Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz verloren hat. Heute konkurriert es mit Musik und Fernsehbildern – oder wird sogar gänzlich ersetzt.
Der Schwarze Zeitabschnitt
Immanuel Wallerstein behauptete kürzlich, der “Schwarze Zeitabschnitt” habe begonnen, “der symbolisch betrachtet bereits 1989 begann und mindestens 20 bis 25 Jahre dauern wird.” In unserer Zeit gebe es keinen gemeinsamen sozialen Diskurs mehr, so daß in naher Zukunft “die Menschen blind handeln werden.” Wallerstein ist gewiß nicht der Einzige, der meint, die Gegenwart sei verwirrend und die Zukunft unvorhersehbar. In Lateinamerika tragen Jugendliche aus Randgruppen T-Shirts mit dem Aufdruck “sin futuro”. Diesen Slogan könnten sich auch die Intellektuellen zu eigen machen, von denen viele immer noch dem Ende der Utopie nachtrauern. Wenn die Unsicherheit in dieser Region besonders tief verwurzelt ist, dann vielleicht deshalb, weil Lateinamerika von der Kolonialzeit an ein ausgewählter Ort für die Verwirklichung utopischer Projekte war, so wie die Gründung von Vera Paz durch die Dominikaner im 16. Jahrhundert, die tolstoischen Zurück-aufs-Land-Utopien jener, die die europäische Industrialisierung Anfang dieses Jahrhunderts ablehnten sowie die politischen Utopien der Guerillabewegungen in den letzten Jahren. Die utopische Zukunftsvision ist jedoch verschwunden. Wenn es überhaupt eine Vorstellung von der Zukunft gibt, dann gleicht sie einer Stadt in Trümmern so wie in dem Roman “Maytas Gechichte” des peruanischen Schriftstellers Mario Vargas Llosa, oder bestenfalls der gemäßigten sozialdemokratischen Form der “Utopía Desarmada” des mexikanischen Politikwissenschaftlers Jorge Castañeda.
Das Projekt Kuba
Die utopische Vision wurde von einer literarisch gebildeten Intelligenz aufrechterhalten, deren Medium die Schrift ist. Diese Intellektuellen formten die Identität von Nationen. Sie waren es, die als kritisches Bewußtsein der Gesellschaft agierten, als Stimme der Unterdrückten, als Lehrer der künftigen Generationen. Sie standen nicht nur in hohem Ansehen, sondern hatten auch von sich selbst eine hohe Meinung. Kubas Unabhängigkeitsheld José Martí gilt noch immer als “der Apostel”. Der Mexikaner José Vasconcelos verglich sich selbst mit Moses, und für den nicaraguanischen Dichter Rubén Darío waren Dichter die “Bollwerke Gottes”. Dieses Ansehen muß im Zusammenhang von Gesellschaften mit einer geringen Lesefähigkeit verstanden werden. Die Intellektuellen traten nicht nur als Hauptakteure auf der öffentlichen Bühne hervor, sondern auch – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung- als Vermittler für die unteren Klassen und Anwälte sozialer Veränderung.
Die kubanische Revolution war sowohl ein Ereignis von kultureller als auch politischer Bedeutung für die lateinamerikanische Intelligenz. Carlos Fuentes, Gabriel García Márquez, Julio Cortázar und Mario Vargas Llosa gehörten zu ihren ersten Anhängern. Länger als ein Jahrzehnt hatte Kuba die politische Kultur in der Hemisphäre mitgestaltet. In den späten sechziger Jahren wurde die Definition von revolutionärem Schreiben immer enger gefaßt. Die Homosexuellenverfolgung in Kuba sowie die Maßregelung und spätere Gefangenschaft des Dichters Heberto Padilla Anfang der 70er Jahre spalteten die Autoren in jene, die wie García Márquez weiterhin die Revolution unterstützten, und jene, die wie Vargas Llosa zu deren Kritikern wurden.
Die herrschende Unsicherheit
Aber die Desillusionierung bezüglich des Sozialismus, die Wahlniederlage der Sandinisten und der Zusammenbruch des Kommunismus erklären die herrschende Unsicherheit nicht vollständig. Die Werke der Gegenwartsautoren in Süd- und Zentralamerika spiegeln auch die traumatischen Nachwirkungen repressiver Militärregierungen und Bürgerkriege, gefolgt von einer neuen Ära der Modernisierung unter der Ägide des Neoliberalismus wider, die extreme Armut und schnelle technologische Entwicklung vermischt hat. Diese Modernisierung macht sich besonders durch dramatische Veränderungen der Stadt bemerkbar. Die sonst so vertrauten Stadtlandschaften mit ihren Kneipen, zentral gelegenen Theatern und öffentlichen Plätzen haben sich in einen urbanen Alptraum verwandelt. Kulturelle Orte wurden praktisch vernichtet. Zuhause Videos anzusehen wird als sicherer und praktischer empfunden als abends in den gefährlichen Stadtzentren auszugehen.
Überall im heutigen Lateinamerika verspürt man die schwindende Bedeutung der Literatur und ihre Verdrängung aus den öffentlichen Diskursen. Diese Verdrängung wird von der wachsenden Privatisierung der Kultur noch verschärft. Zunehmend werden kulturelle Institutionen wie Galerien, Musikunternehmen und Fernsehkanäle von Privatunternehmern geführt. Sogar die nationalen Universitäten, traditionell Zentren politischer Aktivitäten, konkurrieren heute mit unzähligen privaten Universitäten, die in der Mehrzahl eher auf Wirtschaft denn auf Kultur ausgerichtet sind. In Mexiko, wo die Kultur immer unter starker staatlicher Schirmherrschaft stand, ist der Fernsehmagnat Emilio Azcárraga, der Telenovelas in so entfernten Ländern wie Rußland und China vertreibt, heute zu einem der führenden Akteure der Kunstwelt geworden.
Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine neue Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz verloren hat. Heute konkurriert es mit der visuellen und oralen Kultur oder wird sogar gänzlich abgelöst. Gleichzeitig hat die industrielle Herstellung volkstümlicher Kunst – wie Kunsthandwerk und regionale Musik – eingesetzt. Hinzu kommt die wachsende Massenkulturindustrie, vor allem die des Fernsehens. Der argentinische Kulturkritiker Nestor García Canclini bezeichnet die Neuordnung des kulturellen Terrains als “Rekonversion”. Im Zeitalter von High-tech erfährt Kultur einen Bedeutungswandel. Ein hohes Niveau an Lesefähigkeit ist nicht länger unbedingte Voraussetzung für Modernität. Nicht das gedruckte Wort, sondern Musik und Fernsehbilder werden heute erforscht, wenn es um lateinamerikanische Identität geht. Sie sind zum Inbegriff der Modernität geworden.
Die Moderne ist nicht kreativ
Die Kritik der mexikanischen Literatin Elena Poniatowska, die in der kürzlich erschienenen Ausgabe des Magazins Nexos den Verlust der goldenen Jahre der Volkskunst beklagte, hört sich in diesem Zusammenhang anachronistisch an. “Heute produzieren sie in Unmengen San Martín de Porras, die alle nach demselben Muster geschaffen sind”, schreibt sie. “Die Jesuskinder, die von den Gemeinden eingekleidet werden, die kleinen Babies, das heilige Kind von Atocha: sie alle hatten ihre eigene Persönlichkeit. Heute tragen sie den gleichen Hut, die gleichen Sandalen und haben die gleichen Kürbisflaschen und Körbe. Populäre religiöse Kunst ist übel. Modernität ist nicht kreativ.”
Obwohl diese Furcht vor der Homogenisierung und Massenherstellung seit dem neunzehnten Jahrhundert ein Leitmotiv der Schriftsteller war, sagen uns heute die postmodernen Kulturkritiker, wir sollten diese Authentizität vergessen. Sie behaupten, daß Fernsehen, Massenmarketing und neue Technologien die Kultur demokratisieren, die Grenzen zwischen “oben” und “unten” abbauen, und Hybridkreuzungen (wie zum Beispiel Salsa) möglich machen, was zur Bereicherung der lateinamerikanischen Kultur beiträgt. Ihrer Meinung nach war die lateinamerikanische Kultur schon immer heterogen, hat sich immer aller Repertoires bedient und kann deshalb für sich beanspruchen, postmodern avant-la-lettre zu sein. Gegen die Position vom Sterben der lokalen Kulturen setzt García Canclini das Argument, der Markt rege zu Neuerungen in der Kunstgestaltung an und ermögliche es der Kultur, ein neues Publikum zu erreichen. Der Markt zwinge die Menschen, eine neue politische Symbolik und eine neue Form der sozialen Aktion zu erfinden. Als Beispiel für das letztere verweist er auf den maskierten Superbarrio aus Mexiko-Stadt, dessen Kostüm sowohl an Supermann als auch an das kitschige Aussehen der Ringer erinnert und Fürsprecher der marginalisierten Bevölkerungsschichten ist. Eines der wichtigsten Merkmale des Aufstands in Chiapas war die Art und Weise, wie die Rebellen sich der modernen Technologie, besonders e-mail, Fax und Video bedient haben, um ihre Forderungen zu übermitteln.
Kulturelles Rückspiel Süd-Nord
Selbst wenn Technologien und Informationen vorwiegend von Nord nach Süd fließen, verweisen viele Kritiker darauf, daß bestimmte Merkmale postmoderner Kultur – wie Persiflage, Zitat und Parodie – schon immer charakteristisch für lateinamerikanische Kultur gewesen seien. Was früher einmal als “Kulturimperialismus” galt, in dem Lateinamerika der passive Abnehmer von Hollywood- und Mickey-Maus-Filmen war, wird nun als kulturelles Rückspiel betrachtet, bei dem importierte Technologien und Moden benutzt werden, um Neues zu schaffen. Die Modernisierung des 19. Jahrhunderts, die eine rassisch heterogene Bevölkerung in die großen Städte zog, hat nicht nur die Erneuerung in der Kunst stimuliert, sondern ließ auch einen Stil entstehen, der heute gern als “Latin” bezeichnet wird: eine Mischung aus afrikanischen, europäischen und indigenen Einflüssen. Die etablierte Kultur hat sich später Tango, Bolero und Samba, die ihre Ursprünge in den ärmeren Stadtvierteln haben, als die Verkörperung des “Lateinamerikanischen” zu eigen gemacht. Romane wie “Der schönste Tango der Welt” des Argentiniers Manuel Puig und “La importancia de llamarse Daniel Santos” (Wie wichtig es ist, Daniel Santos zu heißen) des puertoricanischen Autors Luis Rafael Sánchez, die Essays von Carlos Monsivais über Agustín Lara in “Lost Love” und Filme wie “Danzón” von der Mexikanerin Marla Novaro oder der des Argentiniers Fernando Solanas “Tangos: Das Exil Gardels” erkunden die Wege, wie populäre Lyrik, Tanz und Rhythmus eine gemeinsame regionale Sprache bilden, die soziale Gruppen und individuelle Verhältnisse miteinander verbindet.
Rockmusik und kultureller Wandel
Rockmusik ist ein hervorstechendes Beispiel für den kulturellen Wandel. Trotzdem sie vom Zentrum der Macht ausging und Teil einer internationalen Musikindustrie ist, wurde Rock zur Vorhut des Widerstandes gegen strenge Moral und Familienhierarchien. Die südamerikanischen Militärregierungen machten die Rockmusik zum Mittel einer Widerstandsbewegung, indem sie Musikmagazine verboten und junge Leute, die die falsche Kleidung trugen, verhaften ließen. In ganz Lateinamerika greift die Rockmusik den Autoritarismus der älteren Generation, aber auch die idealistische Nostalgie der Linken an. Wie im Fall von Samba oder Tango kann man Rockmusik in unterschiedlicher Weise verstehen. Der enge Begriff des “rock nacional”, der in Argentinien benutzt wird, symbolisiert den Versuch, die Musik von ihren “satanischen” Ursprüngen in den USA zu säubern. Gerade während des Malvinen/Falkland-Kriegs organisierte die Militärregierung ein Rockkonzert der Nationalen Solidarität, um so um die Unterstützung der Jugend zu werben. Ebenso machte es Ex-Präsident Fernando Collor de Mello. Er ließ in Brasilien ein großes Rockkonzert veranstalten, um seinen neoliberalen Sieg zu feiern. Auf der anderen Seite machen sich die marginalisierten Gruppen der lateinamerikanischen Gesellschaften Punk und Funk zu eigen.
Merengue: Rhythmus für die Füße, Botschaft für den Kopf
Popularität und Populismus hängen in Lateinamerika eng zusammen. Als der aus der dominikanischen Republik stammende Musiker Juan Luis Guerra in Lima ein Konzert gab, wurde es mit einem Fußballspiel oder dem Besuch des Papstes verglichen. Wie der Salsa-Sänger Rubén Blades nutzte Guerra seine Popularität, um auf Armut und andere soziale Mißstände hinzuweisen. Die Titel seiner Lieder sprechen für sich: “El costo de la vida” (Die Lebenshaltungskosten), “Si saliera petróleo” (Wenn Erdöl sprudeln würde) und “Ojalá que llueva café” (Hoffentlich regnet es Kaffee). Er beschreibt Merengue als einen Rhythmus für die Füße und eine Botschaft für den Kopf und meint, daß seine Texte von den Leiden des Kontinents handeln. Bezeichnenderweise kandidierte nicht nur ein Schriftsteller, wie der neoliberale Vargas Llosa für die Präsidentschaft, sondern auch der progressive Musiker Blades.
Die gegenwärtige Verkünderin des “Lateinamerikanischen” ist die kubanisch-amerikanische Salsa-Sängerin Celia Cruz und nicht Rodó oder Bolívar. In “Pasaporte Latinoamericano” singt sie von “einem Volk Lateinamerikas”, das in der gemeinsamen Sprache des Sambas, Guarachas und der Salsa kommuniziert. Es sind Musiker wie Rubén Blades, der Brasilianer Caetano Veloso und Juan Luis Guerra, die Themen wie soziale Gerechtigkeit aufnehmen und – im Falle von Veloso – das Verhältnis zwischen Konsumkultur und “Authentizität” untersuchen.
An der Musik wird deutlich, daß zwischen Tradition und Moderne, einheimischer Reinheit und aufgenommener Importe nicht mehr klar unterschieden werden kann. Musik formt die Konsumkultur, sie konzentriert Wünsche und Erwartungen in unberechenbarer Weise – einer Weise, die die literarische Intelligenz nicht unbedingt vermitteln kann.
Der mächtige Rivale des geschriebenen Wortes
Der andere mächtige Rivale des gedruckten Wortes ist das Fernsehen, dessen Einfluß auf das Publikum viel größer ist als der eines Buches oder einer Zeitschrift. Der mäßige Erfolg als Gastgeber von Fernsehshows von vielen bekannten Schriftstellern, wie Vargas Llosa, Octavio Paz und José Arreola, ist also kaum verwunderlich. In Chile macht der Roman- und Stückeschreiber Antonio Skármeta Literatur durch das Fernsehen populär. Durch zahlreiche Fernsehauftritte wurde Carlos Fuentes bis in die Vereinigten Staaten hinein zu einem der Sprecher für Lateinamerika.
García Márquez ist sich der Tatsache bewußt, daß die durchschnittliche Telenovela ein viel größeres Publikum erreicht als die gesamte Leserschaft all seiner Romane. Márquez: “An einem einzigen Abend kann eine Episode allein in Kolumbien 10 bis 15 Million Menschen erreichen. Ich habe noch immer nicht 10 bis 15 Millionen Exemplare meiner Bücher verkauft. Werdas Publikum erreichen will, findet Telenovelas selbstverständlich attraktiv. Dieses Medium ist ein Mittel zur massenhaften Verbreitung der eigenen Ideen und muß daher genutzt werden. In einer Telenovela verfüge ich über dieselben Ausdrucksmöglichkeiten wie in der Literatur und im Film. Da bin ich absolut sicher.” Brasilianische Produzenten übernehmen häufig Romane für das Fernsehen. Und das Melodrama als Standbein des populären Theaters ist jetzt wiederentdeckt worden, wobei ein Typ von Telenovelas produziert wird, der die US-Produkte auf dem Weltmarkt übertrifft.
Während das gedruckte Wort früher Ausdruck der Modernität und der Bildung eines nationalen Bewußtseins war, ist das Fernsehen der Wegweiser heutiger globaler Kultur geworden. Wie der argentinische Politikwissenschaftler Oscar Landi bemerkt, hat das Fernsehen eine zweideutige Wirkung auf die Kultur. Es “kolonisiert und zerstört unsere vorherige Lebensweise”, aber es “setzt uns auch in Verbindung mit der Welt und bringt uns dazu, Dinge zu verstehen, die wir ohne Fernsehen nie erfahren hätten.” Der frühere Anspruch der Literatur, Einblicke in die tiefen Untertöne der Geschichte und der Natur der Sprache zu gewähren, ist heutzutage zur Domäne des Fernsehens geworden.
Aber der Gebrauch des Fernsehens ist in der jüngsten Vergangenheit zu eng mit autoritären oder Militärregierungen verknüpft gewesen. Es war in einigen Ländern in ideologischer Hinsicht zu stark mit dem Staat verbunden, als daß die literarische Intelligenz in Bezug auf seine pädagogischen Möglichkeiten optimistisch sein könnte.
Die argentinische Kritikerin Beatriz Sarlo führt aus, daß der öffentliche Raum, die einstige Domäne der Intelligenz, jetzt von den Massenmedien beansprucht wird. Die Parameter einer sozialen Debatte in einer massenmedialen Gesellschaft werden eher von impliziten als von expliziten Regeln bestimmt.
Marktkonformes Schreiben
Die Literatur ist außerdem in zunehmenden Maße selbst massenmedialisiert. Mit der Globalisierung der Buchindustrie, mit Übersetzungen und Bestsellern sind die Anforderungen an Verallgemeinerbarkeit und Übersetzbarkeit gestiegen. Der Markt verhält sich nicht tolerant gegenüber den literarischen Werken, die zu experimentell oder “nicht übersetzbar” sind. Manche Schriftsteller bemühen sich jetzt um Kommerzialisierung, anstatt sie abzulehnen. Beispielsweise ist es offensichtlich, daß “Bittersüße Schokolade” der mexikanischen Schriftstellerin Laura Esquivel geschrieben wurde, um einen breiten Markt zu erreichen. Auch der älteren Schriftsteller-Generation ist die Marktfähigkeit nicht gleichgültig. In diesem Sinne ist es interessant, Vargas Llosas im Plauderton geschriebenen “El Pez en el Agua” (Der Fisch im Wasser, 1993) mit seinem tiefschichtigen politischen Roman “Gespräch in der Kathedrale” (1969) oder den klaren Erzählstil von García Márquez in “Der General in seinem Labyrinth” (1989) mit dem barocken und verschlungenen “Herbst des Patriarchen” (1975) zu vergleichen. Experimentelles Schreiben, das früher von kleinen Verlagsunternehmen wie Joaquín Mortiz und Sudamericana gefördert wurde, ist jetzt auf der Strecke geblieben.
Rütteln an Tabus
Doch trotzdem floriert die Literatur – zumindest oberflächlich betrachtet. Es gibt eine Fülle neuer Schriftsteller, junger Dichter und Künstler, die in jedem denkbaren Stil, über jedes denkbare Thema schreiben. Literatur wird noch immer die Aufgabe zugewiesen, diejenigen zu vertreten, die früher schon von der Staatsbürgerschaft der “ciudad letrada” (Stadt der Schriftgelehrten) ausgeschlossen waren – wie Angel Rama sie nannte: Indígenas, Schwarze, Mulatten, Frauen und Homosexuelle. Die Literatur stellt sich noch immer gegen die offizielle Geschichtsschreibung, untersucht die Bedeutung des Exils und der Erinnerung und rüttelt an den Tabus, die der weiblichen Sexualität auferlegt wurden.
Zu einer Zeit, da die Grenzen zwischen den Gattungen und die Unterschiede zwischen oben und unten, Fiktion und Realität verschwimmen, ist es schwierig, die Besonderheit der Literatur in ihrer oppositionellen Bedeutung zu verteidigen. Octavio Paz hat vor kurzem behauptet, daß “die Lyrik eine Kunst an den Rändern der Gesellschaft geworden ist. Sie ist die andere Stimme. Sie lebt in den Katakomben, aber sie wird nicht verschwinden.” Nach Paz erlaubt dieser marginalisierte Status der “klandestinen Poesie” als “Kritik an der Konsumgesellschaft” zu handeln. Es ist schon eine Ironie, wenn Paz, dessen Achtung vor der abstrakten Freiheit ihn oft als Freiheitlich-Konservativen erscheinen ließ, sich nun in einer Allianz mit einigen jungen Kritikern in Opposition gegen die Kulturindustrie und den Markt wiederfindet.
Die Versuchung der Konsumgesellschaft
Was der Literatur in der Vergangenheit zu ihrem besonderen Anspruch – der Konsumgesellschaft zu widerstehen – verholfen hat, hatte mit der Natur des Lesens zu tun. Avantgardistische und modernistische Literatur lenkten die Aufmerksamkeit auf die Sprache, erforderten langsames und sorgsames Lesen und verlangten das Entschlüsseln von Kodes sowie das Lesen zwischen den Zeilen. Es galt als Autonomie des literarischen Textes, wenn darin schnöde Populärität und Allgemeinverständlichkeit abgelehnt wurden. Durch diese Autonomie sollte die Opposition zu sozialen Konventionen deutlich werden. Noch in den 60er Jahren konnte getrost behauptet werden, Literatur sei revolutionär und der Schriftsteller führe Guerillakämpfe mit seinem Kugelschreiber.
Was für heutige Schriftsteller problematisch ist, ist nicht nur die Verlockung der Popularität, sondern die schnelle Vereinnahmung und Verwandlung des früher schockierenden oder innovativen Schreibens in Trend oder Stil. “Magischer Realismus” war einst ein Wegweiser für lateinamerikanische Originalität und ist heute nur noch ein Markenname für Exotik. Es ist kein Wunder, daß für linke Kritiker die politischen und ethischen Funktionen der Literatur schon lange von der Zeugnisliteratur erfüllt wird.
Vielleicht das größte Problem für die Kritiker ist das der Wertung. In der heutigen Kultur scheint kritisches Urteilsvermögen im Hinblick auf gute und schlechte Kunst verschwunden zu sein. In einer Diskussion über Kunst, die auch auf Literatur bezogen werden kann, kritisiert Beatriz Sarlo die Verbreitung des “kulturellen Populismus” der Sozialkritik, der jede Kunst auf ihre Funktion reduziere. “In Anbetracht der Relativierung der Werte und des Fehlens anderer Unterscheidungskriterien wird der Markt als der ideale Raum für Pluralismus betrachtet.” Anstatt neutral zu bleiben, könnte mit dem Markt argumentiert werden, der Publikum und Künstler beeinflußt. Der Markt übt die absolute Macht aus, besonders über die künstlerischen Produkte, die mit der Kulturindustrie verbunden sind, und verdrängt so die hierarchische Autorität der Fachleute traditioneller Prägung. Hierarchien stürzen ist eine Sache, aber kritisches Urteilsvermögen zurückzuweisen, ist Sarlos Meinung nach eben schlimmer, weil der Verzicht, über Werte zu diskutieren, zur passiven Zusammenarbeit mit neoliberalen Demokratiemodellen führt und die Kunst ihres Widerstandcharakters beraubt.
Die Wiederaufwertung des Ästhetischen
Es ist gewiß nicht zufällig, daß die Forderung nach Wiederaufwertung des Ästhetischen gerade im Zusammenhang mit Redemokratisierung und angesichts wachsender sozialer Unterschiede erhoben wird. Massenkultur und Neoliberalismus reduzieren das Widerstandspotential der Ästhetik. Andererseits kann Sarlos Verteidigung der ästhetischen Werte nicht so einfach aus der elitären Kultur enträtselt werden, wie sie dies gehofft hatte.
Für literarische Praktiker ist nicht das kritische Urteilsvermögen das entscheidende Problem, sondern die Schwierigkeit, den Versuchungen der Konsumwelt zu trotzen. Diamela Eltit zum Beispiel, die mit dem Schreiben während der Pinochet-Diktatur begann, empfindet es als ihre Aufgabe, als Schriftstellerin “etwas ins Schreiben zu stecken, was sich Waren und Zeichen widersetzt.”
Vom Apostel zum Nomaden
Dies könnte sich anhören wie die Rückkehr zu avantgardistischen Programmen, würde Eltit in ihren Romanen nicht die totale Wiedergestaltung von Geschlecht und Sexualität auf sich nehmen – etwas, das die Avantgarde als selbstverständlich betrachtet hatte. Eltit nutzt ein traditionelles Genre – in diesem Fall den Roman – obwohl sie seine Syntax völlig verändert. Interessanterweise ist dies eine literarische Gattung, die die Stimmung der Zeit sehr gut gestaltet, ohne sich dem Zeitgeist zu unterwerfen: “eine Chronik”, die durch das liberalistische Netz hindurchschlüpft. Auch das Essay hat sich verändert: es befreit sich von pedantischem Anliegen und umfaßt das Phantastische.
Die Beispiele ähneln sich, indem sie sich weigern, die Grenzen der Gattung oder den klaren Unterschied zwischen Fiktion und Tatsachen zu respektieren. Gleichzeitig betonen sie die Ausdrucksfähigkeit der Sprache als die zentrale Metapher für Künstler und für das Alltagsleben allgemein.
Dies sind natürlich willkürlich gewählte Beispiele, aber sie zeigen doch die grundlegende Verschiebung vom Schriftsteller als Apostel zum Schriftsteller als Teil nomadische Randgruppen – was wiederum die Ära der internationale Bennetton-Epoche und den E-mail-Universalismus kennzeichnet. Die Schlußfolgerung ist nicht so widersprüchlich wie sie erscheinen mag: In der Epoche globaler Informationsflüsse und Netzwerke sind die begrenzten lokalen Zusammenhänge zu den Orten mit der größten Intensität geworden.
Die Dinge stehen schlecht
Als der junge Kommunist Carlos Cerda nach dem Putsch im September 1973 wie Tausende seiner Landsleute den Weg ins Ostberliner Exil antritt, beschränkt sich seine literarische Produktion auf einschlägig Weltanschauliches. Der Doktor der Philosophie an der Universidad de Chile, der unter anderem auch Unterricht an der Theaterschule genommen hat, kann auf die Veröffentlichung eines Essays mit dem Titel “El leninismo y la victoria popular” (Der Leninismus und der Sieg des Volkes) zurückblicken.
In der DDR weitet Cerda, der dort den Doktortitel für Literaturwissenschaft erwirbt und zuletzt an der Humboldt-Universität über lateinamerikanische Literatur doziert, sein schriftstellerisches Schaffen aus. Er schreibt Erzählungen, Hörspiele, Romane. Im Gegensatz zu vielen anderen ChilenInnen hat er es relativ leicht, auch das Leben westlich der Mauer kennenzulernen. Im Dezember 1984 kehrt er nach Chile zurück.
In “Morir en Berlín” zeichnet Cerda den Alltag und die spezifischen Konflikte der ExilchilenInnen in kalten Farben und ohne Mitleid. Fremd geblieben in einer grauen und bürokratischen Welt mit schwer nachvollziehbaren Spielregeln, im Ostberliner Winter, überschneiden sich und kollidieren die Schicksale mehrerer Protagonisten(paare):
Zunächst ist da der Chilene Mario, der für die Beziehung mit der Tochter eines Ministers seine Frau Lorena verlassen hat. Cerda stellt literarischen Bezug zum Motiv der “Medea” aus der griechischen Tragödie her: Der Verbannte, der “die Tochter des Königs” zur Frau nimmt, steigt auf, fällt heraus aus dem Chor der Minderprivilegierten, der Bewohner des chilenischen “Ghettos”, für die er zum Fremden wird.
Lorena, die Verlassene, begehrt gegen das enge Korsett staatlicher Bevormundung auf und beantragt gegen den erbitterten Protest der mit Partei und Bürokratie kooperierenden chilenischen Oficina die Ausreise nach Mexiko. Sie erfährt vom unerwarteten Besuch ihrer Eltern aus Chile. In einer Szene vollkommener Trostlosigkeit zerbrechen die “frommen Lügen” der Exilantin, die zur Beruhigung Briefe voller gefälliger Schilderungen des Lebens in Deutschland nach Hause geschickt hat, aber auch die der Eltern, die in Wirklichkeit im Zuge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs den Glauben an das Pinochet-Regime sowie ihre ganze Habe verloren haben und nun Zuflucht bei der Tochter suchen.
Schließlich der ehemalige Senator, ein alt gewordener orthodoxer Kommunist, des Deutschen nicht mächtig, der aus einer unreflektierten Dankbarkeit dem sozialistischen Staat und “Gastgeber” gegenüber seine Landsleute zu systemkonformem Verhalten anzuleiten sucht. Am Tag, an dem er von seiner tödlichen Krankheit erfährt, macht er die Zufallsbekannschaft einer jungen deutschen Tänzerin. In dieser vielleicht ersten echten Begegnung mit einer Bürgerin des von ihm verehrten Staates bekommt er mit einem Mal das ganze Ausmaß seiner Isolation zu spüren. Gleichzeitig aber verschließt er verzweifelt die Augen vor den Schattenseiten eines Sozialismus, der die junge Frau als Vorzeigeobjekt seiner kulturellen “Leistungsfähigkeit” mißbraucht.
Das Buch ist eine – nicht polemische – Abrechnung mit dem System der DDR, das für viele zur Rettung nach der Verfolgung durch die Militärs geworden war, gleichzeitig aber auch eine virtuose und beklemmende Studie über menschliche Abgründe, über das Festklammern an brüchig gewordenen Ideologien, über Schuld, Lüge und Depression. Dabei bewahrt Cerda – trotz des kalten, analytischen Blicks – eine solidarisch wirkende Anteilnahme am Scheitern seiner Figuren.
Interview mit Carlos Cerda
Inwieweit spiegeln das Leben und die Konflikte der Personen in Ihrem Buch “Morir en Berlín” Ihre persönlichen Erfahrungen in der DDR wider?
Jeder Roman ist zu einem guten Teil autobiographisch – und jedes Zeugnis einer persönlichen Erfahrung enthält einen großen Anteil an fiktiven und poetischen Elementen. “Morir en Berlín” ist ein Roman, der mein Leben, aber auch das vieler anderer Chilenen in der DDR zum Thema macht. Darüber hinaus ist es aber auch ein Buch über den Zusammenstoß zwischen den Idealen, den Utopien, die uns hierher ins Exil gebracht hatten, und der für uns außerordentlich spannungsreichen, konfliktgeladenen und bis zu einem gewissen Grad entfremdenden Wirklichkeit dieses Staates. Dessen Fehler sind zu Genüge bekannt, und ich halte es schlichtweg für eine Dummheit, aus einer falsch verstandenen Loyalität heraus diese Defizite rechtfertigen zu wollen. Wenn nun Chilenen, aber auch Deutsche, die in der DDR gelebt haben, mein Buch mit dem Hinweis auf heute geschehende, von einem anderen System verübte Ungerechtigkeiten kritisieren, dann hat das eine mit dem anderen einfach gar nichts zu tun. Ich habe Gespräche mit vielen Exil-Chilenen geführt, die nach dem Anschluß der DDR ihre Arbeit, aber auch die Anerkennung ihrer persönlichen Würde verloren haben. Das waren Willkürakte, die mit nichts zu rechtfertigen sind. Aber dieses Buch handelt von etwas ganz anderem, von der Realität in der DDR bis zum Jahre 1985, als ich hier lebte. Ich hätte übrigens nach 1989 die Gunst der Stunde nutzen und in Chile einen Roman über den Fall der Mauer veröffentlichen können – aus kommerzieller Sicht sicherlich ein größerer Erfolg. Aber das hätte ich unredlich gefunden: Ich kann nur über das berichten, was ich selbst erlebt habe.
In der Tat habe ich auf indirekte Weise von vielen Seiten Kritik an meinem Buch erhalten. Der Tenor dieser Kritik – meist von chilenischen Kommunisten, die mit mir hier im Exil gelebt haben, aber auch von solchen, die in der BRD lebten und gleichzeitig das System der DDR verteidigten – unterstellt mir eine Art Verrat. Verrat an den kommunistischen Idealen zu einem Zeitpunkt, da es angebracht wäre, diese mehr denn je zu verteidigen.
Ich habe früher nie einen Hehl aus meiner Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei gemacht. Ausgetreten bin ich 1983, ein Jahr vor meiner Rückkehr nach Chile. Seitdem habe ich keine Verbindung mehr zur Partei. Mein Austritt hatte zwei Gründe: Einerseits die absolute Unfähigkeit der Kommunisten, zu erkennen, daß das System der DDR sozialistischen Idealen einfach widersprach. Andererseits die verfehlte Strategie des bewaffneten Kampfes gegen die Diktatur in Chile: Er hat nicht zum Erfolg geführt, aber den Tod von hunderten hervorragenden Genossen bedeutet. Vor diesem Hintergrund meiner Trennung von der KP läßt sich mein Buch besser verstehen.
Hat sich in den 12 Jahren ihres Exils in der DDR ihr Urteil über diesen Staat zur Kritik hin gewandelt oder waren Ihnen die Widersprüche der realsozialistischen Wirklichkeit von Anfang an bewußt?
Für uns Chilenen, die wir aus einem Land der Dritten Welt – und darüberhinaus aus einer brutalen Diktatur – in die DDR kamen, war der erste Eindruck außerordentlich positiv. Nicht nur aufgrund der Geste umfassender Solidarität, die uns zuteil wurde. Uns beeindruckte zutiefst ein Staat, der so massiv ein kulturelles Leben förderte; uns faszinierte eine Gesellschaft, die sich als antirassistisch definierte. Die Ideale von Gleichheit und Menschlichkeit, die beschworen wurden, schienen unsere eigenen zu sein. Und das Lebensniveau war in unseren Augen – vielleicht nicht im Vergleich zur BRD – relativ hoch. Vor allem aber hatten wir das Gefühl, in einem Land zu sein, das nach vorn schaute und das – so kam es uns damals vor – gar nicht so viel Angst vor Kritik, vor Dissidenz hatte.
Der erste Schritt zu einer realistischeren Sichtweise war das Erlernen der deutschen Sprache. Wir begannen uns mit dem Arbeitskollegen, der Sekretärin, dem Taxifahrer zu unterhalten, mit dem Nachbarn, der zum selben Fußballspiel ging. Das waren teilweise sehr offene Gespräche. Sie fragten mich: “Warum sind Sie eigentlich hierher gekommen?” – “Weil es in meinem Land eine Diktatur gibt.” – “Aber wie konnten Sie denn dann hierher ausreisen?” – “Ich bin hier im Exil.” – “Aber kann denn ein Chilene, der in seinem Land lebt, nach Argentinien, nach Peru, nach Bolivien reisen?” – “Wenn ihm das seine ökonomische Situation erlaubt, natürlich.” – “Sehen Sie, ich kann nicht einmal meine Mutter in Bremen besuchen.” Solche Gespräche waren irgendwann ausschlaggebender als das, was uns der Hauswart oder die Lehrerin über Marxismus-Leninismus erzählten. In “Morir en Berlín” habe ich dies in eine Szene zu fassen versucht, in der zwei Chileninnen im “Linden-Korso” auf zwei junge Deutsche treffen, die in die Parteischule gehen. Da kommt es nicht nur zu einem billigen Flirt, sondern zu einer echten Annäherung, als einer der beiden sagt: “Die Dinge stehen schlecht bei euch und hier auch.”
Desillusionierung angesichts innenpolitischer Verhärtung
Uns Chilenen jedenfalls gingen spätestens zu dem Zeitpunkt die Augen auf, als sich die Lage in Polen zuspitzte und Jaruzelski an die Macht kam. Plötzlich wurde offenbar, daß die DDR zweierlei Maß anlegte: Was sie im Falle Chiles so scharf verurteilt hatte, lobte sie auf einmal in ihrem Nachbarland. Und die Ähnlichkeit der Vorgänge war erschreckend: das Parlament aufgelöst, die Gewerkschaft verboten, die im Ansatz kritische Presse zensiert – mit anderen Worten: eine Diktatur. Selbst der General Jaruzelski mit seiner dunklen Brille glich dem General Pinochet – auch wenn das eine zufällige Parallele ist.
Zuletzt begann sich ja das System der DDR unter dem Eindruck der Ereignisse in Polen, später in der Sowjetunion, immer mehr zu verhärten. In der Humboldt-Uni, wo ich arbeitete, wurden plötzlich renommierte und beliebte Dozenten, die nicht der SED angehörten, gegen Parteikader ausgetauscht. Es wurde an keinem Punkt mehr eine Öffnung zugelassen. Vor dem Hintergrund dieses Prozesses habe ich damals die DDR verlassen.
Als ich zurück in Chile war, war der gesellschaftliche Protest gegen die Diktatur in vollem Gange. Die regelmäßigen Demonstrationen auf den Straßen, die offene Ablehnung des Regimes hatten eine ziemlich breite Basis, bis diese zusammenschmolz – nicht zuletzt aufgrund der Option der KP für den bewaffneten Kampf gegen die Militärherrschaft. In diesem Zusammenhang stand auch das Attentat gegen Pinochet 1986, das eine enorme Repression, aber auch einen Stimmungsumschwung zugunsten der Rechten bewirkte. Der Schluß, den ich daraus ziehe, ist, daß die Kommunistische Partei hier und dort die falschen Wege gegangen ist. Daß ich dies in meinem Buch benenne, hat mir aus diesem Lager freilich schärfste Ablehnung beschert.
Hätten Sie dann nicht schon viel früher, noch in der DDR, offen Kritik an den von Ihnen empfundenen Mißständen üben sollen?
Im Rahmen meiner Möglichkeiten glaube ich, das getan zu haben. Beispielsweise habe ich Anfang der achtziger Jahre ein Hörspiel für den Rundfunk der DDR geschrieben. Die Geschichte hieß “Die Zwillinge von Calanda” und schilderte auf metaphorische, aber ziemlich offensichtliche Weise die Doppelmoral, die Schizophrenie von Menschen, die in einem totalitären System leben: Den Menschen von Calanda wächst eine Art siamesischer Zwilling aus dem eigenen Körper, der immer das sagt, was der andere gewohnt war zu verschweigen. Am Ende töten diese Menschen ihr verhaßtes, unerwünschtes alter ego. Als ich mit dem Entwurf zu den verantwortlichen Redakteuren kam, die sehr offen für kritische Töne waren, sagten sie: “Tja, das könnte ganz schön schwierig werden. Aber wenn man genügend lateinamerikanische Musik unterlegt…” Schließlich wurde es gesendet, und nicht ohne Erfolg. Für mich ist so etwas durchaus Kritik.
Wie wurde Ihr Buch in Chile aufgenommen? Beschränkt sich das Interesse auf den Personenkreis derer, die auch das Exil durchgemacht haben, oder gibt es eine breitere Aufmerksamkeit?
Das Buch erschien in erster Auflage im Sommer 1993. Inzwischen ist die vierte Auflage á 3000 Exemplare gedruckt worden, was für Chile einen enormen Erfolg darstellt. Die Kritik war bis auf Ausnahmen sehr positiv, selbst im Punto Final, einer Zeitschrift des linken MIR, wurde es gelobt. Im Mai diesen Jahres hat es den zweiten Preis beim Premio Pegaso gewonnen, einem lateinamerikanischen Literaturpreis, an dem über 400 Romane aus den Jahren 1990 bis 1993 teilnahmen.
Welche kulturelle, aber auch politische Rolle kann Literatur heute in Chile spielen? Welche Rolle sollte sie spielen?
Ich glaube, die Literatur – und die Kunst im allgemeinen – spielt immer eine positive Rolle, wenn es darum geht, ein von Vernunft, von Respekt gegenüber kontroversen Ansichten geprägtes Klima zu schaffen. Vor allen Dingen aber schärft sie das moralische Urteilsvermögen. Die Länder Lateinamerikas sind heutzutage im Begriff, wirtschaftlich wieder Fuß zu fassen, meine ich. Sie bieten ihre Produkte mit zunehmendem Erfolg auf dem Weltmarkt an und stehen davor, Rückstände aufzuholen, die sich in Jahrzehnten aufgebaut haben. Aber dieser Prozeß, der an und für sich positiv zu beurteilen ist, birgt die Gefahr, daß unser alltägliches Leben in zunehmendem Maße nur noch von den Charakteristika des Produktionsprozesses und des Konkurrenzdenkens geprägt wird. Unter dem ökonomischen Druck wird unser Lebensstil von Tag zu Tag entfremdeter, vom Prinzip der Konkurrenz diktiert. Die Fähigkeit zur Kritik, zum Urteilen, das Gefühl für unsere Identität als Lateinamerikaner gehen dabei verloren.
Bücher sind in unserem Kontinent – und zumal in Chile – ein knappes Gut: Für den größten Teil der Bevölkerung sind sie zu teuer, und Leihbüchereien gibt es praktisch überhaupt nicht. Freilich muß man in Betracht ziehen, daß es immer weitaus mehr Leser als Käufer von Büchern gibt. Pro verkaufter Ausgabe zirkulieren oft vier oder fünf kopierte Versionen eines Werkes. Aber ich finde sehr interessant, was Carlos Fuentes vorgeschlagen hat: Die lateinamerikanischen Regierungen sollten bei ihrer nächsten Verhandlung zum Abbau von Handelshemmnissen als ersten Tagesordnungspunkt die Frage der Literatur behandeln. Noch vor allen anderen Gütern – Kiwis, Orangen, Kaffee – vor irgendeinem Produkt unseres Bodens und unserer Arbeit sollten Bücher – als geistige Produkte der Völker unseres Kontinents – ohne einen Peso Abgaben oder Zölle die Grenzen passieren. Das hätte auch eine Verbilligung der Literatur zur Folge.
Vergangenheitsbewältigung der Diktatur
Die Hauptfigur in Ihrem Buch, ein Chilene im Ostberliner Exil, erklärt einer Deutschen in einer Metapher, daß es “viele Chilenen gibt, die in Weimar wohnen und von Buchenwald nichts wissen wollen”. Sie ziehen also Parallelen zwischen der deutschen und der chilenischen (jüngsten) Vergangenheit. Kann und muß die Literatur in Chile einen Beitrag zu einer Vergangenheitsbewäl-tigung leisten?
Auf jeden Fall. Das muß in der Kunst, in der Literatur geschehen, denn die Politik kann das in Chile nicht leisten, was ich durchaus nachvollziehen kann. In der literarischen Reflexion, aber auch im Theater und im Film können Rechnungen beglichen werden, können Konflikte ausgetragen werden, die auf dem Gebiet der Politik nur zu unheilvollen Konfrontationen führen würden. Ein Beispiel aus einem anderen Land: Die Konflikte, die der kubanische Film Fresa y Chocolate aufgreift, werden auf diese Weise bewußter und konkreter, als eine Behandlung des Themas auf politischer Ebene. Wenn wir also heute drängende ethische Fragen, die unser Land beschäftigen – die Toten, Verschwundenen, das Exil etc. – ins Bewußtsein rufen wollen, dann funktioniert das besser in der Einsamkeit des Lesens als in einer Auseinandersetzung zwischen Parteien. Die Romane von Heinrich Böll haben mehr zur Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit beigetragen als die meisten Diskussionen im Bundestag über dieses Thema. Die moralischen Konflikte einer Gesellschaft werden am tiefgründigsten durch ihre kulturellen Aktivitäten bewältigt.
Was wäre – nach Ihren Erfahrungen mit dem Leben in der DDR und vor dem Hintergrund des politischen Prozesses in Chile – Ihre Definition, heute links zu sein?
Eine zutiefst humanistische Antwort auf die heutigen Probleme zu geben. Auf die alten, wie Armut, Ungerechtigkeit, Rassismus, Diskriminierung, und auf die neuen: Umwelt, öffentliche Moral, Individualismus. Für die Linke, wie ich sie definiere, gibt es den unumstößlichen Wert des Menschen und das Verdienst, gegen jede Art von Diktatur gekämpft zu haben – und gegen die egoistischen Partialinteressen der Unternehmen. Diese Welt ist momentan eine Welt der Unternehmen. Um sie wieder zu einer Welt des Menschen zu machen, muß der Staat regulierend eingreifen, die Wirtschaft den Interessen der Menschen unterordnen.
In Chile, glaube ich, läßt die Demokratie selbst in ihrer jetzigen Form Platz für alle möglichen Ziele – auch für dieses. Ob im Jahr 2000, wenn eine neue Regierung gewählt wird, die Concertación (die Regierungskoalition in Chile, Anm. d. Red.) weitermacht wie bisher, oder ob sich die Macht nach links oder rechts verschiebt, ist vollkommen offen. Aber genau das führt zu einem größeren Verantwortungsbewußtsein bei denen, die heute Politik machen.
Gibt es irgendeinen Zusammenhang, ein verbindendes Element zwischen den Autoren der sogenannten “Nueva Narrativa Chilena”, der auch Sie zugerechnet werden?
Es gibt einen Zusammenhang, der über die Tatsache hinausreicht, daß wir mehr oder weniger der selben Generation angehören. Ich halte es für ein relativ neues kulturelles Phänomen in Chile, daß ausgerechnet chilenische Autoren zu den meistgelesenen gehören. Es ist ungeheuer bedeutend für ein Land wie das unsere, daß auf einmal die eigene Literaturproduktion im Mittelpunkt des Interesses steht. Wohlgemerkt: das soll zu keinem kulturellen Nationalismus führen. Aber früher gab es einfach kein Vertrauen in unsere eigene Literatur. Kein Wunder, denn wer seine Bücher während der Diktatur veröffentlichen konnte, mußte ja von vornherein das Plazet der Zensur erhalten haben. Genauso war es unter der Franco-Herrschaft in Spanien: Plötzlich gab es einen Nachfrageboom nach lateinamerikanischer Literatur, denn zensierte Kultur hat nun mal einen faden Beigeschmack.
Was die Nueva Narrativa Chilena angeht, so vereint sie AutorInnen mit teilweise sehr unterschiedlichen politischen Überzeugungen, mit sehr verschiedenen Stilen, und das ist gut so. Wir sind kein Fußballteam, wir suchen kein gemeinsames Programm, sondern wollen unabhängig voneinander dem Beruf des Schreibens nachgehen.
Zu guter letzt: Was machen Sie jetzt, und was sind Ihre Projekte?
Ich schreibe an einem neuen Roman und an einem Hörspiel. Darum dreht sich für mich momentan alles: weiterschreiben und weiterleben.
Und vom Schreiben leben?
Nie und nimmer! Das können die wenigsten, und in Chile schon gar nicht. Was mich betrifft, ich arbeite vormittags in einer Werbeagentur, die ich auch leite. Die Nachmittage gehören dann ausschließlich der Schriftstellerei.
Stellt das für Sie keinen Widerspruch dar, Werbung und Literatur?
Schon. Aber man muß eben lernen, mit Widersprüchen zu leben.
Herr Cerda, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Agroexport unter ökologischem Anpassungsdruck
Die Wirtschaft hat die Zeichen der Zeit erkannt. Die westlichen DurchschnittskonsumentInnen verlangen immer häufiger nach “Öko-Qualität”. Man reagiert zunächst vor allem mit Etiketten – Ecolabeling. Auch in den großen Supermärkten wird immer mehr “biologisch Abbaubares” und “ökologisch Angebautes” angeboten. Selbst die Automobilunternehmen bieten “grüne” Fahrzeuge an oder den Öko-Golf. Schließlich glänzt die deutsche Chemieindustrie momentan mit ganzseitigen Anzeigen in Tageszeitungen, um den LeserInnen die “Nachhaltigkeit” ihrer Produktionsweise nahezubringen. Jenseits des vielfachen Etikettenschwindels ist jedoch tatsächlich etwas in Bewegung gekommen. Durch Produktnormen und gesetzliche Bestimmungen wie etwa die Gefahrstoffverordnung oder das Chemikaliengesetz, in neuester Zeit zudem durch die Etablierung eines Ökoaudits (interne Betriebskontrollen zur Erstellung von Ökobilanzen) werden die Produktionskreisläufe in Unternehmen stärker unter die Lupe genommen. Eine wachsende Zahl von Firmen geht inzwischen Selbstverpflichtungen ein und kann sich nach Umstellung ihrer Produktion berechtigte Hoffnungen auf wachsende Marktanteile machen. Unterstützt wird dieser Prozeß durch die Vergabepolitik öffentlicher Verwaltungen. Auf nationaler Ebene gibt es seit 1977 ein Umweltzeichen, das weitgehend unabhängigen, wissenschaftlichen Kriterien genügt. Auf internationaler Ebene strebt man eine einheitliche Produktnormierung an und die EU hat schließlich 1992 ebenfalls ein Umweltzeichen eingeführt. Die Anforderungen, die an europäische Produkte gestellt werden, sollen ebenso für außerhalb der EU erzeugte Waren Gültigkeit haben. Davon sind zum Beispiel auch Agrarprodukte aus lateinamerikanischen Ländern betroffen.
Rahmenbedingungen für Agrarexporte des Südens
Zwischen 1970 und 1992 ist der Anteil Lateinamerikas am Welthandel von 5,6 auf 3,3% zurückgegangen. Das internationale Handelsklima ist durch einen wachsenden Protektionismus des Nordens geprägt gewesen, der die Länder Lateinamerikas jährliche Exporteinnahmen von ca. 40 Mrd. US-Dollar gekostet hat. Dabei sind es vor allem die nichttarifären Handelshemmnisse, die dem Süden zu schaffen machen. Ende 1990 hatte der GATT 284 solcher Exportrestriktionen registriert, wovon allein 59 auf landwirtschaftliche Produkte entfielen. Gleichzeitig subventionieren die Industrieländer ihre Agrarproduktion mit jährlich ca. 300 Mrd. US-Dollar. Darüber hinaus leiden vor allem arbeitsintensive Branchen, die aufgrund niedriger Lohnkosten bestimmten Ländern überhaupt erst eine Wettbewerbschance einräumen, unter Handelsbeschränkungen. Dies trifft vor allem auf die Textilbranche zu. Der Verfall der Agrarpreise seit den 80er Jahren hat Lateinamerika wegen seiner hohen Abhängigkeit von diesen Exporterlösen, die zwei Drittel der Gesamterlöse ausmachen, schwer getroffen. Die FAO beziffert den Preisrückgang in den letzten Jahren auf 26%. Die Schuldenlast und die einseitige Ausrichtung auf den Export weniger Agrarprodukte hat viele Länder dazu gezwungen, die Produktion von Primärgütern noch zu verstärken. Dies führte jedoch zu einem Überangebot und beschleunigte damit den Preisverfall landwirtschaftlicher Produkte weiter. Der wachsende ökonomische Druck auf die Länder des Südens hat einer immer bedingungsloseren Ausbeutung von Rohstoffen und einem rücksichtsloseren Umgang mit Ressourcen weiter den Weg geebnet. Bisher stellt gerade die nahezu uneingeschränkte Umweltzerstörung einen komparativen Kostenvorteil der Länder des Südens dar. Der Berücksichtigung externer Kosten stehen mehr denn je die Sachzwänge des Weltmarktes entgegen. Gleichzeitig beginnt die auch für ihren Außenhandel relevanter werdende Umweltpolitik der Industrieländer, die Länder des Südens unter einen neuen Anpassungsdruck zu stellen. Ein wichtiges Instrument ist in diesem Zusammenhang die Vergabe von Gütesiegeln für Waren, die auch lateinamerikanische Exportproduzenten in Zukunft zwingen wird, Nachweis über ökologische Produktionsmethoden zu führen.
Ökologischere Holzprodukte aus Chile?
Chile ist eines der Länder, dem es – von vielen inzwischen gar als “Modellfall” gefeiert – gelungen ist, insbesondere durch die Diversifizierung seiner Agrarexporte ein erstaunliches Wachstum zu erzielen. Neben dem traditionellen Exportrohstoff Kupfer sorgen vor allem Holzwirtschaft und Fischerei für die hohen Exporterlöse. Die holzverarbeitende Industrie wird als eine der Branchen betrachtet, mit der Chile den Einstieg in die “zweite Phase der exportorientierten Industrialisierung” gelingen könnte.
Überwiegend auf ausgelaugten Flächen wurden, seit Mitte der 70er Jahre mit staatlicher Förderung Pinus radiata- und Eukalyptus-Plantagen angelegt. Die intensive Forstproduktion erfolgte überwiegend zur heimischen Zellstoffproduktion sowie zum Export von Holzchips. Weitere 10% des Holzverbrauchs werden durch die Waldnutzung gesichert. Auch hier macht die Holzchip-Produktion den größten Anteil aus, dazu kommt die Möbelproduktion sowohl für den heimischen als auch den nordamerikanischen und europäischen Markt. Ungefähr 80% der Wälder werden von der lokalen Bevölkerung zur Entnahme einzelner Bäume oder von Totholz als Brennholz genutzt. Die Ausdehnung der Plantagenbewirtschaftung hat zu einer Besitzkonzentration in den Händen weniger Unternehmen geführt, während Kleinbesitzer zur Aufgabe gezwungen waren und in die Städte migrierten. Die größten ökologischen Probleme bereiten ebenfalls die Plantagen. Ihre Anlage findet zwar auf überwiegend ausgelaugten Böden statt, womit die Forstunternehmer gerne ihre Tätigkeit rechtfertigen. Tatsächlich wurde sogar der Einsatz von Herbiziden reduziert. Es gibt jedoch in Chile bisher keine systematische und effektive Kontrolle über die tatsächliche Bewirtschaftungsweise und die Ausdehnung der Plantagenbewirtschaftung auf geschützte Waldgebiete.
Gütesiegel für den Forstsektor gibt es bisher nur von einzelnen Privatunternehmen oder Nicht-Regierungs-Organisationen. Seit November 1993 bearbeitet die EU einen Vorschlag für ein Gütesiegel für Papierprodukte, das u.a. den Nachweis erfordert, daß der Rohstoff Holz aus einer nachhaltigen Bewirtschaftung stammt. Die internationale Tropenholzkampagne der Umweltorganisationen könnte sich mittelfristig negativ auf den chilenischen Holzexport auswirken, da Chile im Ausland häufig fälschlicherweise für ein tropisches Land gehalten wird. Angesichts zunehmender Produktanforderungen und der Tatsache, daß man kaum auf den europäischen Markt wird verzichten können, wird die bisherige Strategie einzelner Forstunternehmen, sich Märkte in weniger umweltsensiblen Ländern vor allem in Asien zu suchen, längerfristig kein erfolgreicher Weg sein. Ob sich die chilenischen Unternehmen schließlich auf eine ökologischere Produktionsweise einlassen, wird jedoch auch von der Einigung über ein neues Forstgesetz und der Einführung einer Landnutzungsplanung abhängen.
Zellstoff ist das zweitwichtigste Exportprodukt
Von noch größerer Bedeutung für Chile ist die Produktion von Zellstoff zur Papierherstellung. Diese ist inzwischen nach Kupfer zum zweitgrößten Exportprodukt Chiles geworden. 70% der Gesamtproduktion wird exportiert, wobei Europa der wichtigste Markt für gebleichten Zellstoff ist. Die ökologischen Anforderungen auf dem europäischen Markt sind in den letzten Jahren gewachsen, gerade in Deutschland wird z.B. immer weniger chlorgebleichter Zellstoff nachgefragt. Schließlich ist in den letzten Jahren auch die Möbelproduktion expandiert, auch wenn ihr Anteil an den Exporterlösen für Chile noch nicht besonders relevant ist. Sollen gerade in diesem Bereich einer arbeitsintensiveren Produktion auf höherer Wertschöpfungsstufe Fortschritte erzielt werden, wird man sich jedoch verstärkt mit Produktauflagen auseinandersetzen müssen. Bereits bestehende ökologische Auflagen in mehreren europäischen Ländern beziehen sich auf Grenzwerte für das krebserzeugende Formaldehyd und Pentachlorphenol, dazu kommen die hochgiftigen Stoffe Lindan, Arsen, DDT und Schwermetalle, die beispielsweise in Deutschland nicht Bestandteil von Holzprodukten sein dürfen. In absehbarer Zeit wird dies wohl für die gesamte EU gelten. Schließlich wirkt sich sogar die deutsche Verpackungsverordnung auf diesen Bereich aus, da sie die Verwertung von Verpackungsmaterial festlegt. Dies betrifft beispielsweise Holzpaletten, die als Sondermüll entsorgt werden müssen, wenn sie mit Holzschutzmitteln behandelt wurden. Bisher gehen die chilenischen Möbelexporte zwar überwiegend in die USA, wo noch keine so hohen Anforderungen gestellt werden. Aner Chile setzt auch hier auf Exportsteigerungen in Richtung Europa.
In Chile scheint in einigen der angesprochenen Branchen ein ökologisches Problembewußtsein vorhanden zu sein. Dies ist im wesentlichen durch die öffentliche Diskussion über die gerade durch die Exportproduktion verursachten Umweltschäden, insbesondere die Waldschäden, entstanden. Bei manchen Unternehmen scheint zudem die Einsicht zu wachsen, daß eine bedingungslose Ausbeutung heimischer Ressourcen auch ökonomisch kontraproduktiv sein kann. Gerade ressourcenabhängige und exportorientierte Unternehmen, die die Anforderungen der internationalen Märkte kennen, können es deshalb sein, die sich auf nationaler Ebene für eine Umstellung der Produktionsmethoden stark machen. Unverändert stark scheint dagegen nach wie vor die Animosität gegen staatliche Eingriffe und Kontrollinstanzen zu sein. Hier vertrauen auch die chilenischen Unternehmer, die externe Produktauflagen per EU-Verordnung hinzunehmen gezwungen sind, lieber auf den freien Markt.
Ökologischere Nelken aus Kolumbien?
Einer der dynamischsten Sektoren der kolumbianischen Agrarexportwirtschaft ist in den letzten Jahrzehnten die Blumenproduktion. 1992 exportierte Kolumbien Blumen im Wert von mehr als 342 Millionen US-Dollar. Damit entwickelte sich der Blumensektor zur viertwichtigsten Exportbranche nach Erdöl, Kaffee und Bananen. Für die Weltbank verbirgt sich dahinter “eine der größten Entwicklungs-Erfolgsstories der letzten zwei Dekaden”.
Die ökologische Situation der Blumenproduktion ist jedoch durch einen extremen Gebrauch von Pestiziden, durch die Belastung von Böden und Gewässern durch toxische Stoffe und eine zunehmende Luftverschmutzung gekennzeichnet. Dies wirkt sich auf die nahegelegenen Ortschaften aus. Die absehbare Erschöpfung der einst üppigen Grundwasservorkommen, die zur Bewässerung verwendet wurden, ist ein weiteres Problem. Dazu kommt die extreme Ausbeutung der Arbeitskräfte, ursprünglich armer Bauern, inzwischen überwiegend Frauen aus den Armenvierteln Bogotas. Arbeitsschutzbestimmungen werden, wenn überhaupt vorhanden, kaum eingehalten. Vergiftungen durch toxische Stoffe sind an der Tagesordnung.
85% der kolumbianischen Blumenproduktion gehen heute in die USA, 13% in die EU. Gerade hier wachsen die ökologischen Anforderungen. In Holland ist man dabei, eine sogenannte “ökologische Blume”, das heißt, Kriterien für eine nachhaltigere Blumenproduktion zu entwickeln. Sie beziehen sich z.B. auf die Verwendung von Pestiziden und Dünger oder einen rationellen Energieverbrauch bei der Produktion. Dies könnte in absehbarer Zeit in ein Öko-Label für Blumen in der Europäischen Union münden.
In Deutschland hat die Menschenrechtsorganisation FIAN die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in der Blumenindustrie öffentlich gemacht und soziale Nachhaltigkeit sowie die Einhaltung von Arbeitsschutzmaßnahmen eingefordert (vgl. den Artikel “Alles paletti? Gütesiegel für kolumbianische Blumen” in diesem Heft). Die unmenschlichen sozialen Bedingungen bei der Blumenproduktion in Kolumbien und Kenia kamen schließlich im Juli 1993 im Europäischen Parlament zur Sprache. Es forderte die Europäische Kommission auf, die Produktionsbedingungen zu überprüfen und gegebenenfalls ein Importverbot auszusprechen. Dagegen setzt die kolumbianische Regierung den Vorwurf des Protektionismus. Inzwischen versucht man jedoch von kolumbianischer Seite außerdem, durch die Veröffentlichung einer “weißen Liste” von Unternehmen, die bestimmte soziale und ökologische Mindeststandards einhalten, dem externen Druck durch ein europäisches Öko-Label zuvorzukommen. Bisher müssen die tatsächlich eingeleiteten Schritte zur Verbesserung der Arbeitssituation jedoch als unangemessen bezeichnet werden.
Neuer Protektionismus oder mehr Nachhaltigkeit
“Das europäische Label ist ein Flop”, so die Süddeutsche Zeitung am 29.9.1994, nachdem sich die Europäische Kommission aufgrund unbefriedigender Ergebnisse bei der Vergabe entschlossen hatte, das Umweltgütezeichen für Industrieprodukte nun zu privatisieren. Was nach der Brüsseler Verordnung von 1992 bis zum Schluß strittig blieb, sind die entsprechenden Vergabekriterien für industrielle Produkte. Oftmals richten sich diese auch innerhalb der EU vor allem nach den Interessen der jeweiligen heimischen Industrie. Dies sagt einiges über den tatsächlichen Stand der Entwicklung in Europa aus. Unfähigkeit, nationale Produktion ökologisch umzustellen, und Protektionismustendenzen untereinander herrschen noch bei denen vor, die im internationalen Handel verstärkt Ökostandards setzen wollen.
Sind überhaupt Fortschritte in Richtung nachhaltiger Produktion durch Öko-Etikettierung zu erzielen? Am chilenischen Beispiel ist erkennbar, daß die öffentliche Diskussion über die Zerstörung der heimischen Wälder, sowie die wachsenden internationalen Produktanforderungen, Unternehmen der Holzbranche dazu zwingen, sich in einen Politikprozeß zur Durchsetzung ihrer Kriterien bei der Entwicklung von Gütesiegeln zu begeben. Teilweise hat dies auch schon zur Umstellung von Produktionsmethoden geführt. Exportunternehmen, das zeigt auch das kolumbianische Beispiel, werden sich in Zukunft einem zunehmenden Anpassungsdruck nicht entziehen können, wenn sie nicht auf den europäischen Markt verzichten wollen. Die Frage, ob ökologische Produktanforderungen einen Hebel zur Durchsetzung eines ökologischen Strukturwandels im Exportbereich der lateinamerikanischen Länder darstellen können, ist zwar nicht von vorne herein zu verneinen. Man muß jedoch erkennen, daß dieser umweltpolitische Hebel gerade in einem sehr sensiblen ökonomischen Bereich ansetzt, der in extremer Weise konjunkturellen Weltmarktentwicklungen ausgesetzt ist. Der Spielraum für lateinamerikanische Exportunternehmen, innovativ auf die neuen Anforderungen zu reagieren, ist sehr gering. Oft fehlt es dafür bereits an Information oder know how. Zugleich mangelt es oftmals am politischen Willen nationaler Regierungen, über die Unterzeichnung internationaler Abkommen und die Festlegung gesetzgeberischer Normen hinaus, die nationale Umweltpolitik mit Leben zu erfüllen, die Einhaltung von Verordnungen zu kontrollieren und tatsächlich durchzusetzen. Dies ist nicht zuletzt entscheidend, wenn es darum geht festzustellen, wie weitreichend die Produktionsumstellungen infolge der ökologischen Produktanforderungen tatsächlich sind. Für die arbeitsintensiven Branchen besteht schließlich die Gefahr, daß der ökologische Anpassungsdruck zu einer weiteren Verschlechterung der sozialen Sicherung und der Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten führen könnte. Der Begriff der “Nachhaltigkeit” beinhaltet jedoch neben der Zukunftssicherung kommender Generationen auch die Berücksichtigung sozialer Sicherung der heute Lebenden.
Inwieweit ist eine Agrarexportwirtschaft, die sich in erheblichem Maße auf Produkte konzentriert, die auch in Europa hergestellt werden können, überhaupt mit nachhaltigem Wirtschaften im globalen Maßstab vereinbar. Während in der EU subventionierte Nahrungsmittel vernichtet werden, erreichen nach langen Transportwegen Holz, Fisch, Blumen oder Früchte aus Lateinamerika den europäischen Verbraucher. Wie lange sich die vielgelobten, dynamischen Agroexportbranchen, die sich bisher vor allem durch die Ausbeutung billiger Arbeitskräfte und ihrer natürlichen Ressourcen ihre Nische im Weltmarkt sichern konnten, dort werden behaupten können, ist von zahlreichen Faktoren abhängig, die am wenigsten jedoch von den Exportnationen selbst beeinflußt werden. Der Preisverfall traditioneller lateinamerikanischer Agrarprodukte wie Kaffee, Kakao, Zucker oder Baumwolle in den 80er Jahren sollte Warnung genug sein, erneut zu sehr auf unbeständige Weltmarktkonjunkturen zu vertrauen. Wie nachhaltig negativ EU-Entscheidungen Dritt-Welt-Produktion betreffen können, haben kürzlich erst wieder zwei – in diesem Fall afrikanische – Länder betreffende Fälle gezeigt: Durch die in Kürze erfolgende Übernahme der in Großbritannien geltenden Schokoladen-Regelung in der EU wird es Herstellern erlaubt, die bisher zu verwendende Kakaobutter durch billige Pflanzenöle zu ersetzen. Dies bedeutet für die afrikanischen Kakaoproduzenten einen Einnahmeausfall von ca. 20%.
Im Senegal haben die meisten Landwirte den Anbau von Weizen und Reis aufgegeben, nachdem ihre Preise durch von Brüssel mit 6,4 Mrd. Mark jährlich subventioniertes Exportgetreide unter die Produktionskosten gedrückt worden waren. Dies sind die Rahmenbedingungen, die Schritte in Richtung zu mehr Nachhaltigkeit verhindern. Der Beitrag, den eine Öko-Etikettierung zu einem ökologischen Umstrukturierungsprozeß leisten könnte, muß dagegen eher als bescheiden angesehen werden.
Die permanente Invasion
Nun hat der UNO-Sicherheitsrat mit leichtem Zähneknirschen die Clinton-Regierung für eine Invasion in Haiti authorisiert. Dies wäre nicht das erste Mal. Bereits 1915 fielen die einschlägig berühmten marines in dem Land ein unter dem Vorwand, die haitianische Regierung habe “einige Verpflichtungen nicht eingehalten”. Sie blieben fast 20 Jahre und zogen erst 1934 ab. Nach der Amtszeit von Lescot, Estime und Magliore, drei pünktlich vom haitianischen Militär gestürzten Präsidenten, setzten die Vereinigten Staaten “Papa Doc” Francois Duvalier ein und unterstützten ihn bis zu seinem Tode 1971. Sein Sohn Baby Doc erbte die Präsidentschaft, bis er 1985 durch einen weiteren Militärputsch gestürzt wurde. Unter den Regierungen der beiden Duvaliers herrschte eine grausame Repression. Es wird davon ausgegangen, daß allein unter der Regierung von Baby Doc mehr als 40.000 Personen ermordet wurden. Die Vereinigten Staaten wußten aus guter Quelle, wie auf Haiti mit ihrer tatkräftigen Unterstützung die Menschenrechte verletzt wurden.
Mißratener Zögling der USA
Raul Cédras, der gegenwärtige Diktator, der den demokratisch gewählten Priester Jean-Bertrand Aristide durch einen Putsch stürzte, ist lediglich der letzte in der bisherigen Reihe von haitianischen Tyrannen. Man weiß nicht genau, warum ausgerechnet er den Vereinigten Staaten so mißfällt, wo sie doch in der Vergangenheit mit den Duvaliers so gut auskamen. Dem nicht genug, darf man nicht vergessen, daß Cédras, wie alle Diktator-Lehrlinge Lateinamerikas, auf einer nordamerikanischen Militärakademie ausgebildet wurde.
Die Geschichte Haitis ist wirklich dramatisch: Der revolutionäre Kampf begann 1791 mit einem Sklaven, dem berühmten Toussaint l`Ouverture. Die Unabhängigkeitserklärung am 28. November 1803 machte Haiti zum ersten entkolonisierten Land Lateinamerikas. Aus dieser historischen und politischen Avantgarderolle stieg es zu dem heute ärmsten Land Lateinamerikas und einem der am stärksten geplünderten der Welt ab.
Angesichts des politischen Imageverlustes, den jede ihrer Interventionen in anderen Ländern nach sich zieht, haben die Nordamerikaner beschlossen, sich für jeden ihrer internationalen Angriffe Partner zu suchen. Die Idealformel ist, daß die Vereinten Nationen sie mit dieser oder jener Strafaktion beauftragen, wie sie es beispielsweise beim Golfkrieg erreichten. Aufgrund ihres Insistierens wurden sie schließlich von einigen französischen und englischen Flugzeugen begleitet.
Diplomatische Winkelzüge
Rony Lescouflair, ein haitianischer Dichter, der 1967 durch die Polizei Duvaliers ermordet wurde, schrieb dieses kurze Gedicht: “Dreimal krähte der Hahn; / Petrus war kein Verräter: / er wurde Diplomat.”
Mit Hilfe eines umfassenden und nachdrücklichen diplomatischen Manövers wollen die USA auch jetzt bei der Invasion in Haiti Begleitung haben. Die Formel ist einfach: Wenn einige Länder zu kleinmütig sind, um Truppen, Schiffe und Flugzeuge zu entsenden, sollen sie zumindest applaudieren.
Bei den Regierenden in Lateinamerika kam, wie üblich, der einzige enthusiastische Applaus von Präsident Menem. Bei allen anderen, ob sie jetzt der Rechten, der Mitte oder der Linken angehören, erzeugte die bloße Idee, eine nordamerikanische Invasion zu authorisieren, allergische Reaktionen.
Nach wie vor mögen einige Arglose oder Einfältige sich fragen, warum das US-State Department nicht die Unterstützung des UNO-Sicherheitsrates erbat, um während der Pinochet-Diktatur in Chile zu intervenieren, oder während der Videla-Zeit in Argentinien, oder während der Goyo Alvarez-Zeit in Uruguay, oder während der Stroessner-Zeit in Paraguay etcetera. Könnte es daran liegen, daß es sich hier um “befreundete Diktaturen” handelte, wie es Präsident Reagan ausdrückte? Wäre es möglich, daß das Regime Cédras` zufällig eine “feindliche Diktatur” ist? Oder existiert vielleicht ein Motiv, welches nicht öffentlich genannt wird, wie zum Beispiel, daß die geplante Invasion dem ständigen Zustrom haitianischer Flüchtlinge an die Küsten Nordamerikas ein Ende bereiten würde?
Niemand hat das Züchtigungsmittel vergessen, das 1990 gegenüber Panama angewandt wurde, die sogenannte “Operation Gerechte Sache”. Um einen General gefangenzunehmen, der ihnen lästig fiel – er war CIA-Agent gewesen und hatte später mehrfach die Seiten gewechselt – nahmen sie in Kauf, 2.000 unschuldige Zivilisten zu töten und nebenbei einige Viertel der Hauptstadt Panamas in Trümmerhaufen zu verwandeln. Damals schrieb ich, daß Panama sich in die abstoßendste Militäraktion dieses Jahrhunderts verwandelt habe. Man müßte hinzufügen: in die heuchlerischste. Erst 1994 geben einige Medien im Hinblick auf die angekündigte Invasion in Haiti zu, daß mehr als 2.000 Todesopfer auf das Konto der “Operation Gerechte Sache” gingen. 1990 dagegen, als das Massaker sich ereignete, war ein Großteil der Medien zu schwerfällig, so viele Leichen zu erwähnen.
Sicherlich ist der Diktator Raoul Cédras nicht vorzeigbar, fügt sich doch sein repressives Regime perfekt in die niederträchtigsten Traditionen der Duvalier-Dynastie ein. Trotzdem scheint eine Invasion auf keinen Fall die adäquateste Lösung zu sein, auch wenn Aristide in den saubersten Wahlen in der Geschichte Haitis gewählt wurde.
Marionetten pflastern den Weg
Der Schlüssel zu dieser Verwirrung liegt wahrscheinlich darin, daß das dichte Interventions-Curriculum der Vereinigten Staaten weder den Ländern der Dritten Welt allgemein noch speziell denen Lateinamerikas das geringste Vertrauen einflößt. Niemand vergißt, daß die USA nach jeder ihrer zahlreichen Invasionen in dem Moment, wo sie einen Rückzug für opportun hielten, eine Marionettenregierung hinterließen: Somoza in Nicaragua, Balaguer (immer noch unverwüstlich) in der Dominikanischen Republik, “Quissling” Endara in Panamá – eine Gestalt, deren Ernennung zum Präsidenten beschämenderweise in einer nordamerikanischen Militärstation stattfand. Nach jeder Invasion blieb das jeweilige Land in einem schlimmeren Zustand als vorher zurück, tiefer in seiner Armut versunken, seiner Würde beraubt, in seiner Souveränität verletzt, überbrodelnd vor Groll.
Auch muß bedacht werden, daß es einen zusätzlichen, nicht zu verachtenden Vorteil gibt, welchen sich die Vereinigten Staaten verschaffen, wenn es ihnen gelingt, untergeordnete Verbündete oder Helfershelfer für ihre Militäraktionen zu finden. Wenn sie ohne Alliierte ein Land ihres Hinterhofes angreifen – beispielsweise Grenada oder Panama, entfallen die hohen Ausgaben für diese Operation notwendigerweise auf die Posten im US-Haushalt, die für Invasionen, Blockaden und andere Lappalien vorgesehen sind. Heute dagegen, wo es niemand geringeres als der Weltsicherheitsrat ist, der die Vereinigten Staaten mit der Bestrafung der haitianischen Diktatur beauftragt, handelt es sich um eine kollektive Verantwortung, und der militärische Exekutor muß nur für 25 Prozent der anfallenden Kosten aufkommen.
Daher handelt es sich für die Vereinigten Staaten um ein rundes Geschäft: Sie führen die geplanten Invasionen durch und kommen billig dabei weg. Zum ersten Mal versucht – und erreicht – es der Imperialismus in solch offener Form, daß seine militärischen Aktionen von den direkt oder indirekt untergeordneten Ländern finanziert werden. Vor einigen Jahren gab es den Spruch, daß die Organisation Amerikanischer Staaten so etwas wäre wie das Ministerium der nordamerikanischen Kolonien. Seit kurzem ist die UNO auf dem Weg, sich in das US-Verteidigungsministerium zu verwandeln.
Folgt die Herde der Stimme des Herrn?
Gibt es nach alldem keine andere Möglichkeit als die Kanonenbootpolitik, um die weltweiten Konflikte zu lösen? Die Imaginationskraft der Regierenden ist gefragt, um den Dialog als Instrument des Friedens zu nutzen. Während ich diese Zeilen schreibe (in der ersten Augusthälfte, Anm. d. Red.), erreicht mich die Nachricht, daß der haitianische Diktator eingewilligt hat, eine Verhandlungskonferenz zu empfangen, an der Delegierte von fünf lateinamerikanischen Ländern beteiligt sind. Hoffen wir, daß daraus eine anständige Lösung erwächst.
Auf jeden Fall hat das so konfliktträchtige haitianische Problem einen wichtigen Schritt provoziert: Die lateinamerikanischen Länder – zumindest diejenigen, die über eine historische Erinnerung verfügen – sind dabei zu lernen, Nein zu sagen angesichts des Drucks von “the master`s voice”. Halleluja.
Der Irrsinn nimmt seinen Lauf
Die Dramaturgie wiederholt sich: Der UNO-Generalsekretär Boutros Ghali unternimmt einen “letzten Versuch”, die Haiti-Krise auf diplomatischem Wege zu lösen. Zu diesem Zweck wird ein schwedischer UN-Emissär auf die Insel geschickt, um die technischen Absprachen für ein erneutes Treffen zwischen dem OAS-Vermittler Dante Caputo und den Militärs vorzunehmen. Während dieser vergeblich auf einen Gesprächstermin mit der de-facto-Regierung wartet, strecken MG-Salven einen engen Freund Aristides, den Priester Jean Marie Vincent, vor seinem Ordenshaus nieder. Wer denkt bei dem Attentat auf Vincent nicht an die ungesühnten Morde an Antoine Izméry und Guy Malary, die vor knapp einem Jahr, als die Rückkehr Aristides unmittelbar bevorstand, unter den Augen der UNO-Beobachter begangen wurden? Mit Vincent wurde eine weitere wichtige Stütze für den demokratischen Wiederaufbau des Landes ausgeschaltet. Der UN-Gesandte kehrte unverrichteter Dinge wieder nach New York zurück. Was soll noch alles passieren, damit dieses entwürdigende Schauspiel endlich ein Ende hat?
Da sitzt ein mit überwältigender Mehrheit gewählter Präsident, überzeugter Katholik und konsequenter Pazifist, seit Jahren in den USA – also gewissermaßen in der Höhle des Löwen – und muß mitansehen, wie dieser in aller Seelenruhe seine Krallen wetzt, um dem haitianischen Regime einen Hieb zu versetzen. Dieses hält den US-Löwen offenbar eher für einen kläffenden Hund, der bekanntlich nicht beißt, und zeigt sich daher relativ unbeeindruckt von den offiziellen Verlautbarungen aus dem Weißen Haus oder dem UN-Hauptquartier.
Mörderbuben als Hätschelkinder des Heiligen Vatis
Und dennoch, die Zeit der Junta scheint endgültig abgelaufen. Die mit päpstlichen Weihen ausgestatteten haitianischen Narko-Gorillas haben länger als genug zu erkennen gegeben, daß sie dem völlig verwüsteten, wirtschaftlich heruntergekommenen Land auch nicht den Schimmer einer Perspektive zu bieten vermögen. Die Militärs und ihre mittlerweile dritte zivile Marionettenregierung sind seit drei Jahren von allen offiziellen politischen und wirtschaftlichen Handelskanälen abgeschnitten, bis auf einen, den zum Vatikan. Der Heilige Vati kann es sich immer noch leisten, intime Beziehungen zu weltweit kompromittierten Mörderbuben zu pflegen, ohne daß ein Aufschrei durch seine internationale Fan-Gemeinde geht. Haiti ist hierfür jedoch nicht das einzige Beispiel. Zu Pinochet in Chile bestanden und bestehen ebenfalls sehr herzliche Beziehungen. Der apostolische Nuntius in Mexiko betreibt offene Hetze gegen den äußerst populären Bischof Samuel Ruiz und empfängt gleichzeitig zwei der meistgesuchtesten Drogenkartell-Häuptlinge, um ihnen die Absolution zu erteilen beziehungsweise diplomatischen Schutz zu gewähren.
Eine Politik des Vatikans, die weniger auf das Wohl seiner Schafe, als vielmehr auf das seiner Hirten und Oberhirten bedacht ist, hat besonders in Lateinamerika eine lange Tradition. Im Falle Haitis jedoch hat sie Formen angenommen, die jeglichen, wenn auch noch so dürftigen Rechtfertigungsversuchen bitter Hohn sprechen. Die von Rom protegierten Militärs gehen sogar so weit, sich die internationalen UN-Hilfsgüter – Treibstoff, Lebensmittel, Medikamente – unter den Nagel zu reißen, mit denen die verheerenden Auswirkungen des “totalen” Handelsembargos zumindest für einen Teil der Bevölkerung abgefedert werden sollten.
Die Schmerzgrenze für die Gottesmänner in Rom dürfte aber nun überschritten sein, da selbst vor einem geweihten Priester nicht Halt gemacht wurde. Der kaltblütige Mord an dem Ordenspriester und ehemaligen Caritas-Repräsentanten von Cap Haitien, Jean Marie Vincent, ist ein Indiz dafür, daß die Machthaber entweder im Begriff sind, eine neue Stufe der Repression zu beschreiten, oder daß sie die Kontrolle über ihre selbstgeschaffenen Mordwerkzeuge verloren haben. Beides wiegt gleich schwer. Jegliche Beileidsgeste von Seiten des Papstes oder auch der haitianischen Bischofskonferenz – deren Vorsitzender der frühere Vorgesetzte von Vincent im Caritas-Verband ist – wirkt eher wie eine heuchlerische Pflichtveranstaltung denn als aufrichtig gemeinte Äußerung der Betroffenheit.
Nach drei Jahren Schweigen zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit hat die katholische Amtskirche jeglichen Kredit beim haitianischen Volk verspielt.
Die internationalen “Freunde” haben ihren Kredit verpokert
Aber gibt es überhaupt noch irgendeine Instanz, die der Bevölkerung gegenüber kreditwürdig ist? Die UNO etwa, die als säkuläre Repräsentanz der internationalen Gläubiger-Gemeinschaft seit drei Jahren ihren unerschütterlichen Willen und ihre Entschlossenheit bekundet, mit dem Unrechtsregime aufzuräumen und die legitime, demokratisch gewählte Regierung Aristide wieder in ihr Recht zu setzen? Oder gar ihr kontinentaler Ableger, die OAS, die seit ihrem Bestehen nichts als Machtlosigkeit dokumentiert? Die, wenn überhaupt, nur als Feigenblatt-Organismus für nordamerikanische Interessen in Erscheinung tritt? Die “vier Freunde” etwa – USA, Kanada, Frankreich, Venezuela – von denen die drei Letztgenannten nur so lange etwas zu sagen haben, wie sie nicht mit eigener Stimme sprechen? Niemand spricht mehr von diesem Kreis. Und was ist mit den USA, dem angeblich allergrößten Freund?
Wer traut dem unaufhörlich grinsenden US-Präsidenten Clinton noch die Fähigkeit zu, einen überzeugenden Plan anzubieten, um zumindest sein Gesicht zu wahren? Clinton scheint rettungslos überfordert in seinem Amt, weiß angesichts der wachsenden Anzahl von Flüchtlingen aus Haiti und Kuba weder ein noch aus. Innenpolitisch gerät er zunehmend unter Handlungsdruck – schließlich sind bald Halbzeitwahlen in den USA.
Überhaupt scheint in Washington ein wildes Durcheinander zu herrschen: Stellungnahmen verschiedener Regierungsfunktionäre widersprechen sich teilweise diametral, von dem Haiti-Sonderbeauftragten William Gray ist seit Wochen nichts mehr zu hören. Der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses im Repräsentantenhaus, der Demokrat Lee Hamilton, sagt, das Parlament folge den Plänen der Entsendung einer 10.000 Mann starken Invasionstruppe nur sehr widerwillig und skeptisch. Der republikanische Senator Richard Lugar bezeichnet ein bewaffnetes Eingreifen als einen “historischen Irrtum”. – Der “historische Irrtum” kann doch allenfalls darin liegen, Mr. Lugar, daß die von US-Streitkräften ausgebildeten haitianischen Militärs überhaupt jemals so viel Macht und Einfluß erhalten haben. – Vielleicht dient das ganze wortreiche Geplänkel in den Vereinigten Staaten auch nur dazu, von ganz anderen gesamtkaribischen Überlegungen – Stichwort Kuba – abzulenken?
Aristide: kompromißbereit bis zur Selbstaufgabe?
Und wie steht es um Aristide selbst? Ist es politisch, moralisch, ethisch noch zu rechtfertigen, daß an seiner Wiedereinsetzung mit allen Mitteln festgehalten wird? Wie kann er mit den jahrelangen Demütigungen, den permanenten Vertrags- und Vertrauensbrüchen von so vielen Seiten zurechtkommen? Welche Spuren in seiner Seele hinterlassen die täglichen Morde an Menschen, deren einziges Verbrechen es ist, als Sympathisanten seiner Politik zu gelten? Wie wirken Zeitungsmeldungen wie jene aus jüngster Zeit, wonach Ex-Präsident Bush in Buenos Aires vor argentinischen Bankern heftig gegen eine militärische Invasion zu Felde zog, mit der Begründung, der vor drei Jahren gestürzte Aristide sei total unzuverlässig und zu keinerlei Kompromissen bereit? Solche und ähnliche Ungeheuerlichkeiten werden ständig unwidersprochen in den Medien verbreitet, sowohl in den USA als auch anderswo.
Gleichzeitig erscheint Aristide bis zur Selbstaufgabe zu Kompromissen bereit zu sein, um seinem vom Volk erhaltenen Auftrag bis zum verfassungsmäßigen Ende seiner Amtszeit zu erfüllen. Aber entspricht seine derzeitige Rolle, außerhalb Haitis gegen die Diktatur zu protestieren, noch dem vom Volk erhaltenen Auftrag? Hätte Aristide nicht längst – spätestens im Dezember ’93, nach dem offenkundigen Scheitern des Abkommens von Governors Island – zum militanten Widerstand des Volkes gegen seine Mörder aufrufen beziehungsweise für dessen Bewaffnung sorgen müssen? Gibt es nicht auch ein christliches Widerstandsrecht?
Vielleicht kommt es letztendlich doch zu dem unwürdigen Moment, daß Aristide auf den Flügeln einer ausländischen Militärmaschine nach Port-au-Prince segelt. Selbst wenn dies geschehen sollte, wird inzwischen so viel Zeit ins Land gegangen sein, daß er es kaum mehr wiedererkennt. Die politische Klasse Haitis wird im Wesentlichen noch dieselbe sein, wogegen die Menschen aus Aristides früherem Umfeld entweder nicht mehr da sein oder mittlerweile mit großer Zurückhaltung auf seine Wiederkehr reagieren werden.
Dem politischem Projekt Lavalas sind so tiefe Wunden geschlagen worden, daß eine Neuauflage dieses basisdemokratischen, transparenten und gerechten Gesellschaftsmodells auf Jahre hin erschwert sein wird.
Das zarte Pflänzchen Hoffnung, das da vor fast vier Jahren mit der Wahl Aristides erste Wurzeln geschlagen hatte, wurde zu lange von der brutalen Dummheit der Macht und ihren militärischen Stiefeln zertreten, als daß es sich in dem ohnehin verdörrten haitianischen Boden schnell erholen könnte. Ob dies auch für seinen Ableger, die für einen historischen Moment lang wiedergewonnene Würde, gilt, wird sich in den kommenden Wochen und Monaten erweisen. Zur Zeit hat es eher noch den Anschein, als modere diese in den stinkenden Pfützen von Cité Soleil vor sich hin.
Nach dem Bombenanschlag wächst die Angst
Der Schaden ist unermeßlich
Die “Mutual”, wie sie von den Porteños genannt wurde, war im Gegensatz zu der vor zwei Jahren gesprengten israelischen Botschaft keine ausländische Vertretung, sondern ein 1894 gegründetes argentinisch-jüdisches Zentrum. In dem siebenstöckigen Gebäude, das völlig zerstört wurde, waren unter anderem eine Anlaufstelle für bedürftige Menschen, ein Theater und ein Arbeitsvermittlungsbüro untergebracht. Auch die Dachorganisation aller jüdischen Vereinigungen DAIA (Delegación de Asociaciones Israelitas Argentinas), eine Art politische Vertretung der jüdischen Gemeinschaft in Argentinien, befand sich im Gebäude in der Pasteur Straße. Samuel Rollansky, 92-jähriger Leiter des Instituts für jüdische Studien: “Seit dem Anschlag kommt es mir vor, als hätte ich an meiner eigenen Beerdigung teilgenommen.” Das Lebenswerk des polnischen Immigranten, die 70.000 Bände umfassende Bibliothek über jüdische Kultur, ist fast vollständig verlorengegangen.
Präsident Menem, der versuchte, das Attentat für einen weiteren Vorstoß zur Durchsetzung repressiver Politik zu nutzen, versprach: “Die geistigen und materiellen Urheber des Anschlags werden eine unangenehme Überraschung erleben. Ich bin sicher, daß die Geheimdienste in kurzer Zeit positive Ergebnisse vorweisen werden”. Die Opposition zeigte sich dagegen wenig beeindruckt vom hektischen Aktivismus der Regierung, der von der Ankündigung eines Anti-Terrorismus- Gesetzes bis zur Schaffung eines Sicherheitsrates ging. “Unsere Geheimdienste bewegen sich immer noch in einer Logik der kommunistischen Bedrohung”, erklärte José Manuel Ugarte von der “Radikalen Bürgerunion” (UCR). Aus der ebenfalls angekündigten Einführung der Todesstrafe wurde in der verfassungsgebenden Versammlung in Santa Fe schließlich doch nichts. Gerade Urheber solcher Attentate werden sich kaum von der Todesstrafe abschrecken lassen. Auf dem großen Trauermarsch, an dem 150.000 Menschen teilnahmen, sah sich das Staatsoberhaupt schließlich einer geladenen Stimmung gegenüber. Die Buhrufe waren auf der Tribüne nicht zu überhören.
Angesichts dieses zweiten großen Terroranschlags auf eine jüdische Einrichtung in Argentinien wird deutlich, daß das, was für die “Gerechtigkeitspartei” des Präsidenten noch vor kurzem als Erfolg verbucht werden konnte, sich inzwischen in ein großes Manko verwandelt hat: die Einmischung Argentiniens in das internationale Politikgeschäft. “Die Teilnahme von zwei argentinischen Fregatten an der ‘Operation Wüstensturm’ im Golf hat das Land in das größte Pulverfaß der illusorischen neuen Weltordnung gezerrt”, schrieb Horacio Verbitsky in seiner Sonntagskolumne in Página 12. Außerdem sei diese Entscheidung ohne Zustimmung des Kongresses per Dekret verordnet worden: “Dabei ging es nicht um argentinische Interessen, sondern darum, sich bei einer Supermacht beliebt zu machen – eine pathetische Hinterwäldler-Phantasie, um in internationalen Ereignissen mitmischen zu dürfen.”
Obskure Beziehungen
des Präsidenten
Gerade in Anbetracht der Äußerungen Menems nach dem Anschlag erscheinen die privaten und familiären Beziehungen des syrienstämmigen Präsidenten interessant. Immerhin scheint der syrische Waffenhändler Al Kassar mehr als nur ein Verwandter der Präsidentenfamilie Menem zu sein. Der reiche Geschäftsmann, dem eine Beteiligung am Lockerbie-Anschlag nachgesagt wird, erhielt die argentinische Staatsbürgerschaft in der Rekordzeit von 30 Tagen – eine erstaunliche Leistung der sonst nicht gerade flinken argentinischen Bürokratie. Den argentinischen Reisepaß erhalten normalerweise selbst verheiratete AusländerInnen erst nach etwa einem Jahr. Noch leichter hatte es da Ibrahim al Ibrahim, ein Familienangehöriger der ehemaligen Präsidentengattin. In elf Tagen erhielt er nicht nur das blaue Dokument, sondern auch noch einen verantwortungsvollen Posten in der Zollbehörde des internationalen Flughafens Ezeiza. Schließlich flog der famose nicht einmal des Spanischen mächtige Beamte wegen Korruption und Verwicklung in Drogengeschäfte auf.
Während der mit der Untersuchung des Bombenanschlags beauftragte Staatsanwalt Juán José Galeano außer der zweifelhaften Aussage eines ehemaligen iranischen Diplomaten noch Spuren nachgeht, die zum Käufer des beim Anschlag verwendeten Lieferwagens führen sollen, steht für Präsident Menem der Urheber des Verbrechens längst fest: “Wir können den fast vollständigen Beweis einer iranischen Mittäterschaft erbringen.” Wie eine solche halbe Beweisführung aussehen soll, ist selbst in diplomatischen Kreisen nicht verstanden worden. Der Jurist Menem scheint sich der Tragweite des Ausdrucks “semiplena prueba” nicht ganz bewußt gewesen zu sein. Seine freie Übersetzung aus dem Juristenkauderwelsch bedeutet in etwa “feste, nicht nachweisbare Vermutung”. Auch die iranische Regierung hat das so verstanden: “Wo sind die Beweise?”, fragte das Mitglied der Hisbollah Nahim Kassen. “Menem ist einem Trick der Vereinigten Staaten und Israels aufgesessen.” Die sonst eher zurückhaltende englischsprachige Tageszeitung Buenos Aires Herald zweifelte an der Iran-Connection. Der Iran, so deren Herausgeber Andrew Graham-Yooll, habe gar nicht genügend Einfluß auf die schiitischen Fundamentalisten. In Wirklichkeit habe Syrien hinter dem Attentat auf die israelische Botschaft 1992 gesteckt, diesbezügliche Nachforschungen seien aber damals aufgrund innenpolitischer Überlegungen und “wegen der persönlichen Verstrickungen des Präsidenten Menem mit Syrien” eingestellt worden. Terroristenexperten gehen davon aus, daß verschiedene Motive Argentinien zum bevorzugten Angriffsziel internationaler Fundamentalisten gemacht haben. Hier befindet sich die größte jüdische Gemeinschaft Lateinamerikas. Die etwa 300.000 Mitglieder, die in ihrer Mehrzahl vollständig in die argentinische Gesellschaft integriert sind, lebten bisher ohne größere Schwierigkeiten mit den etwa 500.000 Moslems zusammen. Das Bemühen, dieses Zusammenleben jetzt nicht noch zu belasten, zeigt sich in den Erklärungen Rubén Berajas, Präsident der DAIA: “Keiner darf wegen seiner Nationalität oder seines Glaubens verdächtigt werden.”
Zweite Heimat deutscher Nazis
Neben der halbherzigen Grenzkontrollen wird als weiteres Motiv die Anwesenheit faschistischer Gruppierungen genannt. Der englische Terroristenexperte David Yallop: “Argentinien besitzt eine Vergangenheit bestehend aus einer übertriebenen Gastfreundschaft für NS-Kriegsverbrecher und einem ausgeprägten Antisemitismus während der Militärjuntas.” Schon in den vierziger und fünfziger Jahren kam es unter Juan Domingo Perón zu Ausschreitungen gegenüber argentinischen Juden. Über die “Rattenlinie” gelangten Hunderte von Nazis ausgestattet mit Pässen des Roten Kreuzes und der Hilfe des Vatikans nach Argentinien. Unter den 30.000 “Vermißten” der letzten Militärdiktatur (1976 bis 1983) gibt es eine überdurchschnittliche Zahl jüdischer Opfer. Gleichzeitig fanden in Argentinien mehr als 5000 Nazi-Hierarchen Unterschlupf, unter ihnen Joseph Mengele, Oberst Rudel, Klaus Barbie, Adolf Eichmann und Josef Schwammberger. Seit dem 9. Mai liegt ein Auslieferungsantrag für einen deutschen Nazi aus Italien vor: Der amerikanische Fernsehsender ABC hatte den ehemaligen SS-Mann Erich Priebke in Bariloche (Provincia de Río Negro) aufgespürt, der nach eigenem Geständnis am Massaker an 335 Geiseln am Stadtrand von Rom beteiligt war. Priebke, der jetzt unter Hausarrest steht, erwartet im September eine besondere Überraschung: Angehörige der 1944 exekutierten Italiener beabsichtigen, den argentinischen Luftkurort in Kürze zu besuchen, um dem Auslieferungsgesuch Nachdruck zu verleihen.
Die intensiven Kontakte dieser “alten Kameraden” zu neo-nazistischen Gruppierungen in der Bundesrepublik und Argentinien sind bekannt. Ein Forschungsprojekt der DAIA, “testimonios” (etwa: Zeitzeugen) genannt, das sich mit dem Thema der deutschen Kriegsverbrecher in Argentinien befaßte, fand noch im Dezember letzten Jahres ausführliche Erwähnung in der New York Times unter dem Titel “Argentine Files Show Huge Effort to Harbor Nazi” (14.12.93). In der deutschen Presse wurde diese Untersuchung nie erwähnt. Die Lehrerin einer deutschsprachigen Begegnungsschule in Buenos Aires äußerte: “Wenn man in den Süden runtergeht nach Argentinien oder Chile, da gibt’s noch jede Menge von den alten Ex-Vertretern des tausendjährigen Reiches. Die sind da untergetaucht, leben unter falschem Namen, teilweise mit Wissen der deutschen Botschaft.” Unbekannt dürfte der deutschen Öffentlichkeit auch sein, daß die Goethe-Schule, deren Neubau für 1600 Schüler vor einigen Jahren mit 18 Millionen Mark von der BRD subventioniert wurde, bis heute keinen jüdischen Schüler aufgenommen hat.
Menem, der der israelischen Regierung öffentlich sein Beileid aussprach, scheint argentinische Juden derweil immer noch mit Israelis zu verwechseln. Lediglich ein Fauxpas des Präsidenten, der auch schon mal behauptet, Sokrates gelesen zu haben? Von Kritikern wird der diplomatische Fehltritt bestenfalls als Ablenkungsmanöver bezeichnet. “Wir wissen nicht, warum die Mörder getötet haben. Aber ist es nicht offensichtlich, daß wir alle die Opfer sind?”, schrieb der Cartoonist Rudy erbost in einem Kommentar.
Die Angst wächst
Hundert verschüttete Personen, verzweifelte Rettungsmanöver der Feuerwehr, täglicher Bombenalarm in jüdischen Schulen und Regierungsgebäuden, Schändung eines jüdischen Friedhofs in der Provinz La Pampa. Szenen eines neuen Alltags in Argentinien, zu dem inzwischen auch Skinheads gehören. “In Extremsituationen zeigen sich sowohl die grausamsten Seiten des Menschen, als auch seine besten Züge”, erklärte ein Psychologe kurz nach dem Anschlag. Tatsächlich brachten unzählige Porteños Werkzeuge und Lebensmittel zu der israelischen Rettungsmannschaft, die eigens eingeflogen worden war. Daß Angehörige von vermißten Personen allerdings Anrufe erhielten, in denen sie bewußt irregeführt wurden und ihnen neue Hoffnung gemacht wurde: “Ich habe Ihre Tochter lebend im Krankenhaus gesehen,” verdeutlicht, wie weit derlei Grausamkeit gehen kann.
Nachdem die Regierung ankündigte, daß noch im September möglicherweise mit einem neuen Attentat zu rechnen sei, macht sich in der Bevölkerung Angst breit. So kämpfen die Nachbarn des neuen provisorischen Gebäudes der AMIA darum, die “Mutual” irgendwo, “aber nicht bei uns” zu errichten. Der Leiter des katholischen Colegio La Salle, erklärte, daß viele Eltern ihre Kinder nicht mehr in die Schule gehen ließen, da sie die Nachbarschaft der AMIA fürchteten. Sportveranstaltungen mit jüdischen Clubs wurden abgesagt. “Opfer sollen keine Nachbarn mehr sein”, entrüstete sich die Süddeutsche Zeitung daraufhin im August.
Der argentinische Soziologe Juan Corradi sieht die Ursachen dieses unsolidarischen Verhaltens allerdings nicht nur in einer latent antisemitischen Grundhaltung. Inzwischen sei Argentinien in ein System des zwischenstaatlichen Terrors eingetreten. Diese neue, schwer begreifbare Dimension des Terrors stelle die Gesellschaft vor eine schlimme Entscheidung: “Entweder bist du Opfer oder einfach nur Zuschauer.” Um diesen Teufelskreis der Angst zu durchbrechen, empfiehlt Corradi das Informationsmonopol der Geheimdienste durch eine eigenständige Berichterstattung zu durchbrechen und die Isolation der bedrohten Gruppe durch Solidarität zu überwinden. Zudem sei die Meinung politisch unabhängiger Persönlichkeiten in solchen Krisensituationen äußerst wichtig. “Die können eine psychologische Schutzfunktion übernehmen und symbolische Signale setzen, nicht nur für diejenigen, die hinter dem Anschlag stecken, sondern auch für die, die politisches Kapital daraus schlagen wollen”
Jenseits des Staates?
Im Editorial weist Albrecht Koschützke darauf hin, daß die Autonomie der lateinamerikanischen Staaten (politisch und ökonomisch) seit jeher begrenzt war, die “Durchsetzung des neoliberalen Paradigmas (…) jedoch eine extreme Form von außen induzierter Transformation der nationalen Gesellschaften mit einer offenbar weiterreichenden Eingriffstiefe” darstellt. Bietet der neoliberale Staat neue Freiräume für die multinationalen Kapitale, ist seine nationale Autonomie nach dem Umbauprozeß der achtziger Jahre noch stärker reduziert. Auch die Binnenreichweite des lateinamerikanischen Staates war traditionell begrenzt. Er garantierte zumeist weder ein fächendeckendes Bildungs- und Gesundheitssystem, noch kümmerte er sich beispielsweise um die indianische Bevölkerung und die verarmten Massen.
Der Unterschied zu früher liegt darin, “daß die strukturellen Schwächen des Staates nunmehr zu Tugenden erklärt werden, daß die Vernachlässigung seiner sozialen Funktionen nicht mehr vorwerfbar, sondern lobenswert, weil freiheitsstiftend ist, daß nur rudimentäre staatliche Dienstleistungsangebote statt als Defizit jetzt zum Ziel deklariert werden, kurz, bestehende Not wird in eine Chance zur Entwicklung umgelogen. Praktisch heißt das: Der immer schon miserable Staat wird noch miserabler; er liquidiert Hoffnung, Erwartungen, Rechte und Ansprüche auf Zukunft und Entwicklung gerade für jene, deren eigene materielle Kraft schon bisher nicht ausgereicht hat, individuell Armut, soziale Ungerechtigkeit und Unterentwicklung erfolgreich anzugehen und die jetzt auf die Chancen des Wettbewerbs und des Marktes reduziert werden.”
Die negativen Auswirkungen der Privatisierung staatlicher Funktionen beschreibt Thomas Fatheuer in seiner Analyse der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro: Ganze Stadtviertel werden von Drogenbanden, Glücksspielkartellen und Todesschwadronen kontrolliert. Das Problem ist hierbei, wie so oft, jedoch weniger die Aufgabe des staatlichen Gewaltmonopols – die Polizei wird von den BewohnerInnen der Favelas eher als Bedrohung denn als Schutz gesehen und ist zudem mit den Strukturen privater Gewalt “symbiotisch verwachsen” -, sondern ganz allgemein die Macht der Gewalt über die Gesellschaft. Auch jenseits des Gewaltmonopols werden die staatlichen Aufgaben wie Bildungs- und Gesundheitssystem zunehmend privatisiert und von Drogen- und Glücksspielbossen übernommen. In der tiefgreifenden sozialen Krise bilden sich laut Fatheuer “neue Formen einer sich barbarisierenden gesellschaftlichen Vermittlung, die vielleicht, und das ist das Bestürzende, gar nicht so schlecht funktionieren.” Vor allem aber wirken sie systemstabilisierend, begünstigen “autoritäre und faschistische Antworten” und erschweren den Aufbau basisorientierter Alternativen innerhalb der Favelas.
Daß der Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung und der Abbau der staatlichen Regulierungsfunktionen auch Chancen bietet und die politische Organisierung der Betroffenen fördern kann, zeigt Juliana Ströbele-Gregor anhand des Hoch- und Tieflands Boliviens. Der (Wieder-)Aufbau basisorientierter Entscheidungsstrukturen und Organisationen der indianischen Landbevölkerung in den achtziger Jahren resultierte aus der Notwendigkeit, der Austeritätspolitik der bolivianischen Regierungen zu begegnen, wurde aber auch durch die neuen Freiräume erleichtert, die der Rückzug von “Stiefvater Staat” schuf. Der unabhängige Organisierungsprozeß beförderte gleichzeitig ein neues Selbstbewußtsein und die Besinnung auf die eigenständige kulturelle Identität und Tradition der indianischen Bevölkerung. Zwei Faktoren spielten in diesem Prozeß eine bedeutsame Rolle: die Führungspersönlichkeiten und die Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Hatten erstere als “soziale Grenzgänger” eine wichtige Funktion als “Mittler von Ideen, Werten, politischen Vorstellungen und Kontakten” nutzten die Basisorganisationen die NGOs insbesondere zur Finanzierung notwendiger Projekte und Hilfsmaßnahmen. Dabei erwies sich die massive Ausbreitung der NGOs nicht nur als positiv: mit der Macht des Geldes korrumpierten sie Führungspersönlichkeiten und zerstörten gewachsene Dorfstrukturen.
Diese Ambivalenz der NGOs in ganz Lateinamerika diskutiert Albrecht Koschützke in seinem Artikel über “Die Lösung auf der Suche nach dem Problem: NGOs diesseits und jenseits des Staates”. Waren diese in den Jahren der Diktatur in vielen lateinamerikansichen Ländern oft dem antidiktatorialen Kampf verpflichtet und nicht selten ein Refugium für Oppositionelle, veränderten sie sich mit dem Redemokratisierungsprozeß der frühen achtziger Jahre und übernahmen oft die Aufgaben, die der neoliberale Staat nicht mehr zu erfüllen bereit war – während der Staat “immer weniger Staat wird und sich qua Privatisierung schrittweise auf reine Vermittlerfunktionen reduziert, also tendenziell einer NGO ähnlich wird”. Ohne die Bedeutung der NGOs, die seit den achtziger Jahren einen riesigen Boom erleben, in vielen Teilbereichen in Frage zu stellen, kritisiert Koschützke die verbreitete Meinung, daß diese per se effizient, kostengünstig, uneigennützig, demokratisch und basisnah seien. In der Realität bilden sich durch den expandierenden Hilfemarkt vielmehr neue Abhängigkeiten. Zudem bestehe die Gefahr, daß die NGOs, statt demokratisches Bewußtsein, Erfahrung und Organisierung zu fördern, in der Praxis insitutionelle und soziale Prozesse demokratischer Teilhabe untergraben.
Aus einer ganz anderen Perspektive untersucht Lothar Witte den Privatisierungsprozeß der letzten Jahre: Anhand der Reform der Sozialversicherung in Chile, Peru und Kolumbien macht Witte deutlich, daß die Ausformung der notwendigen Veränderungen in hohem Maße von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängt. Das “chilenische Modell”, das während der Diktatur realisiert wurde, trägt vor allem den Interessen des Privatkapitals Rechnung. Die kolumbianische Reform berücksichtigt zumindest zum Teil auch die sozialen Interessen der einkommensschwachen Versicherten. Vor allem aber zeigt Witte – dem das Verdienst gebührt, ein so trockenes Thema wie eine Versicherungsreform anregend und anschaulich dargestellt zu haben -, daß weder ein staatliches System automatisch sozial gerechter, noch ein privates effizienter ist.
Hans Petter Buvollen und Robert Große zeichnen den schwierigen und widersprüchlichen Autonomieprozeß an der nicaraguanischen Atlantikküste nach. Historisch von der Zentralregierung in Managua kaum beachtet, begann erst die sandinistische Regierung Anfang der achtziger mit dem verstärkten Aufbau staatlicher Institutionen und Entwicklungsprogramme – und machte vieles falsch. Nachdem sich insbesondere die Miskito dem bewaffneten Widerstand gegen die Revolutionsregierung angeschlossen hatten, initiierte die FSLN einen Verhandlungsprozeß, der 1987 in die Verabschiedung eines Autonomiegesetzes mündete. Der Widerspruch zwischen den wirtschaftlichen und politischen Interessen der Zentralregierung und den BewohnerInnen der Atlantikküste, zwischen Staat und Gesellschaft, wurde allerdings bis heute nicht gelöst. Die Atlantikküste ist noch immer “Spielball von Kräften, die außerhalb der Region liegen”.
Den Schwerpunkt des Jahrbuchs beschließt eine – bereits in den Lateinamerika Nachrichten Nr. 241/242 vorabgedruckte – sehr persönliche Einschätzung von Ingrid Kummels über die Gleichzeitigkeit von Sozialismus, Kapitalismus und Santería für die Menschen in Kuba. In Gesprächen mit FreundInnen und Familienmitgliedern hat Kummels festgestellt, wie in den letzten Jahren der ökonomischen Krise die Santería für die Menschen zu einem wichtigen Bezugspunkt ihrer Alltagskultur “jenseits des sozialistischen Staates” wurde. Auch die Regierung hat ihre rigide Haltung gegen diese Volksreligion in den achtziger Jahren gelockert: “Ihre Strategie war, die Musik und die Rituale der Santería durch ihre Folklorisierung für den Tourismus zu nutzen und zugleich deren religiöse Bedeutungen auszuhöhlen.” Doch die AnhängerInnen der Santería entzogen sich auf ihre eigene Art dieser Funktionalisierung.
Insgesamt bietet der Schwerpunkt des diesjährigen Jahrbuchs einen interessanten Einblick in die Prozesse, die jenseits des (neoliberalen) Staates vor sich gehen. Erfreulicherweise werden nicht nur die negativen Auswirkungen der neoliberalen Restrukturierung analysiert, sondern auch die Chancen berücksichtigt, die der Rückzug des Staates bietet. Dies hätte allerdings noch vertieft werden müssen: Wie in dem Beitrag von Juliana Ströbele-Gregor über die Bauernorganisationen in Bolivien deutlich wurde, sind die sozialen Bewegungen entscheidende Akteure, um der neoliberalen Transformation Widerstand entgegenzusetzen. Auf sie wird allerdings kaum eingegangen. Hier hätte sich – ähnlich dem Beitrag über die NGOs – ein Überblick über die sozialen Bewegungen in Lateinamerika angeboten.
Abgerundet wird das Jahrbuch wie in jedem Jahr durch Länderberichte: Diesmal über Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Kuba, Mexiko und Peru. Wer keine brandaktuellen Informationen erwartet – Redaktionsschluß war bereits im April -, wird auch diese Berichte mit Gewinn lesen.
Jenseits des Staates?. Lateinamerika – Analysen und Berichte 18, hrsg. von Dietmar Dirmoser u.a., Horlemann Verlag (Bad Honnef), 278 Seiten, 29,80 DM, ISBN 3-89502-008-7
Editorial Ausgabe 243/244 – September/Oktober 1994
Haitianische und kubanische Flüchtlinge streiten um den Platz in den Zeltstädten des US-Marinestützpunktes Guantánamo, jenes ehernen Monuments offen imperialistischer Zeiten der US-Politik. Kuba und Haiti, zwei Länder, zwei Krisen. Und an beiden sind die USA beteiligt, sowohl heute als auch an ihrer Entstehungsgeschichte.
Das Militär, das bis heute eine demokratische Entwicklung Haitis verhindert, wurde – wie auch in so vielen mittelamerikanischen Staaten – unter der Ägide der USA aufgebaut. Kubas Revolution kam an die Macht, weil der von den USA unterstützte Diktator Batista für die Bevölkerung unerträglich geworden war. Die uralte Monroe-Doktrin, nach der außeramerikanische Mächte keinen Einfluß auf die Hemisphäre ausüben dürfen, setzte sich in den Zeiten der Systemkonfrontation fort, noch dazu ideologisch aufgeladen durch einen fanatischen Antikommunismus. Linke Regierung = sowjetischer Einfluß, das wurde zur Self-Fulfilling-Prophecy und im nächsten Schritt zur Rechtfertigung der Counterinsurgency-Doktrin.
Von außerhemisphärischem Einfluß kann heute keine Rede mehr sein, ebensowenig wie vom weltweiten Kampf gegen den Kommunismus. Hat sich damit die ideologische Grundlage der US-Lateinamerikapolitik verändert? Sollten andere Werte heute im Vordergrund stehen, vielleicht gar Menschenrechte und Demokratie, die bislang so offenkundigen Worthülsen, um den Hegemonieanspruch der USA zu bemänteln?
Wenig spricht dafür. Die US-Politik scheint nur an einem interessiert: Ruhe im Hinterhof – will heißen, keine Aufstände und keine Flüchtlingsbewegungen – und freie Bahn für die eigenen wirtschaftlichen Interessen. In weiten Teilen des Kontinents scheint es gelungen zu sein: Von Chile bis Mittelamerika herrscht relative Stabilität, und das neoliberale Modell steht alternativlos da.
Bleiben Kuba und Haiti, die politischen Altlasten von Jahrzehnten US-amerikanischer Lateinamerikapolitik, für die in Washington hilflos nach Entsorgungskonzepten gesucht wird. Nur, eben diese fehlen. In Haiti laviert Clinton zwischen Nichtstun und Invasionsdrohungen und verschleppt damit die Krise immer mehr. Das Thema Kuba läßt währenddessen in den USA anachronistische ideologische Reflexe wiederauferstehen. Die Folge: In fataler Wechselwirkung mit der Unbeweglichkeit des Castro-Regimes wird die Krise durch das Embargo und dessen Verschärfung noch geschürt.
Je länger sich die Krisen hinziehen, umso mehr werden in beiden Ländern nicht nur Volkswirtschaften, sondern ganze Gesellschaften zerstört. Wo soziale Strukturen immer brüchiger werden, wo keine Perspektiven mehr sichtbar sind, sondern Angst vor Chaos oder, wie in Haiti, vor brutalem Terror herrscht, denken auch die, die gerne bleiben würden, an Flucht. Die US-Politik steckt in einem Dilemma. Worauf eigentlich sollen in Zukunft leidlich stabile Demokratien aufbauen, wenn soziale Strukturen zuvor so nachhaltig zerstört werden? An die Stelle einer Macht, die sich auf ein Minimum an funktionierender Zivilgesellschaft stützt, könnten nur wieder autoritäre Regimes treten. Man sollte in Washington gelernt haben, daß Ruhe im Hinterhof damit auf Dauer gerade nicht zu erreichen sein wird. Es sei denn, den US-Strategen erscheint dies als kleineres Übel gegenüber der Aussicht, ein geregelter Übergang und stabilere demokratische Verhältnisse könnten in Zukunft auch US-kritischen Tendenzen in Kuba und Haiti politische Spielräume für Veränderungen eröffnen, die sich den von Washington gewünschten Spielregeln entziehen. Altes Denken im Weißen Haus.
Insektizide auf Santiago
Der Insektizideinsatz über Santiago wurde mit der Entdeckung von rund 20 Fruchtfliegen, Schädlingen an Obstbäumen, begründet. Sie waren den Angestellten des “Servicio Agrícola y Ganadero” (SAG – Land- und Viehwirtschaftsbehörde) am 21. Februar bei den regelmäßig stattfindenden Kontrollen aufgefallen. Zehn Tage ließ die Behörde danach verstreichen, um dann am 2. März völlig unvermittelt mit der Sprühaktion zu beginnen, ohne die zuständigen Ratsmitglieder und die Bevölkerung zu informieren. Am 5.März kündigte der Leiter des SAG an, innerhalb der nächsten vier Wochen seien weitere vier bis neun Sprühflüge über denselben Stadtvierteln notwendig. Die Versuche der BewohnerInnen, sich mit Papiertüchern vor dem Mund zu schützen, konnten dabei nicht mehr sein als eine hilflose Geste.
Schon nach der ersten Sprühaktion herrschte in den betroffenen Gebieten Empörung und Unverständnis. In den Zeitungen wurde relativ breit darüber berichtet, vor dem SAG-Gebäude fanden Kundgebungen von Umweltschutz-und Jugendorganisationen statt. Die zu Protestversammlungen zusammengekommenen lokalen BürgermeisterInnen sprachen sich allerdings mehrheitlich nicht gegen die Aktion als solche aus, sondern gegen den Mangel an Information und Absprache seitens des SAG. Bei den späteren Sprühflügen wurden die lokalen Stadtverwaltungen und die Öffentlichkeit vorher zumindest über den Termin informiert.
Tierfutter ins Haus!
Zur Kanalisation der Unruhe richteten die Kommunen ein Beschwerdetelefon ein. In den ersten drei Tagen gingen dort 460 Anrufe ein. Gemeldet wurden u.a. 97 Asthmaanfälle, 82 Fälle von Augenreizungen, mindestens zehn Menschen mit erhöhtem Blutdruck. Es gab auch einen Todesfall – jeglicher Zusammenhang mit der Besprühung wurde allerdings von den Behörden kategorisch abgestritten. Überhaupt wurde die Behörde nicht müde zu beteuern, wie absolut ungefährlich Malathion für Menschen und Tiere sei, und daß – trotz der gemeldeten und belegten Gesundheitsbeschwerden der BewohnerInnen – keinerlei Risiko bestehe. Paradox mutet da die Empfehlung an, als Vorsichtsmaßnahme kein Tierfutter draußen stehen zu lassen, keine Wäsche aufzuhängen und im Haus zu bleiben, wenn die Flugzeuge kommen. Das hochtoxische Nervengift beschrieb die Behörde als “Sexuallockstoff für die Fruchtfliegen”, was sich wesentlich freundlicher anhört, aber kaum haltbar sein dürfte.
Exporterfolg Obst
Der Obstexport ist im “Modell Chile” ein so wichtiger Pfeiler der Wirtschaft geworden, daß die Behörden zu so drastischen Maßnahmen greifen. Der Präsident der Sociedad Nacional de Agricultura (SNA, Nationale Landwirtschaftsgesellschaft) Ernesto Correa sprach offen aus, worum es geht. Er bezeichnet die Besprühung der Stadtviertel als “tolle Sache” und beglückwünschte den SAG dazu. Correa weiter: “Wieviele Proteste es auch geben mag, es ist unbedingt notwendig, einen guten Hygienestand zu haben, um Märkte (für Fruchtexporte-Verf.) zu öffnen und weiterhin in andere Länder zu exportieren… um den komparativen Vorteil (Chiles gegenüber anderen Obstexportländern) zu sichern.” Auch der Präsident der Vereinigung der Exporteure, Ronald Brown, warb bei der Bevölkerung um Verständnis für die “Lösung dieses Problems, das die Wirtschaft des Landes beeinträchtigen kann”. Der Leiter des SAG, Sánchez, prognostizierte, die Lage auf den internationalen Märkten werde sich verkomplizieren, gelinge es nicht, die Fruchtfliege schnell unter Kontrolle zu bringen. Denn die Importeure chilenischen Obstes, allen voran die USA, die allein 60 Prozent der chilenischen Früchte abnehmen, reagierten empfindlich. So mußte das Auftauchen der Fruchtfliege umgehend dem Landwirtschaftsministerium der USA gemeldet werden. Wird die Fruchtfliege dann nicht mit allen Mitteln bekämpft, werden Importbeschränkungen ausgesprochen.
Die Konkurrenten würde es freuen. Südafrika, Neuseeland, Spanien, Italien, Brasilien und Argentinien bieten ebenfalls Obst an. Für Chile ist es zunehmend schwieriger geworden, seine Früchte auf dem immer weiter abgeschotteten EG-Markt, nach den USA zweitwichtigster Handelspartner, loszuwerden. 1993 belegte die EG die chilenischen Äpfel mit Schutzzöllen, die Folge waren Verluste von 129 Mio. US-Dollar für die chilenischen Exporteure. Nur noch halb soviele chilenischen Kiwis dürfen verglichen mit dem Vorjahr auf den EG-Markt, und das noch dazu zu einem schlechteren Preis. Neue Märkte sollen diese Verluste ausgleichen. Die Exporte in die lateinamerikanischen Nachbarstaaten konnten von 1993 auf 1994 um 54 Prozent gesteigert werden. Angesichts des enormen Konkurrenzdrucks der beteiligten Länder untereinander dürften diese Märkte jedoch begrenzt bleiben. Im März 1994 führte der Fund einer einzigen Raupe in einer Ladung chilenischen Obstes in Mexiko zu einem Importverbot für die gesamte betroffene Fracht im Gesamtwert von sechs Millionen US-Dollar.
Der Obstanbau für den Export wurde während der Pinochet-Diktatur im Rahmen der neoliberalen Umgestaltung besonders gefördert und machte eine atemberaubende Entwicklung durch. Der “Erfolg” war so groß, daß der Obstexport als einer der Motoren des Modells bezeichnet wurde. In den 80er Jahren entwickelten sich die Obstanbau und Fischerei zu den nach dem Kupferbergbau zweitwichtigsten Exportbereichen.
1973 exportierte Chile lediglich 45,1 Tonnen frisches Obst, 1992 1,2 Mio. Tonnen. Chile hat heute einen Weltmarktanteil am Handel mit nicht-tropischen Früchten von 13 Prozent. Der Exportwert der Früchte machte 1987 527 Mio. US-Dollar aus. Der Anteil des Obstes am Gesamtexport Chiles belief sich 1989 auf 11 Prozent. 1991 hatte sich dieser Betrag fast verdoppelt (993 Mio. US-$) und fiel 1992 wieder leicht.
Monokulturen für Devisen
Die Exporte verteilen sich auf fünf Früchte: Pflaumen, Kiwis, Äpfel, Birnen und vor allem Weintrauben, die 1992 allein 425 Mio. US-Dollar ausmachten. Die Zahl der Arbeitsplätze im Obstanbau, von denen die meisten saisonal begrenzt sind, stieg dagegen nur von 33.000 zwischen 1970 und 1973 auf 88.000 im Jahr 1993.
Die extreme Erhöhung der Produktivität in den achtziger Jahren ist darauf zurückzuführen, daß in der Zeit der Pinochet-Diktatur transnationale Konzerne riesige Ländereien aufkauften, um dort pestizid- und düngeintensive Monokulturen für den Export entstehen zu lassen. Zur Zeit gibt es etwa 300 Exportunternehmen, von denen nur 30 Prozent überhaupt einen nennenswerten Marktanteil haben. Die größten zehn Unternehmen teilen sich dabei 60 Prozent des Exportvolumens.
Viele ehemalige Kleinbauern ziehen inzwischen als Saisonkräfte durch das ganze Land, je nachdem, wo gerade Erntezeit ist. Zwar gab es auch schon vor der Umstrukturierung SaisonarbeiterInnen, aber damals kamen auf eine Saisonkraft vier LandarbeiterInnen mit fester Arbeit. Heute ist dieses Verhältnis umgekehrt. Die Zahl der SaisonarbeiterInnen in diesem Bereich bewegt sich zwischen 500.000 und 800.000 bei einer Gesamtbevölkerung von nur 13 Mio. Menschen. Angesichts dieser Zahlen werden auch die offiziellen Arbeitslosenstatistiken besser verständlich. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt in Chile lediglich bei ca. fünf Prozent. Die Saisonarbeitskräfte, die keine feste Arbeit haben und immer wieder Zeiten der Arbeitslosigkeit überbrücken müssen, finden in dieser Berechnung keinerlei Berücksichtigung.
Entscheidung für die Zukunft
Bis zum 2. Juli müssen sich alle BeitragszahlerInnen entscheiden, ob sie im öffentlichen Rentensystem bleiben wollen oder Mitglied einer der über zwanzig privatwirtschaftlichen Administradoras de Fondos de Jubilaciones y Pensiones (AFJP) werden wollen.
Nachdem der Ausverkauf der Staatsunternehmen inzwischen fast abgeschlossen ist, zieht sich der Staat als Akteur nun auch immer weiter aus dem sozialen Sektor zurück. Argentinien ist damit nach Chile das zweite Land des Cono Sur, das seine Rentenversicherung privatisiert. Doch während in Chile die Altersversorgung ausschlie?lich nach dem neoliberalen Motto “JedeR spart für sich allein” funktioniert, wurde in Argentinien nach heftigen Diskussionen schlie?lich die Koexistenz eines öffentlichen und eines privaten Systems gegen die Lobby der zukünftigen Versicherungsträger, vor allem nationale und internationale Banken, durchgesetzt. Beide Länder haben sich damit von der Idee des Generationenvertrages zur Sicherung der Renten verabschiedet, wobei aber die Rente in Argentinien noch stärker den Charakter einer Versicherung behält.
Dies war auch deshalb möglich, weil sich inzwischen gezeigt hat, da? die chilenischen privaten Rentenversicherungs-träger weit weniger rentabel für die EinzahlerInnen sind als vorher angenommen worden war. Sie hatten auf eine Verzinsung der Einzahlungen von jährlich mindestens fünf Prozent spekuliert. Davon wird auch in Argentinien ausgegangen. Die rentabelsten chilenischen Unternehmen haben aber bisher nur um die vier Prozent, die schlechtesten sogar unter zwei Prozent erreicht. Das unabhängige Arbeitsforschungsinstituts PET in Chile geht in seinen Prognosen davon aus, da? eine Mehrheit der EinzahlerInnen später Auszahlungen unterhalb der Mindestrente erhalten wird. Das dreigliedrige argentinische System wird das vermeiden.
Dreigeteilte Rente
Jede Rente wird sich in Zukunft aus drei Teilen zusammensetzen: in beiden Systemen zahlt der Staat die Prestación Básica Universal (PBU), eine Grundrente von ungefähr 150 Peso (ca. 250 DM) und die Prestación Complementaria (PC), eine Ausgleichszahlung für die bis zum Eintritt ins neue System geleisteten Beiträge. Diese Leistungen will der Staat aus den ArbeitgeberInnenbeiträgen und den höheren Beiträgen Selbständiger finanzieren. Im dritten Teil der Rentensumme unterscheiden sich das staatliche und das private System.
Für die Höhe der Zahlungen im staatlichen System ist der Durchschnittslohn der letzten zehn Jahre vor der Pensionierung entscheidend. Wer allerdings insgesamt weniger als 30 Jahre lang eingezahlt hat, bekommt nur die Grundrente ausgezahlt. Menschen, die lange arbeitslos sind, oder Unterbrechungen machen, wie häufig Frauen zur Kindererziehung, gehen also das Risiko ein, ihre gesamten Einzahlungen zu verlieren. Und bei 3660 Peso, das sind ungefähr 6200 DM, ist in der staatlichen Versicherung die maximale Auszahlung erreicht. Deshalb werden diejenigen mit einem hohen Einkommen in die Privatversicherungen gehen. Denn hier bestimmen die gesamte, individuell angesparte Geldmenge, sowie die Lebenserwartung und Familiensituation die Höhe der Rente.
Für wen lohnt sich was?
Der ideale Klient einer privaten AFJP ist deshalb heute unter 35 Jahre alt, nicht behindert, ledig, kinderlos, festangestellt mit guten Aufstiegschancen. Eine Frau mit gleichen “Voraussetzungen” in gleicher Position wird allein aufgrund ihrer längeren Lebenserwartung schon eine geringere Rente bekommen. Unglücklicherweise geht sie auch schon mit 60 in Rente, während der Mann noch fünf Jahre weitersparen kann. Doch eine jüngere Ehefrau, deren Lebensalter in die Berechnung einbezogen wird, würde auch seine Rente verringern.
Wer unter 3660 Peso verdient, wer gar nur den Mindestlohn von 200 Peso verdient oder häufig arbeitslos ist, wer riskiert, in den letzten zehn Jahren vor der Rente arbeitslos zu sein und eine viel jüngere Frau heiraten will, obwohl er schon 55 ist; wer insgesamt weniger als 30 Jahre seines Lebens arbeiten will…, kann versuchen, die individuellen Vor- und Nachteile der Systeme zu vergleichen. Es wird kaum gelingen. Auch zum Vergleich der unterschiedlichen Beitragssätze bleibt in zwei Monaten wenig Zeit. Wenigstens sieht das Gesetz vor, da? die Mitglieder bis zu zwei Mal im Jahr die AFJP wechseln können.
Staatliche Kontrolle
Die Aufgabe der staatlichen Kontrollbehörde Superintendencia de AFJP besteht darin, über die Zulassung der Gesellschaften zu entscheiden, die Trennung zwischen Eigenkapital und Beiträgen bei den einzelnen AFJP zu überwachen und täglich die Transaktionen der bestehenden Unternehmen auf dem Kapitalmarkt zu kontrollieren. Die Superintendencia selbst finanziert sich durch Zahlungen der Versicherungsgesellschaften. Es bleibt zu hoffen, daß ihre MitarbeiterInnen nicht bald schon in den nächsten großen argentinischen Bestechungsskandal verwickelt sein werden.
Die inzwischen über zwanzig zugelassenen AFJP erwarten kräftige Gewinne. Alle nationalen und viele internationale Banken betreiben eigene Gesellschaften, die, so hoffen sie, bald fünf Millionen Mitglieder haben werden. Das würde ein monatliches Anlagevolumen von ungefähr 300 Millionen Peso bedeuten. Vom Beitrag der EinzahlerInnen, 11 Prozent des Lohnes, behält die Gesellschaft ungefähr ein Drittel ein, zwei Drittel bekommt die Einzahlerin verzinst. Konkurrenz zwischen Banken und Gewerkschaften
Den Konkurrenzkampf um Platz eins unter den AFJP werden voraussichtlich Siembra der Bankengruppe Citibank und Banco Rio sowie Nación der Banco Nación austragen, die beide mit ungefähr 600.000 Mitgliedern rechnen. Um Platz drei werden sich wahrscheinlich Máxima, an der auch die Deutsche Bank beteiligt ist, Previnter von der Boston Bank und Consolidar mit Beteiligung der Dresdener Bank schlagen. Allgemein wird davon ausgegangen, da? langfristig nur etwa zehn der heute einundzwanzig AFJP’s überleben werden.
Nicht nur Banken, sondern auch einige der gro?en Gewerkschaften wie beispielsweise die Energiegewerkschaft Luz y Fuerza sind an AFJP’s beteiligt. Manche haben schon im voraus wie die Metallergewerkschaft gegen Provision ihre Mitglieder an eine der Versicherungen verschachert und hoffen, sich später direkt beteiligen zu können. Dahinter steckt natürlich einerseits das Interesse, den Banken nicht die Gewerkschaftsklientel und die absolute Macht auf dem Kapitalmarkt zu überlassen. Andererseits sind die Sozialwerke der Gewerkschaften gefährdet, weil einige der AFJP’s auch gleichzeitig Kranken- und andere Versicherungen anbieten wollen. Da wollen nun die gewerkschaftseigenen Gesellschaften natürlich mithalten.
Doch nicht alle Gewerkschaften sind von der Privatversicherung überzeugt. Die innerhalb des Gewerkschaftsdachverbandes CGT agierende Oppositionsgruppe MTA (Movimiento de Trabajadores Argentinos), der zum Beispiel die Transportgewerkschaft angehört, empfiehlt ihren Mitgliedern, mindestens noch ein halbes Jahr im staatlichen System zu verbleiben, um dann die Situation einschätzen und die Verzinsung in den unterschiedlichen AFJP’s vergleichen zu können.
Der oppositionelle Gewerkschaftsverband CTA (Congreso de Trabajadores Argentinos), dem viele Angestellte des Staates und der Provinzen angehören, hatte schon im Vorfeld eine Million Unterschriften gegen die Privatisierung der Rentenversicherung gesammelt. Entsprechend rät er seinen Mitgliedern die staatliche Versicherung.
Angst vor wirtschaftlicher Instabilität
Niemand bestreitet, da? das bisherige argentinische Rentenversicherungssystem nicht mehr funktioniert. Seit Jahren ist die staatliche Rentenkasse fast leer, weil sie immer wieder dazu verwendet wurde, Löcher in anderen Bereichen des Haushalts aufzufüllen. Monatelang bekamen viele RentnerInnen deshalb nicht einmal ihre erbärmliche Mindestrente von 100 Peso ausbezahlt.
Eine Garantie für gutes Management der staatlichen Versicherung gibt es jetzt aber auch nicht, genausowenig wie die Sicherheit und Rentabilität der privaten Versicherungen garantiert sind. Vor allem die Angst vor wirtschaftlicher Instabilität macht die Entscheidung für viele ArgentinierInnen so schwierig. Nach dem Börsensturz in diesem Jahr wurden die Regelungen für Investitionen und Börsenspekulation der AFJP noch einmal verändert, und die Frage bleibt offen, was beim nächsten Börsenkrach passiert.
Die Regierung hat gleichzeitig wenig unternommen, die Entscheidungfindung der EinzahlerInnen zu erleichtern. Erst knapp einen Monat vor dem Beginn der Entscheidungsfrist hat sie eine spärliche Informationskampagne begonnen. In einem Comic wurden die Unterschiede zwischen beiden Systemen dargestellt, das private System aber als vorteilhafter vermittelt. Die weit wichtigere, allerdings eindeutig parteiische Informationsquelle sind so die knapp 30.000 VertreterInnen der einzelnen AFJP’s, die das Land mit Mengen von Werbematerial überschwemmen.
Das Gesetz sichert den Privaten au?erdem noch einen entscheidenden Vorteil zu:
Aus dem staatlichen System können die BeitragszahlerInnen jederzeit ins private wechseln. Wer sich in den zwei Monaten aber nicht explizit für den Verbleib im staatlichen System ausspricht, landet automatisch im privaten, ohne Möglichkeit der Rückkehr.
Henkel läßt weiterschnüffeln – fast überall
Auf dem International Forum for Child Welfare sprachen sich im letzten Jahr 45 Nationen für ein gemeinsames Vorgehen gegen die “zunehmende Zerstörung des lateinamerikanischen Kindes durch die Droge Klebstoff’ aus. Zudem wurde in vielen Veröffentlichungen vor den gesundheitlichen Folgeschäden der Klebstoffschnüffelei gewarnt. So schreibt Uwe von Dücker als Ergebnis seiner Untersuchung zur Aufdeckung der Schicksale lateinamerikanischer Straßenkinder im ded-Brief (Deutscher Entwicklungsdienst) 3/93: “Man weiß heute, daß Klebstoff, Lösungsmittel, Aerosole, Narkotine und ähnliche Stoffe Rauschmittel ganz besonderer Art sind. ihr Suchtpotential war je- doch den Herstellern so nicht bekannt. Bei dem Klebstoff handelt es sich um ein dem deutschen “Pattex” ähnliches Produkt, das in Lateinamerika unter unterschiedlichen Markenbezeichnungen vertrieben wird: In Argentinien ist es “Poxiran”, in Chile “Neopren”, in Peru “terocal”. […I Medizinische Untersuchungen über die Folgen der Klebstoffschnüffelei fanden wir trotz unserer regelmäßigen Nachfragen bei den die Straßenkinder behandelnden Ärzten in Lateinamerika nicht. Die Ärzte berichten uns jedoch von irreparablen Schädigungen der Stimmbänder, der Lunge, der Nieren, und der Zerebralfunktionen. Bei regelmäßiger Inhalation würden sich diese Schädigungen in besorgniserregender Geschwindigkeit verstärken und bereits nach einem Jahr als bleibende Behinderungen manifestieren.”
Uwe von Dücker ist Mitbegründer und Vorsitzender der “Internationalen Gesellschaft zur Förderung des lateinamerikanischen Kindes -educación para todos e.V.”.
Diese Organisation schrieb zusammen mit dem “deutschen Kinderschutzbund” und “CODECAL”, einem pädagogischen Ausbildungszentrum aus Bogota, im vergangenen September zum ersten Mal den Henkel-Konzern an: “Wir vertreten das Ziel, den allerorts in Lateinamerika auf die Straßen strömenden Kindern zu einer menschenwürdigen Zukunft zu verhelfen. Hierbei versuchen wir die am stärksten betroffene Gruppe, die auf der Straße lebenden Kinder, zu erreichen, und mit gezielten Programmen der Sozialarbeit zu unterstützen.” Weiter fordern sie eine Stellungnahme Henkels zu der weltweiten Produktion von Klebstoff und der Möglichkeit einer Entgiftung oder Einstellung der Produktion.
Henkel antwortet daraufhin: “Wir haben entschieden, zum 01.10.94 alle dem Endverbraucher in Zentralamerika angebotenen Kontaktkleber lösungsmittelfrei zu produzieren und auf den Markt zu bringen. Wir sind uns bewußt, daß wir damit einen Teil der Kunden aus dem Kleingewerbe verlieren werden, sind aber bereit, diese Verluste hinzunehmen.”
“Educación para todos” nahm diese Entscheidung zwar mit “Genugtung” entgegen, wies aber entschieden darauf hin, daß sich die Entgiftung von Pattex nicht allein auf den mittelamerikanischen Raum beziehen kann, wo Henkel nach eigenen Angaben nur mit 5-7 Prozent an der Klebstoffproduktion beteiligt ist. Es bleibt also abzuwarten, ob es Henkel nun wirklich um die Gesundheit der Straßenkinder geht, oder es sich einzig und allein um eine imageaufbessemde Alibiaktion handelt.
Vom 12.-17. September wird zum Thema Streetwork mit Straßenkindern ein internationaler Kongreß in Santiago/Chile stattfinden. Dort wird das zunehmende Problem der Klebstoffschnüffelei
zentrales Thema sein.
Kinder im Knast
Das Problem einsitzender Kinder und Jugendlicher wurde durch eine Katastrophenmeldung dem Vergessen entrissen: Im Februar starben im Gefängnis von La Serena acht Minderjährige, nachdem sie einen Brand gelegt hatten, darunter zwei Kinder im Alter von 12 und 14 Jahren. Weitere Jugendliche überlebten schwerverletzt. Eigentlich hätten sie gar nicht als Insassen in einem Gefängnis sein dürfen, denn auch nach chilenischem Recht sind Kinder nicht strafmündig. Daß sie doch dort waren, ist aber kein Einzelfall: Nach Angaben des Justizministeriums befanden sich im Juni 1993 etwa 700 Kinder in chilenischen Knästen.
Die Opfer des Brandes in La Serena waren von einem Jugendrichter eingewiesen worden, der die Haft für eine “Fürsorgemaßnahme” hielt. Für viele Kinder ist das Gefängnis eine Station zwischen ihren Heimaufenthalten. Es gibt keine Strafanstalten für Minderjährige; Allenfalls ein spezieller Trakt für Jugendliche, in dem diese zwar theoretisch, jedoch nicht tatsächlich von den erwachsenen Häftlingen getrennt untergebracht werden.
Daß Kinder im Knast sind, ist aber nur die skandalöse Oberfläche des Problems. Kaum weniger bedrückend ist die Situation der Jugendlichen, die in “Rehabilitationszentren” leben. Mit diesen geschlossenen Anstalten will sich die Gesellschaft vor einem Teil ihrer Jugend schützen, durch den sie sich bedroht fühlt. 8.000 Jugendliche kamen unter dem Pinochet-Regime jährlich hinter Gitter, in Gefängnisse oder geschlossene “Rehabilitationszentren”. Unter Aylwin sank diese Zahl auf ca. 6.500 im Jahr – eine Minderung, keinesfalls aber ein Bruch mit der gängigen Verwahrpraxis.
Klassenjustiz
Der Großteil der Jugendlichen und Kinder, die in Knästen leben, gehört den armen Bevölkerungsschichten an. Festgenommen werden sie wegen Diebstahl, Vagabundieren, Alkoholkonsum oder Klebstoffschnüffeln in der Öffentlichkeit. Die chilenische Gesellschaft bietet diesen jungen Menschen keine Chance zur Integration. Während nach offiziellen Angaben der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung während der Amtszeit Aylwins von 42 auf 33 Prozent sank, lebt die Hälfte der Kinder nach wie vor in Armut. Die Probleme bündeln sich: Zur materiellen Armut kommt oft eine generelle Vernachlässigung durch das Elternhaus. Die schlecht ausgestatteten staatlichen Kindergärten und Schulen können diese Defizite nicht ausgleichen. 60 Prozent aller chilenischen Jugendlichen besuchen kommunale Schulen. Wer es sich leisten kann, schickt sein Kind auf eine der teuren Privatschulen oder wenigstens auf eine staatlich subventionierte Privatschule. Beide Schultypen können ihre SchülerInnenschaft auswählen, leistungsschwache oder problematische SchülerInnen also ablehnen. Diese Selektion und die völlig unzureichende Finanzierung haben das öffentliche Schulwesen ruiniert. Der neue Erziehungsminister faßt das Versagen in folgenden Zahlen zusammen: Vier von zehn ViertklässlerInnen verstehen die Texte nicht, die sie mühsam buchstabierend lesen. An Schulen in armen Gemeinden trifft dies sogar auf drei von vier SchülerInnen zu. Wenn sie von der Schule abgehen, bleiben die meisten Jugendlichen bei der Suche nach Arbeit sich selbst überlassen. Ein berufsvorbereitendes System, das gerade Kindern armer Eltern helfen könnte, gibt es nicht.
In den vergangenen vier Jahren wurden 700.000 Jugendliche auf bloßen Verdacht hin festgenommen. Werden Jugendliche unter 16 Jahren von der Polizei aufgegriffen, gibt es zwei Möglichkeiten: Stammt der/die Betroffene aus besseren Kreisen, wird das Problem mit einem Anruf zu Hause gelöst. Ein armes Kind wird dem JugendrichterInnen vorgeführt, der/die es entweder der Familie übergibt – sofern diese Interesse daran hat – oder in ein “Rehabilitationszentrum” einweist. Während der/die RichterInnen seine/ihre Entscheidung trifft, ohne dabei an zeitliche Vorgaben gebunden zu sein, werden die Jugendlichen in einem Diagnosezentrum (COD) aufbewahrt. Mitunter verfügen RichterInnen jedoch unter klarer Rechtsbeugung, daß die Betroffenen zunächst in einem Gefängnis unterzubringen sind.
Je früher in den Knast desto besser
Chile ist das einzige Land in Lateinamerika, in dem das Strafrecht für 16 bis 18jährige Jugendliche ein Relikt aus dem vorigen Jahrhundert darstellt: Die Entscheidung über die strafrechtliche Urteilsfähigkeit. Kommt ein/e RichterIn anhand eines psychologischen Gutachtens zu der Überzeugung, der oder die Jugendliche habe das Unrecht der Tat erkennen können, wird er oder sie als ErwachseneR behandelt; lediglich das Strafmaß wird im Falle einer Verurteilung leicht abgeschwächt. Wird keine Strafmündigkeit unterstellt, entscheidet der/die RichterIn nach Gutdünken.
Pfiffige Jugendliche wissen das Für und Wider des Unrechtsbewußtseins abzuwägen. Mit 16 Jahren strafrechtlich als erwachsen behandelt zu werden, bringt nicht notwendigerweise Nachteile mit sich. Der/die RichterIn muß nämlich innerhalb von fünf Tagen eine konkrete Anschuldigung erheben oder aber die Freilassung aussprechen. Die Beschuldigten haben das Recht auf anwaltlichen Beistand und eventuell auf Haftverschonung.
Richterliche Willkür
Hält der/die RichterIn das Unrechtsbewußtsein für nicht gegeben, ist aber davon überzeugt, daß der oder die Jugendliche eine Gefahr für die Gesellschaft darstellt, beschließt die Justiz die Einweisung in ein “Rehabilitationszentrum”. Sie entscheidet dabei nach eigenem Ermessen und ist an keinerlei Verfahren gebunden. Es gibt weder Anspruch auf einen Rechtsbeistand noch auf die Hinzuziehung von SozialarbeiterInnen. Die RichterInnen sind nicht einmal dazu verpflichtet, die Betroffenen überhaupt anzuhören. Die allgemeine Tendenz der Rechtsprechung ist nach Angaben der Kinderrechtsorganisation GAN deutlich von Medienkampagnen über steigende Jugendkriminalität abhängig. Steigt die Zahl der Delikte – sei es tatsächlich oder nur in der öffentlichen Wahrnehmung – nimmt offensichtlich auch die unterstellte Einsichtsfähigkeit der verhafteten Jugendlichen zu.
Die Chancen für eine Reform stehen schlecht. 1993 brachte die Aylwin-Regierung eine Gesetzesvorlage ein, mit der die Entscheidung über das Unrechtsbewußtsein abgeschafft werden sollte. Die ultrarechte Senatsmehrheit blockierte diese Novelle nicht nur, sondern trat im Gegenteil für eine Verschärfung des Strafrechts ein. Die Altersgrenze für Strafmündigkeit sollte auf 17 Jahre gesenkt und die Feststellung des Unrechtsbewußtseins auch auf 14jährige ausgedehnt werden. Um Schlimmeres zu verhüten, zog die Regierung ihre Vorlage zurück.
Resozialisierung: Der Einstieg in die Kriminalität
Nach Ansicht von GAN bieten weder Gefängnisse noch “Rehabilitationszentren” den Jugendlichen die Chance zur Resozialisierung. Während der langen Einschlußzeiten in den Massenzellen von 17 Uhr nachmittags bis 8 Uhr morgens bleiben die Jugendlichen sich selbst überlassen. In diesem Zeitraum entfaltet sich die interne Hierarchie der Insassen in ihrer ganzen Brutalität. Die “Sozialisierung”, die die Minderjährigen im Knast erfahren, fördert das Abrutschen in die Kriminalität.
In den “Rehabilitationszentren” mangelt es sowohl an ausgebildetem Personal als auch an sinnvollen Betreuungsprogrammen. Angesichts des Milieus, aus dem die meisten Jugendlichen kommen, müßte statt für Resozialisierung zunächst einmal für Sozialisierung gesorgt werden. Der Personalmangel macht individuelle Betreuung unmöglich. Die handwerklichen Ausbildungsprogramme sind schlecht und reichen kaum für eine berufliche Qualifizierung aus. Die Jugendlichen merken nur allzu deutlich, daß die Gesellschaft nicht bereit ist, ihnen positive Perspektiven zu bieten.
Vor wenigen Wochen wurde in Santiago, in der Kommune San Bernardo, das erste Jugendgefängnis Chiles eröffnet. In einem Pilotprojekt sollen 120 Jugendliche von SozialarbeiterInnen und PsychologInnen betreut werden und ein sinnvolles Ausbildungsprogramm angeboten bekommen. Die herkömmlichen bewaffneten Gefängniswärter sollen nur noch den Außenring der Anstalt sichern. Doch auch wenn dieses Projekt positiv verlaufen sollte, bliebe vieles zu tun.
Noch immer fehlt das öffentliche Bewußtsein darüber, Jugendkriminalität als Folge sozialer Ungerechtigkeit wahrzunehmen. Diejenigen, die lauthals nach einer Verschärfung der bestehenden Gesetze schreien, sind keinesfalls eine kleine Minderheit. Im gegenwärtigen innenpolitischen Klima für das Problem der Kinder in Knästen keine Lösung in Sicht.
Kasten:
Das Diagnosezentrum in San Joaquín
Auch wo guter Wille für den Umgang mit straffällig gewordenen Jugendlichen vorhanden ist, lassen die bestehenden Strukturen nur wenig Spielraum. Welche Möglichkeiten haben Diagnosezentren (COD), in denen Minderjährige untergebracht werden, die am Knast vorbeigekommen sind?
Bis zum Ende der Diktatur war das COD in San Joaquín, einem Stadtteil Santiagos, ein privates Unternehmen. Die ursprüngliche Belegzahl von 120 Jugendlichen im Jahr 1982 erwies sich als unrentabel. Die staatlichen Subventionen stagnierten. Um einen Gewinn zu erzielen, wurden schließlich 300 Jugendliche zusammengepfercht. Die drohenden Folgen der Überbelegung sollten durch das harte Durchgreifen des Wachpersonals unterbunden werden.
Das COD in Dan Joaquín betreut heute 120 Jungen im Alter zwischen 14 und 17 Jahren. Die reduzierte Belegung hat dazu geführt, daß die Gewalt unter den Jugendlichen abgenommen hat. In der Regel reicht die Androhung von Rauchverbot, um Schlägereien zu verhindern. Jeden Montag werden neue Insassen vom Polizeisammelrevier für Kinder und Jugendliche “angeliefert”. Sie bleiben im Durchschnitt 29 Tage, während ein Richter über ihr weiteres Schicksal entscheidet. Einige von ihnen bringen zwei Tage in San Joaquín zu, andere warten bis zu neun Monaten. Die Dauer des Aufenthalts ist unvorhersehbar und entzieht sich dem Einfluß des COD. Entscheidet die Justiz, die Jungen nach Hause zu entlassen? Wird die Einweisung in ein Rehabilitationszentrum verfügt? In diesem Fall sucht der Leiter des COD nach einem freien Platz. In schwierigen Fällen kann dies mehrere Monate dauern. Viele Zentren weigern sich, Jugendliche aufzunehmen, die bereits mehrfach geflohen sind.
Im COD arbeiten siebzig Personen. Nach Abzug des Küchen- und Reinigungspersonals bleiben dreißig BetreuerInnen, die sich im Drei-Schicht-Betrieb um die Jugendlichen kümmern. Auf jede anwesende Betreuungsperson kommen also 12 Jugendliche. Nur insgesamt fünf BetreuerInnen sind PsychologInnen oder SozialarbeiterInnen. Ihre KollegInnen verfügen über keinerlei berufliche Ausbildung.
Die Insassen werden drei unterschiedlichen Gruppen zugeordnet: Erstzugänge, Wiederholungsfälle und Jugendliche, die wegen guter Führung oder stabilisierter familiärer Verhältnisse bald entlassen werden sollen. Die Anstalt ist zwar geschlossen, doch es gibt keine bewaffneten Wächter. Flucht ist also möglich. Nur wenige Insassen sind FreigängerInnen, die einen Arbeitsplatz haben. Eine Minderheit erhält infolge guter Führung das Recht, sich ohne Begleitung außerhalb des Zentrums aufzuhalten – etwa, um ein polizeiliches Führungszeugnis oder einen Personalausweis zu beantragen, kleinere Einkäufe zu erledigen. Das Fluchtrisiko wird bei diesen Jugendlichen einkalkuliert. Das engmaschige Betreuungssystem läßt keine weiteren Möglichkeiten zu, Eigenständigkeit zu erlernen.
In einer kleinen Werkstatt lernt ein Dutzend Jugendlicher, wie mit einfachen Werkzeugen Holz bearbeitet wird. In der Hoffnung, eines Tages eine Anstellung als Angelernter/e zu finden, ziehen die Jungen mit. Auf dem betonierten Innenhof können die Jugendlichen Fußball spielen. In einem Aufenthaltsraum steht ein Fernseher. Zwei Lehrer bieten Unterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen an. Darüber hinaus gibt es keine gezielten Förderprogramme. Wozu auch? Das COD dient in erster Linie als Durchgangsstation und Verwahranstalt. Daran hat sich auch nach dem Ende der Diktatur nichts geändert.
Das Mausoleum Chiles
Am 20. Februar begann in Chile mit der Einweihung des Hochsicherheitsgefängnisses eine neue Ära der Terrorismusbekämpfung. Zunächst wurden 45 Gefangene verlegt, 37 davon aus der Ex-Penitenciaría (ehemaliges Zuchthaus) und neun aus dem Gefängnis San Miguel. Der Hochsicherheitstrakt liegt auf dem Gelände der Ex-Penitenciaría in Santiago und wurde im Oktober 1993 fertiggestellt. Es sind vor allem Mitglieder der militanten Oppositionsgruppen FPMR (Frente Patriótico Manuel Rodríguez) und Lautaro (Frente Juvenil Lautaro), die zu den Gefangenen zählen. Die Mehrheit von ihnen ist noch nicht in letzter Instanz verurteilt worden. Die FPMR und verschiedene Menschenrechtsorganisationen, wie die ODEP (Organización Defensa Popular) und die OPP (Organización De Presos Políticos) fordern die sofortige Schließung des Hochsicherheitstrakts. Damit stehen sie jedoch ziemlich allein da, denn von der Mehrheit der Bevölkerung und von den Regierungsparteien wird diese Maßnahme zur Terrorismusbekämpfung als notwendig angesehen.
Schon Wochen vor der Verlegung hieß es in den Zeitungen, die Angehörigen der Gefangenen hätten Angst, daß es bei der Verlegung Tote geben könnte: “…ehrlich gesagt, wir fürchten, daß die Gefängnistruppe der Polizei (Gendarmería) bei unseren Verwandten, die all ihren Widerstand aufbringen werden, um sich der Verlegung zu verweigern, nicht vor dem Töten zurückschrecken wird”.
“Operación Canario”
Über den Verlauf der Verlegung gibt es verschiedene Versionen (siehe Interview). Der Bericht der Gendarmería besagt, daß die Verlegung der Gefangenen der Ex-Penitenciaría gegen sieben Uhr morgens begann und von einer Spezialeinheit durchgeführt wurde. Es sei zu keinen nennenswerten Zwischenfällen gekommen, auch sei niemand verletzt worden. Anders hingegen im Gefängnis San Miguel: zwei Gefangene, Víctor Gonzáles und Mauricio Hernández, beides Mitglieder der FPMR, hätten gegen die Polizisten Feuer eröffnet. Demzufolge “…mußte so schnell wie möglich gehandelt werden, indem Tränengasbomben geworfen wurden und ebenfalls geschossen wurde”. Das Ergebnis der Verlegung: zwei durch Schüsse in den Oberschenkel verletzte Gefangene und vier leichtverletzte Polizisten. Zwei Tage später wurde in der Presse berichtet, daß diese Angaben unvollständig seien. Drei weitere Gefangene, Mitglieder der Gruppe Lautaro, hätten ebenfalls leichte Verletzungen erlitten. Claudio Martínez, Chef der Gendarmería, erklärte dazu, daß er diese drei Gefangenen nicht miteinbezogen habe, da sie nicht in ein Krankenhaus gebracht werden mußten. Die Operación Canario, wie die Verlegung offiziell genannt wurde, bezeichnete er “als erfolgreich abgeschlossen”.
Glückwünsche der Regierung
Nach einem Treffen mit dem damals noch amtierenden Innenminister Enrique Krauss verkündete Martínez, daß die Regierung ihn zu der Verlegung beglückwünscht habe. Martínez vertrat die Ansicht, daß die Reaktion der Polizisten im Gefängnis San Miguel unvermeidbar gewesen war, “da die Terroristen das Feuer eröffneten”. Mit Nachdruck erklärte er, daß der Tod einiger von ihnen verhindert wurde: Die Polizisten hätten genaue Anweisungen gehabt, im Fall des Gebrauchs der Schußwaffe nur auf Arme und Beine zu zielen.
Wie gerufen kam der Gendarmería dann noch der Fund von fünf Schußwaffen, die scheinbar vor der Verlegung ins Gefängnis San Miguel geschmuggelt worden waren. Das war immerhin ein Beweis dafür, daß die Besorgnis berechtigt war. Das Vorgehen der Polizei konnte nun öffentlich gerechtfertigt werden.
Lügen als Strategie?
Die Gendarmería verkündete außerdem – fünf Tage vor der Verlegung – die Entdekkung eines Tunnels in der Ex-Penitenciaría, der den Gefangenen dazu dienen sollte, sich noch rechtzeitig aus dem Staub zu machen. Dieser Tunnel weise eine Länge von 15 bis 20 Meter auf und sei 1,50 Meter tief. Die beiden Eingänge des Tunnels wurden in Zellen von Gefangenen der FPMR entdeckt. Im Tunnel seien Kleidung, Nahrungsmittel, Zangen, Drähte, Grubenlaternen und Ventilatoren gefunden worden. Die Gefangenen und ihre Angehörigen bezeichneten die Darstellungen der Polizei als Einschüchterungsversuche. Ziel sei, die Organisation und das gemeinschaftliche Leben der Gefangenen zu zerschlagen. Die Einführung von Isolationshaft ließe sich mit dieser Strategie gut begründen. Momentan teilen sich zwei Gefangene eine Zelle, da einige Räumlichkeiten noch fertiggestellt werden müssen.
Das Ziel: Gehirnwäsche
Sobald es möglich ist, kommen die Gefangenen in Isolationshaft. “Wir verlieren alle unsere Rechte, die wir uns in den letzten drei Jahren erkämpft haben: das ungestörte Beisammensein mit der Familie, das Recht, zu arbeiten, zu studieren, das Recht auf gesundheitliche Versorgung, das Recht, zweimal in der Woche Sport zu treiben und das Recht auf Intimkontakt”, erklärt der Gefangene Pablo Muñoz, Mitglied der FPMR. “Ihr eigentliches Ziel ist, unsere politischen Ideen und vor allem unsere Psyche zu zerstören. Wir sitzen hier in einem modernen Mausoleum, und niemand stört sich daran.”
Der Käfig der “Canarios”
Der Hochsicherheitstrakt besteht aus drei Stockwerken. Insgesamt gibt es 88 Einzelzellen, die auf das zweite und dritte Stockwerk verteilt wurden, damit von vornherein der Bau von Fluchtwegen ausgeschlossen ist. In jeder Zelle befindet sich ein Stuhl, ein Tisch, ein Betonpodest mit aufliegender Matratze als Bett und eine in den Boden gelassene Toilette. Aufgeschlossen wird morgens um 9 Uhr, eingeschlossen abends um 18 Uhr. Dazwischen besteht die Möglichkeit, im Hof spazierenzugehen oder fernzusehen. Achtzig ausgebildete Wärter bewachen den Innenbereich. Der Hochsicherheitstrakt ist in sechs Sicherheitszonen mit Kontrollstellen für BesucherInnen eingeteilt. Alle Räume, mit Ausnahme der Zellen, werden durch Videokameras überwacht.
Ex-Präsident Patricio Aylwin erklärte, daß das Hochsicherheitsgefängnis die Menschenrechte in keinster Weise verletzen würde. Vielmehr seien die Terroristen diejenigen, die gegen die Menschenrechte verstoßen, indem sie ihre politischen Ideen durch gewalttätige Aktionen durchsetzen wollen. Dafür gäbe es in einem demokratischen System, wie es seit 1990 in Chile herrsche, keine Rechtfertigung. Aber wie steht die Demokratie den Gefangenen gegenüber? Demokratie und Hochsicherheitstrakt – das paßt nicht zusammen, in Stammheim sowenig wie in Santiago.
Späte Gerechtigkeit
Die Urteile riefen Genugtuung in der Öffentlichkeit hervor: Sollte in Chile Gerechtigkeit doch möglich sein? Auch die politische Rechte beeilte sich zu versichern, daß das richterliche Urteil selbstverständlich zu respektieren sei und die Verurteilung der Ex-Polizisten das Ansehen der chilenischen Polizei absolut nicht beeinträchtige. Aus zwei Gründen hat der Fall der degollados die chilenische Öffentlichkeit fast ein Jahrzehnt beschäftigt: Zum einen wegen der demonstrativen Brutalität des Verbrechens (den Opfern wurden die Kehlen durchschnitten) und zum anderen, weil das polizeiliche Terrorkommando trotz erdrückender Indizien und engagierter richterlicher Wahrheitssuche nicht rechtskräftig verurteilt werden konnte.
Die Ermordung der drei Männer, Mitglieder der Kommunistischen Partei, am 30. März 1985 war die “Antwort” des polizeieigenen Geheimdienstes an die KP, deren bewaffneter Arm, die Frente Patriótico Manuel Rodríguez (FPMR) unter anderem Anschläge gegen Polizisten verübt hatte. Keines der drei Opfer gehörte jedoch der FPMR an. Außerdem sollte davor gewarnt werden, weiterhin die Verbrechen eines staatlichen Terrorkommandos aus den siebziger Jahren zu untersuchen, wie dies José Parada, einer der drei Ermordeten, getan hatte.
Die drei Opfer wurden in zwei Aktionen jeweils am hellichten Tag und auf offener Straße von Polizisten in Zivil entführt, gefoltert und verhört. Zwei, beziehungsweise einen Tag danach wurden die drei Leichen mit durchschnittenen Kehlen neben dem Weg zum Flughafen gefunden. Die Botschaft sollte nicht nur KP und FPMR, sondern auch weitere Oppositionskreise erschrecken. Im März 1985 befand sich Chile im Ausnahmezustand, den Pinochet im November angesichts der aufkommenden nationalen Protestbewegung verhängt hatte. Daß der staatliche Terrorapparat zugeschlagen hatte, war trotz aller Dementis offensichtlich: Die Verkehrspolizei hatte einen Tatort abgesichert, ein Hubschrauber überflog einen Einsatzort, und angesichts des seit Monaten herrschenden Ausnahmezustands konnte kein Fahrzeug nachts ohne Sondererlaubnis zum Ort der Ermordung fahren. Die kurze Zeitspanne zwischen Entführung und Ermordung machte außerdem klar, daß es den Entführern allenfalls in zweiter Linie darum ging, von den Opfern Informationen zu bekommen.
Dieser demonstrative Terror erschien selbst dem Pinochet-Regime zu jenem Zeitpunkt politisch nicht opportun, das durch Verhandlungen mit der Christdemokratischen Partei versuchte, das Oppositionsbündnis zu spalten. Es waren konkrete Hinweise des militärischen Geheimdienstes CNI an den untersuchenden Richter Cánovas, die zur Anklageerhebung gegen Polizeioffiziere führten. Polizeichef Mendoza, Mitglied der damaligen Militärjunta, mußte auf Druck Pinochets zurücktreten, Nachfolger wurde sein früherer Stellvertreter Stange.
Bereits unter Mendoza, aber weiter unter Stanges Amtsführung, hat die Polizei zwar ihre Zusammenarbeit mit der Justiz öffentlich beteuert, die Aufklärung aber in Wirklichkeit nicht nur behindert, sondern mit der Einrichtung eines “Kreativen Komitees” zur Gestaltung der Aussagen vor dem Richter dessen Arbeit gezielt sabotiert. In kluger Voraussicht, daß sie eines Tages als Sündenböcke doch der Justiz preisgegeben werden könnten, ließ einer der beschuldigten Offiziere bei einer “Lagebesprechung” mit Stange heimlich ein Tonband mitlaufen, das er schließlich dem Richter als Beleg “tätiger Reue” – erfolglos – übergab. Dieses kompromittierende Beweisstück brachte Richter Juica dazu, Stange Vernachlässigung seiner Pflichten und Behinderung der Justiz vorzuwerfen, wofür allerdings, so Juica, die Militärjustiz zuständig sei.
Zwei Richter – zunächst, bis zu seiner Pensionierung, Cánovas, danach Juica – haben in neun(!) Jahren penibler Ermittlungen das Verbrechen trotz aller Behinderungen zu klären versucht. Was schließlich zur Identifizierung und Verurteilung der einzelnen Tatbeteiligten führte, war die “Kronzeugenregelung”, die eigentlich zum “Kampf gegen linken Terrorismus” erlassen worden war. In drei Fällen hat der Richter deshalb die Strafen von “lebenslänglich” auf 15 beziehungsweise 18 Jahre reduziert.
Nach Ostern demonstrierten kleine StudentInnengruppen vor dem Hauptquartier der Polizei. Wie üblich löste die Polizei die Demonstration auf, allerdings ohne die gewohnte Brutalität. SympathisantInnen der Polizei durften natürlich unbehelligt ihre Solidarität bekunden. Massendemonstrationen von linken Gruppen gab es jedoch nicht. Zu den Märschen der Angehörigen der degollados während der Ostertage kamen kaum mehr als 2000 Personen, die den Rücktritt Stanges forderten. Die Gruppe erreicht mit ihren Aufrufen weiterhin nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Massenmobilisierung, erklärte inzwischen der sozialistische Innenminister Correa, sei von der Regierung auch nicht erwünscht gewesen. Sie habe zuvor entsprechende Signale an die sozialen Bewegungen gegeben.
Inti-Illimani und Quilapayún auf Europatournee
Da ist zum einen Quilapayún, eine Gruppe, die 1965 in Chile gegründet wurde. Sie versucht, lateinamerikanische Folklore mit Elementen aus der Popmusik und der experimentellen Musik zu verknüpfen. Die Gruppe lebt seit 1973 in Frankreich und verbrachte dort 15 Jahre im Exil. Wiederholte Aufenthalte in Chile haben das Leben des Ensembles in den letzten Jahren stark verändert. So hat die Möglichkeit, Chile und Europa gleichzeitig erleben zu können, die Gruppe sehr bereichert. Freilich überwiegt nach wie vor die lateinamerikanische Prägung. Neben traditionellen Instrumenten werden auch Klavier, Synthesizer und E-Gitarren eingesetzt. Quilapayún hat bisher 25 Langspielplatten aufgenommen, die allesamt den Wunsch nach permanenter Einmischung in die Politik – wider alles Unrecht – lebendig werden lassen.
Inti-Illimani entstand 1967 in Santiago de Chile und spielte anfangs als reines Folkloreensemble. Zwar haben sie sich im Laufe der Zeit auch von der Musik anderer Kulturen und Stilrichtungen beeinflussen lassen, sie spielen jedoch nach wie vor auf – überwiegend traditionellen – akustischen Instrumenten. Vor dem Putsch wurde Inti-Illimani staatlich gefördert und galt neben Quilapayún als ein wichtiger Teil der “Nueva Canción Chilena”, einer Musikbewegung, die folkloristische mit politischen Elementen verband. Während einer Tournee 1973, die sie auch nach Berlin führte, wurde die Gruppe vom Putsch überrascht, eine Rückkehr war unmöglich: Bis 1988 lebten sie im Exil in Italien. Inti-Illimani wurden mit ihrer Musik zu einem Symbol des Widerstands gegen die Diktatur in Chile. Als die Gruppe nach 15 Jahren wieder ins Land einreisen durfte, entschied sie sich, endgültig zurückzukehren. Seitdem mischen sie sich wieder verstärkt in die Probleme vor Ort ein, viele Tourneen führen sie jedoch immer noch ins Ausland.
Im folgenden drucken wir Auszüge aus einem Interview mit Jorge Coulón von der Gruppe Inti-Illimani ab. Es geht dabei um die Erfahrungen des Exils und die Veränderungen der Musik während dieser Zeit, beziehungsweise um die aktuelle Platte.
Interview mit Jorge Coulón (inti illimani)
Frage: Hat das Exil eure politische Einstellung verändert?
J.C.: Ja, natürlich hat es einen starken Einfluß auf uns gehabt – im negativen wie im positiven Sinne. Jedenfalls war eine Veränderung unvermeidlich. Wir fanden uns in einer völlig anderen Realität wieder, inmitten ganz anderer Auseinandersetzungen, Debatten. In Chile hatten die Menschen 17 Jahre lang keine Möglichkeit zu einer wirklichen Diskussion, beziehungsweise sich neuen Ideen zu stellen – hier stagnierte alles. Wir dagegen in Italien taten gar nichts anderes, als permanent zu diskutieren, mit neuen Ideen zu spielen. Wir lebten während des Exils mitten in einem Land, das im politischen Bereich die weltweiten Ereignisse der letzten Jahre vorwegnahm – die italienischen Kommunisten gelangten zum Beispiel zu Positionen, die Gorbatschow später in der Sowjetunion vertrat.
In Chile gibt es aus meiner Sicht zwei Gruppierungen, die in ihrer Ideologie so dogmatisch sind, daß es kaum möglich ist, mit ihnen zu diskutieren: das Militär und die Kommunistische Partei. Der himmelweite Unterschied liegt natürlich darin, daß ich mich den Kommunisten sehr verbunden fühle…
Seid ihr weiterhin eine politische Gruppe?
Wir selbst sehen uns in der Hauptsache nicht als eine “politische” Gruppe – im Sinne einer Botschaft, die wir mit Musik unterlegen. Wir sind Musiker, die politische Positionen haben; wir haben unseren Platz in der Gesellschaft und greifen die vorhandenen Probleme auf. In diesem Sinne sind wir politisch.
Wie beurteilt ihr heute die doch sehr kämpferischen, pamphletarischen Texte, die ihr unter Allende und bis Mitte der siebziger Jahre schriebt?
Eigentlich haben wir immer darauf geachtet, in unseren Texten nicht zu plakativ, zu oberflächlich engagiert zu sein. Eine Ausnahme war natürlich der “Canto al Programa” (eine Sammlung von “Agitprop”-Liedern über die Vorzüge der sozialistischen Regierung). Ansonsten legten wir schon von jeher Wert auf das Poetische in unseren Liedern. Politische Aussagen haben auch ihren Platz, aber für einen Wahlkampf würden wir inzwischen keine Lieder schreiben – dazu wären sie uns viel zu kurzlebig.
Ich glaube, daß unser altes Kampflied aus der Allende-Zeit “El pueblo unido” in seiner Aussage weiterhin gültig bleibt. Da wir jedoch in keinster Weise auf einer Nostalgiewelle reiten wollen, singen wir es fast nur noch im Ausland…
Hat sich das neoliberale Modell aus eurer Sicht auch auf die Musik-Szene in Chile ausgewirkt?
Ich bin nicht der Ansicht, daß Konkurrenz an und für sich schlecht ist – solange es sich um die Gunst des Publikums dreht. Heute gibt es eine harte ökonomische Konkurrenz zwischen den Gruppen. Im Gegensatz zu den Allende-Jahren, als wir “Inti-Illimani” gründeten, gibt es heute natürlich kaum noch eine öffentliche – staatliche – Unterstützung für eine Entwicklung von Musik. Besonders die jungen Musiker haben es schwer, wenn sie sich nicht völlig den Bedingungen des Marktes anpassen wollen. Die Authentizität geht dabei verloren – aber das ist heute freilich überall so. Vielleicht müßte man als Musiker versuchen, wieder einen engeren, direkteren Kontakt zu ihrem Publikum herzustellen. Wenn die Musiker sich gegen die Kommerzialisierung der Musik-Szene wehren wollen, müssen sie ihre gesellschaftliche Funktion wieder wahrnehmen.
Was ist in der Zeit des Exils mit Eurer Musik geschehen?
Wenn man unsere erste und unsere letzte Produktion gegenüberstellte, könnte man einen extremen Bruch feststellen; bezieht man aber all das ein, was in den 20 Jahren dazwischen passiert ist, dann erkennt man durchaus einen langsamen, kontinuierlichen Wandel, eine logische Entwicklung. Das Exil hat uns natürlich enorm beeinflußt, durch Musikstile, die wir in Europa kennenlernten und vorher kaum gekannt hatten – zum Beispiel die mediterrane Musik oder die des Balkans. Auf irgendeine Art und Weise, und sei es unbewußt, haben alle diese Stile ihre Spuren bei uns hinterlassen; in Chile hätten wir uns mit Sicherheit anders entwikkelt.
Was unsere Texte betrifft, so hat sich manches geändert, aber vieles ist immer gleich geblieben: Beispielsweise haben wir von Anfang an auch anspruchsvolle Texte verwendet, Texte von Dichtern wie Patricio Manns, andererseits aber greifen wir Volkslieder und poesía popular auf oder vertonen sie neu. Diese sind zwar auch von “philologischem” Interesse, wichtiger ist aber die gewisse Naivität, die Ursprünglichkeit, die sie auszeichnet.
Auf Eurem letzten Album finden sich neben instrumentalen Stücken einige bekannte lateinamerikanische “Schlager” – wie der vals peruano “Fina Estampa” -, aber nur wenige neue Texte. Seid Ihr vorsichtiger geworden?
Na ja, ich weiß nicht. Vielleicht könnte man das als vorsichtig bezeichnen. Ängstlichkeit ist es jedenfalls nicht. Was die “Schlager” angeht: am Anfang sahen viele es als eine Art Provokation, daß wir diese “Musik zweiter Klasse” spielten. Tatsächlich kennt aber diese Lieder wirklich jeder in Lateinamerika und sie schaffen eine Identität, die man nicht unterschätzen sollte; in den traurigsten und emotionalsten Momenten des Exils haben alle diese Lieder gesungen und nicht etwa das “Venceremos” oder “El pueblo unido”…
Tourneedaten:
Inti-Illimani:
24.05. Amsterdam * 28.05. Berlin, 20 Uhr, Passionskirche am Marheinekeplatz * 01.06. Münster, 20 Uhr, Uni, Hörsaal 1 * 02.06. Trier * 03.06. Halle, Open-Air, tagsüber. (Genaueres bei D. Ott, 0761-31690) * 04.06. Greifswald, Open-Air (siehe Halle).
Quilapayún:
30.04. Leipzig, 14.30 Uhr, Sachsenplatz * 01.05. Erfurt, 11.30 Uhr (Ort erfragen bei D. Ott, 0761-31690) * 07.06. Frankfurt a.M., 16 Uhr, Opernplatz * 09.06. Berlin, 17 Uhr, Lustgarten.
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