Argentinien war in Lateinamerika neben Brasilien und Chile seit jeher ein bevorzugtes Einwanderungsland. Dies lag gewiß auch daran, daß die Regierung gemäß Artikel 25 der argentinischen Verfassung die Pflicht hatte, die europäische Einwanderung zu fördern. Juristisch gesehen hatten AusländerInnen dieselben Rechte wie die StaatsbürgerInnen: “Die Ausländer besitzen auf dem Gebiet der Nation alle Rechte des Staatsbürgers. Sie können eine gewerbliche, kaufmännische und sonstige berufliche Tätigkeit ausüben. Sie können Grund und Boden besitzen, ihn kaufen und sich seiner entäußern. Schiffahrt auf den Flüssen und an der Küste betreiben; frei ihren religiösen Kult ausüben, als Zeuge fungieren und sich den Gesetzen entsprechend verheiraten.” (Artikel 20). Vor 1933 eingewanderte Deutsche waren größtenteils selbständige Kaufleute, Ingenieure, Handwerker und Facharbeiter. Viele Handelsfirmen und Industrieunternehmen befanden sich in deutschem Besitz. Schwerpunkt waren die Baubranche und die chemische Industrie. Dieser ökonomische Einfluß wurde seit der Machtergreifung der Nazis nun auch politisch wirksam, da sie durch die Gleichschaltung der deutschen Einrichtungen und Organisationen bald in allen deutschen Fabriken, Handelsunternehmen und Banken bestimmten. Begünstigt wurde die Ausdehnung des deutschen Faschismus durch die politischen Verhältnisse in Argentinien. Der General Agustin B. Justo, von 1932 bis 1938 an der Macht, stand für eine antikommunistische und antidemokratische Politik.
Die liberale Einwanderungspolitik Argentiniens bestand nicht durchgehend. Für die Einwanderung günstige Zeiten waren die ersten Jahre nach 1933 und die Zeit der Präsidentschaft von Roberto Ortiz zwischen 1938 und 1940. Dieser orientierte sich außenpolitisch vor allem an Großbritannien und zeigte eine klare Ablehnung gegenüber nazistischen Organisationen. Nach 1933 stieg der Anteil der Deutschsprachigen sprunghaft an. Buenos Aires wurde zum Zentrum der antifaschistischen Arbeit.
Großen Stellenwert innerhalb der antifaschistischen Bewegung in Lateinamerika hatte “Das Andere Deutschland”. Anfangs arbeitete diese Bewegung als Hilfskomitee für eintreffende EmigrantInnen aus Deutschland und Spanien. Als der Flüchtlingsstrom nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges und der Niederlage Frankreichs zunahm, wurde “Das andere Deutschland” zum Sammelbecken der politischen Emigration in Argentinien. Ab Mai 1938 gab das Komitee eine gleichnamige Zeitschrift heraus, die vor allem durch den Herausgeber August Siemsen zu einem wichtigen Sprachrohr wurde. Die Zeitschrift wurde durch die steigende Zahl der EmigrantInnen nicht nur in Argentinien, sondern auch im übrigen Süd- und Nordamerika bekannt. In den 40er Jahren war die Auflage auf 4.000-5.000 Exemplare gestiegen.
Die einzige deutschsprachige Zeitung, die sich von Anfang an der Gleichschaltung der Nazis widersetzte, war “Das Argentinische Tageblatt”. Die bürgerlich liberale Zeitung wurde 1889 von dem Schweizer Auswanderer Johann Alemann in Buenos Aires gegründet. Sie bildete den Gegenpol zur deutschnationalen Tageszeitung “Deutsche La Plata-Zeitung”, die 1933 auf einen faschistischen Kurs einschwenkte. Zur gleichen Zeit veröffentlicht “Das Argentinische Tageblatt” folgenden Aufruf: “Deutsche Republikaner in Argentinien! Wollt ihr tatenlos zusehen, wie die Barbarei in der alten Heimat überhandnimmt? Könnt ihr gleichgültig bleiben, wenn Rassenphantasten und Machtwahnsinnige deutsches Ansehen schänden? Alles was freiheitlich und fortschrittlich denkt, muß jetzt eine geschlossene Front bilden. Schließt die Reihen um das Argentinische Tageblatt.”
In der Redaktion arbeiteten unter anderem Fritz Silberstein, Ex-Redakteur der “Deutschen Allgemeinen Zeitung”, Peter Bussemeyer, ehemaliger Lateinamerika-Korrespondent der “Frankfurter Zeitung, der Dichter Paul Zech und der Regisseur und Dramaturg Walter Jacob.
Ihre tägliche Berichterstattung über die Greueltaten der Nazis in Europa führte zu direkten Reaktionen der Auslandsorganisation der NSDAP in Form von Brandbomben, Boykott und Beschwerden.
Als die deutsche Gesandtschaft am 1. Mai 1934 die Hakenkreuz-Beflaggung deutscher Firmenniederlassungen anordnete, veröffentlichte die Zeitung am folgenden Tag Fotos mit den Filialen von Siemens, Thyssen und Bayer unter der Überschrift: “Die sich vor Hitler ducken.”
Die Zeitung wurde bereits am 20. April 1933 in Deutschland verboten. Es folgte die Ausbürgerung einiger ihrer Redakteure. Dem Herausgeber Dr. Ernesto Alemann wurde sein 1915 in Heidelberg erworbener akademischer Grad entzogen. Die Zeitung konnte den Boykott und die Zensur nur deshalb überstehen, da Ernesto Alemann in den 20er Jahren seine Druckerei zu einer der größten in Argentinien ausgebaut hatte.
Das “Argentinische Tageblatt” hatte Ende der 30er Jahre eine Auflage von mehr als 50.000 Exemplaren pro Tag.
Zum 50jährigen Bestehen am 29. April 1939 sandten bekannte antifaschistische EmigrantInnen ihre Glückwünsche: Heinrich und Thomas Mann, Sigmund Freud, Albert Einstein, Anna Seghers, Lion Feuchtwanger, Stefan Zweig.
Ein Verein widersteht
Eine weitere deutsche Einrichtung, die sich der Gleichschaltung der Nazis erfolgreich widersetzte, war der Verein “Vorwärts”.
Als ältester deutscher Arbeiterverein wurde er 1882 von deutschen ArbeiterInnen gegründet, die die Sozialistengesetze Bismarcks in die Emigration getrieben hatten. Der Vorwärts hatte die spanische Bezeichnung Asociación de Socorro Mutuos, Cultural y Deportiva Adelante und war eine Vereinigung für gegenseitige Hilfe, Kultur und Sport.
Er widmete sich zunächst der Verbreitung marxistischen Gedankengutes und versuchte Kontakte zu argentinischen ArbeiterInnen zu knüpfen. Ab 1884 gab der Verein die Wochenschrift “Vorwärts” mit dem Untertitel “Organ für die Interessen des arbeitenden Volkes” heraus.
Im Vereinshaus des “Vorwärts” gründete sich im Jahre 1895 die Sozialistische Partei Argentiniens. Durch seine Zusammenarbeit mit anderen Organisationen wurde der Verein bald eine der treibenden Kräfte der argentinischen ArbeiterInnenbewegung.
Im Jahre 1933 war von der anfänglichen Entwicklung jedoch nur noch wenig zu spüren. Im Gegenteil, der Verein wurde mehr und mehr zu einem Ort der Geselligkeit, wo Unterhaltung, Sport und Gesang das Zusammentreffen der Mitglieder ausmachte. Zunächst war es eher eine passive Resistenz, auf die die Nazis bei dem Versuch der Gleichschaltung stießen. Der Versuch den Verein mit Nazis zu unterwandern und somit umzupolen, mißlang jedoch. Der Vorstand hatte die Gefahr, die von der deutschen Gesandtschaft und der Auslandsorganisation der NSDAP ausging, rechtzeitig erkannt. Trotzdem gelang es den Nazis, dem Verein durch Drohungen, Erpressungen und Versprechen viele Mitglieder zu entziehen. Die Wende zur antinazistischen Aktivität trat ein mit dem Zustrom deutscher EmigrantInnen. In dem Vereinshaus gründete der deutsche Maler und Graphiker Carl Meffert (Clément Moreau) die aktive Kabarett- und Theatergruppe “Truppe 38”. Unter ihnen waren Pieter Siemsen, Walter Rosenberg und Renate Schotelius. Die durch Veranstaltungen eingenommenen Eintrittsgelder wurden an das Hilfskomitee für die in Frankreich internierten SpanienkämpferInnen und auch für deutsche AntifaschistInnen gespendet. Eine weitere Neugründung war die “Freie Deutsche Bühne” unter der Leitung von Walter Jacob. Über zehn Jahre hinweg bis 1949 gab es Jahr für Jahr bis zu dreißig Neuinszenierungen.
Die Pestalozzi-Schule im Widerstand
Doch nicht nur im politischen und kulturellen Bereich gelang es antifaschistischen Kräften der Gleichschaltung zu widerstehen. Als 1933 die deutschen Schulen in Buenos Aires unter den Einfluß der Nazis gerieten, gab es für viele Eltern keine Möglichkeit, dem faschistischen Gedankengut zu entgehen. Mit der Ankunft vieler Emigrantenfamilien nahm der Plan Gestalt an, eine neue Schule zu gründen. Zu diesem Zweck wurde am 1. März 1934 die Pestalozzi-Gesellschaft, Asociación Cultura “Pestalozzi” gebildet. Bereits am 2. April des gleichen Jahres konnte die Pestalozzi-Schule eröffnet werden. Der Lehrkörper bestand überwiegend aus überzeugten und aktiven Antifaschisten, wie August Siemsen, Erich Bunke, Clément Moreau. Die Schule wurde durch die Öffentlichkeitsarbeit der Pestalozzi-Gesellschaft weltweit bekannt und mußte bereits drei Jahre nach ihrer Gründung wegen Überfüllung der Klassen für weitere Aufnahmen gesperrt werden. “Wenn der Geschichts- und Deutschunterricht”, schrieb Dr. August Siemsen, der diese beiden Fächer ab 1936 unterrichtete, “beim Abgang von der Schule eine gewisse Vorstellung oder nur eine Ahnung davon bei den Schülern vermittelt hat, daß sie in die entscheidenste Zeit der bisherigen Menschheitsgeschichte hineingeboren sind, davon, wie die Entwicklung zu dieser unserer Geschichtssituation in großen Zügen sich vollzogen hat, wenn sie etwas erfassen von der großen uns Heutigen gestellten Aufgabe, eine gesellschaftliche Organisation zu schaffen, in der das Glück des einzelnen und das der Gesellschaft sich gegenseitig bedingen, dann hat dieser Unterricht das Höchste erreicht, was ihm zu erreichen möglich ist.”
Nach dem Ende des Krieges erfolgte auch aus Argentinien eine Rückwanderung nach Deutschland, wobei die meisten Flüchtlinge sich für den sowjetisch besetzten Teil Deutschlands entschieden. Viele blieben jedoch auch in Argentinien, wohl aus Angst vor der Zerstörung und Not, die sie in Europa erwartete. Wer hätte damals ahnen können, daß Jahrzehnte später der argentinische Staatsterror Zehntausende zur Flucht in die entgegengesetzte Richtung zwingen würde.
“Ausharren oder Flüchten”
Das Exil in Chile umfaßte rund 13.000 “deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens”, rassisch Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes, und 300 politische EmigrantInnen, auch unter ihnen zahlreiche deutsche Juden und Jüdinnen, die ihr Fluchtziel größtenteils zwischen 1937 und 1939 erreichten.
Bis zur Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 hoffte die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung, in Deutschland weiterleben zu können. Nach der ersten großen Fluchtbewegung des Jahres 1933 überwog bis ins Jahr 1936 der Entschluß, in der Heimat zu bleiben. Danach stiegen die Flüchtlingszahlen, auch in die lateinamerikanischen Länder, deutlich an. Der Prozeß der Loslösung von vertrauter Umgebung und gesicherten Lebensumständen brauchte Zeit. Dennoch gab es seit dem “Aprilboykott” gegen jüdische Geschäfte, Anwalts- und Arztpraxen kaum noch eine jüdische Familie, in der nicht die Worte Flucht, Auswanderung oder Emigration gefallen waren. Ihr Entschluß, Deutschland nicht zu verlassen, ist als ein Akt der Selbstbehauptung zu betrachten. Bis 1938 verstärkte die außen- und wirtschaftspolitische Interessenpolitik des NS-Regimes die Hoffnung der deutsch-jüdischen Bevölkerung, daß sich das Regime auf eine rechtliche Ausgrenzung beschränken würde. Trotz der zunehmenden gesellschaftlichen Ausgrenzung und Isolation schien das ökonomische Existenzminimum gewährleistet zu sein. Vor allem die ältere Generation, die der Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkrieges, hoffte, daß sich das Regime auf eine Dissimilation beschränken würde. Zwischen der Alternative “Ausharren oder Flüchten” zu wählen, fiel der jüngeren Generation leichter. Sie erreichten frühzeitig die europäischen Exilländer und die USA, während die ältere Generation in südamerikanische Länder emigrierte, die ihre Grenzen noch bis zuletzt offen hatten. So erklärt sich der hohe Altersaufbau des chilenischen Exils: Über die Hälfte der Flüchtlinge war über 50 Jahre alt.
Die Immigrationsaffäre
Das Einwanderungsland Chile galt am Ende der dreißiger Jahre als vorbildlich in seiner Haltung gegenüber ImmigrantInnen. Es war die Rede vom “Einwanderungsparadies Chile”. Im lateinamerikanischen Vergleich nahm die Andenrepublik proportional zur Einwohnerzahl die größte Zahl der Flüchtlinge auf.
Zwei Phasen chilenischer Flüchtlingspolitik sind zwischen 1933 und 1941 auszumachen. Die erste, während der konservativen Regierung des Präsidenten Arturo Alessandris bis zum Herbst 1938, war von einer mehrfachen Verschärfung der Asylgesetzgebung gekennzeichnet. Diese Politik wurde als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise bezeichnet und mit dem Schutz des heimischen Arbeitsmarktes begründet. Restriktionen wie die Quotierung der jüdischen Immigration und die berufliche Beschränkung auf Landwirte wiesen jedoch rassistische Tendenzen auf; bereits 1933 war eine Einwanderungsbeschränkung der “semitischen Rasse” beabsichtigt. 1937 wurde die Gesetzgebung neuerlich verschärft. Nur noch Verwandte ersten Grades bereits in Chile lebender AusländerInnen sollten Visa erhalten. Die zweite Phase (von 1938 bis 1941) während der Volksfrontregierung unter dem Präsidenten Pedro Aguirre Cerda charakterisierte demgegenüber eine großzügige, liberale Handhabung der Asylgesetzgebung, die sich neben Chile auch in anderen lateinamerikanischen Ländern insbesondere von der Einwanderungspraxis der USA unterschied.
Die politische Instrumentalisierung der jüdischen Immigration durch das seit 1938 verstärkt auftretende “Movimiento Nacionalsocialista de Chile” (MNS) und seinen “Führer” Jorge González von Marées erzwang 1940 den Rücktritt des Außenministers der Volksfrontregierung.
Das MNS schürt
den Antisemitismus
Der Verlauf dieser sogenannten “Immigrationsaffäre” zeigte die Gefahren einer Politisierung der Asylgesetzgebung. Antisemitische Vorurteile lebten auf, die vom MNS und einigen konservativen Senatoren in den Parlamentsdebatten diskussionsfähig gemacht wurden und in der Presse weite Verbreitung fanden. Der Rechtfertigungszwang, den das MNS der Volksfrontregierung aufzwang, ging mit nationalistischen Argumenten (“Chile den Chilenen”) einher und mündete in der Wahnidee einer “jüdisch-kommunistischen Weltverschwörung”.
Jorge González von Marées erhob eine Verfassungsklage gegen den Außenminister der Volksfront, Abraham Ortega, da er die Ehre der Nation mißachtet und Bestechungsgelder für “jüdische Visa” angenommen habe. Die Ergebnisse der eingesetzten Untersuchungskommission reihten weder der Abgeordnetenkammer noch dem Senat aus, um der Anklage des “chilenischen Führers” zuzustimmen. Dennoch hatte das MNS seine politische Absicht erreicht, eine antisemitische Stimmung in der Bevölkerung zu schüren.
Der Prozeß gegen den Außenminister offenbarte der (im übrigen nach einem gescheiterten Putschversuch der chilenischen Nationalsozialisten mit den Stimmen des MNS) Volksfrontregierung, daß sich die gesetzlichen Einwanderungsbeschränkungen – zum Glück der Verfolgten – umgehen ließen, da sie nur mit großem bürokratischen Aufwand kontrollierbar waren. Zugleich aber demonstrierte der Prozeß die schwerwiegenden Folgen einer lückenhaften Asylgesetzgebung, die ihre Ausführung wenigstens zum Teil dem Wohlwollen von Einzelpersonen anheimstellte. Sie erlaubte es den chilenischen Konsuln, im Ausland vom Außenministerium bereits erteilte Visa zu blockieren. Durch ein entsprechendes “Informationsschreiben” über die Person des Antragstellers oder der Antragsstellerin wurde der bürokratische Apparat erneut in Gang gesetzt, während den Verfolgten bereits die Deportation in ein Konzentrationslager drohte. Häufig erwiesen sich die Konsuln als größtes “Emigrationshindernis”, da sie dem nationalsozialistischen Regime durchaus positiv gegenüberstanden.
Der politische Druck der “Anti-Immigrationskampagne” zwang die Volksfrontregierung, ein Zeichen zu setzen, daß die Gesetzgebung nicht willkürlich auslegbar war: Mitte 1940 verhängte sie einen Einwanderungsstopp. Die humanitär begründete Asylpraxis der Volksfrontregierung fiel damit politischer Interessenspolitik und einer lückenhaften Asylgesetzgebung zum Opfer, deren unkontrollierbare Verfahrensregelung auf der anderen Seite vielen Flüchtlingen das Leben rettete.
Die Fluchtbewegung aus dem “Dritten Reich” hätte längst vor Kriegsbeginn einer flexibleren, internationalen politischen Antwort bedurft. Zumindest für einen kurzen Zeitraum ist die chilenische Volksfrontregierung diese Antwort nach der Flüchtlings-Konferenz von Evian im Sommer 1938 nicht schuldig geblieben.
Aus der Perspektive des Exils stellte sich das Aufnahmeland Chile, obschon die EmigrantInnen zu jenen “unbeliebten” verarmten Flüchtlingen gehörten, als “vorteilhaft” heraus. Insofern kann der Integrationsprozeß in Chile im lateinamerikanischen Vergleich nicht als typisch bezeichnet werden. So bot die Metropole Santiago den Flüchtlingen leichtere Integrationschancen als der Urwald Boliviens oder die Hauptstadt La Paz, die viele verließen, um nach Chile oder Argentinien weiterzuwandern. Im Gegensatz zu antisemitischen Anfeindungen in Bolivien erfuhren die Chile-EmigrantInnen auch eine freundlichere Aufnahme.
Intgration und
Akkulturation in Chile
Der Ankunft folgte an erster Stelle die Wohnungs- oder Pensionssuche. Falls keine Verwandten oder Bekannten in Santiago und Valparaíso lebten und die Neuankömmlinge abholten, vermittelte die CHILEHICEM, eine jüdische Hilfsorganisation, häufig eine Adresse. Auf denjenigen, so der Wiener Emigrant Walter Klein in seiner Autobiographie, dem es nicht gelang, “einen Landsmann für sich zu interessieren”, warteten Tage, Wochen, Monate “voller bitterer Not”, “bis es ihm glückte, irgendwo unterzuschlüpfen, im Hafen, auf dem Markt, als Hausdiener, als Landarbeiter, als irgendetwas.”
In den Pensionen, die zugleich zur Existenzsicherung früher eingetroffener Flüchtlinge beitrugen, wurden Mittagstische angeboten, so daß man teures Essen im Restaurant vermeiden konnte und dennoch Gelegenheit hatte, sich mit Bekannten oder Freunden über Möglichkeiten eines Neubeginns, freie Arbeitstellen und Wohnungsmieten auszutauschen. Die Pensionszimmer waren klein, manchmal ohne Fenster und mit billigen Möbeln ausgestattet. Aber sie hatten einen entscheidenden Vorteil: die Menschen konnten sich in deutscher Sprache verständigen. Allemal ein Umschlagsplatz der Informationen, entwickelten sich die Pensionen ebenso wie das Büro der CHILEHICEM zur Nachrichtenbörse der deutschen Emigration.
Ökonomische und
soziale Integration
Den Pensionen und möblierten Zimmern folgte, wenn alles gut ging, der erste soziale Aufstieg. Man wohnte zur Untermiete oder teilte sich mit anderen eine Wohnung, bis man schießlich eine eigene mieten konnte oder sich in einem besseren Stadtteil Santiagos ein Wohnhaus kaufte. Die ersten Monate bestanden aus Provisorien. Wer Umzugsgut verschiffen konnte, erst recht nach Kriegsbeginn, hatte großes Glück, wenn es auch manchmal absurd erschien, was man mitgenommen hatte: Kopfkissen, Federbetten, weißes Bettzeug, ein paar Tischtücher. Manche bastelten aus ihren Schiffskisten das erste Bett, den ersten Kleiderschrank oder Küchentisch, der zugleich als provisorischer Arbeitsplatz diente. Im “chilenischen Erfogsfall” ging der Integrationsprozeß von einer ersten Phase der Neuorientierung und Arbeitssuche über in eine Phase größerer finanzieller Absicherung und mündete schließlich in die Gründung einer neuen Existenz, die etwa dem gesellschaftlichen Status vor der Flucht entsprach. Die ImmigrantInnen trafen auf günstige wirtschaftliche Bedingungen. Sie ließen sich in der Hauptstadt nieder, und vielen bot die herstellende und verarbeitende Textilindustrie den Neueinstieg ins Wirtschaftsleben, so daß sich ein ganzer, aus Deutschland bekannter Industrie- und Gewerbezweig reproduzierte.
Die Bilanz der ökonomischen Integration fällt keineswegs nur positiv aus. Eine akademische Ausbildung, der Beruf des Rechtsanwaltes, Arztes oder auch Chemikers und Pharmazeuten standen der Existenzgründung in Chile ebenso wie in Bolivien oder Peru in Wege. So arbeiteten Rechstsanwälte als Lageristen, Büroangestellte, Verkäufer von Erfrischungen und Schreibwaren. Ärzte wurden Sanitäter, Krankenpfleger, Masseure, Begleiter von Fußballgruppen. Architekten wurden technische Zeichner und Innendekorateure; Apotheker arbeiteten in Drogerien und Laboratorien als gewöhnliche Angestellte.
Vor allem fiel den Frauen eine besondere Bedeutung zu, deren Arbeitskraft manchmal ein Absinken der Einwandererfamilien in die Armut verhindern half. In fast allen Veröffentlichungen über die Phase der Existenzgründung im Exil findet sich der Hinweis, daß Frauen die Hauptstützen in finanzieller und emotionaler Hinsicht waren. Psychologisch scheinen sie das Trauma der Flucht besser bewältigt zu haben und fanden sich in kürzerer Zeit mit der Lebensumstellung zurecht. Frauen übernahmen neben Haushalt und Kindern die Verantwortung für den finanziellen Unterhalt: sie wurden Sekretärinnen, Gouvernanten, Lehrerinnen, eröffneten Geschäfte, wurden Näherinnen, Kassiererinnen, Verkäuferinnen und Buchhalterinnen. Auch die Pensionen wurden häufig von Frauen geführt.
Jüdischer Widerstand
im Exil
Im Jahr 1936 wurde das Komitee gegen den Antisemitismus gegründet, das die Bekämpfung solcher Tendenzen im Aufnahmeland Chile und Aufklärungsarbeit über die nationalsozialistische Rassenpolitik zur Aufgabe hatte. Das Komitee wollte ohne jegliche politische Parteilichkeit auf nationaler und internationaler Ebene arbeiten und sich in der Tradition jüdischen Abwehrkampfes der Aufklärungsarbeit widmen. Seine Tätigkeit blieb eher zurückhaltend. Die ImmigrantInnen wurden dazu aufgefordert, sich nicht laut in deutscher Sprache zu unterhalten, bzw. in größeren Gruppen in der Öffentlichkeit aufzutreten.
Synagoge in der Avenida Portugal in Santiago de Chile. Zwischen ’45 und ’94 funktionierte hier das Gemeindezentrum von B’ne Jisroel.
Eine weitere Aufgabe bestand darin, andere Organisationen zu unterstützen. Eine davon organisierte Handel und Industrie jüdischer Herkunft, um strategisch jene Marktbereiche auszuschalten, die ansonsten von Nazis genutzt wurden.
Chile: kein Wunschziel
Eine Bilanz der Akkulturation, deren Probleme auch als generationsspezifisch zu charakterisieren sind, muß die “Rückwärtsgewandtheit des Exils” berücksichtigen.
Der Berufseinstieg fing nur zum Teil die durch die Flucht bedingte soziale Deklassierung auf und ließ nicht immer den Wiedereinstieg in eine bürgerliche Existenz erhoffen. Das Exil endete keineswegs mit dem Abschluß eines Arbeitsvertrages, der Eröffnung eines Geschäftes oder Kleinunternehmens in Chile. In Südamerika erkannte jeder sogleich die EmigrantInnen, und daß man überhaupt als Emigrant bezeichnet wurde, “das machte es umso schwerer, zum Immigranten zu werden.”
Da die Europäer in den Ländern Lateinamerikas den Ruf höherer Bildung genossen, kam die Bevölkerung den ImmigrantInnen zwar mit Respekt entgegen, allerdings ebenso mit ironischer Distanzierung von deutschem Fleiß und deutscher Pedanterie, Pünktlichtkeit und Arbeitsamkeit, aber auch Überheblichkeit. Dennoch zählten die Deutschen in Chile zur beliebtesten ausländischen Minderheit: Wer heute unter EmigrantInnen zu wählen hätte, meinte der von 1939 bis 1943 amtierende US-amerikanische Botschafter in Chile Claude G. Bowers, der würde die Deutschen vorziehen.
Von den Einheimischen als Deutsche betrachtet, repräsentierten die deutsch-jüdischen EmigrantInnen die von Chilenen als “typisch deutsch” bezeichneten Tugenden. Dieser Rückzug brachte teilweise eine enorme Abgrenzung gegenüber der chilenischen Kultur mit sich.
Indem sie die chilenische Staatsbürgerschaft erwarben, drückten die ImmigrantInnen zumindest in den ersten Jahren des Exils weniger ihre Dankbarkeit oder nationale Solidarität aus, als ihre Distanz zum Herkunftsland, das sie, wenn nicht bereits vor 1941, so doch seitdem kollektiv ausgebürgert hatte. Sie wollten die allenfalls als Rehabilitation, keinesfalls jedoch als Wiedergutmachung zu bezeichnende Wiedereinbürgerung nicht erwerben und sich nicht den hiermit verbundenen , häufig entwürdigenden und quälenden Verfahren aussetzen, das sich über Jahre hinziehen konnte. Die Chile-EmigrantInnen griffen die Frage der Staatsbürgerschaft insofern nicht im Kontext der Integration in das Exilland auf- vielleicht, weil man erfahren hatte, wie wenig die Staatsbürgerschaft zählen konnte.
Dennoch beantragte die zweite Generation der NS-Verfolgten und ihre Kinder die chilenische Staatsbürgerschaft offenbar weder sehr früh noch in überwiegender Mehrheit. Gründe hierfür sind nur mutzumaßen. Sie können wie in Argentinien auf die unsicheren politischen Verhältnisse zurückzuführen sein, die viele ImmigrantInnen in Lateinamerika zur Wiederannahme der deutschen Staatsbürgerschaft veranlaßten. Im Jahr 1970 führte beispielsweise die Wahl Salvador Allendes zum Staatspräsidenten Chiles, die eine weitaus stärkere Fluchtbewegung der deutschsprachigen Emigration auslöste, als der Putsch der Militärs unter General Augusto Pinochet 1973, zu einem Anstieg der Wiedereinbürgerungsanträge. Über 2.000 jüdische EmigrantInnen verließen 1970 in kürzester Zeit ihr Exilland.
“Selbstisolierung”
Den älteren jüdischen EmigrantInnen war und ist es bewußt, daß sie trotz jahrelanger Ansässigkeit im Land “zu ihren einheimischen Nachbarn noch immer nicht den richtigen Kontakt gefunden haben.” Handelte es sich um eine “Selbstisolierung”? Ein Teil der jüdischen EmigrantInnen, von denen hier die Rede ist, schloß sich der 1938 gegründeten deutsch-jüdischen “B`ne Jisroel” an, um an ihrem Gemeindeleben, den Gottesdiensten, Veranstaltungen etc. teilzuhaben. Die Gemeinde übernahm die Funktion einer “Heimat in der Fremde” und gab den Flüchtlingen Halt und soziale Sicherheit. Die Teilnahme beziehungsweise Mitgliedschaft implizierte nur in gewissem Maße eine Hinwendung zum religiösen Leben, in jedem Fall aber zu einem bewußten Judentum und dessen nationaler Heimat Israel.
Der eingangs erwähnte paradoxe Eindruck eines Rückzugs auf das Deutschtum sollte nicht vorwiegend als Abgrenzung von der Kultur des Aufnahmelandes, welche einzelnen häufig fremd geblieben ist, oder als “Kolonistenmentalität” bewertet werden. Die EmigrantInnen bewahrten sich ein “deutsches Kulturleben”, von dem sie sich nicht trennen wollten, und überbrückten auf diese Weise die Fremdheit in der neuen Umgebung. Unter den deutsch-jüdischen ImmigrantInnen der ersten beiden Generationen bildete sich vielfach eine “dreigeteilte Identität” heraus: Man bekannte sich zum Judentum, fühlte sich der deutschen Kultur verbunden und betrachtete das Aufnahmeland weit über das Gefühl der Dankbarkeit hinaus als seine Heimat. Die chilenische Gesellschaft hat diese Identität, wenngleich sie nach Auschwitz durchaus einer erneuten Selbstversicherung bedurfte, keinem Assimilationsdruck ausgesetzt. Weitaus die Mehrheit der deutsch-jüdischen EmigrantInnen ist in Chile geblieben, eine Rückkehr nach Deutschland stand nicht zur Diskussion.
Von der Autorin liegt eine Dissertation über das “Exil in Chile” vor. Dort wird auch das politische Exil und die Haltung der deutschen Kolonie berücksichtigt.
Irmtrud Wojak, Exil in Chile. Die deutsch-jüdische und politische Emigration während des Nationalsozialismus 1933-1945, Berlin, METROPOL;1994)
Stabilität auf Zeit
Die kleine Minderheit von vier Millionen BürgerInnen, die nach Jahren der Deindustrialisierung und Deregulierung von der argentinischen Mittelklasse noch übriggeblieben sind, haben wohl am meisten von der Währungsstabilität profitiert. Gestiegene Gehälter in der Privatwirtschaft und in leitenden Positionen der Verwaltung bei einer erleichterten Kreditaufnahme haben ihr Zugang zu den modernsten Importprodukten ermöglicht. In den Jahren galoppierender Inflation unter der Regierung Alfonsín schien ein gewisser Nachholbedarf entstanden zu sein, der in den letzten Jahren befriedigt werden kann wie zu Zeiten des “süßen Geldes” (plata dulce) unter der letzten Militärdiktatur. In erster Linie wurden die flüssigen Dollar-paritätischen Pesos in langlebige Konsumgüter, Appartements und Reisen umgesetzt.
Mehr denn je ist der Konsum nicht nur auf die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet, sondern darauf, das neu Erworbene zeigen zu können. Ein Auto sollte importiert sein, auch wenn auf dem heimischen Markt vergleichbare Qualität zu bekommen ist. Bei Bekleidung und Schuhen zählt nichts mehr als das sichtbare Markenzeichen. Reisen werden danach gebucht, was gerade “in” ist. Dazu zählen Disneyland in Orlando, Florida, oder Cancun in Mexico.
Heute fährt der Mittelklasse-Argentinier allerdings auch nach Punta del Este, in den uruguayischen Badeort der “Reichen und Schönen” des Cono Sur, und wenn’s nur für eine Woche ist.
Konsum und Image
als Lebensinhalt
Natürlich wird auch an die Bedürfnisse der Kinder gedacht. So rechnete das bedeutendste politische Wochenmagazin “Noticias” kürzlich vor, was die Sprößlinge der Mittelklasse so benötigen: Für Studium, Unterhaltung, Bekleidung, Miete und Fahrtkosten kommen monatlich ca. 850 US-Dollar zusammen, etwa das Doppelte eines argentinischen Mindestlohns.
Viele haben sich zur Erfüllung dieser lang gehegten Wünsche bis über die Ohren verschuldet. Selbstverständlich sind Kredite in US-Dollars aufzunehmen. Ansonsten gilt nach wie vor die beliebte Zahlungsweise mit Kreditkarte, wobei man bis zur Abbuchung im besten Fall zwei Monate gewinnen kann, und es wird auf Raten gekauft.
Angesichts seiner eigenen Verschuldungssituation resümiert ein selbstkritischer Gesprächspartner, die ArgentinierInnen hätten wohl eine ökonomische Harakiri-Mentalität entwickelt: Was zähle, sei der Konsum im Augenblick, auch wenn die Verschuldung beispielsweise bei einer Abwertung des Peso sicher in den finanziellen Ruin führe.
Für Aufsehen sorgte Ende 1994 die Veröffentlichung der offiziellen Arbeitslosenstatistik. Mit über 13 Prozent wurde ein neuer Rekord aufgestellt, in einem Land, dem sein Präsident vor fünf Jahren eine “produktive Revolution” versprochen hatte. Gleich nach der Veröffentlichung meldeten sich Regierungsvertreter und schließlich der Präsident, an dem Besorgnis über die soziale Lage im Lande sonst abperlen wie an einem Regencape, höchstpersönlich zu Wort, um die Daten als übertrieben zu dementieren. Bei höchstens 9 Prozent liege die Arbeitslosigkeit, rechnete Menem vor.
Tatsächlich jedoch, so belegt Susana Torrado, ehemals hohe Funktionärin des nationalen Statistikinstituts INDEC, haben rund 40 Prozent der ArgentinierInnen Probleme mit dem Arbeitsplatz. Offiziell würden jedoch lediglich die Personen statistisch berücksichtigt, die sich arbeitslos gemeldet hätten. Wer sich dagegen innerhalb der letzten Woche nicht mehr arbeitslos gemeldet habe, falle aus der Statistik. Ebensowenig tauchten diejenigen in der Datensammlung auf, die hoffnungslos unterbeschäftigt seien, mit Einkünften unterhalb des Existenzminimums auskommen müßten oder schwarz arbeiteten. Dabei gebe es von Mal zu Mal weniger Lohnabhängige und immer mehr unabhängig Beschäftigte, womit in erster Linie informelle Tätigkeiten gemeint sind – etwa ambulante HändlerInnen.
An der Spitze der Arbeitslosenstatistik stehen Städte wie San Miguel de Tucumán, die wichtigen Hafenstädte Bahía Blanca und Rosario und die Provinzhauptstadt Santa Fé. Im Großstadtgürtel um Buenos Aires liegt die offizielle Arbeitslosenquote bei 14,9 Prozent, und die Industriebetriebe sterben weiter. Gerade hier hat man Angst vor den Konsequenzen der Marktöffnung im Zuge des Mercosur. Der brasilianischen Industrieproduktion fühlt man sich nicht gewachsen. Schon jetzt sind in den Straßen zahlreiche Volkswagen do Brasil zu sehen, und auf den Landstraßen aus Richtung Norden rollen immer mehr brasilianische LKWs, ob nun mit Autoteilen oder Brahma-Bier beladen.
Der Besitzstand
wird verteidigt
Wichtigste Antwort der Politik auf die wachsende Arbeitslosigkeit ist ein Gesetzespaket zur weiteren Flexibilisierung der Arbeit. Erwartet werden Produktivitätszuwächse und eine Verbesserung der internationalen Konkurrenzsituation, denn die Arbeitskraft sei in Argentinien nach wie vor teurer als in den Nachbarländern – versprochen wird eine rasche Abnahme der Arbeitslosenzahlen.
Publikumswirksamer ist allerdings eine mit Unterstützung der Medien betriebene Kampagne gegen illegal Beschäftigte, die überwiegend aus Chile, Peru und Bolivien kommen. Daß diese auf dem Bau und in einfachen Dienstleistungen Eingesetzten zahlenmäßig eigentlich keine Rolle spielen, stört dabei wenig. “Die Chilenen nehmen uns die Arbeitsplätze weg”, heißt es.
Der Staat, hier personifiziert durch den Innenminister, veranlaßt Razzien, und das Fernsehen setzt alles entsprechend ins Bild: Illegale ausländische Arbeiter werden wie Schwerverbrecher in Handschellen abgeführt, als erste Meldung in den Abendnachrichten. Die neuesten Daten des INDEC belegen dagegen: Selbst wenn alle in den letzten fünf Jahren nach Argentinien gekommenen Arbeitskräfte in ihre Heimatländer zurückkehren würden, sänke die Arbeitslosigkeit um lediglich 0,2 Prozent.
Insbesondere im Großstadtgürtel von Buenos Aires sind Armut und soziale Ungerechtigkeit weiter gewachsen. Hier teilen sich 54 Prozent der am unteren Rand der Einkommenspyramide Angesiedelten untereinander ebensoviel wie die 6 Prozent an ihrer Spitze. Die sozialen Konflikte und die Kriminalität nehmen drastisch zu, und auch hier reagiert der Staat demonstrativ mit harter Hand. Immer häufiger werden besonders jugendliche Delinquenten von Polizisten umgebracht.
Medien, Glanz und Glitter trüben die Wahrnehmung
Während die Reichsten in privat bewachten Vierteln des Hauptstadtbezirks wohlgeschützt leben, sind in dieser Region angesiedelte Kleinunternehmen und Mittelklasse-Wohnungen Ziel von Einbrüchen und Raubüberfällen. Immer häufiger verteidigen die Besitzer ihr Eigentum mit der Waffe in der Hand, und die Justiz zeigt dabei weitgehend Verständnis.
Vor etwa zwei Jahre erregte der Fall eines Mannes Aufsehen, dem mehrfach sein Cassettenrecorder aus dem Wagen gestohlen worden war. Als er bei einem weiteren Diebstahlversuch den Täter stellen konnte, erschoß er ihn auf offener Straße. Nach wie vor befindet sich der Schütze, ein Ingenieur und braver Familienvater, auf freiem Fuß. Das Gericht gestand ihm zu, er habe sich in einer Schocksituation befunden.
Ähnliches werden wohl ein Vater und sein Sohn geltend machen können, die im Dezember nach dem Diebstahl ihres Autos den potentiellen Täter verfolgten, mit mehreren Schüssen verletzten, auf ein leeres Grundstück warfen und dort verbluten ließen.
Daß die Wahrnehmung der wirklichen sozialen Lage allzumal bei der konsumorientierten Mittelklasse getrübt erscheint, dafür sorgen die Werbung und die Medien, allen voran das Fernsehen. Geradezu obszön erscheinen in diesem Kontext die Hinweise auf Schlankheitskuren, Diäten und Fitness, die neben der Markenkleidung die äußere Erscheinung der modernen Argentinierin und ihres männlichen Pendants vervollkommnen sollen. Vor- und Nachmittagsprogramme des Fernsehens sind mit Telenovelas argentinischer Produktion, venezolanischen oder mexikanischen Culebrones, die unendlichen Fernseheserien, oder Spielshows gefüllt.
Unterhaltung ist alles, je greller und lauter, um so besser. Die höchsten Einschaltquoten erzielt nach wie vor die nie alternde Mirta Legrand, die seit Jahren Gäste aus Politik, Sport und Showbusiness zum Smalltalk beim Mittagessen einlädt. Einmal im Jahr darf auch der Präsident kommen und nach Herzenslust plaudern.
In den Abendprogrammen dominieren seit zwanzig Jahren dieselben Namen die Diskussionssendungen. Bernardo Neustadt (“Tiempo Nuevo”) verbreitete seine reaktionären Weisheiten schon unter der Militärdiktatur. Mariano Grondona tat dies früher mit ihm gemeinsam, hat mittlerweile jedoch sein eigenes Programm (“Hora Clave”). Die beiden Altmeister haben inzwischen mit “Hadad y Longobardi” eine jugendliche Konkurrenz bekommen. Und bei allen haben in den letzten Monaten Sex und Crime als Thema gegenüber der Politik an Gewicht gewonnen.
Die Korruption ist öffentlich wie selten – macht nichts
Die Korruption grassiert. Pagina/12 als einzige bedeutende kritische Tageszeitung mit einer Auflage von über 100.000 Exemplaren denunziert zwar nach wie vor unermüdlich die zahlreichen Korruptionsfälle. Aber auch sie mußte zum Jahresende feststellen, daß zwar einige Fälle vor Gericht verhandelt wurden, kein einziger aber auch zur Verurteilung kam.
Zwar stehen über 70 hohe FunktionäInnen und persönliche FreundInnen des Präsidenten aus Unternehmerkreisen vor Gericht, aber längst ist die Justiz selbst Teil des Korruptionssystems geworden. Um so unverfrorener wird in die Kameras der Nachrichtenprogramme gelogen, um so heftiger werden JournalistInnen der Verleumdung beschimpft.
Während die argentinischen RentnerInnen nach wie vor für die pünktliche Auszahlung ihrer Renten demonstrieren müssen, wurden in der staatlichen Rentenversicherung PAMI in den Jahren der Menemregierung 1500 sogenannte ñoquis in den Gehaltslisten geführt. Das sind Funktionäre, die lediglich am Monatsende an ihrem Arbeitsplatz erscheinen, um den Gehaltsscheck entgegenzunehmen. Hier bediente die peronistische Regierung ihre Klientel teilweise mit Gehältern zwischen 3.000 und 5.000 US-Dollar monatlich.
Lästig scheint die Denunziation der Korruptionsskandale in den Medien für die Regierung trotzdem zu sein. Wie sonst erklären sich die Versuche der Regierung, die Presse mundtot zu machen. Der dritte Anlauf wurde Anfang des Jahres gestartet: Die neueste Gesetzesvorlage zum sogenannten Ley Mordaza (Knebel) wurde von Menem selbst eingebracht. Es droht JounalistInnen, die “Verleumdungen” publizieren oder “falsch berichten”, mit hohen Strafen. Für die veröffentlichenden Medien sollen Geldstrafen bis zu 200.000 US-Dollar und Verpflichtungen zur Entschädigung der Betroffenen bis zu 500.000 US-Dollar fällig werden.
Ein weiterer Schritt, kleinere, kritische Medien ökonomisch auszuschalten, ist die Verpflichtung, sich unabhängig von ihrer Größe in Höhe von 500.000 US-Dollar versichern zu lassen. Zusätzlich soll eine neue Rechtsfigur geschaffen werden, die sogenannte “falsche Beschuldigung”. Danach dürfen keine Verdächtigungen, die “auf falschen Tatsachen beruhen”, mehr veröffentlicht werden.
Die Mittelklasse steckt ob ihrer vielen Kredite tief in der menemistischen Schuldenfalle. Sie wird den Präsidenten wählen, der am glaubwürdigsten die Fortsetzung der Währungsstabilität verspricht. Menem machte mit der Wahl des jetzigen Innenministers Ruckauf zu seinem Kandidaten auf die Vizepräsidentschaft ein weiteres Angebot an die Mittelklasse.
Ruckauf, unter Isabel Peron 1975 schon einmal Minister, ist ein aalglatter Law and Order-Vertreter. Er verspricht hartes Durchgreifen gegen Kriminelle und Schutz des Besitzstandes. Menem selbst scheint Garant für den Wahlsieg im alles entscheidenden Stimmenbezirk des verarmenden Großstadtgürtels von Buenos Aires.
Ausschlaggebend auch hier: die Währungsstabilität nach den Jahren der Geldentwertung unter der Regierung Alfonsín mit seiner “Radikalen Bürgerunion”, UCR. Zudem bietet eben diese zweite große Volkspartei keine Alternative. Ihr erst vor wenigen Monaten gekürter Spitzenkandidat Massachessi, bisher Gouverneur der Agrarprovinz Rio Negro, scheint von vorneherein weit abgeschlagen. Auch er verspricht die Fortführung der Stabilität allerdings mit mehr sozialer Gerechtigkeit. Die wichtigsten wichtigsten Schritte der ökonomischen Umstrukturierung hatte die UCR in den letzten Jahren mitgetragen.
Der politische Pakt zwischen den beiden großen Parteien, der zur Verfassungsänderung zwischen dem aktuellen Präsidenten und seinem Vorgänger arrangiert worden war, scheint für die WählerInnen ein weiterer Grund, sich eher für eine bereits bekannte Regierungspolitik zu entscheiden, anstatt mit der UCR ein neues Risiko einzugehen.
Die Frente Grande (FG), das linke Oppositionsbündnis, hat in den letzten Monaten vor allem personalpolitisch von sich hören lassen. Unter Protest gegen den Führungsstil und den Verlust linken Profils trennte sich Pino Solanas von der FG. Es gehe anscheinend nur noch darum, wer Präsidentschaftskandidat werde, monierte der Filmemacher. Inzwischen hat er selbst eine neue Partei gegründet, die ihn sicher als Präsidentschaftskandidaten aufstellen wird.
In der FG selbst ist der peronistische Dissident Chacho Alvarez Spitzenkandidat. Unter seiner Führung schloß sich die FG mit anderen Oppositionsgruppierungen zusammen, deren wichtigste von einem weiteren Sprößling des Antimenemismus, dem Gouverneur von Neuquén, José Octavio Bordón, geführt wird. FREPASO heißt dieses neue Oppositionsbündnis nun, Frente País Solidario.
Zum Gründungsakt im Dezember in Buenos Aires kamen immerhin rund 10.000 Menschen. Nach der endgültigen Verabschiedung von radikalen Positionen etwa der PC und der Vereinigung mit Bordón, der allerdings ein relevanteres Stimmenpotential mitbringt, soll nun bald durch eine offene Wahl entschieden werden, wer von den beiden Ex-Peronisten gemeinsamer Präsidentschaftskandidat der FREPASO werden soll. Bisher treten Alvarez und Borbón gemeinsam auf, Hauptthemen: Korruption und soziale Ungerechtigkeit. Auf ihr wirtschaftspolitisches Konzept angesprochen, läßt sich die Kernaussage der Linksopposition jedoch so zusammenfassen: “Wir garantieren die Stabilität besser als der Menemismus”, so Chacho Alvarez in einem Interview.
Bei solch offensichtlichem Mangel an politischen Alternativen scheint die Wiederwahl Carlos Menems sicher. Politik ist darauf reduziert, Währungsstabilität zu garantieren. Obwohl offensichtlich ist, daß auch die jetzige Regierung dies längerfristig nicht kann, hat die argentinische Mittelklasse doch keine Wahl, sie hat nur eine Hoffnung und eine Option.
Hoffen auf ein Wunder
In fetten Lettern wettert die oppositionelle Tageszeitung “La República” gegen Präsident Fujimori. Einsam hängen die politischen Schlagzeilen zwischen Busen- und Revolverblättern in der abendlichen Kälte am Zeitungsstand auf der Plaza de Armas in der südostperuanischen Provinzstadt Puno. Alle anderen Tageszeitungen sind ausverkauft. “Haben Sie keine andere Zeitung?”. Die Kundin ist verärgert. “Die da ist gegen den chino, die will ich nicht.”
Fujimori scheint sich auf seine Wählerschaft verlassen zu können. Rund 40 Prozent der Wahlberechtigten sollen, so die Umfragen, sichere Fujimori-Wähler sein. Die noch nicht ganz Entschlossenen mit Fujimori-Tendenz eingerechnet, werden dem Präsidenten zwischen 45 und 53 Prozent vorausgesagt. Sein schärfster Rivale, Ex-UNO-Generalsekretär Pérez de Cuéllar, bringt es gerade einmal auf 20 bis 22 Prozent.
Der Wahlkampf dümpelt vor sich hin. “El Perú no puede parar”, Peru kann nicht anhalten, verkündet das lächelnde Gesicht des Präsidenten von den Wahlplakaten. “Weiter so” auf perunaisch. Und damit trifft er wohl die Hoffnung der Mehrheit der Bevölkerung. In den zweieinhalb Jahren seit der Verhaftung von Sendero Luminoso-Chef Abimaél Guzmán hat man sich daran gewöhnt, wieder ohne die ständige Bedrohung durch Bombenanschläge zu leben. Auch die Zeit des wirtschaftlichen Chaos mit der Hyperinflation unter Präsident Alan García ist schon fünf Jahre her. Diese Erfolge kann sich Fujimori gutschreiben. Er ist für seine Anhänger der Garant dafür, daß die dunkle Vergangenheit nicht wiederkommt, und er vermittelt anhand von Symbolen den Eindruck, daß es aufwärts geht.
Nicht zufällig verbindet Fujimori seine Wahlkampfauftritte vorzugsweise mit der Einweihung neuer Schulen. Er weiß, daß Bildung für die Kinder besonders auf der Prioritätenliste von armen Eltern ganz oben steht. Auch wenn sich an der Armut für viele nichts geändert hat, macht sich an solchen Symbolen die Hoffnung fest, daß es langsam, Schritt für Schritt, wieder besser werden kann.
Pérez de Cuéllar – wer steht hinter ihm?
Die Opposition hat unterdessen alle Mühe, starke Argumente gegen den Präsidenten zu finden. Javier Pérez de Cuéllar verfügt zwar über ein hohes Prestige durch seine Vergangenheit als UNO-Generalsekretär, aber den 74-jährigen zum Präsidenten zum wählen, ist für viele doch noch eine andere Frage.
Auch Pérez de Cuéllar tritt als Unabhängiger an, eine unverzichtbare Voraussetzung, um in der peruanischen Politik in diesen Jahren Erfolg zu haben. Die traditionellen politischen Parteien, “die Politiker” überhaupt, sind in der öffentlichen Meinung gründlich diskreditiert. So liegen in den Umfragen denn auch alle Parteien, die früher die peruanische Politik bestimmt haben, deutlich unter fünf Prozent: sowohl die bürgerliche Acción Popular von Ex-Präsident Fernando Bellaúnde Terry, der von 1980 bis 1985 regierte, als auch die APRA von Alana García, der von 1985 bis 1990 an der Spitze des Staates stand. Nicht besser ergeht es Izquierda Unida, der “Vereinigten Linken”, die in den 80er Jahren den Kern der Opposition darstellte.
Wenn Pérez de Cuéllar auch als Unabhängiger nur wenig Leidenschaft entfachen kann, liegt das nur zum Teil an seinem distanzierten persönlichen Stil. Die “Union für Peru” (UPP), die zur Unterstützung seiner Kandidatur gegründet wurde, vermittelt den Eindruck, außer der Ablehnung von Fujimori und der Unterstützung von Pérez de Cuéllar keine eindeutige politische Linie zu haben. In der UPP haben sich aus allen politischen Richtungen diejenigen zusammengefunden, die nach dem Motto “Wenn überhaupt einer eine Chance gegen Fujimori hat, dann Pérez de Cuéllar” auf das richtige Pferd setzen wollen. Viele Politiker sind dabei, die früher in anderen Parteien waren und deren Unterstützung für den Kandidaten eher kontraproduktiv ist. Das Mißtrauen ist groß, über Pérez de Cuéllar könnten doch wieder die alten Politiker an die Macht kommen, von denen sich Fujimori so erfolgreich abgrenzt.
Die Oppostition auf der Suche nach Themen
Die Argumente, mit denen Pérez de Cuéllar verusucht, gegen Fujimori Wahlkampf zu betreiben, finden in der Öffentlichkeit nur ein begrenztes Echo. Zum einen fordert er “soziale Marktwirtschaft” für Peru. Zweifellos ist die Massenarmut das größte soziale Problem des Landes, aber die Aussagen Pérez de Cuéllars dazu bleiben vage. Slogans wie “Arbeit für alle” sind nicht glaubwürdig in einem Land, in dem es für viele Menschen zur Alltagserfahrung gehört, vor Wahlen immer wieder die gleichen Versprechen zu hören, um dann in den folgenden Jahren doch wieder ganz auf sich selbst angewiesen zu sein.
Pérez de Cuéllar muß eine Gratwanderung betreiben. Zum einen muß er Fujimori als Präsident der Massenarmut angreifen, zum anderen darf er aber keinen Zweifel daran lassen, daß er die Stabilitätspolitik Fujimoris im wesentlichen weiterführen will. Die Angst vor einer neuen Phase von Instabilität und Inflation scheint größer als die Hoffnung, durch Sozialprogramme im großen Stil könnten sich die Lebensbedingungen tatsächlich dauerhaft verbessern.
Der Ecuador-Konflikt: als Wahlkampfthema ein Flop
Der Grenzkrieg mit Ecuador schien zu einem Wahlkampfschlager für Pérez de Cuéllar zu werden. Nachdem Fujimori eher unfreiwillig in diesen Konflikt hineingeschlittert war (vgl. LN 249), beging er alle nur denkbaren Fehler. Zum Treffen der Präsidenten der Andenländer in Venezuela kurz nach Ausbruch des Konfliktes reiste er gar nicht erst an und überließ dem ecuadorianischen Präsidenten Durán Ballén das propagandistische Feld.
Kurz darauf brüskierte er Chile – immerhin einer der Garantenstaaten des Protokolls von Rio – mit der Bemerkung, Peru sei militärisch deshalb so außerordentlich stark, weil in den 60er Jahren, im Blick auf einen möglichen Krieg gegen Chile aufgerüstet worden sei. Die Aussage war vielleicht sachlich nicht falsch, das öffentliche Echo aber war verheerend. In Chile wurde besorgt kommentiert, man müsse sich vor dem Nachbarn im Norden wohl in Acht nehmen. In Ecuador konnte Durán Ballén triumphierend darauf verweisen, Peru sei eben immer schon ein kriegslüsterndes Volk gewesen. In der oppositionellen Presse wurde darüber hinaus ausführlich diskutiert, wellche taktischen und strategischen Fehler auf der militärischen Ebene gemacht wurden. Der Grenzkrieg ist für Ecuador zu einem diplomatischen und militärischen Erfolg geworden und nicht nur das: Durch geschicke Pressearbeit steht Peru international als der Aggressor da, Ecuador dagegen als Opfer.
Das Wochenmagazin Caretas, das im Wahlkampf vehement Partei für Pérez de Cuéllar ergreift, ließ es sich nicht nehmen, den Oppositionskandidaten ausführlich zu Wort kommen zu lassen. “Ich hätte einfach ein Flugzeug genommen und die vier Präsidenten der Garantenstaaten besucht, um die Verletzung des Protokolls (von Rio de Janeiro) anzuzeigen”, so Pérez de Cuéllar. Die Botschaft war deutlich: Der Staatsmann Pérez de Cuéllar mit dem ganzen Gewicht seiner inernationalen Erfahrung hätte den Konflikt diplomatisch beigelegt, Fujimori dagegen war dazu nicht fähig. Aber der Versuch, aus den peinlichen Fehlern der Regierung Fujimori Kapital für Pérez de Cuéllar zu schlagen, ist bis jetzt ins Leere gelaufen. BeobachterInnen in Lima bestätigen, daß der Verdruß über den Verlauf des Konfliktes zwar weit verbreitet ist, das Thema für die Entscheidung bei der Präsidentschaftswahl aber keine wesentliche Rolle spielt.
Nur Realos haben eine Chance
Der Wahlkampf dreht sich weiterhin um die Frage, ob für die Stabilität des Landes kein Weg an Fujimori vorbei führt, oder ob Pérez de Cuéllar doch in der Lage sein könnte, mit seinem bunt gemischten Team eine gangbare Alternative für die nächsten fünf Jahre zu bieten. Auch für viele, die keine begeisterten Anhänger Fujimoris sind, ist die viabilidad der nächsten Regierung, die reale Chance, fünf Jahre lang Politik zu betreiben, ohne sich mit internen Streitereien zu blockieren, ein starkes Argument für den amtierenden Präsidenten. Und so wird Fujimori wohl auch einige Stimmen von denen bekommen, die sich für ihn als kleineres Übel gegenüber den Risiken einer Regentschaft Pérez de Cuéllars entscheiden.
Fujimori hat die Wahl fast, aber noch nicht ganz gewonnen. Sollte er es nicht mit der absoluten Mehrheit im ersten Wahlgang schaffen, kommt es auf die Drei-Prozent-Gruppierungen an – je nachdem, wen der beiden Kandidaten sie bei einer Stichwahl empfehlen. Allerdings können auch sie nicht mehr, als eine Empfehlung abgeben. Durch die wie im französischen Wahlrecht vorgesehene Stichwahl zwischen den beiden stärksten Kandidaten reicht es nicht, durch Koalitionspolitik eine Mehrheit zu konstruieren. Das Wahlvolk kann noch einmal zwischen zwei Persönlichkeiten entscheiden. Die Umfragen allerdings sagen Fujimori auch für diesen Fall einen großen Vorsprung voraus.
Keine Mehrheit für Fujimori im Kongreß
Koalitionspolitik wird Fujimori dagegen im Kongreß nötig haben. Seine Liste Cambio 90 – Nueva Mayoría (Wechsel 90 – Neue Mehrheit) wird aller Voraussicht nach keine Mehrheit bekommen. Die Stimmen, die Fujimori durch sein persönliches Prestige als Präsident erhält, übersetzen sich nicht automatisch in Stimmen für seine Liste.
Als sicherer Koalitionspartner gilt Renovación, die Liste des Opus-Dei-Mitgliedes Rafael Rey. Er tritt gar nicht erst als Präsidentschaftskandidat an, sondern macht Wahlkampf für den Kongreß mit dem Slogan “Garantie für einen konstruktiven Kongreß”. Reichte es zusammen mit Renovación nicht für eine Mehrheit, müßte Fujimori noch einige Zeit in Verhandlungen investieren. Nachdem er die 1993 verabschiedete neue Verfassung ganz auf sich als Präsidenten zugeschnitten hat, ist er nur begrenzt auf den Kongreß angewiesen. Doch er wird es sich in den nächsten Jahren kaum leisten können, noch einmal, wie bereits 1992, den Kongreß aufzulösen, wenn ihm dessen Entscheidungen nicht passen.
Was Meinungsumfragen wert sind
Ab 25. März dürfen bis zu den Wahlen am 9. April keine Meinungsumfragen mehr veröffentlicht werden. Ob man diese Regelung für sinnvoll hält oder nicht, sie erspart Peru hoffentlich bis zur Wahl eine Reihe von absurden Diskussionen. Die Umfragen haben in der Vergangenheit oft kraß geirrt – in diesem Punkt hat die Oppositon recht. Der völlig überraschende Wahlsieg Fujimoris gegen Maro Vargas Llosa vor fünf Jahren ist nur ein Beispiel dafür.
Allerdings trägt der Verweis auf Meinungsumfragen auch mitunter satirische Qualitäten. Beispielsweise verbreitet die Opposition erst wochenlag mit großem Aufwand, Meinungsumfragen seien überhaupt nichts wert, um sich dann als Zeichen einer Trendwende auf eine leichte Zunahme der Werte für Pérez de Cuéllar zu berufen, wie am 24. März druch UPP-Vizepräsidentschaftskandidat Guido Pennano. Es ist bezeichnend für einen Mangel an wirklichen Themen im Wahlkampf, daß Diskussionen dieser Qualität breiten Raum einnehmen können.
Kasten:
Wieder Sendero-
Führungskader verhaftet
Präsident Fujimori hat am 23. März in Pucallpa, der Hauptstadt des Departements Ucayali im östlichen Tiefland, die Verhaftung von 20 mutmaßlichen SenderistInnen bekanntgegeben. Unter den in Huancayo, Callao und Lima Verhafteten befindet sich, so der Präsident, Margie Clavo Peralta alias “Comandante Nancy”, die als Nummer zwei des “Sendero Rojo” gilt.
Sendero Rojo spaltete sich von Sendero Luminoso ab, nachdem Sendero-Chef Abimaél Guzmán im Oktober 1993 in seinen berühmten Briefen aus dem Gefängnis an Fujimori die vorläufige Einstellung der bewaffneten Aktionen angeboten hatte. Die Splittergruppe ist der letzte Teil Sendero Luminosos, der die bewaffnete Guerillatätigkeit weiterführt, allerdings weit entfernt von der militärischen Stärke, über die Sendero Luminoso noch Anfang 1992 verfügte.
Margie Clavo Peralta gehört zur Gründungsgeneration von Sendero Luminoso, die am 19. April 1980 den “bewaffneten Volkskrieg” ausrief, und hatte verschiedene Positionen inne. Sie erscheint unter anderem auf dem 1991 beschlagnahmten Video von einer Fiesta der Sendero-Spitze in einer Villa im gutbürgerlichen Viertel Chacarilla del Estanque in Lima.
Der Schlächter und sein Henker
“Weißt du, Ramírez, wichtig ist nicht, was man erlebt hat, sondern woran man sich erinnert. Es ist mir schwer gefallen, aber ich habe es gelernt. Es ist so eine Art kontrollierter Gedächtnisverlust. Viele machen es hier so.” Der alte Mann schaut sich mit jovialem Blick in der Kneipe um. “Wir waren alle verrückt damals, im Lager Teufelsstraße.” – Zwei Militärveteranen, die sich nach zwanzig Jahren wiedergetroffen haben, gießen sich gemeinsam einen hinter die Binde.
Ramírez hatte gewußt, daß er seinen ehemaligen Vorgesetzten Zúñiga eines Tages finden würde. Aber ausgerechnet an seinem Hochzeitstag! Gerade kommt er mit seiner Frau vom Markt und freut sich auf ein romantisches Essen zu zweit, als er vom Bus aus eine halb vermummte Gestalt erblickt. Er verfolgt die Person, bis diese sich im Gassengewirr verliert. Zum Glück besitzt Ramírez ein vergilbtes Foto, das den Gesuchten in der Uniform eines Sergeanten zeigt. Ja, dieser Mann ist im Viertel bekannt, allerdings unter anderem Namen…
Die Erinnerung auszulöschen und in eine andere Haut zu schlüpfen, das ist Ramírez in all` den Jahren nicht gelungen. Immer noch ist er Gefangener seiner Erinnerungen an jenes Konzentrationslager in der Wüste, in das er vor zwanzig Jahren als junger Soldat abkommandiert war. Ein Ort im Nirgendwo. Die brütende Langeweile wird nur durch Erschießungen von Gefangenen durchbrochen, deren Zahl sich immer weiter dezimiert. Hier sind die Militärs genauso eingesperrt wie die politischen Häftlinge. Nacht für Nacht hängt sich der frustrierte Lagerkommandant Mandiola an das marode Funkgerät, empfängt Liquidierungsbefehle und bittet seinen fernen Vorgesetzten vergeblich, ihn an einen anderen Ort zu versetzen.
Der naiv-gutmütige Ramírez ist ein niedriger Charge, Befehlsempfänger seines Vorgesetzten Zúñiga. Dieser schwankt zwischen leutseligem, dröhnendem Humor und sadistischen Ausbrüchen. Einmal läßt er den verängstigten Ramírez mitten in der Wüste zurück, um die Leichen von erschossenen Gefangenen zu verscharren. Ramírez stellt fest, daß einer das Massaker überlebt hat.
Chilenische Vergangenheitsbewältigung zwischen “Amnestie” und “Amnesie”: Mehr als fünf Jahre nach der offiziellen Demokratisierung ist Ex-Diktator Pinochet immer noch Chef der Armee. Nach wie vor gilt groteskerweise die Generalamnestie für Verbrechen der Militärs, welche diese sich Ende der siebziger Jahre selbst ausstellten. Ähnlich wie in anderen ehemaligen Diktaturen Lateinamerikas gibt es in der chilenischen Öffentlichkeit lauthalse Forderungen, auch politisch einen Schlußstrich unter die Menschenrechtsverletzungen zu ziehen.
In “Amnesia” verzichtet der Drehbuchautor und Regisseur Gonzalo Justiniano, der selbst während der Diktatur jahrelang im Exil lebte, auf direkte Bezüge zur chilenischen Realität. Der Film ist in einem oft klaustrophobisch und absurd wirkenden, zeitlich und räumlich vagen Ambiente angesiedelt. “Was in Chile passierte, passierte auch in Europa, und zwar weitaus schlimmer, und ist in der Geschichte der Menschheit oft passiert. Mir war es wichtig, dieses ständige Vergessen-Wollen zu beschreiben, dieses Vorwärtsgehen, ohne hinter sich zu schauen, um sich ja nicht wieder zu verirren.”
“Wir sind das Heer der Schatten”, lallt Zúñiga, als er mit Ramírez durch die nächtlichen Straßen torkelt. Ramírez bringt einen außerplanmäßigen Bus zum Stehen, in dem nur der Fahrer sitzt. Dieser schließt die Tür hinter den beiden, tritt auf`s Gaspedal und trällert, scheinbar gedankenversunken, eine Melodie. “Woher kenne ich dieses Lied, woher kenne ich diesen Mann?”, fragt Zúñiga mit plötzlicher Beunruhigung. Er kann sich nicht erinnern. Die Amnesie hat sich seiner bemächtigt.
“Amnesia”
Chile, 1994, 90 Minuten
Regie: Gonzalo Justiniano
“Bei Gedächtnisschwund gibt es keine Versöhnung”
Lateinamerika Nachrichten: Warum hast Du in Deinem Film ‘Amnesia’ auf einen direkten Bezug zu Chile und der dortigen Militärdiktatur verzichtet?
Gonzalo Justiniano: Um das Thema des Films in aller Tiefe zu behandeln, muß man es als etwas darstellen, was allen Menschen passieren kann, überall auf diesem Planeten. Über die Besonderheiten der chilenischen Vergangenheit hinaus gibt es ein universales Phänomen, nämlich daß der Mensch von Zeit zu Zeit den Fehler begeht, sich selber bzw. seinen Bruder zu zerstören. Ich bin also davon ausgegangen, daß die Thematik mehr Gewicht bekommt, wenn die belegten Details und eine geschichtsgetreue, realistische Behandlung des Themas in den Hintergrund treten.
Andererseits ist “Amnesia” auch ein sehr chilenischer Film, die Landschaften, die Städtebilder, die Namen lassen unschwer auf Chile schließen.
Natürlich geht es um ein Thema, das erkennbar im Zusammenhang mit Chile steht. Das ist ganz offensichtlich. Wenn Du aber einen Film machst, der nicht nur starke chilenische Elemente und Bezüge auf die Geschichte des Landes enthält, sondern sich eindeutig nur auf Chile bezieht, geht dabei der Aspekt verloren, daß solche Dinge auch woanders geschehen. So etwas hat es in Europa gegeben, in den Ländern des Ostblocks. Auch in Frankreich nach dem Algerien-Krieg, nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa, in Spanien. Ich wollte es nicht überbetonen, daß der Film in Chile spielt.
Welche Bedeutung hat für Dich die Tatsache, daß der Film gerade jetzt zum ersten Mal in Deutschland gezeigt wird, 50 Jahre nach dem Ende des Faschismus und der Befreiung der Nazi-Konzentrationslager?
Das ist sehr beeindruckend. Bevor dieser Film gezeigt wurde, habe ich heute einen Bericht über die Bombardierung von Dresden gesehen, die man als Racheakt ansehen muß. Ich bin da sehr neugierig und habe versucht, etwas darüber zu lesen, wie es hier gewesen ist. Durch meinen Film habe ich gemerkt, daß nicht alles die Schuld eines Verrückten ist. Die gesamte Gesellschaft ist dafür verantwortlich. Und dabei gibt es bestimmte Gruppen, die die falschen Führer anstacheln, bis diese schließlich glauben, sie hätten die ungeteilte Unterstützung der Bevölkerung und könnten aufgrund dieser Machtbefugnisse über das Leben der anderen Menschen bestimmen. Der Prozeß hier in Deutschland ist ziemlich kompliziert, denn es gibt eine neue Welle des Rassismus mit seinen traurigen Auswüchsen in den letzten Jahren. Ich weiß nicht, inwieweit die Verantwortung hier richtig übernommen worden ist.
Und wie ist das mit der Verantwortung in der chilenischen Geschichte?
Ich habe eine totale Abneigung gegen das ganze militärische System, das ist ein großer Irrweg. Wenn der Mensch aufhört, primitiv zu sein, werden die Armeen abgeschafft. Wenn wir die Geschichte Chiles betrachten, ist dieser faschistische Wahnsinn, der aus einer bestimmten Ecke des Heeres kommt, nicht allgemein gültig. Das Heer gehört nicht allein diesen Leuten, es gab dort auch andere. Dabei muß man an Carlos Prats erinnern, den ehemaligen Oberbefehlshaber des Heeres, der von seinen eigenen Leuten ermordet wurde. General Schneider wurde ebenfalls ermordet. Das waren loyale Militärs. Ein Teil der Armee hat sich jetzt die patriotischen Werte zu eigen gemacht und bildet sich ein, den wahren Patriotismus zu vertreten, nur weil sie diesen Krieg des Brudermordes angezettelt haben. Das muß klar gesagt werden.
Der Film ‘Amnesia’ spricht von Schuldigen und von Opfern, es klingen aber auch Zwischentöne an. Welche Rolle spielt Ramírez, war er Opfer, oder war er ein Mitläufer?
Ich war sehr beeindruckt von einigen Fällen, wo junge Wehrpflichtige vor die Wahl gestellt wurden, zu töten oder selbst getötet zu werden. Viele wurden des Verrats angeklagt oder verschwanden, weil sie sich geweigert hatten, andere Menschen umzubringen. In diesem Sinne ist Ramírez natürlich Opfer. Ich habe mich oft gefragt, was passieren würde, wenn ich selber in einer solchen Situation wäre, schließlich gibt es bei uns Wehrpflicht. Wenn ich gezwungen wäre, einen anderen Menschen umzubringen. Ich glaube, ich hätte es nicht getan.
Der Soldat Ramírez spürte allerdings auch eine gewisse Bewunderung für Sergeant Zúñiga …
Natürlich, da mischen sich viele Gefühle, gerade dieses Wechselspiel hat mich interessiert. Wir sprechen von sehr allgemeinen Themen, ich wollte hauptsächlich einen Film machen, der auf zwei Personen aufgebaut ist, die für konkrete Erfahrungen stehen. Es muß viele Zúñigas geben. Er hatte keine Ahnung, was in Chile und in der Welt passierte. Von einem Tag auf den anderen fühlte er sich als Held und hatte die Vorstellung, die Erde zu säubern. Viele Militärs haben so gesprochen. Aber ich glaube, auch diese Leute sind auf die eine oder andere Art Opfer. Denn ich kann mir nicht vorstellen, daß so jemand ruhig schlafen kann. Viele dieser Leute haben sich umgebracht oder sind verrückt geworden. Im Grunde genommen wissen sie sehr wohl, daß sie sich falsch verhalten haben.
Im Film spricht Zúñiga vom kontrollierten Gedächtnisschwund. Ist das ein sehr verbreitetes Phänomen in Chile?
Das ist ein ironisches Spiel, es ist wie die Ironie des Lebens. Alle wissen, daß ein bestimmter Politiker, der im Fernsehen auftritt, soundsoviele Leute auf die Straße gesetzt hat und eine sehr bedeutende politische Stellung innehatte, während im Land gemordet wurde. Jetzt ist keine Rede mehr davon, jetzt ist er ein Demokrat! Das kann ja wohl nicht sein. Das menschliche Wesen ist in dieser Beziehung sehr merkwürdig, denn der Mensch legt bei vielen Themen einen Mantel des Vergessens über sich. Wenn wir uns andauernd selber hinterfragen und nicht ständig betäuben oder alles verdrängen würden, wäre das Leben unerträglich und schrecklich. In diesem Sinn handelt es sich in Chile um einen kollektiven Prozeß, einen falschen Gedächtnisschwund.
Wo liegt das Problem dabei?
Dahinter stehen die Leute, die am meisten Interesse daran haben, einfach umzublättern und nie mehr zurückzuschauen. Wer in Chile durch die Straßen geht, fragt sich unwillkürlich, wieso die Menschen alle so nett sind, wieso sie sich so freundlich verhalten. Wie kann das möglich sein? Das war ein bißchen der Ursprung des Films, alle die Leute zu sehen, die sich herzlich begrüßen und unterhalten. Und hinterher merkst Du, was die alles auf dem Kerbholz haben … Ich wollte diese Leute in meinem Film darstellen.
Gibt es eine Beziehung zwischen kollektivem Gedächtnisschwund und der Amnestie?
‘Nicht Vergessen’ ist der Leitspruch. Amnestie vielleicht. Das ist der Leitspruch in Südafrika, wo viele für eine Amnestie sind, aber nicht für das Vergessen.
Aber diese Diskussionen gibt es in Lateinamerika auch!
Natürlich, das ist ein sehr kompliziertes Thema, besonders weil Pinochet nie geschlagen wurde. Er wurde in Wahlen besiegt, er hat aber noch einen großen Teil der Macht. Und die Regierung hat Angst vor ihm, auch wenn sie es nicht zugibt, große Angst. Bei allem, was sie tun, blikken sie zur Seite, um zu sehen, ob der Herr womöglich böse wird. Es sei daran erinnert, daß es unter der Aylwin-Regierung zweimal Aufruhr gab: Einmal, weil Pinochet wegen Unregelmäßigkeiten beim Ausstellen von Schecks überprüft werden sollte, und beim anderen Mal ging es um Menschenrechtsverstöße. Beide Male hat das Heer reagiert. Darum ist bei uns alles etwas merkwürdig. Es gibt Äußerungen, die einen wirklich sprachlos machen, so wie die des Senatspräsidenten in Chile: ‘Der Preis für die Demokratie ist das Vergessen.’ Damit bin ich nicht einverstanden.
Funktioniert das denn überhaupt?
Angeblich will sich niemand erinnern. Es ist aber erstaunlich, daß Fernsehsendungen über die Zeit der Diktatur hervorragende Einschaltquoten erzielen. Das heißt, daß alle das sehen wollen. Wovor man aber Angst hat, ist eine ernsthafte und verantwortungsbewußte Auseinandersetzung über die jüngere Vergangenheit und über die Frage der Verantwortung. Dann heißt es immer – ähnlich wie bei den Personen im Film – das sei ein unerfreuliches Thema, es müßten positive Dinge gezeigt werden.
Hast Du den Film deswegen gerade jetzt gedreht?
Ich habe das Gefühl, in einer sehr heuchlerischen, verlogenen Gesellschaft zu leben. Wir sollen uns selbst betrügen. Wie gesagt, wenn man heute durch Santiago geht, mit all den sympathischen, netten Leuten, kann man gar nicht glauben, daß so etwas geschehen ist. Dabei sind schlimme Dinge passiert. Ich bin der Meinung, wenn es keine richtige Aufarbeitung gibt und die wichtigsten Themen in Bezug auf die Vergangenheit nicht auf das Tapet gebracht werden, werden wir keine solide Demokratie aufbauen, sondern nur eine Scheindemokratie, eine heuchlerische Demokratie. Man muß erst richtig reinemachen und die ganze Fäulnis beseitigen, bevor man ruhig in einem Haus wohnen kann.
Wie wurde der Film in Chile aufgenommen?
Im allgemeinen ziemlich gut, offensichtlich wurde jegliche Polemik darüber vermieden. Alle beglückwünschten mich ganz allgemein, aber niemand wollte über das Thema polemisieren. Das heißt, sehr wenige. Alle sprachen von der guten Musik, von der hervorragenden Darstellung, von dem genialen Julio Jung (Darsteller des Soldaten Ramírez, Anm. der Red.). Aber das eigentliche Thema wurde nicht eingehend behandelt, man ging eher darüber hinweg.
Welche Rolle können die Filmemacher bei der Aufarbeitung der Vergangenheit spielen?
Eins verstehe ich nicht: Mir wird immer gesagt, schon wieder diese Themen. Zeig’ mir einen einzigen Film, in dem es um dieses Thema geht! Alle denken, es hätte zwanzig Filme darüber gegeben. Es gibt nicht einen einzigen, nun gut, bis auf ‘Náufragos’ (‘Schiffbrüchige’) von Miguel Littin, der auch dieses Thema behandelt hat. Das verstehe ich überhaupt nicht, und oft wird mir das Gefühl vermittelt, ich müßte mich schuldig fühlen, weil ich dieses Thema verfilmt habe. In Chile zu leben, ist etwas ganz Besonderes, es ist ein Land mit einem ganz besonderen politischen Übergang, mit dem Diktator nebenan, der alles kontrolliert. Eigentlich sollte die Armee im Dienste des chilenischen Volkes stehen, und nicht das Volk im Dienste der Armee. Das ist heutzutage ein bißchen durcheinander gekommen.
Soll der Film ein Beitrag zum Rückzug der Armee sein?
Eher ein Beitrag, zur eigenen Würde zurückzufinden, damit die ChilenInnen nicht weiter mit Füßen getreten werden. Dabei muß man allerdings sehr vorsichtig sein, denn natürlich will niemand den alten Konflikt wieder aufnehmen, der zu einer Art Bürgerkrieg führen würde. Die Stoßrichtung des Films ist, die Gesellschaft zu ‘säubern’. Es geht nicht an, daß bestimmte Leute Privilegien genießen
Noch einmal zurück zu Deinem Film: In der Schlußszene verzichten Ramírez und Carrasco darauf, sich an dem brutalen Sergeanten zu rächen. Warum hast Du dieses Ende gewählt?
Es war sehr schwierig, ein Ende für diesen Film zu finden. Es handelt sich um ein gewichtiges und ernsthaftes Thema. Es taucht die Frage auf, was Du mit diesem Menschen machen würdest. Würdest Du selbst Gerechtigkeit an ihm üben? Würdest Du ihn der Justiz übergeben? Gut, ich glaube, nur ganz wenige würden ihn laufen lassen. Das wäre dumm. Aber auch die Rache führt zu nichts. Rache ist aber auch ein natürliches Gefühl der Leute, die darüber frustriert sind, daß sie in einem Land Leben, wo es keine Gerechtigkeit gibt. Die beste und zivilisierteste Form ist die Verfolgung all dieser Fälle durch die Justiz. Ich bin gegen die Rache. Sie zieht eine Spirale der Gewalt nach sich, von der keiner sagen kann, wohin sie uns führt.
Was wäre geschehen, wenn Du einen anderen, einen gewaltsamen Schluß gewählt hättest?
Ein US-amerikanischer Film hätte so aufgehört. Mit einer Detaildarstellung des zerfetzten Gehirns und einem Blutfleck hinter dem Baum. Viele kritisieren mich, warum hast Du diesen Mörder nicht umgebracht? Ich denke schon, daß man all den Tätern eine Lektion erteilen muß. Allerdings gibt es genügend Leute, die viel zu clever sind, um mit der traumatisierenden Erfahrung zufrieden zu sein, erneut einen Menschen umzubringen.
Wäre es denn überhaupt möglich gewesen, den Film mit einem Racheakt am Schluß in Chile zu zeigen?
Diesen Film habe ich unter Pinochet als Oberbefehlshaber der Armee gemacht. Sich auf solche Themen einzulassen, birgt weiterhin gewisse Risiken in sich, denn einige Herrschaften fühlen sich über die Gesetze erhaben und agieren mit dem Gefühl, dies ungestraft tun zu können. Ganz persönlich bin aber auch ich mit einem solchen Ende nicht einverstanden, mit der Rache, und darum habe ich es so gemacht. Sonst hätte ich gelogen und Effekthascherei betrieben. Und darüber hinaus hätte ich mehr Probleme bekommen.
Viele halten das Vergessen für eine unabdingbare Voraussetzung der Versöhnung. Was hältst Du von dieser Vorstellung?
Das ist eine Lüge. Ich prangere ja gerade diesen Zustand des Gedächtnisschwunds an, der uns auferlegt werden soll. Daraus wird nichts Gutes kommen. Versöhnung wird es erst geben, wenn diejenigen, die Fehler begangen haben, um Verzeihung bitten. Und bestimmte Herrschaften haben nie um Verzeihung gebeten! Mit einem auferlegten Gedächtnischwund gibt es keine Versöhnung, es entsteht etwas sehr Brüchiges.
Interview: Bettina Bremme und Jens Holst
Editorial Ausgabe 249 – März 1995
Ein Gast fehlte zur Geburtstagsfeier: Alberto Fujimori, peruanisches Staatsoberhaupt. Am 3. Februar hatten sich die Präsidenten der Staaten Venezuela, Panama, Kolumbien, Ecuador und Bolivien im venezolanischen Städtchen Cumaná getroffen, um des 200. Geburtstags Antonio José de Sucres zu gedenken. Sucre war ein Untergebener und enger Vertrauter Simon Bolívars, des Gran Libertador, an dessen Seite er für die Unabhängigkeit von Spanien und den großen Traum eines vereinten Amerikas kämpfte. Ohne Angabe von Gründen hatte der peruanische Präsident sein Kommen in letzter Minute abgesagt. Dabei waren die Gründe offensichtlich. Schließlich war nur eine Woche zuvor mit dem Abschuß eines peruanischen Militärhubschraubers in der Sierra del Condor der Grenzstreit der beiden “Brudervölker” Ecuador und Peru in einen Grenzkrieg umgeschlagen.
Knapp einen Monat zuvor hatten sich die Präsidenten der “Bolívar-Erben” schon einmal in Cumaná, der Geburtsstätte Sucres, getroffen. Es ging um den 1969 ins Leben gerufenen Andenpakt, der wie kaum ein anderer Wirtschaftsverbund der Welt an chronischer Lethargie krankt. Die meisten Planungen wurden wieder verworfen oder schlicht nicht umgesetzt. Kaum eine einzige der beschlossenen wirtschaftlichen Kooperationsmaßnahmen wurde in die Tat umgesetzt. Das letzte Treffen hatte 1991 stattgefunden. Danach verabschiedete sich Peru unter Berufung auf interne Schwierigkeiten zunächst einmal von den Andenpaktverhandlungen. Jetzt, vier Jahre später, wagt man einen erneuten Anlauf. Doch die Begeisterung hält sich in Grenzen. Kolumbien und Venezuela schielen gen Norden nach Mexiko, Peru hält sich zurück und Bolivien entdeckt seine Sympathie für den Mercosur.
Die Einheit, von der Bolívar und Sucre geträumt hatten, ist damit so weit entfernt wie nie zuvor. Zumal Peru und Ecuador bei genauerem Hinsehen nicht die einzigen Staaten der Region sind, in denen unterschwellig alte Gebietsansprüche bestehen, die früher oder später zu einem ähnlichen Grenzkonflikt eskalieren könnten. Bolivien träumt vom erneuten Zugang zum Pazifik, Peru von Wüstengebieten im heutigen Chile, usw. Weit entfernt sind die betroffenen Länder von der Einheit, die Bolívar als Ideal entworfen hatte. Einer Einheit, die auch damals mit der Realität wenig gemein hatte. So wurde schon Sucre, den Ecuador als eigenen Nationalheld beansprucht, da er die meiste Zeit seines Lebens in der Hauptstadt Quito verbrachte, von den eigenen Leuten verraten, als er in Peru gegen den gemeinsamen Feind Spanien kämpfte.
Heute ist die Unabhängigkeit Perus und Ecuadors erneut gefährdet. Die Bedrohung kommt aus den Zentralen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds, von wo aus immer neue Strukturanpassungen zu Lasten der Bevölkerungsmehrheit verordnet werden. Die Regierungen verkommen auf diese Weise zu bloßen Ausführungsorganen. Um ihre eigene Machtlosigkeit zu kaschieren, setzen die herrschenden Politiker und Militärs auf Nationalismus und beschwören die innere Einheit durch chauvinistische Parolen.
So ging es dem peruanischen Schriftsteller und früherem Präsidentschaftskandidaten Mario Vargas Llosa an den Kragen, der als einer der wenigen Intellektuellen seines Landes das Blutvergießen verurteilte: Er wurde als “vaterlandsloser Verräter” gebrandmarkt und aus dem nationalen Schriftstellerverband ausgeschlossen. Im Säbelgerassel der letzten Wochen wurden vernünftige Stimmen leicht überhört. So etwa, als Gewerkschaftsführer beider Länder den Krieg kritisierten und darauf hinwiesen, daß Hunger und Elend der eigentliche Feind seien, den es zu bekämpfen gilt.
“Brudervölker” im Krieg
Die auf den ersten Blick scheinbar so einleuchtende Erklärung für den Krieg, der seit Ende Januar in der Sierra del Condor an der Grenze zwischen beiden Ländern stattfand und mit der Unterzeichnung einer Friedenserklärung in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia zunächst ein Ende gefunden zu haben schien, läßt Fragen offen. Viele Indizien weisen darauf hin, daß diesmal die ecuatorianische Regierung größeres Interesse an einem bewaffneten Konflikt hatte, als ihr Gegenüber in Lima. Interessen, die weniger mit den umkämpften, abgelegenen, bewaldeten Bergen, aber viel mehr mit innenpolitischen Schwierigkeiten, persönlichen Ambitionen und diplomatischem Kalkül zu tun haben.
Die Kommentare sind sich einig: Dieser Krieg war sinnlos. Seit 1992 war der peruanische Präsident Alberto Fujimori dreimal in der ecuatorianischen Hauptstadt Quito, um die Freundschaft zwischen den “Brudervölkern” zu beschwören, und die Bevölkerung Quitos jubelte ihm zu. Auch sind beide Länder Mitglieder des Andenpakts und wollen zum beiderseitigen Vorteil ihre wirtschaftlichen Beziehungen ausbauen. Sollte nun ein Grenzkonflikt das Verhältnis zwischen beiden Ländern vereisen, der seit Jahrzehnten bekannt ist, in dem aber abgesehen von gelegentlichen Scharmützeln längst ein friedlicher Status Quo bestand? Über Jahrzehnte hinweg beharrten beide Seiten auf ihren Auffassungen über den Grenzverlauf. Aber im Moment stellt sich vor allem die Frage, warum es trotz jahrelanger Normalität von Zeit zu Zeit immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt, welche innenpolitischen Gründe jeweils für oder gegen die Inszenierung eines solchen Konflikts sprechen und wer sich von einem Krieg außenpolitischen Nutzen verspricht.
Der Auslöser: ein Fluß zuviel
Der Grenzkonflikt zwischen Peru und Ecuador ist nicht neu. Seit der Existenz beider Staaten sind große Gebiete des Amazonastieflandes und die Grenzregion um das heute peruanische Tumbes an der Pazifikküste zwischen beiden Ländern umstritten. Seit 1942 dreht sich der Streit um das sogenannte Protokoll von Rio de Janeiro. Nach dem letzten Krieg 1941/42 zwischen Peru und Ecuador führten die Friedensverhandlungen zur Unterzeichnung des damals von beiden Seiten anerkannten Protokolls, in dem der Grenzverlauf festgelegt wurde. Brasilien, Argentinien, Chile und die USA fungieren seitdem als Garanten des Protokolls, durch das Ecuador den größten Teil seines amazonischen Tieflands sowie die Stadt Tumbes verlor.
Schwierig war die Einigung im Fall des umstrittenen rund 80 Kilometer langen Grenzabschnitts zwischen den Flüssen Rio Santiago und Rio Zamora, einer von Wald bedeckten, weitgehend unerschlossenen Region. Schließlich akzeptierten damals beide Seiten den Schiedsspruch des Brasilianers Bras Dias de Aguiar, der damit die “natürliche Grenze”, die Wasserscheide zwischen den beiden Flüssen, zur Staatsgrenze machte. Das Problem bestand darin, daß es nur im nördlichen Teil des Grenzabschnitts eine echte Wasserscheide zwischen den beiden Flüssen gibt. Im größeren Teil der umstrittenen Region liegt zwischen dem zweifelsfrei ecuatorianischen Rio Zamora und dem eindeutig peruanischen Rio Santiago nicht nur eine Bergkette, sondern noch ein weiteres Flußtal: der Rio Cenepa. Ecuador betrachtete das Protokoll deshalb in dieser Region als undurchführbar, während Peru darauf bestand, daß sich das Tal des Rio Cenepa schon lange vor dem Krieg von 1941/42 eindeutig unter peruanischer Kontrolle befand und daher die Bergkette zwischen Rio Zamora und Rio Cenepa die Grenze bilde.
Der Status Quo: nicht aufeinander schießen
Für die peruanische Seite war seit dem Protokoll von Rio de Janeiro klar, daß mit Ecuador überhaupt kein Grenzkonflikt besteht. Der Vertrag sei eindeutig, völkerrechtlich gültig und von den vier Staaten garantiert, so die peruanische Auffassung. Ecuador dagegen rückte schon bald von dem Protokoll ab. Der Vertrag sei unter Druck zustande gekommen und deshalb nichtig, so die ecuatorianische Position seit Jahrzehnten, die Grenzfrage mit Peru sei damit nicht nur in der Sierra del Condor, sondern im gesamten Verlauf der Grenze bis nach Kolumbien offen. Es ist kein Zufall, daß auf allen ecuatorianischen Landkarten zum einen an der Sierra del Condor der Vermerk “Zone, in der das Protokoll von Rio de Janeiro undurchführbar ist” und darüber hinaus das gesamte nördliche Amazonasgebiet des heutigen Peru einschließlich der wichtigsten Stadt Iquitos als ecuatorianisches Territorium eingezeichnet ist. Keine Kleinigkeit, geht es doch nicht um 5 Kilometer mehr oder weniger, sondern um eine Fläche von 200.000 Quadratkilometer Regenwald mit Ölvorkommen und Zugang zu den Amazonashäfen, von denen aus der Weg über den Fluß durch Brasilien zum Atlantik geht.
Ansprüche sind eine Seite, die realen Machtverhältnisse eine andere, und die militärischen Fakten sprachen immer für Peru. Es war für Ecuador undenkbar, das verlorene Territorium durch einen Krieg zurückzuerobern. Ganz abgesehen davon, daß die Garantenstaaten deutlich machten, daß sie das Protokoll von Rio als gültig und das riesige Regenwaldgebiet somit als peruanisch betrachteten.
In der Sierra del Condor gibt es seit Jahren sowohl ecuatorianische als auch peruanische Grenzposten und Patrouillen. Beide Seiten gehen davon aus, auf eigenem Territorium zu sein, und beide betrachten die jeweils gegnerischen Patrouillen als Eindringlinge. Die Frage war damit nicht, wer böswilligerweise die Grenze überschreitet, sondern ob man sich entweder aus dem Wege geht oder einen Konflikt inszeniert. Oder anders gesagt: Wer einen Konflikt braucht, kann ihn haben, denn so gut wie ständig befindet sich irgendeine Patrouille der jeweils anderen Seite auf dem vermeintlich eigenem Territorium. Die “Grenzverletzungen” des Gegners müssen nur dramatisch in der Öffentlichkeit als “Bedrohung der nationalen Sicherheit” dargestellt werden, und schon ist der Konflikt da.
Peru: Fujimori kann den Konflikt nicht brauchen
Das Interesse am Konflikt, so die verbreitete Meinung, hatte aus innenpolitischen Gründen diesmal der peruanische Präsident Fujimori. Wahlen stehen kurz bevor, und bekanntermaßen ist die Mobilisierung nationaler Gefühle ein probates Mittel, um Popularität zu erlangen. Aber ein Blick auf die innenpolitische Lage in Peru und Ecuador läßt dieses Bild nicht ganz so eindeutig erscheinen.
Fujimori führt die Umfragen vor der Präsidentschaftswahl mit großem Vorsprung vor seinen Konkurrenten an. Sollte er wirklich glauben, einen Krieg mit Ecuador nötig zu haben, um noch einmal Stimmen zu mobilisieren? Im Gegenteil, ein Krieg muß für ihn eher kontraproduktiv sein. Neben der wirtschaftlichen Stabilisierung ist es der gerade wiedergewonnene Frieden, auf dem seine Popularität beruht. Peru im Jahre 1995 ist ein von dreizehn Jahren internen Krieges zwischen Staat und Guerilla ausgelaugtes Land, das seit zwei Jahren, mit dem Sieg Fujimoris über die Guerillabewegung Sendero Luminoso, wieder Hoffnung schöpft, eine friedliche Normalität aufzubauen. Ob man Alberto Fujimori für den geeigneten Präsidenten dafür hält oder nicht, die peruanische Bevölkerung steht jedenfalls genau deswegen mehrheitlich hinter ihm. Es kann deshalb nicht verwundern, daß von nationaler Begeisterung in Peru wenig zu spüren war, der Krieg war extrem unpopulär. Die seit Jahren von Fujimori beschworene Eingliederung in die internationale Staatengemeinschaft – konkret: Kreditwürdigkeit und Attraktivität für Investitionen aus dem Ausland – litt stark unter dem Grenzkonflikt mit Ecuador. Investitionen fließen nur spärlich in Krisenregionen und von Krieg belastete Volkswirtschaften. Fujimori arbeitet zielgerichtet an seinem Projekt eines kapitalistisch-modernen, von einem starken Präsidenten namens Fujimori regierten Landes. In dieser Situation einen Krieg mit Ecuador zu provozieren, hieße, den Erfolg dieses Projektes zu riskieren – und das angesichts eines auch ohne Krieg fast sicheren Wahlsiegs. Fujimori müßte von seinem Gespür für die öffentliche Meinung verlassen worden sein, das ihn in den fünf Jahren seiner Amtszeit ausgezeichnet hat. Himzu kommt, daß ein von Fujimori inszenierter Konflikt ein Wahlgeschenk für seine härtesten Konkurrenten wäre. Ex-UNO-Generalsekretär Javier Perez de Cuéllar verkörpert durch seine politische Vergangenheit geradezu die Option diplomatischer Konfliktlösung. Fujimori hätte einen peinlich taktischen Fehler begangen.
Ecuador: Ein Präsident in Schwierigkeiten
Anders dagegen die Situation in Ecuador. Präsident Sixto Durán Ballén war in den letzten Monaten alles andere als populär. Wirtschaftliche Probleme und Korruptionsskandale nagen am Image des achtzigjährigen Präsidenten, der im November ’94 sogar schon Gerüchte über seinen Tod dementieren mußte (siehe LN 247). Er hatte im Gegensatz zu Fujimori eine Popularitätsspritze dringend nötig. So sah die öffentliche Darstellung des Konfliktes in Ecuador auch völlig anders aus als in Peru. Während die peruanische Regierung sich zunächst bemühte, den Grenzkrieg intern zu einem drittrangigen Thema zu machen, fuhr das offizielle Ecuador schwere Geschütze auf. Flammende Reden über die nationale Ehre und die Verteidigung der Souveränität schufen ein aufgeheiztes und aggressives Klima, das in keinem Verhältnis zu der in der peruanischen Öffentlichkeit abwartenden Skepsis stand.
Über die innenpolitische Schwäche der gegenwärtigen Regierung hinaus liegt es durchaus im Interesse der ecuatorianischen Außenpolitik, das Thema “Grenze zu Peru” am Kochen zu halten. Daß die Gebiete bis hin zum Amazonasufer peruanisch sind, weiß in Quito jeder realistisch denkende Politiker. Die Geschichte des Krieges von 1941/42 und das Protokoll von Rio sind nicht zurückzudrehen. Aber in der Sierra del Condor läßt sich mit dem Argument der Undurchführbarkeit des Protokolls noch etwas herausholen. Um wichtige wirtschaftliche Interessen dürfte es dort zwar kaum gehen, bewegen sich die Informationen über Rohstoffvorkommen doch vor allem auf der Ebene von Gerüchten und Spekulationen. Aber der ecuatorianische Präsident, der dem Land ein verloren geglaubtes Territorium zurückholt, wird als Held in die Geschichte eingehen. Eine attraktive Perspektive für Präsidenten jeder Couleur. Je bemitleidenswerter Ecuador in der Rolle des Opfers erschien, um so größer konnte die Chance sein, bei einem unabhängigen Schlichter Zugeständnisse zu erreichen. Es paßt ins Bild, daß die ecuatorianische Diplomatie nach Ausbruch des Krieges mit bemerkenswerter Inkonsequenz ausgerechnet bei den vier Garantenstaaten intensiv antichambrierte, obwohl Ecuador das Protokoll insgesamt als ungültig betrachtet. Dazu kam die dramatische Warnung des ecuatorianischen Präsidenten, es drohe ein Militärputsch, sollte das Land den Krieg verlieren. So unglaubwürdig diese Warnung angesichts der sicheren internationalen Isolierung eines Militärregimes auch ist, der Wink war deutlich: Fällt der Ausgang des Konfliktes nicht positiv für Ecuador aus, droht Fürchterliches.
Nur nicht das Gesicht verlieren
Die erste öffentliche Klage darüber, fremde Truppen seien über die Grenze gekommen, kam von Ecuador. Dies und die jeweiligen innenpolitischen Verhältnisse in Peru und Ecuador legen die Vermutung nahe, daß das Interesse am Konflikt diesmal mehr auf ecuatorianischer Seite lag als in Peru. Aber daraus ist kein Mythos von den Intrigen des perfiden Ecuador gegen das friedliche Peru abzuleiten. Die letzten Scharmützel genau in diesem Abschnitt der Grenze fanden vor drei Jahren im Januar 1992 statt. Damals, in einer Zeit, als Sendero Luminoso in Lima täglich bombte, hatte Fujimori durchaus Grund, von innenpolitischen Problemen abzulenken. Das taktische Spiel wird zum gegebenen Zeitpunkt von beiden Seiten betrieben.
Die Eigendynamik der Eskalation eines bewaffneten Konflikts wirkte – auf beiden Seiten. Die peruanische Seite ließ nicht lange darauf warten, ihrerseits das Eindringen ecuatorianischer Truppen in peruanisches Gebiet bekannt zu geben. Und schon drehte sich die Spirale gegenseitiger Schuldzuweisungen. Keine Seite wollte das Gesicht verlieren. Besonders pikant war die Lage für Alberto Fujimori. Er steckte in einem Dilemma: Einerseits wollte er aus wahltaktischen Überlegungen den Krieg schnellstens beenden. Gleichzeitig mußte er aufpassen, denn so unpopulär der Konflikt in Peru auch war, würden seine Wahlchancen doch darunter leiden, erschiene der Ausgang des Krieges in der Wahrnehmung der peruanischen Öffentlichkeit als peinliche Niederlage. Wie der vorerst bestehende Waffenstillstand und die Bekundung von Friedensabsichten jedoch langfristig in eine stabile Lösung verwandelt werden sollen, steht vorerst in den Sternen.
Patriotische Parolen als Allheilmittel?
“Es sei wohl nicht sein Jahr gewesen”, hieß es im Rückblick auf das Jahr 1994 in der Tageszeitung El Comercio über den ecuatorianischen Staatspräsidenten Sixto Durán Ballén. Dieser hatte im vergangenen Jahr durch Korruptionsaffären in seiner unmittelbaren Nähe und durch seine Ohnmacht gegenüber dem Kongreß stark an Ansehen verloren und wegen der sozialen Konsequenzen seiner Modernisierungspolitik die letzten Sympathien im Volk einbüßen müssen. Darüber hinaus brachten die spontanen Alleingänge seines Vizepräsidenten Alberto Dahik die Frage nach der eigentlichen Macht immer wieder in die Schlagzeilen.
Seit 1992 fährt Ecuador unter Präsident Sixto Durán Ballén als eines der letzten lateinamerikanischen Länder den Kurs einer harten Strukturanpassung, die im vergangenen Jahr die ersten Erfolge zeigte: Senkung der Inflation von 70 auf 20 Prozent, Stabilisierung des Wechselkurses und eine Rekordhöhe der Währungsreserven. Sie wurden aber angesichts der Liste der nach langem Hin und Her letztendlich doch nicht privatisierten Betriebe wenig gewürdigt. Neben der für 1995 angesetzten Privatisierung der EMETEL, dem Bereich der Telekommunikation, sorgten besonders die geplante Privatisierung des IESS, des Instituts für Sozialversicherung, und der staatlichen Ölgesellschaft Petroecuador für einigen Zündstoff.
Der IESS zog von öffentlichen Angestellten ein Zwangsbeitrag ein und finanzierte so gewisse soziale Bereiche wie Krankenhäuser, die auch für die unteren Schichten zugänglich wären. In diesem Sinne ist das IESS wohl die einzige Institution in Ecuador, in der sozial umverteilt wird. Der Staat schuldet dem IESS mehr als 500 Millionen US-Dollar, was dieses Thema zu einem der heikelsten für den 1983 ins Leben gerufenen CONAM, den Nationalen Rat zur Modernisierung des Staates, macht. Die Bevölkerung fürchtet, die Schulden könnten bei der Privatisierung “verloren” gehen, und fühlt sich um ihre Beiträge betrogen, so daß es auch bei Erwähnung dieses Themas zu Demonstrationen und Ankündigungen von Streiks kam.
Streiks gegen Streikverbot
Streiks der Lehrer, der Gewerkschaften, im Gesundheitswesen, der Telekom, der Justiz – die Liste der im vergangenen Jahr durchgeführten Streiks nimmt kein Ende. Streiks in allen Bereichen sind in Ecuador ein probates Mittel, seinen Unmut kundzutun, gibt es doch sonst kaum Instrumente der Opposition. Im Januar letzten Jahres zum Beispiel verbarrikadierten verschiedene Indígena-Organisationen als Reaktion auf das zum Jahresbeginn verabschiedete “Agrarentwicklungsgesetz” zehn Tage lang sämtliche Hauptverkehrsknotenpunkte des Landes und legten den gesamten Verkehr lahm. Die Regierung vertritt die Ansicht, die ständigen Streiks seien ein Hauptgrund der schleppend verlaufenden Modernisierung.
Vorgesehen ist ein Gesetz zur Eindämmung von Streiks, die “einen Großteil der Bevölkerung betreffen”; ausgeführt durch das Militär. Die Bevölkerung sieht ihr letztes Instrument des Protestes auf der Abschußliste und ihr Recht auf Meinungsäußerung vom Militär bedroht. Die Reaktion hätte kaum deutlicher sein können: Mitte Januar kündigte sich in Quito eine ganze Welle von Streiks an.
Sixto scheitert im Kongreß
Die versprochenen Verfassungsänderungen, zu denen Ende August eine sehr umstrittene Volksbefragung stattgefunden hatte, scheiterten am Widerstand des Kongresses. Am 10. Januar lief ein 100-Tage-Ultimatum ab, das Durán Ballén selbst gesetzt hatte. In dieser Zeit wollte er seine 113 Gesetzentwürfe im Kongreß verabschieden, die er aufgrund eines erstellten Meinungsbildes vorgestellt hatte. Eine weitere Volksumfrage ist nun für den 21. Mai angesetzt. Doch die Begeisterung hält sich in Grenzen, “das würde nur noch mehr Zeit und Geld kosten, und man habe doch wahrhaftig besseres zu tun.”
Neben Fragen zu den Blöcken Elektrizität, dem Energiesektor und der Telekommunikation soll es vor allem um die Neustrukturierung des IESS und die Veränderung bestehender Gewerkschaftsstrukturen gehen.
Moralunterricht statt soziale Verbesserungen
Parallel zur Ankündigung einer neuen Volksbefragung und damit einer neuen moralischen Niederlage des Präsidenten vor dem Kongreß, sorgte ein Gesetzentwurf, der Religionsunterricht als Pflichtfach in den Schulen vorsieht, für große Aufregung unter den SchülerInnen und StudentInnen und entfachte eine grundsätzliche Diskussion über das Bildungssystem in Ecuador. Erziehungsministerin Rosalía Arteaga mußte wie auch ihr Amtsvorgänger ihre Sachen packen, nachdem sie das von der katholischen Kirche initiierte Gesetz öffentlich verurteilt hatte. Das sogenannte “Ley religiosa” erwies sich insofern als hochbrisant, als es die seit langem schwelende Unzufriedenheit mit bestehenden Bildungseinrichtungen mit einem Schlag explodieren ließ. Der Gesetzentwurf sieht zwei Pflichtstunden “Religion und Moral” pro Woche an allen Schulen vor, mit speziell dazu ausgebildeten “MorallehrerInnen”. Es wird geschätzt, daß zwischen 5000 und 6800 neue LehrerInnen ausgebildet und eingestellt werden müßten, um diesem Anspruch zu genügen.
In Ecuador gibt es rund vierhundert religiöse Gruppierungen neben dem Katholizismus, so daß der Gesetzentwurf auch scharfen Attacken wegen Diskriminierung und indirektem Rassismus ausgesetzt war.
Die kirchlichen Schulen und Universitäten besitzen in der Regel eine ganze Menge Geld, dazu kommen Schenkungen und nicht zuletzt die hohen Gebühren ihrer SchülerInnen und StudentInnen. So lassen die Padres der Katholischen Universität in Quito ein schickes Hochhaus nach dem anderen zur Erweiterung bereits bestehender Fakultäten bauen, während an der staatlichen Universität die Gebäude verkommen und es an den nötigsten Lehrmitteln fehlt.
Höhere Preise für den öffentlichen Transport
Anfang Januar diesen Jahres wurden dann die Preise für die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln von 150 auf 200 Sucres (etwa 7 Pf) heraufgesetzt. Das mag auf den ersten Blick nicht besonders viel erscheinen, war aber die dritte Erhöhung der Fahrpreise innerhalb von drei Jahren von ursprünglich 50 Sucres, also um insgesamt 300 Prozent. Die schrittweise Erhöhung – jedesmal angekündigt als die letzte – wechselte sich mit der gestaffelten Erhöhung der Benzinpreise ab, die allein im letzten Jahr um 75 Prozent anstiegen. Ebenfalls bereits die dritte “letzte” Steigerung. Beides wirkt sich unmittelbar auf die allgemeinen Lebenshaltungskosten aus.
Heftige StudentInnenunruhen und ein Toter
So kam es dann in der zweiten Januarwoche während einiger Demonstrationen zu heftigen Ausschreitungen zwischen StudentInnen und der Polizei. Am fünften Tag aufeinanderfolgender Straßenschlachten wurden mehrere StudentInnen wie auch Polizisten schwer verletzt. Der 16jährige Juan Carlos Luna Carillo erlag im Krankenhaus seinen Verletzungen. Nach einem Wochenende der scheinbaren Ruhe ging es in der darauffolgenden Woche umso erbitterter weiter. Juan Carlos wurde feierlich beerdigt. Seine Mutter fordert, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, und der Abgeordnete Iván Rodríguez des Movimiento Popular Democrático versprach eine genaue Untersuchung der Vorfälle, worauf innerhalb der Polizei das im vergangenen Jahr vielfach praktizierte Spiel der gegenseitigen Schuldzuweisungen von vorne losging.
Die StudentInnen streikten in einigen Teilen des Landes gemeinsam mit den Gewerkschaften, Indígenas und andere Campesinos in seltener Eintracht, vereint durch den gemeinsamen Protest gegen die Privatisierungsprogramme und somit gegen die Regierung. Als dann auch noch die staatliche Ölgesellschaft Petroecuador einen Generalstreik für den 26. Januar ankündigte, um gegen das Vorhaben des neuen Energieministers Galo Abril anzugehen, auch die erst vor wenigen Jahren verstaatlichte Petroecuador für private Investoren zu öffnen, drohte Ecuador der totale Kollaps.
Hinzu kommen immer neue Schrekkensmeldungen aus der Küstenprovinz Guayas über Cholera-Erkrankungen und erste Tote, man befürchtet eine Epidemie. Auch in den Provinzen Manabí und Esmeraldas werden Erkrankungen gemeldet. Als ob es nicht schon genug wäre, wurden die Dörfer Calderón und Carapungo nördlich von Quito – im Gebiet des heftig diskutierten neuen Flughafens – am 13. Januar von einem mittleren Erdbeben heimgesucht.
Wenn 1994 kein gutes Jahr gewesen sein soll, so läßt sich 1995 um seine Katastrophen jedenfalls nicht lange bitten.
Wirtschaftliche Rolle des Militärs
Die Modernisierungsansätze des Präsidenten – insbesondere die Pläne zur Verstaatlichung der Ölgesellschaft Petroecuador – beobachtet das Militär mit größtem Mißtrauen. Bei Ölförderungen in den an ausländische Investoren vergebenen Abschnitten im Oriente erhalten die Militärs rund 30 Prozent der Gewinne. Sie stellen einen beträchtlichen Teil der Wirtschaft, unter anderem sind eine Fluggesellschaft und eine Bank in ihrem Besitz, sowie die Schürfungsrechte in dem von ihnen kontrollierten ecuatorianischen Oriente. Die starke militärische Präsenz im gesamten ecuatorianischen Amazonastiefland wird offiziell durch die ungeklärte Grenzsituation zum Nachbarn Peru gerechtfertigt. Die Militärs haben außerdem das Monopol zur Veröffentlichung von Landkarten und sind so Urheber des Festhaltens am Amazonaszugang – nicht zuletzt deshalb haben ecuatorianische Schulkinder eine ganz andere Silhouette ihres Landes im Kopf als die, die der internationalen Realität entspricht.
Verlagerung der innenpolitischen Spannungen an die Grenze
Bereits am 7. Januar schwirrten Gerüchte von Zusammenstößen an der ecuatorianisch-peruanischen Grenze durch die Presse, die Verteidigungsminister José Gallardo dementierte. Die erfolgten Truppenbewegungen seien reine Übungen. Eine Woche später folgten dann die ersten Darstellungen der Zwischenfälle, die offizielle Version berichtete von einer vierköpfigen peruanischen Patrouille, die am 9. Januar in – unbestritten – ecuatorianischem Territorium, nämlich im oberen Verlauf des Río Cenépa nördlich von Cueva de los Tayos, überrascht wurde. Sie wurde gefangengenommen und gemäß den zwischen Ecuador und Peru bestehenden Vereinbarungen am nächsten Tag zu ihrem Bataillon zurückgebracht. Am Mittwoch sei erneut eine Gruppe von diesmal 11 peruanischen Soldaten in ihr Territorium eingedrungen, so der Verteidigungsminister José Gallardo, wobei es zu ersten Toten kam.
In der Tat geht es in diesem nunmehr fast 150 Jahre andauernden Konflikt schon lange nicht mehr darum, den bis auf gelegentliche Scharmützel ansonsten friedlichen Status Quo in Frage zu stellen. Viel eher, ob es politisch opportun ist, einen Zwischenfall als “Bedrohung der nationalen Sicherheit” hochzuspielen.
Wäre dieser Konflikt vom ecuatorianischen Präsidenten Sixto Durán Ballén direkt oder indirekt inszeniert worden, so hätte dieser gut daran getan, schon auf die ersten Gerüchte und den ersten Zwischenfall hin die Sache zur obersten Priorität zu machen. Statt dessen hielt er sich bedeckt, erst am 26. Januar, nach dem Abschuß eines peruanischen Helikopters, wird der nationale Notstand erklärt.
Das Protokoll von Rio: ein ecuatorianisches Trauma
Ob Zufall oder nicht, der 26. Januar war der 53. Jahrestag der Unterzeichnung des Protokolls von Rio de Janeiro, ein traumatischer Augenblick für das ecuatorianische Nationalbewußtsein. In Geschichtsbüchern unter der Bezeichnung “Das territoriale Desaster” aufgeführt, ist es ein Thema, das bis heute Bitterkeit und Frustration auslöst. Der Vertrag sei unter Druck zustande gekommen und somit ungültig. Man fühlt sich ungerecht behandelt nicht nur vom “Bruderstaat Peru”, der mit Salamitaktik immer noch ein weiteren Scheibchen vom ecuatorianischen Gebiet abgeschnitten hat, sondern auch von den vier Garantiestaaten und der Weltöffentlichkeit insgesamt, die das 1942 unterzeichnete Protokoll als rechtskräftig anerkennt. Ecuador, der “Zwerg” unter den Andenstaaten, fühlte sich schon immer als “Verteilmasse” zwischen den beiden großen Nachbarn Peru und Kolumbien. Diese hatten im vergangenen Jahrhundert mehrere geheime Zusatzprotokolle über eine mögliche Aufteilung Ecuadors untereinander abgeschlossen, so zumindest die offizielle ecuatorianische Geschichtsschreibung.
Die von Ecuador veröffentlichten Landkarten zeigen die 1942 an Peru verlorenen Gebiete bis an den Amazonas. Der im Protokoll von Rio de Janeiro festgelegte Grenzverlauf ist zwar eindeutig markiert, bis auf die 80 km, um die es in den derzeitigen Auseinandersetzungen geht. Die eingezeichnete internationale Grenze verläuft aber jenseits des umstrittenen Gebiets. Besonders erbost ist man in Ecuador, daß Peru den in Artikel VI des Protokolls garantierten Zugang zum Amazonas die konkrete Ausführung verwehrt. “Ecuador ist, war und wird ein Amazonas-Staat sein”, heißt es auf vielen Schulheften direkt unter der ambivalent interpretierbaren Karte. Aus der Entdekkung des Amazonas 1542 durch Kapitän Francisco de Orellana leitet die ecuatorianische Geschichtsschreibung einen zusätzlichen Anspruch auf den Amazonaszugang ab: “Den Titel des ersten Entdekkers des Amazonas konnte Ecuador bis heute niemand streitig machen.”
Ecuador distanzierte sich 1960 von dem Vertrag, seither bestand ein mehr oder weniger friedlicher Status Quo. Daß dieses Thema jedoch nichts an seiner Aktualität verloren hat, war bereits vor Ausbruch des Krieges mit Peru deutlich. Der 1988-92 amtierende sozialdemokratische Präsident Rodrígo Borja setzte den Grenzkonflikt wieder ganz oben auf die Tagesordnung. Man wolle endlich eine dauerhafte und friedliche Lösung, signalisierte er nach Lima. Fujimori kam dreimal nach Quito, um dieses heikle Thema anzugehen. Aber der geplante Gegenbesuch Durán Balléns in Lima löste eine so kontroverse Diskussion im Kongreß und in der Öffentlichkeit aus, daß der Besuch zweimal verschoben wurde und schließlich ganz vom Tisch war. Besonders seitens des Militärs und allen voran bei Verteidigungsminister José Gallardo herrschte die Meinung vor, Sixto würde durch einen Gegenbesuch in Lima bereits klein beigeben.
Rückendeckung für Durán Ballén
In dem Konflikt mit Peru war für Ecuadors Präsidenten nicht vorauszusehen, daß er die Bevölkerung, die in allen Teilen des Landes zum Streik gegen ihn rüstete, und den Kongreß, der ihn mit Ablaufen des Ultimatums zur Verfassungsänderung gerade erneut auflaufen lassen hatte, auf seiner Seite haben würde. Und: Sixto ist alles andere als ein Draufgänger. Das von der Opposition gezeichnete Bild eines gutmütigen Greises, der nicht mitbekommt, was um ihn herum vorgeht, hat sich schon mehrmals bestätigt. Sixto hat im übrigen seine erneute Kandidatur für die 1996 anstehenden Wahlen bereits dementiert, über eine Wiederwahl macht sich der 80jährige keinerlei Illusionen. Bei diesem so brisanten Thema des Grenzkonflikts in der Öffentlichkeit als Verlierer zu erscheinen, sei es auch nur durch zu schnelles Einlenken, wäre politischer Selbstmord gewesen. Den Zuspruch anderer Staaten zu bekommen scheint genauso unwahrscheinlich wie dem bis an die Zähne bewaffneten Peru auch nur einen Quadratmeter Land zu entreißen. Außerdem hätte es wahrhaftig bessere Zeitpunkte gegeben, den bis vor kurzer Zeit von einem internen Krieg ausgelaugten Nachbarn anzugreifen.
Viel eher erschien Sixto Durán Ballén bemüht, den Konflikt mit dem Nachbarn so schnell wie möglich beizulegen, ohne jedoch das Gesicht zu verlieren.
Das Militär in neuem Glanz
Anders hingegen das Militär, das seine Position behauptet und seine Daseinsberechtigung erneuert hat. Das Feindbild Peru erstrahlte in neuem Glanz. Ecuador sah sich eindeutig in der Rolle des unschuldigen Opfers innenpolitischer Spannungen in Peru, nämlich der anstehenden Wahlen und Fujimoris eigenen “Grenzstreitigkeiten” mit Ex-Frau Susana. Fahnen wurden geschwenkt, Bilder von Mädchen in knappen Röckchen, die den Soldaten an der Front zujubelten. Gegenstimmen hatten in diesem Aufschrei des Patriotismus keine Chance. Eine kurzfristig angesetzte zusätzliche Kriegssteuer wurde sofort verabschiedet und so der im Haushaltsentwurf angesetzte Etat für das Militär entscheidend aufgebessert.
Mit der am 17. Februar in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia unterzeichneten beiderseitigen Friedenserklärung schienen die konkreten Auseinandersetzungen vorerst ein Ende zu haben. Jedoch bereits nach wenigen Tagen flammten die Feindseligkeiten und gegenseitigen Beschuldigungen wieder auf, nachdem der Generalstab die vom ecuatorianischen Unterhändler unterzeichnete Waffenstillstandserklärung kurzerhand ablehnte. Die vier Vermittlerstaaten Argentinien, Brasilien, Chile und die USA, unter deren Mitwirkung auch das 1942 unterzeichnete Protokoll zustande kam, stoppten vorerst die geplante Beobachtertruppe, die die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone in dem fraglichen Grenzabschnitt erwirken sollte. Die Organisation Amerikanischer Staaten OAS erwägt inzwischen wirtschaftliche Sanktionen gegen die kriegsführenden Parteien, die Situation erzeugt zunehmend Nervosität unter den anderen Staaten des Kontinents.
Programm der Superreichen
Die herausragende Tatsache der post-kommunistischen Welt ist die wachsende Konkurrenz zwischen USA, Japan und Deutschland um die Vorherrschaft auf den Weltmärkten. Jede wirtschaftliche Supermacht hat sich Herrschaftsgebiete geschaffen, von denen aus die Wettbewerber aus dem Feld geschlagen werden sollen. Die USA haben während der letzten zwei Jahrzehnte ihre Wettbewerbsvorteile in vielen Produktgebieten verloren, zum Beispiel im Automobil- und Elektronikbereich. Hieraus ergab sich für die USA ein riesiges Handelsdefizit sowohl mit Japan (und anderen asiatischen Ländern) als auch in einem geringerem Ausmaß mit Deutschland.
Der Rückzug der US-Truppen aus Europa und Japan bewirkt, daß die NATO und andere militärische Bündnisse den US-amerikanischen Politikern nicht länger als “wirtschaftspolitischer” Hebel dient. Drohende Handelskriege sind scharfe Schwerter, die sowohl US-amerikanische Exporteure und Importeure als auch die US-KosumentInnen insbesondere der niedrigen Einkommensschichten treffen können. Der kongenialste und am besten mit historischen US-Strategien (Monroe-Doktrin, Panamerikanische Union, Allianz für den Fortschritt) zu vereinbarende Weg ist eine regionale Blockstrategie. Innerhalb dieses Blocks könnte die USA als hegemoniale Kraft Handels-, Investitions-, Zins- und Patenteinkünfte aus Lateinamerika herausziehen. Von diesem Standpunkt aus gesehen, sind Lateinamerika und Kanada strategische Quellen für die Akkumulation und den Gewinntransfer, für Zins- und Patenteinkünfte, um die negativen Transfers hinsichtlich anderer Regionen zu kompensieren. Die Handelsbilanzüberschüsse mit den lateinamerikanischen Ländern dienen zur Kompensation der negativen Handelsbilanzen bezüglich Asiens und Westeuropas. Die kostengünstige Produktion in Lateinamerika (Billiglöhne in Mexiko und der Karibik) erlaubt es US-amerikanischen ProduzentInnen in Übersee und auf dem heimischen Markt, mit den weltweiten Wettbewerbern zu konkurrieren.
In diesem Zusammenhang war die Liberalisierung in Lateinamerika notwendig, um dem US-amerikanischen Kapital Zugang zu Märkten und Einkünften zu liefern und somit wettbewerbsfähig zu bleiben. In diesem Sinne ist die Liberalisierung eng mit den globalen strategischen Interessen der USA verbunden. Diese Politik wird von den USA seit den frühen siebziger Jahren konsistent und kontinentweit betrieben. Liberalisierung wurde mittels IWF und Weltbank durch US-amerikanische Offizielle verfolgt: Lateinamerikanische Diktatoren, die die Liberalisierung förderten, wurden finanziert und unterstützt, ein Übergang zu demokratischen Systemen wurde von Washington unter der Bedingung gefördert, daß die neuen demokratischen Systeme die Liberalisierung vertieften. Liberalisierung ist Teil und Grundbaustein der US-amerikanischen globalen Politikstrategie: Insoweit, als Liberalisierung funktioniert hat, hat sie vorrangig zum Nutzen der US-amerikanischen Transnationalen Konzerne (TNC) und Banken funktioniert, aber noch wichtiger war sie für die US-amerikanische Wirtschaft als Ganzes. Liberalisierte lateinamerikanische Volkswirtschaften liefern den USA strategischen Nutzen, um ihre Bilanzen auszugleichen.
Patent- und Lizenzeinkünfte
Der Kampf der USA um die Berücksichtigung von Bestimmungen zum “geistigen Eigentum” innerhalb der Verhandlungen zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) basiert auf der Tatsache, daß die Einkünfte aus Patenten und Lizenzen immer wichtiger in der Zahlungsbilanz der USA wurden. Zwischen 1972 und dem ersten Vierteljahr von 1994 beliefen die Einkünfte sich auf insgesamt 1,06 Milliarden US-Dollar. Von den sechziger bis zu den neunziger Jahren wuchsen sie förmlich in den Himmel: Betrug der jährliche Durchschnitt in der Dekade 1962/71 2,6 Millionen US-Dollar, stieg der Jahresdurchschnitt in der Periode 1972/81 auf 24,2 Millionen US-Dollar und in der Dekade 1982/91 auf 39,5 Millionen US-Dollar. 1992/93 betrug der Jahresdurchschnitt 189,8 Millionen US-Dollar. Patent- und Lizenzgebühren sind eine Art Renteneinkommmen, das nicht auf produktiven Investitionen beruht. Patent- und Lizenzeinkünfte ziehen Einkommen ab, ohne daß Wertschöpfung stattfindet.
Die wachsende Bedeutung der “Renteneinkünfte” für die Bilanzen der USA ist offensichtlich, wenn wir die US-amerikanischen Erträge aus Investitionen mit denen aus Patenten und Lizenzen vergleichen. Zwischen 1961 und 1971 betrugen die gesamten Patent- und Lizenzeinkünfte ein Drittel des Gesamtgewinns aus Direktinvestitionen (26 zu 76 Millionen US-Dollar). In der Periode von 1972 bis 1981 sank das Verhältnis von Patent- und Lizenzeinkünften zu den Gewinnen aus Direktinvestitonen auf sechs Prozent (242 zu 4176 Millionen US-Dollar). Während der Phase von 1982 bis 1991 stiegen die Einnahmen aus Patenten und Lizenzen auf 395 Millionen US-Dollar, während die Direktinvestitionen in Lateinamerika einen Verlust von 373,9 Millionen US-Dollar erbrachten. In der Zeit von 1992 bis 1993 waren die Einkünfte aus Patenten und Lizenzen dreimal so groß, wie die Profite aus den Direktinvestitionen.
Profite aus Direktinvestitionen
In der zwanzigjährigen Periode von 1962 bis 1981 führten die US-amerikanischen Transnationalen Konzerne 4,25 Milliarden US-Dollar an Gewinnen zurück. Dies war die Boomphase der lateinamerikanischen Ökonomien. Insbesondere von 1972 bis 1981 profitierten die US-amerikanischen Gesellschaften von der ersten Liberalisierungswelle und dem starken Zufluß von ausländischem Kapital nach Lateinamerika.
Mit dem Beginn der Weltrezession 1982 verursachten die Schuldenkrise und die Strukturanpassungsprogramme (SAP) ein Schrumpfen des lateinamerikanischen Marktes. Die Konsumausgaben gingen zurück und die meisten Volkswirtschaften der Region gerieten ins Trudeln. Durch die massive Kanalisierung der Ressourcen in devisenerzeugende Sektoren, um den Schuldendienst leisten zu können, sanken die Gewinnrückführungen in die USA steil ab. In der Phase von 1982 bis 1991 gab es einen Verlust von 373,9 Millionen US-Dollar. Wie sich noch zeigen wird, gibt es eine inverse Beziehung zwischen Zinszahlungen und Gewinnrückführungen: Sofern die Banken große Summen an Zins- und Tilgungszahlungen herausziehen, fallen die Profite aus den produktiven Investitionen. Nichtsdestotrotz lieferte die Schuldenkrise für den IWF und die Weltbank einen Hebel, um die Privatisierung von öffentlichen Unternehmen zu puschen. Viele dieser Firmen wurden von US-amerikanischen TNCs gekauft. Als die begrenzte wirtschaftliche Erholung einsetzte, stiegen auch die Gewinnrückführungen US-amerikanischer Unternehmen wieder an. Im Zeitraum von 1992 bis zum ersten Quartal 1994 wurden 150 Millionen US-Dollar zurücktransferiert. Gegenüber den schlechten Ergebnissen in den achtziger Jahren eine klare Verbesserung, jedoch wurde das Niveau der Periode 1972 bis 1981 bei weitem nicht erreicht. Die Schuldenkrise und die Strukturanpassungsprogramme hatten nicht nur einen nachteiligen Effekt auf die lateinamerikanischen Ökonomien, sondern ebenso eine substantiell negative Auswirkung auf die Ertragslage der US-amerikanischen TNCs.
Zinszahlungen
Zinserträge waren im Untersuchungszeitraum die Hauptquelle bei Privaterträgen aus überseeischen Wirtschaftsaktivitäten. Die wachsende Liberalisierung des Kapitalverkehrs und die Wandlung der USA in einen Gläubiger der lateinamerikanischen Investoren privater oder öffentlicher Provenienz, führte zu erhöhten Schuldenlasten in Lateinamerika. Spiralenförmig ansteigende Zinsen führten zu einem massiven Anstieg der Zahlungen an die USA. Zinszahlungen von Lateinamerika an die USA waren ein bedeutendes Gegengewicht zum US-amerikanischen Handelsdefizit gegenüber Japan und Deutschland. Während die USA dabei gegenüber Lateinamerika in der Gläubigerposition waren, befanden sie sich gegenüber dem Rest der fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten in der Schuldnerstellung. Die gesamten Zinszahlungen von Lateinamerika in die USA in der Zeit von 1972 bis 1992 betrugen mehr als 233 Milliarden US-Dollar, wobei 206 Milliarden US-Dollar zwischen 1982 und dem ersten Quartal 1994 transferiert wurden. Diese ausgedehnten Transfers hatten einen äußerst negativen Effekt auf das lateinamerikanische Wachstum und die Im- und Exportnachfrage des Subkontinents. Hingegen boten sie den USA eine ziemlich große Einkommensquelle, um die Defizite gegenüber Japan und Deutschland zu kompensieren.
“Liberalisierung” hat die Folge steigender Zins- und Rentenzahlungen an die USA zu Lasten des Wachstums an Produktivvermögen. Liberale Wirtschaftspolitik erhöhte die Abflüsse durch Zinszahlungen, während es gleichzeitig den Abschluß von Lizenz- und Patentverträgen erleichterte. Privatisierung ermöglichte den Ausverkauf öffentlicher Unternehmen und belebte die Gewinnaussichten wieder.
Die Zahlungsströme in die USA zeigen ein insgesamt spektakuläres Ansteigen im Zuge der Vertiefung der Liberalisierung – insbesondere der Zins- und Rentenzahlungen. Es ist kein Wunder, daß auf einen “freien Markt” gerichtete Politikmaßnahmen zum Kernstück der US-Politik wurden und dies ist ein Grund, warum US-PolitikerInnen bereit sind, demokratische Regierungen, die auf den “freien Markt” orientiert sind, gegen Militärputsche zu unterstützen.
Handel USA-Lateinamerika
Wenn wir nun den US-amerikanischen Handelsüberschuß gegenüber Lateinamerika untersuchen, fügen wir eine andere Dimension der asymetrischen Beziehungen zwischen den USA und Lateinamerika hinzu. Eine Dimension, die für die Unterstützung von “Freihandelsabkommen” durch die USA grundlegend ist. Von den sechziger Jahren bis zum Beginn der Schuldenkrise in den Achtzigern hatten die USA einen substantiellen Handelsüberschuß gegenüber Lateinamerika. In der Phase 1962 bis 1971 betrug der jährliche Überschuß 426 Millionen US-Dollar, in der Zeit von 1972 bis 1981 wuchs der jährliche Überschuß auf 4,3 Milliarden US-Dollar. Das Umschlagen in ein Defizit begann 1983 und hielt bis 1989 an. Das durchschnittliche jährliche Defizit in der Periode 1972/81 betrug 1,725 Milliarden US-Dollar. Mit der ökonomischen Erholung in Lateinamerika begannen die USA erneut einen Handelsbilanzüberschuß zu akkumulieren. Der jährliche Überschuß betrug 1992/93 2,2 Milliarden US-Dollar. Der Handelsüberschuß der USA hatte in der ersten Dekade der Liberalisierung (1970-82) steigende Tendenz. Mit der Schuldenkrise und den Strukturanpassungsprogrammen sanken die US-amerikanischen Exporte nach Lateinamerika, während die Importe infolge der lateinamerikanischen “Exportstrategie” anstiegen. Die vom IWF entworfene “Exportstrategie” sollte Einkommen schaffen, um den Schuldendienst an die Banken zu gewährleisten. Nichtsdestotrotz haben langfristig gesehen, die Strukturanpassungsprogramme neue Möglichkeiten für die USA geschaffen, die lateinamerikanischen Märkte wieder zu erobern und noch tiefer einzudringen. Wenn wir die vier der Schuldenkrise vorangegangenen Jahre (1979-82) mit den Jahren nach der Anpassung (1990-93) vergleichen, beobachten wir, daß die Konsequenzen der vertieften Liberalisierung ein Ansteigen des US-amerikanischen Handelsüberschusses über seine historischen Höchstmarken ist. Während einerseits die Schuldenkrise und die Strukturanpassungsprogramme für die USA einen zeitweisen Verlust an Märkten mit sich brachte, führten sie langfristig über den Wegfall von Schutzmaßnahmen zu einem stärkeren Eindringen und der Übernahme von lateinamerikanischen Märkten. Wenn wir die Handelsbilanz USA-Lateinamerika mit der Handelsbilanz USA-Japan in der Zeit von 1970-82 vergleichen, sehen wir, daß die vorteilhaften Bilanzen gegenüber Lateinamerika teilweise für die Defizite mit Japan aufkommen. Während der Schuldenkrise (1983-1989) machte das Defizit der USA gegenüber Lateinamerika nur ein Bruchteil des Defizites gegenüber Japan aus. Mit der wirtschaftlichen Erholung in Lateinamerika tauchte der Überschuß gegenüber Lateinamerika wieder auf, ist allerdings nur ein Bruchteil des Defizites gegenüber Japan und deckt kaum das Defizit gegenüber Deutschland.
Lateinamerika:
Die kumulative Bilanz
Wenn wir die drei Quellen US-amerikanischen Einkommens aus Lateinamerika addieren (Rente, Handelsgewinn, Unternehmensprofit) und mit den Handelsdefiziten gegenüber Japan und Deutschland vergleichen, verstehen wir die strategische Bedeutung Lateinamerikas für die US-amerikanische Gobalpolitik. Lateinamerikas Beitrag zur weltweiten Stellung der USA wird noch deutlicher, wirft mensch einen Blick auf die Gesamteinkünfte aus Handel, Investitionen, Darlehen und Lizenzabkommen. Zwischen 1962 und 1971 betrug der kumulative Rückfluß in die USA 6,5 Milliarden US-Dollar, 1972 bis 1981 waren es 75,5 Milliarden US-Dollar und im Zeitraum von 1982 bis 1991 156,4 Milliarden US-Dollar und 1992/93 38,1 Milliarden US-Dollar. Ohne die wachsende Ausbeutung Lateinamerikas hätte sich der Niedergang der USA stärker zu Buche geschlagen.
In der Zeit von 1962 bis 1971 betrug das US-amerikanische Einkommen aus Lateinamerika drei Viertel des Handelsdefizits gegenüber Japan und übertraf das Handelsdefizit gegenüber Deutschland um 50 Prozent. In der folgenden Dekade entsprachen die Einkünfte aus Lateinamerika dem Handelsdefizit gegenüber Japan. Im letzten Jahrzehnt von 1982 bis 1991 verdoppelten die USA zwar ihr Einkommen aus Lateinamerika, jedoch wuchs das Handelsdefzit gegenüber Japan um das fünfeinhalbfache und das gegenüber Deutschland gar um das siebenfache. Das selbe Muster scheint sich im gegenwärtigen Jahrzehnt fortzusetzen. Die Liberalisierung Lateinamerikas hat den von den USA angeeigneten Überschuß erhöht. Die wachsende Ausbeutung Lateinamerikas korrespondiert mit der sich verschlechternden Handelsposition der USA gegenüber den Haupthandelspartnern auf dem Weltmarkt.
Milliardäre in Lateinamerika
Parallel zur erhöhten Ausbeutung Lateinamerikas durch die USA haben die auf einen “freien Markt” zielenden Politikmaßnahmen zu einer tiefen Polarisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften geführt und eine neue Klasse von superreichen Milliardären hervorgebracht. Diese Klasse ist ein direktes Produkt des Liberalisierungsprozesses: 1987 gab es in Lateinamerika weniger als sechs Milliardäre, 1990 waren es acht, 1991 zwanzig und 1994 gab es schon deren 41. Die meisten der Superreichen waren vor der Liberalisierung Millionäre. Sie wurden Milliardäre durch den Ausverkauf der öffentlichen Unternehmen während der späten achtziger und der neunziger Jahre. Zwangsläufig kontrolliert diese Klasse von Milliardären mit ihrem ausgedehnten Mediennetzwerk und ihren Verbündeten im Staatsapparat die Wirtschaftspolitik und die Wahlprozesse. In Mexiko durch die PRI, in Brasilien durch die korrupte politische Klasse, in Chile durch die Concertación, und in Argentinien, Venezuela und Kolumbien durch die traditionellen zwei großen Parteien. Die Superreichen haben wertvolle Minenkonzessionen, Telekommunikationssysteme, Vermögen im Tourismus und der Industrie erlangt.
Die große Konzentration des Wohlstands auf eine kleine Gruppe von Familien ist eine der auffälligsten “Erfolgsstories” in Lateinamerika: Diese Gruppen haben das Obergeschoß der “Ersten Welt” im wahrsten Sinne des Wortes erreicht. Sie haben nicht nur von der Liberalisierung profitiert – zu Lasten der Bevölkerungsmehrheit – sondern waren dank ihrer Verbindungen zu den liberalen Regierungen die größten Unterstützer der neoliberalen Politik.
Dabei ist der Prozeß der Vermögenskonzentration in Lateinamerika Teil eines weltweiten Prozesses – Produkt der “neoliberalen Konterrevolution.” Im Zeitraum von 1987 bis 1994 stieg die Anzahl der Superreichen in den USA von 49 auf 120, in Asien von 40 auf 86, in Europa von 36 auf 91 und im Mittleren Osten und Afrika von 8 auf 14.
Der Begriff Zentrum/Peripherie erfaßt die Verflechtungen zwischen den superreichen Klassen im Norden und Süden nicht. Diese sind durch eine Vielzahl von Investitionen, Finanz- und Handelskreisen als auch Lizenzierungsabkommen miteinander verbunden. Die Integration der Superreichen in den Weltmarkt und ihre Fähigkeit, den Nationalstaat zu lenken und zu regulieren, damit er ihre internationalen Verbindungen finanziert und subventioniert, ist zur auffälligsten Erscheinung in der Weltpolitik geworden. Globalismus ist das Programm der Superreichen.
Das gleichzeitige Wachstum der Klasse der Milliardäre in Lateinmerika und der Ausbeutung Lateinamerikas durch die USA sind duale Ergebnisse der “neoliberalen Konterrevolution”. Dies ist am offensichtlichsten in den Ländern, die auf dem neoliberalen Pfad am weitesten fortgeschritten sind: Mexiko hat 24 Milliardäre und war die Hauptquelle des Handelsgewinns, der Lizenz- und Profiteinkommen für die USA. Brasilien mit sechs, Argentinien, Chile und Kolumbien mit jeweils drei und Venezuela mit zwei Milliardären folgen.
Der Hauptgrund für die wachsende Armut und den Abbau im Gesundheits- und Bildungswesen liegt in der Umverteilung der öffentlichen Ressourcen zum Privatsektor und innerhalb des Privatsektors zu den sehr Reichen. “Neoliberalismus” ist in seiner Essenz eine Beschönigung für die Konzentration des Einkommens durch die internationale Regulierung der Staatspolitik. Einkommen wird nach oben und nach außen transferiert. Die Armen werden dem Überlebenskampf überlassen: Mit marginalen Kleinstunternehmen, mit informeller Beschäftigung und mit Almosen aus Projekten, die von Nicht-Regierungs-Organisationen gesponsert werden, versuchen sie, sich über Wasser zu halten.
Jedenfalls ist Liberalisierung nicht oder nicht bloß eine “Entwicklungsstrategie”, die ausgearbeitet wurde, um Lateinamerikas Integration in den Weltmarkt zu erleichtern. Noch ist sie ein unvermeidliches Produkt eines immanenten “Globalisierungsprozesses”. Eher ist Liberalisierung ein Produkt von US-amerikanischen Wirtschaftspolitikern, Bankern und Transnationalen Gesellschaften, die mit lateinamerikanischen transnationalen Kapitalisten verbunden sind. Es sind spezifische Klassen und Staatsinteressen und nicht Imperative des Weltsystems, die die neue liberale politische Ökonomie diktieren. In diesem Sinne muß die Umkehrung der Liberalisierung auf der nationalen Ebene innerhalb der Klassenstruktur beginnen und dann nach oben und außen weitergetragen werden.
Im Sog der Integrationswelle
WirtschaftswissenschaftlerInnen bekommen bei Begriffen wie Freihandelszone, Zollunion oder gar Gemeinsamer Markt feuchte Augen. Wachsende Märkte ohne Grenzen bedeuten steigenden Handel, erhöhte Binnennachfrage und intensivierte Investitionstätigkeit, Produktivitätsgewinne und freien Kapital- und Personenverkehr. Soviel zur Theorie.
Die Europäische Union (EU) hat vorgeführt, wie ein Zusammenschluß funktioniert: Zunächst wird eine Freihandelszone vereinbart, innerhalb der die Zölle schrittweise abgebaut werden. Dann folgt der Übergang zu einer Zollunion mit gemeinsamem Außenzoll und immer mal wieder werden ein paar neue Mitglieder aufgenommen. Schließlich versucht mensch sich am Gemeinsamen Markt, also der makroökonomischen Koordinierung und Harmonisierung des Personen-, Kapital-, Güter- und Technologieverkehrs und stößt dabei auf Grenzen, wie die Rückschläge bei der angestrebten Währungsunion zeigen.
Der Trend des Sich-Zusammenschließens ist also nicht neu; wohl aber hat er sich seit Anfang der 90er Jahre weltweit enorm verstärkt. Nach der jahrzehntelangen Binnenorientierung, die mit der Zahlungsunfähigkeit Mexikos 1982 ein abruptes Ende nahm, kann sich auch Lateinamerika der zunehmenden Blockbildung nicht mehr entziehen, wenn es auf dem Weltmarkt bestehen will. Einzelne Länder erweisen sich gegenüber den Kolossen in Europa, Asien und Nordamerika als Peanuts, deren Handlungsfähigkeit und Beeinflussungsmöglichkeiten des Weltmarktes ständig weiter sinken.
Von den vielen subregionalen Freihandelszonen, die sich im Laufe der letzten 30 Jahre in Lateinamerika gebildet haben, heben sich die beiden jüngsten – MERCOSUR und NAFTA – durch ihre Größe und das Tempo hervor, mit dem sie in Kraft traten: Der MERCOSUR hat bereits den Sprung zur Zollunion zumindest einbeinig vollbracht.
Appetithappen Uruguay
Der MERCOSUR besteht aus äußerst ungleichen Ländern, was sich sowohl auf die geographische als auch auf die wirtschaftliche Größe bezieht.
Brasilien dominiert den MERCOSUR wirtschaftlich und ist gleichzeitig auch das von diesem Markt unabhängigste Land, da es nur jeweils 14 Prozent seiner Ex- und Importe mit den Nachbarländern abwikkelt. Diese Dominanz drückt sich vor allem in einem wettbewerbs- und damit exportfähigen Industriesektor, insbesondere dem Kraftfahrzeug- und Maschinenbau, aus. Brasilien hat daher seit Einrichtung der Freihandelszone 1991 am meisten profitiert, indem es seine Exporte um knapp 130 Prozent steigern konnte. Seit Cardosos Wahl redet auch niemand mehr von der Instabilität des Landes in Sachen Währung und Inflation. Auch die von Mexiko ausgehende Finanzkrise wird das Land aufgrund seiner exportorientierten Technologiesektoren nicht so schwer treffen wie den Partner Argentinien. Brasilien ist der unangefochtene Motor des Integrationsprojektes MERCOSUR. Wie auch im Falle Deutschlands in der EU zeigt sich, daß das dominante Land die positivsten wirtschaftlichen Effekte aus fortschreitenden Wirtschaftszusammenschlüssen für sich verbuchen kann.
Argentinien folgt Brasilien mit weitem Abstand, trotz des angegebenen höchsten Pro-Kopf-Einkommens. Während Brasilien hauptsächlich kapitalintensive Industriegüter nach Argentinien exportiert, bewegen sich die Exporte in die andere Richtung vorwiegend im traditionellen Bereich der Rohstoffe und der wenig verarbeiteten Produkte. Das Land muß nach der derzeitigen mexikanischen Finanzkrise am stärksten mit dem Übergreifen dieser Krise, dem sogenannten “Tequila-Effekt”, rechnen. Schließlich gilt Argentinien als Abwertungs- und Krisenkandidat Nummer eins. Jahrelanges Festhalten am per Gesetz festgelegten 1:1-Wechselkurs zum US-Dollar haben zu einer starken Überbewertung des Pesos geführt, da die Inflationsraten der beiden Länder weit auseinander liegen. Durch hohe Zinsen wurden massiv Kapitalanlagen aus dem Ausland angezogen – allerdings nur kurzfristige. Für Investitionen sind jedoch mittel- und langfristige Kredite erforderlich, für deren Vergabe die Banken wiederum mittel- und langfristige Einlagen von KapitalanlegerInnen benötigen. So wurde Argentinien die letzten vier Jahre stabilisiert, ohne daß starke Produktivitätssteigerungen durch Investitionen ereicht wurden. Die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit ist zu kurz gekommen, das Handelsbilanzdefizit gestiegen. Sollte es noch vor oder kurz nach dem Ende der Amtszeit Menems zu einer Abwertung kommen, die auf bis zu 45 Prozent geschätzt wird, so wäre kurzfristig mit einer weiteren Verschlechterung der Handelsbilanz zu rechnen, da inbesondere Großunternehmen, die hohe Importrechnungen zu begleichen haben, in arge Zahlungsschwierigkeiten geraten würden.
Die Einbeziehung Uruguays und Paraguays hat rein strategische Gründe. Böse Zungen behaupten, Paraguay sei nur in den MERCOSUR gekommen, weil es über genügend Wasser für die Stromversorgung der Nachbarländer verfügt (vgl. hierzu den Paraguay-Artikel über den Yasyretá-Staudamm in diesem Heft). Uruguay liegt als kleiner Sandwichhappen zwischen Brasilien und Argentinien. Während in vielen Ländern der Kauf eines direkt am Heimatland liegenden Grundstückes durch AusländerInnen verboten ist, ist in Uruguay der Nordosten des Landes mittlerweile sozusagen eine Provinz von Südbrasilien geworden: Brasilianische UnternehmerInnen beschäftigen brasilianische ArbeitnehmerInnen.
Als Trostpflaster und zur Beruhigung der Uruguayos ist in Montevideo das ständige Sekretariat des MERCOSUR eingerichtet worden, durch welches die weitere Integration koordiniert werden soll.
Die beiden kleinen Länder haben Angst davor, von den großen – zumindest wirtschaftlich – geschluckt zu werden, können sich aber gleichzeitig nicht alleine auf dem Weltmarkt behaupten und sind daher auf eine Integration angewiesen. Sowohl Paraguay als auch Uruguay sind extrem abhängig von ihren Nachbarländern: Für Uruguay liegt die Exportquote in die MERCOSUR-Länder bei 42 Prozent, die Importe bei 56 Prozent, für Paraguay nur unwesentlich darunter. Beide Staaten versuchen, den Integrationsprozeß so weit wie möglich zu bremsen, ohne tatsächlich hinausgeworfen zu werden. Ihre Anpassungslast an zunehmende Konkurrenz soll durch Ausnahmeregelungen und Kompensationsmechanismen verringert werden. Viele der Ausnahmen der verkappten Zollunion, für die noch kein gemeinsamer Nenner gefunden werden konnte und die bis zum Jahre 2006 beseitigt sein sollen, beruhen auf paraguayischen und uruguayischen Einwänden.
Die Ungleichgewichte werden sich in absehbarer Zeit kaum abbauen lassen. Selbst in der EU, die über einen Regionalfonds als Kompensationsinstrument verfügt, kann von einer merklichen Angleichung kaum die Rede sein: Portugal und Griechenland bilden weiterhin die Schlußlichter der Gemeinschaft, und auch die übrigen “rückständigen” Regionen kommen durch die Fondszahlungen kaum an die “fortschrittlichen” heran.
Gewissensfrage: NAFTA oder MERCOSUR?
Trotz der Schwierigkeiten bei der Verwirklichung der Zollunion, haben sich bereits weitere Kandidaten für den Beitritt ausgesprochen. Bolivien hat Interesse an einer Aufnahme angemeldet – in der Region um Santa Cruz haben sich immer mehr brasilianische Unternehmen angesiedelt und sind zu einem wichtigen Faktor der bolivianischen Wirtschaft geworden -, eventuell wollen auch Kolumbien und Venezuela beitreten. Chile ist grundsätzlich interessiert, hat aber seinen Spagat zwischen NAFTA und MERCOSUR durch die Verhandlungsaufnahme mit der NAFTA seit kurzem sogar noch vergrößert.
Hat der MERCOSUR Chancen gegen die NAFTA? Das US-Angebot des NAFTA-Beitritts könnte auf der einen Seite gerade durch die Mexiko-Krise für andere Länder attraktiv werden: massive Zahlungen des reichen Partners im Norden sollen ein komplettes Ausscheren Mexikos verhindern. Innerhalb des MERCOSURS verfügt kein Land über ausreichende Möglichkeiten, die Krise eines anderen aufzufangen: Brasilien steht noch am Anfang einer Stabilitätsphase und Argentinien am Ende. Beide Länder werden sich hüten, kriselnde MERCOSUR-Mitglieder durch Stützungskäufe zu retten.
Auf der anderen Seite zeigt die Mexikokrise, wie schwierig eine Integration selbst für ein im lateinamerikanischen Raum wirtschaftlich so fortschrittliches Land wie Mexiko sein kann. Eine großamerikanische Gemeinschaft rückt erst einmal in weite Ferne; wer sich der NAFTA anschließt, muß sich auf eine längere Zeit der lockeren Zusammenarbeit einrichten.
Derweil hat sich der MERCOSUR schon einen Schritt weiter gewagt als die NAFTA und will zum Ende der 90er Jahre eine gewisse Eigenständigkeit vorweisen, mit der er dann geschlossen in Verhandlungen mit anderen Blöcken auftreten kann, beispielsweise eben mit der NAFTA. Ein regionaler Zusammenschluß, der ausnahmsweise nicht unter der Herrschaft Nordamerikas steht, sondern eine eigene Regionalmacht – Brasilien – hat, ist eine nicht zu unterschätzende Option, um den USA nicht nur als Rohstoffversorger und verlängerte Werkbank zu dienen.
NAFTA-Fieber
Die Integration des Musterlandes des Kontinents, das sich in den vergangenen Jahren durch wirtschaftliche Stabilität und steigende Wachstumsraten hervorgetan hatte, soll nach dem Willen der Präsidenten der bisherigen Mitgliedsstaaten USA, Kanada und Mexiko die Süderweiterung der Freihandelszone einleiten, die bis zum Jahr 2005 den gesamten Kontinent umfassen soll. Die Verhandlungen mit Chile sollen Mitte 1996 abgeschlossen sein.
APEC und NAFTA und MERCOSUR und …
Die chilenische Geschäftswelt ist von den Signalen aus Miami vom Anfang Dezember ebenso hellauf begeistert wie die Regierung. Präsident Eduardo Frei sprach von “einem historischen und entscheidenden Augenblick”, der allerdings auch ein großes Risiko mit sich bringe. “Wir machen einen enormen Schritt vorwärts und brauchen dazu die Unterstützung des ganzen Landes.” Nur gut drei Wochen zuvor war der Beitritt zur pazifischen Handelsgemeinschaft APEC unter Dach und Fach gebracht worden, wodurch sich Chile eine Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen zu Japan und den eigentlichen “Tigern” in Südostasien erhofft. Um eventuellen Zweifeln der Nachbarländer vorzubeugen, beeilte sich Außenminister José Miguel Insulza zu versichern, “die Verhandlungen mit der NAFTA stehen der Annäherung an den MERCOSUR nicht im Wege”. Das Interesse an der südamerikanischen Wirtschaftsunion (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay) wurde nicht zuletzt durch die Teilnahme hochrangiger chilenischer Regierungsvertreter am konstituierenden MERCOSUR-Treffen im brasilianischen Ouro Preto bekräftigt.
Nun stehen auch die Türen zu den traditionellen Partnern im Norden weiter offen denn je. Bereits in der Vergangenheit wickelte Chile immerhin 18 Prozent der Exporte und 23 Prozent der Importe allein mit den USA ab.
Erwartet werden jetzt ein deutlicher Anstieg der Auslandsinvestitionen in Chile – 50 Prozent der bisherigen Investitionen stammen bereits aus den drei NAFTA-Staaten – sowie des Warenaustausches mit den Partnerstaaten im Norden. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen der drei NAFTA-Staaten werden bereits in den ersten Monaten nach dem Beitritt Steigerungen von 20 bzw. 25 Prozent erwartet. Es erscheint aber sehr fragwürdig, ob sich die in den USA beobachtete positive Auswirkung der NAFTA auf den Arbeitsmarkt, wo seit Anfang dieses Jahres 130.000 Stellen neu geschaffen wurden, auf Chile übertragen läßt. Der chilenische Gewerkschaftsverband CUT befürchtet für Chile die gegenteilige Wirkung. Ihr Vizepräsident Arturo Martíriez geht davon aus, daß in den ersten beiden Jahren nach dem Beitritt mehr als 10.000 Arbeitsplätze verloren gehen, vergleichbar mit der sich in Mexiko abzeichnenden Entwicklung.
Nord-Süd-Gefälle außerhalb wie innerhalb Chiles
Ein entscheidender Grund für die gegenläufigen Tendenzen in den bisherigen drei und bald vier NAFTA-Ländern liegt in den grundverschiedenen Ausgangsbedingungen. Das jahrhundertalte Nord-Süd-Gefälle ist auch durch das Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre nicht überwunden. Ein Vergleich des Pro-Kopf-Einkommens ist überaus aufschlußreich: In den USA und in Kanada liegt es bei 20.000, in Mexiko dagegen nur bei 2.700 US-Dollar. Mit 3.300 US-Dollar pro EinwohnerIn wird auch Chile nicht über die Rolle eines Junior-Partners hinauskommen.
Das spüren auch diejenigen, die wahrscheinlich am heftigsten vom NAFTA-Beitritt betroffen sein werden: Viele chilenische Landwirte wittern Konkurrenz aus dem hochtechnisierten Norden und dem Billiglohnland Mexiko. Gerade die mittleren und kleinen ProduzentInnen im Süden des Landes sehen ihre inländischen Absatzmärkte in Gefahr. Während in Zentral- und in Nordchile in den vergangenen Jahren gerade in der Agrarwirtschaft diversifiziert wurde, ist das an ihnen im Süden weitgehend vorbeigegangen. Jetzt schickt Chile sich erneut an, zum Musterschüler der EntwicklungsstrategInnen zu werden, indem es – obwohl auf der südlichen Halbkugel gelegen – das Nord-Süd-Gefälle kopiert. Nach einer Untersuchung der Agrarwissenschaftlerin Eugenia Muschnik von der Katholischen Universität in Santiago werden durch den NAFTA-Beitritt knapp 2.800 Arbeitsplätze in der Landwirtschaft entstehen. Neue Beschäftigungsmöglichkeiten wird es aber ausschließlich in den nördlichen Landesteilen in der Landwirtschaft (Wein und andere Obstsorten, Tabak, Spargel, Geflügel) und in der ebenfalls dort ansässigen Agroindustrie (Fruchtsaft, Obstkonserven, Rosinen, Tomatenmark) geben. In der überwiegend im mittleren Süden angesiedelten traditionellen Landwirtschaft gehen gleichzeitig 7.700 Arbeitsplätze verloren.
Frei zeigt sich undiplomatisch
Widerstand kommt deshalb vor allem von den LandwirtInnen im herkömmlich fruchtbaren Teil des Landes, das südlich der Hauptstadt Santiago beginnt und sich über mehr als 800 Kilometer erstreckt. Ende Dezember machten sie ihre Streikandrohung wahr und blockierten nach dem Vorbild der französischen Bauern und Bäuerinnen für mehrere Stunden die Panamericana im Süden des Landes.
Die Frei-Regierung, die sich durch ein eher technokratisches Management der Wirtschaftspolitik auszeichnet, hat bisher wenig diplomatisches Geschick im Umgang mit denen gezeigt, die Widerstand gegen ihre ausschließlich marktorientierte Politik leisten. Der in allen Medien bejubelte NAFTA-Beitritt vertiefte den Graben zwischen Regierung und ArbeiterInnen weiter.
Als wesentlichen Faktor der negativen Auswirkungen auf die ArbeitnehmerInnen bekämpft die CUT in erster Linie das chilenische Arbeitsgesetz. Fünf Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur sind nämlich weiterhin wichtige Passagen des pinochetistischen Plan Laboral in Kraft, der unter anderem kaum Kündigungsschutz bietet und keine Tarifverhandlungen auf überbetrieblicher Ebene zuläßt.
Der sozialistisch-sozialdemokratische Arbeitsminister Jorge Arrate versuchte, dem seit Wochen schwelenden Konflikt die Schärfe zu nehmen, indem er noch für Januar die Vorlage von Gesetzesentwürfen zur Änderung des Arbeitsrechts versprach. Ob er damit die chilenischen ArbeitnehmerInnen im Hinblick auf den NAFTA-Beitritt beruhigen kann, ist eher zweifelhaft. Die Erinnerungen an die letzte große Weltmarktöffnung Anfang der 80er Jahre unter der Pinochet-Diktatur sind für Manuel Bustos und viele seiner KollegInnen noch allzu gut in Erinnerung, als daß die Gewerkschaftsbewegung nun den NAFTA-Beitritt begrüßen könnte. Damals brachen ganze Industriezweige zusammen, die Arbeitslosigkeit schnellte auf über 30 Prozent.
Deshalb fordern die Gewerkschaften soziale und arbeitsrechtliche Bestimmungen als integrativen Bestandteil des NAFTA-Vertrages, ähnlich wie im EG-Vertrag verankert (siehe nebenstehendes Interview). Derartiges fehlt nämlich bisher, und weder die chilenischen UnternehmerInnen noch die US-Administration haben Interesse daran, sich diesbezüglich festlegen zu lassen.
Contreras als Bauernopfer der Militärs
Als das Regime von General Augusto Pinochet 1989 nach 16jähriger Herrschaft abgewählt wurde, hofften viele ChilenInnen auf die Aufklärung der unzähligen Menschenrechtsverletzungen. Die erste demokratisch gewählte Regierung unter Präsident Patricio Aylwin sah sich unter dem Druck der Menschenrechtsorganisationen gezwungen, Untersuchungen über politisch motivierte Morde, Verschleppungen und Folterungen einzuleiten. Die Ergebnisse wurden im sogenannten Rettig-Bericht vorgelegt, der akribisch die Verbrechen der Militärjunta auflistet. Opfer finden darin massenhaft Erwähnung, die Namen der Täter werden allerdings verschwiegen.
Vergangenheitsbewältigung auf chilenische Art
So kamen während der Aylwin-Regierung nur ganz wenige Fälle von Menschenrechtsverletzungen zur Anklage, in keinem Fall wanderten die Verantwortlichen ins Gefängnis. Die entsprechende Bilanz seines Nachfolgers Eduardo Frei, ebenfalls Christdemokrat und seit März 1994 an der Spitze einer Koalition aus Mitte-Links-Parteien, wird kaum besser ausfallen. Chile sonnt sich im Glanze seines Wirtschaftswunders und fiebert mehrheitlich der bevorstehenden Aufnahme in die NAFTA entgegen. Von Gerechtigkeit für die Opfer der Diktatur spricht fast niemand mehr.
Nur ab und zu führt die Menschenrechtsproblematik vergangener Jahre zu kleinen politischen Erdbeben: Fernando Castillo war erst wenige Wochen als Gouverneur von Santiago im Amt, als er sich offen für die Genehmigung einer Demonstration der Hinterbliebenen der Opfer des Pinochet-Regimes am 11. März vor dem Regierungspalast aussprach. Frei ließ die Demo verbieten – zweifellos auf Druck der Militärs – und setzte seinen Parteifreund Castillo kurzerhand ab. Der sozialistische Innenminister Germán Correa mußte seinen Hut nehmen, nachdem er sich allzu deutlich für die Entlassung von Polizeichef Rudolfo Stange ausgesprochen hatte. Stange hatte die Untersuchungen über die Ermordung von drei Kommunisten im Jahre 1985 durch falsche Aussagen behindert und wurde vorübergehend beurlaubt.
Der weitgehend reibungslose Abgang der Militärs wurde mit einer Reihe von Zugeständnissen erkauft. Die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, ist politisch nahezu unmöglich. Einzige Ausnahme von der bisherigen Praxis, alles unter den Teppich zu kehren, ist jetzt die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den langjährigen Leiter des gefürchteten Geheimdienstes DINA, Manuel Contreras, und seinen Stellvertreter. Möglich wurde die Eröffnung des Verfahrens durch die Intervention der USA, wo der Mörder von Letelier, Michael Townley, zu vier Jahren verurteilt worden war. Vor Gericht erklärte er, im Auftrag der DINA gehandelt zu haben. Deren einst allmächtiger Chef Contreras, der die Drecksarbeit für das Regime erledigt hatte, könnte nun das Bauernopfer sein, um das leidige Thema der Menschenrechtsverletzungen ein für alle Mal abzuhaken.
Wie unabhängig ist die Justiz?
Vor der Wiederaufnahme des Verfahrens wurde von allen Seiten Druck auf die Richter ausgeübt. Der weiterhin als Oberbefehlshaber des Heeres amtierende General Pinochet schickte eigens seinen Stellvertreter zum Justizministerium, um nachdrücklich das Interesse der Armeeführung an einer Herabsetzung des Strafmaßes auf fünf Jahre zu bekunden. Die Regierung verhält sich betont neutral. Verteidigungsminister Pérez Yoma verwies den Ex-Diktator auf die Unabhängigkeit der Justiz, als dieser ihn auf die Probleme ansprach, die das Urteil gegen Contreras im Heer hervorrufen dürfte. Die Armee könne nicht einerseits global die Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen ablehnen und sich andererseits derart bedingungslos hinter jemanden stellen, der genau deswegen verurteilt worden sei.
Bedrohlicher Riß in der Armee
Das chilenische Militär ist in dieser Frage gespalten. Heereschef Augusto Pinochet ist enormem Druck aus den eigenen Reihen ausgesetzt. Die Hardliner betrachten die Verurteilung eines der ihrigen, zudem eines Generals, für ein Sakrileg und einen unzulässigen Eingriff der Zivilstrafrichter in die Belange der Armee. Außerdem fürchten sie, daß ein derartiges Urteil in der Frage der Vergangenheitsbewältigung bahnbrechend sein und es ihnen ebenso an den Kragen gehen könnte. Hartnäckig halten sich Gerüchte, daß Contreras im Falle einer Haftstrafe in einer Kaserne vor dem Zugriff des Strafvollzugs geschützt wird.
Andererseits waren Contreras und die DINA unter den Uniformierten nie unumstritten. Die Auflösung dieses Militärgeheimdienstes bzw. seine Umstrukturierung zur CNI entsprach nicht zuletzt der Kritik aus den eigenen Reihen, die vornehmlich in der Luftwaffe und Marine laut wurde. Im Bewußtsein des fehlenden Rückhalts in den militärischen Chefetagen haben sich die Folterer und Mörder aus den Reihen der DINA seit vielen Jahren dagegen verwahrt, als Sündenböcke herzuhalten. Mit dem nahenden Ende der Diktatur wuchs das Bemühen, sich von deren Exzessen abzusetzen. “Die moralischen Vorstellungen von General Contreras unterscheiden sich von dem, was ich für richtig halte!” Wer das sagte, war nicht etwa ein Folteropfer oder ein ehemaliger politischer Gefangener, sondern niemand Geringerer als der ehemalige Vordenker und Chefideologe des Pinochet-Regimes, Jaime Guzmán. Bereits im Juli 1989 stand Contreras wegen des “Verschwindens” der Geschwister Andrónicos vor Gericht. Der inzwischen einem Attentat zum Opfer gefallene Guzmán war als Zeuge geladen und betonte den “tiefen Gegensatz”, in dem er während der Militärherrschaft zu Contreras gestanden habe. Auf die Frage nach den Methoden von General Contreras antwortete der eloquente Guzmán damals: “Ich glaube, es waren die wirkungsvollsten für seine Ziele, sie hielten aber wesentlich geringeren moralischen Anforderungen stand, als ich sie für erforderlich halte.” Folgerichtig habe er entscheidenden Anteil an der Auflösung der DINA gehabt.
Im Berufungsverfahren im Mordfall Letelier kann Guzmán nicht mehr aussagen. Der angeklagte Schlächter des Regimes hat ihn überlebt. Doch der einst mächtige Geheimdienstchef, der in den ersten Jahren die Drecksarbeit für Pinochet erledigte, könnte zum Bauernopfer der Aufarbeitung der jüngeren chilenischen Geschichte werden. Wird das Urteil der ersten Instanz bestätigt, wo Contreras zu sieben Jahren Haft verurteilt worden war, muß er seine Strafe in einem normalen Gefängnis absitzen. Der Versuch der Frei-Regierung, eigens für Verbrecher wider die Menschlichkeit ein Spezialgefängnis bauen zu lassen, hätte vielleicht die Haudegen des Heeres beruhigt, war politisch jedoch nicht durchsetzbar. Einen möglichen Ausweg bietet die Verkürzung des Strafmaßes auf fünf Jahre: Nach einem Gesetz der Aylwin-Regierung könnte die Haftstrafe dann nämlich in Hausarrest umgewandelt werden. Mit einem solchen Urteilsspruch könnte sich der überwiegende Teil der Gesellschaft in dem südamerikanischen Land arrangieren. Einerseits würde damit die Schuld des ehemaligen DINA-Chefs festgestellt, andererseits müßte kein Militär tatsächlich ins Gefängsnis wandern.
Eine Frau in der Hölle
Luz Arce war Sozialistin. Über eine persönliche Bekanntschaft wurde sie so etwas wie Sekretärin der Leibwache des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Nach dem Putsch 1973 ging sie in den Untergrund. Nach einigen Monaten einer recht ziellosen und eher schlecht als recht abgeschirmten Untergrundarbeit wurde sie verraten und verhaftet. Der Geheimdienst folterte sie, und sie hielt stand. Als sie einmal mit verbundenen Augen über den Flur eines geheimen Folterzentrums geführt wurde, schoß ihr ein Soldat in den Fuß. Die Geheimdienstbeamten wollten das Risiko nicht eingehen, sie verbluten zu lassen, denn jedeR tote Gefangene war eine vernichtete Informationsquelle. Die Ermordung von politischen Gefangenen mußte von höherer Stelle genehmigt werden. Deshalb brachten sie die Frau in ein Militärkrankenhaus. Sie wollte sterben und warf heimlich die Medizin weg, damit die Wunde sie vergifte. Die Wunde heilte von selbst zu. Ein Pfleger, der ihr beim Baden half, zwang sie zu perversen sexuellen Praktiken. Als sie halbwegs genesen war, fuhren Geheimdienstler sie zu ihren Eltern nach Hause, überwachten sie aber weiterhin.
Sie wird zur Kollaborateurin
Einige Wochen später wurde sie zusammen mit ihrem Bruder ein zweites Mal verhaftet. Wieder wurde sie gefoltert und vergewaltigt. Ihr Bruder hielt der Folter nicht Stand. Nach seinem Zusammenbruch überredete er sie, gemeinsam mit ihm eine Liste von Untergrundkämpfern zusammenzustellen. In der Sprache der Folterzentren “kollaborierten” die beiden. Sie achteten sorgsam darauf, daß die Liste aus Leuten bestand, die ihrerseits kollaborierten, im Ausland waren oder eine untergeordnete Rolle in der sozialistischen Parteihierarchie hatten. Einige Menschen wurden auf Grundlage dieser Liste verhaftet; ein paar davon sind bis heute “verschwunden”. Da alle anderen in die offiziellen chilenischen Gefängnisse überführt oder umgebracht wurden, war Luz Arce bald diejenige Gefangene, die am längsten verhaftet war. Sie wußte viel über die DINA und kannte viele Geheimdienstler. Das war gefährlich. Die DINA konnte nicht riskieren, sie laufen zu lassen. Einige Male hatte sie deutliche Anzeichen dafür, daß sie auf der Liste derer stand, die zum “Verschwindenlassen” selektiert wurden. Durch persönliche Beziehungen und einiges Glück überlebte sie.
Als Kollaborateurin genoß Luz Arce einige Privilegien, die den übrigen Gefangenen nicht zukamen. Sie durfte ihre Zellentür angelehnt lassen und duschen, wenn auch unter den Augen der Wächter, die aus Jux applaudierten, wenn sie sich auszog.
In der Silvesternacht 1974/75 lud der Stellvertreter des Kommandanten des Folterzentrums sie zu einem Gläßchen in sein Büro ein, besoff sich und vergewaltigte sie. Gleichzeitig vergewaltigten die Wachsoldaten die weiblichen Gefangenen. Inmitten der Schreie und des Stöhnens ergriff Luz Arce eines der schweren Dienstsiegel der DINA, das eine eiserne Faust zeigte, und schlug den Offizier, der sie vergewaltigt hatte, damit nieder. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie sich aus dem offenstehenden Waffenmagazin eine Maschinenpistole nehmen und die übrigen Gefangenen befreien sollte, denn das Wachpersonal war nackt und wehrlos. Dann ging sie zu einem Telefon und rief den Kommandanten des Folterzentrums an, der zu Hause Silvester feierte. Der Kom-mandant kam mit einigen Offizieren im Kampfanzug und vorgehaltener Waffe und bereitete der Vergewaltigungsorgie ein Ende. Der Vergewaltiger wurde in einen der engen Kästen gesteckt, die der Folter an Gefangenen dienten, und von da an bedurfte die Vergewaltigung von gefangenen Frauen der Vorabgenehmigung. Ordnung muß sein.
Folterer mit kleinen Schwächen
Die DINA rechnete es Luz Arce hoch an, daß sie nicht die Waffenkammer geplündert hatte, sondern den Dienstweg gegangen war. Nach und nach wurde sie zur regulären Beamtin des Geheimdienstes. Fünf Jahre lang arbeitete sie für die DINA und die Nachfolgeorganisation CNI. Ihr Buch “Die Hölle” berichtet von der Routine dieser Geheimdienste, von Mord und Folter, vom Abhören von Telefonen, dem Unterricht der Agenten, dem etwas unbeholfenen Aufbau einer Computerabteilung, dem Gehabe der führenden Offiziere, die sich wie Gottväter vorkamen, von Intrigen und sexuellen Beziehungen kreuz und quer. Die allmächtige DINA, die nach Gutdünken eineinhalb tausend Menschen verschwinden lassen konnte, hatte ihre sehr banale Seite. Was nach außen wie die perfekte Terrormaschine wirkte, war in Wahrheit eine schnell zusammengeschusterte, korrupte und mit allen Fehlern behaftete militärische Einheit. Die DINA-Beamten, deren Identität geknackt wurde – darunter auch Luz Arce selbst – wurden in Publikationen des chilenischen Exils wie Monster dargestellt. Aber es waren Menschen, die, wenn sie vom Foltern kamen, ein halbwegs normales Familienleben zu führen versuchten, die ihre kleinen Schwächen hatten und sich in Liebesbeziehungen mit den Sekretärinnen und weiblichen Gefangenen verstrickten. Luz Arce schildert alle Beziehungen, die sie mit Geheimdienstbeamten hatte. Sie kann es sich heute noch nicht ganz verzeihen, daß sie in der Hölle lieben konnte.
Im Exil entsteht ihr Buch
Als 1990 die erste demokratisch gewählte Regierung nach der Pinochetdiktatur eine Kommission zur Dokumentation der Menschenrechtsverletzungen gründete, rang Luz Arce sich zu einer Aussage durch. Sie erhielt Drohungen ihrer früheren Geheimdienstkollegen und mußte Chile verlassen. Das Buch “Die Hölle” ist das Ergebnis dieses Exiljahres in Österreich.
Luz Arce kennt den Tod. Sie hörte mit verbundenen Augen, wie andere Gefangene starben, drückte erschossenen Guerilleros die Augen zu, sollte selbst ermordet werden und war wegen verschiedener Krankheiten mehrfach im Delirium. Es gibt Wochen in ihrem Leben, in denen sie kaum bei Bewußtsein war. Nach ihrer Verhaftung und dem Schuß in den Fuß verging bis heute kein Tag ohne starke körperliche Schmerzen. Diese Erfahrungen erspart sie den Leserinnen und Lesern ihres Buches. Die tagelange Elektrofolter wird nur in Andeutungen erwähnt. Statt ihre Vergewaltigungen zu schildern, läßt sie lieber eine Lücke im Text. Durch diese Auslassungen und eingesprengte christliche Reflexionen wird das Buch erträglich. Das gleichzeitig in Chile erschienene Buch ihrer Leidensgenossin Alejandra Merino “Mí Verdad” bildet den Schrecken 1:1 ab. Obwohl auch hier die schlimmste Folter nicht geschildert wird, wird es kaum jemand ohne Erholungspausen lesen können.
Anfang 1992 kehrte Arce nach Chile zurück und stellte sich in zahlreichen Menschenrechtsprozessen als Zeugin zur Verfügung. Diese manchmal tagelangen Gerichtstermine und Gegenüberstellungen mit den Folterern und überlebenden Gefangenen waren eine weitere Aufarbeitung des Geschehenen. “Die Hölle” beschreibt die meist auftrumpfenden, gelegentlich tölpelhaften und nur selten reuigen Reaktionen der DINA`Agenten, von denen der erste Teil des Buches handelt.
Guerilleros sind keine
eisernen Helden
“Die Hölle” ist nicht nur deshalb ein ungewöhnliches Buch, weil hier eine Geheimdienstlerin ohne ghostwriter auskommt. In Arces Person und Buch kommen die Perspektiven der Opfer und die der Täter über lange Passagen zur Deckung. Berichte über politische Haft sind fast nur aus der Perspektive der Opfer geschrieben und neigen dazu, die Täter und ihre Institutionen als nebulöse Monster zu überzeichnen. Agentenberichte wiederum sind Knüller, die das Leiden der Opfer allenfalls der Sensation halber einbeziehen. Arce deckt eine Verstrickung von Tätern und Opfern auf, die eine dialektische Wahrheit enthält. Ein Apparat wie die DINA konnte den militanten Widerstand nur zerschlagen, weil die scheinbar perfekt organisierten Untergrundorganisationen triviale Fehler machten, weil es Inkonsequenz und Indiskretion gab und weil die Guerilleros eben nicht die eisernen Heldenfiguren waren, für die sie sich selbst hielten. Spiegelbildlich entspricht dieser Entmythologisierung des Untergrunds die Schwäche der Folterer, ihr Gestammel, wenn sie zur Rede gestellt werden, das Klappern der Teetasse in einer Verhandlungspause, das die zitternden Finger eines sich selbstbewußt gebenden früheren Folterers verrät.
Luz Arce ist unfähig zum Haß. Sie weiß von ihren theologischen und therapeutischen Freunden, daß die Buße vor der Vergebung kommt, daß sie sich ihrer Aggressionen gegen die Täter erst bewußt werden muß, ehe sie ihnen verzeihen kann. Sie sucht in ihrem Buch die Versöhnung und bringt sie in religiösen Formeln ins Spiel, vergißt aber nie, daß sie sich und den Überlebenden des Terrors, vor allem aber den Angehörigen der “Verschwundenen” statt der wohlfeilen Rede von Feindesliebe eine präzise Darstellung des Geschehenen schuldig ist.
Auch wo der autobiographische rote Faden des Buches subjektiv wird, bleibt die Autorin der Wahrheit treu. Sie verweigert den letzten Schritt, Unversöhnliches versöhnen zu wollen. Es wäre der deutschen Ausgabe des Buches gut bekommen, wenn sie die Objektivität, der sich Arce verpflichtet fühlte, gestützt hätte. Stattdessen wird das Buch in Klappentext, Untertitel und Nachwort als “selbstanalytische Studie” und Identitätsfindung angeboten. Die spanische Ausgabe konnte mit einigem Recht davon ausgehen, daß Orte, Personen und Ereignisse dem Publikum bekannt waren. Die deutsche Ausgabe hätte hier Anmerkungen machen müssen. So wie das Buch nun vorliegt, bleiben einige Passagen unverständlich. Ereignisse, die faktisch miteinander verknüpft sind, stehen isoliert da.
Das Nachwort von Thomas Scheerer bemüht sich, einiges nachzutragen, was im Text hätte angemerkt werden müssen. Die Übersetzung, im ganzen einfühlsam, scheitert an einigen spezifisch chilenischen Wendungen. Arces Text ist so gewichtig, daß er dieses Ungeschick verträgt.
Dieter Maier
Luz Arce, Die Hölle; eine Frau im chilenischen Geheimdienst – Eine Autobiographie. Mit einem Nachwort von Thomas M. Scheerer. Aus dem Spanischen von Astrid Schmitt-Böhringer. Hamburger Edition, Hamburg 1994, 405 S.
Favela-Einsätze gegen ramponiertes Image
Elói Pietá referierte im Berliner Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL) zu staatlicher Gewalt in Brasilien, und das heißt im extremen Fall: zu Folter, Mord und Totschlag durch die Polizei und parastaatliche Einheiten. Seit vielen Jahren ist Pietá als engagierter Gefängniskritiker und Mitglied zahlreicher Ausschüsse zur Untersuchung von Massakern und Folter in Brasilien bekannt. Staatliche Gewalt richtet sich laut Pietá in Brasilien ganz offensichtlich gegen die Armen, jede Statistik belege das. Hintergrund sei die soziale Ungleichheit, die in dem südamerikanischen Land besondere Ausmaße angenommen habe.
“An den Verhältnissen in den brasilianischen Gefängnissen ist die soziale Ungerechtigkeit deutlich ablesbar: 80 Prozent der Personen befinden sich dort wegen Einkommensdelikten”, das ist die erste Bilanz, die Pietá an diesem Abend vorstellt. Die zweite bezieht sich auf die gezielten Todesschüsse der Militärpolizei. “1990 kamen allein im Großraum Sao Paulo ca. 1000 Personen durch Schußverletzungen der Militärpolizei um. Es handelt sich dabei meist um regelrechte Hinrichtungen, obwohl die Todesstrafe seit der Errichtung der Republik 1889 abgeschafft ist. 1992 waren es in Sao Paulo bereits 1.471 gesetzeswidrige Hinrichtungen.”
Die “Sicherheitsdebatte”
Elói Pietá ist einer der wenigen, der sich um kritische Erklärungsmuster für die Gewalt durch staatliche Apparate bemüht. Wie wir auch aus den hiesigen Medien wissen, wird normalerweise weggeschaut, wenn es um strukturelle Formen der Unterdrückung geht. Spektakulärer, als Nachricht besser verkaufbar und im Wahlkampf stimmeneinträglicher ist dagegen die “Sicherheitsdebatte”, deren strategische Dimension ausgeblendet wird. Pietá machte darauf aufmerksam, daß am vergangenen 15. November beide Kandidaten der Gouverneurs-Stichwahl des Bundesstaats von Rio de Janeiro vorbehaltlos hinter der Militarisierung der inneren Sicherheit standen, hinter den geschaffenen Fakten in der Stadt Rio: der Armee um und in den Favelas.
Dabei verdient dieser Fall mehr als eine kritische Randbemerkung, hat hier doch die Armee neun Jahre nach Ende der Diktatur die politische Initiative offensiv in die Hand genommen. Den Schlüssel dazu lieferte der Think-Tank der militärisch-wirtschaftlichen Elite Brasiliens, die Höhere Kriegsakadamie (ESG). Seit Ende der Ost-West-Konfrontation hat dort eine intensive Debatte über die zukünftigen Beziehungen zwischen Militär und Gesellschaft eingesetzt. Die alte Doktrin der Nationalen Sicherheit, die jede Opposition und jeden Unruhefaktor als Ausdruck des Einflusses der Sowjetunion bekämpft hatte, wurde mehr und mehr durch Konzepte ersetzt, die um die soziale Frage kreisten. Die Umdeutung der Widersprüche des Landes in einen Fall von Kriminologie, von Notstand durch Armut, nahm seinen Lauf. Parteien und viele Nichtregierungsorganisationen gingen in den letzten Jahren auf Gesprächsangebote der ESG ein; es entstand ein wahres Netzwerk an Sicherheits-Diskussionen. Immer im Visier: Die BewohnerInnen der Favelas, die Delinquenten.
So entstanden auf der einen Seite elaborierte Konzepte der militärischen “Banditenbekämpfung”, gebilligt durch die großen Parteien. Bekannt wurde 1989 die Schrift “Struktur der Macht für das Jahr 2001”, vorgelegt von der ESG. Szenario ist dort u.a. der Einsatz der Armee gegen Straßenkinder mit dem Ziel, sie zu vernichten.
Exekutionskommandos gegen die Armen
Auf der anderen Seite entwickelten sich nach 1989 die existierenden Spezialeinheiten zu wahren Exekutionskommandos. Pietá merkt zur Herkunft dieser Gruppen und zum Hintergrund der gesetzeswidrigen Hinrichtungen an: “Die heutige Struktur der Militärpolizei ist während der Diktatur organisiert worden. Damals wurden besondere Elite-Einheiten gegründet, zum Einsatz gegen die Aktionen der politischen Opposition. Mit dem Ende der Diktatur änderte sich der Aufgabenbereich dieser Spezialeinheiten. Sie wurden nun in erster Linie gegen die Armen eingesetzt, gegen die Armutskriminalität. Typisch für diese Einheiten ist ihre personelle Kontinuität. Die Kommandanten der speziellen Repressionstruppen der 70er Jahre sind inzwischen die Karriereleiter hochgeklettert, sie befinden sich heute in der Kommando-Ebene der Polizei.”
Die tödliche Gewalt dieser Einheiten wird dadurch gefestigt, daß sie von den Medien, fast allen Parteien und der Regierung toleriert wird. “Die Regierung übernimmt zwar in der Öffentlichkeit nicht die Verantwortung dafür, aber doch sind die Morde inzwischen ein integraler Bestandteil der Regierungspolitik.” Eine deutliche Anklage. Pietá belegt sie mit einer Statistik aus dem Jahr 1993: Nach dem Gefängnismassaker in Carandiru (Sao Paulo, 2.-3. Oktober 1992) kam es zu einer Welle der Empörung auf nationaler wie internationaler Ebene, die Regierung geriet unter Druck. Herausgekommen war: Militärpolizisten hatten nach einer angeblichen Rebellion in einem Trakt mindestens 111 Gefangene umgebracht. Die Gefangenen saßen oder lagen in den Zellen auf dem Boden – so die Rekonstruktion – ,als sie von den Maschinengewehrsalven (u.a. Heckler & Koch) getroffen wurden. Verletzte wurden anschliessend exekutiert.
Nach der großen Empörung sank im folgenden Jahr 1993 die Zahl der gesetzeswidrig Hingerichteten im Großraum Sao Paulo auf 400 Personen. “Wenn die Regierung will,” so Pietá, “kann sie die Hinrichtungspraxis reduzieren und beenden, sie hat selbst den Beleg geliefert.”
Nun hat die Armee interveniert. Ein Ziel ist, so gibt sie bekannt, die Säuberung der Militärpolizei von korrupten Chefs und Einheiten. In den letzten Jahren hat die Militärpolizei in Rio de Janeiro tatsächlich ihr Gesicht verloren. Da waren die Menschenrechtskampagnen gegen die gesetzeswidrigen Hinrichtungen und Folterpraktiken, da waren die Aufdeckungen von Todesschwadronen in ihren Einheiten, da waren die Verstrickungen großer Teile der Militärpolizei mit dem Drogenhandel. Konkurrenzkämpfe unter Drogenkartellen waren vermutlich der Grund für Rachefeldzüge der Militärpolizei gegen Armensiedlungen. Zivilbevölkerung als Geisel, als Stimmvieh, als Hochburg territorialer Männerherrschaft – das ist die Realität für die Favela-BewohnerInnen von Rio de Janeiro.
Neue Konzepte?
Die aktuellen Nachrichten über den Armee-Einsatz weisen darauf hin, so Pietá, daß sich an dieser Konstellation im Grunde nichts ändern werde. Neben den Elite-Einheiten der Armee gehe der Drogenhandel sichtbar weiter. Die Profitstrukturen der großen Kartelle würden nicht angegriffen.
Das Kommando über diesen Einsatz verbindet Militär, Geheimdienste und Polizeiapparate in einer Hand. Vorbild dieser organisatorischen Zusammenfassung ist das Modell der CODI der Militärdiktatur; das waren die Einheiten, die Kommando-, Folter- und Mordfunktionen koordinierten. Heute heißt dieses Zentrum in Anlehnung daran COSI (statt “Operations-zentrum zur Inneren Verteidigung” nun “Operationszentrum zur Inneren Sicher-heit”), und General Newton Cruz spricht bereits davon, daß nur noch die traditionelle Anbindung der Geheimdienstebene fehlt.
Die Armee-Einheiten umstellen nach und nach die Favelas. Alle Zugänge werden kontrolliert. Wer keinen Ausweis hat, wird abgeführt. Kinder werden angehalten und entwürdigend von den hochbewaffneten Soldaten durchsucht. Dann kommt der Sturm auf die Favela, mit Hilfe von Hubschraubern und Panzern. Zum angekündigten Krieg kommt es nirgends. Die bewaffneten Gruppen der Drogenkartelle und anderer Organisationen verschwinden einfach und kommen abends wieder, wenn die Soldaten nach Hause gehen.
Die Armee demonstriert, zunächst unter Ausschluß der JournalistInnen, dann mit aller Medienmacht, daß die BewohnerInnen der Armensiedlungen von wesentlichen Rechten ausgeschlossen sind: Auf das Vorweisen eines richterlichen Durchsuchungsbefehls dürfe niemand pochen, so Elói Pietá. Vier Millionen Menschen wohnen in Rio und Sao Paulo in Slums, gegen sie gelte eine Art Notstand. Illegale Razzien und Interventionen der Armee unterstrichen dies.
“Aus der Geschichte wissen wir” – so Pietá – “daß die Militärs gerne dort bleiben, wohin sie ausgerückt sind, und daß sie eher noch ihren Einfluß in andere Bereiche der Gesellschaft ausdehnen. In jeder brasilianischen Großstadt gibt es Favelas, die nach dem neuen Konzept der Armee zu Orten ihrer Intervention werden können. Zwei Jahre lagen die neuen Pläne gegen die Armen in der Schublade der Militärstrategen. Ihr Problem war, wie sie das ramponierte Image der Militärs nach der Zeit der Diktatur und des Kalten Kriegs wieder aufpolieren könnten. Die Hysterie zu Fragen der inneren Sicherheit war nur Mittel zu diesem Zweck.”
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