Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit

“Modernisierungserfolge”

Die Diktatur leitete einen Prozeß der Mo­dernisierung der Außenwirtschaft und Di­versifizierung der Abnehmermärkte ein, der von der demokratisch legitimierten Regierung Aylwin fortgesetzt wurde. Die Inflationsrate konnte seit 1990 kontinuier­lich gesenkt werden. Wer an andere la­teinamerikanische Staaten denkt, die nach wie vor mit extremem Geldwertverfall zu kämpfen haben, wird diesen Erfolg und seine sozialen Konsequenzen nicht unter­schätzen dürfen. Als eine der bedeutenden Früchte der Anpassungspolitik wird zu­dem das Schrumpfen des aufgeblähten Staatsapparates angesehen.
Römpczyk weist jedoch darauf hin, daß trotz der Diversifizierung etwa bei agrari­schen Exportprodukten nach wie vor etwa 50Prozent der Deviseneinnahmen des Landes aus der Kupferproduktion kom­men. Da­gegen stellt Chile nur 9Prozent seiner Investiti­onsgüter selbst her. Neben Kupfer stützen sich die Exporterlöse vor allem auf Obst, Holz und Fischmehl. Ge­rade in diesen dy­namischen und einträgli­chen Sektoren entstehen jedoch auch die höchsten öko­logischen Kosten. Zudem wird hier die allgemein wachsende Kapitalkonzentra­tion am deutlichsten sichtbar. Die Schrumpfung des Staatsap­parates hat zur Erhöhung der Erwerbslo­sigkeit auf 15 Prozent beigetragen. Und die lange er­sehnten und inzwischen stei­genden Aus­landsinvestitionen beruhen bisher zu ei­nem Großteil auf Unterneh­menskäufen.

Akzeptanz auch in der Linken

Was viele ChilebesucherInnen und insbe­sondere aus dem Exil heimkehrende Chi­lenInnen überrascht, ist die weitgehende Akzeptanz, auf die das Wirtschaftsmodell im Land selbst stößt. Bis weit hinein in die Linke sieht man keine Alternative zum herrschenden Entwicklungsmodell. Die “Modernisierungserfolge”, wie sie der Autor selbst nennt, scheinen zu blenden. Oder sind nach langen Jahren der politi­schen Verfolgung, Korruption und Infla­tion nun Zeiten gekommen, in denen man froh sein muß über Wachstumsraten und die Tatsache, zumindest einige öko­nomische Früchte ernten zu können? Muß man sich nicht gar über die innenpoliti­sche Stabilität und angesichts der immer noch starken gesellschaftlichen Stellung der Streitkräfte über das Gelingen des de­mokratischen Übergangs freuen? Die Mehrheit der chilenischen Linken defi­niert die aktuelle Situation als eine des Übergangs (“transición”). Von manchen wird das momentane Fehlen eines alter­nativen Politikmodells zumindest offen zugegeben. Mit Eintritt in die Regierungs­verantwortung haben, so stellt Römpczyk kritisch fest, Politiker der sozialistischen Partei zunehmend den Kontakt zu Nicht-Regierungs-Organisationen verloren, aus denen sie selbst einmal hervorgegangen sind.

Hohe Umwelt- und Sozialkosten

Im Zentrum der Veröffentlichung steht die Untersuchung zweier Politikfelder: der Umwelt- und Sozialpolitik. Bedeutender Indikator für die sozialen Verhältnisse ist zunächst die Einkommensverteilung. Im heutigen Chile verfügen 25Prozent der Bevöl­kerung über 75Prozent der Ein­kommen, wäh­rend umgekehrt weitere 25Prozent der Bevölke­rung über nur 5Prozent der Einkommen verfü­gen. Die Schere zwischen arm und reich hat sich weiter geöffnet. Die Verantwor­tung für die öffentlichen Schulen ist den Kommu­nen zugewiesen worden, gleich­zeitig ste­hen diesen jedoch nicht die nöti­gen Mittel zur Verfügung. Mehr denn je schickt, wer es sich leisten kann, seine Kinder auf Pri­vatschulen. Außer für die Zöglinge des gutverdienenden Bevölke­rungsviertels muß von einem Bildungs­notstand gespro­chen werden. Zudem stellt Römpczyk fest, daß die berufliche Bil­dung nicht auf die Modernisierungserfor­dernisse abge­stimmt sei.
Besonderer Sprengstoff liegt in der Neu­regelung des Gesundheitssektors. Auch hier wurde die Verantwortung auf die Kommunen abgewälzt. Sie sollen für die medizinische Grundversorgung der Be­völkerung aufkommen, dabei reichen die Mittel vorne und hinten nicht. Die staatli­che Sozialversicherung wurde privatisiert. Die eingezahlten Beiträge werden von wenigen großen Versicherungsgesell­schaften kontrolliert, die wie Banken da­mit wirtschaften und spekulieren. Die spätere Rente eines Versicherungsneh­mers ist damit von den wirtschaftlichen Entscheidungen weniger privater Versi­cherungsunternehmen abhängig gewor­den. Für die Angehörigen der Streitkräfte und der Polizei allerdings blieb das öf­fentliche Versicherungssystem bestehen. Insgesamt ist heute der reale Anteil der Arbeitnehmer mit Versorgungsansprüchen an die privaten Rentenversicherungsträger niedriger als 1980 der bei den staatlichen Pensionskassen.
Im umweltpolitischen Bereich wird zwar inzwischen eine umfangreichere Gesetz­gebung entwickelt, einleitend stellt Römpczyk jedoch fest, daß über so zen­trale Bereiche wie die wachsenden Um­weltkosten in Chile keine öffentliche Dis­kussion stattfindet. Zwar wurde die Insti­tutionalisierung der Umweltpolitik mit der Gründung der Nationalen Umweltkom­mission CONAMA 1990 eingeleitet, die entscheidenden Kompetenzen blieben je­doch sehr zersplittert auf verschiedene Ministerien verteilt. Von der neugewähl­ten Regierung Frei ist nicht zu erwarten, daß ein Umweltministerium eingerichtet wird. Ein Umweltrahmengesetz wird seit Anfang 1993 im Kongreß beraten. Zwar wird damit der Versuch gemacht, die um­weltrechtlichen Bestimmungen zu bün­deln und die Umweltpolitik konsistenter zu gestalten. Römpczyk kritisiert jedoch die Konzentration auf den nachsorgenden Umweltschutz und das Fehlen politischer Steuerungsinstrumente. Eine Analyse der größten Herausforderungen für die chile­nische Umweltpolitik läßt dagegen die gewaltigen Probleme erkennen, denen sich die chilenische Politik gegenüber­sieht: Überfischung, Überforstung, indu­strielle Verschmutzung, Umweltzerstö­rung durch die modernen Agroindustrien, eine “verkrüppelte” Energiepolitik, Um­weltschäden durch die Kupferproduktion, Fehlnutzung von Wasser sowie die Zer­störung kultureller Lebensräume und der Indianerkulturen – die hier aufgelisteten Problembereiche sind hinreichend Beleg für die geringe Dauerhaftigkeit und feh­lende Nachhaltigkeit des chilenischen Wirtschaftsmodells.

“Chance als Modelland besteht”

So Römpczyks These schon zu Beginn des Buches. Dazu müsse der Staat aller­dings in Zukunft eine aktivere Rolle ein­nehmen. Ihm müsse die Außensteuerung der nationalen Wirtschaft zugestanden werden. Eine zweite Exportphase müsse eingeleitet werden, die auf den Export weiterverarbeiteter Produkte setze. Die natürlichen und menschlichen Ressourcen müßten dazu in Zukunft anders genutzt werden.
Bezugnehmend auf die neue Linie der CEPAL (UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika) steht für Römpczyk die “wirtschaftliche Entwicklung mit sozialer Gerechtigkeit” auf der Tagesordnung. Zum Leitbild wird ein “Kapitalismus des XXI. Jahrhunderts” jenseits eines rein neoliberalen Konzepts bedingungsloser Öffnung zum Weltmarkt, wie es die Dik­tatur lange betrieben hatte. Die Freie Marktwirtschaft dürfe nicht Ziel, sondern solle zum gestaltenden Instrument wer­den, mahnt der Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung die politische Klasse Chi­les.
Ansätze zum Erreichen eines “sozial und ökologisch balancierten Kapitalismus” sieht Römpczyk in der wachsenden politi­schen Autonomie der Gemeinden und dem Aufbau eines nationalen Kommunal­verbandes, der zunehmenden Politisierung und Modernisierung der Gewerkschafts­politik, der Modernisierung der Berufsbil­dung, einer an Nachhaltigkeit orientierten Entwicklungspolitik sowie ei­ner gestärk­ten Zivil­gesellschaft und pro­fes­sio­nalisierten NGO-Arbeit. Als ein gutes Zei­chen für das politische Klima sei die Tat­sache zu werten, daß der Christde­mokrat Frei einen entideologisierten Wahlkampf ge­führt habe und zu erwarten sei, daß die Linke das Regierungsbündnis mittelfristig mit­tragen werde. Offensicht­lich erwartet sich Römpczyk von der Re­gierung Frei einen pragmatischen Kurs und die Fähigkeit zur sozialen Reformpo­litik.
Trotz der zuvor konstatierten konservati­ven Grundströmung in der chilenischen Politik, des nach wie vor konfliktiven Verhältnisses zwischen Streitkräften und Zivilgesellschaft, der bisherigen Alterna­tivlosigkeit der Linken und der Demobili­sierung der sozialen Bewegungen setzt Römpczyk auf die Reformfähigkeit des chilenischen Modells. Überraschend er­scheint daher im nachhinein, daß der Titel des Buches nicht mit einem Fragezeichen beendet wurde. Zu optimistisch erscheint die abschließende Bewertung, daß die tö­nernen Füße des “Modells Chile” gegen einen “soliden Unterbau aus Sozialver­träglichkeit und Umweltverträglichkeit” eingetauscht werden könnten. Zweifel an der Umsetzung einer ökologischen und sozialen Reformpolitik und ihrer Durch­setzungsfähigkeit gegen bestehende Inter­essen scheinen dagegen allzu berechtigt. Und: Wie lange würde ein sozial und ökologisch reformiertes Exportmodell bei den bestehenden Weltmarktstrukturen wohl konkurrenzfähig sein?

Elmar Römpczyk: Chile – Modell auf Ton, Horle­mann Verlag, Unkel/Rhein und Bad Honnef 1994, ISBN 3-927905-88-7.

The Latin American City

Die in ihrer Mehrzahl von Portugiesen und Spaniern im 16. und 17. Jahrhundert gegründeten lateinamerikanischen Städte haben ihren entscheidenden Wachstums­schub nach 1950 erlebt. Lateinamerika wandelte sich in rasendem Tempo von ei­nem ruralen zu einem urbanen Kontinent. Erst in den achtziger Jahren verlangsamte sich dieser Prozeß aufgrund der ökonomi­schen Krise. Trotzdem können MigrantIn­nen in vielen Ländern bis heute ver­gleichsweise bessere Lebensbedingungen in den städtischen Ballungsräumen vor­finden als auf dem Land. In diesen Unter­schieden ist das entscheidende Mo­tiv für die Landflucht zu suchen. Vor allem für Frauen und junge Erwachsene, die eine Schulbildung und berufliche Fähigkeiten erworben haben, resultiert der Weg in die Städte aus einer rationalen Entscheidung. Dabei handelt es sich um eine rationale Ent­scheidung zwischen Alternativen, die mehrheitlich von jungen Erwachsenen und Frauen, die bessere Schulbildung und ge­wisse berufliche Fähigkeiten erlernt ha­ben, getroffen wird.
Gilbert wendet sich gegen die Über-Städ­terungs-Thesen, nach denen die Zunahme der Bevölkerung als dem Beschäfti­gungswachstum im industriellen Sektor nicht angemessen kritisiert wurde. Wäh­rend Städte in westlichen Industrienatio­nen als industrielle Wachstumspole funk­tional gewesen seien, wurden “Dritt-Welt-Städte”, in denen es zu einer “Tertiarisierung”, einem aufgeblähten Dienstleistungssektor kam, als “parasitär” klassifiziert. Nach dieser, nach wie vor von vielen KommunalpolitikerInnen und StadtplanerInnen geteilten Betrachtungs­weise gibt es einfach zu viele Menschen in der Stadt. Begründet wird der Mißstand gerne mit einem zu hohen Bevölkerungs­wachstum, als umgekehrt mit einer zu ge­ringen Anzahl stabiler und qualifizierter Arbeitsplätze. Die Antwort auf die beson­ders in den achtziger Jahren steigenden Arbeitslosenraten, ist der heute für uns so typische und das Stadtbild der meisten la­teinamerikanischen Metropolen prägende informelle Sektor. Zur Straßenszene gehö­ren die Schuhputzer ebenso wie die am­bulanten Händler. Informelle Beschäfti­gung geht jedoch darüber weit hinaus. Ihr kommt zudem im Hinblick auf den soge­nannten modernen Sektor eine besondere Rolle zu, denn sie sorgt für niedrigere Lohn- und Reproduktionskosten. Beson­ders auf Export ausgerichtete Industrien profitieren davon, wie die Erfahrungen mit den Maquiladora-Industrien an der US-mexikanischen Grenze zeigen.
Duldung “wilder” Siedlungen
Ebenso wie der informelle Sektor die Ar­beitswelt lateinamerikanischer Städte prägt, kennzeichnen favelas, poblaciones oder villas miserias ihre Siedlungsstruk­tur. Landbesetzungen und der Aufbau spärlicher Hütten wurden über lange Zeit geduldet und konnten in ökonomischen Wachstumsphasen Schritt für Schritt durch die städtische Infrastruktur er­schlossen werden. Aus Wellblech- und Holzhütten wurden in Eigenarbeit oder kollektiver Anstrengung feste Häuser. Daß dabei oftmals den Bedürfnissen der BewohnerInnen entsprechende Wohnun­gen entstanden sind, als es bei professio­nell geplanter Bebauung der Fall gewesen wäre, überrascht eigentlich nicht. Nur durch politische Mobilisierung oder Zuge­ständnisse an lokale politische Repräsen­tantenInnen konnte sich die rasch wach­sende städtische Bevölkerung ein Dach über dem Kopf erstreiten. Die Stadtver­waltung hatte dazu aufgrund fehlender Mittel für einen umfassenden sozialen Wohnungsbau keine Alternative. Stadt­viertel wurden ans Elektrizitäts- und Was­sernetz angeschlossen, Siedlungen legali­siert. Heute besitzt ein wesentlich höherer Prozentsatz von Familien ein – wenn auch bescheidenes – Eigenheim als noch zwan­zig oder dreißig Jahre zuvor.
Betrachtet man das rasante städtische Wachstum ist es ein Wunder, daß die oft wegen ihrer schlechten Administration zu­recht gescholtenen öffentlichen Einrich­tungen nicht völlig zusammengebrochen sind. Sie scheinen, so Alan Gilbert, wohl doch besser als ihr Ruf. Prekär sind für viele die Versorgungsverhältnisse trotz­dem geblieben. Neuere Siedlungen warten seit Jahren auf Wasser und Elektrizität. Neben der Bevölkerungszunahme hat auch das für Städte der sogenannten ent­wickelten Welt typische Auseinanderfal­len von Arbeiten und Wohnen zu einem enormen Verkehrswachstum geführt. Öf­fentliche Verkehrssysteme sind völlig überlastet; ihr Ausbau, der lange von der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank finanziert wurde, scheint heute, wie so manches U-Bahn-Projekt zeigt, nicht mehr tragbar. In öko­nomischen Krisenzeiten wird die Auf­rechterhaltung öffentlicher Infrastruktur immer schwieriger. Die Tarife wurden in den letzten Jahren drastisch angehoben. Um so stärker trat die soziale Ungleichheit bei der Versorgung hervor. In Argenti­nien, Kolumbien und Mexiko versucht man verstärkt, durch Privatisierung die oft defizitären öffentlichen Unternehmen los­zuwerden. Auf dem gesamten südlichen Kontinent ist jedoch außer Telefon- und Telekommunikationsunternehmen deren große Mehrzahl bisher nicht in private Hände übergegangen.
Leider behandelt Gilbert die ökologischen Probleme nur als Unterpunkt in seinem Kapitel zur städtischen Infrastruktur. Er greift mit seiner Kritik an der bisher im­plementierten Umweltpolitik auch deshalb zu kurz, weil er die gesundheitliche Pro­blematik in den Vordergrund stellt. Flächen-, Energie- und Ressourcenver­brauch hätten hier stärker im Vordergrund stehen müssen.
Gilbert ist besonders daran gelegen, mit einem gerade in Europa gerne gepflegten Klischee über die politische Bedeutung städtischer sozialer Bewegungen auf­zuräumen. Obwohl diesen sicher seine Sympathie gilt, stellt er klar, daß eher po­litischer Konservatismus vorherrscht. Linke Parteien oder gar radikale linke Gruppierungen erreichen in Lateinamerika seit jeher keine Massenbasis. Die Tendenz von barrio-Bewegungen, mit lokalen Po­litikerInnen in Verhandlungen einzutreten oder sich gegen Zugeständnisse in Wahl­zeiten kooptieren zu lassen, kann auch kaum geleugnet werden. Strukturelle Ver­änderungen des Systems stehen meist hinter lokal begrenzten Verbesserungen für die eigene barrio-Bewegung zurück. Schließlich darf aber nicht unterschätzt werden, daß es auf diesem Wege oft ge­lungen ist, die realen Lebensbedingungen zu verbessern. Ganz im Gegensatz jedoch zum allseits beliebten Bild der Sozialre­volte war selbst in Stadtvierteln, in denen sich eine rege Interessenvertretung gebil­det hatte, die Beteiligung der Betroffenen oft sehr begrenzt geblieben. Verantwort­lich dafür sind, so Gilbert, neben dem po­litischen Verständnis der Gemeinschaften selbst, Klientelismus, Kooptation, populi­stischer Führungsstil und Repression durch die politisch Herrschenden.
Enttäuschend und inkohärent bleiben die abschließenden Aussagen über die Zu­kunftsperspektiven der “Latin American City”. Das Urteil des Autors fällt überra­schend positiv aus. Nach einer Fülle de­taillierter Informationen und kritischer Re­flexion bisheriger Veröffentlichungen über städtische Entwicklung muß den Le­ser / der Leserin erstaunen, wie konven­tionell dieser Ausblick ausfällt. Die Ten­denz des sinkenden Bevölkerungszuwach­ses der Metropolen läßt Gilbert ebenso hoffen, wie der Erfolg diversifizierter Ex­portstrategien und positiver, entbürokrati­sierender Effekte neoliberaler Strukturan­passung. Wirtschaftswachstum wird schließlich zum Schlüssel der Probleme und damit, so macht es der Autor gerade an der Entwicklung neuer Wachstumspole an der US-Grenze Mexikos deutlich, ist in erster Linie industrielles Wachstum ge­meint. Chile oder das NAFTA-Mitglied Mexico als Erfolgsmodelle auch für an­dere Länder? Hier fällt der Autor in eine Denkweise zurück, die er am Beispiel der Tertiarisierungsthese zuvor mit Recht kri­tisiert hatte. Voraussetzung für eine Zu­kunft der Stadt sei natürlich politische Stabilität, also die Fortsetzung der Demo­kratisierungsprozesse, aber auch eine ge­rechtere Verteilung der Einkommen und wachsende Aufwendungen für staatliche soziale Leistungen. Daß gerade Struktur-anpassungsprogramme soziale Verbesse­rungen für die Masse der Bevölkerung unmöglich gemacht haben und diese auch in den Erfolgsländern kaum am Wachs­tum partizipieren, ist jedoch eine bittere Lektion der achtziger und beginnenden neunziger Jahre. Wirtschaftswachstum an sich als entscheidende Voraussetzung für strukturelle Verbesserungen städtischer Infrastruktur und Umwelt anzusehen, spricht zudem den Erkenntnissen einer kritischen Umweltdiskussion Hohn.

Alan Gilbert – The Latin American City. Latin Amerika Bureau, London 1994. ISBN 0906156823. Zu beziehen bei: Lateinamerika Nachrichten Vertrieb, Gneisenaustr. 2, 10961 Berlin

“Wir werden die bestehenden Gesetze strikt einhalten”

Vor gut fünf Jahren geschah etwas bis dahin Einmaliges: Eine Militärdiktatur wurde abgewählt. Was nicht so einmalig war: Das Konzept kam aus den USA. Unter dem Druck, sein Regime formal zu stabilisieren, rief General Pinochet die ChilenInnen 1988 zu einem Plebiszit auf. Es gab eine klare Alternative: Entweder acht weitere Jahre Diktatur oder Neuwahlen. Trotz der mächtigen staatlichen Propagandamaschinerie und massiver Einschüchterung der Bevölkerung stimmte eine knappe Mehrheit für die zweite Option. Sein Junta-Kollege, Luftwaffenchef Matthei, durchkreuzte rechtzeitig Pinochets Plan, das Ergebnis der Volksabstimmung zu fälschen. Bei den Wahlen im darauffolgenden Jahr siegte die bürgerliche Mitte-Links-Koalition um den scheidenden Präsidenten Patricio Aylwin.

Eine Strategie geht auf

Damit triumphierte letztlich eine CIA-Strategie, die 1986 entwickelt wurde, um möglichst reibungslos die politischen Folgen einer weniger reibungslosen CIA-Intervention zu beseitigen, ohne dabei die Wirtschaftpolitik zu gefährden. Nach Gesprächen mit US-Vertretern scherte die chilenische Christdemokratie damals aus dem breiten Oppositionsbündnis gegen die Militärdiktatur aus, an dem auch die marxistische Linke beteiligt war. Unter Ausschluß von Kommunisten und Sozialisten sollte ein Arrangement mit der Diktatur getroffen werden, um deren “Errungenschaften” ein demokratisches Gewand überstülpen zu können.
Eduardo Frei stand damals voll hinter der Position der Christdemokraten. In dem Institut Blas Cañas forderte er 1986 einen Pakt der Opposition mit den Streitkräften: “Ich möchte mit aller Deutlichkeit sagen: Wenn wir beim Übergang zur Demokratie Erfolg haben wollen, brauchen wir dringend einen Pakt. Ich spreche dabei in erster Linie von einem Pakt zwischen der Opposition und der Armee.” Nicht zuletzt in der Person von Eduardo Frei wird deutlich, wie erfolgreich die vor sieben Jahren entwickelte Strategie bisher gewesen ist. Daher ist es nicht überraschend, wenn er nach der Wahl betonte, daß sich seine Regierung um ein gutes Verhältnis zu den Uniformierten bemühen werde. Auch wenn BeobachterInnen von ihm eine etwas härtere Haltung in Formalfragen erwarten, wird er die offene Konfrontation mit der Armee vermeiden. Auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik werden von dem neuen Präsidenten keine entscheidenden Änderungen erwartet. Das Wirtschaftsmodell blüht unter den Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie, und das Gespenst des Kommunismus, das in Chile vor 20 Jahren konkrete Gestalt angenommen hatte, ist erfolgreich vertrieben worden.
“Der Niedergang der Kommunistischen Partei begann nach dem fehlgeschlagenen Attentat auf Pinochet im September 1986,” erklärt der jahrelange Verbindungsmann der Parteispitze. “Die Führung setzte damals auf den bewaffneten Kampf zum Sturz der Militärdiktatur. Das Plebiszit von 1988 über die Fortsetzung des Pinochet-Regimes wurde als Farce der Diktatur abgelehnt und boykottiert, erst im letzten Augenblick schwenkte die Partei auf das immer mächtiger werdende NEIN zu Pinochet um. Bei der anschließenden Präsidentschaftswahl im Dezember 1989 kämpfte sie lange Zeit gegen das bürgerliche Mitte-Links-Bündnis Concertación. Wiederum in letzter Minute änderte die Partei ihre Linie und akzeptierte das JA zu deren Kandidat Patricio Aylwin als NEIN zu Pinochet. Da kommt doch keiner mehr mit!” Die Führung der Kommunistischen Partei hatte sich im Untergrund immer weiter vom wirklichen Leben enfernt. Die streng hierarchischen Entscheidungsstrukturen führten zwangsläufig zu Fehleinschätzungen, die Glaubwürdigkeit der Partei ging verloren. Und nun hält der Spaltpilz Einzug in der einst monolithischen Partei, die bei den Wahlen 1970 und ’73 noch jeweils rund 15% der Stimmen erreicht hatte. Der größte Flügel der Partei hat sich dem linken Parteienbündnis MIDA angeschlossen, das die marxistisch-leninistische Tradition hochhält und nun bei den Wahlen am 11. Dezember 1993 kläglich scheiterte: Kein einziger Kandidat wurde in eine der beiden Parlamentskammern gewählt; beim letzten Mal hatte diese Gruppierung noch 2 Abgeordnete gestellt. Eine kleine Gruppe um den ehemaligen PC-Vorsitzenden José Sanfuentes schloß sich den HumanistInnen an und unterstützte deren aussichtslosen Präsidentschaftskandidaten Cristián Reitze. Die PragmatikerInnen in den Reihen der KommunistInnen gründeten kurzerhand die Unabhängige Demokratische Partei (PDI) und kandidierten auf einer gemeinsamen Liste mit der regierenden Concertación. Ihr Realitätssinn wurde belohnt: Als einzige aus dem ehemaligen PC-Spektrum zogen die PDI mit zwei Abgeordneten in das Parlament ein. Die populäre Rechtsanwältin Fanny Pollarollo gewann in ihrem Wahlkreis Calama-Tocopilla, zu dem auch die Kupfermine Chuquicamata gehört, sogar haushoch. Davon konnte der kommunistische Anwärter auf den Präsidentensessel, Eugenio Pizarro, nur träumen. Der politisch unerfahrene katholische Priester war von der Parteiführung auserkoren worden, um die Stimmen der befreiungstheologisch engagierten und der linken Christen in Chile zu gewinnen. Dieses Kalkül entpuppte sich als Schlag ins Wasser, Pizarro gab allerorten eine peinliche Figur ab, wurde einmal sogar fast aus einer Gewerkschaftsversammlung herausgeprügelt und konzentrierte sich im wesentlichen darauf, seine eher fortschrittlicheren Konkurrenten zu diffamieren. Der Stimmenanteil von nur 5% ist wohl mehr das Ergebnis einer Traditionswahl als seiner Überzeugungskraft.

Rundumerneuerte SozialistInnen

Ganz anders ist es den langjährigen Verbündeten der PC, den SozialistInnen, ergangen. Sie haben dem Marxismus abgeschworen und sich als rundumerneuerte Partei auf die Seite der mächtigen Christdemokratie geschlagen. Zusammen mit der nach wie vor größten Partei Chiles, der sozialdemokratisch orientierten PPD (Partei für die Demokratie) und den Radikalen stellten die “socialistas renovados” die erste Übergangsregierung. Nun konnten sie landesweit sogar ihren Stimmenanteil ausbauen; aufgrund des pinochetistischen Wahlrechts bleibt es aber bei ihren vier Sitzen im Senat, im Abgeordnetenhaus verlieren sie sogar zwei Parlamentarier. Größter Wahlgewinner war die PPD, die mit zwei Senatoren in das Oberhaus einzieht und die Zahl ihrer Abgeordneten von 7 auf 16 mehr als verdoppeln konnte.
Während deren Vorsitzender Ricardo Lagos, der ehemalige Erziehungsminister, mit ungebremsten Ambitionen auf den Sessel des Regierungschefs, mit dem unbedeutenden Ministerium für Öffentliche Aufgaben abgespeist wurde, honorierte der neugewählte Präsident Eduardo Frei den Wahlerfolg der SozialistInnen und ernannte deren Parteichef Germán Correa zum neuen Innenminister. Ein Aufschrei kam daraufhin aus den Reihen der Rechten – ein sozialistischer Innenminister ließ die Erinnerungen an die Unidad-Popular-Regierung von 1970-73 wieder wach werden. Doch der management-erfahrene neue Präsident ließ sich nicht beirren und hielt an Correa fest. Dahinter könnte nicht so sehr Sympathie, wie ein kühles Konzept stehen. Der Sozialistenchef hatte sich nicht ohne Grund lange vor dem Ministerposten geziert. Schließlich war es in erster Linie sein Verdienst, die verschiedenen Strömungen der Partei unter einen Hut zu bringen. Sein Ausscheiden aus der Parteiführung bringt die Gefahr mit sich, daß die verschiedenen Parteiflügel wieder auseinanderfallen. In Anbetracht einer zu erwartenden Zunahme der sozialen Spannungen, die auch der scheidende Präsident Patricio Aylwin vorausgesagt hat, wird der Innenminister zwangsläufig zu unpopulären Maßnahmen gezwungen sein. Damit sind Spannungen mit der linken Opposition innerhalb wie außerhalb der Sozialistischen Partei vorprogrammiert. Bricht die Partei auseinander, werden ihre einzelnen Fraktionen als Koalitionspartner uninteressant und der Weg wäre frei für eine große Koalition der Christdemokraten mit der rechten Renovación Nacional (RN – Nationale Erneuerung). Und damit könnte Eduardo Frei wunderbar leben und regieren.

Verluste auch bei der Rechten

Auch wenn die RN vier Abgeordnete und zwei Senatoren eingebüßt hat, bleibt sie die zweitstärkste Fraktion in beiden Kammern. Deren smarter Parteivorsitzender Andrés Allamand ist zwar unter der Diktatur politisch groß geworden, verließ jedoch rechtzeitig das sinkende Schiff von General Pinochet und baute seine “Nationale Erneuerung” als bürgerliche Rechtspartei auf. Das hat ihm zwar schon wiederholt Schelte von der faschistischen UDI eingebracht, die sich nach seiner Kritik am unsozialen und nicht auf die Zukunft ausgerichteten Verhalten der chilenischen UnternehmerInnen zu einer regelrechten Diffamierungskampagne auswuchs. Das hielt die RN allerdings letztlich nicht von ihrem strategischen Bündnis mit der UDI ab, im Santiagoer Reichenviertel Vitacura wurde der Doppelerfolg von Allamnad und seines UDI-Kollegen Bombal begeistert gefeiert. Insgesamt konnte die Partei der PinochetistInnen trotz leichten Stimmenzuwachses die Verluste der RN nicht ganz ausgleichen, so daß die rechten Parteien insgesamt hinter ihrem historischen Stimmenanteil zurückgeblieben sind. Der konservative Präsidentschaftskandidat Arturo Alessandri erreichte nicht einmal 25% der Stimmen. Weitere 6% entfielen auf José Piñera, den ehemaligen Arbeitsminister der Diktatur und Urheber des repressiven Arbeitsrechts `Plan Laboral’. Dieses Gesetz, das die ArbeitnehmerInnen- und Gewerkschaftsrechte massiv einschränkt, ist im übrigen bis heute unverändert in Kraft. Ohne hemmungslose Ausbeutung der ArbeitnehmerInnen ist das chilenische Wirtschaftswunder offenbar immer noch nicht nicht zu schaffen.

Warten auf die “neuen Zeiten”

“Für die neuen Zeiten” lautete der Wahlspruch des Christdemokraten Eduardo Frei. Inhaltslos symbolisiert er den Zeitgeist in dem Land Südamerikas, das die höchsten wirtschaftlichen Wachstumsraten aufweist und in dem die Politik zweitrangig geworden ist. Unübersehbar ist der Hang zur politischen Mitte. Und zur Mittelmäßigkeit. Niemand regt sich heute mehr auf, wenn ehemalige Pinochet-Minister, die noch vom Diktator als Senatoren eingesetzt wurden, im Fernsehen auf ihre demokratischen Rechte pochen und ihre politischen GegnerInnen zur Einhaltung der demokratischen Spielregeln auffordern. An Rücktritt als einzigen wirklich demokratischen Schritt denkt keiner von ihnen, und – was noch schlimmer ist – niemand fordert sie dazu auf. Die neue Regierung wird sich mit den Hinterlassenschaften der Militärdiktatur arrangieren und deren Verfassung nicht antasten. “Wir werden die bestehenden Gesetze strikt einhalten”, versicherte Präsident Frei kurz nach seiner Wahl gegenüber in- und ausländischen JournalistInnen, “und wenn wir bestimmte Änderungen der Verfassung im Senat nicht durchbekommen, müssen wir damit bis 1997 warten.”
In vier Jahren scheidet nämlich die Sperrminorität der von Pinochet eingesetzten Senatoren aus. Bei den Nachwahlen dürften sich dann die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Concertación ändern. Gleichzeitig tritt Pinochet als Oberbefehlshaber des Heeres zurück und geht in den Ruhestand. Doch schon jetzt wird der ehemalige Diktator in Chile selbst viel weniger ernst genommen als im Ausland. Juan Pablo Cárdenas, langjähriger Chefredakteur der Oppositionszeitschrift análisis, schreibt dem alternden General sogar eine systemstabilisierende Funktion zu: “Pinochet ist eigentlich der wichtigste Verbündete der Concertación. Der gemeinsame Feind vereinigt die Regierungskoalition und bindet gleichzeitig große Teile der linken Opposition. Wenn die permanente Bedrohung durch Pinochet wegfällt, geht der bestehende Konsens verloren.” Vielleicht wird die Politik in Chile dann wieder etwas spannender…

Altlasten aus der Diktatur

Bis dahin wird wohl alles seinen gewohnten Gang gehen. Nur ab und zu kommt die jüngere chilenische Vergangenheit zum Vorschein. So bei der Verurteilung der Mörder des ehemaligen Außenministers Orlando Letelier (vgl. LN 235). Auch der Mord an Carmelo Soria, einem spanischen CEPAL-Mitarbeiter mit Kontakten zur PC, wird auf Druck aus Madrid weiter untersucht. Und nun ist ein als sicher gehandelter Minister der neuen Regierung über seine Machenschaften unter der Diktatur gestolpert. Der Unternehmer Juan Villarzú, ein enger Freund von Präsident Frei, verzichtete plötzlich und unerwartet auf den Job des Finanzministers, angeblich wegen eines Kredits seiner Firma aus dem Jahr 1992. InsiderInnen munkeln aber, daß der jähe Abbruch seiner beginnenden politischen Laufbahn vielmehr mit der Rolle zu tun hat, die er in der großen Schuldenkrise Anfang der 80er Jahre gespielt hatte. Damals war er Direktor der Banco de Chile, der wichtigsten Bank des Vial-Konzerns, dessen Unternehmen hemmungslos Kredite bei eben dieser konzerneigenen Bank aufgenommen hatten. Das System der unkontrollierten Kreditvergabe, das damals von allen Unternehmensgruppen angewendet wurde, war jedoch bald überreizt. Der chilenische Staat mußte für die Schulden aufkommen, um einen völligen Zusammenbruch des Finanzwesens zu verhindern. Damit wurde nicht nur die neoliberale Ideologie widerlegt, die ein Heraushalten des Staates aus dem freien Spiel der Wirtschaftskräfte fordert, sondern eben dieser Staat mußte sieben Milliarden US-$ zur Rettung der maroden Banken ausgeben.
Eduardo Frei, der bis vor kurzem nichts von den Machenschaften Villarzús gewußt haben will, kann natürlich keinen Finanzminister gebrauchen, der sich so unverfroren an der Staatsbank bereichert hat. So ernannte er kurzerhand den unter chilenischen ÖkonomInnen anerkannten parteilosen Eduardo Aninat, dessen Wirtschaftsforschungsinstitut seit Jahren einen monatlichen Bericht herausgibt, der von den 80 wichtigsten Unternehmen des Landes bezogen und analysiert wird. Ebenso wie sein Vorgänger Alejandro Foxley geht er bei allen internationalen Finanzinstitutionen ein und aus, zwischen 1991 und `92 leitete er die Umschuldungsverhandlungen Chiles mit Weltbank und IWF. Nennenswerte Änderungen der bisherigen Wirtschaftspolitik sind von ihm auf keinen Fall zu erwarten, er wird die international gerühmte Foxley-Linie fortsetzen und kann auf weitere Auslandsinvestitionen und Kredite setzen.
Zwei weitere enge Vertraute von Eduardo Frei junior bleiben allem Anschein nach seiner Regierung erhalten. Der langjährige Chef der ChristdemokratenInnen, Genaro Arriagada, wird das dem Kanzleramtsministerium vergleichbare Amt des “Secretario General de la Presidencia” übernehmen, und Edmundo Pérez gilt als sicherer zukünftiger Verteidigungsminister. Lange Zeit war der Wahlkampfleiter des neugewählten Präsidenten der Favorit für das Innenministerium, aber das wäre der historischen Parallelen wohl zu viel gewesen. Sein Vater, Edmundo Pérez senior war nämlich Innenminister unter Eduardo Frei senior. Durch die Massaker von Puerto Montt und El Salvador hatte er sich durch sein repressives Vorgehen einen unrühmlichen Namen gemacht und fiel 1971 einem Attentat zum Opfer. Der entscheidende Verdienst von Edmundo Pérez junior ist es, der Sohn seines Vaters zu sein, politisch ist er bisher noch nicht hervorgetreten. Daher wird er von vielen als unberechenbar eingeschätzt, und SkeptikerInnen meinen, im Verteidigungsministerium könnte er weniger Schaden anrichten als im Innenressort. An seinem guten Auskommen mit der Armeeführung wird nicht gezweifelt.
Das Außenministerium wird von der Radikalen auf die Christdemokratie übergehen, Carlos Figueroa heißt der zukünftige Chef der chilenischen Diplomatie. Die Radikale Partei erhält dafür das Bergbauministerium, der Amtsinhaber heißt Benjamín Teplisky. Erstmalig übernimmt eine Frau ein nicht frauenspezifisches Ministerium: Soledad Alvear wird Justizministerin. Ein weiteres innen- und sozialpolitisch wichtiges Ministerium gab Frei den mitregierenden SozialistInnen: Luis Maira, ehemaliger Vorsitzender der Christlichen Linken, übernimmt das Planungsministerium. Insgesamt zeigt die Zusammensetzung des Kabinetts den politischen Willen des neuen Präsidenten, mit einem breiten Bündnis zu regieren und die linken Parteien seiner Koalition in die politische Verantwortung einzuspannen. Die Stabilität dieser Regierung wird sich sicherlich in der ersten Hälfte der sechsjährigen Legislaturperiode zeigen.

Der kurze Moment der Hoffnung im Fall Soría

Was zum Zeitpunkt der zweiten Entscheidung – angeblich – niemand wußte: Der Militärrichter hatte flugs das ganze Verfahren eingestellt und eine Amnestie verkündet, ohne, selbstverständlich, irgendeinen der uniformierten Täter zu identifizieren. Damit war, so der Richter Libedinsky, sein Untersuchungsauftrag bereits gegenstandslos, als er erteilt wurde: er war nicht eingesetzt, den Militärrichter zu überprüfen, sondern das Verfahren fortzuführen.
Die Anwälte der Familie Soría werfen Libedinsky vor, er habe rechtliche Spielräume nicht ausgenutzt. Libedinsky nimmt für sich in Anspruch, daß er zu Zeiten der Diktatur mit seinen Entscheidungen mehrfach querlag; den Sprung ins Obersten Gerichts verdankt er tatsächlich der Regierung Aylwin.
In Erinnerung an Brechts Galilei (Unglücklich das Land, das keine Helden hat. – Nein, unglücklich das Land, das Helden nötig hat.) ist die Frage vielleicht wirklich zweitrangig, ob der Richter Libedinsky feige war oder nicht. Was für ein Land, in dem Gerechtigkeit vom persönlichen Mut eines Richters abhängt…
Zumindest hat er gerichtlich festgeschrieben, daß der angebliche Unglücksfall Sorías ein Mord war und die Täter einer Brigade des Geheimdienstes DINA angehörten. Und er hat erklärt, die Gesetzeslage verhindere die Gerechtigkeit; wer sich daran stoße, solle das Gesetz ändern, aber nicht die Richter schelten.
Eine Entscheidung wie die des Richters Libedinsky ruft ein heftiges, kurzzeitiges und anscheinend folgenloses Medienecho hervor. Auf soviel Aufmerksamkeit hoffen die Gefangenen, denen die Verlegung in den neuen Hochsicherheitstrakt droht, bisher vergeblich. So absurd es klingen mag: Isolationshaft, Trennscheiben gegen Besucher, besondere technische Vorkehrungen gegen Fluchtversuche werden erstmalig vier Jahre nach Beendigung der Diktatur in Chile eingeführt, und da diese barbarische Neuerung demokratisch legitimiert ist, erhebt sich kaum Widerstand.

Immer noch Folter in Chile

Die Menschenrechtssituation in Chile

“Wahrheit und Gerechtigkeit! Wir werden die Menschenrechtsverletzungen aufklären! Wir werden die Täter identifizieren und verurteilen.” Dies hatte der derzeit noch amtierende Präsident Patricio Aylwin 1989, noch vor seiner Wahl, angekündigt. Dieses Wahlversprechen hat er in seiner vierjährigen Amtszeit nicht einmal annähernd eingelöst. Zwar richtete er im April 1990 die “Nationale Kommission für Wahrheit und Versöhnung” ein (sie ist nach dem Namen ihres Vorsitzenden Raúl Rettig unter dem Namen Rettig-Kommission bekannt geworden), die für die Regierung einen Bericht über schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen in der Zeit der Militärdiktatur (September 1973 – März 1990) erstellte. Dabei ging sie jedoch nur einem Bruchteil der Verbrechen nach.
Tausende von Beschwerden über Folterungen wurden nicht untersucht. Nur dem kleinen Kreis von Opfern, die im Rettig-Bericht aufgeführt sind, wird im Rahmen eines im Januar 1991 verabschiedeten Gesetzes eine monatliche Entschädigung gewährt. Die Ermittlungen bei Anzeigen gegen Polizeibeamte wegen Mitwirkung an Folter gehen nur schleppend voran.
Unter dem Deckmantel der Demokratie gibt es auch heute noch Menschenrechtsverletzungen. Die fundamentalen Rechte auf Arbeit, Wohnung, Gesundheitsversorgung, Bildung und würdigen Altersruhestand sind, genau wie früher, nur für Teile der Bevölkerung gewährleistet.
Repression durch die Polizei ist nach wie vor an der Tagesordnung (Vgl. LN 233 u. 234). Wie sollte es auch anders sein, sind die Polizisten der Diktatur und der “Demokratie” doch dieselben geblieben, und heißt doch auch der Oberbefehlshaber des Militärs in Chile immer noch Augusto Pinochet.

Die Situation der politischen Gefangenen

Seit März 1990, also seit dem formellen Ende der Militärdiktatur, sind mehr als 300 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert worden. Von ihnen befinden sich zur Zeit noch ca. 200 in Haft. Die Mehrheit von ihnen wird in Santiago, in den Gefängnissen San Miguel und der Ex-Penitenciaria (ehemaliges Zuchthaus) im Süden Santiagos festgehalten. Unter den Gefangenen sind 15-20 Frauen, die entgegen nationalen und internationalen Normen im Männergefängnis untergebracht sind. Sie leben in der ständigen Gefahr, belästigt und vergewaltigt zu werden. Immer noch in Haft befinden sich außerdem fünf politische Gefangene der Diktatur. Sie waren 1986 am Attentat auf Pinochet beteiligt.
Die politischen Gefangenen leben auf engstem Raum und unter unzumutbaren hygienischen Bedingungen. In jahrelang immer wieder durchgeführten Hungerstreiks haben sich die politischen Gefangenen jedoch zumindest einige Freiheiten erkämpft. So können sie in der Besuchshalle relativ ungestört mit ihren Angehörigen und FreundInnen sprechen und sogar politische Veranstaltungen duchführen. (Am ersten Jahrestag der Flucht von acht Gefangenen aus dem Gefängnis am 10.10.1992 fand z.B. eine politische Kundgebung statt. Damals waren drei der Flüchtlinge entkommen, die fünf anderen gefaßt, gefoltert und drei von ihnen umgebracht worden.) Bisher waren bis zu sieben Besuche pro Woche möglich, einschließlich Intimkontakt. Doch auch diese Freiheiten wird es bald nicht mehr geben! Im Oktober 1993 wurde innerhalb des Santiagoer Gefängnisses “Ex-Penitenciaria” ein moderner Hochsicherheitstrakt fertiggestellt, der sicherlich einem deutschen Stammheim in nichts nachsteht.

“Stammheim” in Chile

Der neukonstruierte Hochsicherheitstrakt kann 600 Personen aufnehmen. Gleichzeitig wurde in Colina, einem Vorort Santiagos ein weiterer eingerichtet.
Innerhalb der letzten Jahre hatte der chilenische Innenminister Krauss (Oberster Chef der Carabineros und jetziger Kripovorsitzender) die BRD, Frankreich, Spanien und Italien bereist, um sich über die hiesigen Haftbedingungen und Erfahrungen in der “Terrorismusbekämpfung” zu informieren.
Die neuen Haftbedingungen, soweit sie bekannt sind, werden folgende sein: eine Begrenzung der Besuchszeit auf einmal innerhalb von 14 Tagen und auch nur durch direkte Familienangehörige, nicht mehr als vier gleichzeitig. Die Kommunikation kann dabei nur durch eine Trennscheibe erfolgen. Nach westeuropäischen Vorbild soll auch in Chile Isolationshaft eingeführt werden. Dabei wird nicht nur auf die psychische Vernichtung der Häftlinge und die Zerschlagung ihrer Organisationsmöglichkeiten spekuliert. Seit Juli 1992 existiert innerhalb der “Gendarmería” (ein Teil der Polizei, der nur im Knast eingesetzt wird,) eine Eliteeinheit (GEAM) zur Aufstandsbekämpfung. Sie wurde schon wiederholt bis hin zum Schußwaffeneinsatz eingesetzt, um Gefangenenproteste und -aufstände zu beenden. Sie wird unter den neuen Bedingungen ungestört ihre Willkür ausüben können.
Die politischen Gefangenen werden voraussichtlich im März 1994, wenn Eduardo Frei das Präsidentschaftsamt übernommen hat, verlegt. Erfahrungen zeigen, daß es dabei Tote geben könnte, vor allem, da die Gefangenen der FPMR (Frente Patriótico Manuel Rodriguez) angekündigt haben, mit allen Mitteln gegen die Verlegung zu kämpfen.

Immer noch wird gefoltert

Chile ist zwar Mitunterzeichner der Anti-Foltererklärung der UNO, doch die Realität sieht anders aus. Die Organisation Politischer Gefangener O.P.P., der Mitglieder der militanten Oppositionsgruppe FPMR (Frente Patriótico Manuel Rodriguez), der Kommunistischen Partei (P.C.), der Unabhängigen Linken sowie Teile des MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria) angehören, gab Mitte des Jahres 1993 eine Dokumentation mit dem Titel “Folter in Chile 1990-1993” heraus. Darin berichten 75 politische Gefangene über ihre Behandlung durch die Polizei in genanntem Zeitraum.
Die Ergebnisse der Studie sind erschrekkend. 67 der 75 befragten Befragten geben an, psychisch gefoltert worden zu sein. Größtenteils handelt es sich dabei um (Mord-)Drohungen gegen Familienangehörige. In einigen Fällen waren die Gefangenen sogar dabei, als ihre Familienangehörigen gefoltert wurden oder mußten es mitanhören. Die Gefolterten stehen vor der Wahl, entweder ihre Familie oder ihre MitstreiterInnen “verraten” zu müssen. Gerade unter diesem massiven Druck sind vielfach (falsche) Geständnisse zustande gekommen.
66 Gefangene sagen aus, geschlagen worden zu sein. Dazu zählen unter anderem Fausthiebe, Fußtritte, Ohrfeigen und Schläge mit Gummiknüppeln bei der Festnahme sowie danach. 55 Gefangene geben an, oft tagelang gefesselt gewesen zu sein, sei es mit Augenbinden, Knebel, Aufhängen an den Handgelenken oder Festbinden in unbequemen Positionen! 51 von ihnen wurde Essen, Kleidung, Schlaf, Wasser oder/und hygienische Einrichtungen entzogen. 30 berichten von Folter mit Elektroschocks. Eine weitere vereinzelte auftretende Foltermethode ist herbeigeführte Atemnot – bis hin zu Erstickungsanfällen. In zwei Fällen kam es zu Vergewaltigungen.
Vielfach wurden die Gefangenen unter Folter gezwungen, Geständnisprotokolle zu unterschreiben, ohne sie vorher gelesen zu haben. Oder es wurden einfach Unterschriften auf Blankoblättern erzwungen.
Vorwiegend werden die Folterungen und Mißhandlungen von der uniformierten Polizei begangen, allerdings gibt es auch Klagen gegen die Kriminalpolizei (Investigaciones). Häufig wird in Beschwerden über Folter auch das Dritte Polizeirevier Santiagos (Tercera Comisaria) genannt. Dabei handelt es sich um die Zentrale der DIPOLCAR (Dirección de Inteligencia de la Policía de Carabineros), vermutlich eine Art Nachfolgeorganisation des chilenischem Geheimdienstes CNI. Die DIPOLCAR wurde im Mai 1990 zur Bekämpfung von Angriffen bewaffneter Oppositionsgruppen gegründet.

Die “Inkommunikationshaft”

Als Inkommunikationshaft wird die Zeit direkt nach der Festnahme bezeichnet, in der die (politischen) Gefangenen ohne Kontakt zur Außenwelt stehen. Unter dem Militärregime (und auch unter der Regierung Aylwin) fanden in dieser Zeit die häufigsten Folterungen statt und wurden die meisten Geständnisse erzwungen. Auf dieser Grundlage erfolgt dann die Verurteilung. Bis 1991 enthielt die Strafprozeßordnung (CPP) eine Klausel, die den Militäranklägern erlaubte, die auf höchstens 15 Tage festgeschriebene Inkommunikationshaft, nach Überstellung in ein Gefängnis in einigen Fällen auf bis zu zwei Monaten auszudehnen. Mit Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 19.047 im Februar 1991 kann heute einE GefangeneR nur noch höchstens 20 Tage in Inkommunikationshaft gehalten werden: 15 Tage in Polizeigewahrsam und 5 weitere Tage nach Überstellung in ein Gefängnis.
Insgesamt soll das Gesetz 19.047 die Sicherheitsgesetze reformieren sowie den Gefangenen mehr Rechte und Schutz garantieren. So sollen Gefangene in Inkommunikationshaft die Möglichkeit haben, täglich bis zu einer halben Stunde Rechtsbeistand zu empfangen sowie von einem/r unabhängigen Arzt/ Ärztin untersucht zu werden. Doch auch dieses Gesetz wird nicht immer beachtet. Menschenrechtsanwälte reichten bei den Behörden Beschwerden darüber ein, daß ihnen von den Carabineros wiederholt der Zugang zu Personen in Polizeigewahrsam verweigert worden sei.
Schreibt (alle) Protestbriefe an: Presidente de la Republica Patricio Aylwin, Palacio de la Moneda, Santiago, Chile.

Energiepolitik im Modelland Chile

Monopol im Energiesektor

Bereits seit Jahrzehnten erforscht EN­DESA, das nationale Stromerzeugungs-unternehmen, die Mög­lichkeiten, den Bio-Bio zur Energieversorgung Chiles nutzbar zu ma­chen. Nachdem ENDESA 1988 von staat­lichem Besitz in eine private Aktienge­sellschaft überführt worden war, wurden diese Bemühungen forciert. Hauptaktionär ENDESAs ist das private Konsortium En­ersis, das nicht nur 70 Pro-zent der ge­samten Stromerzeugung, son-dern über das Stromverteilerunternehmen Chilectra den gesamten Energiesektor des Landes mo­nopolartig kontrolliert. Enersis profitiert maßgeblich von der lückenhaf­ten chileni­schen Gesetzgebung, die staat-lichen Stel­len nur wenig Eingriffs-mög­lichkeiten bei der Steuerung privater Investitionsvorhaben gewährt. Dabei soll die 1987 gegründete Nationale Energie­kommission (CNE), die direkt dem Staats-präsidenten untersteht, eigentlich die Ener­giepolitik Chiles planen, sowie Pro­jekte zur Stromerzeugung genehmigen. Ihre einzige Möglichkeit, um steuernd ein-zugreifen, besteht darin, daß Banken und andere Finanzinstitutionen in der Re­gel nur dann Kreditzusagen machen, wenn In-vestitionsvorhaben von der CNE befür-wortet werden.
Aber auch dieser Mechanismus trägt nur wenig zur umweltpolitischen Kontrolle bei, denn die CNE zeichnet sich ins-be­sondere durch ihre Nähe zu privatwirt-schaftlichen Interessen aus. Ihr Di­rektor, Jaime Tohe, wurde nicht müde, Erhöhun­gen der Stromtarife anzukündi­gen, sollte es durch den Verzicht auf das Staudamm­projekt am Bio-Bio nicht gelin­gen, ab 1997 den auf 5,5 bis 6 Prozent geschätzten jährlichen Mehrbedarf an Strom zu decken. Außerdem hatte die CNE EN­DESA bereits 1990 die Genehmigung zur Konstruktion des Staudamms Pangue er­teilt, ohne zuvor die Ergebnisse der Um­weltverträglichkeitsstudien abzuwarten, die das Unternehmen in Auftrag gegeben hatte. Die Bauarbeiten dauerten zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Jahre an.

Die drohenden Gefahren des Staudamms

Gerade aber auf die Studien der ENDESA berufen sich die KritikerInnen von Pangue unter anderem, die sich im März 1991 in der GABB organisiert haben. Die GABB bündelt die Aktivitäten von Umwelt­schutzbewegungen und VertreterInnen der Pehuenche-Mapuche, den hauptsächlich Betroffenen des Staudammprojekts. Sogar die mangelhaft ausgearbeiteten Untersu­chungen, die ENDESA aus gutem Grund der Öffentlichkeit vorenthält, verdeutli­chen die großen ökologischen Risiken, die mit Pangue einhergehen.
Die Überflutung von 500 Hektar Land am oberen Bio-Bio würde unausweichlich, in­folge des Zersetzungsprozesses der Pflan­zen, die Wasserqualität mindern. Durch die Abnahme der im Wasser gelösten Nährstoffe würde der Fischbestand im Golf von Arauco, in den der Bio-Bio mündet, gefährdet werden und mit ihm die Existenz der dort ansässigen Fischerdör­fer.
Zudem würden durch die Regulierung des Bio-Bio die Interessen der am Oberlauf lebenden kleinbäuerlichen Familien ver­letzt, denn zum einen wäre die Bewässe­rung nicht länger gewährleistet und zum anderen hätte die gelegentliche Öffnung des Damms zur Konsequenz, daß die her­einbrechenden Wassermassen die frucht­baren oberen Erdschichten wegwaschen würden. Völlig unberücksichtigt bleibt in den von ENDESA in Auftrag gegebenen Studien das Gefährdungspotential, das von den umliegenden aktiven Vulkanen ausgeht. Sollte es tatsächlich zu einem Vulkanausbruch kommen, würden Erdrut­sche den Staudamm zerstören und unkon­trollierbare Überflutungen wären die Folge. Außerdem gehen die zitierten Stu­dien nur vom Bau des Pangue aus, obwohl bekannt ist, daß noch fünf weitere Tal­sperren geplant sind. Ende Oktober mußte dies auch die chilenische Regierung öf­fentlich eingestehen.

Folgen für die Pehuenche-Mapuche

Diese drohenden Konsequenzen hätten vor allem die 10000 Pehuenche zu tragen, die am Oberlauf des Bio-Bio leben. Be­dingt durch die schwer zugängliche Lage dieser Region ist es den Pehuenche gelun­gen, ihre traditionellen Lebensformen weitestgehend zu bewahren. Der mit dem Staudamm verbundene Straßenbau wird dieser Abgeschiedenheit ein Ende bereiten und die indigenen Gemeinschaften mit schädlichen Einflüssen der sogenannten Zivilisation konfrontieren. ENDESA hält diesen Argumenten entgegen, daß die Pe­huenche in großer Armut lebten, so daß das Angebot von 2000 Arbeitsplätzen einen wichtigen Beitrag zur Existenzsi­cherung leisten könnte. Diese 2000 Ar­beitsplätze würden jedoch allenfalls wäh­rend der Bauarbeiten existieren. Nach de­ren Abschluß werden wenige Dutzend Ar-beitskräfte ausreichen, um den Stau­damm zu betreiben.
ENDESA führt im Augenblick Verhand­lungen mit den Pehuenche, in denen sie ihnen Landbesitz in einer anderen Region anbietet. Den Pehuenche scheint keine an­dere Möglichkeit zu bleiben, als schließlich in das vorgeschlagene Tausch­geschäft einzuwilligen. Die 1979 unter der Militärdiktatur verabschiedete Indígena-Gesetzgebung erklärte gemeinschaftlichen Landbesitz für unzulässig, so daß die Pe­huenche bis vor kurzem über keinerlei juristisch abgesicherte Landrechte ver­fügten. Auch die jüngst verabschiedete neue Indígena-Gesetzgebung ändert an dieser Situation insofern sehr wenig, als daß die Pehuenche ihre vor 1993 verlore­nen Ländereien nicht zurückerhalten. Ihre VertreterInnen fordern heute neben der Einstellung der Bauarbeiten des Pangue-Staudamms die Gewährung staatlicher Finanzhilfen sowie die Anerkennung ihrer Gebietsansprüche.

Erster juristischer Erfolg für die Pangue-GegnerInnen

Im Juni 1993 erzielten die GegnerInnen des Pangue-Projekts einen ersten juristi­schen Erfolg. Das Berufungsgericht von Concepción, die zuständige richterliche Instanz für die Region um den Bio-Bio, verlangte von ENDESA die Modifizie­rung der Baupläne, um sicherzustellen, daß die Interessen Dritter nicht gefährdet würden. Die vorliegende Genehmigung erlaube nur die nichtverbrauchende Was­sernutzung und werde durch die vorgese­hene Projektkonzeption überschritten, da die Regulierung des Flusses die Bewässe­rung umliegender Felder behindere. De facto lief dieses Urteil auf die Verhängung eines Baustopps hinaus. ENDESA legte daraufhin postwendend bei dem Corte Su­prema Berufung ein.
Die Argumentation der ENDESA-Anwäl­tInnen bezog sich in erster Linie auf den drohenden Umbau aller vergleichbaren Staudämme, so daß es unweigerlich zu ei­ner etwa 25-prozentigen Anhebung der Strompreise kommen würde. Die Natio­nale Energiekommission (CNE) gab EN­DESA bei diesem Streit nach Kräften Rückendeckung und warnte immer wieder vor den negativen Folgen eines Verzichts auf Pangue.
Gestützt auf offizielle Daten der CNE wi­dersprach das staatliche Planungs-ministe­rium MIDEPLAN diesem Sze-nario. Da keinerlei Studien über Alter­nativprojekte vorlägen, sei die Entwick­lung der Strom­preise nicht abzusehen. Das größte Poten­tial liege außerdem in Ener­giespar­pro­grammen, denn immerhin geht augenblicklich rund die Hälfte des er­zeugten und transportierten Stroms verlo­ren. Durch Öffentlichkeitskampagnen ist es während der letzten Dürreperiode ge­lungen, den Energieverbrauch kurzzeitig um 15 Prozent zu senken.

Oberster Gerichtshof gibt Privatinteressen den Vorrang

Als der Oberste Gerichtshof am 5. August das Urteil von Concepción mit dem Hin­weis kassierte, Pangue verfüge über alle notwendigen Genehmigungen, wurde den privaten Gewinninteressen des Monopol­unternehmens auf dem Energiesektor Vorrang vor ökologischen Notwendigkei-ten gegeben. Die weiter gesteckten For-derungen der KritikerInnen Pangues zie-len auf die Formulierung einer natio­nalen Energiepolitik, die durch eine Ener­giegesetzgebung begleitet wird, welche Stromerzeugung und -transport nicht län­ger in den Händen eines einzigen Unter­nehmens beläßt. Darüberhinaus wurden von den der Regierungskoalition angehö­rigen Deputierten der Achten Region, in der Pangue gebaut werden soll, Anträge in das Abgeordnetenhaus eingebracht, um die Gesetzesvorhaben im Umweltbereich sowie das neue Ley Indígena zu beschleu­nigen. Außerdem setzen sich die Depu­tierten dafür ein, Pangue durch unabhän­gige ExpertInnen und den Umweltaus­schuß des Parlaments untersuchen zu las­sen. Abgesehen von dem Hinweis, über keinerlei rechtlichen Möglichkeiten zu verfügen, private Investitionsprojekte zu stoppen, hat sich die chilenische Regierung bisher bedeckt gehalten.

Dreht die Weltbank den Kredithahn zu?

Die vermutlich einzige realistische Chance, Pangue samt den geplanten Nach­folgeprojekten zu verhindern, besteht darin, auf internationaler Ebene Druck auszuüben. Pangue soll insgesamt 470 Millionen US-Dollar kosten, von denen 120 Millionen über die Weltbanktochter CFI finanziert werden, die in drei Raten ausgezahlt werden sollen. Da Weltbank-Kredite an Umweltauflagen, etwa Ver­träglichkeitsstudien, gebunden sind, hofft GABB weiterhin, das Pangue-Projekt zum Scheitern bringen zu können. ENDESA hat der Weltbank bislang noch keine Stu­die vorgelegt. Obwohl die Unternehmens­führung noch im Dezember des vergange­nen Jahres gejubelt hatte, die erste Teil­zahlung des CFI-Kredites sei erfolgt, mußte sie nach einer Stellungnahme der GABB vor kurzem eingestehen, noch kei­nen Cent erhalten zu haben.

Es bleibt nur eine Alternative: Lula

ALAI: Wieder wird Brasi­lien von Korruptionsge­schichten erschüttert, diesmal sind Parlamenta­rier darin ver­wickelt. Wo­hin kann all dies füh­ren?
L.E. Greenhalgh: Die Lage im Land ist sehr ernst, wir sind in einer Sackgasse. Die Korruption hat mit der Absetzung von Collor nicht aufgehört, sondern ist noch schlimmer geworden, nachdem nun auch Parlamentarier und Richter in Verdacht gekommen sind.
Das Land ist gelähmt, und alle Blicke sind nur auf die Korruptionsskandale gerichtet. Die Regierung regiert schon nicht mehr, die Streitkräfte tun so, als sei nichts, das Parlament verabschiedet keine Gesetze, seit es die Überarbeitung der Verfassung unterbrochen hat, die Justiz erfüllt ihre Funktion nicht mehr, und das Volk ist empört. Das alles hat eine politische Si­tuation geschaffen, die den Zeitplan für die Verfassungsreform durcheinanderge­bracht hat. Es gibt möglicherweise vorge­zogene Wahlen, und man kann auch Putschpläne nicht mehr ganz ausschlies­sen.

Präsident Itamar Franco persönlich hat geklagt, auf ihn werde Druck aus­geübt, einen Staatsstreich nach Fujimori-Art durch­zuführen. Wie wahrscheinlich er­scheint Ihnen eine solche Entwick­lung?
Hätte Itamar die politische Macht, hätte er bereits den Kongress geschlossen und einen Staatsstreich wie Fujimori gemacht, aber er hat keine Macht. Er wurde Präsi­dent, weil Collor abgesetzt wurde, er­nannte Männer mit guten Absichten zu Ministern, aber die Regierung bewegt nichts, diese Leute treten auf, reden viel, aber sie tun nichts. Zum Beispiel der Fi­nanzminister ist ein angesehener Mann, der sich hier verausgabt, denn das brasi­lianische Volk möchte, daß die Inflation von monatlich 40 Prozent gestoppt wird, aber das schafft er nicht. Hätte er die In­flation eingedämmt, wäre die Regierung Itamars aus dem Skandal im Parlament gestärkt hervorgegangen, aber da er es nicht konnte, haben sie keine politische Kraft und können keinen Putsch à la Fu­jimori wagen.
Meiner Ansicht nach gibt es in Brasilien nur eine Alternative: die von Lula, die im Aufbau eines demokratischen Gemeinwe­sens besteht, mit dem Wirtschaft und Po­litik gesunden können. Es wird keine linke Regierung, keine sozialistisch-revolutio­näre, aber es wird eine revolutionäre Re­gierung in Bezug auf die Lage, in der Bra­silien sich befindet. Eine Regierung, die die Agrarreform im Griff hat, den Reich­sten Steuern auferlegen kann, die Straflo­sigkeit beendet, Ausbildung und Gesund­heitsversorgung verbessert und ein wenig die Inflation kontrollieren kann. Wenn das alles in Brasilien geschieht, können wir schon von einer Revolution sprechen: Für Brasilien gibt es keine an­dere Möglich­keit, es gibt nur eine, und das ist Lula.

Seit einiger Zeit scheint es, als ob in einigen Staaten separatistische Be­wegungen an Bedeutung gewinnen…
Meiner Meinung nach ist diese Welle von separatistischen Bewegungen in der Welt eine der Folgen des Endes des Kalten Krieges. Die Erde war lange in zwei Lager gespalten mit dem Ost-West-Konflikt. Aber nachdem diese Polarisierung ver­schwunden ist, verlagern sich die Ge­wichte auf die Regionen, und nun sehen wir die separatistischen Bewegungen mitten in Europa aufkommen und ebenso in Südamerika, in Brasilien, in Argenti­nien, in Chile. Ich glaube, daß das Ende der Bipolarität der Welt die regionale Bi­polarität hervorgebracht hat.
Darüber hinaus gibt es in Brasilien wirt­schaftliche Bedingungen, die die separati­stischen Bewegungen besonders im Süden des Landes fördern, denn die brasiliani­sche Wirtschaft spielt sich größtenteils im Süden ab. Und da entsteht ein Gefühl, daß der Süden dafür arbeitet, die Last des gan­zen Landes zu tragen und daß das nicht gerecht ist; sie denken, daß sie weiter entwickelt sein könnten, wenn es nicht die große Asymmetrie zwischen dem Norden und besonders dem Nordwesten und dem Süden gäbe.
Die Situation verschärft sich, denn die Regierung kann nicht damit umgehen. Sie möchte das Gesetz über die Nationale Si­cherheit umarbeiten, um es auf die Führer der Separatistenbewegungen anwenden zu können. Wenn sie dieses Gesetz anwen­den können, kann die Regierung solche Gruppen politisch verfolgen. Die Regie­rung von Itamar ist eine dumme Regie­rung. Ich glaube, wenn Brasilien seine “finanzielle Gesundheit” verbessert, dann werden diese Bewegungen wieder an Be­deutung verlieren.
So unglaublich es klingt, aber Lula ist eine der ganz wenigen Personen, die die mora­lische Autorität besitzen, das Land zu einen auf der Basis einer Zukunftspla­nung, und damit wird er die nationale Einheit fördern.

In Bezug auf Amazonien hört man, daß es einen Plan geben soll, die bra­silianische Armee zurück­zuziehen, um eine interna­tionale Kontrolle dieser Re­gion einzurich­ten. Wie steht die PT dazu?
Ein Hauptpunkt in den Gesprächen der PT mit den Militärs wird Amazonien sein und besonders das Projekt Calha Norte [Calha Norte war ursprünglich ein militärisches Projekt zur Sicherung der Grenze Amazo­niens; s. LN 180.], nicht, um etwas mit den Militärs auszuhandeln, sondern um einen Dialog über ihre mögliche Rolle in einer demokratischen, an den Interessen des Volkes orientierten Regierung zu be­ginnen.
Die PT und die Militärs haben seit jeher sehr verschiedene Grundauffassungen. Die PT wurde während der Militärregie­rung verfolgt. Im Demokratisierungspro­zeß haben die Militärs nie das Gespräch mit der PT gesucht. Jetzt wollen die Mili­tärs mit der PT sprechen, denn es besteht eine reale Möglichkeit, daß wir die Regie­rung stellen. Die Militärs erkennen an, daß die PT die einzige Partei mit einem Pro­gramm ist, das einen Ausweg für Brasilien aufzeigt. Deshalb versuchen beide Seiten, sich gegenseitig ernstzunehmen.
Außerdem reden wir mit den Militärs, um zu wissen, was ihre Vorstellungen und Schwerpunkte sind. Ihr erster Schwer­punkt, so sagen sie, ist die Professionali­sierung der Armee, die nie stattgefunden hat, da die Regierungen dafür keinen Etat hatten. Sie sagen, daß jedenfalls theore­tisch die Streitkräfte umso weiter von der Politik entfernt sind, je professionalisierter sie sind.
Ihre zweite Aufgabe ist die Verteidigung des nationalen Territoriums und der Gren­zen. Die Doktrin der Nationalen Sicher­heit, die einen äußeren und einen natürli­chen inneren Feind voraussetzt, ist über­holt. Deshalb sind die Militärs anderer Meinung wie Brizola, der möchte, daß die Militärs den Drogenhandel bekämpfen. Nach Ansicht der Militärs ist das Sache der Polizei, der Militärpolizei und der Mi­lizen, und nicht der Armee. Sie wollen keine Außenstelle des Pentagons oder des US-Heeres sein.
Außerdem ist ihnen die Notwendigkeit bewußt, das nationale Territorium in Amazonien zu erhalten. In diesem Sinne wollen sie das Projekt Calha Norte disku­tieren. Die Gespräche laufen gut, wir re­spektieren uns gegenseitig, wir reden frei, klar und ohne Angst, damit sie wissen, was wir von ihnen erwarten, und sie von uns.
Vom Standpunkt der nationalistischen In­teressen Brasiliens aus werden wir das Projekt Calha Norte unterstützen, soweit es die Erhaltung Amazoniens beinhaltet, jedoch mit einigen Einschränkungen.

Welche sind die Einschrän­kungen? Was zum Beispiel sagen Sie zu der Kon­trolle der Bevölkerung, die die­ser Plan enthält?
Unsere Einwände betreffen die sozialen Auswirkungen. Wir haben uns schon aus­gesprochen gegen ACISO (Acción Civica Social), mit deren Hilfe ganze Gemein­schaften unterdrückt und kontrolliert wur­den. Wir wollen die Verteidigung der Grenzen, die Verteidigung der territorialen Integrität Amazoniens als Teil Brasiliens.

Heißt das, Sie würden die Freizü­gigkeit der indigenen Bevölkerung re­spektieren, denn es gibt ja Völker wie die Ya­nomami, deren Gebiet bis nach Venezuela reicht…
Das Territorium der Indígenas gehört ih­nen, in dieser Hinsicht ist die Staatsgrenze eine Fiktion. Eine Regierung Lula würde die Grenzen im indigenen Territorium nicht festlegen, im Interesse der Einheit der indigenen Nation. Es entsteht auch ein Dialog zwischen den Indígenas und den Militärs, denn die Militärs beklagen sich, daß sie keinen Zugang zur Staatsgrenze haben, die zu schützen ihre Aufgabe ist, weil sie auf Stammesterritorium liegt. Wir ermöglichen Verhandlungen, ziehen auch CIMI und CNBB hinzu und das Justizmi­nisterium, damit die Militärs das Gebiet nicht besetzen, sondern das Gebiet nur betreten und durchqueren im Interesse der Verteidigung, ohne die Lebensweise und die Bräuche der Indígenas zu stören.

Sprechen wir von den an­stehenden Wahlen. Wie ste­hen Sie diesem Pro­zeß des Bündnisses gegenüber?
Es gibt eine Meinungsverschiedenheit in­nerhalb der PT darüber, ob das Bündnis die PSDB (Partido Social Democrático de Brasil) miteinbeziehen soll oder nicht: 40 Prozent unserer Partei ist der Meinung, daß die PSDB nicht Teil des Bündnisses sein darf. 60 Prozent dagegen meint, daß das Bündnis auch die PSDB umfassen sollte und einige Teile der PMDB. Das ist die offizielle Position unserer Partei.
Das Problem ist, daß die PSDB “eine schwierige Liebe” ist. Sie erklären sich, zeigen Ihre Absichten, möchten mit ihr reden, verhandeln und sie bei der Hand nehmen, und die PSDB will nicht, ist Jungfrau und Puritanerin und sträubt sich. Also wäre es sehr kompliziert, müßte Lula als potentieller Wahlsieger weiterhin die PSDB umwerben, die sich ihrerseits nicht entscheidet. Die Haltung der PT ist fol­gende: Wir bleiben weiterhin mit der PSDB im Bündnis, wenn es jedoch nicht hält, ist das nicht die Schuld der PT son­dern der PSDB.
Die PSDB hat keine Massenbasis aber sie hat Führungskräfte. Die PT hat eine Mas­senbasis, jedoch nur wenige Kader; also könnten wir uns zusammentun, was einen Machtwechsel in Brasilien garantieren würde. Mit Lula an der Spitze und einem der PSDB als Stellvertreter können wir im ersten Wahlgang diese Wahlen gewinnen, aber die PSDB macht alles kompliziert.

Worauf ist es zurückzufüh­ren, daß sich die Glaub­würdigkeit nun im Bereich der Zivilgesellschaft be­findet?
Es ist in Brasilien nichts Neues, daß die Zivilgesellschaft glaubwürdig ist, das war schon immer so. In der Zeit der Militär­diktatur gab es zwei politische Parteien, die eine war Instrument der Diktatur und hieß ARENA, die andere, die MDB, war in der Oppositon, d.h. die Diktatur ließ sie Opposition sein.
Wir sagten im Scherz, der Unterschied zwischen den beiden Parteien bestehe darin, daß die ARENA “Ja, mein Herr” und die MDB nur “Ja” sage. Aber wer das Land aus der Diktatur herausholte, das war das Volk, die Zivilgesellschaft, die StudentInnen, die Menschenrechtsorgani­sationen, etc..
Der erste große Kampf, der gegen die Diktatur geführt wurde, war der Kampf für die Amnestie. Und der wurde nicht von den Parteien ausgelöst, sondern von Persönlichkeiten und von der organisier­ten Zivilgesellschaft. Danach, mit Einset­zen der Amnestie, betreten die politischen Parteien die Szenerie und fangen dort wieder an, wo sie vor dem Militärregime aufgehört hatten. Die einzige Neuerschei­nung ist die PT.
Nachdem sich die Parteien rekonstruiert hatten, waren Direktwahlen für die Prä­sidentschaft notwendig. Wer macht die Wahlkampagne für die Direktwahlen? Die Parteien und die Zivilgesellschaft. Danach kommt die verfassungsgebende Ver­sammlung, die Parteien wählten ihre Ab­geordneten, aber es war die Zivilgesell­schaft, die die Anträge für die Verfassung einreichte. Anschließend fand die Kampa­gne gegen Collor statt. Wer die Kampagne zu seiner Entlassung veranlaßte, war die Zivilgesellschaft. Und erst danach stiegen die Parteien mit ein.
Also hat die Zivilgesellschaft in Brasilien eine herausragende Position. Heutzutage, da sich das Land in einem Zustand der Auflösung befindet ist die Kampagne ge­gen den Hunger das einzige, was sich be­wegt. Sie wird zwar von der Regierung unterstützt, aber von der Zivilgesellschaft getragen. Diese Kampagne, die von Be­tinho angeführt wird, bezieht den Bürger und die Bürgerin als politisches Wesen mit ein. Sie ist die einzige zur Zeit ernst­zunehmende Bewegung in Brasilien.
Es gibt Komitees gegen den Hunger in Stadtvierteln, Gemeinden und Regionen. In einer gemeinsamen Organisation wäre dies die größte Volksmacht, die es in un­serem Land je gegeben hat. Betinho ist ein guter Drahtzieher für die Kampagne, aber ein schlechter Organisator. Wenn er ein guter Organisator wäre, würde er als Er­gebnis der Kampage gegen den Hunger die größte Volksmacht in Brasilien auf­bauen.
Aber außerdem existieren noch andere Komitees, für Ethik, StaatsbürgerInnen, BürgerInnenrechte … wir arbeiten am Konzept des Staatsbürgers und der Staats­bürgerin. Gegen Ende der Diktatur in Bra­silien setzten wir uns für Menschenrechte ein. Aber die Charta der Vereinten Natio­nen spricht nur von individuellen Men­schenrechten. Wir müssen damit begin­nen, die kollektiven, kommunalen und Gruppenmenschenrechte einzufordern, wie zum Beispiel das Recht auf Wohnung, auf Erziehung und Gesundheit. Bald wer­den wir erreichen, daß diese Rechte in der Bundesverfassung verankert sind. Dann muß die Bevölkerung die Verfassung in die Hand nehmen und sagen: Wir sind brasilianische StaatsbürgerInnen, und hier haben wir unsere Rechte. Dieses ist der beste Abwehrmechnanismus gegen einen Putschversuch und die beste Garantie für den Demokratisierungsprozeß.

Von der Psychosekte zum Folterlager

“Von der Banalität des Bösen” könnte man das neue Buch über die Colonia Dignidad in Chile auch nennen. Das wievielte Buch über diese verschrobene deutsche Sekte, die zur Helferin des chilenischen Geheimdiestes DINA und zur Folter- und Mordassistentin wurde, ist es eigentlich?
Seitdem die etwa 300 Köpfe zählende Sekte unter ihrem Führer Paul Schäfer 1961 Hals über Kopf von Deutschland nach Chile ausreiste, weil Schäfer von der Staatsanwaltschaft wegen sexuellen Miß­brauchs von Sektenkindern gesucht wur-de, stand die Gruppe in Chile mehrfach im Mittelpunkt von Skanda­len. Flucht, Prü-gel, Freiheitsberau­bung, psychische und physische Ab­hängigkeit der Sekten-mitglieder, Folter und Mord gemeinsam mit dem Pino­chet-Geheim­dienst DINA waren die Stichworte.
Allein in Chile sind min­destens zwei Ro-mane und vier Sach­bücher über die Psy-chosekte erschie­nen. Neben den Ver­öf-fentlichungen von Amnesty Internatio­nal 1977 und der Lateinamerika-Nachrichten 1980, 1988 und 1989 ist hier in Deut-schland vor allem das etwas zu schnell ge­schriebene und deshalb mit Detailfeh­lern behaftete Buch “Colonia Dignidad – ein deutsches Lager”, Reinbeck 1988, von Gero Gemballa zu nennen. Die Zahl der Fernsehberichte und längerer Zei­tungs-artikel geht in die Dutzende. Auch ein Spielfilm (“Die Kolonie” von Orlando Lübbert, BRD 1985) ist ent­standen.
F. Paul Heller geht die Sache jetzt auf 306 eng beschriebenen Seiten gründlich an, mit Personenregister und Chronik und vielleicht etwas zu gründ­lich. Er sucht Antworten auf die Frage: Wie kommt es, daß eine ursprünglich christlich orientierte Gruppe – der Großteil der Mitglieder stammt aus ei­nigen Baptisten-Gemeinden in Nord­deutschland – zur Terrortruppe nach innen und außen wird? Die Kapitel “Theologie des Terrors”, “Christentum und Folter” und “Gott und Teufel” machen Erklärungsversuche. “Arbeit ist Gottes­dienst” ist eines der wichtigsten “Glaubensbekenntnisse” von Paul Schäfer. Schweigen gegenüber anderen Sektenmit­gliedern und gegenüber Au­ßenstehenden bei gleichzeitiger voll­ständiger Offen­legung aller Gedanken und Gefühle ge­genüber dem Sekten­führer sind die Herrschafts-instrumente, mit denen die Gruppe auf Gedeih und Verderb zusam­mengeschweißt worden ist.
Es wird ein Psychogramm der Gruppe ge­zeichnet, und es werden auch Verbin­dungen zwischen der ver­steckten ideolo­gischen und theologi­schen Basis der Gruppe und einem “esoterischen Hitlerismus” einiger Freunde der Colonia Dignidad herge­stellt. Das ist schwer ver­daulich. Was den Wert des Buchs aus­macht, ist zum einen die Darstellung der Colonia Dignidad als Ort der Folter von politischen Gefangenen und als Ausbil­dungslager für den chilenischen Geheim­dienst. Zum anderen sind die zahlreichen bisher unveröffentlichten Dokumente spannend, weil sich die LeserInnen mit ihnen ein eigenes Bild vom Innenleben der Psychosekte und von der Terror-ideologie des Geheimdienstes machen kann.
Während des Putsches 1973 und in den Monaten danach sind in Chile einige tausend Gegner der Pinochet-Diktatur verhaf­tet worden und danach spurlos ver­schwunden. Der Autor präsentiert nun im Kapitel “Das Massaker” und “Das Arbeitslager” konkrete Zeugenaussagen über die Ermordung von etwa 100 so­genannten Verschwundenen in der Nähe der Colonia Dignidad an einem Berg mit dem Namen Monte Mara­villa. Monte Ma-ravilla war ein Ar­beitslager, das die Colonia Dignidad mit einem Teil der chilenischen Streit­kräfte (höchstwahr-scheinlich war dies die DINA) unterhielt. Nachden im Buch zusammengetragenen Aussagen bestand das Arbeitslager aus Fertig­baracken und Zelten. Dieses Lager, in dem bis zu 100 Gefangene unterge­bracht gewesen sein sollen, soll noch bis 1978, also 5 Jahre nach dem Mili­tärputsch bestanden haben. Die Arbeit, die auch nachts geleistet werden mußte, bestand in Steineschleppen und Graben. Soweit der Autor recherchie­ren konnte, sind alle, die dort gefangen gehalten wurden, bis heute “verschwunden”.
Zu den dort Ermor­deten zählt wahrscheinlich auch der 1974 verhaftete und verschwundene Chileno-Franzose Alfonso Chanfreau, dessen Schicksal ausführlich dargestellt wird. Erschreckend die Geschichte der ehemaligen Freundin Chanfreaus, die wie er zum linksre-volutionären MIR gehörte und nach Ver-haftung und Folter DINA-Agentin wurde. Jetzt führen die aus dem französischen Exil zurückgekehrten Eltern Chanfreaus einen Prozeß, um die Mörder ihres Sohnes dingfest zu machen. Einer der Folterer Chanfreaus, Osvaldo Romo, wurde in-zwischen von Brasilien ausge­liefert und sitzt nun in Chile in Un­tersuchungshaft. Das Buch bietet eine Fülle von Einzel-heiten, die es manchmal schwer machen, den Über­blick zu bewahren. Grausame Doku­mente sind abgedruckt, so z.B. die Empfehlungen eines Militärarztes 1973, wie mit den Anhängern der Unidad-Popular-Regierung umzugehen sei. Sie wurden in heilbare und unheilbare Ex­tremisten eingeteilt, die Unheilbaren soll-ten deportiert und schließlich “neutra-lisiert”, also ermordet werden. Betroffen macht auch die Lebens­beichte des DINA-Agenten Rene Mu­ñoz Alarcón, der kurz nach dem Mili­tärputsch im National-stadion alte Par­teifreunde der Sozia-listischen Partei identifizierte und der nach eigener Aussage in der Colonia Dignidad an Verhör- und Folterkursen teilnahm.
Grausig und dunkel sind auch die di­rekten Dokumente aus der Colonia Dignidad, die von einem krankhaften Verfolgungswahn zeugen. Häufig ver­fahren sie nach der Methode, die Beschuldigungen schlicht umzudrehen und die Verfolgten zu Verfolgern zu machen. Projektion nennen die Psy­chologen so etwas. Das “Protokoll der Außerordentlichen Generalversamm­lung” vom 26.10.1985 ist ein beredtes Dokument über die Denkweise der Sekte. Nach der Flucht dreier wichtiger Gruppenmitglieder, u.a. von Hugo Baar, der jahrelang der Leiter des zu­rückgebliebenen Außenpostens der Gruppe in Siegburg war, wurde dieses Protokoll verfaßt, um mit den Flüchti­gen abzurechnen. Baar wird als gel­tungssüchtiger hysterischer Psychopath bezeichnet. Psychoterror, Bespitzelung, Post- und Telefonkontrolle werden ihm vorgeworfen. Praktiken, die für Baars damaliges Verhalten treffend ge­wesen sein mögen, die aber wahr­scheinlich in noch größerem Ausmaß auch für die Colonia Dignidad in Chile zugetroffen haben.
Am Ende des Buchs stellt sich die Frage, was jetzt aus der Colonia Dignidad wird. Immer wieder in neue rechtliche Formen mu­tiert, existiert die Gruppe unter Sek­tenführer Paul Schäfer seit Mitte der 50er Jahre. Zwei große Skandale mit zwei parlamentarischen Untersuchun­gen (Chile 1967 und Deutschland 1988) hat die Gruppe unbeschadet überstanden. Als Helferin der Pino­chet-Diktatur jahrelang gut geschützt, dann aber auch in Chile in die öffent­liche Kritik geraten und im Februar 1991 formell aufgelöst, besteht die verschrobene Sekte weiter, weil sie ihr Eigentum rechtzeitig in neue Gesell­schaften von Sektenmitgliedern über­führt hat.
Wird es eines Tages eine Befreiung der von ihrer Führung un­terdrückten Sekten mitglieder geben? Wird eines Tages die ganze Wahrheit über die Kollaboration der Colonia Dignidad mit dem Geheimdienst ans Licht kommen? Werden die Mörder und Helfer gerichtlich zur Verantwor­tung gezogen werden können? Gewisse Chancen bestehen jetzt. Die chileni­sche Justiz hat inzwischen den frühe­ren Geheimdienstchef und Freund der Colonia Dignidad, Manuel Contreras, zu 7 Jahren Haft verurteilt. Dies geschah jedoch nicht für die Straftaten, die er zu­sammen mit der Colonia Di­gnidad began­gen hat, sondern wegen der Ermordung des ehemaligen Außenministers Or­lando Letelier, der 1976 einem Bom­benattentat in Washington zum Opfer fiel. Ob die gegen die Colonia Digni­dad angestrengten Prozesse jemals ein Ende finden werden, bleibt zweifelhaft. Der Autor jedenfalls wagt keine Pro­gnose.

Friedrich Paul Heller, Von der Psy­chosekte zum Folterlager, ISBN 3-926369-99-X, DM 29.80 Schmetterling Verlag, Stuttgart 1993

Langweiliger Tiger Lateinamerikas

Nur vier Jahre nach dem Ende der Mili­tärdiktatur ist die Politik in dem südame­rikanischen Land zweitrangig geworden. Kaum jemand war ernsthaft an den Wah­len interessiert, die Stimmabgabe wurde eher als unvermeidliches Übel angesehen – schließlich besteht in Chile Wahlpflicht. Und zu entscheiden gab es im Prinzip nichts. Chile sonnt sich im Lichte seines Wirtschaftsbooms, der neue Reichtum ist unübersehbar, und auch die Armen be­kommen einen kleinen Anteil vom Ku­chen ab. Der noch amtierende Finanzmi­nister Alejandro Foxley lancierte genau eine Woche vor der Wahl seine Voraussa­gen für das kommende Jahr: Das Wirt­schaftswachstum soll danach weiterhin bei 6 Prozent liegen, die Inflationsrate bei 12 Prozent jährlich bleiben. Und die makro­ökonomi­schen Zahlen kurz vor Ende des Jahres 1993 lassen keinen Zwei­fel an der Effizi­enz des chilenischen Wirt­schafts­modells aufkommen: Die Inflation lag im Novem­ber bei phantastischen 0,1 Prozent, die Ar­beitslosigkeit ging im zu­rück­liegenden Trimester auf 4.8 Prozent zu­rück und die Ge­hälter stiegen im glei­chen Zeitraum durchschnittlich um 2,7 Prozent.
Regierungsvertreter betonen immer wie­der, daß gerade die untersten Einkommen am stärksten gestiegen sind und ihr Zu­wachs weit über dieser Lohnsteigerung liegt. Wie Pedro Sáenz von der UNO-Wirtschaftskomission für Lateinamerika, CEPAL, bestätigt, ist die Kaufkraft der armen Leute um bis zu 38 Prozent gestie­gen. “Die niedrigsten Löhne haben in Chile einen großen Sprung getan, bei den Leu­ten, die einen halben Mindestlohn verdie­nen, gab es sogar eine Steigerung um 40 Prozent.” Im Klartext bedeutet das eine Lohn­steigerung von 85 auf etwa 120 DM pro Monat. Bei ständig steigenden Lebens­haltungskosten, die in vielen Be­reichen kaum unter denen der Bundesre­publik lie­gen, ist das weiterhin ein erbärmlicher Lohn.

Der Tiger hat kein Interesse an Politik

Trotz der weltweit geachteten öko­nomischen Erfolge wird Chile ein Land krasser sozialer Gegensätze bleiben. Die Einkommensverteilung hat sich in Chile seit dem Ende der Pinochet-Diktatur kaum geändert. Die größte Armut hat jedoch aufgrund der bescheidenen Lohnsteige­rungen und vor allem wegen des deutli­chen Rückgangs der Arbeitslosigkeit ab­genommen. Nach Berechnungen der CE­PAL sank der Anteil der Armen in Chile von 1987 bis 1992 von 44,4 auf 32,7 Pro­zent der Gesamtbevölkerung, bei der extremen Armut fiel der Rückgang von 16,6 auf 9,0 Prozent im gleichen Zeitraum noch deutlicher aus.
Entscheidende Änderungen in der Wirt­schafts-und Sozialpolitik werden vor die­sem Hintergrund von dem neuen Präsi­denten nicht erwartet. Als Vertreter einer neuen politischen Generation steht er je­doch für eine gewisse Modernisierung in Chile. Sein Slogan “Für die neuen Zeiten” paßte wunderbar in den nichtssagenden, inhaltslosen Wahlkampf. Mehr als neuen Schwung symbolisierte er den Zeitgeist in diesem Land, das jahrelang die internatio­nale Solidarität im Kampf gegen eine brutale Militärdidktatur auf sich zog und nun auf wirtschaftlichem Gebiet zum “Tiger Lateinamerikas” geworden ist. Die Politik ist zweitrangig geworden. Dies hat offenbar auch der neue Präsident erkannt, zumindest machte er sich diesbezüglich schon vor seiner Wahl keine Illusionen: “Dieser Wahlkampf verlief ohne Traumata und mit großem gegenseitigem Respekt inmitten einer kräftigen Investitionswelle in Chile.”

Streitereien bei der Bestimmung der Kanditaten

Die überwältigende Mehrheit, mit der Eduardo Frei Junior die Präsidentschafts­wahl vom 11. Dezember 1993 gewann ist nicht nur ein Ausdruck für eine breite Ak­zeptanz des Regierungsbündnisses aus Christdemokraten, Sozialisten und Sozial­demokraten. Entscheidend für das Resul­tat waren auch die Streitereien sowohl in der rechten als auch der linken Opposi­tion. Bei der Bestimmung des gemeinsa­men Kandidaten der rechtskonservativen Renovación Nacional (RN) und der fa­schistischen UDI (Unabhängige Demo­kra­tischen Union) wurde mit allen mögli­chen unlauteren Mitteln gekämpft, so daß es schließlich zu einem Skandal kam. Der Rechten blieb nichts anders übrig, als auf einen bekannten Namen zurückzugreifen: Arturo Alessandri ist der Enkel des ehe­maligen Präsidenten Jorge Alessandri, des Vorgängers von Eduardo Frei Senior. Seine Kandidatur war eine Notlösung und wurde von seinen eigenen Anhängern schon Wochen vor der Wahl als verloren sehen. Um ihre eigene Haut zu retten, set­zen sich die rechten Kanditaten für Senat und Abgeordnetenhaus zuletzt für eine ge­splittete Stimmabgabe ein: Die Erst­stimme für Frei und die Zweitstimme für den/die KandidatIn der UDI bzw. RN.
Das gesamte Spektrum links von der re­gierenden Concertación ist sogar in drei Kandidaten zersplittert. Das von den Kommunisten dominierte Parteibündnis MIDA brachte den Priester Eugenio Pi­zarro ins Rennen, der letzlich eher eine peinliche Figur abgab und eigentlich von niemandem ernst genommen wurde. In­haltlich hatte er kaum etwas zu bieten, und seine heftigsten Attacken richtete er gegen seine linken Kontrahenten. Zu dem Außenseiter Christián Reitze, dem Kandi­daten der Humanistischen Partei und der Grünen, fiel ihm nichts Besseres ein als daß ein Blonder und Blauäugiger nicht chilenischer Präsident werden könnte. Den unabhängigen Kandidaten Manfred Max-Neef, der von der Christlichen Linke unterstützt wird, diffamierte er als Öko-Spinner. Trotzdem konnte der deutsch­stämmige Volkswirt, der sich in der Ver­gangenheit wiederholt durch eine kritische Position zur Wirtschaftspolitik hervorge­tan hatte, einen überraschend hohen Stimmenanteil verbuchen. Als einziger Kandidat vertrat er in dem zurückliegen­den Wahlkampf kritische Positionen, die in den Zeiten allgemeiner Euphorie von den übrigen Politikern allzu gerne verges­sen werden: Neben ökologischen Themen setzte er sich für die Rechte der indigenen Bevölkerung ein und stellte das her­kömmliche Wachstumsmodell in Frage. Seine Wählerschaft besteht überwiegend aus Intellektuellen, darunter etliche ehe­malige Exilierte. Sein Stimmenanteil könnte bei zukünftigen Wahlen weiter an­steigen.Viele potentielle WählerInnen zo­gen es diesmal vor, für die VertreterInnen des breiten bürgelichen Regierungsbünd­nisses zu stimmen, um dadurch eine wei­tere Konsolidierung demokratischer Ver­hältnisse zu fördern.
Doch die parlamentarische Demokratie mit ihren von dem Militärregime hinter­lassenen Einschränkungen scheint im Moment nicht in Gefahr zu sein. Augusto Pinochet steht zwar weiterhin an der Spitze des Heeres, doch seine Macht wird im Ausland offenbar höher eingeschätzt als in Chile selber. Juan Pablo Cárdenas, langjähriger Chefredakteur der Oppo-sitionszeitschrift “Análisis”, schreibt dem al­ternden General sogar eine systemstabili­sierende Funktion zu: “Pinochet ist ei­gentlich der wichtigste Verbündete der Concertación. Der ge-meinsame Feind ver­einigt die Regier-ungskoalition und bindet gleichzeitig große Teile der linken Oppo­sition. Wenn die permanente Bedrohung durch Pinochet wegfällt, geht der beste­hende Konsens verloren.” Das ist in vier Jahren der Fall, wenn der Diktator als Oberbefehlshaber des Heeres zurücktritt. Gleichzeitig wird ein Teil des Senats neu gewählt und die Rechte Sperrminorität könnte ihren Ein-fluß verlieren. Vielleicht wird der nächste Wahlkampf in Chile ja dann etwas spannender…

“Der Fall Letelier”

Die Verurteilung des Geheimdienstchefs und seines ehemaligen Operationschefs Espinoza war tagelang zentrales Thema der Medien. Anscheinend hatte kaum je­mand der chilenischen Justiz so etwas noch zugetraut. Der Sohn Leteliers und derzeitige Abgeordnete der “Partei für die Demokratie” (PDD), Juan Pablo Letelier, sprach von “großer Genugtuung, denn es zeigt sich, daß es in Chile unter der De­mokratie Gerechtigkeit geben kann.” Lob und Zustimmung rundum: Das geringe Strafmaß, sieben bzw. sechs Jahre (der Richter hatte eine Art Verjährung, “media prescripción”, berücksichtigt), schien bei der Bewertung durch die Politiker keine Rolle zu spielen. Die Wahrnehmung war reduziert auf die Tatsache, daß der einst fast allmächtige und noch immer einfluß­reiche DINA-Chef überhaupt von einem chilenischen Richter verurteilt worden war. Angesichts der herrschenden Un­rechtslage (Amnestiegesetz!) ist das Ver­brechen an Letelier ohnehin das einzige unter den vermutlich Tausenden, für das Contreras gerichtlich zur Rechenschaft gezogen werden kann.
Die Auftritte Espinozas und Contreras’ ge­rieten zum Spektakel, als sie zur privaten Verkündung des Urteils vor das Oberste Gericht zitiert wurden: Espinoza, weiter­hin im aktiven Dienst, erschien in Uni­form; Contreras, von 70 Mann des Ge­heimdienstes des Heeres geschützt, er­klärte zuversichtlich, er werde keinen Tag im Gefängnis verbringen.
Inzwischen haben beide Seiten beim Obersten Gericht Berufung eingelegt. Die Schwester des Ermordeten, die Anwältin Fabiola Letelier, teilt die Genugtuung des Sohnes keineswegs und verlangt lebens­lange Haft; die Verurteilten natürlich Frei­spruch (die CIA hätte die Tat begangen), ersatzweise Amnestie.

Das juristische Gestrüpp

Daß der Letelier-Prozeß überhaupt durch­geführt werden konnte, beruht auf zwei ju­ristischen Besonderheiten:
1. In dem berüchtigten Selbstamnestiege­setz der Militärdiktatur wurde das Ver­brechen an Letelier – auf Druck der USA – ausdrücklich ausgenommen (neben anderen Delikten wie Abtrei­bung).
Dieses Zugeständnis an Washington mochte damals risikolos erscheinen, da im schlimmsten Fall das Verfahren eh vor ein Militärgericht gekommen und wie zig andere Prozesse eingestellt worden wäre.
2. Es gelang der Regierung Aylwin, ein Gesetz durchzubringen, das die Einset­zung von Richtern des Obersten Ge­richts als Sonderrichter (ministro en vi­sita) in den Fällen vorsieht, in denen die Beziehungen Chiles zu einer ausländi­schen Regierung betroffen sind.
Durch die erste Regelung führten die Un­tersuchungen auch zu einem Urteil. Die zweite Regelung erlaubte die Einsetzung des Richters Bañados zur Untersuchung des Falles. In ihrer Prozeß-Strategie haben die Verurteilten einmal gegen das Urteil Berufung eingelegt. In einem weiteren Schritt verlangen sie, die Ausklammerung des Falles Letelier aus dem Amnestiege­setz für verfassungswidrig zu erklären. (Juristisch merkwürdig ist eine so spezifi­sche gesetzliche Regelung gewiß.)
Wie wird das Oberste Gericht – vermutlich im März – entscheiden? Der Anmwalt der Menschenrechtsorganisation CODEPU (Comité de defensa de los derechos hu­manos) Ocampo wagt noch keine Pro­gnose, sieht aber düstere Anzeichen: Das Oberste Landesgericht hatte den Antrag Espinozas, das Verfahren bis zur Klärung der Amnestiefrage ruhen zu lassen, abge­lehnt; wenige Tage später gab es dem gleichen Antrag von Contreras (nach der Urteilsverkündung in der ersten Instanz) statt…

Der Fall Soria

Ein weiteres düsteres Zeichen bedeutet die Entwicklung im “Fall Soria”. Im Jahre 1976 wurde der Spanier Carmelo Soria von der DINA in Santiago ermordet; er arbeitete mit diplomatischem Status für die CEPAL (UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika) und hatte Kontakte zur chilenischen KP im Untergrund.
Unter Hinweis auf die Belastung der aus­wärtigen Beziehungen hatte die chileni­sche Regierung (zögerlich genug, wie die Tochter des Ermordeten erklärt) auch hier die Einsetzung eines Sonderrichters ver­langt. Bislang ruht das Verfahren bei der Militärjustiz.
In einer 7:6-Enscheidung hat eine Kam­mer des Obersten Gerichts den Antrag der Regierung abgelehnt – die sieben konnten eine Belastung der Beziehungen nicht er­kennen. Damit darf der Fall weiter bei der Militärjustiz ruhen, die ihn (nicht) verfolgt und auch jede Veröffentlichung darüber in den Medien verhindern kann…
Mit ihrer Ablehnung haben sich die Rich­ter eine eigene Wertung der auswärtigen Beziehungen angemaßt – und somit ihre Kompetenzen überschritten.
Um den Standpunkt der Aylwin-Regie­rung zu stützen, hat die spanische Regie­rung ein Signal gesetzt und ihren Bot­schafter zur Berichterstattung nach Madrid zitiert. Die Regierung wird den Antrag noch einmal stellen.

Kasten:

Punto Final: Ein Urteil mit Vorzügen und Schwächen

In der auf Konsens getrimmten chilenischen Gesellschaft wirkt eine Position wie die von “Punto Final” wie der Rufer in der Wüste; wir zitieren aus dem Beitrag des An­walts Carlos Margotta:
“Der Inhalt des Urteils und der Widerhall darauf bestätigen einen bekannten Aphoris­mus, nach dem Urteile Kinder ihrer Zeit sind. Eine unleugbare politische Bedeutsam­keit hat das Urteil, das der Richter des Obersten Gerichts, Adolfo Bañados, in erster Instanz fällte. Das Urteil ist charakteristisch für den Übergang zur Demokratie, mit Vorzügen und enormen Schwächen.”
Carlos Margotta kritisiert, daß der Richter die Verantwortung für den Mord auf Con­treras und Espinoza beschränkt und nicht den direkten Vorgesetzten, Pinochet, miteinbezieht. Daß ein Mord dieser Tragweite von Contreras auf eigene Faust ent­schieden worden sei – dem militärischen Rang her war er lediglich Oberst – sei un­wahrscheinlich.
“Diese wenig überzeugende Einschränkung mindert die Kraft des Urteils. Sie bringt einen auf den Gedanken, daß ein Teil der Untersuchung noch anhängig ist, den man nicht durchführen wollte oder konnte. Sehr wenige glauben ehrlich, daß die Verant­wortung für das Verbrechen bei Contreras und Espinoza beginnt und endet.” Was Wahrheit und Gerechtigkeit betrifft, sei im Gegensatz zu anderen Verbrechen in die­sem Fall die Wahrheit seit Jahren bekannt gewesen. Im Hinblick auf das Strafmaß sind die Strafen, die gegen Contreras und Espinoza ausgesprochen wurden, lächerlich im Vergleich zu denen, die routinemäßig gegen gewöhnliche Verbrecher wegen weni­ger schwerer Delikte verhängt werden. […]
Diesem Anspruch wird das Urteil des Richters Bañados angesichts der voraussehbaren Entwicklung des Prozesses nicht gerecht. Das kollektive Empfinden verlangt Gerech­tigkeit und Strafe für die Verbrecher und nicht nur eine moralische Verurteilung.”
“Die Zuversicht Manuel Contreras’ und das demonstrative Auftreten Espinozas in Uni­form mit offenkundiger Unterstützung des Heeres lassen Befürchtungen über das end­gültige Urteil aufkommen.”

Grenzenlose Zukunft -begrenzte Inhalte

Die Entdeckung des spanischsprachigen Publikums

Die Show ist das Zugpferd von Univision. 24 Stunden täglich sendet das Fernsehnetz, das sich selbst als “Vision Lateinamerikas” beschreibt -nach eigenen An-gaben erreicht es 90 Prozent aller Latino/a-TV-Haushalte von Chicago bis E1 Paso, von Miami bis Los Angeles. Die große Konkurrentin Telemundo hat mittlerweile eine ähnlich hohe technische Reichweite. Galavisión, die dritte im Bunde, konzentriert sich vor allem auf Latinos/as an der Westküste, die ihren Ursprung in Mexiko oder Zentralamerika haben. Alle drei stehen im Wettbewerb um die Gunst einer Zielgruppe, die erst vor einigen Jahren als solche entdeckt wurde und seither von einem kommerziellen Medienangebot geradezu über-schwemmt wird. “Effektive Strategien für den hispanischen Markt”, “die Entdeckung des hispanischen Zuschauers”-Artikel, Broschüren, Bücher mit solchen Titeln gehören mittlerweile zur Grundlagenlektüre jeder US-Werbeagentur.
Als Kommunikationswiese ethnischer Enklaven haben spanischsprachige Medien in den USA, wie viele andere fremdsprachige ImmigrantInnenmedien, eine lange Historie. Hier ein Blättchen, dort ein Blättchen, ein Kommen und Gehen. Als überlebensfähig hatten sich nur einige wenige Zeitungen erwiesen (siehe Kasten). Mit der Entdeckung der Latinos/as als Zielgruppe der Werbeindustrie begann jedoch eine ganz neue Geschichte: Der Boom der kommerziellen spanischsprachigen Medien in den USA. in den 70er und vor allem in den 80er Jahren schossen spanischsprachige Hörfunkstationen wie Pilze aus dem Boden, in immer mehr Regionen wurden Femsehprogramme auf spanisch über neue UHF-Stationen ausgestrahlt oder in Kabelsysteme eingespeist. Seit 1988 streiten sich zwei, seit 1990 drei Fernsehnetze um den Werbegelderkuchen.

Aufgewärmtes aus Mexiko und frisches Selbstgemachtes

Auch wenn Univisión, Telemundo und Galavisión immer wieder versuchen, sich voneinander abzugrenzen und sich ein unverwechselbares Image aufzubauen, kochen alle drei mit demselben Wasser. Das alltägliche Menü aus Werbeblöcken wird marktgerecht mit importierten Telenovelas, Komödien und Spielfilmen zusammengebracht und zur Not in den Nachtstunden als Resteesssen einfach noch einmal aufgewärmt. Ein Großteil dieser Sendungen stammt aus den Töpfen des mexikanischen Medienriesen Televisa, der einen Anteil von 25 Prozent an Univisión hält und Galavisión selbst zum Strahlen erweckt hat. Das Programm trifft aber nicht unbedingt den Geschmack aller Latinos/as in den USA. Vor allem jüngere schauen lieber den Musikkanal MTV oder Spielfilme auf einem der zahlreichen englischsprachigen Kanäle (manche von ihnen fallen schon von vornherein heraus: sie sprechen drei Generationen nach der Immigration schlecht oder überhaupt kein Spanisch mehr). So wollen sich die Fernehnetze seit einigen Jahren nicht mehr allein auf Programmimporte -vor allem aus Mexiko -verlassen, sondern vergleichsweise kostenintensiv in den USA selbst zu produzieren. Riesige Studio-Areale sind in den letzten Jahren in Miarni entstanden, wo sowohl Univisión als auch Telemundo produzieren. Anfangs waren es nur die nationalen Nachrichten, die von Florida aus in die spanischsprachigen Haushalte der USA verbreitet wurden. Sie sind sauber recherchiert und mit Berichten eigener KorrespondentInnen in Lateinamerika und dem “Rest der Welt” gefüttert. Telemundo kooperiert mit dem englischsprachigen Nachrichtensender CNN. Univisións “Sábado Gigante” wird seit nunmehr sechs Jahren in Miami produziert, genauso wie die erst wenige Jahre laufende “Christina”, eine täglich ausgestrahlte, außerordentlich erfolgreiche Diskussionssendung über Themen wie “zweisprachige Erziehung”, “Diskriminierung am Arbeitsplatz”, “Fit ins Alter” oder “rnachismo”. Sogar die erste jemals in den USA produzierte spanischsprachige Komödie “Corte Tropical” ist in den Studios in Florida entstanden. Ort der banalen Komödie ist ein Friseursalon, in dem sich die Wege von Latinos/as verschiedenster Generationen und Herkunft kreuzen: Mexikano-Amerikaneruinen, Kubano-Amerikanerinnen, Puerto-Ricanerinnen oder Immigrantinnen aus Zentralamerika.

Die normative Kraft des Kommerziellen

Mittlerweile leben über 17 Millionen Menschen in den USA, die vorzugsweise in Spanisch kommunizieren -und ihre Zahl steigt durch Immigration kontinuierlich. Weitere 5 Millionen Latinos/as beherrschen das Spanische zumindest passiv
-ein riesiger Markt für nationale und werbefinanzierte Programme. Wurden vor wenigen Jahren englische Werbespots spanisch synchronisiert, gibt es heute Spots, die exklusiv für die Zielgruppe der US-Latinos/as konzipiert und produziert werden. Spanischsprachiges Fernsehen in den USA ist vor aliem ein Geschäft -zudem eines mit rosigen Zukunftsaussichten. “Money makes the world go round.” Dieses Lied wird in den englischsprachigen Chefetagen der spanischsprachigen Fernsehnetze gerne gesungen. Besonders dann, wenn Latino/a-LobbyistInnen fordern, die Inhalte und Botschaften der Programme mehr an der sozialen und politischen Ausgrenzung vieler lateinamerikanischer ImmigrantInnen auszurichten. Cubano, Mexicano or whan
Doch politisch-emanzipatorische Programme für Latinos/as sind Mangelware; von den Programmchefs der Fernsehnetze ist oft zu hören, daß es Versuche gegeben habe, Dokumentationen und Diskussionssendungen ins Programm aufzunehmen. Massenhaft hätten die ZuschauerInnen zu Hause daraufhin das Programm mittels Fernbedienung ins elektronische Jenseits befördert.

Kein Minderheitenmedium

Die halbstündigen lokalen Nachrichten konzentrieren sich auf das Neueste aus den barrios in den Latino/a-Metropolen. Wenn überhaupt, dann sind sie es, die durch ihre engagierte, mitunter auch sozialkritische Haltung in die Schublade passen, in die spanischsprachiges Fernsehen in den USA von vielen immer noch gesteckt wird: Minderheitenmedium. Das hat Konsequenzen. Von KritikerInnen aus Latino/a-Kreisen wird ihm immer wieder vorgeworfen, es käme seiner eigentlichen Funktion, Anwalt für ImmigrantInnen zu sein, nicht nach. Andere wiederum, vorzugsweise WissenschaftlerInnen, sehen es als Orientierungsforurn für Neuankömmlinge in den USA. Sie nennen es in einem Atemzug mit deutschen oder russischen EinwanderInnenzeitungen des 19. Jahrhunderts und warten nur darauf, den Grabgesang auf ein weiteres fremdsprachiges Medium in den USA anzustimmen.
Doch spanischsprachiges Fernsehen in den USA ist kein Minderheitenrnedium. Ein Zielpublikum von 17 Millionen ist in einer Medienwelt, die sich in immer kleinere’ Zielgruppen segmentiert, keine Minderheit. Im Gegenteil. Viel wahrscheinlicher ist eine weitere Segmentierung des spanischsprachigen Fernsehmarktes. So wie im Fall von MTV Latino, der seit kurzem verfügbaren Version von MTV auf Spanisch. Sie wird auch in US-amerikanische Kabelnetze eingespeist.

Elektronischer Schmelztiegel ?

Egal, ob Fernsehen, Hörfunk oder Printmedium, vom Image eines kämpferischen Minderheitenrnediums haben sich die kommerziellen, spanischsprachigen Me-dien schon lange verabschiedet. So richtet sich die Kritik einiger Latinos/as im-mer mehr auf die Bilder, die das Fernsehen in den Köpfen ihrer ZuschauerInnen produziere. Earl Shorris, Biograph der Latinos/as in den USA, drückt das Mißfallen vieler aus, wenn er schreibt, spanischsprachiges Fernsehen sei ein “elektronischer melting pot, in dem Wörter, Bräuche, Gesten und Geschichten verschwinden”. Spanischsprachiges Fernsehen ist eines der wenigen Bindeglieder zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen, die unter dem Dach der “Superethnie” Latinos versammelt sind. Entsprechend hoch wird von manchen Beteiligten die potentielle Wirkung der Fernsehbilder auf das Selbstbild der US- Latinos/as eingeschätzt. Seit einigen Jahren diskutieren in-tellektuelle Latino/a-Zirkel, was der idealtypische Latino oder “die” Latina sei. Für viele Latinos/as stellt sich diese Frage nicht. Ihr Selbstbild kommt direkt aus dem Bauch und ist in den meisten Fällen in ihren Nationalfarben gezeichnet. “Mexicano”, “Cubano”, “Salvadoreno” sind die Antworten auf die Frage nach der ethnischen Identität. “Yo soy Latino -Ich bin Latino/a” ist eine eher selten verbreitete Selbsteinschätzung. Die Zielgruppe spanischsprachigen Fernsehens in den USA jedoch sind Latinos/as -anders als die lokal oder regional kommunizierenden Hörfunkstationen oder Tageszeitungen, flimmert über drei Zeitzonen und alle Ethnien und Nationalgefühle hinweg dasselbe Programm. Telenovelas, Nachrichten und in den USA produzierte Programme wie “Christina” oder “Sábado Gigante” sollen Mexikano-Amerikanerinnen vom Südwesten der USA gleichermaßen anziehen wie die große kubanische Gemeinde in Florida oder die karibische in New York. Manche glauben, daß in den USA eine Chance vertan wird, den typischen Latino oder “die” Latina nicht nur als Nachfahren spanischer Eroberer zu zeichnen.
Denn die täglichen Sendungen ignorieren die Existenz indianischer oder afrokaribischer Geschichte. Es blondelt und blauäugelt unproportional viel im spanischsprachigen Fernsehen. Das Phänomen des elektronischen Rassismus allerdings ist lateinamerikanische Tradition und nicht erst unter den Latinos/as in den USA kreiert worden.

Exporte nach Lateinamerika -Ziel Nummer eins

Damit sich die Investitionen für die in den USA produzierten Programme wieder amortisieren, greifen die spanischsprachigen US-Networks zu dem, was im Mediengeschäft ohnehin schon länger Standard ist: Sie exportieren Programme, die ursprünglich für den Latino/a-Markt der USA produziert wurden, nach Lateinamerika. So strahlt Don Francisco mittlerweile auf nahezu allen Bildröhren Lateinamerikas (über Don Franciscos Einfluß in Chile auch der Artikel “Mit anderen Augen gesehen” in diesem Heft), “Christina” hat sich auch zu einem Exportschlager Univisions entwickelt.
Mauricio Gerson, Programmchef bei Telemundo, nennt die Ausbreitung des Fernsehnetzes nach Lateinamerika das “wichtigste Ziel für die kommenden Jahre, es wird über unsere Zukunft entscheiden”. So soll der Verkauf spanischsprachiger Fernsehprogramme von den USA nach Lateinamerika das dringend benötigte Geld beschaffen, um weiterhin zu Hause -in den USA -teure, spanischsprachige Programme zu produzieren. Das alles, um nicht zu abhängig von aus Lateinamerika importierten Billigproduktionen zu werden. Medien kennen keine Grenzen mehr. Seit spanischsprachiges Fernsehen die Aufmerksamkeit der Werbeindustrie geweckt hat und selbst ausschließlich den Gesetzen der Profitmaximierung verpflichtet ist, ist es als Werbeträger zu einem wichtigen Bestandteil der globalen Konsumanimation geworden.Der Latino/a-Medienmarkt in den USA mausert sich mehr und mehr zum Experimentierfeld multinationaler Konzerne.

Wie in einem gigantischen Versuchslabor wird hier getestet, wie der lateinamerikanische Konsummarkt optimal animiert werden kann.Der Gedanke ist so simpel wie fragwürdig: Was von der multikulturellen Latino/a-Gemeinde in den USA angenommen werde, werde sich auch auf dem ebenso multikulturellen lateinamerikanischen Markt durchsetzen. Den spanischsprachigen Fernsehproduktionen käme dabei zugute, was für einige das Erfolgsrezept US-amerikanischer Medienindustrie überhaupt ist: Fernsehprogramme für ein kulturell, ethnisch und regional sehr unterschiedliches Publikum in den USA entwickeln zu müssen.
Doch nach diesem Rezept wird heute in allen Produktionsküchen von weltweit agierenden ProgrammanbieterInnen gekocht. Televisa in Mexiko, Radio Carácas in Venezuela oder Rede Globo in Brasilien sind Beispiele in Lateinamerika, die schon lange nicht mehr nur für ein nationales Publikum planen und produzieren. Don Francisco ist’s ohnehin egal, für wen er nächsten Samstag arbeitet -Hauptsache, die Einschaltquote stimmt.

Kreative Unruhe inmitten des ökonomischen Desasters

Es ist eine seltsame Sturmnacht. Wind und Regen peitschen von der Karibik her gegen das kolumbianische Festland. Krebse krabbeln aus der Gischt und retten sich an Land. Ein Baby wird unruhig. In Windeseile bedeckt das glitschige Getier den Boden der Strohhütte. Das Baby schreit. Draußen hat das Unwetter ein anderes verstörtes Wesen an den Bootssteg gespült: “Un señor muy viejo con unas alas enormes” – einen sehr alten Herrn mit enormen Flügeln. Ein Geschenk des Himmels?
Fernando Birri, Kuba, 1989

Wie jeden Tag sitzt sie in der Küche und weint beim Zwiebelschneiden, als sie spürt, daß es soweit ist: Der gewölbte Unterleib krampft sich zusammen, die Fruchtblase platzt, und ein Meer von Tränen ergißt sich über die Holzdielen, schwappt bis zur Türschwelle. Das Mädchen, das in diesem Moment das Licht der Küchenfunzel erblickt, wird den Großteil seines Lebens in diesem Raum verbringen und als Köchin kleine Wunder vollbringen. Tief im Inneren wird sie sich nach den samtigen Schlafzimmeraugen ihres Geliebten und späteren Schwagers verzehren. Sie gehören zueinander “como agua para chocolate” – wie das Wasser und die Schokolade, die sie ihm täglich in emsiger Fürsorge zubereitet…
Alfonso Arau, Mexiko, 1992

Mexikanische Knäste sind nicht besonders angenehm, dieser ist keine Ausnahme: Die Mittagshitze brennt aufs Wellblechdach, apathisch hängt die Wärterin hinterm Schreibtisch und zählt Schmiergeld. Auch der einzige Insasse langweilt sich – und sinnt auf Rache: Er weiß, wessen Verrat er diesen Aufenthalt verdankt. Da ist das Schlagen einer Autotür zu hören. Breitbeinig, die Knarre im Anschlag, betreten sie die Baracke. Damit der Chef die neue Freiheit auch genießen kann, haben sie ihm gleich was mitgebracht: einen schwarzen Gitarrenkoffer – drinnen eine kleine Waffensammlung. Der Weg ist frei für die Revanche – wenn da nicht ein unschuldiger “Mariachi”-Sänger mit einem ähnlichen Koffer wäre…
Roberto Rodriguez, Mexiko, 1992

Von einem Tag auf den anderen beschließt er, das wenige zu verkaufen, was er sich in all’ den Jahren als Sargtischler erarbeitet hat. In La Paz begreift niemand, warum er zurück will in sein Aymara-Dorf. Vor Jahren hatte ihn die Gemeinschaft verstoßen: Er hatte Geld unterschlagen. Eine rituelle Tanzmaske auf den Rücken geschnallt, macht er sich zu Fuß auf den Weg, um dort zu sterben, wo er hingehört: zur “nación clandestina” – der geheimen Nation.
Jorge Sanjinés, Bolivien, 1991

Bloß raus aus dem feuerländischen Winter, weg vom spießigen Stiefvater, der resignierten Mutter, den Schikanen in der Schule und der verwickelten Liebesaffäre. – Wohin? Mal sehen: erst mal mit dem Rad durch Patagonien, dann weiter nach Norden… Quer durch den unbekannten lateinamerikanischen Kontinent, auf den Spuren des Vaters, der vor Jahren das Weite suchte: “El viaje” – die Reise – vielleicht ist der Weg schon das Ziel?
Fernando Solanas, Argentinien, 1992

Eingangsquenzen von fünf lateinamerikanischen Filmen, die in den letzten Jahren entstanden: Ein Panoptikum unterschiedlicher Geschichten und Bildsprachen. Nicht alle haben eine klare “mensaje”, eine politische Botschaft. Im Gegenteil: “El Mariachi” und “Como agua para chocolate” stehen eher in der Tradition populärer Unterhaltungsgenres, treiben sie auf die Spitze, lavieren zwischen parodistischer Brillianz und schnöder Trivialität hin und her.
Ganz anders dagegen Filme wie “La nación clandestina” und “El viaje”. Auf sehr unterschiedliche Art und Weise befassen sie sich mit der Suche nach einer persönlichen und kollektiven Identität: “La nación clandestina” des Bolivianers Sanjinés hält sich als künstlerisches Werk zurück. Der Film, der mit Aymara-Indígenas in ihrer Sprache gedreht wurde, paßt sich in Tempo und Schnittfolge der Lebensphilosophie dieses Volkes an. Ganz anders dagegen der abenteuerliche Trip von Solanas Protagonisten, einem Jungen aus dem weißen Mittelstand: “El viaje” ist vom ständigen Wechsel der Verkehrsmittel, der Umgebung, der Eindrücke geprägt: Ein surreal-dekadentes Argentinien, von Wassermassen überschwemmt und in seiner eigenen Scheiße erstickend. Ein postkartenschönes Machu Picchu, das inmitten des touristischen Rummels Ahnungen von der präkolumbianischen Vergangenheit aufsteigen läßt. Ein von grotesken Gegensätzen zerrissenes Brasilien, in dem es futuristische High-Tech-Metropolen gibt, während gleichzeitig im Amazonasgebiet Minenarbeiter sich zu Tode schuften müssen wie schon zu den Zeiten der Conquista. – Zwei Filme, der eine von stoischer äußerer Ruhe und Verschlossenheit, der andere opulent, teilweise überladen mit Eindrücken und Metaphern – Porträts der widersprüchlichen Gesichter eines Kontinents.

Filme zur Conquista: Jubiläumsspektakel oder kultureller Dialog?

Pünktlich zum Jahr 1992 entstanden auch einige Filme, die sich direkt mit der Geschichte der Eroberung Amerikas auseinandersetzen: Im Gegensatz zu den US-amerikanischen Mammutschinken “1492” und “Columbus”, die sich auf die Heldengestalt des “Entdeckers” bezogen, erzählen “Jericó” (Luis Alberto Lamata, Venezuela, 1991) und “Cabeza de vaca” (Nicolás Echevarría, Mexiko, 1991) andere Versionen vom “Aufeinandertreffen zweier Welten”, die ebenfalls auf historische Quellen zurückgehen: In beiden Fällen sind die Protagonisten spanische
Conquistadoren, die von ihrer Armee getrennt werden, nach und nach immer mehr vom alten Ich abstreifen, in die fremde Umgebung und Kultur eintauchen – bis sie gegen ihren Willen von den Spaniern “gerettet” und in die “Alte Welt” zurückgeholt werden.
Das Paradoxe ist, daß die meisten dieser “500 Jahre”-Filme nur mit Hilfe von Geldern aus Europa realisiert werden konnten. Besonders der staatliche spanische Fernsehsender TVE ließ sich das historische Gedenken schon einiges kosten und trat als Koproduzent bei der Finanzierung einiger Filme auf – unter anderem bei “La nación clandestina” von Sanjinés und “Un señor muy viejo con unas alas enormes”, den Fernando Birri nach einer Kurzgeschichte von Gabriel García Márquez verfilmte.

Allgemein konnte im letzten Jahr durchaus der Eindruck enstehen, als ob die europäische Medienöffentlichkeit ganz wild darauf sei, die koloniale Vergangenheit durch eine hohe Durchlaufzahl von lateinamerikanischen Filmproduktionen aufzuarbeiten. Sowohl auf den Leinwänden der Filmfestivals als auch in der ersten Reihe bei ARD und ZDF waren so viele amazonische Ureinwohner und großstädtische Straßenkinder zu sehen wie nie zuvor. Jetzt, wo der Jahrestag der Betroffenheit abgefeiert worden ist, scheinen sich die Bedürfnisse des Marktes und das Angebot in den Massenmedien erst mal wieder in andere Weltregionen verlagert zu haben.

Zwischen “Ästhetik des Hungers” und Happy End für “Juliana”

Und wie sieht es in Lateinamerika selbst aus? Mehr als 30 Jahre sind seit der Entstehung des Neuen Lateinamerikanischen Films vergangen. Beeinflußt von der kubanischen Revolution und linken Bewegungen anderswo auf dem Kontinent, versuchten in verschiedenen Ländern FilmemacherInnen, neue Wege zu gehen. Stilistisch waren sie unter anderem vom italienischen Neorealismus oder vom Surrealismus Luis Buñuels beeinflußt, der damals im mexikanischen Exil lebte. Das Kino sollte keine illusionistische Traumfabrik sein, sondern Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse und gleichzeitig Motor politischer Veränderungen. Entsprechend programmatisch waren die Namen: “Cine Imperfecto”, “Cine de Liberación”, “Ästhetik des Hungers”. Regisseure wie Fernando Solanas und Octavio Getino (Argentinien) propagierten ein “Drittes Kino” in Abgrenzung sowohl von der kommerziellen Filmindustrie als auch vom individualistischen Autorenkino.
Ziel war die “Entkolonialisierung der Köpfe” – Film als politisches und pädagogisches Instrument: Entsprechend groß war auch die Bedeutung, die dem Kino in Kuba und auch im sandinistischen Nicaragua beigemessen wurde. Einige dieser Filme beeindrucken nicht nur durch die “Botschaft”, sondern auch durch die expressive Bildsprache: Zum Beispiel “Lucía” von Humberto Solás (Kuba, 1968), der die Geschichte Kubas anhand dreier Frauen aus unterschiedlichen Epochen dieses Jahrhunderts zeigt. Andere Filme arbeiteten dagegen vorwiegend mit dem didaktischen Zeigefinger: Die Charakterisierung der Personen wurde dem vereinfachenden Pinselstrich des “sozialistischen Realismus” untergeordnet.
Einige RegisseurInnen oder Filmkollektive versuchten, nicht nur die Inhalte zu “revolutionieren”, sondern auch die Entstehung eines Films zu einem Gemeinschaftsprojekt zu machen: In den achtziger Jahren arbeitete Grupo Chaski in Peru fast ausschließlich mit LaiendarstellerInnen, die aus ähnlichen Lebensverhältnissen stammten wie die Personen des Films. Ihre Erfahrungen sollten in die Handlung einfließen. Dieser Anspruch wurde allerdings nur begrenzt realisiert – unter anderem, da es nicht gelang, mit gruppeninternen Hierarchie- und Machismo-Konflikten fertigzuwerden. Bei den Filmen von Grupo Chaski flossen Realität und Fiktion ineinander. Und auch Wunschträume hatten ihren Platz, beispielsweise bei dem Film über das Straßenmädchen “Juliana” (Peru 1989), der auf Wunsch der Kinder, die mitspielten, ein Happy End bekam. – Dies löste übrigens bei der Präsentation des Films in Europa bei vielen BetrachterInnen Befremden aus, wurde angesichts der Situation in Peru als unpolitisch und naiv angesehen…

Vor dreißig Jahren: Aufbruch trotz wirtschaftlicher und politischer Zwangsjacken

Das Neue Lateinamerikanische Kino sah sich natürlich von Anfang an mit großen ökonomischen Problemen konfrontiert. Nur in wenigen Ländern, wie etwa Argentinien, Brasilien und Mexiko, gab es eine funktionierende Infrastruktur im Filmbereich, die in erster Linie der Herstellung kommerzieller Unterhaltungsspektakel diente. In den siebziger Jahren begannen Länder wie Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Peru und Venezuela, Gesetze zur Förderung der nationalen Filmindustrie zu verabschieden. So schreibt beispielsweise seit 1972 ein Gesetz in Peru vor, daß in den Kinos vor jedem ausländischen Spielfilm ein peruanischer Kurzfilm gezeigt werden muß und ein Teil der Kinoeinnahmen seinen ProduzentInnen zufließt. Dies führte immerhin dazu, daß zwischen 1972 und 1990 mehr als 800 Kurzfilme entstanden.
Während der Zeit der Militärdiktaturen in Argentinien, Chile, Bolivien und anderen Ländern waren viele FilmemacherInnen gezwungen, ins Exil zu gehen. Erst die Rückkehr der Länder zur formalen Demokratie brachte wieder Impulse für den Film, der zum Sprachrohr der progressiven Bewegungen wurde: In Argentinien entstanden ab Mitte der achtziger Jahre eine Reihe von Werken, die sich mit der Zeit der Diktatur auseinandersetzten, so etwa “La historia oficial” von Luis Puenzo (“Die offizielle Geschichte”, 1985), “La noche de los lápices” (“Die Nacht der Bleistifte” 1986) von Héctor Oliveira und “Sur” (Süden, 1987) von Fernando Solanas.

Ökonomische Krise und Videoboom: schlechte Zeiten fürs Kino

Die neunziger Jahre sind für das lateinamerikanische Kino nicht gerade die Zeit der großen Hoffnungen, und das hat in erster Linie ökonomische Ursachen: Die in den meisten Ländern ohnehin nicht sehr stabile Filmindustrie leidet zum einen unter der immer größeren Konkurrenz durch Fernsehen und Video. Die ökonomische Krise der letzten Jahre und vor allem die neoliberale Wirtschaftspolitik haben gleichzeitig die Kaufkraft so weit geschwächt, daß ein Kinobesuch auch für Leute aus der Mittelschicht zum Luxus geworden ist.
Als Konsequenz des Publikumsschwundes mußten in den vergangenen sechs Jahren mehr als die Hälfte der Kinosäle in Lateinamerika schließen. Die übrig gebliebenen Lichtspielhäuser setzen vorwiegend auf US-amerikanische Massenware. Oft werden sie auch von den Verleihfirmen dazu verpflichtet, mehrere Streifen en bloc einzukaufen, was es schwer macht, unabhängig produzierte in- oder ausländische Filme ins Programm zu nehmen.
Anders als in der Fernsehindustrie gibt es im Filmbereich kaum Strukturen für den Vertrieb und Austausch lateinamerikanischer Produktionen. Mit paradoxen Folgen: Die Wahrscheinlichkeit, einen kolumbianischen Film in einem Programmkino in Köln oder einem Dritte Welt Zentrum in Münster zu sehen, ist weitaus größer als die Möglichkeit, das Werk im Nachbarland Ecuador zu Gesicht zu bekommen. Das gilt auch für viele Filme, die internationale Preise erhalten haben.
Insbesondere die brasilianische Filmindustrie wurde von den Privatisierungen unter Collor de Mello stark getroffen. Dieser löste nach seinem Amtsantritt die staatliche Filmförderungsbehörde Embrafilm auf und schaffte das Gesetz ab, das den brasilianischen Filmen eine Abspielmöglichkeit garantierte. – Mit dem Ergebnis, daß das Land, das zeitweise bis zu 90 Filme pro Jahr produzierte, seit Anfang der neunziger Jahre nur noch durchschnittlich 3 Filme herstellt. Die Programmlücken, die so im Kinoangebot entstanden, wurden rasch mit US-Produktionen gefüllt.
Lediglich Mexiko gelingt es nach wie vor, seine – größtenteils recht kommerziell orientierte – Filmproduktion relativ stabil zu halten. Dies liegt zum einen an der vergleichsweise sicheren politischen und ökonomischen Situation des Landes. Wichtig für die künstlerische Filmproduktion sind die Aktivitäten des staatlichen “Instituto Mexicano de Cinematografía” (IMCINE), das unter anderem gezielt junge FilmemacherInnen fördert. Einige Filme wurden sogar kommerzielle Erfolge im Ausland, zum Beispiel “Como agua para chocolate”: In den USA wurde das Küchendrama überraschend zum Kassenschlager und spielte allein in den ersten 16 Wochen 8,5 Millionen Dollar ein.
Und wie steht es mit Kuba? In den drei Jahrzehnten nach der Revolution entstand auf der Insel unter Federführung des nationalen Filminstitutes ICAIC eine Filmindustrie, die zwischen 1984 und 1990 ungefähr 10 Spielfilme pro Jahr sowie zahlreiche Kurz- und Dokumentarfilme produzierte. Entscheidend ist allerdings nicht die Anzahl der Filme, sondern die politischen Impulse, die vom kubanischen Film ausgingen, sowie die Infrastruktur, die der kubanische Staat aufbaute und auch Filmschaffenden anderer Länder zur Verfügung stellte.
So wurde 1986 auf Kuba die “Filmschule der drei Welten” gegründet – ein weltweit einmaliges Projekt, das jungen Leuten aus Lateinamerika, Asien und Afrika die Möglichkeit bietet, gemeinsam zu studieren und sich auszutauschen. Das Internationale Filmfestival von Havanna, das seit 1980 jährlich stattfindet, entwickelte sich schnell zum wichtigsten Forum des lateinamerikanischen Films.
Die ökonomische Krise, unter der Kuba seit dem Zusammenbruch der Länder des Warschauer Paktes leidet, hat natürlich auch Auswirkungen auf die Filmindustrie: So konnten im vergangenen Jahr nur zwei Spielfilme fertiggestellt werden. Folglich fand das Filmfestival in Havanna in den letzten beiden Jahren in einer Atmosphäre der Widersprüche statt: Inmitten des immer größer werdenden Mangels gelang den OrganisatorInnen zwar das Kunststück, einen reibungslosen Ablauf des Festivals zu organisieren. Gleichzeitig sorgte 1992 die de-facto-Zensur des kubanischen Films “Alicia en el pueblo de las maravillas” (“Alice im Wunderland”), einer systemkritischen Satire von Daniel Díaz Torres, für einen Skandal.

Lateinamerikanische Filmkooperation – erste zaghafte Schritte

Was ist aus der kontinentalen Vision der Väter – und wenigen Mütter – des Neuen Lateinamerikanischen Films geworden, die sich 1967 im chilenischen Badeort Viña del Mar zum ersten lateinamerikaweiten Treffen versammelten?
1986 wurde von Filmschaffenden aus verschiedenen Ländern die “Fundación del Nuevo Cine Latinoamericano” (“Stiftung des neuen lateinamerikanischen Kinos”) ins Leben gerufen, die sich zum Ziel gesetzt hat, “die nationalen und kulturellen Werte Lateinamerikas wiederzubeleben” und die bereits bestehenden Bewegungen auf kontinentaler Ebene zu verknüpfen. Auf Initiative der Stiftung, die ihren Sitz in Havanna hat, wurde beispielsweise 1989 die “Conferencia Iberoamericana de Autoridades Cinematográficas” CACI (“Iberoamerikanische Konferenz der Filmbehörden”) gegründet. Ziel ist, die Zusammenarbeit staatlicher Institutionen und der Filmindustrien auf dem Kontinent zu verbessern und verstärkt Koproduktionen herzustellen. Mittlerweile haben 13 Länder eine “Ibero-amerikanische Film-Vereinbarung” unterzeichnet, die unter anderem die Einrichtung einer jährlichen internationalen Filmkonferenz vorsieht. Auch soll ein Exekutivorgan geschaffen werden, das die gesetzliche und praktische Umsetzung der Vereinbarung in den verschiedenen Ländern überprüft. – Ein gemeinsamer lateinamerikanischer Filmmarkt – die Patentlösung gegen die erdrückende Dominanz der US-amerikanischen Medienindustrie? Gabriel García Márquez, einer der Gründer der “Stiftung des neuen lateinamerikanischen Films”, betont, das Ziel sei nicht, die US-Konzerne aus dem Geschäft zu drängen, sondern lateinamerikanischen Filmen die gleichen Vertriebs- und Präsentationschancen zu verschaffen.
Der lateinamerikanische Film, ein schillernder Vogel, zur Zeit ziemlich gerupft, versucht, ökonomisch fliegen zu lernen. Ein schweres Unterfangen in einer Zeit, in der die wirtschaftliche Krise eine solch beklemmende Schwerkraft entwickelt wie in den neunziger Jahren.

Mit anderen Augen gesehen

Heutzutage bedeutet es etwas anderes als früher, mit comunicación popular, mit dem Austausch von Botschaften unter gleichberechtigten PartnerInnen, zu arbeiten. Auf den ersten Blick mögen die Veränderungen als nicht sehr groß erscheinen, da das Bemühen um Partizipation der Zielgruppen nach wie vor das zentrale Anliegen ist. Der entscheidende Unterschied zu damals besteht darin, daß unter dem Militärregime Kommunikation vor allem Widerstand gegen die Verordnungen, Informationen, Initiativen und Werte der Diktatur war. Gemeinsam das Überleben zu sichern, war die Triebfeder, um sich zu organisieren und zu politisieren. Von sozialen Bewegungen wurde die Aufgabe übernommen, zusammen mit demokratisch orientierten Medienprofis glaubhafte Informationen zu verbreiten. Die “offizielle” Kommunikation war unvollständig und verzerrt – auf jeden Fall nicht glaubwürdig.

Neue Herausforderungen

Heute jedoch besteht die Herausforderung darin, die Menschen (BewohnerInnen armer Stadtviertel, Frauen, ArbeiterInnen) mit einer Botschaft von Identität und Teilhabe zu erreichen. Die Funktion, offizielle Kommunikation zu ersetzen, existiert nicht mehr. Jetzt geht es darum, sich auf das eigene direkte Umfeld zu konzentrieren, auf die Verarbeitung von lokalen Nachrichten, die von den Massenmedien nicht zur Kenntnis genommen werden. Der vage Aufruf, sich zu organisieren, reicht nicht mehr aus. Stattdessen müssen die konkreten Ziele benannt werden, wie beispielsweise das Heben des Lebensstandards der Mitglieder einer Gruppe oder das gemeinsame Streiten um Wohnraum. Die kritische Auseinandersetzung mit politischen Themen nationaler Tragweite greift nicht mehr. Neue Themen müssen aus einer lokalen Perspektive angegangen werden: Gesundheitsversorgung, Schulbildung, Umweltverschmutzung, Sicherheit, usw.
In diesem Prozess muß die comunicación popular Möglichkeiten finden, um etwas Eigenes beizutragen. Das Konzept, comunicadores populares davon zu überzeugen, zugunsten einer Partei vorformulierte Inhalte zu verbreiten, gehört der Vergangenheit an. Das Bestreben der sozialen Bewegungen muß darin bestehen, das Vertrauen der RezipientInnen zu gewinnen und ein offenes Ohr für deren Belange zu haben. Niemand kann sich blindlings auf einen Alleinvertretungsanspruch berufen – nicht einmal demokratisch gewählte RepräsentantInnen. Unterhaltung, Erziehung, unterschiedlichste Bestrebungen und persönliche Anliegen sind die Schwerpunkte von comunicación popular, die an die Stelle von “Information” und “Bewußtseinsbildung” getreten sind.

Kommunikation und Teilhabe

Die Vielschichtigkeit des politischen Prozesses, der zur Demokratie führen soll, zeigt sich in der Frage nach Partizipation. Anfangs erwarteten wir alle Teilhabe – nicht nur formal, sondern tagtäglich und direkt, wo immer das möglich ist, in sämtlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Im Bereich der Massenkommunikation erhofften sich alternative VideofilmerInnen, mit ihren unabhängigen Produktionen Zugang zum Fernsehen zu bekommen. Radiogruppen bereiteten populäre Kultur-Programme vor. Gruppen, die Zeitschriften in poblaciones erstellten, träumten davon, in der Lokalpresse zu schreiben und als KorrespondentInnen der demokratischen Presse arbeiten zu können. Die Gesetze des Marktes waren stärker. Der Druck der Eigenfinanzierung, die Reichweite sowie die Vermarktung steuern auch heute weiterhin die Programminhalte und die Nachrichtenauswahl. Eingriffe der Regierung waren vom Bemühen gekennzeichnet, Konsens herzustellen, zu befrieden und in allen Fragen Verhandlungen zu ermöglichen.

Der erhoffte Beitrag der comunicación popular

Comunicación popular erfüllt unter anderem die folgenden Funktionen: Mit Hilfe eigener Medien, sozialer Aktion oder kultureller Ereignisse wird die Fähigkeit gefördert, sich zu organisieren. Comunicación popular kann Brücken zwischen der Basis und ihren VertreterInnen bauen, zwischen (demokratischen) Behörden und den Menschen. Gemeinsam können Probleme lokaler Gruppen benannt und angegangen werden. Kommunikation ist in dieser Hinsicht ein Mittel der Partizipation, um den Fluß von Informationen allen zugänglich zu machen, Konflikte zu verdeutlichen und unterschiedliche Meinungen auszudrücken.
Diese Art der Kommunikation fördert darüber hinaus ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das es ermöglicht, sich das eigene Lebensumfeld anzueignen. Lokale AkteurInnen können ihre Anliegen im Hinblick auf allgemeine Interessen wie Armutsbekämpfung oder Umweltverschmutzung zu Gehör bringen und so versuchen, den Willen zu gemeinschaftlichem Handeln zu erwecken. Diese Vorstellungen existieren nicht nur auf dem Papier, sondern prägen bereits heute die Realität jener Organisationen und Gruppen, die die Forderung ernst nehmen, sich kreativ und verantwortungsvoll um die Demokratisierung der Gesellschaft zu bemühen.

Konkrete Erfahrungen mit comunicación popular

Im Tal Alto Hospicio, nördlich von Iquique, breitet sich in großer Geschwindigkeit eine Siedlung aus, deren Gründung auf die Zwangsumsiedlung von pobladores/as unter dem Pinochet-Regime zurückzuführen ist. Seit 1989 leben dort etwa 9000 Menschen, und infolge des rasanten Wachstums Iquiques werden es immer mehr.
Alto Hospicio gehört nach offiziellen Angaben zu den 1500 ärmsten Gemeinden des Landes. Die Menschen dort verfügen über einen hohen sozialen Organisationsgrad und haben unter schwierigen Bedingungen immer wieder gefordert, daß ihre eigenen Organisationsformen respektiert werden. Jede Zuwanderungswelle führte zur Gründung eines neuen Komitees. Die Arbeit der einzelnen Komitees wird vom sogenannten “Zentralkomitee” koordiniert. Wie es Gesetz und Tradition verlangen, wurde eine junta de vecinos (Nachbarschaftsvereinigung) gegründet, deren Mitglieder mit dem ZK zusammenarbeiten oder sich ihm sogar angeschlosssen haben. Diese besondere Form der Organisation gestattet es den poladores/as, ihre Einheit zu wahren und jede denkbare Initiative zur Gemeindeentwicklung aufzugreifen – unabhängig davon, ob der Anstoß aus den eigenen Reihen kommt, vom Staat, der Kirche oder Nichtregierungsorganisationen.
Im November 1991, nur wenige Tage, bevor die diesjährige TELETON-Kampagne begann (Teletón ist eine Fernsehaktion zugunsten behinderter Kinder, die vor allem mit der finanziellen Unterstützung von Unternehmen arbeitet, die im Gegenzug massiv Werbung betreiben. Dabei wird suggeriert, der Kauf bestimmter Produkte komme behinderten Kindern zugute. Anm. d. Red.), entdeckten die GemeindevertreterInnen ihr Interesse an einer Massenkampagne, die mittels Fernsehen Reiche und Arme für einen gemeinsamen Zweck gewinnen wollte. Schnell wurde der Entschluß gefasst, in Alto Hospicio 24 Stunden Teletón zu machen. Diese Idee motivierte viele TeilnehmerInnen, und die Nachbar-schaftsorganisationen stellten die notwenigen Mittel zur Verfügung. Die Stadtverwaltung stellte eine TV-Großleinwand zur Verfügung, das Episkopat die Verstärkeranlage, eine Wohnungsbaufirma, die im Auftrag des Wohnungsbauministeriums arbeitete, baute eine Bühne auf. Die Buslinien ließen KünstlerInnen und Delegierte gratis von und nach Iquique fahren. Den Rest besorgte die Begeisterung.
Das Ergebnis waren 25 Stunden Straßenshow “über Iquique hinaus” non-stop neben dem Sitz einer Nachbarschaftsorganisation. Bekannte KünstlerInnen nahmen ebenso teil wie lokale Größen und pobladores/as. “Ganze Familien sangen. Wir hätten niemals vermutet, so viele KünstlerInnen unter uns zu haben.” Und dann der Stolz, 200.000 pesos (800 DM) an Teletón weitergeben zu können: “In der Bank wollten die uns erst nicht glauben, als wir mit dem Geld ankamen. Alles klappte so hervorragend, daß wir schließlich beschlossen, allen, die mitgeholfen hatten, Urkunden zu schenken.”

Partizipation oder Entfremdung?

Nach herkömmlichen Maßstäben betrachtet, könnte die Erfahrung aus Alto Hospicio mehr nach Entfremdung denn nach Partizipation riechen. Allerdings muß diese Erfahrung mit anderen Maßstäben gemessen werden. Das, was die kommerziell ausgerichtete Teletón unter dem Motto “Dankeschön” und die Initiative der pobladores/as zusammenbrachte, war ein Gefühl der Solidarität. Weder handelte es sich um eine egoistische Solidarität – heute Du, morgen ich -, noch um eine effekthascherische Solidarität. Das Fernsehen wußte überhaupt nichts von der Aktivität, weil sich niemand mit den offiziellen OrganisatorInnen in Verbindung gesetzt hatte.
Die Teletón ist ein komplexes Phänomen der Kommunikation, in dem das gemeinsame Anliegen sowie das Charisma und die Glaubwürdigkeit des Show-Masters Don Francisco die Schlüssel zum Erfolg sind. Für die EinwohnerInnen von Alto Hospicio stellte die Aktion eine Gelegenheit dar, sich selbst in dieser Kampagne auszudrücken, denn im Grunde genommen ist ihr ganzes Leben eine permanente Teletón. Außerdem reizte die Möglichkeit, an einer Kampagne von nationaler Bedeutung teilzuhaben.
Vielleicht ist die Tatsache, daß für die Teletón so viel Energie eingesetzt wurde, nur aus dem besonderen Umstand heraus zu erklären, daß die Nachbarschaftsorganisationen in Alto Hospicio mehrheitlich von Frauen geleitet werden. Aus kulturell und gesellschaftlich zugewiesenen Normen läßt sich die besondere menschliche Sensibilität erklären, zu erkennen, daß eine Teletón-Kampagne, die im Kern kommerziell ist, für pobladoras/es einen eigenen Wert besitzen kann.
Es ist unmöglich zu unterscheiden, ob der Erfolg des Aufrufs des ZK auf dessen bereits bestehendes Prestige zurückgeführt werden muß, oder darauf, daß es darum ging, sich einer Massenkampagne mit garantiertem Erfolg anzuschließen. Sicher ist indes, daß es die Menschen in Alto Hospicio waren, die auf ihre Art und Weise in ihrem Lebensumfeld diese Aktion durchgeführt haben. Entscheidend war zudem, daß Unternehmen und Institutionen das Vertrauen aufbrachten, um materielle Hilfestellung zu leisten.
Und was geschieht nach dieser Teletón in der población? Das Ansehen der Nachbarschaftsorganisationen ist deutlich gestiegen und wird es erlauben, auch weiterhin Energien zu Gunsten der Menschen in Alto Hospicio zu entfalten. Insbesondere wird es darum gehen, die typischen Konflikte, die die Einheit der pobladores/as gefährden, zu regulieren: politische sowie religiöse Unterschiede, Manipulationsversuche von außen, Kriminalität. Bis jetzt wurden einige Initiativen erfolgreich abgeschlossen, wie beispielsweise die Kennzeichnung von Straßen und Plätzen, die Pflasterung verschiedener Straßen, die Einrichtung eines Nachbarschafts-Zentrums mit öffentlicher Unterstützung.
In unmittelbarer Zukunft werden neue Projekte folgen: ein Kreißsaal, der von pobladoras mitverwaltet wird, eine Schulbibliothek, die Erschließung eines Trinkwassernetzes und Straßenbeleuchtung. Die gemeinsame Arbeit in den Nachbarschaftsorganisationen kann die einende Grundlage dafür sein, für diese Ziele zu arbeiten.

Anmerkung der Redaktion: Wir bedanken uns für die Erlaubnis der Zeitschrift “Cal y Canto”, den vorangegangenen Artikel leicht gekürzt zu veröffentlichen, der in der Juli-Ausgabe dieses Jahres unter dem Titel “Comunicación popular: mirar con otros ojos” erschien. “Cal y Canto” wird von der Nichtregierungsorganisation ECO (Educación y Comunicaciones) mit Sitz in Santiago de Chile herausgegeben.

POONAL – vernetzte Nachrichten

Bündelung von Agenturen

Sie verstehen sich als alternative Medien, die im Gegensatz zu den herkömmlichen Agenturen aus Sicht der Bevölkerung und nicht im Sinne der Herrschenden informieren wollen. Repression, soziale Mißstände und das Aufzeigen von Alternativen stehen im Mittelpunkt der Berichterstattung. Viele stehen auch in engem Bezug zu politischen Bewegungen ihrer Heimatländer und arbeiteten auf kommunikativer Ebene für den Sturz diktatorischer Regime. Die wichtigsten unter ihnen waren früher SALPRESS aus El Salvador, die guatemaltekische Agentur CERIGUA, ANN aus Nicaragua, andere stammten aus Uruguay, Chile, Argentinien über Honduras bis hin zu “Prensa Latina” aus Kuba.

Anspruch und Realität

Zum einen sollten sich die bisher isoliert arbeitenden Agenturen gegenseitig darin unterstützen, die persönlichen Kontakte besser zu nutzen. Andererseits sollte durch die gemeinsame Herausgabe von Nachrichtenmaterial der Verbreitungsradius der einzelnen Agenturen erweitert werden. Insbesondere sollte ein Zugang zur bürgerlichen Presse gefunden werden. Zwei Agenturen wurden für ein Jahr für die Koordinierung gewählt, regelmäßige Treffen und Beitragszahlungen vereinbart. Weitere Agenturen sollten hinzugewonnen werden.
Die Ansprüche waren hoch, doch die Umsetzung war schwierig. Erstes Hindernis war die zusätzliche Arbeitsbelastung, die eine solche Koordinierung erforderte. Jede Agentur hatte mit finanziellen und personellen Engpässen zu kämpfen, und die eigene Arbeit hatte stets Priorität vor der Vernetzung. Hinzu kamen, wie leider immer und überall bei linken Projekten, ideologische Differenzen. Auch die Herausgabe eines gemeinsamen Nachrichtendienstes in Mexiko, der die großen Zeitschriften per Fax informierte, konnte nur für kurze Zeit realisiert werden. Die Initiative drohte bald wieder einzuschlafen.

Versuche von Süd-Süd-Kommunikation

Ein Rückblick auf die fortschrittliche “Dritte Welt”-Berichterstattung der letzten Jahrzehnte zeigt, daß auch andere, größere Initiativen vor ähnlichen Problemen standen. Einziges bis heute erfolgreiches Agenturenprojekt ist ips (Inter-Press-Service), das seit 1964 aus und über die “Dritte Welt” berichtet und mit seinen Nachrichtentickern eine vergleichsweise gute Verbreitung gefunden hat. Weniger effektiv war der “pool del tercer mundo”, mit dem seit Mitte der 70er Jahre eine Vielzahl von blockfreien Ländern versucht, die Vorherrschaft der multinationalen Agenturen zu brechen. Trotz weltweiter Konferenzen konnte nie die Idee eines wirklichen Pools realisiert werden. Im Kontext der UNESCO-Forderung nach einer neuen Weltkommunikationsordnung 1983 entstand die lateinamerikanische Agentur ALASEI, die neben politischen auch kulturelle Aspekte verbreiten wollte. Geldmangel ließ auch dieses Projekt nach weniger als zehn Jahren in die Bedeutungslosigkeit abrutschen.
Kleineren Agenturprojekten ist es bisher nicht gelungen, ihre Nischen zu verlassen. Das 1984 in Asien gegründete “Dritte Welt Netzwerk”, dessen lateinamerikanischer Zweig in Uruguay sitzt, verbreitet Nachrichten und Analysen sogar weltweit. Doch es gelingt nicht, kontinuierliche Präsenz zu zeigen. Die Mitarbeit der Mitgliedsmedien fluktuiert stark. Deshalb wurde inzwischen der Anspruch eines umfassenden Netzwerkes aufgegeben: “Das Ganze läuft nur, wenn einzelne die Initiative ergreifen. Dafür stellen wir die Infrastruktur zur Verfügung,” sagt Alberto Brusa, Mitarbeiter des “Dritte Welt Netzwerkes” in Uruguay. Eine ähnliche Einzelinitiative ist die Agentur “apia” in Nicaragua, die aus der österreichischen Solidaritätsbewegung hervorgegangen ist.
Die jüngste Initiative zur Vernetzung von Alternativmedien war der kontinentale Kongreß in Quito im April diesen Jahres, an dem über 60 JournalistInnen aus fast allen lateinamerikanischen Ländern teilnahmen. Schnell zeigte sich, daß trotz ähnlicher Interessen die vielen verschiedenen Medien unterschiedlicher Größe und Professionalität nur schwerlich an einem Strang ziehen können. Zwar war dieses Treffen ein neuer Schritt hin zu mehr Zusammenarbeit, doch mehr als Willensbekunddungen kamen oft nicht dabei heraus.

Basisanbindung und politische Pluralität – ein Problem?

Eine funktionierende Zusammenarbeit bringt zwar eindeutige Vorteile: weniger Vertriebskosten, höherer Verbreitungsgrad, gemeinsame Infrastruktur und schließlich eine Vielfalt von Nachrichten, die gerade für Medien und andere MultiplikatorInnen attraktiv und zugänglich sind. Doch die in der Praxis auftretenden Nachteile erweisen sich bisher als unüberwindbar: Kooperation erfordert ermüdende politische Diskussionen, insbesondere wenn die jeweiligen Medien politischen Organisationen nahestehen; Professionalität und Basisanbindung lassen sich oft nur schwer vereinbaren, Entfernungen und Kommunikationskosten wirken erschwerend. Doch dahinter steht ein wesentliches Problem jeder Vernetzung: Ein aktives Netz erfordert Initiative all seiner Teile – wenn diese nicht stattfindet, wird das Netz zu einem Konzentrationsprozeß zum Vorteil der größeren oder aktiveren Medien. So zeigt auch die bisherige Erfahrung, daß Pools selten funktionieren, während einzelne große und kleine Agenturen lange existieren können, aber kaum eine adäquate Verbreitung finden.
Es überrascht nicht, daß sich die Erfahrungen in Lateinamerika auch auf Seiten der internationalen Solidaritätsbewegung widerspiegeln. Zu der dortigen Vielfalt kommen hier noch ideologische Streitigkeiten hinzu, so daß Interessierte vor einer Unmenge von Publikationen stehen. So wichtig eine gewisse Pluralität ist, so schwer fällt es den meisten, einen Überblick über das Informationsangebot zu bekommen. Konsequenz ist eine wachsende Konkurrenz untereinander.
Ein Versuch, den Agenturen Zentralamerikas eine deutschsprachige Plattform zu geben, war Anfang der 80er Jahre der “mid” (Mittelamerika-Informationsdienst). Finanzielle Unterstützung, Kontakte und der gemeinsame Wille waren vorhanden, und wöchentlich konnten aktuelle Nachrichten aus Nicaragua, Guatemala und El Salvador gelesen werden. Doch auch das klappte nur kurze Zeit. Entscheidendes Hindernis waren die hohen Kosten für die Telex-Standleitung zwischen Managua und Frankfurt/Main. Einzig verbliebene Alternative, Originalnachrichten aus Zentralamerika zu bekommen, war über viele Jahre der “Informationsdienst El Salvador” (ides). Doch war dies ein Projekt von Teilen der bundesdeutschen Solibewegung und spiegelte deren politische Ausrichtung wider – auch wenn der ides mit lateinamerikanischen Quellen arbeitete. Darüber hinaus gingen ab Mitte der 80er einige alternative Agenturen dazu über, eigene Nachrichtendienste in deutscher Sprache herauszugeben, womit sie eine entscheidende Stütze der länderbezogenen Solidarität waren.

POONAL – Der Schritt nach Deutschland

1990 entstand die Idee, die Nachrichten der POONAL-Agenturen in einem gemeinsamen Dienst in deutscher Sprache herauszugeben. So entstand der “Wöchentliche Nachrichtendienst lateinamerikanischer Agenturen – POONAL”, der seit über zwei Jahren Nachrichten und Artikel der Mitgliedsagenturen veröffentlicht. In Mexiko wird das Material bis Freitagabend übersetzt, dann per Datenfernübertragung nach Köln geschickt, wo es journalistisch bearbeitet wird. Schließlich wird der Nachrichtendienst am Montag in Berlin gedruckt und verschickt – derzeit knapp 300 Exemplare in Deutschland, Österreich und in die Schweiz. Wichtigstes Ziel: Die Vereinzelung der Agenturen sollte aufgehoben werden und ein gemeinsamer Nachrichtendienst aus Lateinamerika durch seine Vielzahl an Themen und Ländern auch für Institutionen und etablierte Medien interessant und brauchbar werden.
Obwohl sich der POONAL-Nachrichtendienst etabliert hat, steht er in der Praxis kaum überwindbaren Problemen gegenüber. Verhältnismäßig glimpflich sieht es noch auf der Vertriebsseite aus. Die journalistische Qualität läßt zwar zu wünschen übrig, aber die Informationen stoßen auf Interesse. Auch konnten einige Institutionen und Medien als AbonnentInnen gewonnen werden, die bisher kaum Zugang zu diesen basisnahen Agenturen hatten. Dennoch bleibt das Hauptproblem bestehen: Auch POONAL hat einen begrenzten AbnehmerInnenkreis und die Präsenz in etablierten Medien ist unbedeutend.
Doch gerade da, wo es um die Koordination geht, nehmen die Schwierigkeiten existenzielle Ausmaße an. Wie oben erwähnt, liegt die Zusammenarbeit der POONAL-Agenturen in Mexiko derzeit auf Eis. Aus der lateinamerikanischen Initiative ist immer mehr eine deutsche geworden, der Vertrieb in Deutschland wurde zur treibenden Kraft. Hinzu kommt, daß viele Agenturen aus dem Exil in ihre Länder zurückgegangen sind, wodurch einige Mitglieder des Pools sich weniger beteiligen und die Kommunikation untereinander sehr spärlich geworden ist. Statt einer Zusammenarbeit findet eher Zuarbeit für ein Projekt statt, da die wenigen in Mexiko ansässigen Agenturen die Entscheidungen treffen. Nur einige Agenturen beteiligen sich, dazu unregelmäßig, daran, so es daß POONAL noch nicht gelungen ist, das Geschehen im gesamten Kontinent widerzuspiegeln.
Obwohl der hohe Anspuch nicht aufrechterhalten werden kann, hält POONAL an der Idee und daran, daß Vernetzung versucht werden muß, fest. Oft klagen gerade kleinere Medien, daß der Zugang zu alternativen Quellen sehr aufwendig ist. Die Konsequenz muß also sein, weiter aus den bisherigen Erfahrungen zu lernen.

Bezug des POONAL-Nachrichtendienstes:
Nachrichtenpool Lateinamerika e.V.
c/o FCDL
Gneisenaustr. 2
10961 Berlin
Fax: 030 / 692 65 90
Jahresbezugspreis:
110,– DM für Institutionen
75,– DM für Einzelpersonen

Eindrucksvolles Geisterhaus

Der Putsch in Chile ’73 war für Isabel Allende ein wichtiges Thema in ihrem Buch “Das Geisterhaus”. Das Buch, in viele Sprachen übersetzt, gehört zu den Weltbestsellern. Daß versucht wurde, diesen Bestseller zu verfilmen, kann als große Herausforderung betrachtet werden. Leicht ist es nicht, eines der erfolgreichsten Bücher der Welt zu einem gelungenen Spielfilm zu machen. Einen großen Vorteil hat die deutsch-dänische-portugiesische Produktion schon mit der Besetzung. Jeremy Irons, Meryl Streep, Glenn Close, Winona Ryder und Mambo King Antonio Banderas gehören derzeit zu den besten SchauspielerInnen der Welt. Zwei von Ihnen, Jeremy Irons und Meryl Streep haben sogar einen Oscar auf dem Nachtkästchen stehen. Ob dieser Film die Besucherzahl von Jurassic Park überholen wird, ist noch abzuwarten.
Die Geschichte erstreckt sich über drei Generationen, und fängt ganz harmlos, am Anfang des Jahrhunderts an und führt uns zu dem Haus einer Familie der chilenischen Oberschicht. Estéban Trueba (Jeremy Irons), ein hart arbeitender Bergmann, hat die Absicht, Rosa, die älteste Tochter der Familie del Valle, zur glücklichsten Frau der Welt zu machen. Mit der Hochzeit wird aber noch gewartet, weil der in den Minen des Norden arbeitende Estéban voller Hingabe nach Gold sucht. Seine Hingabe lohnt sich, als er auf die lang erwartete Goldader stößt. Aber leider ist seine geliebte Verlobte inzwischen ermordet worden. Ein Schluck von einem geschenkten Schnaps wurde ihr zum Verhängnis und vermutlich wurde der tragische Mordanschlag wegen der politischen Überzeugung ihres Vaters verübt. Der Tod war von der kleinen übersinnlich begabten Schwester, Clara, vorausgesehen worden. Nach dem Todesfall entschloß sie sich, nicht mehr zu sprechen.
Der enttäuschte Verlobte, Estéban, zieht voll Bitterkeit nach “Tres Marías” und wird mit “Hilfe” der einheimischen Bevölkerung ein erfolgreicher, aber jähzorniger, Viehzüchter. Der respekt- und morallose Estéban ist fest entschlossen, Karriere zu machen.
Wegen des Todes seiner Mutter kehrt er wieder heim und begegnet der jetzt erwachsenen Clara. Die beiden heiraten und ziehen zusammen sehr glücklich nach “Tres Marías”. Die bei Estéban nicht sehr beliebte Schwester Férula (Glenn Close) kommt mit und ist tagsüber als Hausfrau im Haus beschäftigt. Férula wird eine sehr gute Freundin von Clara und eine zweite Mutter für Blanca (Winona Ryder). Férula wird aber von dem eifersüchtigen Bruder aus dem Haus geschickt und stirbt unglücklich.
Estébans und Claras Tochter Blanca wächst in “Tres Marías” auf und freundet sich mit Pedro García, einem Bauernsohn, an. Pedro wird Revolutionär der People’s Party (sic!) und ist eine Gefahr für die Konservative Partei und dadurch auch für Estéban. Als er hört, daß Blanca und Pedro auch noch ein Liebespaar sind, treibt er die zwei gewalttätig auseinander. Clara zieht mit ihrer schwangeren Tochter in die Stadt und redet nie wieder mit ihrem Mann. Als Gutsbesitzer und Senator kommt Estébans politische Karriere zum Höhepunkt, als er zum Anführer der Konservativen ernannt wird.
Der politische Umschwung in Chile ereignet sich, als die People’s Party eine überzeugende Mehrheit bei den Wahlen erhält. Estéban, alt, grau und voller Narben, findet im Alter Trost bei seiner Frau, die aber trotzdem ihr Versprechen, nie wieder mit ihm zu reden, einhält. Statt die Enttäuschung ihres Mannes zu teilen, ist Clara mit der Sieg der People’s Party einverstanden. Viel Mitleid kann sie ihm leider nicht mehr geben, weil sie stirbt.
An dem Tag, an dem sie begraben wird, ziehen Panzer und Truppen in die Stadt und verhaften hemmungslos die Bürger. Der Putsch ’73 hat sich ereignet. Blanca, jetzt Mutter eines Kindes, wird verhaftet wegen ihrer Beziehung zu dem verschwundenen Pedro.
Blanca wird im Gefängnis peinlich an ihren Halbbruder, das uneheliche Kind ihres Vaters erinnert. Der Sohn Estébans, der mit finanzieller Unterstützung seines Vaters ein erfolgreicher Militär geworden ist, versucht, Pedros Versteck mit Hilfe von Folter und Gewalt zu erfahren. Als sie halb tot in ihrem Folterkeller liegt, besucht der Geist ihrer Mutter die Zelle und gibt ihr neue Hoffnung. Kurz danach kommt sie frei mit Hilfe einer “Freundin” ihres Vaters. Mit Tochter und Vater fährt sie zurück nach Tres Marías.
Von Anfang an hat man das Gefühl, daß der Regisseur in sehr kurzer Zeit alle Einzelheiten des Buches verfilmen will. Drei Generationen verfliegen und die HauptdarstellerInnen werden sehr schnell alt. Wenn man den abgerissenen Kopf von Claras Mutter nach einem Autounfall über die Leinwand fliegen sieht, zweifelt man an der Seriosität des Filmes. Doch machen die genialen Leistungen der SchauspielerInnen diesen Film zu einem großen Erfolg. Nicht nur die SchauspielerInnen, auch die Bilder zeigen die Professionalität der Filmemacher. Immer wieder interessante Charakterstudien der Menschen werden auch im Geisterhaus hervorragend gezeigt. Estéban Trueba, der Schreckliche, gegenüber der Freundlichkeit und Heiterkeit von Clara. Leider ist die politische Botschaft nicht sehr deutlich, aber trotzdem vorhanden. Die schrecklichen Folgen des Putsches werden mit militärischen Übergriffen und Folter eindrucksvoll gezeigt.

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