Fluchtziel Argentinien

Argentinien war in Latein­amerika neben Brasi­lien und Chile seit jeher ein bevorzugtes Einwande­rungsland. Dies lag ge­wiß auch daran, daß die Regie­rung gemäß Artikel 25 der ar­gen­tinischen Verfassung die Pflicht hatte, die euro­päische Ein­wanderung zu fördern. Juri­stisch gesehen hatten Ausländer­Innen dieselben Rechte wie die StaatsbürgerInnen: “Die Auslän­der besitzen auf dem Gebiet der Nation alle Rechte des Staats­bürgers. Sie können eine ge­werbliche, kaufmännische und sonstige berufliche Tä­tigkeit aus­üben. Sie können Grund und Bo­den besitzen, ihn kaufen und sich sei­ner entäußern. Schiffahrt auf den Flüssen und an der Küste be­treiben; frei ihren religiösen Kult aus­üben, als Zeuge fungie­ren und sich den Gesetzen ent­sprechend verheiraten.” (Artikel 20). Vor 1933 eingewanderte Deut­sche waren größten­teils selbständige Kaufleute, Ingeni­eure, Handwerker und Fachar­bei­ter. Viele Handelsfirmen und In­dus­trie­unternehmen befanden sich in deutschem Besitz. Schwer­punkt waren die Bau­branche und die che­mische Indu­strie. Dieser ökonomische Ein­fluß wurde seit der Machter­grei­fung der Nazis nun auch po­li­tisch wirksam, da sie durch die Gleich­schaltung der deutschen Ein­rich­tungen und Organisatio­nen bald in allen deutschen Fa­bri­ken, Handels­unter­nehmen und Banken be­stimmten. Begünstigt wur­de die Ausdeh­nung des deut­schen Faschismus durch die po­li­ti­schen Verhält­nisse in Argen­ti­nien. Der Gene­ral Agustin B. Ju­sto, von 1932 bis 1938 an der Macht, stand für eine antikom­munistische und antidemokrati­sche Politik.
Die liberale Ein­wande­rungs­po­litik Argentiniens be­stand nicht durch­gehend. Für die Ein­wanderung gün­stige Zei­ten wa­ren die er­sten Jahre nach 1933 und die Zeit der Prä­sidentschaft von Roberto Ortiz zwi­schen 1938 und 1940. Dieser ori­entierte sich au­ßenpolitisch vor allem an Großbri­tannien und zeigte eine klare Ableh­nung ge­genüber na­zistischen Organi­sationen. Nach 1933 stieg der An­teil der Deutsch­sprachigen sprung­haft an. Buenos Aires wur­de zum Zentrum der anti­faschistischen Ar­beit.
Großen Stellenwert in­nerhalb der an­tifaschistischen Bewegung in La­teinamerika hatte “Das An­dere Deutschland”. An­fangs ar­beitete diese Bewegung als Hilfskomitee für eintreffende Emi­grantInnen aus Deutsch­land und Spanien. Als der Flücht­lingsstrom nach Aus­bruch des zweiten Welt­krieges und der Niederlage Frankreichs zu­nahm, wurde “Das andere Deutsch­land” zum Sammel­becken der politi­schen Emigration in Argentinien. Ab Mai 1938 gab das Komitee eine gleichnamige Zeit­schrift heraus, die vor allem durch den Heraus­geber August Siem­sen zu einem wich­tigen Sprachrohr wurde. Die Zeit­schrift wurde durch die stei­gende Zahl der Emi­grantInnen nicht nur in Ar­gentinien, sondern auch im übri­gen Süd- und Nordame­rika be­kannt. In den 40er Jahren war die Auflage auf 4.000-5.000 Exem­plare gestie­gen.
Die einzige deutsch­sprachige Zeitung, die sich von Anfang an der Gleich­schaltung der Nazis wider­setzte, war “Das Argentini­sche Ta­geblatt”. Die bür­gerlich liberale Zeitung wurde 1889 von dem Schweizer Auswanderer Jo­hann Alemann in Buenos Aires gegründet. Sie bildete den Ge­genpol zur deutschnationalen Tages­zeitung “Deutsche La Plata-Zeitung”, die 1933 auf einen faschistischen Kurs ein­schwenkte. Zur gleichen Zeit veröffentlicht “Das Argentini­sche Tage­blatt” folgen­den Auf­ruf: “Deutsche Republi­kaner in Argenti­nien! Wollt ihr ta­tenlos zusehen, wie die Barbarei in der alten Hei­mat überhandnimmt? Könnt ihr gleich­gültig blei­ben, wenn Rassenphanta­sten und Macht­wahnsinnige deut­sches Ansehen schän­den? Alles was freiheitlich und fortschritt­lich denkt, muß jetzt eine ge­schlossene Front bilden. Schließt die Reihen um das Argentini­sche Ta­geblatt.”
In der Re­daktion arbeite­ten unter anderem Fritz Silberstein, Ex-Redakteur der “Deutschen Allge­meinen Zei­tung”, Peter Busse­meyer, ehe­maliger Latein­amerika-Korres­pondent der “Frankfurter Zei­tung, der Dichter Paul Zech und der Regisseur und Dra­maturg Walter Ja­cob.
Ihre tägliche Be­richterstattung über die Greu­elta­ten der Nazis in Eu­ropa führte zu direkten Re­ak­tio­nen der Aus­lands­organisation der NSDAP in Form von Brand­bomben, Boy­kott und Beschwer­den.
Als die deut­sche Gesandt­schaft am 1. Mai 1934 die Ha­kenkreuz-Be­flag­gung deutscher Firmen­nie­der­lassungen anord­ne­te, ver­öf­fent­lichte die Zeitung am fol­genden Tag Fo­tos mit den Filia­len von Siemens, Thys­sen und Bay­er un­ter der Über­schrift: “Die sich vor Hitler ducken.”
Die Zei­tung wurde bereits am 20. April 1933 in Deutschland verbo­ten. Es folgte die Aus­bürgerung einiger ihrer Re­dak­teure. Dem Her­ausgeber Dr. Erne­sto Ale­mann wurde sein 1915 in Heidelberg erworbener akademischer Grad entzo­gen. Die Zeitung konnte den Boykott und die Zen­sur nur deshalb überste­hen, da Ernesto Alemann in den 20er Jahren seine Druck­erei zu einer der größten in Ar­gentinien ausge­baut hatte.
Das “Argen­tinische Ta­geblatt” hatte Ende der 30er Jahre eine Auflage von mehr als 50.000 Exempla­ren pro Tag.
Zum 50jährigen Beste­hen am 29. April 1939 sandten be­kannte antifaschi­stische Emi­gran­tInnen ihre Glück­wünsche: Heinrich und Thomas Mann, Sigmund Freud, Al­bert Einstein, Anna Seghers, Lion Feucht­wan­ger, Ste­fan Zweig.
Ein Verein widersteht
Eine weitere deut­sche Ein­richtung, die sich der Gleich­schaltung der Nazis erfolg­reich widersetzte, war der Verein “Vorwärts”.
Als ältester deut­scher Arbei­ter­verein wurde er 1882 von deut­schen Arbeiter­Innen ge­gründet, die die Sozia­li­sten­ge­setze Bismarcks in die Emi­gration getrie­ben hatten. Der Vor­wärts hatte die spanische Be­zeich­nung Asociación de So­cor­ro Mutuos, Cul­tural y Depor­ti­va Ade­lante und war eine Ver­eini­gung für gegensei­tige Hilfe, Kul­tur und Sport.
Er wid­mete sich zu­nächst der Ver­breitung mar­xi­sti­schen Ge­dan­kengutes und ver­such­te Kon­tak­te zu ar­gen­ti­ni­schen Ar­bei­ter­In­nen zu knüpfen. Ab 1884 gab der Ver­ein die Wochen­schrift “Vor­wärts” mit dem Un­tertitel “Or­gan für die In­te­ressen des ar­bei­ten­den Volkes” he­raus.
Im Ver­eins­haus des “Vor­wärts” grün­dete sich im Jah­re 1895 die So­ziali­sti­sche Partei Ar­gen­ti­niens. Durch sei­ne Zu­sam­menar­beit mit an­de­ren Or­ga­nisationen wur­de der Verein bald ei­ne der trei­benden Kräfte der ar­gen­ti­nischen Arbei­ter­In­nen­be­we­gung.
Im Jahre 1933 war von der anfängli­chen Entwick­lung je­doch nur noch wenig zu spüren. Im Gegenteil, der Verein wurde mehr und mehr zu einem Ort der Gesellig­keit, wo Unterhal­tung, Sport und Gesang das Zusam­mentreffen der Mit­glieder aus­machte. Zunächst war es eher eine passive Resistenz, auf die die Nazis bei dem Versuch der Gleichschal­tung stie­ßen. Der Versuch den Ver­ein mit Nazis zu un­terwandern und so­mit umzu­polen, mißlang jedoch. Der Vor­stand hatte die Gefahr, die von der deut­schen Gesandtschaft und der Auslandsorga­nisation der NSDAP ausging, rechtzei­tig er­kannt. Trotz­dem gelang es den Nazis, dem Verein durch Dro­hungen, Erpressun­gen und Ver­spre­chen viele Mit­glieder zu ent­zie­hen. Die Wende zur anti­nazi­stischen Aktivität trat ein mit dem Zustrom deutscher Emi­gran­tInnen. In dem Vereins­haus grün­dete der deutsche Ma­ler und Graphi­ker Carl Meffert (Clément Moreau) die ak­tive Kaba­rett- und Theater­gruppe “Truppe 38”. Unter ihnen waren Pieter Siem­sen, Walter Rosen­berg und Re­nate Schotelius. Die durch Ver­anstal­tungen eingenomme­nen Ein­tritt­sgel­der wurden an das Hilfs­komitee für die in Frank­reich internierten Spa­nien­käm­pfer­Innen und auch für deut­sche Antifaschi­stInnen ge­spendet. Eine weitere Neu­gründung war die “Freie Deut­sche Bühne” un­ter der Lei­tung von Walter Ja­cob. Über zehn Jahre hinweg bis 1949 gab es Jahr für Jahr bis zu dreißig Neuin­szenierungen.
Die Pestalozzi-Schule im Widerstand
Doch nicht nur im poli­tischen und kulturellen Be­reich gelang es antifaschi­stischen Kräften der Gleichschaltung zu wider­stehen. Als 1933 die deut­schen Schulen in Buenos Aires unter den Ein­fluß der Nazis gerieten, gab es für viele Eltern keine Möglich­keit, dem faschistischen Gedan­kengut zu entgehen. Mit der An­kunft vieler Emigrantenfamilien nahm der Plan Ge­stalt an, eine neue Schule zu gründen. Zu die­sem Zweck wurde am 1. März 1934 die Pesta­lozzi-Gesell­schaft, Aso­ciación Cultura “Pesta­loz­zi” ge­bildet. Be­reits am 2. April des glei­chen Jahres konnte die Pestalozzi-Schule er­öffnet wer­den. Der Lehr­körper bestand überwiegend aus über­zeugten und aktiven Antifa­schisten, wie Au­gust Siemsen, Erich Bunke, Clé­ment Moreau. Die Schule wur­de durch die Öffentlich­keitsarbeit der Pesta­lozzi-Gesell­schaft weltweit be­kannt und mußte bereits drei Jahre nach ih­rer Grün­dung we­gen Über­fül­lung der Klas­sen für weitere Auf­nahmen gesperrt werden. “Wenn der Geschichts- und Deutsch­unterricht”, schrieb Dr. Au­gust Siemsen, der diese bei­den Fä­cher ab 1936 un­terrichtete, “beim Abgang von der Schule eine ge­wisse Vor­stellung oder nur eine Ah­nung davon bei den Schülern vermit­telt hat, daß sie in die entschei­denste Zeit der bisherigen Mensch­heitsgeschichte hinein­ge­boren sind, davon, wie die Ent­wicklung zu dieser unserer Ge­schichtssituation in großen Zü­gen sich vollzogen hat, wenn sie et­was erfassen von der großen uns Heutigen gestell­ten Aufgabe, eine gesellschaftliche Organisa­tion zu schaffen, in der das Glück des ein­zelnen und das der Gesellschaft sich gegenseitig bedin­gen, dann hat die­ser Unter­richt das Höchste erreicht, was ihm zu errei­chen möglich ist.”
Nach dem Ende des Krieges erfolgte auch aus Argenti­nien eine Rückwan­derung nach Deut­schland, wobei die meisten Flücht­linge sich für den sowje­tisch besetzten Teil Deutschlands ent­schieden. Viele blieben je­doch auch in Argenti­nien, wohl aus Angst vor der Zer­störung und Not, die sie in Europa er­wartete. Wer hätte damals ahnen können, daß Jahr­zehnte später der argenti­nische Staat­sterror Zehntau­sende zur Flucht in die entgegenge­setzte Rich­tung zwin­gen würde.

“Ausharren oder Flüchten”

Das Exil in Chile um­faßte rund 13.000 “deutsche Staats­bürger jü­dischen Glaubens”, rassisch Verfolgte des nationalsozia­listischen Regimes, und 300 politische Emigrant­Innen, auch unter ihnen zahlreiche deutsche Juden und Jüdin­nen, die ihr Fluchtziel größtenteils zwischen 1937 und 1939 erreichten.
Bis zur Reichspogrom­nacht vom 9. auf den 10. November 1938 hoffte die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung, in Deutsch­land weiterleben zu kön­nen. Nach der ersten großen Fluchtbewegung des Jahres 1933 überwog bis ins Jahr 1936 der Entschluß, in der Heimat zu blei­ben. Danach stiegen die Flücht­lingszah­len, auch in die latein­ame­rikanischen Länder, deut­lich an. Der Prozeß der Loslösung von vertrauter Umgebung und gesicherten Lebensumständen brauchte Zeit. Dennoch gab es seit dem “Aprilboykott” gegen jüdische Geschäfte, An­walts- und Arztpraxen kaum noch eine jüdische Familie, in der nicht die Worte Flucht, Auswande­rung oder Emigration ge­fallen waren. Ihr Entschluß, Deutschland nicht zu ver­lassen, ist als ein Akt der Selbstbehauptung zu be­trachten. Bis 1938 ver­stärkte die außen- und wirtschaftspolitische Inter­essenpolitik des NS-Regi­mes die Hoffnung der deutsch-jüdischen Bevöl­ke­rung, daß sich das Re­gime auf eine rechtliche Aus­grenzung beschränken wür­de. Trotz der zuneh­menden ge­sellschaftlichen Aus­gren­zung und Isolation schien das öko­nomische Exis­tenzminimum ge­währ­leistet zu sein. Vor allem die ältere Generation, die der Kriegs­teilnehmer des Ersten Weltkrieges, hoffte, daß sich das Regime auf eine Dissimilation be­schränken würde. Zwischen der Al­ternative “Ausharren oder Flüchten” zu wählen, fiel der jüngeren Generation leichter. Sie erreichten frühzeitig die euro­pä­ischen Exilländer und die USA, während die ältere Genera­tion in südamerikanische Länder emi­grierte, die ihre Grenzen noch bis zuletzt offen hatten. So erklärt sich der hohe Alters­aufbau des chilenischen Exils: Über die Hälfte der Flüchtlinge war über 50 Jahre alt.
Die Immigrationsaffäre
Das Einwanderungsland Chile galt am Ende der dreißiger Jahre als vorbild­lich in seiner Haltung ge­genüber ImmigrantInnen. Es war die Rede vom “Ein­wan­de­rungsparadies Chi­le”. Im latein­amerika­nischen Vergleich nahm die Andenrepublik pro­portional zur Einwohnerzahl die größte Zahl der Flüchtlinge auf.
Zwei Phasen chilenischer Flüchtlingspolitik sind zwi­schen 1933 und 1941 auszumachen. Die erste, während der konser­va­tiven Regierung des Prä­sidenten Arturo Alessandris bis zum Herbst 1938, war von einer mehrfachen Verschärfung der Asylgesetzgebung ge­kenn­zeich­net. Diese Politik wurde als Re­aktion auf die Welt­wirt­schafts­krise be­zeichnet und mit dem Schutz des heimischen Ar­beits­marktes begründet. Re­strik­tionen wie die Quo­tierung der jüdischen Im­migration und die berufli­che Beschränkung auf Landwirte wiesen je­doch rassis­tische Ten­den­zen auf; bereits 1933 war ei­ne Einwan­derungsbe­schränkung der “semi­tischen Rasse” beab­sichtigt. 1937 wurde die Gesetz­ge­bung neuerlich ver­schärft. Nur noch Ver­wandte ersten Grades be­reits in Chile lebender Aus­län­derInnen sollten Visa erhalten. Die zweite Phase (von 1938 bis 1941) wäh­rend der Volks­front­regie­rung unter dem Prä­sidenten Pedro Aguirre Cerda cha­rak­te­ri­sierte demgegenüber eine groß­zügige, liberale Hand­habung der Asylge­setzgebung, die sich ne­ben Chile auch in anderen la­tein­ame­rikanischen Ländern ins­be­sondere von der Einwan­de­rungs­praxis der USA un­terschied.
Die politische Instru­men­ta­li­sierung der jüdi­schen Im­mi­gra­tion durch das seit 1938 verstärkt auf­tretende “Movi­miento Na­cio­nalsocialista de Chile” (MNS) und seinen “Füh­rer” Jorge Gon­zález von Marées erzwang 1940 den Rücktritt des Außen­mi­nisters der Volks­frontre­gierung.
Das MNS schürt
den Antisemitismus
Der Verlauf die­ser sogenannten “Immi­gra­tions­affäre” zeigte die Ge­fahren einer Politi­sierung der Asylgesetzge­bung. An­ti­se­mi­ti­sche Vor­urteile lebten auf, die vom MNS und ei­nigen konser­va­tiven Senatoren in den Par­la­mentsdebatten diskus­sions­fähig gemacht wurden und in der Pres­se weite Verbreitung fanden. Der Recht­fer­ti­gungs­zwang, den das MNS der Volks­frontre­gierung aufzwang, ging mit nationa­listischen Argu­men­ten (“Chile den Chile­nen”) ein­her und mün­dete in der Wahn­idee einer “jüdisch-kom­mu­ni­stischen Welt­verschwörung”.
Jorge González von Ma­rées erhob eine Verfas­sungsklage ge­gen den Au­ßenminister der Volksfront, Abraham Ortega, da er die Ehre der Nation mißachtet und Bestechungsgelder für “jüdi­sche Visa” angenom­men habe. Die Ergebnisse der eingesetzten Un­tersu­chungskommission reihten weder der Ab­ge­ord­ne­ten­kammer noch dem Senat aus, um der Anklage des “chi­le­ni­schen Führers” zu­zustimmen. Dennoch hatte das MNS seine politische Absicht erreicht, eine anti­se­mi­tische Stimmung in der Be­völ­ke­rung zu schüren.
Der Prozeß gegen den Au­ßen­minister offenbarte der (im übri­gen nach einem gescheiterten Putschversuch der chilenischen National­sozialisten mit den Stimmen des MNS) Volks­front­re­gie­rung, daß sich die ge­setz­lichen Einwanderungs­be­schrän­kungen – zum Glück der Ver­folgten – umgehen ließen, da sie nur mit großem bürokratischen Auf­wand kontrollierbar wa­ren. Zugleich aber de­monstrierte der Prozeß die schwerwiegenden Folgen einer lückenhaften Asyl­ge­setzgebung, die ihre Aus­führung wenigstens zum Teil dem Wohlwollen von Ein­zel­per­sonen anheim­stellte. Sie er­laubte es den chilenischen Konsuln, im Ausland vom Außenmini­sterium bereits er­teilte Visa zu blockieren. Durch ein ent­sprechendes “Informa­tions­schreiben” über die Person des An­tragstellers oder der An­trags­stellerin wurde der büro­kra­tische Apparat er­neut in Gang ge­setzt, wäh­rend den Verfolgten bereits die De­portation in ein Konzen­trationslager drohte. Häufig erwiesen sich die Konsuln als größtes “Emi­gra­tions­hindernis”, da sie dem na­tionalsozialisti­schen Regime durchaus positiv gegen­über­standen.
Der politische Druck der “Anti-Immigrationskampa­gne” zwang die Volks­frontregierung, ein Zeichen zu setzen, daß die Ge­setzgebung nicht will­kürlich auslegbar war: Mitte 1940 ver­hängte sie einen Ein­wan­de­rungs­stopp. Die hu­manitär be­gründete Asyl­praxis der Volks­front­re­gierung fiel damit politi­scher Interessenspolitik und ei­ner lückenhaften Asylge­setz­gebung zum Opfer, de­ren un­kon­trol­lier­bare Ver­fahrensregelung auf der an­deren Seite vielen Flücht­lin­gen das Leben rettete.
Die Fluchtbewegung aus dem “Dritten Reich” hätte längst vor Kriegsbeginn ei­ner flexibleren, internatio­nalen politischen Ant­wort bedurft. Zumindest für ei­nen kurzen Zeitraum ist die chi­lenische Volksfront­regie­rung diese Antwort nach der Flücht­lings-Kon­ferenz von Evian im Som­mer 1938 nicht schuldig geblieben.
Aus der Perspektive des Exils stellte sich das Auf­nahmeland Chile, obschon die Emi­grant­In­nen zu jenen “unbeliebten” ver­armten Flüchtlingen gehörten, als “vorteilhaft” heraus. Inso­fern kann der Integrations­prozeß in Chile im latein­amerikanischen Vergleich nicht als typisch be­zeichnet werden. So bot die Me­tro­pole Santiago den Flücht­lin­gen leichtere Integrati­ons­chan­cen als der Urwald Boliviens oder die Haupt­stadt La Paz, die viele ver­ließen, um nach Chile oder Argentinien weiterzuwan­dern. Im Gegensatz zu an­ti­se­mi­tischen Anfeindungen in Bo­li­vien erfuhren die Chile-Emi­grantInnen auch eine freund­lichere Auf­nahme.
Intgration und
Akkulturation in Chile
Der Ankunft folgte an erster Stelle die Wohnungs- oder Pen­sionssuche. Falls keine Ver­wandten oder Be­kannten in San­tiago und Valparaíso lebten und die Neuankömmlinge abholten, vermittelte die CHILEHI­CEM, eine jüdische Hilfs­organisation, häufig eine Adresse. Auf den­je­nigen, so der Wiener Emigrant Wal­ter Klein in seiner Auto­bio­graphie, dem es nicht gelang, “einen Landsmann für sich zu interessieren”, warteten Tage, Wochen, Monate “voller bitterer Not”, “bis es ihm glückte, ir­gendwo unterzuschlüpfen, im Hafen, auf dem Markt, als Haus­diener, als Landar­beiter, als irgendetwas.”
In den Pensionen, die zugleich zur Existenzsiche­rung früher ein­ge­troffener Flüchtlinge bei­tru­gen, wur­den Mittagstische an­ge­bo­ten, so daß man teures Essen im Restaurant ver­meiden konnte und den­noch Gelegenheit hatte, sich mit Bekannten oder Freun­den über Möglich­keiten eines Neubeginns, freie Arbeitstellen und Wohnungsmieten auszu­tau­schen. Die Pensions­zimmer wa­ren klein, manchmal ohne Fen­ster und mit bil­ligen Möbeln aus­gestattet. Aber sie hat­ten einen entscheidenden Vorteil: die Menschen konnten sich in deutscher Sprache verstän­digen. Al­lemal ein Um­schlagsplatz der Informa­tionen, entwic­kelten sich die Pensionen ebenso wie das Büro der CHILE­HICEM zur Nach­rich­ten­börse der deutschen Emi­gration.
Ökonomische und
soziale Integration
Den Pensionen und mö­blier­ten Zimmern folgte, wenn alles gut ging, der erste soziale Auf­stieg. Man wohnte zur Un­ter­mie­te oder teilte sich mit anderen ei­ne Wohnung, bis man schießlich ei­ne eigene mie­ten konnte oder sich in ei­nem besseren Stadtteil San­tiagos ein Wohnhaus kauf­te. Die ersten Monate be­standen aus Provisorien. Wer Umzugsgut verschiffen konnte, erst recht nach Kriegsbeginn, hatte großes Glück, wenn es auch manchmal absurd erschien, was man mit­ge­nommen hatte: Kopfkissen, Fe­der­betten, weißes Bettzeug, ein paar Tischtücher. Manche ba­stel­ten aus ihren Schiffs­kisten das erste Bett, den ersten Klei­der­schrank oder Küchentisch, der zugleich als provisorischer Arbeits­platz diente. Im “chi­le­n­i­schen Erfogsfall” ging der In­te­grationsprozeß von einer ersten Phase der Neuorientierung und Ar­beitssuche über in eine Phase größerer finanzieller Ab­sicherung und mündete schließ­lich in die Gründung einer neuen Existenz, die etwa dem gesell­schaftlichen Status vor der Flucht ent­sprach. Die Im­mi­grantIn­nen trafen auf günstige wirtschaftliche Bedingun­gen. Sie ließen sich in der Hauptstadt nie­der, und vie­len bot die her­stellende und verarbeitende Tex­tilin­dustrie den Neueinstieg ins Wirtschaftsleben, so daß sich ein ganzer, aus Deutschland bekann­ter In­dustrie- und Gewerbezweig re­produzierte.
Die Bilanz der ökono­mischen Integration fällt keineswegs nur positiv aus. Eine akademische Ausbil­dung, der Beruf des Rechtsanwaltes, Arztes oder auch Chemikers und Phar­ma­zeu­ten standen der Exi­stenz­gründung in Chile ebenso wie in Bolivien oder Peru in Wege. So arbeite­ten Rechstsanwälte als La­geristen, Büroangestellte, Ver­käufer von Erfrischun­gen und Schreibwaren. Ärz­te wurden Sanitäter, Kran­kenpfleger, Mas­seure, Begleiter von Fußball­grup­pen. Architekten wurden technische Zeichner und Innen­dekorateure; Apothe­ker arbei­te­ten in Drogerien und Labo­ra­to­rien als ge­wöhnliche Angestellte.
Vor allem fiel den Frauen eine besondere Bedeutung zu, deren Arbeitskraft manchmal ein Ab­sinken der Einwandererfamilien in die Armut verhindern half. In fast allen Veröffentlichun­gen über die Phase der Existenz­grün­dung im Exil findet sich der Hin­weis, daß Frauen die Hauptstüt­zen in finanzieller und emo­tio­na­ler Hinsicht waren. Psycho­logisch scheinen sie das Trauma der Flucht besser bewältigt zu haben und fanden sich in kürze­rer Zeit mit der Lebensumstel­lung zurecht. Frauen über­nah­men neben Haushalt und Kin­dern die Verant­wortung für den finanziel­len Unterhalt: sie wur­den Sekretärinnen, Gouvernan­ten, Lehrerinnen, er­öffneten Geschäfte, wurden Näherinnen, Kassiererin­nen, Verkäuferinnen und Buchhalterinnen. Auch die Pensionen wurden häufig von Frauen geführt.
Jüdischer Widerstand
im Exil
Im Jahr 1936 wurde das Komitee gegen den Anti­semi­tis­mus gegründet, das die Be­kämpfung solcher Tendenzen im Aufnahme­land Chile und Auf­klä­rungsarbeit über die natio­nal­sozialistische Rassenpo­litik zur Aufgabe hatte. Das Komitee wollte ohne jegli­che politische Parteilichkeit auf nationaler und interna­tionaler Ebene arbeiten und sich in der Tradition jüdi­schen Abwehrkampfes der Auf­klärungsarbeit widmen. Seine Tätigkeit blieb eher zu­rück­hal­tend. Die Immi­grantInnen wur­den dazu aufgefordert, sich nicht laut in deutscher Sprache zu un­ter­halten, bzw. in größe­ren Grup­pen in der Öffent­lichkeit auf­zu­tre­ten.
Synagoge in der Avenida Portugal in Santiago de Chile. Zwischen ’45 und ’94 funktionierte hier das Gemeindezentrum von B’ne Jisroel.
Eine weitere Aufgabe bestand darin, andere Or­ganisationen zu unterstüt­zen. Eine davon organi­sierte Handel und Industrie jü­discher Herkunft, um strategisch jene Marktbe­reiche aus­zu­schal­ten, die ansonsten von Nazis ge­nutzt wurden.
Chile: kein Wunschziel
Eine Bilanz der Akkul­tu­ra­tion, deren Probleme auch als ge­nerationsspezi­fisch zu cha­rak­te­risieren sind, muß die “Rück­wärtsgewandtheit des Exils” berücksichtigen.
Der Berufseinstieg fing nur zum Teil die durch die Flucht be­dingte soziale De­klassierung auf und ließ nicht immer den Wie­der­einstieg in eine bürgerliche Existenz erhoffen. Das Exil en­dete keineswegs mit dem Ab­schluß eines Arbeitsver­trages, der Eröffnung eines Geschäftes oder Kleinun­ternehmens in Chi­le. In Südamerika erkannte jeder sogleich die EmigrantInnen, und daß man überhaupt als Emigrant bezeichnet wurde, “das machte es umso schwerer, zum Im­mi­granten zu werden.”
Da die Europäer in den Län­dern Lateinamerikas den Ruf hö­herer Bildung genossen, kam die Bevöl­kerung den ImmigrantIn­nen zwar mit Respekt ent­gegen, allerdings ebenso mit ironischer Distanzie­rung von deutschem Fleiß und deutscher Pedanterie, Pünktlichtkeit und Ar­beit­sam­keit, aber auch Überheblichkeit. Dennoch zählten die Deutschen in Chile zur beliebtesten aus­län­dischen Minderheit: Wer heute unter EmigrantInnen zu wählen hätte, meinte der von 1939 bis 1943 amtie­rende US-ame­ri­kanische Botschafter in Chile Claude G. Bowers, der würde die Deutschen vorziehen.
Von den Einheimischen als Deutsche betrachtet, re­prä­sentierten die deutsch-jüdischen Emi­grantInnen die von Chile­nen als “typisch deutsch” bezeich­neten Tugenden. Dieser Rückzug brachte teilweise eine enorme Ab­grenzung gegenüber der chilenischen Kultur mit sich.
Indem sie die chilenische Staatsbürgerschaft erwar­ben, drückten die Immi­grantInnen zu­mindest in den ersten Jahren des Exils weniger ihre Dankbarkeit oder nationale Solidarität aus, als ihre Distanz zum Herkunftsland, das sie, wenn nicht bereits vor 1941, so doch seitdem kol­lektiv aus­gebürgert hatte. Sie wollten die allenfalls als Rehabilitation, keinesfalls jedoch als Wieder­gut­ma­chung zu bezeichnende Wie­der­einbürgerung nicht erwerben und sich nicht den hiermit ver­bun­denen , häufig ent­wür­di­gen­den und quälenden Ver­fahren aus­setzen, das sich über Jahre hin­ziehen konnte. Die Chile-Emi­grantInnen grif­fen die Frage der Staats­bürgerschaft insofern nicht im Kontext der Integration in das Exilland auf- viel­leicht, weil man erfahren hatte, wie we­nig die Staats­bürgerschaft zählen konnte.
Dennoch beantragte die zweite Generation der NS-Ver­folg­ten und ihre Kinder die chi­le­nische Staatsbür­gerschaft offen­bar weder sehr früh noch in über­wie­gender Mehrheit. Gründe hier­für sind nur mutzuma­ßen. Sie können wie in Ar­gentinien auf die unsiche­ren politischen Ver­hältnisse zurückzuführen sein, die viele ImmigrantInnen in La­teinamerika zur Wieder­an­nah­me der deutschen Staats­bür­ger­schaft veranlaß­ten. Im Jahr 1970 führte beispielsweise die Wahl Sal­vador Allendes zum Staats­prä­sidenten Chiles, die eine weit­aus stärkere Flucht­bewegung der deutsch­sprachigen Emigra­tion aus­löste, als der Putsch der Mi­li­tärs unter General Augusto Pi­nochet 1973, zu einem Anstieg der Wie­dereinbürgerungsanträge. Über 2.000 jüdische Emi­grant­Innen verließen 1970 in kür­ze­ster Zeit ihr Exilland.
“Selbstisolierung”
Den älteren jüdischen Emi­grant­Innen war und ist es be­wußt, daß sie trotz jahrelanger An­sässigkeit im Land “zu ihren ein­heimi­schen Nachbarn noch im­mer nicht den richtigen Kon­takt gefunden haben.” Handelte es sich um eine “Selbstisolierung”? Ein Teil der jüdischen Emi­grantInnen, von denen hier die Rede ist, schloß sich der 1938 gegründeten deutsch-jüdischen “B`ne Jisroel” an, um an ihrem Gemeindeleben, den Got­tesdiensten, Veranstal­tun­gen etc. teilzuhaben. Die Ge­mein­de übernahm die Funktion einer “Heimat in der Fremde” und gab den Flüchtlingen Halt und soziale Sicherheit. Die Teil­nahme beziehungsweise Mit­glied­schaft implizierte nur in gewissem Maße eine Hin­wendung zum religiösen Le­ben, in jedem Fall aber zu einem be­wußten Juden­tum und dessen na­tio­naler Heimat Israel.
Der eingangs erwähnte para­doxe Eindruck eines Rückzugs auf das Deutschtum sollte nicht vor­wiegend als Abgrenzung von der Kultur des Auf­nahmelandes, wel­che ein­zelnen häufig fremd ge­blie­ben ist, oder als “Ko­lo­ni­sten­mentalität” be­wertet werden. Die Emi­grantInnen bewahrten sich ein “deutsches Kulturle­ben”, von dem sie sich nicht trennen woll­ten, und über­brückten auf diese Weise die Fremdheit in der neuen Umgebung. Unter den deutsch-jüdischen Im­mi­grant­Innen der ersten bei­den Gene­rationen bil­dete sich viel­fach eine “drei­geteilte Identität” heraus: Man bekannte sich zum Juden­tum, fühlte sich der deutschen Kultur ver­bunden und be­trachtete das Auf­nahmeland weit über das Gefühl der Dank­bar­keit hin­aus als seine Heimat. Die chilenische Gesellschaft hat die­se Identität, wenn­gleich sie nach Auschwitz durchaus einer er­neuten Selbstversicherung be­durf­te, keinem Assi­mi­la­tions­druck ausgesetzt. Weitaus die Mehr­heit der deutsch-jü­di­schen Emi­grantInnen ist in Chile ge­blie­ben, eine Rückkehr nach Deutsch­land stand nicht zur Dis­kussion.

Von der Autorin liegt eine Dissertation über das “Exil in Chile” vor. Dort wird auch das politische Exil und die Haltung der deutschen Ko­lonie berücksichtigt.
Irmtrud Wojak, Exil in Chile. Die deutsch-jüdische und politische Emigration wäh­rend des Nationalsozialis­mus 1933-1945, Berlin, METROPOL;1994)

Stabilität auf Zeit

Die kleine Minderheit von vier Millionen BürgerInnen, die nach Jahren der Deindustrialisie­rung und Deregulierung von der argentini­schen Mittelklasse noch übriggeblieben sind, haben wohl am mei­sten von der Währungs­stabilität profitiert. Gestiegene Gehälter in der Pri­vatwirtschaft und in leitenden Positionen der Verwaltung bei einer erleichter­ten Kreditaufnahme haben ihr Zugang zu den mo­dernsten Im­portprodukten ermöglicht. In den Jahren galoppierender Inflation unter der Regierung Alfonsín schien ein gewisser Nach­holbedarf entstanden zu sein, der in den letzten Jahren befriedigt werden kann wie zu Zeiten des “süßen Geldes” (plata dulce) unter der letzten Militärdiktatur. In erster Linie wurden die flüssi­gen Dollar-paritätischen Pesos in langlebige Konsumgüter, Ap­partements und Reisen umge­setzt.
Mehr denn je ist der Konsum nicht nur auf die unmittelbare Bedürfnis­befriedigung ausge­richtet, sondern darauf, das neu Erwor­bene zeigen zu können. Ein Auto sollte importiert sein, auch wenn auf dem heimischen Markt vergleichbare Qualität zu bekommen ist. Bei Bekleidung und Schuhen zählt nichts mehr als das sicht­bare Markenzeichen. Reisen werden danach gebucht, was gerade “in” ist. Dazu zählen Disneyland in Orlando, Florida, oder Cancun in Mexico.
Heute fährt der Mittel­klasse-Argentinier allerdings auch nach Punta del Este, in den uruguayi­schen Badeort der “Reichen und Schönen” des Cono Sur, und wenn’s nur für eine Woche ist.
Konsum und Image
als Lebensinhalt
Natür­lich wird auch an die Bedürf­nisse der Kinder gedacht. So rechnete das bedeutendste politische Wochenmagazin “Noticias” kürzlich vor, was die Spröß­linge der Mittelklasse so benötigen: Für Studium, Un­terhaltung, Bekleidung, Miete und Fahrtkosten kommen mo­natlich ca. 850 US-Dollar zu­sammen, etwa das Dop­pelte ei­nes argentinischen Min­destlohns.
Viele haben sich zur Erfül­lung dieser lang gehegten Wün­sche bis über die Oh­ren ver­schuldet. Selbstverständlich sind Kredite in US-Dollars aufzu­nehmen. An­sonsten gilt nach wie vor die beliebte Zah­lungsweise mit Kreditkarte, wobei man bis zur Abbuchung im besten Fall zwei Monate gewinnen kann, und es wird auf Raten gekauft.
An­gesichts seiner eigenen Ver­schuldungssituation resü­miert ein selbstkritischer Gesprächs­partner, die Ar­gentinierInnen hätten wohl eine ökonomi­sche Harakiri-Mentalität entwickelt: Was zähle, sei der Konsum im Augenblick, auch wenn die Verschuldung beispiels­weise bei einer Abwer­tung des Peso sicher in den fi­nanziellen Ruin führe.
Für Aufsehen sorgte Ende 1994 die Veröffentlichung der offiziellen Arbeitslo­senstatistik. Mit über 13 Prozent wurde ein neuer Rekord aufge­stellt, in ei­nem Land, dem sein Präsident vor fünf Jahren eine “produktive Revolution” versprochen hatte. Gleich nach der Veröffentli­chung meldeten sich Regie­rungsvertreter und schließlich der Präsident, an dem Besorg­nis über die soziale Lage im Lande sonst abperlen wie an einem Re­gencape, höchstpersönlich zu Wort, um die Daten als übertrie­ben zu demen­tieren. Bei höchstens 9 Prozent liege die Arbeitslo­sigkeit, rechnete Menem vor.
Tatsächlich jedoch, so belegt Susana Torrado, ehe­mals hohe Funktionärin des nationalen Sta­tistikinstituts INDEC, haben rund 40 Prozent der Argenti­nierInnen Probleme mit dem Ar­beitsplatz. Offiziell würden je­doch le­diglich die Personen stati­stisch berück­sichtigt, die sich ar­beitslos gemeldet hät­ten. Wer sich dagegen innerhalb der letz­ten Woche nicht mehr arbeitslos gemeldet habe, falle aus der Sta­tistik. Ebensowenig tauchten diejenigen in der Da­tensamm­lung auf, die hoffnungslos unter­be­schäf­tigt seien, mit Ein­künften unter­halb des Ex­istenzminimums auskommen müßten oder schwarz arbeiteten. Dabei gebe es von Mal zu Mal weniger Lohnab­hängige und immer mehr unabhängig Be­schäftigte, womit in erster Linie infor­melle Tätig­keiten gemeint sind – etwa ambulante Händ­lerInnen.

An der Spitze der Arbeitslo­senstatistik stehen Städte wie San Mi­guel de Tucu­mán, die wichtigen Hafenstädte Bahía Blanca und Rosa­rio und die Provinzhaupt­stadt Santa Fé. Im Großstadtgürtel um Buenos Ai­res liegt die offi­zielle Arbeitslo­senquote bei 14,9 Prozent, und die Industriebetriebe sterben weiter. Gerade hier hat man Angst vor den Kon­sequenzen der Marktöffnung im Zuge des Mer­cosur. Der brasilianischen Industrie­produktion fühlt man sich nicht gewachsen. Schon jetzt sind in den Straßen zahlrei­che Volkswagen do Brasil zu se­hen, und auf den Landstraßen aus Richtung Norden rollen im­mer mehr brasilianische LKWs, ob nun mit Auto­teilen oder Brahma-Bier bela­den.
Der Besitzstand
wird verteidigt
Wichtigste Antwort der Poli­tik auf die wachsende Arbeitslo­sigkeit ist ein Geset­zespaket zur weiteren Flexibilisierung der Ar­beit. Erwartet werden Produktivitäts­zuwächse und eine Verbesserung der in­ternationalen Konkurrenzsitua­tion, denn die Arbeitskraft sei in Argentinien nach wie vor teurer als in den Nachbarländern – ver­sprochen wird eine rasche Ab­nahme der Arbeitslosenzahlen.
Publikums­wirk­samer ist aller­dings eine mit Unter­stüt­zung der Medien betriebene Kampa­gne ge­gen illegal Beschäftigte, die über­wiegend aus Chile, Peru und Bolivien kommen. Daß diese auf dem Bau und in einfachen Dienstleistungen Eingesetzten zahlenmäßig eigentlich keine Rolle spie­len, stört dabei wenig. “Die Chilenen nehmen uns die Ar­beitsplätze weg”, heißt es.
Der Staat, hier personifiziert durch den Innenminister, veran­laßt Raz­zien, und das Fernsehen setzt alles ent­sprechend ins Bild: Illegale ausländische Arbeiter werden wie Schwerverbrecher in Handschellen abgeführt, als erste Mel­dung in den Abendnach­richten. Die neue­sten Daten des INDEC belegen dagegen: Selbst wenn alle in den letzten fünf Jah­ren nach Argentinien ge­kommenen Arbeits­kräfte in ihre Heimat­länder zurückkehren würden, sänke die Arbeitslosig­keit um le­diglich 0,2 Prozent.
Insbesondere im Großstadt­gürtel von Buenos Aires sind Armut und soziale Ungerechtig­keit weiter gewachsen. Hier tei­len sich 54 Prozent der am unte­ren Rand der Einkommenspyra­mide Angesiedelten un­ter­einander ebensoviel wie die 6 Prozent an ihrer Spitze. Die so­zialen Konflikte und die Krimi­nalität nehmen drastisch zu, und auch hier reagiert der Staat demon­strativ mit harter Hand. Immer häufiger werden beson­ders jugendliche Delin­quenten von Polizisten umgebracht.
Medien, Glanz und Glitter trüben die Wahrnehmung
Wäh­rend die Reichsten in pri­vat bewachten Vierteln des Hauptstadtbezirks wohlge­schützt leben, sind in dieser Region ange­siedelte Kleinun­ternehmen und Mittel­klasse-Wohnungen Ziel von Einbrüchen und Rau­büberfällen. Immer häufiger verteidigen die Besitzer ihr Ei­gentum mit der Waffe in der Hand, und die Justiz zeigt dabei weitgehend Verständnis.
Vor etwa zwei Jahre erregte der Fall eines Mannes Aufsehen, dem mehr­fach sein Cassettenre­corder aus dem Wagen gestohlen worden war. Als er bei einem weiteren Diebstahlversuch den Täter stellen konnte, erschoß er ihn auf of­fener Straße. Nach wie vor befindet sich der Schütze, ein Ingenieur und braver Fami­lienvater, auf freiem Fuß. Das Ge­richt gestand ihm zu, er habe sich in einer Schocksituation be­funden.
Ähnliches wer­den wohl ein Vater und sein Sohn geltend ma­chen können, die im Dezember nach dem Diebstahl ihres Autos den po­tentiellen Täter verfolg­ten, mit mehreren Schüssen verletz­ten, auf ein leeres Grund­stück warfen und dort verbluten lie­ßen.
Daß die Wahrnehmung der wirklichen sozialen Lage allzumal bei der konsumorien­tierten Mittelklasse getrübt er­scheint, dafür sorgen die Wer­bung und die Me­dien, allen voran das Fernsehen. Geradezu obszön erscheinen in diesem Kontext die Hinweise auf Schlankheits­kuren, Diäten und Fitness, die neben der Markenklei­dung die äußere Er­scheinung der moder­nen Argen­tinierin und ihres männlichen Pendants vervollkommnen sol­len. Vor- und Nachmittagspro­gramme des Fernse­hens sind mit Telenovelas argentinischer Pro­duktion, venezo­lanischen oder mexi­kanischen Culebrones, die unendli­chen Fernseheserien, oder Spielshows ge­füllt.
Unterhaltung ist alles, je greller und lauter, um so besser. Die höchsten Ein­schaltquoten erzielt nach wie vor die nie al­ternde Mirta Legrand, die seit Jahren Gäste aus Politik, Sport und Showbusiness zum Small­talk beim Mittagessen einlädt. Einmal im Jahr darf auch der Präsident kommen und nach Herzenslust plaudern.
In den Abendprogrammen dominieren seit zwanzig Jahren dieselben Namen die Diskussionssen­dungen. Bernardo Neu­stadt (“Tiempo Nuevo”) ver­breitete seine reaktionären Weis­heiten schon unter der Militärdikta­tur. Mariano Gron­dona tat dies frü­her mit ihm ge­meinsam, hat mittlerweile jedoch sein eigenes Programm (“Hora Clave”). Die beiden Altmeister haben inzwi­schen mit “Hadad y Longobardi” eine ju­gendliche Konkurrenz bekommen. Und bei allen haben in den letzten Mo­naten Sex und Crime als Thema gegenüber der Politik an Ge­wicht gewonnen.
Die Korruption ist öffentlich wie selten – macht nichts
Die Korruption grassiert. Pa­gina/12 als einzige bedeutende kritische Tageszeitung mit einer Auflage von über 100.000 Ex­emplaren denun­ziert zwar nach wie vor unermüdlich die zahlrei­chen Korruptions­fälle. Aber auch sie mußte zum Jah­resende fest­stellen, daß zwar einige Fälle vor Gericht verhandelt wurden, kein einziger aber auch zur Verurtei­lung kam.
Zwar stehen über 70 hohe FunktionäInnen und persön­liche FreundInnen des Präsidenten aus Unter­nehmerkreisen vor Gericht, aber längst ist die Justiz selbst Teil des Korrupti­onssystems ge­worden. Um so un­verfrorener wird in die Kameras der Nach­richtenprogramme gelogen, um so heftiger werden Journali­stInnen der Ver­leumdung be­schimpft.
Während die argentinischen RentnerInnen nach wie vor für die pünkt­liche Auszahlung ihrer Renten demon­strieren müs­sen, wurden in der staatlichen Ren­tenversicherung PAMI in den Jah­ren der Menemregierung 1500 sogenannte ñoquis in den Gehaltslisten geführt. Das sind Funktionäre, die ledig­lich am Monatsende an ihrem Arbeits­platz erscheinen, um den Ge­haltsscheck entge­genzunehmen. Hier bediente die peronisti­sche Regierung ihre Klientel teilweise mit Gehältern zwischen 3.000 und 5.000 US-Dollar monatlich.
Lästig scheint die Denunzia­tion der Korruptionsskandale in den Me­dien für die Regierung trotzdem zu sein. Wie sonst er­klären sich die Versuche der Re­gierung, die Presse mundtot zu ma­chen. Der dritte Anlauf wurde Anfang des Jahres gestar­tet: Die neueste Gesetzesvorlage zum soge­nannten Ley Mordaza (Knebel) wurde von Menem selbst eingebracht. Es droht Jou­nalistInnen, die “Verleum­dun­gen” publi­zieren oder “falsch be­richten”, mit ho­hen Strafen. Für die veröffentli­chenden Me­dien sollen Geldstra­fen bis zu 200.000 US-Dollar und Ver­pflichtungen zur Ent­schädigung der Betroffenen bis zu 500.000 US-Dollar fällig werden.
Ein weiterer Schritt, kleinere, kritische Me­dien ökonomisch auszuschalten, ist die Verpflich­tung, sich unabhängig von ihrer Größe in Höhe von 500.000 US-Dollar versichern zu lassen. Zu­sätzlich soll eine neue Rechtsfi­gur geschaffen werden, die so­genannte “falsche Beschuldi­gung”. Da­nach dürfen keine Verdächtigungen, die “auf falschen Tat­sachen beruhen”, mehr veröffentlicht werden.
Die Mittelklasse steckt ob ih­rer vielen Kredite tief in der menemistischen Schuldenfalle. Sie wird den Präsiden­ten wählen, der am glaub­würdigsten die Fortsetzung der Währungs­stabilität ver­spricht. Menem machte mit der Wahl des jetzi­gen In­nenministers Ruckauf zu seinem Kandidaten auf die Vizepräsident­schaft ein weiteres Angebot an die Mittel­klasse.
Ruckauf, unter Isabel Peron 1975 schon einmal Mi­nister, ist ein aalglatter Law and Order-Vertreter. Er verspricht hartes Durch­greifen gegen Kriminelle und Schutz des Besitzstandes. Menem selbst scheint Garant für den Wahlsieg im alles entschei­denden Stim­menbezirk des ver­armenden Großstadtgürtels von Buenos Ai­res.
Ausschlaggebend auch hier: die Währungsstabi­lität nach den Jahren der Geldentwertung unter der Regierung Alfonsín mit sei­ner “Radikalen Bürgerunion”, UCR. Zudem bietet eben diese zweite große Volkspar­tei keine Alternative. Ihr erst vor wenigen Monaten gekürter Spit­zenkandidat Massa­chessi, bisher Gouverneur der Agrarpro­vinz Rio Negro, scheint von vorne­herein weit abgeschlagen. Auch er ver­spricht die Fortführung der Stabilität allerdings mit mehr so­zialer Gerechtigkeit. Die wich­tigsten wichtigsten Schritte der ökono­mischen Umstrukturie­rung hatte die UCR in den letzten Jah­ren mitgetragen.

Der politi­sche Pakt zwischen den beiden großen Parteien, der zur Verfas­sungsänderung zwi­schen dem aktuellen Präsidenten und seinem Vor­gänger arran­giert worden war, scheint für die Wäh­lerInnen ein weite­rer Grund, sich eher für eine be­reits bekannte Regie­rungspolitik zu entscheiden, anstatt mit der UCR ein neues Risiko einzuge­hen.
Die Frente Grande (FG), das linke Op­positionsbündnis, hat in den letzten Mona­ten vor allem personalpoli­tisch von sich hören lassen. Unter Protest gegen den Führungsstil und den Verlust linken Profils trennte sich Pino Solanas von der FG. Es gehe an­scheinend nur noch darum, wer Präsident­schaftskandidat werde, monierte der Filmema­cher. In­zwischen hat er selbst eine neue Partei gegrün­det, die ihn sicher als Präsident­schaftskandidaten auf­stellen wird.
In der FG selbst ist der pero­nistische Dissident Chacho Alva­rez Spit­zenkandidat. Unter seiner Führung schloß sich die FG mit anderen Oppositionsgrup­pie­run­gen zusammen, deren wichtigste von einem weiteren Sprößling des Anti­menemismus, dem Gou­verneur von Neu­quén, José Octavio Bordón, geführt wird. FREPASO heißt dieses neue Oppositions­bündnis nun, Frente País Solidario.
Zum Gründungs­akt im De­zember in Buenos Aires kamen immerhin rund 10.000 Men­schen. Nach der end­gültigen Verabschie­dung von radikalen Positionen etwa der PC und der Vereinigung mit Bordón, der al­lerdings ein relevanteres Stim­menpotential mitbringt, soll nun bald durch eine offene Wahl ent­schieden wer­den, wer von den beiden Ex-Peronisten gemeinsa­mer Präsident­schaftskandidat der FREPASO werden soll. Bisher treten Alvarez und Borbón ge­meinsam auf, Hauptthemen: Korruption und soziale Unge­rechtigkeit. Auf ihr wirt­schafts­po­liti­sches Konzept angespro­chen, läßt sich die Kernaussage der Link­sopposition jedoch so zu­sammenfassen: “Wir ga­ran­tie­ren die Stabilität besser als der Mene­mismus”, so Chacho Alva­rez in einem Inter­view.
Bei solch offen­sichtlichem Mangel an politi­schen Alter­nativen scheint die Wiederwahl Carlos Menems sicher. Politik ist darauf reduziert, Währungs­stabilität zu garan­tie­ren. Obwohl offensichtlich ist, daß auch die jetzige Regie­rung dies längerfri­stig nicht kann, hat die argen­tinische Mit­tel­klasse doch keine Wahl, sie hat nur eine Hoffnung und eine Op­tion.

Hoffen auf ein Wunder

In fetten Lettern wettert die oppositionelle Tageszeitung “La República” gegen Präsident Fu­jimori. Einsam hängen die politi­schen Schlagzeilen zwischen Busen- und Revolverblättern in der abendlichen Kälte am Zei­tungsstand auf der Plaza de Ar­mas in der südostperuanischen Provinzstadt Puno. Alle anderen Tageszeitungen sind ausverkauft. “Haben Sie keine andere Zei­tung?”. Die Kundin ist verärgert. “Die da ist gegen den chino, die will ich nicht.”
Fujimori scheint sich auf seine Wählerschaft verlassen zu können. Rund 40 Prozent der Wahlberechtigten sollen, so die Umfragen, sichere Fujimori-Wähler sein. Die noch nicht ganz Entschlossenen mit Fujimori-Tendenz eingerechnet, werden dem Präsidenten zwischen 45 und 53 Prozent vorausgesagt. Sein schärfster Rivale, Ex-UNO-Generalsekretär Pérez de Cuél­lar, bringt es gerade einmal auf 20 bis 22 Prozent.
Der Wahlkampf dümpelt vor sich hin. “El Perú no puede pa­rar”, Peru kann nicht anhalten, verkündet das lächelnde Gesicht des Präsidenten von den Wahl­plakaten. “Weiter so” auf pe­runaisch. Und damit trifft er wohl die Hoffnung der Mehrheit der Bevölkerung. In den zwei­einhalb Jahren seit der Verhaf­tung von Sendero Luminoso-Chef Abimaél Guzmán hat man sich daran gewöhnt, wieder ohne die ständige Bedrohung durch Bombenanschläge zu leben. Auch die Zeit des wirtschaftli­chen Chaos mit der Hyperinfla­tion unter Präsident Alan García ist schon fünf Jahre her. Diese Erfolge kann sich Fujimori gutschreiben. Er ist für seine Anhänger der Garant dafür, daß die dunkle Vergangenheit nicht wiederkommt, und er vermittelt anhand von Symbolen den Ein­druck, daß es aufwärts geht.
Nicht zufällig verbindet Fuji­mori seine Wahlkampfauftritte vorzugsweise mit der Einwei­hung neuer Schulen. Er weiß, daß Bildung für die Kinder be­sonders auf der Prioritätenliste von armen Eltern ganz oben steht. Auch wenn sich an der Armut für viele nichts geändert hat, macht sich an solchen Sym­bolen die Hoffnung fest, daß es langsam, Schritt für Schritt, wie­der besser werden kann.
Pérez de Cuéllar – wer steht hinter ihm?
Die Opposition hat unterdes­sen alle Mühe, starke Argumente gegen den Präsidenten zu finden. Javier Pérez de Cuéllar verfügt zwar über ein hohes Prestige durch seine Vergangenheit als UNO-Generalsekretär, aber den 74-jährigen zum Präsidenten zum wählen, ist für viele doch noch eine andere Frage.
Auch Pérez de Cuéllar tritt als Unabhängiger an, eine unver­zichtbare Voraussetzung, um in der peruanischen Politik in die­sen Jahren Erfolg zu haben. Die traditionellen politischen Par­teien, “die Politiker” überhaupt, sind in der öffentlichen Meinung gründlich diskreditiert. So liegen in den Umfragen denn auch alle Parteien, die früher die peruani­sche Politik bestimmt haben, deutlich unter fünf Prozent: sowohl die bürgerliche Acción Popular von Ex-Präsident Fern­ando Bellaúnde Terry, der von 1980 bis 1985 regierte, als auch die APRA von Alana García, der von 1985 bis 1990 an der Spitze des Staates stand. Nicht besser ergeht es Izquierda Unida, der “Vereinigten Linken”, die in den 80er Jahren den Kern der Oppo­sition darstellte.
Wenn Pérez de Cuéllar auch als Unabhängiger nur wenig Lei­denschaft entfachen kann, liegt das nur zum Teil an seinem di­stanzierten persönlichen Stil. Die “Union für Peru” (UPP), die zur Unterstützung seiner Kandidatur gegründet wurde, vermittelt den Eindruck, außer der Ablehnung von Fujimori und der Unterstüt­zung von Pérez de Cuéllar keine eindeutige politische Linie zu haben. In der UPP haben sich aus allen politischen Richtungen diejenigen zusammengefunden, die nach dem Motto “Wenn überhaupt einer eine Chance ge­gen Fujimori hat, dann Pérez de Cuéllar” auf das richtige Pferd setzen wollen. Viele Politiker sind dabei, die früher in anderen Parteien waren und deren Unter­stützung für den Kandidaten eher kontraproduktiv ist. Das Mißtrauen ist groß, über Pérez de Cuéllar könnten doch wieder die alten Politiker an die Macht kommen, von denen sich Fuji­mori so erfolgreich abgrenzt.
Die Oppostition auf der Suche nach Themen
Die Argumente, mit denen Pérez de Cuéllar verusucht, ge­gen Fujimori Wahlkampf zu be­treiben, finden in der Öffentlich­keit nur ein begrenztes Echo. Zum einen fordert er “soziale Marktwirtschaft” für Peru. Zwei­fellos ist die Massenarmut das größte soziale Problem des Lan­des, aber die Aussagen Pérez de Cuéllars dazu bleiben vage. Slogans wie “Arbeit für alle” sind nicht glaubwürdig in einem Land, in dem es für viele Men­schen zur Alltagserfahrung ge­hört, vor Wahlen immer wieder die gleichen Versprechen zu hö­ren, um dann in den folgenden Jahren doch wieder ganz auf sich selbst angewiesen zu sein.
Pérez de Cuéllar muß eine Gratwanderung betreiben. Zum einen muß er Fujimori als Präsi­dent der Massenarmut angreifen, zum anderen darf er aber keinen Zweifel daran lassen, daß er die Stabilitätspolitik Fujimoris im wesentlichen weiterführen will. Die Angst vor einer neuen Phase von Instabilität und Inflation scheint größer als die Hoffnung, durch Sozialprogramme im großen Stil könnten sich die Le­bensbedingungen tatsächlich dauerhaft verbessern.
Der Ecuador-Konflikt: als Wahlkampfthema ein Flop
Der Grenzkrieg mit Ecuador schien zu einem Wahlkampf­schlager für Pérez de Cuéllar zu werden. Nachdem Fujimori eher unfreiwillig in diesen Konflikt hineingeschlittert war (vgl. LN 249), beging er alle nur denkba­ren Fehler. Zum Treffen der Prä­sidenten der Andenländer in Ve­nezuela kurz nach Ausbruch des Konfliktes reiste er gar nicht erst an und überließ dem ecuadoria­nischen Präsidenten Durán Bal­lén das propagandistische Feld.
Kurz darauf brüskierte er Chile – immerhin einer der Ga­rantenstaaten des Protokolls von Rio – mit der Bemerkung, Peru sei militärisch deshalb so außer­ordentlich stark, weil in den 60er Jahren, im Blick auf einen mög­lichen Krieg gegen Chile aufge­rüstet worden sei. Die Aussage war vielleicht sachlich nicht falsch, das öffentliche Echo aber war verheerend. In Chile wurde besorgt kommentiert, man müsse sich vor dem Nachbarn im Nor­den wohl in Acht nehmen. In Ecuador konnte Durán Ballén triumphierend darauf verweisen, Peru sei eben immer schon ein kriegslüsterndes Volk gewesen. In der oppositionellen Presse wurde darüber hinaus ausführ­lich diskutiert, wellche takti­schen und strategischen Fehler auf der militärischen Ebene ge­macht wurden. Der Grenzkrieg ist für Ecuador zu einem diplo­matischen und militärischen Er­folg geworden und nicht nur das: Durch geschicke Pressearbeit steht Peru international als der Aggressor da, Ecuador dagegen als Opfer.
Das Wochenmagazin Caretas, das im Wahlkampf vehement Partei für Pérez de Cuéllar er­greift, ließ es sich nicht nehmen, den Oppositionskandidaten aus­führlich zu Wort kommen zu las­sen. “Ich hätte einfach ein Flug­zeug genommen und die vier Präsidenten der Garantenstaaten besucht, um die Verletzung des Protokolls (von Rio de Janeiro) anzuzeigen”, so Pérez de Cuél­lar. Die Botschaft war deutlich: Der Staatsmann Pérez de Cuéllar mit dem ganzen Gewicht seiner inernationalen Erfahrung hätte den Konflikt diplomatisch bei­gelegt, Fujimori dagegen war dazu nicht fähig. Aber der Ver­such, aus den peinlichen Fehlern der Regierung Fujimori Kapital für Pérez de Cuéllar zu schlagen, ist bis jetzt ins Leere gelaufen. BeobachterInnen in Lima bestä­tigen, daß der Verdruß über den Verlauf des Konfliktes zwar weit verbreitet ist, das Thema für die Entscheidung bei der Präsident­schaftswahl aber keine wesentli­che Rolle spielt.
Nur Realos haben eine Chance
Der Wahlkampf dreht sich weiterhin um die Frage, ob für die Stabilität des Landes kein Weg an Fujimori vorbei führt, oder ob Pérez de Cuéllar doch in der Lage sein könnte, mit seinem bunt gemischten Team eine gangbare Alternative für die nächsten fünf Jahre zu bieten. Auch für viele, die keine begei­sterten Anhänger Fujimoris sind, ist die viabilidad der nächsten Regierung, die reale Chance, fünf Jahre lang Politik zu betrei­ben, ohne sich mit internen Streitereien zu blockieren, ein starkes Argument für den amtie­renden Präsidenten. Und so wird Fujimori wohl auch einige Stimmen von denen bekommen, die sich für ihn als kleineres Übel gegenüber den Risiken ei­ner Regentschaft Pérez de Cuél­lars entscheiden.
Fujimori hat die Wahl fast, aber noch nicht ganz gewonnen. Sollte er es nicht mit der abso­luten Mehrheit im ersten Wahl­gang schaffen, kommt es auf die Drei-Prozent-Gruppierungen an – je nachdem, wen der beiden Kandidaten sie bei einer Stich­wahl empfehlen. Allerdings kön­nen auch sie nicht mehr, als eine Empfehlung abgeben. Durch die wie im französischen Wahlrecht vorgesehene Stichwahl zwischen den beiden stärksten Kandidaten reicht es nicht, durch Koalitions­politik eine Mehrheit zu kon­struieren. Das Wahlvolk kann noch einmal zwischen zwei Per­sönlichkeiten entscheiden. Die Umfragen allerdings sagen Fu­jimori auch für diesen Fall einen großen Vorsprung voraus.
Keine Mehrheit für Fujimori im Kongreß
Koalitionspolitik wird Fuji­mori dagegen im Kongreß nötig haben. Seine Liste Cambio 90 – Nueva Mayoría (Wechsel 90 – Neue Mehrheit) wird aller Vor­aussicht nach keine Mehrheit be­kommen. Die Stimmen, die Fu­jimori durch sein persönliches Prestige als Präsident erhält, übersetzen sich nicht automa­tisch in Stimmen für seine Liste.
Als sicherer Koalitionspartner gilt Renovación, die Liste des Opus-Dei-Mitgliedes Rafael Rey. Er tritt gar nicht erst als Präsidentschaftskandidat an, sondern macht Wahlkampf für den Kongreß mit dem Slogan “Garantie für einen konstrukti­ven Kongreß”. Reichte es zu­sammen mit Renovación nicht für eine Mehrheit, müßte Fuji­mori noch einige Zeit in Ver­handlungen investieren. Nach­dem er die 1993 verabschiedete neue Verfassung ganz auf sich als Präsidenten zugeschnitten hat, ist er nur begrenzt auf den Kongreß angewiesen. Doch er wird es sich in den nächsten Jah­ren kaum leisten können, noch einmal, wie bereits 1992, den Kongreß aufzulösen, wenn ihm dessen Entscheidungen nicht passen.
Was Meinungsumfragen wert sind
Ab 25. März dürfen bis zu den Wahlen am 9. April keine Mei­nungsumfragen mehr veröffent­licht werden. Ob man diese Re­gelung für sinnvoll hält oder nicht, sie erspart Peru hoffentlich bis zur Wahl eine Reihe von ab­surden Diskussionen. Die Um­fragen haben in der Vergangen­heit oft kraß geirrt – in diesem Punkt hat die Oppositon recht. Der völlig überraschende Wahl­sieg Fujimoris gegen Maro Var­gas Llosa vor fünf Jahren ist nur ein Beispiel dafür.
Allerdings trägt der Verweis auf Meinungsumfragen auch mitunter satirische Qualitäten. Beispielsweise verbreitet die Opposition erst wochenlag mit großem Aufwand, Meinungsum­fragen seien überhaupt nichts wert, um sich dann als Zeichen einer Trendwende auf eine leichte Zunahme der Werte für Pérez de Cuéllar zu berufen, wie am 24. März druch UPP-Vize­präsidentschaftskandidat Guido Pennano. Es ist bezeichnend für einen Mangel an wirklichen Themen im Wahlkampf, daß Diskussionen dieser Qualität breiten Raum einnehmen kön­nen.

Kasten:

Wieder Sendero-
Führungskader verhaftet
Präsident Fujimori hat am 23. März in Pucallpa, der Haupt­stadt des Departements Uca­yali im östlichen Tiefland, die Verhaftung von 20 mut­maßlichen SenderistInnen bekanntgegeben. Unter den in Huancayo, Callao und Lima Verhafteten befindet sich, so der Präsident, Margie Clavo Peralta alias “Comandante Nancy”, die als Nummer zwei des “Sendero Rojo” gilt.
Sendero Rojo spaltete sich von Sendero Luminoso ab, nachdem Sendero-Chef Abimaél Guzmán im Oktober 1993 in seinen berühmten Briefen aus dem Gefängnis an Fujimori die vorläufige Einstellung der bewaffneten Aktionen angeboten hatte. Die Splittergruppe ist der letzte Teil Sendero Lumino­sos, der die bewaffnete Gue­rillatätigkeit weiterführt, al­lerdings weit entfernt von der militärischen Stärke, über die Sendero Luminoso noch An­fang 1992 verfügte.
Margie Clavo Peralta gehört zur Gründungsgeneration von Sendero Luminoso, die am 19. April 1980 den “bewaffneten Volkskrieg” ausrief, und hatte verschie­dene Positionen inne. Sie er­scheint unter anderem auf dem 1991 beschlagnahmten Video von einer Fiesta der Sendero-Spitze in einer Villa im gutbürgerlichen Viertel Chacarilla del Estanque in Lima.

Der Schlächter und sein Henker

“Weißt du, Ramírez, wichtig ist nicht, was man erlebt hat, sondern woran man sich erinnert. Es ist mir schwer gefallen, aber ich habe es gelernt. Es ist so eine Art kontrollierter Ge­dächt­nisverlust. Viele machen es hier so.” Der alte Mann schaut sich mit jovialem Blick in der Kneipe um. “Wir waren alle verrückt damals, im La­ger Teu­felsstraße.” – Zwei Mili­tärvetera­nen, die sich nach zwanzig Jahren wie­der­getroffen haben, gießen sich gemeinsam ei­nen hinter die Binde.
Ramírez hatte gewußt, daß er seinen ehemaligen Vorgesetzten Zúñiga eines Tages finden würde. Aber ausgerechnet an seinem Hochzeitstag! Gerade kommt er mit seiner Frau vom Markt und freut sich auf ein romantisches Essen zu zweit, als er vom Bus aus eine halb vermummte Ge­stalt erblickt. Er ver­folgt die Person, bis diese sich im Gassengewirr verliert. Zum Glück be­sitzt Ramírez ein ver­gilbtes Foto, das den Ge­suchten in der Uniform eines Sergeanten zeigt. Ja, dieser Mann ist im Viertel bekannt, aller­dings unter anderem Na­men…
Die Erinnerung auszulö­schen und in eine andere Haut zu schlüpfen, das ist Ramírez in all` den Jahren nicht gelungen. Immer noch ist er Gefangener seiner Erin­nerungen an jenes Konzentrationslager in der Wüste, in das er vor zwanzig Jahren als junger Soldat abkommandiert war. Ein Ort im Nirgendwo. Die brütende Lange­weile wird nur durch Erschießungen von Gefangenen durchbro­chen, deren Zahl sich im­mer weiter dezimiert. Hier sind die Militärs genauso eingesperrt wie die poli­tischen Häftlinge. Nacht für Nacht hängt sich der frustrierte Lagerkomman­dant Mandiola an das ma­rode Funkgerät, emp­fängt Liquidierungsbefehle und bittet sei­nen fernen Vorgesetzten vergeblich, ihn an einen anderen Ort zu versetzen.
Der naiv-gutmütige Ra­mírez ist ein niedriger Charge, Befehlsempfänger sei­nes Vorgesetzten Zú­ñiga. Dieser schwankt zwischen leutseligem, dröhnendem Hu­mor und sa­distischen Ausbrüchen. Einmal läßt er den ver­ängstigten Ramírez mitten in der Wüste zurück, um die Leichen von erschos­senen Gefangenen zu ver­scharren. Ramírez stellt fest, daß einer das Mas­sa­ker überlebt hat.
Chilenische Vergangen­heitsbewälti­gung zwischen “Amnestie” und “Amnesie”: Mehr als fünf Jahre nach der offiziellen Demokra­tisierung ist Ex-Dik­tator Pinochet immer noch Chef der Ar­mee. Nach wie vor gilt groteskerweise die Generalamnestie für Ver­brechen der Mi­litärs, welche diese sich Ende der siebzi­ger Jahre selbst ausstellten. Ähnlich wie in anderen ehemaligen Diktaturen Latein­amerikas gibt es in der chile­nischen Öf­fentlichkeit lauthalse Forderungen, auch politisch einen Schlußstrich unter die Menschenrechtsverletzungen zu ziehen.
In “Amnesia” verzichtet der Drehbuch­autor und Regisseur Gonzalo Justi­niano, der selbst während der Diktatur jahrelang im Exil lebte, auf direkte Bezüge zur chi­lenischen Realität. Der Film ist in einem oft klaustrophobisch und absurd wirken­den, zeitlich und räumlich vagen Am­biente angesie­delt. “Was in Chile pas­sierte, passierte auch in Europa, und zwar weitaus schlimmer, und ist in der Ge­schichte der Menschheit oft passiert. Mir war es wichtig, dieses ständige Vergessen-Wollen zu be­schreiben, dieses Vor­wärts­gehen, ohne hinter sich zu schauen, um sich ja nicht wieder zu ver­irren.”
“Wir sind das Heer der Schatten”, lallt Zúñiga, als er mit Ramírez durch die nächtlichen Straßen torkelt. Ramírez bringt einen außerplanmäßigen Bus zum Stehen, in dem nur der Fahrer sitzt. Dieser schließt die Tür hinter den beiden, tritt auf`s Gaspedal und trällert, scheinbar ge­danken­ver­sunken, eine Melodie. “Woher kenne ich dieses Lied, woher kenne ich diesen Mann?”, fragt Zúñiga mit plötzli­cher Beunruhigung. Er kann sich nicht erinnern. Die Am­nesie hat sich seiner be­mächtigt.

“Amnesia”
Chile, 1994, 90 Minuten
Regie: Gonzalo Justiniano

“Bei Gedächtnisschwund gibt es keine Versöhnung”

Lateinamerika Nachrichten: Warum hast Du in Deinem Film ‘Amnesia’ auf einen direkten Bezug zu Chile und der dortigen Militärdiktatur verzichtet?
Gonzalo Justiniano: Um das Thema des Films in aller Tiefe zu behan­deln, muß man es als etwas darstellen, was allen Menschen passieren kann, überall auf die­sem Planeten. Über die Besonderheiten der chi­lenischen Vergangenheit hinaus gibt es ein universales Phänomen, nämlich daß der Mensch von Zeit zu Zeit den Fehler begeht, sich sel­ber bzw. seinen Bruder zu zerstören. Ich bin also davon ausgegangen, daß die Thematik mehr Ge­wicht bekommt, wenn die belegten Details und eine geschichtsgetreue, realistische Behandlung des Themas in den Hinter­grund treten.
Andererseits ist “Amnesia” auch ein sehr chilenischer Film, die Landschaften, die Städtebilder, die Namen lassen un­schwer auf Chile schließen.
Natürlich geht es um ein Thema, das erkennbar im Zusammenhang mit Chile steht. Das ist ganz offensichtlich. Wenn Du aber einen Film machst, der nicht nur starke chilenische Elemente und Bezüge auf die Geschichte des Landes enthält, sondern sich eindeutig nur auf Chile be­zieht, geht dabei der Aspekt verloren, daß sol­che Dinge auch woanders geschehen. So etwas hat es in Europa ge­geben, in den Län­dern des Ostblocks. Auch in Frankreich nach dem Al­gerien-Krieg, nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa, in Spanien. Ich wollte es nicht überbetonen, daß der Film in Chile spielt.
Welche Bedeutung hat für Dich die Tat­sache, daß der Film gerade jetzt zum er­sten Mal in Deutschland gezeigt wird, 50 Jahre nach dem Ende des Faschismus und der Befreiung der Nazi-Konzentrati­onslager?
Das ist sehr beeindruckend. Bevor die­ser Film gezeigt wurde, habe ich heute ei­nen Bericht über die Bombardierung von Dres­den gesehen, die man als Ra­cheakt an­sehen muß. Ich bin da sehr neu­gierig und habe versucht, etwas darüber zu lesen, wie es hier gewesen ist. Durch meinen Film habe ich gemerkt, daß nicht alles die Schuld eines Ver­rückten ist. Die gesamte Ge­sellschaft ist dafür verant­wortlich. Und dabei gibt es bestimmte Gruppen, die die falschen Führer ansta­cheln, bis diese schließlich glauben, sie hätten die un­geteilte Unterstüt­zung der Bevölkerung und könnten aufgrund dieser Macht­befugnisse über das Leben der an­deren Menschen bestimmen. Der Prozeß hier in Deutschland ist ziemlich kompli­ziert, denn es gibt eine neue Welle des Ras­sismus mit seinen traurigen Auswüch­sen in den letzten Jahren. Ich weiß nicht, inwieweit die Verantwortung hier richtig über­nom­men worden ist.
Und wie ist das mit der Verantwortung in der chilenischen Ge­schichte?
Ich habe eine totale Abneigung gegen das ganze militärische System, das ist ein großer Irrweg. Wenn der Mensch aufhört, primitiv zu sein, werden die Armeen ab­geschafft. Wenn wir die Geschichte Chiles betrachten, ist dieser faschistische Wahn­sinn, der aus einer be­stimmten Ecke des Heeres kommt, nicht allgemein gültig. Das Heer ge­hört nicht allein diesen Leu­ten, es gab dort auch andere. Dabei muß man an Carlos Prats erinnern, den ehema­li­gen Oberbefehlshaber des Heeres, der von seinen eigenen Leuten ermordet wur­de. General Schneider wurde ebenfalls er­mordet. Das waren loyale Militärs. Ein Teil der Armee hat sich jetzt die patrioti­schen Werte zu eigen ge­macht und bildet sich ein, den wahren Patriotismus zu ver­tre­ten, nur weil sie diesen Krieg des Bru­dermordes angezettelt haben. Das muß klar gesagt werden.
Der Film ‘Amnesia’ spricht von Schul­digen und von Opfern, es klingen aber auch Zwischentöne an. Welche Rolle spielt Ramírez, war er Opfer, oder war er ein Mitläufer?
Ich war sehr beeindruckt von einigen Fäl­len, wo junge Wehrpflichtige vor die Wahl gestellt wurden, zu töten oder selbst getötet zu werden. Viele wur­den des Ver­rats angeklagt oder verschwanden, weil sie sich ge­weigert hatten, andere Men­schen umzubringen. In diesem Sinne ist Ra­mírez natürlich Opfer. Ich habe mich oft gefragt, was passieren würde, wenn ich selber in einer solchen Situation wäre, schließlich gibt es bei uns Wehrpflicht. Wenn ich gezwungen wäre, einen anderen Men­schen umzubringen. Ich glaube, ich hät­te es nicht getan.
Der Soldat Ramírez spürte allerdings auch eine gewisse Bewunderung für Sergeant Zúñiga …
Natürlich, da mischen sich viele Ge­füh­le, gerade dieses Wechsel­spiel hat mich in­teressiert. Wir sprechen von sehr all­gemeinen The­men, ich wollte haupt­sächlich einen Film machen, der auf zwei Per­so­nen aufgebaut ist, die für konkrete Erfahrungen stehen. Es muß viele Zúñigas ge­ben. Er hatte keine Ahnung, was in Chi­le und in der Welt passierte. Von ei­nem Tag auf den anderen fühlte er sich als Held und hatte die Vorstellung, die Erde zu säubern. Viele Militärs haben so ge­sprochen. Aber ich glaube, auch diese Leu­te sind auf die eine oder andere Art Op­fer. Denn ich kann mir nicht vorstellen, daß so jemand ruhig schlafen kann. Viele dieser Leute haben sich umgebracht oder sind verrückt geworden. Im Grunde ge­nom­men wissen sie sehr wohl, daß sie sich falsch verhalten haben.
Im Film spricht Zúñiga vom kontrol­lierten Gedächtnisschwund. Ist das ein sehr verbreitetes Phänomen in Chile?
Das ist ein ironisches Spiel, es ist wie die Ironie des Lebens. Alle wissen, daß ein bestimmter Politiker, der im Fernsehen auftritt, soundsoviele Leute auf die Straße gesetzt hat und eine sehr bedeu­tende poli­tische Stellung innehatte, während im Land gemordet wurde. Jetzt ist keine Rede mehr davon, jetzt ist er ein Demokrat! Das kann ja wohl nicht sein. Das menschliche We­sen ist in dieser Beziehung sehr merk­würdig, denn der Mensch legt bei vielen Themen einen Mantel des Vergessens über sich. Wenn wir uns andauernd selber hin­terfragen und nicht ständig betäuben oder alles verdrängen würden, wäre das Le­ben unerträglich und schrecklich. In die­sem Sinn handelt es sich in Chile um ei­nen kollektiven Prozeß, einen falschen Ge­dächtnisschwund.
Wo liegt das Problem dabei?
Dahinter stehen die Leute, die am mei­sten Interesse daran haben, einfach umzu­blättern und nie mehr zurückzuschauen. Wer in Chile durch die Straßen geht, fragt sich unwillkürlich, wieso die Menschen al­le so nett sind, wieso sie sich so freund­lich verhalten. Wie kann das möglich sein? Das war ein bißchen der Ursprung des Films, alle die Leute zu sehen, die sich herzlich begrüßen und unterhalten. Und hin­terher merkst Du, was die alles auf dem Kerbholz haben … Ich wollte diese Leute in meinem Film darstellen.
Gibt es eine Beziehung zwischen kol­lektivem Gedächtnisschwund und der Am­nestie?
‘Nicht Vergessen’ ist der Leitspruch. Amnestie vielleicht. Das ist der Leitspruch in Südafrika, wo viele für eine Amnestie sind, aber nicht für das Vergessen.
Aber diese Diskussionen gibt es in La­teinamerika auch!
Natürlich, das ist ein sehr kompliziertes Thema, besonders weil Pi­nochet nie ge­schlagen wurde. Er wurde in Wahlen be­siegt, er hat aber noch einen großen Teil der Macht. Und die Regierung hat Angst vor ihm, auch wenn sie es nicht zugibt, große Angst. Bei allem, was sie tun, blik­ken sie zur Seite, um zu sehen, ob der Herr womöglich böse wird. Es sei daran er­innert, daß es unter der Aylwin-Regie­rung zwei­mal Aufruhr gab: Einmal, weil Pi­nochet wegen Unregelmäßigkeiten beim Ausstellen von Schecks überprüft werden sollte, und beim anderen Mal ging es um Menschen­rechtsverstöße. Beide Male hat das Heer reagiert. Darum ist bei uns alles et­was merkwürdig. Es gibt Äußerungen, die einen wirklich sprachlos machen, so wie die des Senatspräsidenten in Chile: ‘Der Preis für die Demokratie ist das Ver­gessen.’ Damit bin ich nicht einverstan­den.
Funktioniert das denn überhaupt?
Angeblich will sich niemand erinnern. Es ist aber erstaunlich, daß Fernsehsen­dungen über die Zeit der Diktatur hervor­ragende Ein­schaltquoten erzielen. Das heißt, daß alle das sehen wollen. Wovor man aber Angst hat, ist eine ernsthafte und verantwortungsbe­wußte Auseinanderset­zung über die jüngere Vergangenheit und über die Frage der Verantwortung. Dann heißt es immer – ähnlich wie bei den Per­sonen im Film – das sei ein uner­freuliches Thema, es müßten positive Dinge gezeigt werden.
Hast Du den Film deswegen gerade jetzt gedreht?
Ich habe das Gefühl, in einer sehr heuchlerischen, verlogenen Ge­sellschaft zu leben. Wir sollen uns selbst betrügen. Wie gesagt, wenn man heute durch San­tiago geht, mit all den sympathischen, net­ten Leuten, kann man gar nicht glauben, daß so etwas geschehen ist. Dabei sind schlimme Dinge passiert. Ich bin der Mei­nung, wenn es keine richtige Aufarbeitung gibt und die wichtigsten Themen in Bezug auf die Vergangenheit nicht auf das Tapet gebracht werden, werden wir keine solide De­mokratie aufbauen, sondern nur eine Scheindemo­kratie, eine heuchlerische De­mo­kratie. Man muß erst richtig reinema­chen und die ganze Fäulnis besei­tigen, be­vor man ruhig in einem Haus wohnen kann.
Wie wurde der Film in Chile aufge­nom­men?
Im allgemeinen ziemlich gut, offen­sichtlich wurde jegliche Polemik darüber vermieden. Alle beglückwünschten mich ganz allgemein, aber niemand wollte über das Thema polemisieren. Das heißt, sehr wenige. Alle sprachen von der guten Mu­sik, von der hervorragenden Darstel­lung, von dem genialen Julio Jung (Darsteller des Soldaten Ramírez, Anm. der Red.). Aber das eigentliche Thema wurde nicht eingehend be­handelt, man ging eher dar­über hinweg.
Welche Rolle können die Filmemacher bei der Aufarbeitung der Vergan­genheit spielen?
Eins verstehe ich nicht: Mir wird immer gesagt, schon wieder diese Themen. Zeig’ mir einen einzigen Film, in dem es um dieses Thema geht! Alle denken, es hätte zwanzig Filme darüber gegeben. Es gibt nicht einen einzigen, nun gut, bis auf ‘Náufragos’ (‘Schiffbrüchige’) von Miguel Littin, der auch dieses Thema behandelt hat. Das verstehe ich überhaupt nicht, und oft wird mir das Gefühl vermittelt, ich müßte mich schuldig fühlen, weil ich die­ses Thema verfilmt habe. In Chile zu le­ben, ist etwas ganz Besonderes, es ist ein Land mit einem ganz besonderen politi­schen Übergang, mit dem Diktator ne­benan, der alles kontrolliert. Eigentlich sollte die Armee im Dienste des chileni­schen Volkes stehen, und nicht das Volk im Dienste der Armee. Das ist heutzutage ein bißchen durcheinander gekommen.
Soll der Film ein Beitrag zum Rückzug der Armee sein?
Eher ein Beitrag, zur eigenen Würde zurückzufinden, damit die Chi­lenInnen nicht weiter mit Füßen getreten werden. Dabei muß man al­lerdings sehr vorsichtig sein, denn natürlich will niemand den al­ten Konflikt wieder aufnehmen, der zu ei­ner Art Bürgerkrieg führen würde. Die Stoßrichtung des Films ist, die Gesell­schaft zu ‘säubern’. Es geht nicht an, daß bestimmte Leute Privilegien genießen
Noch einmal zurück zu Deinem Film: In der Schlußszene verzichten Ra­mírez und Carrasco darauf, sich an dem bru­talen Sergeanten zu rächen. Warum hast Du dieses Ende gewählt?
Es war sehr schwierig, ein Ende für diesen Film zu finden. Es han­delt sich um ein gewichtiges und ernsthaftes Thema. Es taucht die Frage auf, was Du mit diesem Menschen machen würdest. Würdest Du selbst Gerechtigkeit an ihm üben? Wür­dest Du ihn der Justiz überge­ben? Gut, ich glaube, nur ganz wenige würden ihn lau­fen lassen. Das wäre dumm. Aber auch die Rache führt zu nichts. Rache ist aber auch ein natürliches Gefühl der Leute, die darüber frustriert sind, daß sie in einem Land Leben, wo es keine Gerechtigkeit gibt. Die beste und zivilisierteste Form ist die Verfolgung all dieser Fälle durch die Justiz. Ich bin gegen die Rache. Sie zieht eine Spirale der Gewalt nach sich, von der keiner sagen kann, wohin sie uns führt.
Was wäre geschehen, wenn Du einen anderen, einen gewaltsamen Schluß ge­wählt hättest?
Ein US-amerikanischer Film hätte so aufgehört. Mit einer Detaildarstel­lung des zerfetzten Gehirns und einem Blutfleck hinter dem Baum. Viele kritisieren mich, wa­rum hast Du diesen Mörder nicht umge­bracht? Ich denke schon, daß man all den Tätern eine Lektion ertei­len muß. Al­lerdings gibt es genügend Leute, die viel zu clever sind, um mit der traumatisieren­den Erfahrung zufrieden zu sein, erneut ei­nen Menschen umzubringen.
Wäre es denn überhaupt möglich ge­wesen, den Film mit einem Racheakt am Schluß in Chile zu zeigen?
Diesen Film habe ich unter Pinochet als Oberbefehlshaber der Armee gemacht. Sich auf solche Themen einzulassen, birgt weiterhin gewisse Risiken in sich, denn einige Herrschaften fühlen sich über die Ge­setze erhaben und agieren mit dem Ge­fühl, dies ungestraft tun zu können. Ganz persönlich bin aber auch ich mit einem sol­chen Ende nicht einverstanden, mit der Rache, und darum habe ich es so gemacht. Sonst hätte ich gelogen und Effekthasche­rei betrieben. Und darüber hinaus hätte ich mehr Probleme bekommen.
Viele halten das Vergessen für eine unabdingbare Voraussetzung der Ver­söhnung. Was hältst Du von dieser Vor­stellung?
Das ist eine Lüge. Ich prangere ja ge­rade diesen Zustand des Ge­dächt­nis­schwunds an, der uns auferlegt werden soll. Daraus wird nichts Gutes kommen. Versöhnung wird es erst geben, wenn die­jenigen, die Fehler begangen ha­ben, um Verzeihung bitten. Und be­stimmte Herr­schaften haben nie um Ver­zeihung gebe­ten! Mit einem auferlegten Gedächt­nischwund gibt es keine Versöh­nung, es entsteht etwas sehr Brüchiges.
Interview: Bettina Bremme und Jens Holst

Editorial Ausgabe 249 – März 1995

Ein Gast fehlte zur Geburtstagsfeier: Alberto Fujimori, peruanisches Staats­oberhaupt. Am 3. Februar hatten sich die Präsi­denten der Staaten Venezuela, Pa­nama, Kolumbien, Ecuador und Bolivien im ve­nezolanischen Städtchen Cumaná ge­troffen, um des 200. Geburtstags Anto­nio José de Sucres zu gedenken. Sucre war ein Untergebener und enger Ver­trauter Simon Bolívars, des Gran Li­bertador, an dessen Seite er für die Unab­hängigkeit von Spanien und den großen Traum eines vereinten Amerikas kämpfte. Ohne Angabe von Gründen hatte der pe­ruanische Präsident sein Kommen in letzter Minute abgesagt. Da­bei waren die Gründe offensichtlich. Schließlich war nur eine Woche zuvor mit dem Abschuß eines peruanischen Militär­hubschraubers in der Sierra del Condor der Grenzstreit der beiden “Brudervölker” Ecuador und Peru in einen Grenzkrieg umgeschlagen.
Knapp einen Monat zuvor hatten sich die Präsidenten der “Bolívar-Erben” schon einmal in Cumaná, der Geburts­stätte Sucres, getroffen. Es ging um den 1969 ins Leben gerufenen Andenpakt, der wie kaum ein anderer Wirtschaftsverbund der Welt an chronischer Lethargie krankt. Die meisten Planungen wurden wieder ver­worfen oder schlicht nicht umgesetzt. Kaum eine einzige der beschlossenen wirtschaftlichen Kooperationsmaßnahmen wurde in die Tat umgesetzt. Das letzte Treffen hatte 1991 stattgefunden. Danach verabschiedete sich Peru unter Berufung auf interne Schwierigkeiten zunächst ein­mal von den Andenpaktverhandlungen. Jetzt, vier Jahre später, wagt man einen erneuten Anlauf. Doch die Begeisterung hält sich in Grenzen. Kolumbien und Ve­nezuela schielen gen Norden nach Me­xiko, Peru hält sich zurück und Bolivien entdeckt seine Sympathie für den Mer­cosur.
Die Einheit, von der Bolívar und Sucre geträumt hatten, ist damit so weit entfernt wie nie zuvor. Zumal Peru und Ecuador bei genauerem Hinsehen nicht die einzi­gen Staaten der Region sind, in denen unterschwellig alte Gebietsansprüche be­stehen, die früher oder später zu einem ähnlichen Grenzkonflikt eskalieren könn­ten. Bolivien träumt vom erneuten Zugang zum Pazifik, Peru von Wüstengebieten im heutigen Chile, usw. Weit entfernt sind die betroffenen Länder von der Einheit, die Bolívar als Ideal entworfen hatte. Einer Einheit, die auch da­mals mit der Realität wenig gemein hatte. So wurde schon Sucre, den Ecuador als eigenen National­held beansprucht, da er die meiste Zeit seines Lebens in der Hauptstadt Quito verbrachte, von den ei­genen Leuten ver­raten, als er in Peru ge­gen den gemein­samen Feind Spanien kämpfte.
Heute ist die Unabhängigkeit Perus und Ecuadors erneut gefährdet. Die Be­dro­hung kommt aus den Zentralen der Welt­bank und des Internationalen Wäh­rungs­fonds, von wo aus immer neue Struk­tu­ranpassungen zu Lasten der Be­völke­rungsmehrheit verordnet werden. Die Re­gie­rungen verkommen auf diese Weise zu bloßen Ausführungsorganen. Um ihre ei­gene Machtlosigkeit zu kaschieren, set­zen die herrschenden Politiker und Mili­tärs auf Nationalismus und beschwören die in­nere Einheit durch chauvinistische Parolen.
So ging es dem peruanischen Schrift­steller und früherem Präsidentschafts­kandidaten Mario Vargas Llosa an den Kragen, der als einer der wenigen In­tellek­tuellen seines Landes das Blut­vergießen verurteilte: Er wurde als “vater­landsloser Verräter” gebrandmarkt und aus dem na­tionalen Schriftstellerver­band aus­ge­schlossen. Im Säbelgerassel der letzten Wochen wurden vernünftige Stim­men leicht über­hört. So etwa, als Ge­werk­schaftsführer beider Länder den Krieg kri­ti­sierten und darauf hinwiesen, daß Hunger und Elend der eigentliche Feind seien, den es zu be­kämpfen gilt.

“Brudervölker” im Krieg

Die auf den ersten Blick scheinbar so einleuchtende Erklärung für den Krieg, der seit Ende Januar in der Sierra del Condor an der Grenze zwischen beiden Ländern stattfand und mit der Unterzeich­nung einer Friedenserklärung in der brasi­lianischen Hauptstadt Brasilia zunächst ein Ende gefunden zu haben schien, läßt Fragen offen. Viele Indizien weisen dar­auf hin, daß diesmal die ecuatorianische Regierung größeres Interesse an einem bewaffneten Konflikt hatte, als ihr Gegen­über in Lima. Interessen, die weniger mit den umkämpften, abgelegenen, bewalde­ten Bergen, aber viel mehr mit innenpoli­tischen Schwierigkeiten, persönlichen Ambitionen und diplomatischem Kalkül zu tun haben.
Die Kommentare sind sich einig: Dieser Krieg war sinnlos. Seit 1992 war der pe­ruanische Präsident Alberto Fujimori dreimal in der ecuatorianischen Haupt­stadt Quito, um die Freundschaft zwischen den “Brudervölkern” zu beschwören, und die Bevölkerung Quitos jubelte ihm zu. Auch sind beide Länder Mitglieder des Andenpakts und wollen zum beiderseiti­gen Vorteil ihre wirtschaftlichen Bezie­hungen ausbauen. Sollte nun ein Grenz­konflikt das Verhältnis zwischen beiden Ländern vereisen, der seit Jahrzehnten bekannt ist, in dem aber abgesehen von gelegentlichen Scharmützeln längst ein friedlicher Status Quo bestand? Über Jahrzehnte hinweg beharrten beide Seiten auf ihren Auffassungen über den Grenz­verlauf. Aber im Moment stellt sich vor allem die Frage, warum es trotz jahrelan­ger Normalität von Zeit zu Zeit immer wieder zu bewaffneten Auseinanderset­zungen kommt, welche innenpolitischen Gründe jeweils für oder gegen die Insze­nierung eines solchen Konflikts sprechen und wer sich von einem Krieg außenpoli­tischen Nutzen verspricht.
Der Auslöser: ein Fluß zuviel
Der Grenzkonflikt zwischen Peru und Ecuador ist nicht neu. Seit der Existenz beider Staaten sind große Gebiete des Amazonastieflandes und die Grenzregion um das heute peruanische Tumbes an der Pazifikküste zwischen beiden Ländern umstritten. Seit 1942 dreht sich der Streit um das sogenannte Protokoll von Rio de Janeiro. Nach dem letzten Krieg 1941/42 zwischen Peru und Ecuador führten die Friedensverhandlungen zur Unterzeich­nung des damals von beiden Seiten aner­kannten Protokolls, in dem der Grenzver­lauf festgelegt wurde. Brasilien, Argenti­nien, Chile und die USA fungieren seitdem als Garanten des Protokolls, durch das Ecuador den größten Teil seines ama­zonischen Tieflands sowie die Stadt Tum­bes verlor.
Schwierig war die Einigung im Fall des umstrittenen rund 80 Kilometer langen Grenzabschnitts zwischen den Flüssen Rio Santiago und Rio Zamora, einer von Wald bedeckten, weitgehend unerschlossenen Re­gion. Schließlich akzeptierten damals beide Seiten den Schiedsspruch des Bra­silianers Bras Dias de Aguiar, der damit die “natürliche Grenze”, die Wasser­scheide zwischen den beiden Flüssen, zur Staatsgrenze machte. Das Problem be­stand darin, daß es nur im nördlichen Teil des Grenzabschnitts eine echte Wasser­scheide zwischen den beiden Flüssen gibt. Im größeren Teil der umstrittenen Region liegt zwischen dem zweifelsfrei ecuato­rianischen Rio Zamora und dem eindeutig peruanischen Rio Santiago nicht nur eine Bergkette, sondern noch ein weiteres Flußtal: der Rio Cenepa. Ecuador be­trachtete das Protokoll deshalb in dieser Region als undurchführbar, während Peru darauf bestand, daß sich das Tal des Rio Cenepa schon lange vor dem Krieg von 1941/42 eindeutig unter peruanischer Kon­trolle befand und daher die Bergkette zwischen Rio Zamora und Rio Cenepa die Grenze bilde.
Der Status Quo: nicht aufeinander schießen
Für die peruanische Seite war seit dem Protokoll von Rio de Janeiro klar, daß mit Ecuador überhaupt kein Grenzkonflikt be­steht. Der Vertrag sei eindeutig, völker­rechtlich gültig und von den vier Staaten garantiert, so die peruanische Auffassung. Ecuador dagegen rückte schon bald von dem Protokoll ab. Der Vertrag sei unter Druck zustande gekommen und deshalb nichtig, so die ecuatorianische Position seit Jahrzehnten, die Grenzfrage mit Peru sei damit nicht nur in der Sierra del Con­dor, sondern im gesamten Verlauf der Grenze bis nach Kolumbien offen. Es ist kein Zufall, daß auf allen ecuatorianischen Landkarten zum einen an der Sierra del Condor der Vermerk “Zone, in der das Protokoll von Rio de Janeiro undurch­führbar ist” und darüber hinaus das ge­samte nördliche Amazonasgebiet des heu­tigen Peru einschließlich der wichtigsten Stadt Iquitos als ecuatorianisches Territo­rium eingezeichnet ist. Keine Kleinigkeit, geht es doch nicht um 5 Kilometer mehr oder weniger, sondern um eine Fläche von 200.000 Quadratkilometer Regenwald mit Ölvorkommen und Zugang zu den Ama­zonashäfen, von denen aus der Weg über den Fluß durch Brasilien zum Atlantik geht.
Ansprüche sind eine Seite, die realen Machtverhältnisse eine andere, und die militärischen Fakten sprachen immer für Peru. Es war für Ecuador undenkbar, das verlorene Territorium durch einen Krieg zurückzuerobern. Ganz abgesehen davon, daß die Garantenstaaten deutlich machten, daß sie das Protokoll von Rio als gültig und das riesige Regenwaldgebiet somit als peruanisch betrachteten.
In der Sierra del Condor gibt es seit Jahren sowohl ecuatorianische als auch peruanische Grenzposten und Patrouillen. Beide Seiten gehen davon aus, auf ei­genem Territorium zu sein, und beide be­trachten die jeweils gegnerischen Pa­trouillen als Eindringlinge. Die Frage war damit nicht, wer böswilligerweise die Grenze überschreitet, sondern ob man sich entweder aus dem Wege geht oder einen Konflikt inszeniert. Oder anders gesagt: Wer einen Konflikt braucht, kann ihn ha­ben, denn so gut wie ständig befindet sich irgendeine Patrouille der jeweils anderen Seite auf dem vermeintlich eigenem Ter­ritorium. Die “Grenzverletzungen” des Gegners müssen nur dramatisch in der Öf­fentlichkeit als “Bedrohung der nationalen Sicherheit” dargestellt werden, und schon ist der Konflikt da.
Peru: Fujimori kann den Konflikt nicht brauchen
Das Interesse am Konflikt, so die ver­breitete Meinung, hatte aus innenpoliti­schen Gründen diesmal der peruanische Präsident Fujimori. Wahlen stehen kurz bevor, und bekanntermaßen ist die Mobi­lisierung nationaler Gefühle ein probates Mittel, um Popularität zu erlangen. Aber ein Blick auf die innenpolitische Lage in Peru und Ecuador läßt dieses Bild nicht ganz so eindeutig erscheinen.
Fujimori führt die Umfragen vor der Präsidentschaftswahl mit großem Vor­sprung vor seinen Konkurrenten an. Sollte er wirklich glauben, einen Krieg mit Ecuador nötig zu haben, um noch einmal Stimmen zu mobilisieren? Im Gegenteil, ein Krieg muß für ihn eher kontraproduk­tiv sein. Neben der wirtschaftlichen Stabi­lisierung ist es der gerade wiedergewon­nene Frieden, auf dem seine Popularität beruht. Peru im Jahre 1995 ist ein von dreizehn Jahren internen Krieges zwi­schen Staat und Guerilla ausgelaugtes Land, das seit zwei Jahren, mit dem Sieg Fujimoris über die Guerillabewegung Sendero Luminoso, wieder Hoffnung schöpft, eine friedliche Normalität aufzu­bauen. Ob man Alberto Fujimori für den geeigneten Präsidenten dafür hält oder nicht, die peruanische Bevölkerung steht jedenfalls genau deswegen mehrheitlich hinter ihm. Es kann deshalb nicht ver­wundern, daß von nationaler Begeisterung in Peru wenig zu spüren war, der Krieg war extrem unpopulär. Die seit Jahren von Fujimori beschworene Eingliederung in die internationale Staatengemeinschaft – konkret: Kreditwürdigkeit und Attraktivi­tät für Investitionen aus dem Ausland – litt stark unter dem Grenzkonflikt mit Ecua­dor. Investitionen fließen nur spärlich in Krisenregionen und von Krieg belastete Volkswirtschaften. Fujimori arbeitet ziel­gerichtet an seinem Projekt eines kapitali­stisch-modernen, von einem starken Prä­sidenten namens Fujimori regierten Lan­des. In dieser Situation einen Krieg mit Ecuador zu provozieren, hieße, den Erfolg dieses Projektes zu riskieren – und das an­gesichts eines auch ohne Krieg fast siche­ren Wahlsiegs. Fujimori müßte von sei­nem Gespür für die öffentliche Meinung verlassen worden sein, das ihn in den fünf Jahren seiner Amtszeit ausgezeichnet hat. Himzu kommt, daß ein von Fujimori in­szenierter Konflikt ein Wahlgeschenk für seine härtesten Konkurrenten wäre. Ex-UNO-Generalsekretär Javier Perez de Cuéllar verkörpert durch seine politische Vergangenheit geradezu die Option di­plomatischer Konfliktlösung. Fujimori hätte einen peinlich taktischen Fehler be­gangen.
Ecuador: Ein Präsident in Schwie­rigkeiten
Anders dagegen die Situation in Ecua­dor. Präsident Sixto Durán Ballén war in den letzten Monaten alles andere als po­pulär. Wirtschaftliche Probleme und Kor­ruptionsskandale nagen am Image des achtzigjährigen Präsidenten, der im No­vember ’94 sogar schon Gerüchte über seinen Tod dementieren mußte (siehe LN 247). Er hatte im Gegensatz zu Fujimori eine Popularitätsspritze dringend nötig. So sah die öffentliche Darstellung des Kon­fliktes in Ecuador auch völlig anders aus als in Peru. Während die peruanische Re­gierung sich zunächst bemühte, den Grenzkrieg intern zu einem drittrangigen Thema zu machen, fuhr das offizielle Ecuador schwere Geschütze auf. Flam­mende Reden über die nationale Ehre und die Verteidigung der Souveränität schufen ein aufgeheiztes und aggressives Klima, das in keinem Verhältnis zu der in der pe­ruanischen Öffentlichkeit abwartenden Skepsis stand.
Über die innenpolitische Schwäche der gegenwärtigen Regierung hinaus liegt es durchaus im Interesse der ecuatoriani­schen Außenpolitik, das Thema “Grenze zu Peru” am Kochen zu halten. Daß die Gebiete bis hin zum Amazonasufer perua­nisch sind, weiß in Quito jeder realistisch denkende Politiker. Die Geschichte des Krieges von 1941/42 und das Protokoll von Rio sind nicht zurückzudrehen. Aber in der Sierra del Condor läßt sich mit dem Argument der Undurchführbarkeit des Protokolls noch etwas herausholen. Um wichtige wirtschaftliche Interessen dürfte es dort zwar kaum gehen, bewegen sich die Informationen über Rohstoffvorkom­men doch vor allem auf der Ebene von Gerüchten und Spekulationen. Aber der ecuatorianische Präsident, der dem Land ein verloren geglaubtes Territorium zu­rückholt, wird als Held in die Geschichte eingehen. Eine attraktive Perspektive für Präsidenten jeder Couleur. Je bemitlei­denswerter Ecuador in der Rolle des Op­fers erschien, um so größer konnte die Chance sein, bei einem unabhängigen Schlichter Zugeständnisse zu erreichen. Es paßt ins Bild, daß die ecuatorianische Diplomatie nach Ausbruch des Krieges mit bemerkenswerter Inkonsequenz aus­gerechnet bei den vier Garantenstaaten intensiv antichambrierte, obwohl Ecuador das Protokoll insgesamt als ungültig be­trachtet. Dazu kam die dramatische War­nung des ecuatorianischen Präsidenten, es drohe ein Militärputsch, sollte das Land den Krieg verlieren. So unglaubwürdig diese Warnung angesichts der sicheren internationalen Isolierung eines Militärre­gimes auch ist, der Wink war deutlich: Fällt der Ausgang des Konfliktes nicht po­sitiv für Ecuador aus, droht Fürchterliches.
Nur nicht das Gesicht verlieren
Die erste öffentliche Klage darüber, fremde Truppen seien über die Grenze ge­kommen, kam von Ecuador. Dies und die jeweiligen innenpolitischen Verhältnisse in Peru und Ecuador legen die Vermutung nahe, daß das Interesse am Konflikt dies­mal mehr auf ecuatorianischer Seite lag als in Peru. Aber daraus ist kein Mythos von den Intrigen des perfiden Ecuador ge­gen das friedliche Peru abzuleiten. Die letzten Scharmützel genau in diesem Ab­schnitt der Grenze fanden vor drei Jahren im Januar 1992 statt. Damals, in einer Zeit, als Sendero Luminoso in Lima täg­lich bombte, hatte Fujimori durchaus Grund, von innenpolitischen Problemen abzulenken. Das taktische Spiel wird zum gegebenen Zeitpunkt von beiden Seiten betrieben.
Die Eigendynamik der Eskalation eines bewaffneten Konflikts wirkte – auf beiden Seiten. Die peruanische Seite ließ nicht lange darauf warten, ihrerseits das Ein­dringen ecuatorianischer Truppen in pe­ruanisches Gebiet bekannt zu geben. Und schon drehte sich die Spirale gegenseitiger Schuldzuweisungen. Keine Seite wollte das Gesicht verlieren. Besonders pikant war die Lage für Alberto Fujimori. Er steckte in einem Dilemma: Einerseits wollte er aus wahltaktischen Überlegun­gen den Krieg schnellstens beenden. Gleichzeitig mußte er aufpassen, denn so unpopulär der Konflikt in Peru auch war, würden seine Wahlchancen doch darunter leiden, erschiene der Ausgang des Krieges in der Wahrnehmung der peruanischen Öffentlichkeit als peinliche Niederlage. Wie der vorerst bestehende Waffenstill­stand und die Bekundung von Friedensab­sichten jedoch langfristig in eine stabile Lösung verwandelt werden sollen, steht vorerst in den Sternen.

Patriotische Parolen als Allheilmittel?

“Es sei wohl nicht sein Jahr gewesen”, hieß es im Rückblick auf das Jahr 1994 in der Tageszeitung El Comercio über den ecuatorianischen Staatspräsidenten Sixto Durán Ballén. Dieser hatte im vergange­nen Jahr durch Korruptionsaffären in sei­ner unmittelbaren Nähe und durch seine Ohnmacht gegenüber dem Kongreß stark an Ansehen verloren und wegen der so­zialen Konsequenzen seiner Modernisie­rungspolitik die letzten Sympathien im Volk einbüßen müssen. Darüber hinaus brachten die spontanen Alleingänge seines Vizepräsidenten Alberto Dahik die Frage nach der eigentlichen Macht immer wie­der in die Schlagzeilen.
Seit 1992 fährt Ecuador unter Präsident Sixto Durán Ballén als eines der letzten lateinamerikanischen Länder den Kurs ei­ner harten Strukturanpassung, die im ver­gangenen Jahr die ersten Erfolge zeigte: Senkung der Inflation von 70 auf 20 Pro­zent, Stabilisierung des Wechselkurses und eine Rekordhöhe der Währungs­re­ser­ven. Sie wurden aber ange­sichts der Liste der nach langem Hin und Her letztendlich doch nicht privatisierten Betriebe wenig ge­wür­digt. Neben der für 1995 ange­setz­ten Privatisierung der EMETEL, dem Be­reich der Telekommu­nikation, sorgten be­son­ders die geplante Privatisierung des IESS, des Instituts für Sozialversicherung, und der staatlichen Ölgesellschaft Petro­e­cua­dor für einigen Zündstoff.
Der IESS zog von öffentlichen Ange­stellten ein Zwangsbeitrag ein und finan­zierte so gewisse soziale Bereiche wie Krankenhäuser, die auch für die unteren Schichten zugänglich wären. In diesem Sinne ist das IESS wohl die einzige Insti­tution in Ecuador, in der sozial umverteilt wird. Der Staat schuldet dem IESS mehr als 500 Millionen US-Dollar, was dieses Thema zu einem der heikelsten für den 1983 ins Leben gerufenen CONAM, den Nationalen Rat zur Modernisierung des Staates, macht. Die Bevölkerung fürchtet, die Schulden könnten bei der Privatisie­rung “verloren” gehen, und fühlt sich um ihre Beiträge betrogen, so daß es auch bei Erwähnung dieses Themas zu Demonstra­tionen und Ankündigungen von Streiks kam.
Streiks gegen Streikverbot
Streiks der Lehrer, der Gewerkschaften, im Gesundheitswesen, der Telekom, der Justiz – die Liste der im vergangenen Jahr durchgeführten Streiks nimmt kein Ende. Streiks in allen Bereichen sind in Ecuador ein probates Mittel, seinen Unmut kund­zutun, gibt es doch sonst kaum Instru­mente der Opposition. Im Januar letzten Jahres zum Beispiel verbarrikadierten ver­schiedene Indígena-Organisationen als Reaktion auf das zum Jahresbeginn verab­schiedete “Agrarentwicklungsgesetz” zehn Tage lang sämtliche Hauptverkehrskno­tenpunkte des Landes und legten den ge­samten Verkehr lahm. Die Regierung ver­tritt die Ansicht, die ständigen Streiks seien ein Hauptgrund der schleppend ver­laufenden Modernisierung.
Vorgesehen ist ein Gesetz zur Eindäm­mung von Streiks, die “einen Großteil der Bevölkerung betreffen”; ausgeführt durch das Militär. Die Bevölkerung sieht ihr letztes Instrument des Protestes auf der Abschußliste und ihr Recht auf Mei­nungsäußerung vom Militär bedroht. Die Reaktion hätte kaum deutlicher sein kön­nen: Mitte Januar kündigte sich in Quito eine ganze Welle von Streiks an.
Sixto scheitert im Kongreß
Die versprochenen Verfassungsände­rungen, zu denen Ende August eine sehr umstrittene Volksbefragung stattgefunden hatte, scheiterten am Widerstand des Kongresses. Am 10. Januar lief ein 100-Tage-Ultimatum ab, das Durán Ballén selbst gesetzt hatte. In dieser Zeit wollte er seine 113 Gesetzentwürfe im Kongreß verabschieden, die er aufgrund eines er­stellten Meinungsbildes vorgestellt hatte. Eine weitere Volksumfrage ist nun für den 21. Mai angesetzt. Doch die Begeiste­rung hält sich in Grenzen, “das würde nur noch mehr Zeit und Geld kosten, und man habe doch wahrhaftig besseres zu tun.”
Neben Fragen zu den Blöcken Elektri­zität, dem Energiesektor und der Tele­kommunikation soll es vor allem um die Neustrukturierung des IESS und die Ver­änderung bestehender Gewerkschafts­strukturen gehen.
Moralunterricht statt soziale Ver­besserungen
Parallel zur Ankündigung einer neuen Volksbefragung und damit einer neuen moralischen Niederlage des Präsidenten vor dem Kongreß, sorgte ein Gesetzent­wurf, der Religionsunterricht als Pflicht­fach in den Schulen vorsieht, für große Aufregung unter den SchülerInnen und StudentInnen und entfachte eine grund­sätzliche Diskussion über das Bildungssy­stem in Ecuador. Erziehungsministerin Rosalía Arteaga mußte wie auch ihr Amtsvorgänger ihre Sachen packen, nachdem sie das von der katholischen Kirche initiierte Gesetz öffentlich verur­teilt hatte. Das sogenannte “Ley religiosa” erwies sich insofern als hochbrisant, als es die seit langem schwelende Unzufrieden­heit mit bestehenden Bildungseinrichtun­gen mit einem Schlag explodieren ließ. Der Gesetzentwurf sieht zwei Pflichtstun­den “Religion und Moral” pro Woche an allen Schulen vor, mit speziell dazu aus­gebildeten “MorallehrerInnen”. Es wird geschätzt, daß zwischen 5000 und 6800 neue LehrerInnen ausgebildet und einge­stellt werden müßten, um diesem An­spruch zu genügen.
In Ecuador gibt es rund vierhundert re­ligiöse Gruppierungen neben dem Katho­lizismus, so daß der Gesetzentwurf auch scharfen Attacken wegen Diskriminierung und indirektem Rassismus ausgesetzt war.
Die kirchlichen Schulen und Universi­täten besitzen in der Regel eine ganze Menge Geld, dazu kommen Schenkungen und nicht zuletzt die hohen Gebühren ihrer SchülerInnen und StudentInnen. So lassen die Padres der Katholischen Universität in Quito ein schickes Hochhaus nach dem anderen zur Erweiterung bereits bestehender Fakultä­ten bauen, während an der staatlichen Universität die Gebäude verkommen und es an den nötigsten Lehrmitteln fehlt.
Höhere Preise für den öffentlichen Transport
Anfang Januar diesen Jahres wurden dann die Preise für die Benutzung von öf­fentlichen Verkehrsmitteln von 150 auf 200 Sucres (etwa 7 Pf) heraufgesetzt. Das mag auf den ersten Blick nicht besonders viel erscheinen, war aber die dritte Erhö­hung der Fahrpreise innerhalb von drei Jahren von ursprünglich 50 Sucres, also um insgesamt 300 Prozent. Die schritt­weise Erhöhung – jedesmal angekündigt als die letzte – wechselte sich mit der ge­staffelten Erhöhung der Benzinpreise ab, die allein im letzten Jahr um 75 Prozent anstiegen. Ebenfalls bereits die dritte “letzte” Steigerung. Beides wirkt sich un­mittelbar auf die allgemeinen Lebenshal­tungskosten aus.
Heftige StudentInnenunruhen und ein Toter
So kam es dann in der zweiten Januar­woche während einiger Demonstrationen zu heftigen Ausschreitungen zwischen StudentInnen und der Polizei. Am fünften Tag aufeinanderfolgender Straßen­schlach­ten wurden mehrere StudentInnen wie auch Polizisten schwer verletzt. Der 16jährige Juan Carlos Luna Carillo erlag im Krankenhaus seinen Verletzungen. Nach einem Wochenende der scheinbaren Ruhe ging es in der darauffolgenden Wo­che umso erbitterter weiter. Juan Carlos wurde feierlich beerdigt. Seine Mutter fordert, die Verantwortlichen zur Rechen­schaft zu ziehen, und der Abgeordnete Iván Rodríguez des Movimiento Popular Democrático versprach eine genaue Un­tersuchung der Vorfälle, worauf innerhalb der Polizei das im vergangenen Jahr viel­fach praktizierte Spiel der gegenseitigen Schuldzuweisungen von vorne losging.
Die StudentInnen streikten in einigen Teilen des Landes gemeinsam mit den Gewerkschaften, Indígenas und andere Campesinos in seltener Eintracht, vereint durch den gemeinsamen Protest gegen die Privatisierungsprogramme und somit ge­gen die Regierung. Als dann auch noch die staatliche Ölgesellschaft Petroecuador einen Generalstreik für den 26. Januar an­kündigte, um gegen das Vorhaben des neuen Energieministers Galo Abril an­zugehen, auch die erst vor wenigen Jahren verstaatlichte Petroecuador für private In­vestoren zu öffnen, drohte Ecuador der totale Kollaps.
Hinzu kommen immer neue Schrek­kensmeldungen aus der Küstenprovinz Guayas über Cholera-Erkrankungen und erste Tote, man befürchtet eine Epidemie. Auch in den Provinzen Manabí und Esme­raldas werden Erkrankungen gemeldet. Als ob es nicht schon genug wäre, wurden die Dörfer Calderón und Carapungo nörd­lich von Quito – im Gebiet des heftig dis­kutierten neuen Flughafens – am 13. Ja­nuar von einem mittleren Erdbeben heim­gesucht.
Wenn 1994 kein gutes Jahr gewesen sein soll, so läßt sich 1995 um seine Kata­strophen jedenfalls nicht lange bitten.
Wirtschaftliche Rolle des Militärs
Die Modernisierungsansätze des Präsi­denten – insbesondere die Pläne zur Ver­staatlichung der Ölgesellschaft Petroecua­dor – beobachtet das Militär mit größtem Mißtrauen. Bei Ölförderungen in den an ausländische Investoren vergebenen Ab­schnitten im Oriente erhalten die Militärs rund 30 Prozent der Gewinne. Sie stellen einen beträchtlichen Teil der Wirtschaft, unter anderem sind eine Fluggesellschaft und eine Bank in ihrem Besitz, sowie die Schürfungsrechte in dem von ihnen kon­trollierten ecuatorianischen Oriente. Die starke militärische Präsenz im gesamten ecuatorianischen Amazonastiefland wird offiziell durch die ungeklärte Grenzsitua­tion zum Nachbarn Peru gerechtfertigt. Die Militärs haben außerdem das Mono­pol zur Veröffentlichung von Landkarten und sind so Urheber des Festhaltens am Amazonaszugang – nicht zuletzt deshalb haben ecuatorianische Schulkinder eine ganz andere Silhouette ihres Landes im Kopf als die, die der internationalen Re­alität entspricht.
Verlagerung der innenpolitischen Spannungen an die Grenze
Bereits am 7. Januar schwirrten Ge­rüchte von Zusammenstößen an der ecuatorianisch-peruanischen Grenze durch die Presse, die Verteidigungsminister José Gallardo dementierte. Die erfolgten Trup­penbewegungen seien reine Übungen. Eine Woche später folgten dann die ersten Darstellungen der Zwischenfälle, die offi­zielle Version berichtete von einer vier­köpfigen peruanischen Patrouille, die am 9. Januar in – unbestritten – ecuatoriani­schem Territorium, nämlich im oberen Verlauf des Río Cenépa nördlich von Cueva de los Tayos, überrascht wurde. Sie wurde gefangengenommen und gemäß den zwischen Ecuador und Peru bestehen­den Vereinbarungen am nächsten Tag zu ihrem Bataillon zurückgebracht. Am Mittwoch sei erneut eine Gruppe von diesmal 11 peruanischen Soldaten in ihr Territorium eingedrungen, so der Vertei­digungsminister José Gallardo, wobei es zu ersten Toten kam.
In der Tat geht es in diesem nunmehr fast 150 Jahre andauernden Konflikt schon lange nicht mehr darum, den bis auf gelegentliche Scharmützel ansonsten friedlichen Status Quo in Frage zu stellen. Viel eher, ob es politisch opportun ist, einen Zwischenfall als “Bedrohung der nationalen Sicherheit” hochzuspielen.
Wäre dieser Konflikt vom ecuatoriani­schen Präsidenten Sixto Durán Ballén di­rekt oder indirekt inszeniert worden, so hätte dieser gut daran getan, schon auf die ersten Gerüchte und den ersten Zwischen­fall hin die Sache zur obersten Priorität zu machen. Statt dessen hielt er sich bedeckt, erst am 26. Januar, nach dem Abschuß eines peruanischen Helikopters, wird der nationale Notstand erklärt.
Das Protokoll von Rio: ein ecuato­ri­anisches Trauma
Ob Zufall oder nicht, der 26. Januar war der 53. Jahrestag der Unterzeichnung des Protokolls von Rio de Janeiro, ein trau­matischer Augenblick für das ecuatoriani­sche Nationalbewußtsein. In Geschichts­büchern unter der Bezeichnung “Das ter­ritoriale Desaster” aufgeführt, ist es ein Thema, das bis heute Bitterkeit und Fru­stration auslöst. Der Vertrag sei unter Druck zustande gekommen und somit un­gültig. Man fühlt sich ungerecht behandelt nicht nur vom “Bruderstaat Peru”, der mit Salamitaktik immer noch ein weite­ren Scheibchen vom ecuatorianischen Ge­biet abgeschnitten hat, sondern auch von den vier Garantiestaaten und der Weltöf­fentlichkeit insgesamt, die das 1942 unter­zeichnete Protokoll als rechtskräftig aner­kennt. Ecuador, der “Zwerg” unter den Andenstaaten, fühlte sich schon immer als “Verteilmasse” zwischen den beiden großen Nachbarn Peru und Kolumbien. Diese hatten im vergangenen Jahrhundert mehrere geheime Zusatzprotokolle über eine mögliche Aufteilung Ecuadors unter­einander abgeschlossen, so zumindest die offizielle ecuatorianische Geschichts­schreibung.
Die von Ecuador veröffentlichten Landkarten zeigen die 1942 an Peru verlo­renen Gebiete bis an den Amazonas. Der im Protokoll von Rio de Janeiro festge­legte Grenzverlauf ist zwar eindeutig markiert, bis auf die 80 km, um die es in den derzeitigen Auseinandersetzungen geht. Die eingezeichnete internationale Grenze verläuft aber jenseits des umstrit­tenen Gebiets. Besonders erbost ist man in Ecuador, daß Peru den in Artikel VI des Protokolls garantierten Zugang zum Amazonas die konkrete Ausführung ver­wehrt. “Ecuador ist, war und wird ein Amazonas-Staat sein”, heißt es auf vielen Schulheften direkt unter der ambivalent interpretierbaren Karte. Aus der Entdek­kung des Amazonas 1542 durch Kapitän Francisco de Orellana leitet die ecuato­rianische Geschichtsschreibung einen zu­sätzlichen Anspruch auf den Amazonas­zugang ab: “Den Titel des ersten Entdek­kers des Amazonas konnte Ecuador bis heute niemand streitig machen.”
Ecuador distanzierte sich 1960 von dem Vertrag, seither bestand ein mehr oder weniger friedlicher Status Quo. Daß die­ses Thema jedoch nichts an seiner Aktua­lität verloren hat, war bereits vor Aus­bruch des Krieges mit Peru deutlich. Der 1988-92 amtierende sozialdemokratische Präsident Rodrígo Borja setzte den Grenzkonflikt wieder ganz oben auf die Tagesordnung. Man wolle endlich eine dauerhafte und friedliche Lösung, signali­sierte er nach Lima. Fujimori kam dreimal nach Quito, um dieses heikle Thema an­zugehen. Aber der geplante Gegenbesuch Durán Balléns in Lima löste eine so kon­troverse Diskussion im Kongreß und in der Öffentlichkeit aus, daß der Besuch zweimal verschoben wurde und schließ­lich ganz vom Tisch war. Besonders sei­tens des Militärs und allen voran bei Ver­teidigungsminister José Gallardo herrschte die Meinung vor, Sixto würde durch einen Gegenbesuch in Lima bereits klein beigeben.
Rückendeckung für Durán Ballén
In dem Konflikt mit Peru war für Ecua­dors Präsidenten nicht vorauszusehen, daß er die Bevölkerung, die in allen Teilen des Landes zum Streik gegen ihn rüstete, und den Kongreß, der ihn mit Ablaufen des Ultimatums zur Ver­fassungsänderung gerade erneut auflaufen lassen hatte, auf seiner Seite haben würde. Und: Sixto ist alles andere als ein Drauf­gänger. Das von der Opposition gezeich­nete Bild eines gutmütigen Greises, der nicht mit­be­kommt, was um ihn herum vorgeht, hat sich schon mehrmals bestä­tigt. Sixto hat im übrigen seine erneute Kandidatur für die 1996 anstehenden Wahlen bereits dementiert, über eine Wiederwahl macht sich der 80jährige keinerlei Illusionen. Bei diesem so bri­santen Thema des Grenz­konflikts in der Öffentlichkeit als Ver­lierer zu erscheinen, sei es auch nur durch zu schnelles Einlen­ken, wäre politischer Selbstmord gewesen. Den Zu­spruch an­de­rer Staaten zu bekom­men scheint genauso un­wahrscheinlich wie dem bis an die Zähne bewaffneten Peru auch nur einen Quadratmeter Land zu entreißen. Außer­dem hätte es wahrhaf­tig bessere Zeit­punkte gegeben, den bis vor kurzer Zeit von einem internen Krieg aus­gelaugten Nach­barn anzugreifen.
Viel eher erschien Sixto Durán Ballén bemüht, den Konflikt mit dem Nachbarn so schnell wie möglich beizule­gen, ohne jedoch das Gesicht zu verlieren.
Das Militär in neuem Glanz
Anders hingegen das Militär, das seine Position behauptet und seine Daseinsbe­rechtigung erneuert hat. Das Feindbild Peru erstrahlte in neuem Glanz. Ecuador sah sich eindeutig in der Rolle des un­schuldigen Opfers innenpolitischer Span­nungen in Peru, nämlich der anstehenden Wahlen und Fujimoris eigenen “Grenz­strei­tigkeiten” mit Ex-Frau Susana. Fah­nen wurden geschwenkt, Bilder von Mäd­chen in knappen Röckchen, die den Soldaten an der Front zujubelten. Gegen­stimmen hatten in diesem Aufschrei des Patriotismus keine Chance. Eine kurzfri­stig angesetzte zusätzliche Kriegssteuer wurde sofort verabschiedet und so der im Haushaltsentwurf angesetzte Etat für das Militär entscheidend aufgebessert.
Mit der am 17. Februar in der brasilia­nischen Hauptstadt Brasilia unterzeichne­ten beiderseitigen Friedenserklärung schie­nen die konkreten Auseinanderset­zungen vorerst ein Ende zu haben. Jedoch bereits nach wenigen Tagen flammten die Feindseligkeiten und gegenseitigen Be­schuldigungen wieder auf, nachdem der Generalstab die vom ecuatorianischen Unterhändler unterzeichnete Waffenstill­standserklärung kurzerhand ablehnte. Die vier Vermittlerstaaten Argentinien, Brasi­lien, Chile und die USA, unter deren Mit­wirkung auch das 1942 unterzeichnete Protokoll zustande kam, stoppten vorerst die geplante Beobachtertruppe, die die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone in dem fraglichen Grenzabschnitt erwir­ken sollte. Die Organisation Amerikani­scher Staaten OAS erwägt inzwischen wirtschaftliche Sanktionen gegen die kriegsführenden Parteien, die Situation er­zeugt zunehmend Nervosität unter den anderen Staaten des Kontinents.

Programm der Superreichen

Die herausragende Tatsache der post-kommunistischen Welt ist die wa­chsende Konkurrenz zwischen USA, Japan und Deutschland um die Vor­herrschaft auf den Weltmärkten. Jede wirtschaftliche Super­macht hat sich Herrschaftsgebiete ge­schaffen, von denen aus die Wettbewerber aus dem Feld geschlagen werden sollen. Die USA haben während der letzten zwei Jahr­zehnte ihre Wettbewerbsvorteile in vie­len Produktgebieten verloren, zum Bei­spiel im Automobil- und Elektro­nik­be­reich. Hieraus ergab sich für die USA ein riesiges Handelsdefizit sowohl mit Japan (und anderen asiatischen Ländern) als auch in einem geringerem Ausmaß mit Deu­tsch­land.
Der Rückzug der US-Truppen aus Eu­ropa und Japan bewirkt, daß die NATO und andere militärische Bünd­nisse den US-amerikanischen Politi­kern nicht länger als “wirt­schaftspolitischer” Hebel dient. Dro­hende Handelskriege sind scharfe Schwerter, die sowohl US-ameri­kanische Exporteure und Impor­teure als auch die US-KosumentInnen ins­besondere der nie­drigen Einkom­mens­schichten treffen kön­nen. Der kon­genialste und am besten mit histo­rischen US-Strategien (Monroe-Dok­trin, Panamerikanische Union, Allianz für den Fortschritt) zu vereinbarende Weg ist eine regionale Blockstrategie. Inner­halb dieses Blocks könnte die USA als hegemoniale Kraft Handels-, Investitions-, Zins- und Patentein­künfte aus Lateiname­rika herausziehen. Von diesem Stand­punkt aus gesehen, sind Lateinamerika und Kanada strate­gische Quellen für die Akkumulation und den Gewinntransfer, für Zins- und Patenteinkünfte, um die ne­gativen Trans­fers hinsichtlich anderer Regi­onen zu kompensieren. Die Handels­bilanz­überschüsse mit den latein­amerikani­schen Ländern dienen zur Kompensa­tion der negativen Handels­bilanzen bezüglich Asiens und Westeuro­pas. Die kostengünstige Pro­duk­tion in La­teinamerika (Billiglöhne in Mexiko und der Karibik) erlaubt es US-amerikani­schen ProduzentInnen in Übersee und auf dem heimischen Markt, mit den weltweiten Wettbe­werbern zu konkur­rieren.
In diesem Zusammenhang war die Li­beralisierung in Lateinamerika not­wendig, um dem US-amerikanischen Kapital Zu­gang zu Märkten und Ein­künften zu lie­fern und somit wettbe­werbsfähig zu blei­ben. In diesem Sinne ist die Liberalisie­rung eng mit den glo­balen strategischen Interessen der USA verbunden. Diese Po­litik wird von den USA seit den frühen siebziger Jahren konsistent und konti­nentweit betrieben. Liberalisierung wurde mittels IWF und Weltbank durch US-ame­rikanische Of­fizielle verfolgt: Lateiname­rikanische Diktatoren, die die Liberalisie­rung för­derten, wurden finanziert und unter­stützt, ein Übergang zu demokrati­schen Systemen wurde von Washington unter der Bedingung gefördert, daß die neuen demokratischen Systeme die Li­beralisierung vertieften. Liberalisierung ist Teil und Grundbaustein der US-amerika­nischen globalen Politikstrate­gie: Inso­weit, als Liberalisierung funk­tioniert hat, hat sie vorrangig zum Nutzen der US-amerikanischen Trans­nationalen Konzerne (TNC) und Ban­ken funktioniert, aber noch wichtiger war sie für die US-amerikani­sche Wirtschaft als Ganzes. Liberalisierte lateinamerikanische Volkswirtschaften liefern den USA strategischen Nutzen, um ihre Bilanzen auszugleichen.
Patent- und Lizenzeinkünfte
Der Kampf der USA um die Be­rück­sichtigung von Bestimmungen zum “geistigen Eigentum” innerhalb der Ver­handlungen zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) ba­siert auf der Tatsache, daß die Ein­künfte aus Pa­tenten und Lizenzen immer wichtiger in der Zahlungsbilanz der USA wurden. Zwischen 1972 und dem ersten Vierteljahr von 1994 belie­fen die Einkünfte sich auf insgesamt 1,06 Milliarden US-Dollar. Von den sechziger bis zu den neunziger Jahren wuchsen sie förmlich in den Himmel: Be­trug der jährliche Durchschnitt in der Dekade 1962/71 2,6 Millionen US-Dollar, stieg der Jahresdurch­schnitt in der Periode 1972/81 auf 24,2 Millionen US-Dollar und in der Dekade 1982/91 auf 39,5 Mil­lionen US-Dollar. 1992/93 betrug der Jahres­durchschnitt 189,8 Millionen US-Dol­lar. Patent- und Lizenzgebühren sind eine Art Renteneinkommmen, das nicht auf produktiven Investitionen beruht. Pa­tent- und Lizenzeinkünfte ziehen Ein­kom­men ab, ohne daß Wertschöpfung statt­findet.
Die wachsende Bedeutung der “Renteneinkünfte” für die Bilanzen der USA ist offensichtlich, wenn wir die US-amerikanischen Erträge aus Inve­stitionen mit denen aus Patenten und Lizenzen ver­gleichen. Zwischen 1961 und 1971 betru­gen die gesamten Pa­tent- und Lizenzein­künfte ein Drittel des Gesamtgewinns aus Direktinvesti­tionen (26 zu 76 Millionen US-Dollar). In der Periode von 1972 bis 1981 sank das Verhältnis von Patent- und Lizenzein­künften zu den Gewinnen aus Direk­tinvestitonen auf sechs Prozent (242 zu 4176 Millionen US-Dollar). Während der Phase von 1982 bis 1991 stiegen die Einnahmen aus Patenten und Lizenzen auf 395 Millionen US-Dollar, während die Di­rektinvestitionen in Lateiname­rika einen Verlust von 373,9 Millionen US-Dollar erbrachten. In der Zeit von 1992 bis 1993 waren die Einkünfte aus Patenten und Li­zenzen dreimal so groß, wie die Profite aus den Direk­tinvestitionen.
Profite aus Direktinvestitionen
In der zwanzigjährigen Periode von 1962 bis 1981 führten die US-amerikani­schen Transnationalen Konzerne 4,25 Milliarden US-Dollar an Gewinnen zu­rück. Dies war die Boomphase der latein­amerikanischen Ökonomien. Insbesondere von 1972 bis 1981 profitierten die US-amerika­nischen Gesellschaften von der er­sten Liberalisierungswelle und dem star­ken Zufluß von ausländischem Kapital nach Lateinamerika.
Mit dem Beginn der Weltrezession 1982 verursachten die Schuldenkrise und die Strukturanpassungsprogramme (SAP) ein Schrumpfen des lateinameri­kanischen Marktes. Die Konsumaus­gaben gingen zu­rück und die meisten Volkswirtschaften der Region gerieten ins Trudeln. Durch die massive Kana­lisierung der Ressourcen in devisener­zeugende Sektoren, um den Schulden­dienst leisten zu können, sanken die Gewinnrückführungen in die USA steil ab. In der Phase von 1982 bis 1991 gab es einen Verlust von 373,9 Millionen US-Dollar. Wie sich noch zeigen wird, gibt es eine inverse Bezie­hung zwischen Zinszahlungen und Ge­winn­rück­füh­­rungen: Sofern die Banken große Sum­men an Zins- und Til­gungszahlungen her­aus­ziehen, fallen die Profite aus den produktiven Inve­stitionen. Nichts­desto­trotz lieferte die Schuldenkrise für den IWF und die Weltbank einen He­bel, um die Privati­sierung von öffentli­chen Unternehmen zu puschen. Viele die­ser Firmen wurden von US-amerikani­schen TNCs gekauft. Als die begrenzte wirt­schaft­liche Erholung einsetzte, stiegen auch die Gewinnrückführungen US-ameri­kanischer Unternehmen wieder an. Im Zeitraum von 1992 bis zum ersten Quartal 1994 wurden 150 Millionen US-Dollar zu­rücktransferiert. Gegen­über den schlech­ten Ergebnissen in den achtziger Jahren eine klare Ver­besserung, jedoch wurde das Niveau der Periode 1972 bis 1981 bei weitem nicht erreicht. Die Schuldenkrise und die Strukturanpassungsprogramme hat­ten nicht nur einen nachteiligen Effekt auf die lateinamerikanischen Ökonomien, sondern ebenso eine substantiell nega­tive Auswirkung auf die Ertragslage der US-amerikanischen TNCs.
Zinszahlungen
Zinserträge waren im Untersu­chungszeitraum die Hauptquelle bei Pri­vaterträgen aus überseeischen Wirt­schaftsaktivitäten. Die wachsende Libera­lisierung des Kapitalverkehrs und die Wandlung der USA in einen Gläubiger der lateinamerikanischen Investoren pri­vater oder öffentlicher Provenienz, führte zu erhöhten Schul­denlasten in Lateiname­rika. Spiralen­förmig ansteigende Zinsen führten zu einem massiven Anstieg der Zah­lungen an die USA. Zinszahlungen von Lateinamerika an die USA waren ein bedeutendes Gegengewicht zum US-ame­ri­kanischen Handelsdefizit gegen­über Japan und Deutschland. Während die USA dabei gegenüber Lateiname­rika in der Gläubigerposition waren, befanden sie sich gegenüber dem Rest der fortge­schrittenen kapitalistischen Staaten in der Schuldnerstellung. Die gesamten Zins­zahlungen von Latein­amerika in die USA in der Zeit von 1972 bis 1992 betrugen mehr als 233 Milliarden US-Dollar, wobei 206 Milliarden US-Dollar zwischen 1982 und dem ersten Quartal 1994 transfe­riert wurden. Diese ausgedehnten Transfers hatten einen äußerst negati­ven Effekt auf das lateinamerikanische Wachstum und die Im- und Export­nachfrage des Subkon­tinents. Hinge­gen boten sie den USA eine ziemlich große Einkommensquelle, um die De­fizite gegenüber Japan und Deutsch­land zu kompensieren.
“Liberalisierung” hat die Folge stei­gender Zins- und Rentenzahlungen an die USA zu Lasten des Wachstums an Pro­duktivvermögen. Liberale Wirt­schafts­politik erhöhte die Abflüsse durch Zinszahlungen, während es gleichzeitig den Abschluß von Lizenz- und Patentver­trägen erleichterte. Pri­vatisierung ermög­lichte den Ausverkauf öffentlicher Unter­nehmen und belebte die Gewinnaussichten wieder.
Die Zahlungsströme in die USA zei­gen ein insgesamt spektakuläres An­steigen im Zuge der Vertiefung der Li­beralisierung – insbesondere der Zins- und Rentenzahlun­gen. Es ist kein Wunder, daß auf einen “freien Markt” gerichtete Politikmaßnah­men zum Kernstück der US-Politik wur­den und dies ist ein Grund, warum US-Poli­tikerInnen bereit sind, demokratische Regierungen, die auf den “freien Markt” orientiert sind, gegen Militär­putsche zu unterstützen.
Handel USA-Lateinamerika
Wenn wir nun den US-amerikani­schen Handelsüberschuß gegenüber La­tein­amerika untersuchen, fügen wir eine an­dere Dimension der asymetri­schen Bezie­hungen zwischen den USA und Latein­amerika hinzu. Eine Dimen­sion, die für die Unterstützung von “Freihandels­abkommen” durch die USA grundlegend ist. Von den sechzi­ger Jahren bis zum Beginn der Schul­denkrise in den Achtzigern hatten die USA einen substan­tiellen Handels­überschuß gegenüber La­teinamerika. In der Phase 1962 bis 1971 betrug der jährliche Überschuß 426 Mil­lionen US-Dollar, in der Zeit von 1972 bis 1981 wuchs der jährliche Überschuß auf 4,3 Milliarden US-Dollar. Das Umschla­gen in ein Defizit begann 1983 und hielt bis 1989 an. Das durch­schnittliche jährli­che Defizit in der Pe­riode 1972/81 betrug 1,725 Milliarden US-Dollar. Mit der öko­nomischen Er­holung in Lateinamerika be­gannen die USA erneut einen Handels­bilanzüber­schuß zu akkumulieren. Der jährliche Überschuß betrug 1992/93 2,2 Milliar­den US-Dollar. Der Handels­überschuß der USA hatte in der ersten Dekade der Liberalisierung (1970-82) steigende Tendenz. Mit der Schuldenkrise und den Strukturanpassungsprogrammen san­ken die US-amerikanischen Exporte nach Lateinamerika, während die Im­porte infolge der lateinamerikanischen “Export­strategie” anstiegen. Die vom IWF entworfene “Exportstrategie” sollte Ein­kommen schaffen, um den Schuldendienst an die Banken zu ge­währleisten. Nichts­destotrotz haben langfristig gesehen, die Strukturanpas­sungsprogramme neue Möglichkeiten für die USA geschaffen, die lateiname­rikanischen Märkte wieder zu erobern und noch tiefer einzudringen. Wenn wir die vier der Schuldenkrise vorange­gangenen Jahre (1979-82) mit den Jahren nach der Anpassung (1990-93) vergleichen, beobachten wir, daß die Kon­sequenzen der vertieften Liberali­sierung ein Ansteigen des US-ameri­kanischen Handelsüberschusses über seine histori­schen Höchstmarken ist. Während einer­seits die Schuldenkrise und die Struktu­ranpassungsprogramme für die USA einen zeitweisen Verlust an Märkten mit sich brachte, führten sie langfristig über den Wegfall von Schutzmaßnahmen zu einem stärkeren Eindringen und der Übernahme von lateinamerikanischen Märkten. Wenn wir die Handelsbilanz USA-Lateiname­rika mit der Handelsbilanz USA-Japan in der Zeit von 1970-82 ver­gleichen, sehen wir, daß die vorteil­haften Bilanzen gegenüber Lateiname­rika teilweise für die Defizite mit Japan aufkommen. Während der Schuldenkrise (1983-1989) machte das Defizit der USA gegenüber Latein­amerika nur ein Bruchteil des Defizites gegenüber Japan aus. Mit der wirt­schaft­lichen Erholung in Lateinamerika tauchte der Überschuß gegenüber La­teinamerika wieder auf, ist allerdings nur ein Bruchteil des Defizites gegen­über Ja­pan und deckt kaum das Defi­zit gegenüber Deutschland.
Lateinamerika:
Die kumulative Bilanz
Wenn wir die drei Quellen US-ame­rikanischen Einkommens aus Latein­amerika addieren (Rente, Handelsge­winn, Unternehmensprofit) und mit den Han­delsdefiziten gegenüber Japan und Deutschland vergleichen, verste­hen wir die strategische Bedeutung Lateinameri­kas für die US-amerikani­sche Gobalpoli­tik. Lateinamerikas Bei­trag zur weltweiten Stellung der USA wird noch deutlicher, wirft mensch einen Blick auf die Gesamt­einkünfte aus Handel, Investitionen, Dar­lehen und Lizenzabkommen. Zwischen 1962 und 1971 betrug der kumulative Rück­fluß in die USA 6,5 Milliarden US-Dollar, 1972 bis 1981 waren es 75,5 Milliarden US-Dollar und im Zeitraum von 1982 bis 1991 156,4 Milliarden US-Dollar und 1992/93 38,1 Milliar­den US-Dollar. Ohne die wachsende Ausbeutung Lateinamerikas hätte sich der Niedergang der USA stärker zu Buche geschlagen.
In der Zeit von 1962 bis 1971 betrug das US-amerikanische Einkommen aus Lateinamerika drei Viertel des Han­delsdefizits gegenüber Japan und übertraf das Handelsdefizit gegenüber Deutschland um 50 Prozent. In der folgenden Dekade entsprachen die Einkünfte aus Lateiname­rika dem Handelsdefizit gegenüber Japan. Im letzten Jahrzehnt von 1982 bis 1991 verdoppelten die USA zwar ihr Ein­kommen aus Lateinamerika, jedoch wuchs das Handelsdefzit gegenüber Japan um das fünfeinhalbfache und das gegenüber Deutschland gar um das siebenfache. Das selbe Muster scheint sich im gegenwärti­gen Jahr­zehnt fortzusetzen. Die Liberali­sierung Lateinamerikas hat den von den USA angeeigneten Überschuß erhöht. Die wachsende Ausbeutung Lateinamerikas korrespondiert mit der sich ver­schlechternden Handelsposition der USA gegenüber den Haupthan­delspartnern auf dem Weltmarkt.
Milliardäre in Lateinamerika
Parallel zur erhöhten Ausbeutung La­teinamerikas durch die USA haben die auf einen “freien Markt” zielenden Politik­maßnahmen zu einer tiefen Po­larisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften ge­führt und eine neue Klasse von super­reichen Milliardären hervorgebracht. Diese Klasse ist ein direktes Produkt des Liberalisierungs­prozesses: 1987 gab es in Lateiname­rika weniger als sechs Milliar­däre, 1990 waren es acht, 1991 zwanzig und 1994 gab es schon deren 41. Die mei­sten der Superreichen waren vor der Libe­ralisierung Millionäre. Sie wurden Mil­liardäre durch den Ausverkauf der öf­fentlichen Unternehmen während der späten achtziger und der neunziger Jahre. Zwangsläufig kontrolliert diese Klasse von Milliardären mit ihrem aus­gedehnten Mediennetzwerk und ihren Verbündeten im Staatsapparat die Wirtschaftspolitik und die Wahlpro­zesse. In Mexiko durch die PRI, in Brasilien durch die korrupte politische Klasse, in Chile durch die Con­certación, und in Argentinien, Vene­zuela und Kolumbien durch die tradi­tionellen zwei großen Parteien. Die Superreichen haben wertvolle Minen­konzessionen, Telekommunikationssy­steme, Vermögen im Tourismus und der Industrie erlangt.
Die große Konzentration des Wohl­stands auf eine kleine Gruppe von Fami­lien ist eine der auffälligsten “Erfolgsstories” in Lateinamerika: Diese Gruppen haben das Oberge­schoß der “Ersten Welt” im wahrsten Sinne des Wortes erreicht. Sie haben nicht nur von der Liberalisierung pro­fitiert – zu Lasten der Bevölkerungs­mehrheit – sondern wa­ren dank ihrer Verbindungen zu den libe­ralen Regierungen die größten Unterstüt­zer der neoliberalen Politik.
Dabei ist der Prozeß der Vermö­genskonzentration in Lateinamerika Teil eines weltweiten Prozesses – Pro­dukt der “neoliberalen Konterrevolu­tion.” Im Zeit­raum von 1987 bis 1994 stieg die Anzahl der Superreichen in den USA von 49 auf 120, in Asien von 40 auf 86, in Europa von 36 auf 91 und im Mittleren Osten und Afrika von 8 auf 14.
Der Begriff Zentrum/Peripherie er­faßt die Verflechtungen zwischen den super­reichen Klassen im Norden und Süden nicht. Diese sind durch eine Vielzahl von Investitionen, Finanz- und Handelskreisen als auch Lizenzie­rungsabkommen mitein­ander verbun­den. Die Integration der Su­perreichen in den Weltmarkt und ihre Fä­higkeit, den Nationalstaat zu lenken und zu re­gulieren, damit er ihre internationalen Verbindungen finanziert und subven­tioniert, ist zur auffälligsten Erschei­nung in der Weltpolitik geworden. Globalismus ist das Programm der Su­perreichen.
Das gleichzeitige Wachstum der Klasse der Milliardäre in Lateinmerika und der Ausbeutung Lateinamerikas durch die USA sind duale Ergebnisse der “neo­liberalen Konterrevolution”. Dies ist am offensichtlichsten in den Ländern, die auf dem neoliberalen Pfad am weitesten fortgeschritten sind: Mexiko hat 24 Milliar­däre und war die Hauptquelle des Handelsgewinns, der Lizenz- und Pro­fiteinkommen für die USA. Brasilien mit sechs, Argentinien, Chile und Kolumbien mit jeweils drei und Venezuela mit zwei Milliardären folgen.
Der Hauptgrund für die wachsende Armut und den Abbau im Gesund­heits- und Bildungswesen liegt in der Umver­teilung der öffentlichen Res­sourcen zum Privatsektor und inner­halb des Privatsek­tors zu den sehr Reichen. “Neo­liberalismus” ist in sei­ner Essenz eine Beschönigung für die Konzentration des Einkommens durch die internationale Regulierung der Staatspolitik. Einkommen wird nach oben und nach außen transfe­riert. Die Armen werden dem Überlebens­kampf überlassen: Mit marginalen Kleinst­un­ternehmen, mit informeller Be­schäfti­gung und mit Almosen aus Pro­jekten, die von Nicht-Regierungs-Orga­nisa­tionen gesponsert werden, versu­chen sie, sich über Wasser zu halten.
Jedenfalls ist Liberalisierung nicht oder nicht bloß eine “Entwicklungsstrategie”, die ausgear­beitet wurde, um Lateinameri­kas Inte­gration in den Weltmarkt zu erleich­tern. Noch ist sie ein unvermeidli­ches Produkt eines immanenten “Glob­alisierungsprozesses”. Eher ist Libe­ra­lisierung ein Produkt von US-amerika­nischen Wirtschaftspolitikern, Bankern und Transnationalen Gesell­schaften, die mit lateinamerikanischen transnationalen Ka­pitalisten verbunden sind. Es sind spe­zifische Klassen und Staatsinteressen und nicht Imperative des Weltsystems, die die neue liberale politische Ökonomie dik­tieren. In die­sem Sinne muß die Um­kehrung der Liberalisierung auf der natio­nalen Ebene innerhalb der Klassenstruktur beginnen und dann nach oben und außen weitergetragen werden.

Im Sog der Integrationswelle

WirtschaftswissenschaftlerInnen be­kom­men bei Begriffen wie Freihandels­zone, Zoll­union oder gar Ge­mein­samer Markt feu­chte Augen. Wach­sende Märkte ohne Gren­zen bedeuten stei­genden Han­del, er­höhte Binnennachfrage und intensi­vierte In­ves­titionstätigkeit, Pro­dukt­ivitätsge­winne und freien Kapital- und Personen­verkehr. Soviel zur Theorie.
Die Europäische Union (EU) hat vorge­führt, wie ein Zusammenschluß funktio­niert: Zunächst wird eine Freihandelszone ver­einbart, innerhalb der die Zölle schritt­weise abgebaut werden. Dann folgt der Über­gang zu einer Zollunion mit ge­meinsamem Außenzoll und immer mal wieder werden ein paar neue Mitglieder auf­genommen. Schließlich versucht mensch sich am Gemeinsamen Markt, also der makroökonomischen Koordinie­rung und Harmonisierung des Personen-, Ka­pi­tal-, Güter- und Technologieverkehrs und stößt dabei auf Grenzen, wie die Rück­schläge bei der angestrebten Wäh­rungs­union zeigen.
Der Trend des Sich-Zusammenschließ­ens ist also nicht neu; wohl aber hat er sich seit Anfang der 90er Jahre weltweit enorm verstärkt. Nach der jahrzehntelan­gen Binnenorientierung, die mit der Zah­lungs­unfähigkeit Mexikos 1982 ein ab­ruptes Ende nahm, kann sich auch Lateinamerika der zunehmenden Block­bildung nicht mehr entziehen, wenn es auf dem Weltmarkt bestehen will. Einzelne Länder erweisen sich gegenüber den Ko­lossen in Europa, Asien und Nordamerika als Peanuts, deren Handlungsfähigkeit und Beeinflussungsmöglichkeiten des Welt­marktes ständig weiter sinken.
Von den vielen subregionalen Freihan­delszonen, die sich im Laufe der letzten 30 Jahre in Lateinamerika gebildet haben, heben sich die beiden jüngsten – MER­COSUR und NAFTA – durch ihre Größe und das Tempo hervor, mit dem sie in Kraft traten: Der MERCOSUR hat bereits den Sprung zur Zollunion zumindest ein­beinig vollbracht.
Appetithappen Uruguay
Der MERCOSUR besteht aus äußerst ungleichen Ländern, was sich sowohl auf die geographische als auch auf die wirt­schaftliche Größe bezieht.
Brasilien dominiert den MERCOSUR wirtschaftlich und ist gleichzeitig auch das von diesem Markt unabhängigste Land, da es nur jeweils 14 Prozent seiner Ex- und Importe mit den Nachbarländern abwik­kelt. Diese Dominanz drückt sich vor al­lem in einem wettbewerbs- und damit ex­portfähigen Industriesektor, insbesondere dem Kraftfahrzeug- und Maschinenbau, aus. Brasilien hat daher seit Einrichtung der Freihandelszone 1991 am meisten pro­fitiert, indem es seine Exporte um knapp 130 Prozent steigern konnte. Seit Cardosos Wahl redet auch niemand mehr von der Instabilität des Landes in Sachen Währung und Inflation. Auch die von Mexiko ausgehende Finanzkrise wird das Land aufgrund seiner exportorientierten Technologiesektoren nicht so schwer tref­fen wie den Partner Argentinien. Brasilien ist der unangefochtene Motor des Integra­tionsprojektes MERCOSUR. Wie auch im Falle Deutschlands in der EU zeigt sich, daß das dominante Land die positivsten wirtschaftlichen Effekte aus fortschreiten­den Wirtschaftszusammenschlüssen für sich verbuchen kann.
Argentinien folgt Brasilien mit weitem Abstand, trotz des angegebenen höchsten Pro-Kopf-Einkommens. Während Brasi­lien hauptsächlich kapitalintensive Indu­st­riegüter nach Argentinien exportiert, be­wegen sich die Exporte in die andere Rich­tung vorwiegend im traditionellen Be­reich der Rohstoffe und der wenig ver­ar­beiteten Produkte. Das Land muß nach der derzeitigen mexikanischen Finanz­krise am stärksten mit dem Übergreifen die­ser Krise, dem sogenannten “Tequila-Effekt”, rechnen. Schließlich gilt Argenti­nien als Abwertungs- und Krisenkandidat Num­mer eins. Jahrelanges Festhalten am per Gesetz festgelegten 1:1-Wechselkurs zum US-Dollar haben zu einer starken Über­bewertung des Pesos geführt, da die Inflationsraten der beiden Länder weit auseinander liegen. Durch hohe Zinsen wur­den massiv Kapitalanlagen aus dem Ausland angezogen – allerdings nur kurz­fristige. Für Investitionen sind jedoch mittel- und langfristige Kredite erforder­lich, für deren Vergabe die Banken wie­derum mittel- und langfristige Einlagen von KapitalanlegerInnen benötigen. So wurde Argentinien die letzten vier Jahre stabilisiert, ohne daß starke Produktivitäts­steigerungen durch Investitionen ereicht wurden. Die Verbesserung der Wettbe­werbsfähigkeit ist zu kurz gekommen, das Handelsbilanzdefizit gestiegen. Sollte es noch vor oder kurz nach dem Ende der Amtszeit Menems zu einer Abwertung kommen, die auf bis zu 45 Prozent ge­schätzt wird, so wäre kurzfristig mit einer weiteren Verschlechterung der Handels­bilanz zu rechnen, da inbesondere Großunternehmen, die hohe Importrechnungen zu begleichen haben, in arge Zahlungs­schwierigkeiten geraten würden.
Die Einbeziehung Uruguays und Para­guays hat rein strategische Gründe. Böse Zungen behaupten, Paraguay sei nur in den MERCOSUR gekommen, weil es über genügend Wasser für die Stromver­sorgung der Nachbarländer verfügt (vgl. hierzu den Paraguay-Artikel über den Yasyretá-Staudamm in diesem Heft). Uruguay liegt als kleiner Sandwichhappen zwischen Brasilien und Argentinien. Wäh­rend in vielen Ländern der Kauf eines di­rekt am Heimatland liegenden Grund­stückes durch AusländerInnen verboten ist, ist in Uruguay der Nordosten des Lan­des mittlerweile sozusagen eine Provinz von Südbrasilien geworden: Brasiliani­sche UnternehmerInnen beschäftigen bra­silianische ArbeitnehmerInnen.
Als Trostpflaster und zur Beruhigung der Uruguayos ist in Montevideo das ständige Sekretariat des MERCOSUR eingerichtet worden, durch welches die weitere Integration koordiniert werden soll.
Die beiden kleinen Länder haben Angst davor, von den großen – zumindest wirt­schaftlich – geschluckt zu werden, können sich aber gleichzeitig nicht alleine auf dem Weltmarkt behaupten und sind daher auf eine Integration angewiesen. Sowohl Paraguay als auch Uruguay sind extrem ab­hängig von ihren Nachbarländern: Für Uruguay liegt die Exportquote in die MERCOSUR-Länder bei 42 Prozent, die Importe bei 56 Prozent, für Paraguay nur unwesentlich darunter. Beide Staaten ver­suchen, den Integrationsprozeß so weit wie möglich zu bremsen, ohne tatsächlich hin­ausgeworfen zu werden. Ihre Anpas­sungslast an zunehmende Konkurrenz soll durch Ausnahmeregelungen und Kompen­sationsmechanismen verringert werden. Viele der Ausnahmen der verkappten Zollunion, für die noch kein gemeinsamer Nenner gefunden werden konnte und die bis zum Jahre 2006 beseitigt sein sollen, beruhen auf paraguayischen und uru­guayischen Einwänden.
Die Ungleichgewichte werden sich in ab­sehbarer Zeit kaum abbauen lassen. Selbst in der EU, die über einen Regional­fonds als Kompensationsinstrument ver­fügt, kann von einer merklichen Anglei­chung kaum die Rede sein: Portugal und Grie­chen­land bilden weiterhin die Schluß­lich­ter der Gemeinschaft, und auch die üb­rigen “rückständigen” Regionen kom­men durch die Fondszahlungen kaum an die “fortschrittlichen” heran.
Gewissensfrage: NAFTA oder MER­COSUR?
Trotz der Schwierigkeiten bei der Ver­wirklichung der Zollunion, haben sich be­reits weitere Kandidaten für den Beitritt aus­gesprochen. Bolivien hat Interesse an einer Aufnahme angemeldet – in der Re­gion um Santa Cruz haben sich immer mehr bra­silianische Unternehmen an­ge­sie­delt und sind zu einem wichtigen Faktor der bo­livianischen Wirtschaft geworden -, even­tuell wollen auch Kolumbien und Vene­zuela beitreten. Chile ist grundsätz­lich interessiert, hat aber seinen Spagat zwi­schen NAFTA und MERCOSUR durch die Verhand­lungsaufnahme mit der NAFTA seit kurzem sogar noch vergrö­ßert.
Hat der MERCOSUR Chancen gegen die NAFTA? Das US-Angebot des NAFTA-Beitritts könnte auf der einen Seite gerade durch die Mexiko-Krise für andere Länder attraktiv werden: massive Zah­lungen des reichen Partners im Nor­den sollen ein komplettes Ausscheren Mexi­kos verhindern. Innerhalb des MER­COSURS verfügt kein Land über aus­reichende Möglichkeiten, die Krise ei­nes anderen aufzufangen: Brasilien steht noch am Anfang einer Stabilitätsphase und Ar­gentinien am Ende. Beide Länder wer­den sich hüten, kriselnde MERCOSUR-Mit­glieder durch Stüt­zung­s­käufe zu retten.
Auf der anderen Seite zeigt die Mexi­ko­krise, wie schwierig eine Integration selbst für ein im lateinamerikanischen Raum wirtschaftlich so fortschrittliches Land wie Mexiko sein kann. Eine großa­meri­kanische Gemeinschaft rückt erst einmal in weite Ferne; wer sich der NAFTA anschließt, muß sich auf eine längere Zeit der lockeren Zusammenarbeit einrichten.
Derweil hat sich der MERCOSUR schon einen Schritt weiter gewagt als die NAFTA und will zum Ende der 90er Jahre eine gewisse Eigenständigkeit vorweisen, mit der er dann geschlossen in Verhand­lun­gen mit anderen Blöcken auftreten kann, beispielsweise eben mit der NAFTA. Ein regionaler Zusammenschluß, der ausnahmsweise nicht unter der Herr­schaft Nordamerikas steht, sondern eine ei­gene Regionalmacht – Brasilien – hat, ist eine nicht zu unterschätzende Option, um den USA nicht nur als Rohstoffversorger und verlängerte Werkbank zu dienen.

NAFTA-Fieber

Die Integration des Muster­landes des Kontinents, das sich in den vergangenen Jahren durch wirtschaft­liche Stabilität und steigende Wachstums­raten hervorgetan hatte, soll nach dem Willen der Präsiden­ten der bisherigen Mitgliedsstaaten USA, Kanada und Me­xi­ko die Süderweiterung der Frei­handels­zone einleiten, die bis zum Jahr 2005 den ge­samten Kontinent um­fas­sen soll. Die Ver­hand­lungen mit Chile sollen Mitte 1996 abgeschlossen sein.
APEC und NAFTA und MERCOSUR und …
Die chilenische Ge­schäftswelt ist von den Signalen aus Miami vom Anfang De­zember ebenso hellauf begeistert wie die Regierung. Präsident Eduardo Frei sprach von “einem historischen und entscheiden­den Augen­blick”, der allerdings auch ein großes Risiko mit sich bringe. “Wir ma­chen einen enormen Schritt vorwärts und brauchen dazu die Unterstützung des gan­zen Landes.” Nur gut drei Wochen zuvor war der Beitritt zur pazifischen Handels­gemeinschaft APEC unter Dach und Fach gebracht worden, wodurch sich Chile eine Ver­besserung der Wirt­schaftsbeziehungen zu Japan und den eigentlichen “Tigern” in Südostasien erhofft. Um eventuellen Zweifeln der Nachbarländer vorzubeugen, beeilte sich Außenminister José Miguel Insulza zu versichern, “die Verhandlungen mit der NAFTA stehen der Annäherung an den MERCOSUR nicht im Wege”. Das Interesse an der süd­amerikanischen Wirt­schafts­union (Argenti­nien, Brasilien, Pa­raguay, Uruguay) wurde nicht zuletzt durch die Teilnahme hochrangiger chile­nischer Regierungs­vertreter am konstituie­renden MERCOSUR-Treffen im brasilia­nischen Ouro Preto bekräftigt.
Nun stehen auch die Türen zu den tra­ditionellen Partnern im Norden weiter of­fen denn je. Bereits in der Vergangenheit wickelte Chile immerhin 18 Prozent der Exporte und 23 Prozent der Importe allein mit den USA ab.
Erwartet werden jetzt ein deutlicher Anstieg der Auslandsinvestitionen in Chile – 50 Prozent der bisherigen Investi­tionen stammen bereits aus den drei NAFTA-Staaten – sowie des Warenaus­tausches mit den Partnerstaaten im Nor­den. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen der drei NAFTA-Staaten werden bereits in den ersten Monaten nach dem Beitritt Steigerungen von 20 bzw. 25 Prozent er­wartet. Es erscheint aber sehr fragwürdig, ob sich die in den USA beobachtete posi­tive Auswirkung der NAFTA auf den Ar­beitsmarkt, wo seit Anfang dieses Jahres 130.000 Stellen neu geschaffen wurden, auf Chile übertragen läßt. Der chilenische Gewerkschaftsverband CUT befürchtet für Chile die gegenteilige Wirkung. Ihr Vizepräsident Arturo Martíriez geht davon aus, daß in den ersten beiden Jahren nach dem Beitritt mehr als 10.000 Arbeitsplätze verloren gehen, vergleichbar mit der sich in Mexiko abzeichnenden Entwicklung.
Nord-Süd-Gefälle außerhalb wie innerhalb Chiles
Ein entscheidender Grund für die ge­gen­läufigen Tendenzen in den bisherigen drei und bald vier NAFTA-Ländern liegt in den grundverschiedenen Ausgangsbe­dingungen. Das jahrhundertalte Nord-Süd-Gefäl­le ist auch durch das Wirtschafts­wachstum der vergangenen Jahre nicht überwunden. Ein Vergleich des Pro-Kopf-Einkommens ist überaus aufschlußreich: In den USA und in Kanada liegt es bei 20.000, in Mexiko dagegen nur bei 2.700 US-Dollar. Mit 3.300 US-Dollar pro Ein­wohnerIn wird auch Chile nicht über die Rolle eines Junior-Partners hinauskom­men.
Das spüren auch diejenigen, die wahr­scheinlich am heftig­sten vom NAFTA-Beitritt betroffen sein werden: Viele chi­lenische Landwirte wittern Kon­kurrenz aus dem hoch­technisierten Nor­den und dem Billiglohnland Mexiko. Ge­rade die mittleren und kleinen Produzen­t­Innen im Süden des Landes sehen ihre in­ländischen Absatz­märkte in Gefahr. Während in Zen­tral- und in Nordchile in den vergan­genen Jahren gerade in der Agrarwirt­schaft di­versifiziert wurde, ist das an ih­nen im Sü­den weitgehend vorbei­gegangen. Jetzt schickt Chile sich erneut an, zum Muster­schüler der Ent­wick­lungs­strategInnen zu wer­den, indem es – ob­wohl auf der süd­lichen Halbkugel gelegen – das Nord-Süd-Gefälle kopiert. Nach ei­ner Untersuchung der Agrarwis­sen­schaft­lerin Eugenia Muschnik von der Katho­lischen Uni­ver­si­tät in Santiago wer­den durch den NAFTA-Beitritt knapp 2.800 Arbeits­plätze in der Landwirtschaft ent­stehen. Neue Be­schäftigungs­mög­lich­kei­ten wird es aber ausschließlich in den nörd­lichen Lan­desteilen in der Landwirt­schaft (Wein und andere Obstsorten, Ta­bak, Spargel, Ge­flügel) und in der eben­falls dort ansässigen Agroindustrie (Fruchtsaft, Obst­kon­serven, Rosinen, To­ma­tenmark) geben. In der über­wiegend im mittleren Süden angesiedelten tra­ditio­nellen Land­wirt­schaft gehen gleich­zeitig 7.700 Ar­beitsplätze ver­loren.
Frei zeigt sich undiplomatisch
Widerstand kommt deshalb vor allem von den Land­wirtInnen im herkömmlich fruchtbaren Teil des Landes, das süd­lich der Hauptstadt Santiago beginnt und sich über mehr als 800 Kilometer erstreckt. En­de Dezember machten sie ihre Streik­an­drohung wahr und blockierten nach dem Vorbild der französischen Bau­ern und Bäuerinnen für mehrere Stunden die Pa­namericana im Süden des Landes.
Die Frei-Regierung, die sich durch ein eher technokratisches Manage­ment der Wirt­schafts­politik auszeichnet, hat bisher wenig diploma­tisches Geschick im Um­gang mit denen gezeigt, die Widerstand ge­gen ihre ausschließlich markt­orientierte Politik leisten. Der in allen Medien beju­belte NAFTA-Beitritt vertiefte den Gra­ben zwischen Regierung und ArbeiterIn­nen weiter.
Als wesentlichen Faktor der negativen Aus­wirkungen auf die ArbeitnehmerInnen bekämpft die CUT in erster Linie das chi­lenische Arbeitsgesetz. Fünf Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur sind nämlich weiter­hin wichtige Passagen des pinoche­tistischen Plan Laboral in Kraft, der unter anderem kaum Kündigungsschutz bietet und keine Tarif­verhand­lungen auf überbetrieb­licher Ebene zuläßt.
Der sozialistisch-sozialdemokratische Arbeits­minister Jorge Arrate versuchte, dem seit Wochen schwelenden Kon­flikt die Schärfe zu nehmen, indem er noch für Ja­nuar die Vorlage von Gesetzes­ent­würfen zur Änderung des Ar­beits­rechts ver­sprach. Ob er damit die chilenischen ArbeitnehmerInnen im Hin­blick auf den NAFTA-Beitritt beruhigen kann, ist eher zweifel­haft. Die Erinnerun­gen an die letzte große Weltmarkt­öffnung Anfang der 80er Jahre unter der Pinochet-Diktatur sind für Manuel Bustos und viele seiner Kolleg­Innen noch allzu gut in Erin­nerung, als daß die Gewerkschaftsbewegung nun den NAFTA-Beitritt begrüßen könnte. Damals brachen ganze Industrie­zweige zu­sammen, die Arbeitslosigkeit schnellte auf über 30 Prozent.
Deshalb fordern die Gewerk­schaften soziale und arbeits­recht­liche Bestimmun­gen als integrativen Bestand­teil des NAFTA-Vertrages, ähn­lich wie im EG-Vertrag verankert (siehe neben­stehendes Interview). Derartiges fehlt nämlich bis­her, und weder die chile­nischen Unter­nehmerInnen noch die US-Administration haben Interesse daran, sich diesbezüglich festlegen zu lassen.

Contreras als Bauernopfer der Militärs

Als das Regime von General Augusto Pinochet 1989 nach 16jähriger Herrschaft abgewählt wurde, hofften viele ChilenIn­nen auf die Auf­klärung der unzähligen Menschenrechtsverletzungen. Die erste de­mokra­tisch gewählte Re­gierung un­ter Präsident Patricio Aylwin sah sich un­ter dem Druck der Menschenrechtsorga­ni­sationen gezwun­gen, Un­tersuchungen über politisch motivierte Morde, Ver­schlep­pungen und Folterungen einzu­leiten. Die Ergeb­nisse wurden im soge­nannten Rettig-Bericht vor­ge­legt, der akribisch die Verbrechen der Militär­junta aufli­stet. Opfer finden darin massen­haft Erwähnung, die Na­men der Täter werden aller­dings verschwiegen.
Vergangenheitsbewältigung auf chilenische Art
So kamen während der Aylwin-Regie­rung nur ganz wenige Fälle von Menschenrechts­verletzungen zur Anklage, in keinem Fall wanderten die Verantwort­lichen ins Gefängnis. Die entsprechende Bilanz seines Nachfolgers Eduardo Frei, ebenfalls Christdemokrat und seit März 1994 an der Spitze einer Ko­alition aus Mitte-Links-Parteien, wird kaum besser ausfallen. Chile sonnt sich im Glanze sei­nes Wirt­schafts­wun­ders und fiebert mehr­heitlich der bevorstehenden Auf­nahme in die NAFTA entgegen. Von Ge­rechtigkeit für die Opfer der Diktatur spricht fast niemand mehr.
Nur ab und zu führt die Menschen­rechtsproblematik vergangener Jahre zu kleinen politischen Erdbeben: Fernando Castillo war erst wenige Wochen als Gou­verneur von Santiago im Amt, als er sich offen für die Genehmigung einer Demon­stration der Hinterbliebenen der Opfer des Pinochet-Regimes am 11. März vor dem Regierungspalast aussprach. Frei ließ die Demo verbieten – zweifellos auf Druck der Militärs – und setzte seinen Par­tei­freund Castillo kurzerhand ab. Der so­zi­alistische Innenminister Germán Correa mußte seinen Hut nehmen, nachdem er sich allzu deutlich für die Entlassung von Polizeichef Rudolfo Stange ausgespro­chen hatte. Stange hatte die Unter­suchungen über die Ermordung von drei Kom­munisten im Jahre 1985 durch fal­sche Aussagen behindert und wurde vor­übergehend beurlaubt.
Der weitgehend reibungslose Abgang der Militärs wurde mit einer Reihe von Zugeständnissen erkauft. Die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, ist politisch na­hezu unmöglich. Einzige Ausnahme von der bisherigen Pra­xis, alles unter den Tep­pich zu kehren, ist jetzt die Wiederauf­nahme des Verfahrens ge­gen den langjäh­rigen Leiter des gefürchteten Ge­heimdienstes DINA, Manuel Contreras, und seinen Stellvertreter. Möglich wurde die Er­öffnung des Verfah­rens durch die Intervention der USA, wo der Mörder von Letelier, Michael Townley, zu vier Jahren verurteilt worden war. Vor Gericht er­klärte er, im Auftrag der DINA gehan­delt zu haben. Deren einst allmächtiger Chef Con­treras, der die Drecksarbeit für das Regime erledigt hatte, könnte nun das Bauernop­fer sein, um das leidige Thema der Menschenrechtsver­letzungen ein für alle Mal abzuhaken.
Wie unabhängig ist die Justiz?
Vor der Wiederaufnahme des Verfah­rens wurde von allen Seiten Druck auf die Richter ausgeübt. Der weiterhin als Ober­befehlshaber des Heeres amtierende Gene­ral Pinochet schickte eigens seinen Stell­vertreter zum Justizministerium, um nachdrücklich das Interesse der Armee­führung an einer Herabsetzung des Straf­maßes auf fünf Jahre zu bekunden. Die Regierung verhält sich betont neutral. Verteidigungsminister Pérez Yoma ver­wies den Ex-Diktator auf die Unabhän­gigkeit der Justiz, als dieser ihn auf die Pro­bleme ansprach, die das Urteil gegen Contreras im Heer her­vorrufen dürfte. Die Armee könne nicht einerseits global die Verantwortung für die Menschenrechts­verletzungen ablehnen und sich anderer­seits derart bedingungslos hinter jemanden stellen, der genau deswegen verurteilt worden sei.
Bedrohlicher Riß in der Armee
Das chilenische Militär ist in dieser Frage gespalten. Heereschef Augusto Pi­nochet ist enormem Druck aus den eige­nen Reihen ausgesetzt. Die Hardliner be­trachten die Verurteilung eines der ihri­gen, zudem eines Generals, für ein Sakri­leg und einen unzulässigen Eingriff der Zivilstrafrichter in die Belange der Armee. Außerdem fürchten sie, daß ein derartiges Urteil in der Frage der Vergangenheits­bewältigung bahnbrechend sein und es ih­nen ebenso an den Kragen gehen könnte. Hartnäckig halten sich Gerüchte, daß Contreras im Falle einer Haftstrafe in ei­ner Kaserne vor dem Zugriff des Straf­vollzugs geschützt wird.
Andererseits waren Contreras und die DINA unter den Uniformierten nie unum­stritten. Die Auflösung dieses Militärge­heimdienstes bzw. seine Umstrukturierung zur CNI entsprach nicht zuletzt der Kritik aus den eigenen Reihen, die vornehmlich in der Luftwaffe und Marine laut wurde. Im Bewußtsein des fehlenden Rückhalts in den militärischen Chefetagen haben sich die Folterer und Mörder aus den Rei­hen der DINA seit vielen Jahren dagegen verwahrt, als Sündenböcke herzuhalten. Mit dem nahenden Ende der Diktatur wuchs das Bemühen, sich von deren Ex­zessen abzusetzen. “Die moralischen Vor­stellungen von General Contreras unterschei­den sich von dem, was ich für richtig halte!” Wer das sagte, war nicht etwa ein Folteropfer oder ein ehemaliger politi­scher Gefangener, sondern niemand Geringerer als der ehema­lige Vordenker und Chefideologe des Pinochet-Regimes, Jaime Guzmán. Bereits im Juli 1989 stand Con­treras wegen des “Verschwindens” der Geschwister Andrónicos vor Gericht. Der inzwischen einem Attentat zum Opfer ge­fallene Guzmán war als Zeuge geladen und betonte den “tiefen Gegensatz”, in dem er während der Militärherrschaft zu Contreras gestanden habe. Auf die Frage nach den Methoden von General Con­treras antwortete der eloquente Guzmán damals: “Ich glaube, es waren die wir­kungsvollsten für seine Ziele, sie hielten aber wesentlich geringeren moralischen Anforderungen stand, als ich sie für erfor­derlich halte.” Folgerichtig habe er ent­scheidenden Anteil an der Auflösung der DINA gehabt.
Im Berufungsverfahren im Mordfall Letelier kann Guzmán nicht mehr aussa­gen. Der angeklagte Schlächter des Regi­mes hat ihn überlebt. Doch der einst mächtige Geheimdienstchef, der in den er­sten Jahren die Drecksarbeit für Pinochet erledigte, könnte zum Bauernopfer der Aufarbeitung der jüngeren chilenischen Geschichte werden. Wird das Urteil der ersten Instanz bestätigt, wo Contreras zu sieben Jahren Haft verurteilt worden war, muß er seine Strafe in ei­nem normalen Gefängnis absitzen. Der Versuch der Frei-Regierung, eigens für Verbrecher wider die Menschlichkeit ein Spezialgefängnis bauen zu lassen, hätte vielleicht die Hau­degen des Heeres beruhigt, war politisch jedoch nicht durchsetzbar. Einen mögli­chen Ausweg bietet die Verkürzung des Strafmaßes auf fünf Jahre: Nach einem Gesetz der Aylwin-Regierung könnte die Haftstrafe dann nämlich in Hausar­rest umgewandelt werden. Mit einem solchen Urteilsspruch könnte sich der überwie­gende Teil der Gesellschaft in dem süd­amerikanischen Land arrangieren. Einer­seits würde damit die Schuld des ehemali­gen DINA-Chefs festgestellt, andererseits müßte kein Militär tatsächlich ins Ge­fängsnis wandern.

Eine Frau in der Hölle

Luz Arce war Sozialistin. Über eine persönliche Bekanntschaft wurde sie so etwas wie Sekretärin der Leibwache des sozia­listischen Präsidenten Salvador Allende. Nach dem Putsch 1973 ging sie in den Untergrund. Nach einigen Mo­naten einer recht ziellosen und eher schlecht als recht abgeschirmten Unter­grundarbeit wurde sie verraten und verhaftet. Der Geheimdienst fol­terte sie, und sie hielt stand. Als sie ein­mal mit verbundenen Augen über den Flur eines geheimen Folterzen­trums geführt wurde, schoß ihr ein Sol­dat in den Fuß. Die Geheimdienst­beamten wollten das Risiko nicht ein­ge­hen, sie verbluten zu lassen, denn jedeR tote Gefangene war eine ver­nichtete In­formationsquelle. Die Er­mor­dung von po­li­tischen Gefangenen mußte von höherer Stelle genehmigt wer­den. Deshalb brach­ten sie die Frau in ein Militärkrankenhaus. Sie wollte ster­ben und warf heimlich die Me­dizin weg, damit die Wunde sie ver­gifte. Die Wunde heilte von selbst zu. Ein Pfle­ger, der ihr beim Baden half, zwang sie zu perversen sexuellen Praktiken. Als sie halbwegs genesen war, fuhren Ge­heim­dienstler sie zu ihren Eltern nach Hause, überwachten sie aber weiterhin.
Sie wird zur Kollaborateurin
Einige Wochen später wurde sie zu­sammen mit ihrem Bruder ein zweites Mal verhaftet. Wieder wurde sie ge­foltert und ver­gewaltigt. Ihr Bruder hielt der Folter nicht Stand. Nach sei­nem Zusammen­bruch überredete er sie, gemeinsam mit ihm eine Liste von Unter­grundkämpfern zu­sammen­zu­stel­len. In der Sprache der Fol­ter­zentren “kollaborierten” die bei­den. Sie achte­ten sorgsam darauf, daß die Liste aus Leuten bestand, die ihrerseits kolla­bo­rierten, im Ausland waren oder eine unter­ge­ordnete Rolle in der sozia­lis­tischen Partei­hierarchie hatten. Einige Men­schen wurden auf Grundlage die­ser Liste ver­haftet; ein paar davon sind bis heute “ver­schwunden”. Da alle anderen in die of­fiziellen chilenischen Ge­fäng­nisse über­führt oder umge­bracht wurden, war Luz Arce bald die­jenige Gefan­gene, die am läng­sten ver­haftet war. Sie wußte viel über die DINA und kannte viele Geheim­dienst­ler. Das war gefährlich. Die DINA kon­nte nicht ris­kieren, sie laufen zu las­sen. Einige Male hatte sie deutliche An­zeichen dafür, daß sie auf der Liste derer stand, die zum “Verschwinden­lassen” se­lektiert wurden. Durch per­sönliche Be­ziehungen und einiges Glück über­lebte sie.
Als Kollaborateurin genoß Luz Arce einige Privilegien, die den übrigen Ge­fan­genen nicht zukamen. Sie durfte ihre Zel­lentür angelehnt lassen und duschen, wenn auch unter den Augen der Wächter, die aus Jux applaudier­ten, wenn sie sich auszog.
In der Silvesternacht 1974/75 lud der Stell­vertreter des Kommandanten des Fol­ter­zentrums sie zu einem Gläßchen in sein Büro ein, besoff sich und vergewaltigte sie. Gleichzeitig ver­gewaltig­ten die Wach­soldaten die weib­lichen Gefangenen. In­mitten der Schreie und des Stöhnens er­griff Luz Arce eines der schweren Dienst­siegel der DINA, das eine eiserne Faust zeig­te, und schlug den Offizier, der sie ver­gewaltigt hatte, damit nieder. Einen Au­genblick überlegte sie, ob sie sich aus dem offenstehenden Waffenmaga­zin eine Ma­schinenpistole nehmen und die übrigen Ge­fangenen befreien sollte, denn das Wach­personal war nackt und wehrlos. Dann ging sie zu einem Te­le­fon und rief den Kommandanten des Folter­zentrums an, der zu Hause Sil­vester feierte. Der Kom-mandant kam mit einigen Offizieren im Kampfanzug und vorgehaltener Waffe und bereitete der Vergewaltigungsorgie ein Ende. Der Vergewaltiger wurde in ei­nen der engen Kästen gesteckt, die der Fol­ter an Gefangenen dienten, und von da an bedurfte die Vergewaltigung von ge­fang­enen Frauen der Vorabgenehmi­gung. Ord­nung muß sein.
Folterer mit kleinen Schwächen
Die DINA rechnete es Luz Arce hoch an, daß sie nicht die Waffen­kam­mer ge­plündert hatte, sondern den Dienst­weg ge­gangen war. Nach und nach wurde sie zur re­gulären Beamtin des Geheimdienstes. Fünf Jahre lang arbeitete sie für die DINA und die Nach­folgeorganisation CNI. Ihr Buch “Die Hölle” berichtet von der Rou­tine dieser Geheimdienste, von Mord und Fol­ter, vom Abhören von Telefonen, dem Un­ter­richt der Agenten, dem et­was un­beholfenen Aufbau einer Computer­abteilung, dem Gehabe der führ­enden Of­fiziere, die sich wie Gott­väter vorkamen, von Intrigen und sexuel­len Beziehungen kreuz und quer. Die allmächtige DINA, die nach Gut­dünken eineinhalb tausend Men­schen ver­schwinden lassen konnte, hatte ihre sehr banale Seite. Was nach au­ßen wie die perfekte Terrormaschine wir­kte, war in Wahrheit eine schnell zusam­men­geschusterte, korrupte und mit al­len Feh­lern behaftete militärische Ein­heit. Die DINA-Beamten, deren Iden­ti­tät geknackt wurde – darunter auch Luz Arce selbst – wur­den in Publika­tionen des chilenischen Exils wie Monster dargestellt. Aber es wa­ren Men­schen, die, wenn sie vom Foltern ka­men, ein halbwegs normales Fami­lien­leben zu führen versuchten, die ihre klei­nen Schwächen hatten und sich in Liebes­beziehungen mit den Se­kretär­innen und weib­lichen Gefange­nen verstrickten. Luz Arce schildert alle Beziehungen, die sie mit Geheim­dienst­beamten hatte. Sie kann es sich heute noch nicht ganz verzeihen, daß sie in der Hölle lieben konnte.
Im Exil entsteht ihr Buch
Als 1990 die erste demokratisch ge­wähl­te Regierung nach der Pinochet­dik­tatur eine Kommission zur Doku­mentation der Menschenrechts­verletz­ungen gründe­te, rang Luz Arce sich zu einer Aussage durch. Sie erhielt Drohungen ihrer früh­eren Geheim­dienstkollegen und mußte Chile ver­lassen. Das Buch “Die Hölle” ist das Ergebnis dieses Exiljahres in Öster­reich.
Luz Arce kennt den Tod. Sie hörte mit ver­bundenen Augen, wie andere Ge­fang­ene starben, drückte erschosse­nen Gue­rilleros die Augen zu, sollte selbst er­mordet werden und war wegen ver­schie­dener Krankheiten mehrfach im Delirium. Es gibt Wochen in ihrem Leben, in denen sie kaum bei Be­wußt­sein war. Nach ihrer Ver­haftung und dem Schuß in den Fuß ver­ging bis heute kein Tag ohne starke kör­perliche Schmer­zen. Diese Erfah­rungen erspart sie den Leserinnen und Le­sern ihres Buches. Die tagelange Elektro­folter wird nur in Andeutungen erwähnt. Statt ihre Vergewaltigungen zu schil­dern, läßt sie lieber eine Lücke im Text. Durch diese Auslassungen und ein­gesprengte christ­liche Reflexionen wird das Buch er­träglich. Das gleich­zeitig in Chile er­schienene Buch ihrer Leidens­genossin Alejandra Merino “Mí Verdad” bildet den Schrecken 1:1 ab. Ob­wohl auch hier die schlim­mste Fol­ter nicht geschildert wird, wird es kaum jemand ohne Erholungs­pausen lesen können.
Anfang 1992 kehrte Arce nach Chile zu­rück und stellte sich in zahlreichen Men­schen­rechtsprozessen als Zeugin zur Ver­fügung. Diese manchmal tage­langen Ge­richts­termine und Gegen­überstellungen mit den Folterern und über­lebenden Ge­fan­genen waren eine wei­tere Aufarbeitung des Gesche­henen. “Die Hölle” beschreibt die meist auftrumpfenden, gelegentlich töl­pelhaften und nur selten reuigen Re­aktionen der DINA`Agenten, von denen der erste Teil des Buches han­delt.
Guerilleros sind keine
eisernen Helden
“Die Hölle” ist nicht nur deshalb ein un­gewöhnliches Buch, weil hier eine Ge­heim­dienstlerin ohne ghostwriter aus­kommt. In Arces Person und Buch kom­men die Perspektiven der Opfer und die der Täter über lange Passagen zur Deck­ung. Berichte über politische Haft sind fast nur aus der Perspektive der Opfer ge­schrieben und neigen dazu, die Täter und ihre Institutionen als nebulöse Monster zu über­zeichnen. Agenten­berichte wiederum sind Knül­ler, die das Leiden der Opfer al­len­falls der Sensation halber einbe­ziehen. Arce deckt eine Verstrickung von Tätern und Opfern auf, die eine dialektische Wahr­heit enthält. Ein Ap­parat wie die DINA konnte den mili­tanten Wider­stand nur zerschlagen, weil die schein­bar perfekt organisierten Unter­grundor­ga­ni­sa­tion­en triviale Fehler mach­ten, weil es In­konsequenz und Indiskretion gab und weil die Guerilleros eben nicht die eisernen Hel­den­figuren waren, für die sie sich selbst hielten. Spiegelbildlich entspricht dieser Entmythologisierung des Unter­grunds die Schwäche der Folterer, ihr Ge­stammel, wenn sie zur Rede gestellt werden, das Klappern der Teetasse in einer Verhandlungspause, das die zit­tern­den Finger eines sich selbstbewußt geben­den früheren Folterers verrät.
Luz Arce ist unfähig zum Haß. Sie weiß von ihren theologischen und thera­peutischen Freunden, daß die Buße vor der Vergebung kommt, daß sie sich ihrer Ag­gressionen gegen die Täter erst bewußt werden muß, ehe sie ihnen verzeihen kann. Sie sucht in ih­rem Buch die Ver­söhnung und bringt sie in religiösen For­meln ins Spiel, ver­gißt aber nie, daß sie sich und den Überlebenden des Terrors, vor allem aber den Angehörigen der “Ver­schwun­de­nen” statt der wohlfeilen Rede von Feindesliebe eine präzise Darstellung des Geschehenen schuldig ist.
Auch wo der autobiographische rote Fa­den des Buches subjektiv wird, bleibt die Autorin der Wahrheit treu. Sie ver­weigert den letzten Schritt, Un­ver­söhn­liches versöhnen zu wollen. Es wäre der deut­schen Ausgabe des Bu­ches gut be­kommen, wenn sie die Ob­jektivität, der sich Arce verpflichtet fühlte, gestützt hätte. Stattdessen wird das Buch in Klap­pen­text, Untertitel und Nachwort als “selbst­analytische Stu­die” und Identitäts­findung ange­boten. Die spanische Aus­gabe konnte mit einigem Recht davon aus­ge­hen, daß Orte, Personen und Ereig­nisse dem Publikum bekannt waren. Die deutsche Ausgabe hätte hier An­mer­kun­gen machen müssen. So wie das Buch nun vor­liegt, bleiben einige Pas­sagen un­verständlich. Ereignisse, die faktisch mit­einander verknüpft sind, stehen isoliert da.
Das Nachwort von Thomas Scheerer be­müht sich, einiges nachzutragen, was im Text hätte angemerkt werden müs­sen. Die Übersetzung, im ganzen ein­fühl­sam, schei­tert an einigen spezifisch chile­nischen Wendungen. Arces Text ist so ge­wichtig, daß er dieses Unge­schick ver­trägt.
Dieter Maier
Luz Arce, Die Hölle; eine Frau im chilenischen Geheimdienst – Eine Au­tobiographie. Mit einem Nach­wort von Thomas M. Scheerer. Aus dem Spani­schen von Astrid Schmitt-Böhringer. Hamburger Edition, Hamburg 1994, 405 S.

Favela-Einsätze gegen ramponiertes Image

Elói Pietá referierte im Berliner For­schungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL) zu staatli­cher Gewalt in Brasilien, und das heißt im extremen Fall: zu Folter, Mord und Tot­schlag durch die Polizei und parastaatliche Einheiten. Seit vielen Jahren ist Pietá als engagierter Gefängniskritiker und Mit­glied zahlreicher Ausschüsse zur Untersu­chung von Massakern und Folter in Brasi­lien bekannt. Staatliche Gewalt richtet sich laut Pietá in Brasilien ganz offen­sichtlich gegen die Armen, jede Statistik belege das. Hintergrund sei die soziale Ungleichheit, die in dem südamerikani­schen Land besondere Ausmaße ange­nommen habe.
“An den Verhältnissen in den brasiliani­schen Gefängnissen ist die soziale Unge­rechtigkeit deutlich ablesbar: 80 Prozent der Personen befinden sich dort wegen Ein­kommensdelikten”, das ist die erste Bi­lanz, die Pietá an diesem Abend vorstellt. Die zweite bezieht sich auf die gezielten Todesschüsse der Militärpolizei. “1990 kamen allein im Großraum Sao Paulo ca. 1000 Personen durch Schußverletzungen der Militärpolizei um. Es handelt sich da­bei meist um regelrechte Hinrichtungen, obwohl die Todesstrafe seit der Errichtung der Republik 1889 abgeschafft ist. 1992 waren es in Sao Paulo bereits 1.471 geset­zeswidrige Hinrichtungen.”
Die “Sicherheitsdebatte”
Elói Pietá ist einer der wenigen, der sich um kritische Erklärungsmuster für die Gewalt durch staatliche Apparate bemüht. Wie wir auch aus den hiesigen Medien wissen, wird normalerweise weggeschaut, wenn es um strukturelle Formen der Un­terdrückung geht. Spektakulärer, als Nachricht besser verkaufbar und im Wahlkampf stimmeneinträglicher ist da­gegen die “Sicherheitsdebatte”, deren strategische Dimension ausgeblendet wird. Pietá machte darauf aufmerksam, daß am vergangenen 15. November beide Kandidaten der Gouverneurs-Stichwahl des Bundesstaats von Rio de Janeiro vor­behaltlos hinter der Militarisierung der in­neren Sicherheit standen, hinter den ge­schaffenen Fakten in der Stadt Rio: der Armee um und in den Favelas.
Dabei verdient dieser Fall mehr als eine kritische Randbemerkung, hat hier doch die Armee neun Jahre nach Ende der Diktatur die politische Initiative offensiv in die Hand genommen. Den Schlüssel dazu lieferte der Think-Tank der militä­risch-wirtschaftlichen Elite Brasiliens, die Höhere Kriegsakadamie (ESG). Seit Ende der Ost-West-Konfrontation hat dort eine intensive Debatte über die zukünftigen Beziehungen zwischen Militär und Ge­sellschaft eingesetzt. Die alte Doktrin der Nationalen Sicherheit, die jede Opposition und jeden Unruhefaktor als Ausdruck des Einflusses der Sowjetunion bekämpft hatte, wurde mehr und mehr durch Kon­zepte ersetzt, die um die soziale Frage kreisten. Die Umdeutung der Widersprü­che des Landes in einen Fall von Krimi­nologie, von Notstand durch Armut, nahm seinen Lauf. Parteien und viele Nichtre­gierungsorganisationen gingen in den letzten Jahren auf Gesprächsangebote der ESG ein; es entstand ein wahres Netzwerk an Sicherheits-Diskussionen. Immer im Visier: Die BewohnerInnen der Favelas, die Delinquenten.
So entstanden auf der einen Seite elabo­rierte Konzepte der militärischen “Banditenbekämpfung”, gebilligt durch die großen Parteien. Bekannt wurde 1989 die Schrift “Struktur der Macht für das Jahr 2001”, vorgelegt von der ESG. Szenario ist dort u.a. der Einsatz der Ar­mee gegen Straßenkinder mit dem Ziel, sie zu vernichten.
Exekutionskommandos gegen die Armen
Auf der anderen Seite entwickelten sich nach 1989 die existierenden Spezialein­heiten zu wahren Exekutionskommandos. Pietá merkt zur Herkunft dieser Gruppen und zum Hintergrund der gesetzeswidri­gen Hinrichtungen an: “Die heutige Struktur der Militärpolizei ist während der Diktatur organisiert worden. Damals wur­den be­sondere Elite-Einheiten gegründet, zum Einsatz gegen die Aktionen der politi­schen Opposition. Mit dem Ende der Diktatur änderte sich der Aufgabenbereich dieser Spezialeinheiten. Sie wurden nun in erster Linie gegen die Armen eingesetzt, gegen die Armutskriminalität. Typisch für diese Einheiten ist ihre personelle Konti­nuität. Die Kommandanten der speziellen Repressionstruppen der 70er Jahre sind inzwischen die Karriereleiter hochgeklet­tert, sie befinden sich heute in der Kom­mando-Ebene der Polizei.”
Die tödliche Gewalt dieser Einheiten wird dadurch gefestigt, daß sie von den Me­dien, fast allen Parteien und der Regierung toleriert wird. “Die Regierung übernimmt zwar in der Öffentlichkeit nicht die Ver­antwortung dafür, aber doch sind die Morde inzwischen ein integraler Be­standteil der Regierungspolitik.” Eine deutliche Anklage. Pietá belegt sie mit einer Statistik aus dem Jahr 1993: Nach dem Gefängnismassaker in Carandiru (Sao Paulo, 2.-3. Oktober 1992) kam es zu einer Welle der Empörung auf nationaler wie internationaler Ebene, die Regierung geriet unter Druck. Herausgekommen war: Militärpolizisten hatten nach einer angeblichen Rebellion in einem Trakt mindestens 111 Gefangene umgebracht. Die Gefangenen saßen oder lagen in den Zellen auf dem Boden – so die Rekon­struktion – ,als sie von den Maschinenge­wehrsalven (u.a. Heckler & Koch) getrof­fen wurden. Verletzte wurden anschlies­send exekutiert.
Nach der großen Empörung sank im fol­genden Jahr 1993 die Zahl der gesetzes­widrig Hingerichteten im Großraum Sao Paulo auf 400 Personen. “Wenn die Re­gierung will,” so Pietá, “kann sie die Hin­richtungspraxis reduzieren und beenden, sie hat selbst den Beleg geliefert.”
Nun hat die Armee interveniert. Ein Ziel ist, so gibt sie bekannt, die Säuberung der Militärpolizei von korrupten Chefs und Einheiten. In den letzten Jahren hat die Militärpolizei in Rio de Janeiro tatsächlich ihr Gesicht verloren. Da waren die Men­schenrechtskampagnen gegen die geset­zeswidrigen Hinrichtungen und Folter­praktiken, da waren die Aufdeckungen von Todesschwadronen in ihren Einhei­ten, da waren die Verstrickungen großer Teile der Militärpolizei mit dem Drogen­handel. Konkurrenzkämpfe unter Drogen­kartellen waren vermutlich der Grund für Rachefeldzüge der Militärpolizei gegen Armensiedlungen. Zivilbevölkerung als Geisel, als Stimmvieh, als Hochburg ter­ritorialer Männerherrschaft – das ist die Realität für die Favela-BewohnerInnen von Rio de Janeiro.
Neue Konzepte?
Die aktuellen Nachrichten über den Ar­mee-Einsatz weisen darauf hin, so Pietá, daß sich an dieser Konstellation im Grunde nichts ändern werde. Neben den Elite-Einheiten der Armee gehe der Dro­genhandel sichtbar weiter. Die Profit­strukturen der großen Kartelle würden nicht angegriffen.
Das Kommando über diesen Einsatz ver­bindet Militär, Geheimdienste und Poli­zeiapparate in einer Hand. Vorbild dieser organisatorischen Zusammenfassung ist das Modell der CODI der Militärdiktatur; das waren die Einheiten, die Kommando-, Folter- und Mordfunktionen koordinier­ten. Heute heißt dieses Zentrum in Anleh­nung daran COSI (statt “Operations-zentrum zur Inneren Verteidi­gung” nun “Operationszentrum zur Inne­ren Sicher-heit”), und General Newton Cruz spricht bereits davon, daß nur noch die traditionelle Anbindung der Geheim­dienstebene fehlt.
Die Armee-Einheiten umstellen nach und nach die Favelas. Alle Zugänge werden kontrolliert. Wer keinen Ausweis hat, wird abgeführt. Kinder werden angehalten und entwürdigend von den hochbewaff­neten Soldaten durchsucht. Dann kommt der Sturm auf die Favela, mit Hilfe von Hubschraubern und Panzern. Zum ange­kündigten Krieg kommt es nirgends. Die bewaffneten Gruppen der Drogenkartelle und anderer Organisationen verschwinden einfach und kommen abends wieder, wenn die Soldaten nach Hause gehen.
Die Armee demonstriert, zunächst unter Ausschluß der JournalistInnen, dann mit aller Medienmacht, daß die BewohnerIn­nen der Armensiedlungen von wesentli­chen Rechten ausgeschlossen sind: Auf das Vorweisen eines richterlichen Durch­suchungsbefehls dürfe niemand pochen, so Elói Pietá. Vier Millionen Menschen wohnen in Rio und Sao Paulo in Slums, gegen sie gelte eine Art Notstand. Illegale Razzien und Interventionen der Armee unterstrichen dies.
“Aus der Geschichte wissen wir” – so Pietá – “daß die Militärs gerne dort blei­ben, wohin sie ausgerückt sind, und daß sie eher noch ihren Einfluß in andere Be­reiche der Gesellschaft ausdehnen. In je­der brasilianischen Großstadt gibt es Fa­velas, die nach dem neuen Konzept der Armee zu Orten ihrer Intervention werden können. Zwei Jahre lagen die neuen Pläne gegen die Armen in der Schublade der Militärstrategen. Ihr Problem war, wie sie das ramponierte Image der Militärs nach der Zeit der Diktatur und des Kalten Kriegs wieder aufpolieren könnten. Die Hysterie zu Fragen der inneren Sicherheit war nur Mittel zu diesem Zweck.”

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