugendrichter eingewiesen worden, der die Haft für eine “Für­sorge­maßnahme” hielt. Für viele Kin­der ist das Ge­fängnis eine Station zwi­schen ihren Heim­aufenthalten. Es gibt keine Straf­anstalten für Minderjährige; Allenfalls ein spe­zieller Trakt für Jugend­liche, in dem diese zwar theoretisch, je­doch nicht tat­sächlich von den erwachse­nen Häftlingen ge­trennt untergebracht werden.
Daß Kinder im Knast sind, ist aber nur die skandalöse Oberfläche des Problems. Kaum weniger bedrückend ist die Situa­tion der Jugendlichen, die in “Re­ha­bi­li­ta­tions­zentren” leben. Mit diesen ge­schlossenen Anstalten will sich die Ge­sellschaft vor einem Teil ihrer Jugend schützen, durch den sie sich bedroht fühlt. 8.000 Jugendliche kamen unter dem Pino­chet-Regime jährlich hinter Gitter, in Ge­fängnisse oder geschlossene “Rehabili­tationszentren”. Unter Aylwin sank diese Zahl auf ca. 6.500 im Jahr – eine Min­derung, keinesfalls aber ein Bruch mit der gängigen Verwahrpraxis.

Klassenjustiz

Der Großteil der Jugendlichen und Kin­der, die in Knästen leben, gehört den ar­men Bevölkerungsschichten an. Festge­nommen werden sie wegen Diebstahl, Vagabundieren, Alkoholkonsum oder Klebstoffschnüffeln in der Öffentlichkeit. Die chilenische Gesellschaft bietet diesen jungen Menschen keine Chance zur Inte­gration. Während nach offiziellen Anga­ben der Anteil der Armen an der Gesamt­bevölkerung während der Amtszeit Ayl­wins von 42 auf 33 Prozent sank, lebt die Hälfte der Kinder nach wie vor in Armut. Die Probleme bündeln sich: Zur materiel­len Armut kommt oft eine generelle Ver­nachlässigung durch das Elternhaus. Die schlecht ausgestatteten staatlichen Kin­dergärten und Schulen können diese Defi­zite nicht ausgleichen. 60 Prozent aller chilenischen Jugendlichen besuchen kom­mu­nale Schulen. Wer es sich leisten kann, schickt sein Kind auf eine der teuren Privatschulen oder wenigstens auf eine staatlich subventionierte Privatschule. Beide Schultypen können ihre SchülerIn­nenschaft auswählen, leistungsschwache oder problematische SchülerInnen also ablehnen. Diese Selektion und die völlig unzureichende Finanzierung haben das öf­fentliche Schulwesen ruiniert. Der neue Erziehungsminister faßt das Versagen in folgenden Zahlen zusammen: Vier von zehn ViertklässlerInnen verstehen die Texte nicht, die sie mühsam buchstabie­rend lesen. An Schulen in armen Gemein­den trifft dies sogar auf drei von vier SchülerInnen zu. Wenn sie von der Schule abgehen, bleiben die meisten Jugendli­chen bei der Suche nach Arbeit sich selbst überlassen. Ein berufsvorbereitendes Sy­stem, das gerade Kindern armer Eltern helfen könnte, gibt es nicht.
In den vergangenen vier Jahren wurden 700.000 Jugendliche auf bloßen Verdacht hin festgenommen. Werden Jugendliche unter 16 Jahren von der Polizei aufgegrif­fen, gibt es zwei Möglichkeiten: Stammt der/die Betroffene aus besseren Kreisen, wird das Problem mit einem Anruf zu Hause gelöst. Ein armes Kind wird dem JugendrichterInnen vorgeführt, der/die es entweder der Familie übergibt – sofern diese Interesse daran hat – oder in ein “Rehabilitationszentrum” einweist. Wäh­rend der/die RichterInnen seine/ihre Ent­scheidung trifft, ohne dabei an zeitliche Vorgaben gebunden zu sein, werden die Jugendlichen in einem Diagnosezentrum (COD) aufbewahrt. Mitunter verfügen RichterInnen jedoch unter klarer Rechts­beugung, daß die Betroffenen zunächst in einem Gefängnis unterzubringen sind.

Je früher in den Knast desto besser

Chile ist das einzige Land in Lateiname­rika, in dem das Strafrecht für 16 bis 18jährige Jugendliche ein Relikt aus dem vorigen Jahrhundert darstellt: Die Ent­scheidung über die strafrechtliche Urteils­fähigkeit. Kommt ein/e RichterIn anhand eines psychologischen Gutachtens zu der Überzeugung, der oder die Jugendliche habe das Unrecht der Tat erkennen kön­nen, wird er oder sie als ErwachseneR be­handelt; lediglich das Strafmaß wird im Falle einer Verurteilung leicht abge­schwächt. Wird keine Strafmündigkeit un­ter­stellt, entscheidet der/die RichterIn nach Gutdünken.
Pfiffige Jugendliche wissen das Für und Wider des Unrechtsbewußtseins abzuwä­gen. Mit 16 Jahren strafrechtlich als er­wachsen behandelt zu werden, bringt nicht notwendigerweise Nachteile mit sich. Der/die RichterIn muß nämlich innerhalb von fünf Tagen eine konkrete Anschuldi­gung erheben oder aber die Freilassung aussprechen. Die Beschuldigten haben das Recht auf anwaltlichen Beistand und eventuell auf Haftverschonung.

Richterliche Willkür

Hält der/die RichterIn das Unrechtsbe­wußtsein für nicht gegeben, ist aber davon überzeugt, daß der oder die Jugendliche eine Gefahr für die Gesellschaft darstellt, beschließt die Justiz die Einweisung in ein “Rehabilitationszentrum”. Sie entscheidet dabei nach eigenem Ermessen und ist an keinerlei Verfahren gebunden. Es gibt weder Anspruch auf einen Rechtsbeistand noch auf die Hinzuziehung von Sozialar­beiterInnen. Die RichterInnen sind nicht einmal dazu verpflichtet, die Betroffenen über­haupt anzuhören. Die allgemeine Ten­denz der Rechtsprechung ist nach An­gaben der Kinderrechtsorganisation GAN deutlich von Medienkampagnen über stei­gende Jugendkriminalität abhängig. Steigt die Zahl der Delikte – sei es tatsächlich oder nur in der öffentlichen Wahrneh­mung – nimmt offensichtlich auch die unterstellte Einsichtsfähigkeit der verhaf­teten Jugendlichen zu.
Die Chancen für eine Reform stehen schlecht. 1993 brachte die Aylwin-Regie­rung eine Gesetzesvorlage ein, mit der die Entscheidung über das Unrechtsbewußt­sein abgeschafft werden sollte. Die ultra­rechte Senatsmehrheit blockierte diese Novelle nicht nur, sondern trat im Ge­genteil für eine Verschärfung des Straf­rechts ein. Die Altersgrenze für Strafmün­digkeit sollte auf 17 Jahre gesenkt und die Feststellung des Unrechtsbewußtseins auch auf 14jährige ausgedehnt werden. Um Schlimmeres zu verhüten, zog die Regierung ihre Vorlage zurück.

Resozialisierung: Der Einstieg in die Kriminalität

Nach Ansicht von GAN bieten weder Ge­fängnisse noch “Rehabilitationszentren” den Jugendlichen die Chance zur Reso­zialisierung. Während der langen Ein­schlußzeiten in den Massenzellen von 17 Uhr nachmittags bis 8 Uhr morgens blei­ben die Jugendlichen sich selbst überlas­sen. In diesem Zeitraum entfaltet sich die interne Hierarchie der Insassen in ihrer ganzen Brutalität. Die “Sozialisierung”, die die Minderjährigen im Knast erfahren, fördert das Abrutschen in die Kriminalität.
In den “Rehabilitationszentren” mangelt es sowohl an ausgebildetem Personal als auch an sinnvollen Betreuungsprogram­men. Angesichts des Milieus, aus dem die meisten Jugendlichen kommen, müßte statt für Resozialisierung zunächst einmal für Sozialisierung gesorgt werden. Der Personalmangel macht individuelle Be­treuung unmöglich. Die handwerklichen Ausbildungsprogramme sind schlecht und reichen kaum für eine berufliche Qualifi­zierung aus. Die Jugendlichen merken nur allzu deutlich, daß die Gesellschaft nicht bereit ist, ihnen positive Perspektiven zu bieten.
Vor wenigen Wochen wurde in Santiago, in der Kommune San Bernardo, das erste Jugendgefängnis Chiles eröffnet. In einem Pilotprojekt sollen 120 Jugendliche von SozialarbeiterInnen und PsychologInnen betreut werden und ein sinnvolles Ausbil­dungsprogramm angeboten bekommen. Die herkömmlichen bewaffneten Gefäng­niswärter sollen nur noch den Außenring der Anstalt sichern. Doch auch wenn die­ses Projekt positiv verlaufen sollte, bliebe vieles zu tun.
Noch immer fehlt das öffentliche Bewußt­sein darüber, Jugendkriminalität als Folge sozialer Ungerechtigkeit wahrzunehmen. Diejenigen, die lauthals nach einer Ver­schärfung der bestehenden Gesetze schrei­en, sind keinesfalls eine kleine Min­der­heit. Im gegenwärtigen innenpoliti­schen Klima für das Problem der Kinder in Knästen keine Lösung in Sicht.

Kasten:

Das Diagnosezentrum in San Joaquín

Auch wo guter Wille für den Umgang mit straffällig gewordenen Jugendlichen vor­handen ist, lassen die bestehenden Struk­turen nur wenig Spielraum. Welche Mög­lichkeiten haben Dia­gnosezentren (COD), in denen Minderjährige unter­gebracht wer­den, die am Knast vorbeigekommen sind?
Bis zum Ende der Diktatur war das COD in San Joaquín, einem Stadtteil Santiagos, ein privates Unternehmen. Die ursprüng­liche Belegzahl von 120 Jugendlichen im Jahr 1982 erwies sich als unrenta­bel. Die staatlichen Sub­ventionen stagnierten. Um einen Gewinn zu erzielen, wurden schließlich 300 Ju­gendliche zusam­men­gep­fercht. Die drohenden Fol­gen der Über­belegung soll­ten durch das harte Durch­greifen des Wach­personals unter­bunden werden.
Das COD in Dan Joaquín be­treut heute 120 Jungen im Alter zwischen 14 und 17 Jah­ren. Die reduzierte Be­legung hat dazu geführt, daß die Gewalt unter den Jugend­lichen abgenommen hat. In der Regel reicht die Androhung von Rauch­verbot, um Schläge­reien zu verhindern. Jeden Montag werden neue Insassen vom Poli­zei­sammelrevier für Kinder und Jugendli­che “angeliefert”. Sie bleiben im Durch­schnitt 29 Tage, wäh­rend ein Richter über ihr weiteres Schicksal entscheidet. Einige von ihnen bringen zwei Tage in San Joaquín zu, andere warten bis zu neun Mona­ten. Die Dauer des Aufent­halts ist unvorhersehbar und entzieht sich dem Ein­fluß des COD. Entscheidet die Justiz, die Jungen nach Hause zu entlassen? Wird die Einweisung in ein Rehabilitationszen­trum verfügt? In diesem Fall sucht der Leiter des COD nach einem freien Platz. In schwierigen Fällen kann dies mehrere Monate dau­ern. Viele Zentren weigern sich, Jugendliche aufzu­nehmen, die be­reits mehr­fach geflohen sind.
Im COD arbeiten siebzig Personen. Nach Abzug des Küchen- und Reinigungsper­sonals bleiben dreißig Be­treuerInnen, die sich im Drei-Schicht-Betrieb um die Ju­gendlichen kümmern. Auf jede anwesende Betreu­ungsperson kommen also 12 Ju­gendliche. Nur insgesamt fünf Betreue­rInnen sind PsychologInnen oder Sozial­arbeiterInnen. Ihre Kol­legInnen verfü­gen über keinerlei berufliche Aus­bildung.
Die Insassen werden drei unterschiedli­chen Gruppen zugeordnet: Erstzugänge, Wie­derholungsfälle und Ju­gendliche, die wegen guter Führung oder stabilisier­ter famili­ärer Verhält­nisse bald entlassen wer­den sollen. Die Anstalt ist zwar ge­schlossen, doch es gibt keine bewaffneten Wächter. Flucht ist also möglich. Nur we­nige Insas­sen sind FreigängerInnen, die einen Arbeitsplatz ha­ben. Eine Minderheit er­hält infolge guter Führung das Recht, sich ohne Be­gleitung außerhalb des Zen­trums aufzuhalten – etwa, um ein polizei­liches Führungszeugnis oder einen Perso­nalausweis zu bean­tragen, kleinere Ein­käufe zu erledigen. Das Fluchtrisiko wird bei die­sen Jugendlichen einkalku­liert. Das engmaschige Be­treuungssystem läßt keine weiteren Möglichkeiten zu, Eigenständig­keit zu erler­nen.
In einer kleinen Werkstatt lernt ein Dut­zend Jugend­licher, wie mit einfachen Werk­zeugen Holz bearbeitet wird. In der Hoffnung, ei­nes Tages eine Anstellung als Ange­lernter/e zu fin­den, ziehen die Jun­gen mit. Auf dem betonierten Innenhof können die Ju­gendlichen Fußball spie­len. In einem Aufenthalts­raum steht ein Fern­seher. Zwei Lehrer bieten Unter­richt im Lesen, Schreiben und Rechnen an. Dar­über hinaus gibt es keine ge­zielten För­derprogramme. Wozu auch? Das COD dient in erster Li­nie als Durchgangsstation und Verwahr­anstalt. Daran hat sich auch nach dem Ende der Dik­tatur nichts geän­dert.

Das Mausoleum Chiles

Am 20. Februar begann in Chile mit der Einweihung des Hochsicherheits­ge­fäng­nisses eine neue Ära der Terroris­mus­be­kämpf­ung. Zunächst wurden 45 Ge­fangene verlegt, 37 davon aus der Ex-Penitenciaría (ehemaliges Zuchthaus) und neun aus dem Gefängnis San Miguel. Der Hochsicherheitstrakt liegt auf dem Ge­lände der Ex-Penitenciaría in San­tiago und wurde im Oktober 1993 fertiggestellt. Es sind vor allem Mitglieder der militanten Opposi­tionsgruppen FPMR (Frente Patriótico Manuel Rod­ríguez) und Lautaro (Frente Juvenil Lautaro), die zu den Ge­fangenen zählen. Die Mehrheit von ihnen ist noch nicht in letzter Instanz verurteilt worden. Die FPMR und verschiedene Menschen­rechts­organisationen, wie die ODEP (Organización Defensa Popular) und die OPP (Organización De Presos Políticos) fordern die sofortige Schließung des Hochsicherheitstrakts. Damit stehen sie jedoch ziemlich allein da, denn von der Mehrheit der Bevölkerung und von den Regierungsparteien wird diese Maßnahme zur Terrorismusbekämpfung als notwen­dig angesehen.
Schon Wochen vor der Verlegung hieß es in den Zeitungen, die Angehörigen der Gefangenen hätten Angst, daß es bei der Verlegung Tote geben könnte: “…ehrlich gesagt, wir fürchten, daß die Gefängnis­truppe der Polizei (Gendarmería) bei unse­ren Verwandten, die all ihren Widerstand aufbringen werden, um sich der Verle­gung zu verweigern, nicht vor dem Töten zurückschrecken wird”.

“Operación Canario”

Über den Verlauf der Verlegung gibt es verschiedene Versionen (siehe Interview). Der Bericht der Gendarmería besagt, daß die Verlegung der Gefangenen der Ex-Penitenciaría gegen sieben Uhr morgens begann und von einer Spezialeinheit durchgeführt wurde. Es sei zu keinen nen­nenswerten Zwischenfällen gekommen, auch sei niemand verletzt worden. Anders hingegen im Gefängnis San Miguel: zwei Gefangene, Víctor Gonzáles und Mauricio Hernández, beides Mitglieder der FPMR, hätten gegen die Polizisten Feuer eröffnet. Demzufolge “…mußte so schnell wie möglich gehandelt werden, indem Trä­nengasbomben geworfen wurden und ebenfalls geschossen wurde”. Das Ergeb­nis der Verlegung: zwei durch Schüsse in den Oberschenkel verletzte Gefangene und vier leichtverletzte Polizisten. Zwei Tage später wurde in der Presse berichtet, daß diese Angaben unvollständig seien. Drei weitere Gefangene, Mitglieder der Gruppe Lautaro, hätten ebenfalls leichte Verletzungen erlitten. Claudio Martínez, Chef der Gendarmería, erklärte dazu, daß er diese drei Gefangenen nicht miteinbe­zogen habe, da sie nicht in ein Kranken­haus gebracht werden mußten. Die Operación Canario, wie die Verlegung offiziell genannt wurde, bezeichnete er “als erfolgreich abgeschlossen”.

Glückwünsche der Regierung

Nach einem Treffen mit dem damals noch amtierenden Innenminister Enrique Krauss verkündete Martínez, daß die Re­gierung ihn zu der Verlegung beglück­wünscht habe. Martínez vertrat die An­sicht, daß die Reaktion der Polizisten im Gefängnis San Miguel unvermeidbar ge­wesen war, “da die Terroristen das Feuer eröffneten”. Mit Nachdruck erklärte er, daß der Tod einiger von ihnen verhindert wurde: Die Polizisten hätten genaue An­weisungen gehabt, im Fall des Gebrauchs der Schußwaffe nur auf Arme und Beine zu zielen.
Wie gerufen kam der Gendarmería dann noch der Fund von fünf Schußwaffen, die scheinbar vor der Verlegung ins Gefäng­nis San Miguel geschmuggelt worden wa­ren. Das war immerhin ein Beweis dafür, daß die Besorgnis berechtigt war. Das Vorgehen der Polizei konnte nun öffent­lich gerechtfertigt werden.

Lügen als Strategie?

Die Gendarmería verkündete außerdem – fünf Tage vor der Verlegung – die Entdek­kung eines Tunnels in der Ex-Penitencia­ría, der den Gefangenen dazu dienen sollte, sich noch rechtzeitig aus dem Staub zu machen. Dieser Tunnel weise eine Länge von 15 bis 20 Meter auf und sei 1,50 Meter tief. Die beiden Eingänge des Tunnels wurden in Zellen von Gefange­nen der FPMR entdeckt. Im Tunnel seien Kleidung, Nahrungsmittel, Zangen, Drähte, Grubenlaternen und Ventilatoren gefunden worden. Die Gefangenen und ihre Angehörigen bezeichneten die Dar­stellungen der Polizei als Einschüchte­rungsversuche. Ziel sei, die Organisation und das gemeinschaftliche Leben der Ge­fangenen zu zerschlagen. Die Einführung von Isolationshaft ließe sich mit dieser Strategie gut begründen. Momentan teilen sich zwei Gefangene eine Zelle, da einige Räumlichkeiten noch fertiggestellt werden müssen.

Das Ziel: Gehirnwäsche

Sobald es möglich ist, kommen die Ge­fangenen in Isolationshaft. “Wir verlieren alle unsere Rechte, die wir uns in den letzten drei Jahren erkämpft haben: das ungestörte Beisammensein mit der Fami­lie, das Recht, zu arbeiten, zu studieren, das Recht auf gesundheitliche Versor­gung, das Recht, zweimal in der Woche Sport zu treiben und das Recht auf Intim­kontakt”, erklärt der Gefangene Pablo Muñoz, Mitglied der FPMR. “Ihr eigentliches Ziel ist, unsere politischen Ideen und vor allem unsere Psyche zu zerstören. Wir sitzen hier in einem modernen Mausoleum, und niemand stört sich daran.”

Der Käfig der “Canarios”

Der Hochsicherheitstrakt besteht aus drei Stockwerken. Insgesamt gibt es 88 Ein­zelzellen, die auf das zweite und dritte Stockwerk verteilt wurden, damit von vornherein der Bau von Fluchtwegen aus­geschlossen ist. In jeder Zelle befindet sich ein Stuhl, ein Tisch, ein Betonpodest mit aufliegender Matratze als Bett und eine in den Boden gelassene Toilette. Aufgeschlossen wird morgens um 9 Uhr, eingeschlossen abends um 18 Uhr. Dazwi­schen besteht die Möglichkeit, im Hof spazierenzugehen oder fernzusehen. Acht­zig ausgebildete Wärter bewachen den In­nenbereich. Der Hochsicherheitstrakt ist in sechs Sicherheitszonen mit Kontroll­stellen für BesucherInnen eingeteilt. Alle Räume, mit Ausnahme der Zellen, werden durch Videokameras überwacht.
Ex-Präsident Patricio Aylwin erklärte, daß das Hochsicherheitsgefängnis die Men­schenrechte in keinster Weise verletzen würde. Vielmehr seien die Terroristen diejenigen, die gegen die Menschenrechte verstoßen, indem sie ihre politischen Ideen durch gewalttätige Ak­tionen durchsetzen wollen. Dafür gäbe es in einem demokratischen System, wie es seit 1990 in Chile herrsche, keine Recht­fertigung. Aber wie steht die Demokratie den Gefangenen gegenüber? Demokratie und Hochsicher­heitstrakt – das paßt nicht zusammen, in Stammheim sowenig wie in Santiago.

Späte Gerechtigkeit

Die Urteile riefen Genugtuung in der Öffent­lichkeit hervor: Sollte in Chile Gerechtigkeit doch möglich sein? Auch die politische Rechte beeilte sich zu versichern, daß das richterliche Urteil selbstverständlich zu re­spektieren sei und die Verurteilung der Ex-Polizisten das Ansehen der chilenischen Poli­zei absolut nicht beeinträchtige. Aus zwei Gründen hat der Fall der degolla­dos die chilenische Öffentlichkeit fast ein Jahrzehnt be­schäftigt: Zum einen wegen der demon­strativen Brutalität des Verbre­chens (den Opfern wurden die Kehlen durch­schnit­ten) und zum anderen, weil das polizei­li­che Terrorkommando trotz erdrückender Indizien und engagierter richterlicher Wahr­heitssuche nicht rechtskräftig ver­urteilt wer­den konnte.
Die Ermordung der drei Männer, Mit­glieder der Kommunistischen Partei, am 30. März 1985 war die “Antwort” des po­lizeieigenen Geheimdienstes an die KP, deren bewaffneter Arm, die Frente Patriótico Manuel Rodrí­guez (FPMR) unter anderem Anschläge ge­gen Polizisten verübt hatte. Keines der drei Opfer gehörte jedoch der FPMR an. Außer­dem sollte davor gewarnt werden, weiterhin die Verbrechen eines staatlichen Terrorkom­mandos aus den siebziger Jahren zu untersu­chen, wie dies José Parada, einer der drei Ermordeten, getan hatte.
Die drei Opfer wurden in zwei Aktionen je­weils am hellichten Tag und auf offener Straße von Polizisten in Zivil entführt, ge­fol­tert und verhört. Zwei, bezie­hungsweise einen Tag danach wurden die drei Leichen mit durchschnittenen Kehlen neben dem Weg zum Flughafen gefunden. Die Botschaft sollte nicht nur KP und FPMR, sondern auch weitere Opposi­tions­kreise erschrecken. Im März 1985 befand sich Chile im Ausnahme­zustand, den Pi­no­chet im November an­ge­sichts der auf­kom­men­den na­tio­na­len Pro­test­be­weg­ung ver­hängt hatte. Daß der staatliche Terror­apparat zugeschla­gen hatte, war trotz aller Dementis offen­sichtlich: Die Verkehrs­polizei hatte einen Tatort abgesichert, ein Hubschrauber über­flog einen Einsatzort, und angesichts des seit Monaten herr­schenden Ausnahmezustands konnte kein Fahr­zeug nachts ohne Sonderer­laubnis zum Ort der Ermordung fahren. Die kurze Zeitspanne zwischen Entführung und Er­mor­dung machte außerdem klar, daß es den Entführern allenfalls in zweiter Linie da­rum ging, von den Opfern Infor­mationen zu bekommen.
Dieser demonstrative Terror erschien selbst dem Pinochet-Regime zu jenem Zeitpunkt politisch nicht opportun, das durch Verhand­lungen mit der Christ­demokratischen Partei versuchte, das Op­po­si­tionsbündnis zu spal­ten. Es waren kon­krete Hinweise des militäri­schen Ge­heim­dienstes CNI an den untersu­chenden Rich­ter Cánovas, die zur Anklageer­he­bung gegen Polizeioffiziere führten. Poli­zei­chef Mendoza, Mitglied der damaligen Mi­li­tärjunta, mußte auf Druck Pinochets zu­rücktreten, Nachfolger wurde sein früherer Stellvertreter Stange.
Bereits unter Mendoza, aber weiter unter Stanges Amtsführung, hat die Polizei zwar ihre Zusammenarbeit mit der Justiz öf­fent­lich beteuert, die Aufklärung aber in Wirk­lichkeit nicht nur behindert, sondern mit der Einrich­tung eines “Kreativen Ko­mitees” zur Gestal­tung der Aussagen vor dem Richter dessen Arbeit gezielt sabo­tiert. In kluger Voraus­sicht, daß sie eines Ta­ges als Sündenböcke doch der Justiz preis­gegeben werden könn­ten, ließ einer der beschuldigten Offiziere bei einer “La­ge­besprechung” mit Stange heim­lich ein Ton­band mitlaufen, das er schließlich dem Rich­ter als Beleg “tätiger Reue” – er­folg­los – übergab. Dieses kompromit­tie­rende Be­weis­stück brachte Richter Juica dazu, Stange Vernachlässigung seiner Pflichten und Behinderung der Justiz vor­zuwerfen, wo­für allerdings, so Juica, die Militär­justiz zustän­dig sei.
Zwei Richter – zunächst, bis zu seiner Pen­sionierung, Cánovas, danach Juica – ha­ben in neun(!) Jahren penibler Er­mitt­lungen das Verbrechen trotz aller Behin­de­rungen zu klä­ren versucht. Was schließ­lich zur Identifizie­rung und Verurteilung der einzelnen Tatbe­teiligten führte, war die “Kron­zeugen­regelung”, die eigent­lich zum “Kampf gegen lin­ken Ter­ro­ris­mus” erlassen worden war. In drei Fällen hat der Richter deshalb die Strafen von “le­bens­läng­lich” auf 15 be­zie­hungs­weise 18 Jahre re­du­ziert.
Nach Ostern demonstrierten kleine Studen­tInnengruppen vor dem Haupt­quartier der Polizei. Wie üblich löste die Polizei die De­monstration auf, allerdings ohne die ge­wohnte Brutalität. Sympa­thi­santInnen der Polizei durften natürlich un­behelligt ihre So­lidarität bekunden. Massendemonstrationen von linken Grup­pen gab es jedoch nicht. Zu den Märschen der Angehörigen der degolla­dos während der Ostertage kamen kaum mehr als 2000 Personen, die den Rücktritt Stanges for­derten. Die Gruppe er­reicht mit ihren Auf­rufen weiterhin nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Massenmobili­sierung, er­klär­te inzwischen der sozialistische Innen­mi­nister Correa, sei von der Regierung auch nicht er­wünscht gewesen. Sie habe zu­vor entspre­chende Signale an die sozia­len Bewegungen gegeben.

Inti-Illimani und Quilapayún auf Europatournee

Da ist zum einen Quilapayún, eine Gruppe, die 1965 in Chile ge­gründet wurde. Sie versucht, latein­ame­rika­nische Folklore mit Ele­menten aus der Pop­musik und der experi­mentellen Musik zu ver­knüpfen. Die Gruppe lebt seit 1973 in Frankreich und verbrachte dort 15 Jahre im Exil. Wiederholte Aufenthalte in Chile haben das Leben des Ensembles in den letzten Jahren stark verändert. So hat die Möglichkeit, Chile und Europa gleichzei­tig erleben zu können, die Gruppe sehr be­reichert. Freilich überwiegt nach wie vor die lateinamerikanische Prägung. Neben traditionellen Instrumenten werden auch Klavier, Synthesizer und E-Gitarren ein­gesetzt. Quilapayún hat bisher 25 Lang­spielplatten aufgenommen, die allesamt den Wunsch nach permanenter Einmi­schung in die Politik – wider alles Unrecht – lebendig werden lassen.
Inti-Illimani entstand 1967 in Santiago de Chile und spielte anfangs als reines Folk­loreensemble. Zwar haben sie sich im Laufe der Zeit auch von der Musik ande­rer Kulturen und Stilrichtungen beeinflus­sen lassen, sie spielen jedoch nach wie vor auf – überwiegend traditionellen – akusti­schen Instrumenten. Vor dem Putsch wurde Inti-Illimani staatlich gefördert und galt neben Quilapayún als ein wichtiger Teil der “Nueva Canción Chilena”, einer Musikbewegung, die folkloristische mit politischen Elementen verband. Während einer Tournee 1973, die sie auch nach Berlin führte, wurde die Gruppe vom Putsch überrascht, eine Rückkehr war unmöglich: Bis 1988 lebten sie im Exil in Italien. Inti-Illimani wurden mit ihrer Mu­sik zu einem Symbol des Widerstands ge­gen die Diktatur in Chile. Als die Gruppe nach 15 Jahren wieder ins Land einreisen durfte, entschied sie sich, endgültig zu­rückzukehren. Seitdem mischen sie sich wieder verstärkt in die Probleme vor Ort ein, viele Tourneen führen sie jedoch im­mer noch ins Ausland.
Im folgenden drucken wir Auszüge aus einem Interview mit Jorge Coulón von der Gruppe Inti-Illimani ab. Es geht dabei um die Erfahrungen des Exils und die Verän­derungen der Musik während dieser Zeit, beziehungsweise um die aktuelle Platte.

Interview mit Jorge Coulón (inti illimani)

Frage: Hat das Exil eure politische Ein­stellung verändert?
J.C.: Ja, natürlich hat es einen starken Ein­fluß auf uns gehabt – im negativen wie im positiven Sinne. Jedenfalls war eine Ver­änderung unvermeidlich. Wir fanden uns in einer völlig anderen Realität wieder, inmitten ganz anderer Aus­ein­ander­setzungen, Debatten. In Chile hatten die Menschen 17 Jahre lang keine Mög­lich­keit zu einer wirk­lichen Diskussion, be­zieh­ungsweise sich neuen Ideen zu stellen – hier stag­nierte alles. Wir da­gegen in Italien taten gar nichts anderes, als permanent zu diskutieren, mit neuen Ideen zu spielen. Wir lebten während des Exils mitten in einem Land, das im politischen Bereich die weltweiten Ereig­nisse der letzten Jahre vorwegnahm – die italienischen Kommu­nisten gelangten zum Bei­spiel zu Positionen, die Gor­batschow später in der Sowjetunion vertrat.
In Chile gibt es aus mei­ner Sicht zwei Grup­pier­ungen, die in ihrer Ideo­lo­gie so dogmatisch sind, daß es kaum möglich ist, mit ihnen zu diskutieren: das Militär und die Kom­mu­nistische Partei. Der him­mel­weite Unterschied liegt natürlich darin, daß ich mich den Kommunisten sehr ver­bunden fühle…

Seid ihr weiterhin eine politische Gruppe?
Wir selbst sehen uns in der Hauptsache nicht als eine “politische” Gruppe – im Sinne einer Botschaft, die wir mit Musik un­ter­legen. Wir sind Musiker, die po­liti­sche Po­si­tionen haben; wir haben un­seren Platz in der Ge­sell­schaft und greifen die vorhandenen Probleme auf. In diesem Sinne sind wir politisch.

Wie beurteilt ihr heute die doch sehr kämp­ferischen, pamphle­ta­ri­schen Tex­te, die ihr unter Allende und bis Mitte der siebziger Jahre schriebt?
Eigentlich haben wir immer darauf ge­achtet, in un­se­ren Texten nicht zu pla­ka­tiv, zu ober­fläch­lich engagiert zu sein. Eine Ausnahme war natürlich der “Canto al Programa” (eine Sammlung von “Agitprop”-Liedern über die Vorzüge der so­zialistischen Regierung). An­sonsten legten wir schon von jeher Wert auf das Poetische in unseren Lie­dern. Politische Aus­sagen haben auch ihren Platz, aber für einen Wahl­kampf würden wir in­zwischen keine Lieder schreiben – dazu wären sie uns viel zu kurzlebig.
Ich glaube, daß unser altes Kampflied aus der Allende-Zeit “El pueblo unido” in sei­ner Aussage weiterhin gültig bleibt. Da wir jedoch in keinster Weise auf einer Nos­tal­gie­welle reiten wollen, sin­gen wir es fast nur noch im Ausland…

Hat sich das neoliberale Modell aus eu­rer Sicht auch auf die Musik-Szene in Chile ausgewirkt?
Ich bin nicht der Ansicht, daß Konkurrenz an und für sich schlecht ist – so­lange es sich um die Gunst des Publikums dreht. Heute gibt es eine harte öko­nomische Konkurrenz zwi­schen den Gruppen. Im Ge­gensatz zu den Allende-Jahren, als wir “Inti-Illimani” gründeten, gibt es heute natürlich kaum noch eine öffentliche – staat­liche – Unter­stüt­zung für eine Ent­wicklung von Musik. Besonders die jun­gen Musiker haben es schwer, wenn sie sich nicht völlig den Be­ding­ungen des Marktes anpassen wollen. Die Authenti­zität geht dabei verloren – aber das ist heute freilich überall so. Vielleicht müßte man als Musiker versuchen, wieder einen engeren, direkteren Kon­takt zu ihrem Pu­blikum her­zustellen. Wenn die Musi­ker sich gegen die Kommerzialisierung der Musik-Szene wehren wollen, müssen sie ihre gesell­schaftliche Funktion wie­der wahrnehmen.

Was ist in der Zeit des Exils mit Eurer Musik geschehen?
Wenn man unsere erste und unsere letzte Produktion gegenüberstellte, könnte man einen extremen Bruch feststellen; bezieht man aber all das ein, was in den 20 Jahren dazwischen passiert ist, dann erkennt man durchaus einen lang­samen, kon­ti­nuierlichen Wan­del, eine logische Ent­wicklung. Das Exil hat uns natürlich enorm be­einflußt, durch Musik­stile, die wir in Europa kennenlernten und vorher kaum gekannt hatten – zum Beispiel die mediterrane Musik oder die des Balkans. Auf irgendeine Art und Weise, und sei es unbewußt, haben alle diese Stile ihre Spuren bei uns hinterlassen; in Chile hät­ten wir uns mit Sicherheit anders entwik­kelt.
Was unsere Texte betrifft, so hat sich manches ge­ändert, aber vieles ist immer gleich geblieben: Beispielsweise haben wir von Anfang an auch an­spruchsvolle Texte ver­wendet, Texte von Dichtern wie Patricio Manns, an­der­erseits aber greifen wir Volkslieder und poesía popular auf oder vertonen sie neu. Diese sind zwar auch von “philologischem” Interesse, wichtiger ist aber die gewisse Naivität, die Ursprünglichkeit, die sie auszeichnet.

Auf Eurem letzten Album finden sich neben instrumentalen Stücken einige bekannte latein­amerikanische “Schla­ger” – wie der vals peruano “Fina Estampa” -, aber nur wenige neue Texte. Seid Ihr vorsichtiger ge­worden?
Na ja, ich weiß nicht. Viel­leicht könnte man das als vorsichtig bezeichnen. Ängst­lichkeit ist es jedenfalls nicht. Was die “Schlager” angeht: am Anfang sahen viele es als eine Art Provokation, daß wir diese “Musik zweiter Klasse” spielten. Tat­säch­lich kennt aber diese Lieder wirklich jeder in Lateinamerika und sie schaffen eine Identität, die man nicht unter­schätzen sollte; in den traurigsten und emo­tio­nal­sten Momenten des Exils haben alle diese Lieder gesungen und nicht etwa das “Venceremos” oder “El pueblo unido”…

Tourneedaten:
Inti-Illimani:
24.05. Amsterdam * 28.05. Berlin, 20 Uhr, Passionskirche am Marheinekeplatz * 01.06. Münster, 20 Uhr, Uni, Hörsaal 1 * 02.06. Trier * 03.06. Halle, Open-Air, tagsüber. (Genaueres bei D. Ott, 0761-31690) * 04.06. Greifswald, Open-Air (siehe Halle).

Quilapayún:
30.04. Leipzig, 14.30 Uhr, Sachsenplatz * 01.05. Erfurt, 11.30 Uhr (Ort erfragen bei D. Ott, 0761-31690) * 07.06. Frankfurt a.M., 16 Uhr, Opernplatz * 09.06. Berlin, 17 Uhr, Lustgarten.

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