Nationaler Dialog als Strukturanpassung

Oktober 1996: Bereits seit dem 20. März schweigen die Waffen, eine Guerillaeinheit kommt nach Quetzaltenango, der zweitgrößten Stadt des Landes. Die Guerilleros ziehen durch die Innenstadt, durch ein Einkaufszentrum, reden mit Passanten, geben Radio- und Fernsehsendern Interviews. Nach dem Auftritt werden sie im Ehrensaal des Stadtpalastes von einer Abordnung der Stadtregierung empfangen. Schließlich ziehen sie sich wieder zurück. Die lokale Armeeeinheit war vorher unterrichtet worden, alles blieb ruhig. Das zunehmend öffentliche Auftreten von URNG-KämpferInnen im Land kündigt an, daß diese sich – nach mehr als 35 Jahren bewaffneten Konfliktes – in naher Zukunft in das zivile Leben integrieren wollen. Die Angaben über die Anzahl der aktiven KämpferInnen schwanken, die niedrigste liegt bei 3000. Sie kommen in eine Gesellschaft, die trotz der gerade beschriebenen Episode nach wie vor von Gewalt und Polarisierung, von massiven Menschenrechtsverletzungen und krasser ökonomischer und sozialer Ungerechtigkeit geprägt ist. Und sie werden mit den Auswirkungen der jahrelangen Regierungspropaganda konfrontiert, die sie als Terroristen diffamiert hat.

Die guatemaltekische Linke im Umbruch

Gleichzeitig wird die URNG, und mit der Gesamtorganisation auch die einzelnen KämpferInnen, auf eine guatemaltekische Linke treffen, in der sie sich neu verorten muß. Seit ihrer Gründung am 9. Februar 1982 ist die URNG, beziehungsweise in den vorangegangenen Jahren deren einzelne Teilorganisationen, die wichtigste oppositionelle Kraft. Die Guerilla war über lange Zeit in der Lage, auf militärischen und diplomatischen Wege politische Freiräume zu eröffnen sowie national und international als legitime Stimme der Unterdrückten aufzutreten. Innerhalb der erkämpften Spielräume konnten sich Volksorganisationen wie zum Beispiel die Gruppe für gegenseitige Hilfe (GAM), die Witwenbewegung CONAVIGUA oder die “Gemeinden der Bevölkerung im Widerstand” (CPR) bilden. In dieser sozialen Bewegung organisierten sich vor allem die Opfer der staatlichen Repression, aber auch Campesina/o-Gruppen und Gewerkschaften. Ziel war es, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, für die Demilitarisierung des Landes zu kämpfen und so Einfluß auf die nationale Politik zu gewinnen. Mit der Entschärfung der Kriegssituation konnte sich in den letzten Jahren allerdings ein weites oppositionelles Spektrum bilden, in dem linke AktivistInnen im Land u.a. die Politik der URNG hinterfragten. So wurden 1994 nach der Unterzeichnung des Teilabkommens zur Frage der Menschenrechte durch Guerilla und Regierung erstmals Stimmen laut, die sich von den schwachen Verhandlungsergebnissen enttäuscht zeigten und die URNG deswegen heftig kritisierten.
Eine wichtige Etappe im Prozeß der Differenzierung innerhalb der guatemaltekischen Opposition waren die Querelen um die Gründung des Frente Demócratico Nueva Guatemala (FDNG) im Sommer 1995. Im FDNG hatten sich RepräsentantInnen von Basisorganisationen zu einer Partei zusammengeschlossen und bei den Kongreßwahlen im letzten November auf Anhieb sechs Mandate errungen. Nach den Wahlen bezeichneten URNG-Kommandanten die FDNG immer wieder als ihre Schöpfung und kündigten an, sich nach Friedensschluß in die Partei zu integrieren. Die Distanzierungen seitens der FDNG-PolitikerInnen ließen nicht lange auf sich warten und lassen sich nicht allein mit der Angst erklären, in der guatemaltekischen Öffentlichkeit mit der URNG identifiziert zu werden und daher mit Repression rechnen zu müssen. Vielmehr entwickelt die Linke im Land gegenüber der URNG ein stärkeres Selbstbewußtsein und hinterfragt zunehmend den Avantgardeanspruch der URNG. Der FDNG ist nicht die einzige Organisation, in deren Verhältnis zur URNG Veränderungen sichtbar werden. Deutlich zu beobachten sind sie auch innerhalb des Spektrums der progressiven NGOs, unter Flüchtlingsorganisationen, Indígena- und Campesina/o-Gruppen.

Neuer Integrationskurs von Arzú

Mittlerweile hat die URNG bekanntgegeben, daß sie nach ihrer Eingliederung in das zivile Leben nicht in den FDNG eintreten, sondern eine eigene Partei gründen wird. Mit diesem Schritt kann die Hoffnung verbunden werden, daß die URNG den Übergang von einer politisch-militärischen Organisation, die in klandestinen Strukturen arbeitet, zu einer zivilen, linken Kraft vollzieht. Es steht aber zu befürchten, daß sich die guatemaltekische Linke weniger wegen inhaltlicher Differenzen, sondern eher wegen Streit um Organisationsfragen und wegen interner Machtkämpfe nach dem Friedensschluß aufsplittert, wie es schon in El Salvador und Nicaragua zu sehen war. Zeitgleich mit diesen Entwicklungen wird die Opposition durch die Politik des Präsidenten Arzú vor neue Herausforderungen gestellt.
Nach seinem Amtsantritt im Januar diesen Jahres machte Alvaro Arzú sofort deutlich, daß der schnelle Abschluß der Friedensverhandlungen eine Grundbedingung seiner Politik ist. Geschickt agiert er seitdem auf der politischen Bühne, im Machtgefüge zwischen Guerilla, Volksbewegung, Militär, Unternehmern und den internationalen Akteuren wie dem IWF (Internationaler Währungsfond) und den darin vertretenen Mächten. Dabei versucht er, die guatemaltekische Linke als Verbündete zu gewinnen. Der URNG kam er auf der diplomatischen Ebene weit entgegen. Noch nie zuvor hatte ein Präsident vor seinem Amtsantritt direkte Kontakte zur Guerilla aufgenommen oder gar einen URNG-Dissidenten zu seinem Verhandlungsführer ernannt. In Bereichen wie dem Kampf um die Einhaltung der Menschenrechte und die Entmilitarisierung des Landes zeigt er immer wieder guten Willen. Direkte, wenn auch gescheiterte Gespräche mit Abgeordneten des FDNG über die Einrichtung eines Indígenasekretariats, zeugen von Arzús Bereitschaft bei einzelnen Themen das Gespräch mit RepräsentantInnen der Volksbewegung zu suchen. Eröffnet dies einerseits neue Einflußmöglichkeiten, stellt es die Volksbewegung andererseits vor neue Schwierigkeiten: Protestierte sie bisher immer gegen die “Schweinereien”, die von den Mächtigen begangen worden sind, wird sie jetzt – wenn auch an der Ernsthaftigkeit gezweifelt werden muß – von Regierungsseite in Entscheidungsprozesse miteinbezogen. Die Opposition steht vor dem Problem, eigenständige Vorschläge in die Politik einbringen zu müssen. Zur Durchsetzung ihrer Forderungen nach kultureller Anerkennung und deren praktischen Umsetzung sind Indígena-Organisationen hierzu auch in der Lage. In der praktischen Umsetzung der entsprechenden Vereinbarungen des Friedensabkommens werden sie besonders auf dem Land eine wichtige Rolle spielen. Schwieriger wird es bei der Entwicklung von Vorschlägen zur Wirtschaftspolitik, repräsentiert die Volksbewegung doch gerade die Bevölkerungsgruppen, die unter den ökonomischen und politischen Verhältnissen im Land besonders gelitten haben. Daher fehlt es ihnen oft an entsprechenden Kapazitäten. Am ehesten verfügen noch progressive NGOs, die im Entwicklungsbereich tätig sind, über solche Ressourcen. Das Verhältnis zwischen Volksorganisationen, die politischen Druck aufbauen können, und NGOs ist aber häufig gespannt. Das gegenseitige Mißtrauen vor Manipulation und Ausnutzung ist groß.
Innerhalb der guatemaltekischen Opposition wird die URNG – trotz der geschilderten Auseinandersetzungen – weiterhin eine zentrale Rolle spielen: aufgrund der Vergangenheit, in der sie immer wieder richtungsweisend für politische und soziale Kämpfe im Land war; aufgrund dessen, daß sie als Verhandlungspartei ein Gegengewicht zur Regierung bilden kann; aufgrund ihrer langen politischen, militärischen und diplomatischen Erfahrung. Neben den schon länger kämpfenden Volksorganisationen drängen neue Akteure auf die politische Bühne, erstarkende Campesino-Organisationen und zahllose lokale Initiativen, die für die direkte Verbesserung ihrer Lebensbedingungen kämpfen, eine Schule, einen Gesundheitsposten oder Trinkwasserversorgung. Es ist zu hoffen, daß die verschiedenen Gruppen die politische Polarisierung, die Guatemala prägt und ein schwieriges Klima für Einigungsprozesse hat entstehen lassen, zusammenfinden können. Denn eine starke linke Opposition nach dem Friedensschluß tut not. So ergeben sich aus dem Friedensprozeß zwar politische Spielräume, an der ökonomischen, patriarchalen und rassistischen Unterdrückung für einen Großteil der GuatemaltekInnen hat sich kaum etwas verändert.

Strukturanpassung in Guatemala

Vor noch gar nicht allzu langer Zeit wäre ein Präsident undenkbar gewesen, der die Volksbewegung nicht mehr nur mit Repression kleinhält und sich mit der Guerilla trifft. Er hätte es, zumindest politisch, nicht überlebt. Der Grund für die Aufgeschlossenheit Arzús ist sicherlich nicht, daß der schwerreiche Zuckerhändler ein herausragender Philantrop ist. Eher entspricht seine politische Haltung dem ökonomischen Projekt der neoliberalen Strukturanpassung. Das erklärte Ziel von Arzú – der die Interessen eines kleinen Kreises von finanzkräftigen, modernen UnternehmerInnen vertritt – ist es, Guatemala auf den Weltmarkt auszurichten, also über freie Marktmechanismen größere Standortattraktivität und Investitionssicherheit für internationales Kapital zu schaffen. Um dies durchzusetzen, wird die Regierung Arzú wohl drei Handlungslinien verfolgen: erstens die Beendigung des internen, bewaffneten Konfliktes, zweitens die Zurückdrängung von reaktionären Machtgruppen im Land, die durch eine Weltmarktintegration um ihre “traditionellen” Privilegien fürchten, und drittens die Verschlankung des aufgeblähten, unfähigen Staatsapparates sowie die Deregulierung der nationalen Wirtschaft.

Geld von außen

Dem ersten Ziel scheint die Regierung nahe zu sein, ist doch in absehbarer Zukunft mit dem Abschluß der Friedensverhandlungen zu rechnen (s. Kasten). Mit der “Befriedung des Landes” öffnen sich immense Finanzquellen. Bereits im letzten Jahr wurde über die “Entwicklungshilfegelder” verhandelt, die nach Friedensschluß von internationalen GeberInnen zur Umsetzung der ausgehandelten Abkommen ausgeschüttet werden. IWF, Weltbank und die Europäische Union haben angekündigt, Fonds in Höhe von insgesamt über einer Millarde US-Dollar ins Land fließen zu lassen, zu 90 Prozent in Form von Krediten. Mit diesen internationalen Institutionen verbindet die Regierung Arzú das gemeinsame Interesse an neoliberalen Wirtschaftsstrukturen in Guatemala. Hierfür benötigt die Regierung Geld von außen, da über die Steuern nicht genug in die Staatskasse fließt.
Die zweite Linie stellt ein deutlich schwierigeres und längerfristiges Problem dar: alteingesessene Machtcliquen in ihrem Einfluß einzudämmen. Zum einen ist da das omnipräsente Militär, das sich hemmungslos an allem bereichert, was ihm über den Weg läuft und für zahllose Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist. Dieser Apparat entwickelte im Laufe der Jahre eine Art Eigenleben. Jeglicher Kontrolle entzogen, baute das Militär einen “parallelen Staat” auf. Es besetzte Schlüsselpositionen in Bereichen wie der Telekommunikation, in der Errichtung und dem Unterhalt von Infrastruktur sowie in staatlichen Institutionen. Erste Erfolge im Rückbau dieses eigenen Staates kann Arzú bereits vorweisen: Nach mehreren Säuberungswellen im Staatsapparat erschütterte in den letzten Wochen die Zerschlagung eines großangelegten Schmuggler- und Korruptionsnetzes die guatemaltekische Öffentlichkeit. Auch wenn dieser Schlag gegen die organisierte Kriminalität nur die Spitze des Eisberges enthüllte, wird der Stellenwert dieser Aktion an zwei Dingen deutlich: Es wurden Machenschaften von hohen Persönlichkeiten des militärischen Geheimdienstes, die bisher als Unberührbare galten, ans Licht der Öffentlichkeit gezogen. Die Einflußmöglichkeiten dieser mafiösen Organisation waren in Guatemala ein offenes Geheimnis. Sie hatte eine Machtfülle erreicht, daß sich kein Unternehmen ihren Regeln entziehen konnte – keine guten Voraussetzungen für freies Unternehmertum.
Die andere Machtgruppe bilden die reaktionären GroßgrundbesitzerInnen, die ihre Vorgehensweise in der Vergangenheit mit den Militärs abstimmten. Es widerspricht ihren wirtschaftlichen Interessen, Guatemalas Märkte noch weiter als bisher für internationales Kapital zu öffnen. Es würde eine bedrohliche Konkurrenz für sie entstehen. Arzú ist allerdings klug genug, sich nicht auch noch mit ihnen anzulegen. Zwar möchte er deren Machtdünkel bekämpfen, gleichzeitig gibt es aber auch gemeinsame wirtschaftliche Interessen, deren Opfer – wiedereinmal – Campesina/os sind. So gab es dieses Jahr schon mehrere Tote zu beklagen, nachdem Polizeieinheiten gegen Campesina/o-Gruppen vorgingen, die zur Durchsetzung ihrer Landrechte Fincas von GroßgrundbesitzerInnen besetzt hatten. Durch die äußerste Härte, mit der die Sicherheitskräfte bei diesen Räumungen vorgingen, zeigt die Regierung, daß ihre Liberalität durchaus ihre Grenzen hat, nämlich dort, wo die ökonomischen Privilegien der Reichen in Gefahr geraten. Dies stellte sie auch im Mai unter Beweis, als die Regierungsdelegation bei den Friedensverhandlungen mit der URNG beim Thema Wirtschaft durchsetzte, daß keinerlei Beschränkungen oder gar eine soziale Verantwortung für Privateigentum gelten sollen.

Neoliberale Strukturanpassung

Auch bei der Durchsetzung der dritten Leitlinie zeigt die Regierung Entschlossenheit. Parallel zum Vorantreiben der Friedensverhandlungen und dem Machtkampf mit dem Staat im Staate begann die Regierung in den letzten Monaten mit der Strukturanpassung: Antistreikgesetze für den öffentlichen Dienst, die Entlassung tausender Beschäftigter staatlicher Institutionen, die Erhöhung der Strompreise mit anschließender Privatisierung des Elektrizitätssystems. Die Maßnahmen lesen sich wie aus einem Leitfaden liberaler Regierungspolitik.
Guatemala befindet sich mitten in einem Transformationsprozeß am Schnittpunkt verschiedener sich kreuzender Entwicklungen, die immer wieder für Verwirrung und Erstaunen sorgen. Da ist zum einen der Übergang von der Zeit des bewaffneten, internen Konflikts zu der nach dem Friedensschluß. Dieser Prozeß ist eingebettet in die Zurichtung der bisher von einer nationalen, willkürlich agierenden Führungsclique dominierten Wirtschaft und Politik auf die Bedingungen des liberalen Weltmarktes. Irritierenderweise geht die ökonomische Liberalisierung mit einer politischen einher, ja sie unterstützt sie sogar. Diejenigen Kreise, die massive Menschenrechtsverletzungen als Instrument zur Durchsetzung ihrer Interessen benutzen, werden in ihrer Macht beschnitten. In einem Land, das unzählige Tote durch die Folgen staatlicher Repression zu beklagen hat und in dem Oppositionelle kaum Möglichkeiten hatten, ihren Widerstand auch nur verbal zu artikulieren, bedeutet dies einen nicht zu bestreitenden Fortschritt. Das politische Leben wird in Guatemala sicherer werden. Für die mehr als dreiviertel der insgesamt ca. 10 Millionen GuatemaltekInnen, die in Armut leben – mehr als die Hälfte von diesen wiederum in extremer Armut -, muß aber befürchtet werden, daß das Überleben unter der Strukturanpassung noch schwieriger wird.

Der Friedensprozeß – eine schwierige Geburt

Die Friedensverhandlungen in Guatemala – sie schienen nicht zum Abschluß kommen zu wollen. Jetzt aber sind die wesentlichen Teilabkommen unterschrieben, die nach der Unterzeichnung des endgültigen Friedensvertrages in Kraft treten sollen: das Abkommen zu den Menschenrechten vom März 1994 und das Abkommen zu Identität und Rechten der indigenen Völker vom März 1995. Nach über einem Jahr Verhandlungen und dem Präsidentenwechsel vom anfänglichen Hoffnungsträger de León Carpio auf den geschickt taktierenden Unternehmer Alvaro Arzú, wurde im Mai 1996 das Teilabkommen zur “Sozioökonomischen Aspekten und Agrarsituation” besiegelt. Nur vier Monate später folgte das nächste Dokument zur Rolle des Militärs in einer zukünftigen Gesellschaft und zur Stärkung der Zivilgesellschaft.
Zwar steht die Klärung einzelner Fragen noch aus, zum Beispiel die nach den Modalitäten für die Reintegration der URNG-KämpferInnen in die Gesellschaft und die Frage nach Amnestieregelungen. Die Frage des Ortes für die Unterzeichnung des abschließenden Abkommens wird aber bereits diskutiert. Bis Silvester diesen Jahres soll es soweit sein, nachdem die noch ausstehenden Teilabkommen im Rahmen einer Europatournee der Verhandlungsparteien in Oslo, Stockholm und Madrid unterschrieben werden sollen. Mit dem Akt in Madrid kehren die Parteien in die Stadt zurück, in der das erste Treffen zwischen VertreterInnen der URNG und der guatemaltekischen Regierung stattgefunden hatte. Im Mai 1986, also vor über 10 Jahren, legte die URNG erstmals einen Vorschlag zu direkten Verhandlungen mit der Regierung vor. Die Situation war günstig: Aus einer großen Offensive der Armee gegen die Guerilla war diese eher gestärkt denn geschwächt hervorgegangen, das Militärregime sollte die politische Macht an einen “bewachten” Parlamentarismus übergeben, die mittelamerikanische Friedensinitiative war auf ihrem Höhepunkt angelangt. Aber erst nach Abschluß des Friedensvertrages Esquipulas II durch die mittelamerikanischen Präsidenten konnte die guatemaltekische Regierung nicht mehr anders, war man doch übereingekommen, schnellstmöglich die internen, bewaffneten Konflikte auf dem Verhandlungsweg zu beenden: Also fuhr eine Regierungsdelegation zu ersten Gesprächen mit der Guerilla nach Madrid. Das war im Oktober 1987.
Je nach politischen Interessen der Verhandlungsparteien, immer abhängig von der internationalen Konjunktur, mal mißtrauisch beäugt, meist aber unterstützt von der guatemaltekischen Opposition, torpediert von den Reaktionären im Land, ging es am Verhandlungstisch auf und ab. Daß gerade die reaktionären Kräfte immer noch versuchen, den Friedenschluß zu behindern, wurde und wird immer wieder deutlich. Nach einem Versuch im Sommer 1994, mit einer Steuerreform die Unternehmer stärker zur Kasse zu bitten, wurden schnell Putschgerüchte laut, die nach Rücknahme der Maßnahmen wieder verstummten. Im Oktober vergangenen Jahres ermordeten Soldaten in Xamán elf aus Mexiko zurückgekehrte Flüchtlinge; ein Massaker, das unter anderem darauf abzielte, die Friedensverhandlungen massiv zu stören.
Daß die Reaktionäre immer noch große Erfolge verbuchen können, zeigte die jüngste Aussetzung der Friedensverhandlungen. Der Auslöser: Ohne Kenntnis der Führung hatte ein ehemaliges Kommando der ORPA, einer der vier URNG-Teilorganisationen, vor einigen Wochen die einfluß- und schwerreiche Unternehmerin Olga de Novella entführt. Nachdem die Entführung selbst bereinigt worden war, nutzten die Hardliner in Militär und Unternehmerkreisen diesen Anlaß zu einer Kampagne gegen den Verhandlungsfortgang im allgemeinen und die URNG im speziellen. Aufgrund des sich entwickelnden Druckes wurden die Verhandlungen am 28. Oktober ausgesetzt, woraufhin heftige Aktivitäten einsetzten: Weite Kreise der Bevölkerung, die Regierungen der “Gruppe der mit Guatemala befreundeten Länder” sowie UN-Institutionen drängten die Verhandlungsparteien, die Gespräche möglichst schnell wiederaufzunehmen. Nach einigen Tagen des Schweigens veröffentlichte die URNG-Führung schließlich ein Kommunique, in der sie verlautbarte, die Entführung sei zwar ohne ihr Mitwissen geschehen, sie übernehme aber trotzdem die politische Verantwortung. Einige Tage später erklärte Gaspar Ilom, Mitglied der Generalkommandantur für die ORPA, seinen Rückzug von der Verhandlungsdelegation der URNG. Zugleich kündigte er an, daß die ORPA in Kürze einen neuen Verhandlungsführer benennen werde. Gaspar Ilom, der mit bürgerlichem Namen Rodrigo Asturias heißt und der Sohn des guatemaltekischen Literaturnobelpreisträger Miguel Angel Asturias ist, galt bis zu diesem Zeitpunkt als derjenige URNG-Kommandant mit dem höchsten internationalem Ansehen und der größten Reputation im Land und wurde als durchaus aussichtsreicher Kandidat für die Präsidentschaft im Jahr 2000 gehandelt.
Es scheint, daß der Rücktritt von Ilom den Weg zur Wiederaufnahme der Verhandlungen freigemacht hat, denn am 9. November trafen die Delegationen wieder zusammen. Vereinbart wurde, daß die Gespräche mit einer veränderten Tagesordnung weitergeführt werden. Vor der Unterbrechung hatten sich die Verhandlungen an der Frage der Amnestieregelungen festgefahren, die in der guatemaltekischen Öffentlichkeit heiß diskutiert werden. Dieses Thema wurde nun auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Statt dessen werden jetzt die Bedingungen für einen endgültigen Waffenstillstand und die anschließende Waffenabgabe durch die Guerilla besprochen. Die Konsequenzen für die Machtbalance am Verhandlungstisch sind erkennbar. Die URNG wird gezwungen sein, eines ihrer Druckmittel, eben ihre militärische Stärke, preis- und aufzugeben, noch bevor wichtige Teilaspekte des endgültigen Friedensabkommens behandelt worden sind.

Auf dem Weg in die Zivilgesellschaft

Anders als seine Nachbarn Guatemala, El Salvador und Nicaragua hat Honduras in den achtziger Jahren keinen Bürgerkrieg durchlitten. Nach Zehn- oder Hunderttausenden zählende Ermordete, Verschwundene oder Flüchtlinge blieben diesem Land damit erspart. Dennoch konnte von funktionierender Demokratie keine Rede sein, und mit der Einhaltung der Menschenrechte nahmen es Militär und Polizei nicht ernster als anderswo.
Honduras lag aus Sicht der USA strategisch ideal, um von dort in die Konflikte in Nicaragua und El Salvador einzugreifen. Das Land nahm im Konzept der Nationalen Sicherheit, das die Reagan-Administration in Zentralamerika durchzuführen versuchte, einen wichtigen Platz ein. Die honduranischen “Sicherheitskräfte” standen dabei in direktem Auftrag der nordamerikanischen Kollegen und setzten deren Vorgaben um. Damit war klar: Jede Opposition, die die Legitimität des Militärs in Frage stellte und es einer zivilen Macht untergeordnet sehen wollte, wurde rücksichtslos bekämpft. Politische Gegner, vor allem aus der Linken, verschwinden zu lassen, zu foltern und/oder zu ermorden, gehörte daher auch in Honduras zur Tagesordnung.
Die Aufarbeitung konkreter Fälle von Menschenrechtsverletzungen durch Militärs ist dem Engagement einzelner Gruppen und Personen zu verdanken und hat juristisch und, was für die honduranische Gesellschaft insgesamt vielleicht noch wichtiger ist, moralisch einige bemerkenswerte Konsequenzen nach sich gezogen. Aufsehenerregend war, daß das unabhängige honduranische Menschenrechtskomitee Codeh unter seinem Leiter Ramón Custodio 1988 beim Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof einen Prozeß gegen das Land Honduras wegen Entführung und Ermordung zweier Personen in Gang brachte – und Honduras tatsächlich verurteilt wurde. Es war das erste Mal, daß vor diesm Gericht ein Land wegen Menschenrechtsverletzungen der Armee für schuldig befunden wurde. Das Urteil, in dem Honduras zur Bestrafung der Täter und zur finanziellen Entschädigung der Opfer verpflichtet wurde, blieb zwar in der Praxis weitgehend wirkungslos. Auf die Verfolgung der Täter wurde stillschweigend verzichtet, und die festgesetzte Entschädigungssumme brauchte nach einer Geldentwertung nur teilweise gezahlt zu werden. Insofern ist zu Euphorie kein Anlaß. Aber dieses Urteil war erst der Anfang.
Leo Valladares und sein Büro hatten ganze Arbeit geleistet. Der 1992 ins Amt berufene Menschenrechtsbeauftragte der honduranischen Regierung legte im Dezember 1993 einen tausendseitigen Bericht vor, in dem belegt wurde, daß zwischen 1979 und 1989 184 Menschen “verschwanden”. Der Impuls, der von diesem Bericht ausging, war enorm. Daß er nicht von oppositioneller Seite kam, sondern vom Beauftragten der Regierung selbst, erhöhte die Chance, mit dem Bericht Druck auf die Justiz und das Militär ausüben zu können. Und er war und ist Grundlage für die tatsächliche strafrechtliche Verfolgung der Täter.

Tausend Seiten Aufklärung

Der Codeh, das unabhängige Menschenrechtsbüro unter Ramón Custodio, hat den Bericht von Valladares als einen Anfang anerkannt – und dokumentiert seinerseits 140 Fälle von “Verschwundenen”, die auf das Konto des inzwischen aufgelösten Sonderbataillons 3-16 der Armee gehen. Die Verbrechen, wegen derer Honduras 1988 angeklagt wurde, sind zwei dieser 140 gewesen.
Ohne daß von Regierungsseite Bereitschaft signalisiert worden wäre, irgendwelche Untersuchungen und Verfahren gegen Militärs zuzulassen, wäre der Aufklärungsprozeß insgesamt allerdings kaum denkbar und noch viel weniger politisch machbar gewesen. Insofern war es ein Glücksfall, daß Carlos Roberto Reina Anfang 1994 sein Amt antrat. Reina war vorher am Internationalen Gerichtshof in Den Haag tätig und hatte für seine Präsidentschaft eine “moralische Revolution” versprochen. Er brachte jene notwendige Bereitschaft mit und hat sich in den bereits angestoßenen Reformprozeß eingeklinkt, in dem die Macht des Militärs begrenzt und wenigstens eine gewisse Rechtsstaatlichkeit auf den Weg gebracht werden sollte.

Militärs vor dem Zivilgericht

Wichtiger Meilenstein in diesem Prozeß war noch vor Reinas Amtszeit der Parlamentsbeschluß vom 29. Juni 1993, der eigentlich nichts weiter tat, als geltendes Recht zu bestätigen – Recht jedoch, das bis dahin stets mißachtet worden war. Es ging um die Amnestierbarkeit von Menschenrechtsverbrechen, die die Militärs begangen hatten. Und damit um genau den Knackpunkt, an dem schon mehrere Versuche der strafrechtlichen Aufarbeitung solcher Verbrechen in anderen lateinamerikanischen Ländern gescheitert sind. Kern des Parlamentsbeschlusses ist, daß bereits ausgesprochene Amnestien für Armeeangehörige keine Gültigkeit haben, wenn es sich bei den Verbrechen um “gewöhnliche”, also zivilrechtliche handelt. Aus dem zivilrechtlichen Rahmen fallen nur politische Delikte, die auf Beseitigung oder Gefährdung der Staatsmacht abzielen. Bei den Menschenrechtsverletzungen war das jedoch nie das Ziel der Täter. Damit ist der Weg frei für die Diskussion um den Charakter einzelner Straftaten und – bei deren Anerkennung als “gewöhnliches” Delikt – ihre Aufarbeitung vor einem zivilen Gericht.
Einige dieser Prozesse sind in den letzten Jahren tatsächlich in Gang gekommen. Begonnen hatte es mit zwei Prozessen schon im Sommer 1993: In einem wurde ein ranghöherer Militär vor Gericht gebracht, der die Verantwortung für ein Massaker trug, im anderen ein Urteil gegen einen Oberst und einen Hauptmann wegen Vergewaltigung eines Mädchens gefällt.
Im Juli 1995 wurde dann das bislang spektakulärste Verfahren gegen 10 Offiziere des erwähnten Batailons 3-16 eröffnet, die in die Entführung und Folterung von sechs HonduranerInnen im Jahre 1982 verwickelt sind. Die Militärspitze ließ zwar nach Prozeßbeginn als Drohgebärde Panzer durch die Hauptstadt Tegucigalpa rollen, streute Putschgerüchte und nahm ihre damals noch in Dienst befindlichen “Kameraden” in Schutz. Dennoch scheint sie letzten Endes den juristischen Prozeß im besonderen und die Demokratisierung im allgemeinen hinzunehmen. Zumindest hat sie sich trotz aller Hindernisse, die sie der Verbrechensaufklärung in den Weg legt, im Prinzip zur verfassungsmäßigen Ordnung bekannt.
In der Aktualität findet ein Tauziehen zwischen den verschiedenen politischen Kräften statt.
Dadurch wird einerseits ein Fortschreiten der Aufklärung immer wieder gebremst. Beispiel dafür sind die Morde an führenden Militärs, die über Einzelheiten von konkreten Fällen Bescheid wissen; man nennt sie auch “menschliche Akten”. Mit ihnen gehen wichtige Zeugenaussagen verloren, so daß die Vermutung naheliegt, daß die Morde von denjenigen Militärs in Auftrag gegeben werden, die sich gefährdet sehen. Für diese Annahme spricht vor allem auch, daß die Morde in zwei Wellen stattfanden: die erste im Oktober 1995, als die Haftbefehle im erwähnten Prozeß gegen die zehn Offiziere erlassen wurden, die zweite im Juni und Juli 1996, gleichfalls im Kontext von Haftbefehlen aus einem 96er Prozeß.
Die Aufklärung dieser Morde geht schleppend voran. Der Codeh wirft Präsident Reina vor, sich nicht ernsthaft um die Aufklärung zu bemühen und generell zu lasch gegen jüngst begangene Menschenrechtsverletzungen vorzugehen.
Auch an anderer Stelle kam die Aufarbeitung kürzlich ins Stocken. Menschenrechtsombudsmann Leo Valladares hatte versucht, Licht in den Hintergrund der Verbrechen von Anfang der achtziger Jahre zu bringen. Damals waren neben US-amerikanischen Militärs auch dreizehn argentinische Spezialisten für Aufstandsbekämpfung in Honduras tätig gewesen. Die argentinische Regierung hat Mitte Oktober abgelehnt, Informationen über die Verwicklung ihrer Landsleute an Honduras weiterzugeben.
Trotz all dieser Erschwernisse gibt es jedoch zahlreiche positive Tendenzen. So haben Dokumente, die Valladares vom US State Departement erhalten hat, einige Erkenntnisse gebracht. Ihnen zufolge könnten mehr als die bisher bekannten 184 Fälle von “Verschwundenen” dokumentarisch nachweisbar sein.
Weiterhin haben seit 1995 Exhumierungen von außergerichtlich Ermordeten in Honduras stattgefunden. Diese zogen nicht nur erste juristische Konsequenzen nach sich, sondern riefen auch in der Bevölkerung Entsetzen hervor.
Honduras ist demzufolge längst in Bewegung geraten. Das Geflecht von Spannungen und Interessen, das sich dabei herausgebildet hat, ist zwar nicht leicht durchschaubar, und Prognosen sind nur schwer zu treffen: Offen ist, was passieren würde, wenn Präsident Reina bei einem Machtwechsel von einem weniger reformwilligen Politker abgelöst werden sollte. Offen ist auch, ob sich die Armeeführung tatsächlich auf Dauer die Beschneidung ihrer Macht gefallen läßt, die Reina zur Zeit mit aller Konsequenz betreibt. Mit Sicherheit lässt sich aber feststellen, daß Honduras mit seinen Menschenrechtsgruppen über einen Motor verfügt, der wichtige, fundamentale Arbeit geleistet hat und von dem noch viel zu erhoffen ist.

KASTEN:
Zum Thema Straflosigkeit

Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen, auch impunity oder impunidad, bedeutet etwa, daß die russischen Bombenangriffe auf die Zivilbevölkerung in Tschetschenien keine strafrechtlichen Folgen für die Täter haben. Weder für den Oberkommandierenden der russischen Streitkräfte, Boris Jelzin, noch für die – häufig nur Befehlen gehorchenden – Täter. Oder, daß der Oberbefehlshaber und politische Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, trotz eines internationalen Haftbefehls bis heute noch nicht vor dem Haager Jugoslawien-Gerichtshof steht. Impunidad bedeutet auch, daß staatlich gedeckte, initiierte oder geförderte Menschenrechtsverletzungen oder Menschlichkeitsverbrechen ungesühnt bleiben. Straflosigkeit hat schließlich auch eine rein persönliche Seite: Ehemalige Opfer treffen auf ehemalige Täter in Zeiten demokratischer Normalität, sei es auf der Straße oder anderswo; sie fühlen sich ohnmächtig und wütend.
Die Gründe der impunidad sind vielfältig und komplex. Menschenrechtsverbrechen werden regelmäßig nicht verfolgt, weil es am Verfolgungswillen und -interesse der darin verwikkelten Staatsführung fehlt. In vielen lateinamerikanischen Ländern behindern die staatlichen Sicherheitskräfte etwa massiv zivile Ermittlungen, indem sie Zeuginnen einschüchtern, Beweismittel vernichten etc., oder sie erschweren die Ermittlungen schon dadurch, daß sie die Taten anonym begehen (Benutzung von Fahrzeugen ohne Kennzeichen, Tragen von Zivilkleidung). Über diese faktischen Ursachen der Nichtverfolgung hinaus gibt es jedoch auch normative Ursachen. Entweder werden umfassende Generalamnestien oder amnestieähnliche Regelungen erlassen (so in Peru, Chile und Argentinien) oder die extensive Zuweisung von Verfahren wegen Menschenrechtsverletzungen – so es denn überhaupt zu Verfahren kommt – an die Militärgerichtsbarkeit erweist sich als zentraler Faktor der Straflosigkeit. Einzelne strafrechtliche Regelungen, etwa die Anerkennung des Handelns auf Befehl als Strafausschlußgrund, runden das Bild ab.
Die beschriebenen nationalen Straflosigkeitsmechanismen stehen freilich in krassem Gegensatz zum geltenden Völkerstrafrecht. Zwar existieren noch keine völkervertraglichen Bestrafungspflichten, doch folgt aus einer Analyse des Völkergewohnheitsrechts und der allgemeinen Rechtsgrundsätze, daß bestimmte schwere Menschenrechtsverletzungen, insbesondere Folter, extralegale Hinrichtungen und das sogenannte Verschwindenlassen von Personen, Verfolgungs- und Bestrafungspflichten unterliegen. Für diese Auffassung lassen sich nicht nur eine beträchtliche Zahl völkerrechtlicher Quellen anführen (vor allem Beschlüsse von UN-Organisationen und Staatenvertretern) sondern auch eine umfassende völkerstrafrechtliche Spruchpraxis. Sie reicht vom Nürnberger Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher bis zum jüngsten Beschluß des Haager Jugoslawien-Gerichtshofs im Fall Tadic.
Demzufolge sind Amnestien oder amnestieähnliche Regelungen zwar nicht unter allen Umständen ausgeschlossen – Art.6 Abs.5 des zweiten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen erlaubt sie etwa nach Beendigung der Feindseligkeiten zum Zwecke der nationalen Versöhnung. Doch unterliegen sie relativ klaren völkerrechtlichen Schranken. So kann eine umfassende Amnestie von schweren Menschenrechtsverletzungen (Verletzungen des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit), die zudem die eigenen Sicherheitskräfte begünstigt, nur als völkerrechtswidrig bezeichnet werden. Ebenso gebietet das geltende Völkerstrafrecht eine Reform der Militärgerichtsbarkeit. Nur noch ausschließlich militärische Dienstvergehen dürfen danach in die Zuständigkeit der Militärgerichtsbarkeit fallen, während allgemeine Straftaten, zu denen Menschenrechtsverletzungen zählen, vor die zivilen Strafgerichte gehören.
Das Völkerstrafrecht allein wird Menschenrechtsverletzungen sicherlich niemals verhindern können. Es enthält jedoch schon heute Regeln, die die Verantwortlichen als internationale Verbrecher stigmatisieren und ächten können. Diese zum großen Teil noch ungeschriebenen Regeln müssen zusammengeführt und in einem für alle Rechtsordnungen tragbaren Regelwerk kodifiziert werden. Mit der Verabschiedung eines Entwurfs für einen Internationalen Strafgerichtshof im Jahre 1994 und eines internationalen Strafgesetzbuchs im Jahre 1996 durch die ILC sowie entsprechende Alternativ-Entwürfe wurde entsprechende Vorarbeit geleistet. Es geht nun darum, sie zu verbessern.

Kai Ambos

Von Kai Ambos ist erschienen: Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen. Zur impunidad in südamerikanischen Ländern aus völkerstrafrechtlicher Sicht. edition iuscrim, Freiburg i.Br., 1996, ISBN 3-86113-987-7.

Menschenwürde ist nichts Überflüssiges

Ein Mann taucht ab. Er weiß, daß er überwacht wird und sein Leben bedroht ist. Das gebuchte Flugzeug startet ohne ihn, den Telefonhörer nimmt er nicht mehr ab. Von seinem Dableiben weiß nur die Haushälterin, die konsequent auf alle Fragen antwortet, der Señor sei für unbestimmte Zeit verreist und nicht erreichbar. Wir erfahren wenig darüber, wie es der Mann erträgt, wochenlang in den eigenen vier Wänden eingesperrt zu sein, wenig auch über sein vorheriges Leben. Aber er arrangiert sich und nutzt die Zeit, um Mopán zu lernen, eine der indigenen Sprachen Guatemalas, die auch seine Haushälterin spricht. Schließlich die Entscheidung: Er zieht aus der Hauptstadt weg, in irgendein Kaff, in dem die Mopán-Frau Verwandte hat. Setzt sich also ab, gibt ein Leben auf in der Hoffnung, ein anderes zu gewinnen – oder wenigstens in Ruhe zu leben. An seiner Stelle im Haus vertritt ihn der Freund der Haushälterin. Wie ernst die Bedrohung war, zeigt ein Brief, den sie ihm in die Provinz schreibt: Der Mörder hat sich als Klempner ausgegeben und den Freund der Haushälterin, den er wohl für den Gesuchten hielt, im Badezimmer umgebracht.
In dem Dorf, wohin der Mann geraten ist, kann er kaum Fuß fassen; er wird ein Einsamer bleiben, ein Heimatloser im eigenen Land, wenngleich ein Überlebender. Den schlechteren Teil – la peor parte, so der Originaltitel der Erzählung – hat der Ermordete abbekommen.
Das alles ist auf fünfzehn Seiten zu lesen, kurz und knapp und doch fesselnd. Der Leser ist mittendrin, wie in einer langen Geschichte oder einem guten Film.

Nichts für Voyeure

Seine sprachliche Präzision macht es dem Autor möglich, mit wenigen Worten viel zu sagen. Gleichzeitig bewahrt Rey Rosa immer eine respektvolle Distanz. So entsteht spannungsvolle, beunruhigende Literatur: Die Treffsicherheit der Wortwahl öffnet der Imagination weite Räume, aber nie entsteht der Eindruck, die Figuren wirklich zu kennen. Immer bleibt ihnen ein Innenleben, das unsichtbar bleibt und nicht einmal angedeutet wird. Rey Rosa gibt seine Meinung zu den Personen nicht zu erkennen, sondern läßt sie sein, wer sie sind – und überläßt es den Lesenden, sich ein Bild zu machen. Keiner ist böse, keiner gut, und der voyeuristische Blick hat in seinen Texten nichts verloren.
In der Rolle des Voyeurs findet sich dagegen wieder, wer die Bücher Rodrigo Rey Rosas im Zusammenhang liest: Es ist, als häute sich da einer, als suche er sein Thema, seine Sprache, um darin Fuß zu fassen. Obwohl seine Texte in sich rund und vollständig wirken, denn es sind keine Fragmente, wächst eine Ahnung, der Autor werde mehr zu sagen haben.
Weder über die Biographie noch über die Persönlichkeit Rey Rosas ist viel an die Öffentlichkeit gedrungen, so daß kaum mehr bleibt, als sich mit seinen Texten zu beschäftigen. Das Bekannte ist schnell gesagt: Geboren 1958 als Sohn einer wohlhabenden Familie, wuchs er im Kontakt sowohl mit den kreolischen Traditionen seiner Eltern als auch der indigenen Welt der Hausangestellten auf. Als unter der Diktatur Lucas Garcías von 1978 an mehrere seiner Freunde ermordet wurden, nutzte er 1980 eine Einladung nach New York, um in die USA auszuwandern.
Rodrigo Rey Rosa erhielt seine wichtigsten literarischen Impulse von dem US-amerikanischen Autor Paul Bowles. Nachdem Rey Rosa an einer Literaturwerkstatt von Bowles in dessen Wohnsitz Tanger teilgenommen hatte, knüpften sie enge Kontakte und übersetzten gegenseitig ihre Bücher. Seit Mitte der achtziger Jahre wohnt Rey Rosa in Tanger, hat aber die Beziehungen zu seiner mittelamerikanischen Heimat aufrechterhalten.
Dies gilt vor allem für das literarische Werk: Guatemala ist Schauplatz bislang aller seiner Texte. Begonnen hat er mit Kurzprosa. Die Erzählungen aus “El cuchillo del mendigo” (1986, dt. 1990 unter dem Titel “Der Sohn des Hexenmeisters”, Wunderhorn Verlag) und “El agua quieta” (1990) sind knappe Beobachtungen, Szenen, oft durchdrungen von Legenden und mystischen Elementen. Die beiden darauf veröffentlichten Erzählungen, “Cárcel de árboles” und “El salvador de buques” (1991) sind bereits um einiges länger. Mit “Lo que soñó Sebastián” (1994), der spannenden Geschichte eines Mannes, der sich als Fremdling im guatemaltekischen Urwald niederläßt und unschuldig unter Mordverdacht steht, hat Rey Rosa einen beachtlichen, kurzen Roman vorgelegt.

Cárcel de árboles, Gefängnis aus Bäumen

In “Cárcel de árboles” geht es um das Experiment einer Ärztin, das sie an zum Tode Verurteilten vornimmt. Diese Menschen, die sie in einem Gefangenenlager mitten im Wald vor der Öffentlichkeit versteckt hält, wurden einer Operation unterzogen, bei der man ihnen die Zunge sowie Sprach- und Gedächtniszentren des Gehirns entfernt hat. Jeder ist nur in der Lage, eine Silbe zu sprechen, zum Beispiel “yu”. In einer Versuchsanordnung werden sie, die völlig ohne Willen sind, auf einem Platz zusammengebracht und durch Impulse dazu animiert, ihre Silbe zu sprechen. Die Abfolge der Silben ergibt einen Text: Das Experiment glückt.
Einer der Gefangenen kommt jedoch zufällig in den Besitz eines Schreibheftes und eines Stifts, und er beginnt zu schreiben. Schreibt zunächst automatisch, ohne zu wissen, was er schreibt, und ohne das Geschriebene wieder lesen zu können. Nach und nach vollzieht sich dabei ein Prozeß, auf den es dem Autor im Kern bei der Geschichte anzukommen scheint: Er gewinnt seine Erinnerung wieder. Er versteht plötzlich, was mit ihm und den anderen Gefangenen gemacht wird, er ertastet die Narben seiner Operationen, beginnt mit den neben ihm Angeketteten zu kommunizieren – und plant die Flucht aus dem Lager, die ihm auch gelingt. Als die Nachricht von der Existenz dieses Menschenlabors an die Öffentlichkeit dringt, wird es sofort aufgelöst.
Das Neue an “Cárcel de árboles” sind nicht die Themen und ist auch nicht deren formale Behandlung. Der Text im Text, nämlich die Aufzeichnungen von “Yu” innerhalb der übrigen Erzählung, darüberhinaus der Schreibakt als Selbstbefreiung, die sprach-, gedächtnis- und willenlos gemachten Menschen, die fürchterlich bedrohliche Stimmung im Lager – all das ist an anderer Stelle bereits gesagt.
Sicherlich ist es Aufgabe von Literatur, altbekannte Themen wieder aufzugreifen – die ganze Literaturgeschichte lebt davon, sie in einem anderen Licht, einer besonderen Situation neu sichtbar werden zu lassen. Es ist wichtig, ein derartiges Gefangenenlager nach Guatemala zu verlegen, auch wenn man die Geschichte nicht als Parabel auf konkrete guatemaltekische Verhältnisse auffassen muß – es läßt sich Individuelles wie Gesellschaftliches, Aktuelles wie Historisches gleichermaßen assoziieren.
Von Bedeutung sind aber noch zwei weitere Aspekte. Zum einen ist es originell, daß Rey Rosa die komplexe Problematik von Wissenschaft und Ethik aufgreift. Das Experiment der Ärztin läßt sich verstehen als plastische Darstellung sprachwissenschaftlicher Theorien, die sich mit dem Verhältnis von Denken und Sprache beschäftigen. Nicht zufällig steht der Erzählung ein Zitat von Wittgenstein voran, in dem er feststellt, daß wir kein körperliches Organ benennen können, das den Denkakt ausführt. Eine damit verbundene These lautet, Denken vollziehe sich durch den kollektiven Gebrauch von Zeichen, beispielsweise Worten oder Schrift.
Diese in der Linguistik viel diskutierte These wendet sich gegen die Auffassung, daß der Mensch erst denkt und sich dann zur Übermittlung seiner Gedanken der Zeichen bedient. Rey Rosa geht es dabei offenbar weniger um die Widerlegung oder Bestätigung von Thesen, sondern um die Feststellung, daß Forschung nicht an Menschen stattfinden darf, auch nicht an zum Tode Verurteilten, wenn sie sie ihrer Menschlichkeit beraubt. Damit schaltet sich der Autor in eine Diskussion ein, die momentan an ethischer Brisanz zunimmt.
Es ist darüberhinaus der spezifische Blick von Rey Rosa, der den Menschen ihre Würde und Integrität zugesteht: Er stellt seine Figuren dar, nicht bloß. Damit vermeidet er zugleich alle Wertung, die über persönliche Sympathie hinausgeht und beispielsweise durch soziale Zuordnung kodifiziert ist. Indígenas werden nicht generell idealisiert, Beamte sind nicht notwendig korrupt, Offiziere nicht alle brutal. Die Individuen können das zwar jeweils sein, aber sie müssen es nicht sein, nur weil sie einer bestimmten Gruppe angehören. Das ist eine ganz andere Haltung zu den Figuren, als beispielweise die von Mario Vargas Llosa in seinem jüngsten Roman “Tod in den Anden”: Dort geht es um Typisierung. Alle Sendero-Terroristen sind ideologisch verbohrt und ohne jede Menschlichkeit, alle Straßenarbeiter einander in ihrer versoffenen Dumpfheit ähnlich.
Das bedeutet nicht, daß Rey Rosas Literatur unpolitisch wäre, ganz im Gegenteil. Es geht um die Politik beim einzelnen Menschen, um seinen besonderen Platz in der Welt, und es darf gefragt werden, ob das den “großen” politischen Vorgängen an Bedeutung nachsteht.
Daß Rodrigo Rey Rosa noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde, ist verwunderlich. Die Ausnahme, der erwähnte Erzählungsband, ist nicht sein stärkstes Buch und möglicherweise keine günstige Visitenkarte. Aber die Bücher sind im spanisch- und (dank Bowles) im englischsprachigen Raum nicht mehr unbekannt. Warum nicht hierzulande auch? Sind es die Spielregeln des Marktes, die hier greifen, die nach leicht konsumierbarer und dementsprechend gut verkäuflicher Literatur verlangen? Rodrigo Rey Rosa bedient keine Klischees, er verzichtet auf billige Lockmittel. Dafür bietet er Stoff zum Kauen, gleichzeitig aber auch zum Kosten und Schmecken.

Von Rodrigo Rey Rosa sind erschienen:
El cuchillo del mendigo/El agua quieta, 1992,
Cárcel de árboles/El salvador de buques, 1992,
Lo que soñó Sebastián, 1994,
alle im Verlag Seix Barral, Barcelona.

Keine Verhandlungen in Sicht

Sie kamen abends um halb acht. Mit Granatwerfern, Panzerfäusten und MG-Salven nahmen Ende August 500 Guerilleros der FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) das Militärlager Las Delicias im kolumbianischen Amazonasbecken unter Dauerbeschuß. Bilanz: 27 Tote, 16 Verletzte und 60 Kriegsgefangene.
“Das war der schwerste Einzelschlag gegen Regierungstruppen in diesem Jahrhundert”, meint Antonio Navarro Wolff, gewählter Bürgermeister der Provinzhauptstadt Pasto. Der hagere Politiker weiß, wovon er spricht: In den achtziger Jahren war er führendes Mitglied der Guerilla-Organisation M-19 (Bewegung 19. April), die schließlich mit der Regierung Frieden schloß und als Partei zunächst überraschende Wahlerfolge verbuchen konnte. Mittlerweile ist die M-19 zu einer sozialdemokratischen Splittergruppe mit einer einzigen Vertreterin im Kongreß geschrumpft – allzuschnell hatte sie sich durch Ministerposten und andere Verlockungen von der früheren Liberalen Partei einbinden lassen. So zerstob der Traum von einer dritten Kraft als starker Opposition zu Liberalen und Konservativen, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Regierungsmacht im Andenstaat aufteilen.
Auch ein anderes ziviles Experiment kann als gescheitert betrachtet werden: Als sich die FARC 1984 zu einem mehrjährigen Waffenstillstand entschlossen, entstand – als politisches Pendant und unter enger Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Partei – die UP (Patriotische Union), die seither über 3.000 tote AktivstInnen zu beklagen hat. In einem bis heute andauernden “schmutzigen Krieg” waren es vor allem paramilitärische Trupps, die unter Duldung oder Mithilfe der Armee die linken Politiker aufs Korn nahmen. Erst vor wenigen Monaten mußte sich die UP-Vorsitzende Aída Abella ins europäische Exil begeben, nachdem sie auf der Bogotaner Stadtautobahn knapp einem Mordanschlag entgangen war.

Guerilla im Aufwind

“Diesen Fehler werden wir nicht wiederholen”, so Alfonso Cano, zweiter Mann der FARC. Stattdessen propagiert er eine “Bolivarianische Bewegung”, die die militärischen Aktionen der Guerilla politisch flankieren soll, allerdings im Untergrund. “Wir bleiben diesmal in der Führung, als Garantie”, versichert der bärtige Chefstratege, der nach wie vor eine Machtübernahme unter sozialistischem Vorzeichen anstrebt.
Wie sich die FARC die politische Arbeit vorstellen, zeigten zuletzt wochenlange Märsche von mehreren zehntausend KokapflanzerInnen in den Amazonas-Provinzen Putumayo, Caquetá und Guaviare. Dort wollte die Regierung, gedrängt von den Vereinigten Staaten, den Kokainhandel an seiner schwächsten Stelle treffen und die Besprühung der Kokafelder mit Pflanzengift ausweiten. Die Kleinbauern und -bäuerinnen, die plötzlich ihre jahrelang tolerierte Existenzgrundlage bedroht sahen, mußten nicht lange zu den Protestmärschen überredet werden. In Florencia, der Hauptstadt Caquetás, kam es zu Straßenschlachten und Verwüstungen, an anderen Stellen wurden die campesinos brutal von der Armee gestoppt. Um die Lage zu entschärfen, einigte man sich schließlich auf eine staatlich bezahlte, manuelle Ausrottung der Kokapflanzen. In der Praxis heißt dies: Der status quo ist vorläufig gesichert, der konkurrenzlos attraktive Anbau des grünen Kokainrohstoffs geht weiter, und die Guerilla – dort wie in anderen Landesteilen unangefochtene Ordnungsmacht – hat etliche SympathisantInnen hinzugewonnen.
Bereits Mitte letzten Jahres hatte Präsident Ernesto Samper unter dem Druck der Militärs sein Vorhaben aufgegeben, Friedensverhandlungen mit FARC und ELN (Heer zur Nationalen Befreiung) aufzunehmen. Doch auch die Gesprächsbereitschaft der insgesamt etwa 15.000 Aufständischen, die sich nicht zuletzt durch Entführungen, Erpressungen und Besteuerung des Drogengeschäfts finanzieren, ist nicht allzu groß. Die jetzige Regierung sei korrupt, schwach, illegitim und kaum in der Lage, etwaige Abkommen durchzusetzen, ließ ELN-Chef Manuel Pérez, ein ehemaliger Priester, kürzlich wissen.
ELN und FARC setzen auf militärischen Druck, um mittelfristig ihre Verhandlungsposition zu stärken. Immer wieder werden in abgelegenen Dörfern Polizeistationen und Sparkassen überfallen; durchschnittlich zweimal am Tag finden Gefechte mit der Armee statt. Wie schon seit zehn Jahren setzt das ELN seine Anschläge auf Erdölpipelines fort, um eine nationalistische Rohstoffpolitik einzufordern. Im September war buchstäblich das halbe Land lahmgelegt – die Guerilla hatte Fahrverbote auf vielen Straßen verhängt und setzte diese konsequent durch: So verbrannte sie reihenweise Lastwagen und Busse, die das Verbot ignorierten, und blokkierte zehn Tage lang den Zugang zur Bananenregion Urabá nördlich von Medellín, bis sie von der Armee nach heftigen Gefechten zurückgedrängt wurde. Die Botschaften der USA und anderer Industriestaaten wiesen ihre BürgerInnen an, Bogotá nicht zu verlassen; das Nachrichtenmagazin Semana fürchtete gar eine Belagerung der Hauptstadt durch die Rebellen. Auch hinter den bürgerkriegsähnlichen Ausschreitungen, die anläßlich der Erhöhung der Stromtarife im Bogotaner Vorort Facatativá ausbrachen, vermuteten viele Politiker und Militärs die Mitwirkung der Guerilla.

Dialog nicht in Sicht

Im Gegenzug kündigte die ziemlich ratlos wirkende Regierung Samper die Mobilmachung von Reservisten und eine Kriegsanleihe bei den Unternehmen an. Antonio Navarro, Bürgermeister von Pasto, sieht in der massiven Ausweitung der Kampfaktionen auf das ganze Land eine neue Qualität: “Die Angriffs- und Verhandlungsformen ‘salvadorisieren’ sich”. In der Tat versuchen die FARC, die Übergabe der 60 Kriegsgefangenen von Las Delicias zu einer internationalen Aufwertung als Kriegspartei mit politischem Charakter zu nutzen. Für die Regierung ist diese Vorstellung ein rotes Tuch. Sie spricht immer noch von “Entführten” und hat bereits einige US-Kongreßabgeordnete dazu gebracht, ihre Sprachregelung von den FARC als kriminellem “drittem Kartell” zu übernehmen.
Daß eine der beiden Seiten den Krieg für sich entscheiden könnte, glaubt niemand. Doch Guerilla wie Armee – jeweils ohne ernsthaftes Gegengewicht auf ziviler Seite – setzen darauf, sich bis zu Verhandlungen strategische Vorteile erkämpfen zu können. Deshalb blicken viele KolumbianerInnen neidisch nach Guatemala, wo gerade ein ebenso jahrzehntelanger blutiger Krieg erfolgreich beendet zu werden scheint – mit internationaler Hilfestellung.

Kommt mit Arzú der Frieden?

Eigentlich schien nach dem ersten Wahlgang am 12. November die Sache klar zu sein: Alvaro Arzú von der Partei des Nationalen Fortschritts (PAN) verfehlte zwar mit 36 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit, der Abstand zu seinem schärfsten Konkurrenten war aber mit über 14 Prozent ausreichend groß, so daß er beruhigt der notwendig gewordenen Stichwahl gegen Alfonso Portillo der Republikanischen Front Guatemalas (FRG), der Partei des ehemaligen Putschgenerals Efraín Ríos Montt, entgegensehen konnte. Wenige Wochen vor dem zweiten Wahlgang mehrten sich jedoch die Anzeichen, daß es vielleicht noch einmal spannend werden könnte. Arzú konnte sich schließlich nur mit einem knappen Vorsprung von 31.950 Stimmen ins Ziel retten. Sein Wahlsieg stützte sich dabei fast ausschließlich auf eine deutliche Mehrheit in Guatemala-Stadt. Dort erhielt er mit 65,23 Prozent über 130.000 Stimmen mehr als Portillo (34,77 Prozent). Dagegen konnte sich Arzú im Inneren des Landes nur in drei Departamentos durchsetzen (El Progreso, Petén und Jalapa). In allen anderen 18 Departamentos gewann Portillo, zum Teil mit klarem Abstand. Insgesamt vereinte der Kandidat der FRG in den Gebieten außerhalb der Hauptstadt 55,68 Prozent der Stimmen auf sich. An der Südküste und besonders in den indianisch geprägten Regionen konnte der weiße Städter Arzú kein Bein auf den Boden bekommen, zu eng ist er mit den Interessen der wirtschaftlich Mächtigen verbunden und wird mit ihnen auch identifiziert, und zu weit ist er von den Problemen des Lebensalltags auf dem Land entfernt. In Guatemala-Stadt kehrt sich dieses Bild um: Arzú genießt dort durchaus gutes Ansehen, das sich vor allem aus seiner Zeit als Bürgermeister der Hauptstadt von 1986 – 1990 nährt, als er gezielt und mit gewissem Erfolg versuchte, die Stadtverwaltung effizienter zu gestalten und gegen die schlimmsten Auswüchse der Korruption vorzugehen.
Ähnlich wie nach dem ersten Wahlgang bemühten sich die offiziellen internationalen WahlbeobachterInnen, den sauberen Ablauf der Wahlen zu bestätigen. Diesmal war am technischen Ablauf des Wahlvorganges auch wirklich wenig auszusetzen, hielt doch selbst das nationale Stromnetz im Gegensatz zum ersten Wahlgang den Belastungen der Stimmenauswertung sowie fallenden Bäumen und Ästen stand. So waren dann in der Wahlnacht auch viele Stimmen zu hören, die diese Wahlen als einen Meilenstein in der Demokratisierung des Landes sahen. Löst man sich aber von einer rein technischen Betrachtung des Wahlvorganges und wertet die Wahlen als Gradmesser für das Vertrauen, das die Bevölkerung den “demokratischen” Institutionen und der politischen Entwicklung des Landes entgegenbringt, so muß insbesondere der zweite Wahlgang als Debakel bezeichnet werden. Im ersten Wahlgang brachte zumindest die FDNG (Frente Democratico Nuevo Guatemala) frischen Wind: Sie konnte mit einem unerwartet guten Ergebnis überraschen und mit 6 Abgeordneten in den Kongreß einziehen. Dieser Achtungserfolg einer oppositionellen Kraft konnte aber nur kurze Zeit über das Mißtrauen hinwegtäuschen, das die große Mehrheit der guatemaltekischen Bevölkerung den “demokratischen” Institutionen des Landes entgegenbringt. Im zweiten Wahlgang war mit 63,12 Prozent die höchste Wahlenthaltungsquote bei Präsidentschaftswahlen seit 1985 zu verzeichnen.

Die ersten Schritte

In der Woche vor seinem Amtsantritt am 14. Januar verkündete Arzú, daß er für seine persönliche Sicherheit nicht den eigentlich zuständigen Generalstab des Präsidialamtes (EMP) in Anspruch nehmen werde, sondern einen privaten israelischen Sicherheitsdienst, der schon seit längerem für ihn arbeitet. Ferner gab er bekannt, er und seine Familie würden nicht in der offiziellen Residenz wohnen. Allgemein wurden diese Äußerungen als ein Versuch gewertet, sich der Kontrolle des Militärs, das den EMP stellt, zu entziehen. Nach heftiger Kritik von seiten führender Militärs, die es als eine “Schande” bezeichneten, wenn Ausländer für die Sicherheit des Präsidenten zuständig seien, nahm Arzú seine Ankündigung zurück. Er blieb jedoch dabei, nicht in die Residenz des Präsidenten einzuziehen, da seine Familie zu groß sei. Auch Ex-Präsident De León Carpio hatte zu Beginn seiner Amtszeit versucht, sich der Kontrolle des Militärs zu entziehen und nicht im Präsidentenpalast zu wohnen. Letztlich mußte er jedoch dem Druck des Militärs nachgeben. Arzú scheint widerstandsfähiger zu sein. Nicht nur durch diesen mehr als symbolischen Akt versucht er, sich dem Einfluß der Militärs zu entziehen. Einige Wochen nach seiner Amtsübernahme wurden ca. 50 hohe Armeeoffiziere entlassen beziehungsweise suspendiert, bei einer Hausdurchsuchung im Privathaus des Militärkomandeurs des Quiché wurden Utensilien zur Kokainherstellung sichergestellt. Diese Maßnahmen spiegeln die Bemühungen Arzús und seiner Militärführung wieder, seine Macht gegenüber ultra-konservativen Militärs, den sogenannten Hardlinern, durchzusetzen.
In seiner Antrittsrede definierte Arzú die wichtigsten Handlungslinien seiner Regierung: Neben einem möglichst schnellen Abschluß der Friedensverhandlungen mit der Guerilla kündigte er Reformen zur Dezentralisierung kommunaler Regierungsstrukturen sowie zur Umgestaltung der Sicherheitskräfte an. Ferner sagte er der Diskriminierung der Indígenas und der Frauen, den Privilegien bestimmter Gesellschaftsgruppen, der Armut sowie der Straffreiheit den Kampf an. Zudem versprach er ein 180-Tage-Programm zur Bekämpfung der Kriminalität. Der neue Innenminister Rodolfo Mendoza legte noch in derselben Woche der Öffentlichkeit Pläne zur Vereinheitlichung der zivilen Sicherheitskräfte vor. Danach sollen die Nationalpolizei, die Zollpolizei und die Gefängnispolizei nach dem Vorbild der spanischen “Guardia Civil” zusammengefaßt sowie die Mobile Militärpolizei (PMA) in die zivilen Sicherheitskräfte integriert werden. Die spanische Regierung und die Europäische Gemeinschaft haben Unterstützung zugesagt und Mitte April sind die ersten spanischen Spezialisten im Land eingetroffen.
Aufschlußreich ist ein Blick auf die Personalentscheidungen. In sein Kabinett hat Arzú Repräsentanten der ihn stützenden Machtsektoren berufen. “Verteidigungsminister” Balconi ist Teil des reformbereiten, sogenannten “Institutionalisten-Flügels” innerhalb des Militärs, Landwirtschaftsminister Luis Reyes Mayén ist einer der führenden Köpfe des Zusammenschlusses von alteingesessenen Großgrundbesitzern UNAGRO, Arzú selbst, mit seinen engen Verbindungen zu den Zuckerfinqueros, repräsentiert die Interessen derer, die sich ihre Chancen am Weltmarkt ausrechnen. Zudem hat er mit Peter Lamport einen Botschafter nach Washington entsandt, der wie alle anderen genannten – außer Balconi – dem mächtigen Unternehmerverband CACIF angehört und dessen Agrarexportinteressen in den USA vertreten wird, in die nach wie vor mehr als 70 Prozent der Exporte Guatemalas gehen. Mit der direkten Vertretung verschiedener Interessengruppen dürfte Arzú zwei Ziele verfolgen: Zum einen kann er sich so der Unterstützung der unterschiedlichen Machtgruppen gerade bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen versichern, zum anderen verschafft er sich einen starken Rückhalt bei seinen Bemühungen, die Militär-Hardliner in ihrer Macht zu beschneiden.

Volksbewegung im Kongreß

Mittlerweile hat auch die Frente Democrático Nueva Guatemala (FDNG) die ersten drei Monate Parlamentsarbeit hinter sich. Mit den sechs Abgeordneten der FDNG, einem Bündnis von Gewerkschaften, Indígenaorganisationen, Menschenrechtsgruppen u.a. sind erstmals RepräsentantInnen der Volksbewegung im Kongreß. Die Frente-Abgeordneten müssen sich in der neuen, ungewohnten Umgebung erst noch einarbeiten. Es ist aber bereits abzusehen, daß die FDNG sich in Richtung einer konstruktiven Oppositionsarbeit orientiert. Die Abgeordneten versuchen, eher über Verhandlungen mit der Regierung als über konfrontative Fundamentalopposition vorhandene politische Spielräume zu erweitern. Inwiefern diese Strategie angesichts der absoluten Kongreßmehrheit der PAN Erfolg haben kann, bleibt jedoch abzuwarten.

Der Anfang vom Kriegsende

Nach wie vor ist die FDNG aber auch noch damit konfrontiert, daß sie in der Öffentlichkeit gedrängt wird, ihr Verhältnis zur URNG zu klären. In der Presse wird immer wieder gemutmaßt, die Frente sei nur eine Filiale der URNG – was für die AktivistInnen eine große Gefährdung darstellt, da dies trotz politischer Öffnung des Landes massive Repressalien nach sich zieht. Die Äußerungen von URNG und FDNG tragen zur weiteren Konfusion bei: Während aus der URNG immer mal wieder verlautet, die FDNG sei in irgendeiner Weise “ihr” Parteiprojekt, dementiert diese solche Äußerungen umgehend. Eine Klärung muß wohl auf die Zeit nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages verschoben werden, wenn die URNG sich in das zivile politische Leben des Landes integrieren wird.
Und dieser Zeitpunkt scheint gar nicht so fern zu sein – auch wenn mit solchen Einschätzungen sehr vorsichtig umzugehen ist, denn seit Jahren wird dieser Satz wiederholt. Einen Monat nach Amtsantritt benannte Arzú die Mitglieder der Verhandlungskommission der Regierung (COPAZ). Zum Chefunterhändler bestimmte er seinen Wahlkampfleiter und persönlichen Sekretär Gustavo Porras Castejón, der den Ruf eines fortschrittlichen Intellektuellen genießt. Des weiteren arbeiten Richard Aitkenhead, Wirtschaftsminister zu Beginn der Regierungszeit Jorge Serranos, und Raquel Zelaya, Direktorin des Instituts für Wirtschafts- und Sozialforschung ASIES, das u.a. enge Kontakte zu der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung unterhält, in COPAZ mit. Gleichzeitig wurde sowohl von Regierungsseite als auch von der URNG bekanntgegeben, daß es seit Anfang Dezember bereits insgesamt fünf vertrauliche Treffen zwischen Kommandanten der URNG und Alvaro Arzú bzw. mit dessen politischen Vertrauten gegeben habe. Und seit Ende Februar wird auch wieder auf offizieller Ebene mit Volldampf verhandelt. Zwar gab es noch kein neues Abkommen zwischen Regierung und URNG – seit über einem Jahr wird das Thema “Sozioökonomische Aspekte und Agrarsituation” diskutiert -, aber dennoch wurde schon der Anfang vom Ende des Krieges konkretisiert. Am 19. März gab die Guerillaführung die vorläufige Einstellung aller Offensivaktionen ihrer Einheiten bekannt. Zwei Tage später reiste Arzú öffentlichkeitswirksam in den Ixcán, eine der Konfliktzonen im Nordwesten Guatemalas, um den dort versammelten Militärkommandanten, stellvertretend für die gesamte Armee, den Befehl zu geben, alle Aktionen gegen die Guerilla auszusetzen. Am 23. März fügte Arzú hinzu, die Regierung sei bereit, Propagandaaktionen der URNG zu erlauben, sofern sie friedlich und ohne Risiko für die Bevölkerung durchgeführt würden. Allgemein wurde diese Entwicklung als ein großer Fortschritt auf dem Weg zum Frieden gefeiert. Noch stehen allerdings fünf Teilabkommen zu verschiedenen Themen aus, unter denen beispielsweise auch solch komplexe Probleme wie die zukünftige Rolle des Militärs und Amnestiebedingungen sind.

Hartes Durchgreifen gegen Landbesetzungen

Und erst einmal geht es noch um das Abkommen zum Wirtschaftsthema, das nicht nur ein Punkt auf der Agenda ist, wie die vielen Landbestzungen in letzter Zeit zeigen. So waren im Februar letzten Jahres insgesamt 124 Fincas von organisierten Campesinos/as besetzt. Einige dieser Besetzungen dauern nach wie vor an, bei anderen wurden die BesetzerInnen von der Polizei vertrieben. Auch in den letzten Monaten haben Campesinas/os, die in der Nationalen Koordination der Indígenas und Campesinas/os CONIC organisiert sind, immer wieder Fincas besetzt, um ihre Forderungen nach würdigen Lebensbedingungen durchzusetzen. Gerade im nordwestlichen Hochland erfahren sie dabei auch Unterstützung seitens der katholischen Kirche. Die Regierung Arzú hat in den Landkonflikten, im Gegensatz zu ihrer ansonsten recht liberal wirkenden Politik, klar Farbe bekannt. Vizepräsident Flores Asturias erklärte, die Regierung werde künftig weder Besetzungen von Land noch von sonstigem Privateigentum hinnehmen und rekurrierte dabei auf die Einhaltung einer rechtsstaatlichen Ordnung. Die Mission der Vereinten Nationen in Guatemala (MINUGUA) bat er um Begleitung bei Landräumungen, um gewaltsame Auseinandersetzungen zu verhindern.
Am 17. April marschierten etwa 150 Polizisten einer Schnellen Eingreiftruppe (FRI) in der Nähe der Finca El Tablero/Departamento San Marcos auf, um die dortige Besetzung durch mehrere hundert Campesinos/as zu beenden. Bei dem Räumungsversuch, der letztlich am Widerstand der BesetzerInnen scheiterte, wurden mindestens drei Besetzer durch Schüsse verletzt, einer starb einige Tage später an seinen schweren inneren Verletzungen. Daß bei den Auseinandersetzungen auch ein Polizist getötet wurde, hat zu einem entsetzten Aufschrei in der guatemaltekischen Presse geführt. Alvaro Arzú kündigte an, gegen die “Wildheit” der LandbesetzerInnen nun erst recht mit “harter Hand” durchzugreifen. Aus Regierungskreisen verlautete, man werde die Räumung von Landbesetzungen in Zukunft forcieren.
Nach Meinung der FDNG sind die Verantwortlichen für die Eskalation der Landkonflikte unter denen zu suchen, die einer Lösung der grundlegenden Probleme wie der Landverteilung, der hohen Arbeitslosigkeit und der großen Armut der Landbevölkerung entgegenstehen.
Auch wenn, wie aus verschiedenen Quellen verlautet, dieses Jahr noch ein abschließender Friedensvertrag unterzeichnet wird, so fehlt dann noch dessen Umsetzung. Die Erfahrungen El Salvadors haben die Probleme dabei überdeutlich gemacht. Arzú könnte als der Präsident in die Geschichte Guatemalas eingehen, in dessen Amtszeit der Frieden “ausbricht”. Bisher hat er viel Wert auf sein liberales Image gelegt. In der Landfrage ist allerdings von seiner sonst so hochgepriesenen Dialogbereitschaft nichts zu spüren. Langsam aber sicher bröckelt sein Image.

Guategate

Jennifer Harbury, Rechtsan­wältin aus New York, war mit einem Führer der Guerilla Natio­nale Revolutionäre Einheit Gua­temalas (URNG), Efraín Bámaca Velásquez, verheiratet. Seit Bá­maca 1992 auf Anordnung eines guatemaltekischen Oberst ver­haftet und ermordet wurde, ver­suchte Harbury, die Wahrheit über den Tod ihres Mannes zu erfahren. Durch einen Hunger­streik im März vor dem Weißen Haus erzwang sie, daß endlich Licht ins Dunkel kam: Der de­mokratische Kongreßabgeord­ne­te Robert Torricelli, gut unter­rich­tetes Mitglied des Geheim­dienstausschusses, trat am 22. März mit wichtigen Informatio­nen an die Öffentlichkeit.
Gehaltsempfänger des CIA gibt Mordaufträge
Zunächst ging es um zwei Mordfälle. Michael DeVine, US-amerikanischer Staatsbürger, war Hotelbesitzer in Poptún, Provinz Petén, und wurde 1990 von gua­temaltekischen Militärs umge­bracht. Für seinen Tod wie für den des erwähnten Efraín Bá­maca Velásquez ist in erster Li­nie Oberst Julio Roberto Alpírez verantwortlich. Alpírez wurde in Argentinien und den USA “nach­rich­tendienstlich” ausge­bildet und war unter Präsident Vinicio Ce­rezo (1986-1991) Chef der Si­cherheitsabteilung des Ge­ne­ral­stabs. Er wurde spä­ter zum Lei­ter der Truppenaus­bil­dungs­stätte Kaibil in der nördlichen Pro­vinz Petén er­nannt, wo er den Mord an De­Vine in Auftrag ge­ge­ben hat. Außerdem war Al­pí­rez stellver­tretender Komman­dant der Mi­litärzone San Marcos im Südwe­sten Guatemalas, wo die Kaserne liegt, in der Bámaca ge­foltert und ermordet wurde. Bei beiden Morden war Alpírez per­sönlich anwesend. Mittler­wei­le ist er zweiter Leiter der Mi­litärbasis La Aurora in Gua­temala-Stadt.
Den Informationen Torricellis zu­folge war Alpírez vom CIA für Spionagetätigkeit bezahlt wor­den. Daß die USA dem gua­te­maltekischen Militär seit Mitte der achtziger Jahre offiziell Mil­lionenbeträge überwiesen, ist be­kannt. Die Hilfe wurde erst ge­stoppt, als sich 1990 Menschen­rechtsverletzungen durch das Militär häuften und die Aufklä­rung des Mordes an DeVine von der Regierung Cerezo behindert wurde.
CIA zahlt
trotz Zahlungsstopp
Der CIA hat jedoch entgegen der offiziellen Politik weiter an Alpírez gezahlt, obwohl er wußte, daß dieser die Verant­wortung für DeVines Tod trug. Wie Torricelli in einem anony­men Brief mitgeteilt wurde, habe der CIA seit Monaten ver­sucht, die Angelegenheit zu ver­tuschen. Nach Angaben des US-Justiz­mi­ni­steriums haben Ge­heim­dienst­ler bereits bela­stendes Ma­terial ver­nichtet, um die Auf­klä­rung der beiden Mor­de zu er­schwe­ren.
In der US-Presse erschienen daraufhin Meldungen, die weit über den konkreten Fall Alpírez hinausgingen. Auch der frühere Ver­teidigungsminister Héctor Gra­majo, der bei den diesjähri­gen Präsidentschaftswahlen kan­di­dieren will, stand auf der Ge­haltsliste des CIA, ferner die drei letzten Chefs der militärischen Todesschwadron G-2, die den ver­harmlosenden Titel “Militär­nach­richtendienst” trägt. Der ehe­malige G-2-Chef Edgar Go­doy Gaitán beispielsweise war im Amt, als 1990 die US-ameri­kanische Anthropologin Myr­na Mack ermordet wurde.
Das US-Wochenmagazin “The Nation” gab am 31. März an, daß jahrzehntelang Agenten des CIA als Ausbilder in der G-2 tätig waren. Finanziell hat der CIA das guatemaltekische Heer mit fünf bis sieben Millionen US-Dollar jährlich unterstützt – trotz des Zahlungsstopps seit 1990 und der Kenntnis über die brutalen Morde der Geldemp­fänger. Laut ai töteten G-2 und ei­ne Todesschwadron na­mens Archi­vo, innerhalb der letz­ten 17 Jahre über 110.000 ZivilistInnen.
Die bekanntgewordenen Ver­bindungen zwischen Regierun­gen, Militärs und Geheim­dien­sten beider Länder und den im Bür­gerkrieg verübten Morden brach­ten einige Untersuchungen und Gerichtsprozesse in Gang. Die Zahlungen des CIA an Gua­te­mala sind laut US-Außenmini­ster Christopher sofort eingestellt worden. CIA-Direktor William Stu­deman wies indessen den Vor­wurf der direkten Beteili­gung an den Morden an DeVine und Bámaca zurück. Er räumte je­doch ein, daß Alpírez dem CIA seit 1991 als Hauptverantwortli­cher am Tod DeVines bekannt ge­wesen sei, daß man den Kon­takt zu ihm jedoch aufrechter­halten und ihm 1992 44.000 US-Dollar ausgezahlt habe, um ihn in die USA zu locken und vor ein Strafgericht zu bringen.
Clinton beruft Ermittlungs­ausschuß
Am 30. März hat Bill Clinton in Washington Ermittlungen über die eigenmächtigen Aktivi­täten des CIA in Guatemala an­geordnet und einen Ausschuß einberufen. Vorsitzender ist der Staatsanwalt von Washington, Anthony Harrington, der ein vorläufiges Ergebnis binnen 90 Tagen in Aussicht stellte. Der Ausschuß wird sich in besonde­rer Weise mit der Geheimhal­tungspraxis des CIA beschäfti­gen müssen. Den zuständigen Stellen in der US-Regierung wa­ren wichtige Informationen vor­enthalten worden. Bereits im Fe­bruar hatte die US-amerikani­sche Botschafterin in Guatemala, Marilyn McAfee, den örtlichen CIA-Chef aus ihrer Botschaft abberufen lassen, weil er sie mangelhaft informiert hatte. Zugleich sind Kreise in der US-Armee und der Nationalen Si­cherheitsbehörde NSA in den Fall verwickelt, und die frühere Regierung von George Bush steht unter dem Verdacht, die geheimen Zahlungen überhaupt erst angewiesen zu haben.
Warren Christopher bot Gua­temala Anfang März an, bei der Aufklärung der Morde an De­Vine und Bámaca durch Agenten der Bundespolizei FBI zu helfen. Die Hilfe stehe zur Verfügung, sobald Guatemala seine Politik der Straffreiheit aufgebe.
Die USA fordern seit Jahren eine konsequente Strafverfol­gung von Menschenrechtsverlet­zungen in Guatemala ein, beson­ders im Zusammenhang mit dem Mord an DeVine. Aber auch diesmal sind die Aussichten auf ein ordentliches Gerichtsverfah­ren gegen Alpírez und andere Beschuldigte nicht gut. Alpírez wurde zwar gerichtlich verhört, danach aber wieder auf freien Fuß gesetzt. Er arbeitet nach wie vor in der hauptstädtischen Mi­litärbasis La Aurora.
Präsident Guatemalas gibt Schützenhilfe
Der frühere Menschenrechts­beauftragte und jetzige Präsident Ramiro de León Carpio hat un­terdessen erneut bewiesen, daß die Hoffnungen auf Demokrati­sierung und Rechtsstaatlichkeit, die sich mit seinem Amtsantritt vor zwei Jahren verbanden, nicht aufgehen. Er stellte sich hinter Al­pírez, bestritt wie der Oberst selbst des­sen Beteiligung an den Morden, empfahl ihm, eine Ver­leumdungsklage einzuleiten, und beschuldigte im Gegen­teil den CIA, die Morde verübt zu haben.
Es müßte ein Wunder gesche­hen, wenn wirklich einmal Tat­sachen über die eigenmächtige Politik des CIA an die Öffent­lichkeit kämen. Das es diesen dunklen Bereich gibt, ist klar, aber selten ist er konkret faßbar geworden. Ausgelöst durch die Beharrlichkeit der engagierten Rechtsanwältin Jennifer Harbury und den Mut eines eher rechtsge­richteten Kongreßabgeordneten be­steht jetzt die Chance dazu. Es ist mit großer Spannung abzu­warten, was der Untersuchungs­ausschuß und andere von der Geschichte Betroffene zutage fördern.
Das Angebot der USA, mit FBI-Leuten in Guatemala aufklä­ren zu helfen, gibt dennoch An­laß zur Besorgnis. Es hieße, den Teufel mit dem Beelzebub aus­zutreiben, denn die verschie­denen Geheimpolizeien und Nachrichtendienste beider Län­der sind offenbar zu eng inein­ander verzahnt, als daß man auch nur halbwegs Objektivität er­warten dürfte. Aufklärungsarbeit können hier nur unabhängige, in­ter­nationale Kräfte leisten, und die Nachforschungen werden zu kurz greifen, wenn sie sich nicht zu­gleich auf CIA, G-2, gua­te­maltekisches Militär und an­dere In­stitutionen richten. Die Aus­sich­ten dafür stehen be­kanntlich schlecht. Wird statt dessen das FBI in Guatemala aktiv, dürfte sich die Entmilitari­sierung des ge­schundenen Lan­des weiter hi­naus­zögern.

Hörbarer Aufstand

Guatemala geriet 1986 in die Schlag­zeilen. Nach langer Militärherrschaft wurde der Christdemokrat Vinicio Cerezo in formal freien Wahlen zum Präsidenten gewählt. Die bundesdeutsche Regierung meinte, dieses Ereignis ausgerechnet durch Lieferung von Polizeifahrzeugen und -ausrüstung unterstützen zu müssen – zur Stärkung demokratischer Rechtsstaat­lichkeit.
Rufen wir uns die Ereignisse noch ein­mal in Erinnerung: Als die Militärs von 1978-1983 in Guatemala eine “Politik der verbrannten Erde” praktizierten, mußte die BRD wie viele andere Geberländer ihre finanzielle Unterstützung herunterschrau­ben, wobei bemerkenswert ist, daß sie auch unter einer SPD/FDP-Regierung nie ganz eingestellt wurde. Der “Nationale Plan für Sicherheit und Entwicklung”, der 1982 vom Generalstab der guatemalteki­schen Armee vorgelegt wurde, hatte eine gewisse Änderung der politischen Mittel zur Folge: Die Herrschaft von Militär und Großgrundbesitzern sollte nun durch ge­zielte militärische Schläge gegen die Guerrilla und durch eine breite Anti-Guerrilla-Kampagne gesichert werden, wozu ganze Dörfer zwangsweise “umerzogen” und in sogenannten Zivilpa­trouillen zu Handlangern des Militärs gemacht wurden. In diesen Plan paßte es auch, scheindemokratische Institutionen einzurichten, um gegenüber den interna­tionalen Geldgebern glaubwürdiger zu er­scheinen.
Die Leichtgläubigkeit der Bundesregie­rung jedoch war erschreckend. Das offi­zielle Konzept sah vor, die vom Präsi­denten kontrollierte Nationalpolizei als Gegengewicht zum Militär zu stärken – “zu einer wirksamen Verbrechensbekämp­fung im Interesse der Bevölkerung und zur Verbesserung der Menschenrechts­lage”, wie der Ministerialdirigent im BMZ Schweiger am 22.September 1986 schrieb. Einen Monat später hingegen war im Spiegel zu lesen, daß seit Cerezos Amtsbeginn (14. Januar 1986) bis August 551 Menschen ermordet und 198 ver­schleppt worden seien und nach Schät­zungen von Menschenrechtsorganisatio­nen ein Drittel davon “auf das Konto der staatlichen Sicherheitskräfte gehen und politisch motiviert sind.”
Dennoch übergab der deutsche Bot­schafter in Guatemala am 11. Februar 1987 120 Fahrzeuge und über 140 elek­tronische Geräte an die Nationalpolizei.
Die Hoffnungen, die in den gewählten Präsidenten gesetzt wurden, waren ver­geblich: Die Morde und schweren Menschenrechtsverletzungen ließen nicht nach, und es war offensichtlich, daß staat­liche Stellen in Guatemala einen Teil der Verbrechen zu verantworten hatten, Nach­forschungen über die Täter verhinderten und die 1985 vom Militär ausgesprochene Selbst­amnestie nicht antasteten. Im Jahre 1988 verschärfte sich die Lage, als sich Cerezo nach dem gescheiterten Militär­putsch im Mai dazu gezwungen sah, die Nationalpolizei dem Militär einzugliedern. Daß die Polizei im Sinne rechtsstaatlicher Demokratie handeln würde, war späte­stens von da an nicht mehr denkbar.
Noch im Jahre 1989 wurde ein Antrag der Grünen im Bundestag bei Enthaltung der SPD(!) abgelehnt, die Polizeihilfe ein­zustellen. Aber erst als die USA ihre Zahlungen beendete, nachdem bei einem Massaker am 2.12.1990 13 Indígenas er­mordet worden waren, zahlte auch die BRD die letzte Million nicht mehr aus.
Selbstverständlich ist die deutsche Poli­zeihilfe für Guatemala nicht das zentrale Thema des Buches. Worum geht es?
Nachdem der Rowohlt-Verlag ein für Juni 1994 angekündigtes Buch zur Lage in Guatemala (bisher immer noch) nicht her­ausgebracht hat, bietet Sterrs Buch einen tiefgründigen Einblick in die jüngste Ge­schichte des Landes und behebt damit den Mangel an einer aktuellen deutschsprachi­gen Darstellung. Es kommt Sterr vor al­lem auf die politische Geschichte an. Aber neben den sauber recherchierten, in ver­ständlicher Sprache dargebotenen Fakten und Zusammenhängen ist es ein Buch, das bewegt. Der Autor hat auf seinen Reisen selbst das Land kennenlernen können, und es bestätigt sich die alte Erfahrung: Von soundso vielen Toten und Verletzten zu hören, ist schrecklich, aber doch abstrakt, also unvorstellbar. In seinen Ausmaßen wird das Leiden ahnbarer -begreifbar wohl kaum-, wenn es um den Einzelnen und die Einzelne geht. So fügt Sterr in seinen hi­storischen Bericht zwei Reportagen ein. Hat man sie gelesen, dann bekommt auch der übrige Text ein anderes Gesicht.
Darüber hinaus ist es ihm gelungen, mit wichtigen Personen Guatemalas Inter­views zu führen. Das Buch beginnt mit ei­nem Gespräch mit Rigoberta Menchú. Später sind Interviews mit den coman­dantes der drei Untergruppierungen der Guerrilla URNG eingefügt, die für mich ganz besonders aufschlußreich wa­ren, da es sich nicht um die üblichen Sta­tements handelt, sondern die Befragten, unter ihnen der Sohn des guatemalteki­schen Schriftstellers Miguel Angel Astu­rias, über ihre Herkunft und ihr Selbstver­ständnis sprechen. Bereits 1990 führte Sterr ein Interview mit dem Ex-Diktator Ríos Montt – dem im Januar 1995 frisch gewählten Parlamentspräsidenten – ; ein Blick aus anderer Perspektive also, der sehr zu denken gibt. Trotz allem Persönli­chen verfällt Albert Sterr nicht dem Kult der Betroffenheit, sondern vermag es, fundierte Informationen und Statistiken mit dem alltäglichen Besonderen zu ver­binden.
Das Buch schließt mit einer detaillier­ten Darstellung der Friedensverhandlun­gen, die bisher noch nicht abgeschlossen sind. So sind allem die sich heute mit Guatemala beschäftigen, breite Kenntnisse an die Hand gegeben, die über das Basis­wissen weit hinausgehen.
In seinem Vorwort schreibt Sterr: “(Diese Arbeit)…wendet sich nicht in er­ster Linie an ‘Guatemala-Fachleute’, son­dern richtet sich auch an diejenigen, die zum Beispiel das Land besuchen und sich vorher einen Überblick darüber verschaf­fen wollen, welche gesellschaftliche Re­alität die Maya-Ruinen und die indiani­schen Märkte umgibt.”
Wie schön wäre es, würden sich Touri­stInnen so vorbereiten.
Valentin Schönherr
Albert Sterr: Guatemala. Lautloser Aufstand im Land der Maya, Neuer ISP Verlag, Köln 1994, 290 S., 36,- DM.

Editorial Ausgabe 248 – Februar 1995

‘El pueblo unido, jamás será vencido!” In Zentralamerika war die Idee vom “Vereinten Volk, das niemals besiegt wird” seit den achtziger Jahren untrennbar mit der Einheit der revolutionären Bewegungen verbunden. Ob in Nicaragua, wo die FSW 1979 durch einen Volksaufstand an die Macht gekommen war, in E1 Salvador, wo die FMLN in einem langen Krieg das mörderische Regime aus Christdemokratischer Partei und US-gesponsorten Militärs bekämpfte, oder in Guatemala, wo die URNG einen zähen Kampf gegen die Militärstrategie der verbrannten Erde führte -stets war die Einheit der Befreiungsbewegungen eine unabdingbare Voraussetzung für ihre Stärke.
Das revolutionäre Zeitalter in Zentralamerika ist -zumindest mittelfristig -zu Ende. In Nicaragua wurde die sandinistische Regierung, die sich jahrelang erfolgreich der unter dem Deckmäntelchen der Contra versteckten US-Aggression erwehrt hatte, vom eigenen Volk abgewählt. In EI Salvador hat die Guerilla ihre Waffen abgeliefert und kämpft nun unter großen Mühen für die Einhaltung der ohnehin begrenzten Reformen, die im Friedensvertrag von Chapultepec vereinbart wurden. Und in Guatemala spricht niemand mehr von der Revolution. Die Verhandlungen zwischen URNG und Regierung kommen nur zäh voran und dürften -sollten sie eines Tages zum Abschluß gebracht werden -weit hinter den Ergebnissen in E1 Salvador zurückbleiben.
Der Spaltpilz, der sich seit einiger Zeit in den (ehemals) revolutionären Bewegungen breitgemacht hat, ist ein weiteres Zeichen für das Ende der revolutionären Hoffnungen in Zentralamerika. Guatemalas Guerilla Ist wohl eher aus der Notwendigkeit des Krieges heraus noch vereint. Über die Spaltung der FMLN war bereits in den Lateinamerika Nachrichten des Vormonats zu lesen. Diesmal gilt es, über die Spaltung der FSLN zu berichten: Sergio Ramírez und andere prominente Sandinistlnnen haben die FSLN verlassen. Die Gründung einer neuen Partei steht unmittelbar bevor.
Das Schlimme am Zerwürfnis innerhalb der FSW ist jedoch weniger die Spaltung -die Einheit der Frente Sandinista war seit langem nur noch ein Mythos. Wirklich erschreckend ist die Art und Weise, wie mit parteiinternen GegnerIn- nen umgegangen wird. Statt einer politischen Debatte wird eine miese Schlammschlacht voller persönlicher Beleidigungen und infamer Unterstellungen ausgetragen. Der Hombre Nuevo, der einst durch die Revolution entstehen sollte, entpuppt sich als Macho Viejo. Wem die Argumente ausgehen, der behilft sich mit Intrigen oder mit dummen und sexistischen Sprüchen.
Die Solidaritätsbewegung muß sich ebenfalls vom gewohnten Freund-Feind-Denken verabschieden. Wenn Sergio Ramirez und andere die FSLN verlassen, ist es eben nicht unbedingt, weil sie “rechts” sind und ihren Frieden mit der Bourgeoisie gemacht haben. Sowohl der Mehrheitsfrügel um Parteichef Daniel Ortega als auch die Minderheit, die jetzt Ramirez folgen und die Partei verlassen wird, huben bei unzähligen Gelegenheiten mal mit und mal gegen die Regierung gestimmt. Und ob Daniel Ortega eine größere Nähe zur Basis hat als etwa die “Reformerln” Dora Maria Téllez, darf bezweifelt wer-den. Das lnfobüro Nicaragua in Wuppertal bemüht sich erfreulicherweise um eine Debatte über die Zustände in -und mittlerweile außerhalb -der FSLN. Die Konstruktion eines Links-Rechts-Gegensatzes beim Streit der Sandinistlnnen, wie sie von einem Teil der Solibewegung vorgenommen wird, ist dagegen blanker Unsinn. Die Dinge sind weit komplizierter, den eindeutigen Bündnispartner gibt es in Nicaragua nicht mehr.

Tierra: Umwelt und Mitwelt indigener Völker

Auf der zweiten Weltkonferenz für Menschenrechte, die im Juni 1993 in Wien stattfand, wurden wichtige Ver­pflichtungen für die Vereinten Natio­nen vereinbart: eine Dekade für Indi­ge­ne Völ­ker zu starten und ein vor­aus­sichtlich permanentes Forum ein­zu­richten. Parallel dazu veranstaltete das öster­reichische La­teinamerika-In­stitut ein Symposium zu der Frage nach den Rech­ten indigener Völker, um einen Dialog zwischen Wissen­schaft­lerInnen, indi­genen VertreterIn­nen und Expert­Innen aus Entwick­lungsprojekten zu er­möglichen. In 14 Beiträgen dieses Bu­ches werden die Er­gebnisse dieses Treffens dargestellt.
Der Titel des Sammelbandes greift die zentrale Frage der internationalen Aus­einandersetzung um die Rechte der indi­genen Völker auf. “Tierra”: For­derung nach Land. Tierra, wird uns im Vor­wort erklärt, sei die “Lebens­grundlage eines je­den indiani­schen Vol­kes”, und entspre­chend sei die Forderung nach einer lega­len Basis für territoriale Ansprüche und politi­sche Auto­nomie eng mit der Ökolo­gie und den indigenen Land- und Nut­zungs­rechten verbunden.
Reale und formelle Politik
Seitdem die UNO 1982 die “Arbeitsgruppe für Indigene Völker” ein­setzte, gibt es formelle und regel­mäßige Kontakte mit VertreterInnen indigener Völker. Die Aufgabe dieser UN-Gruppe ist es, wie es im Beitrag von Julian Burger erklärt wird, “Entwicklungen, die die in­digenen Völ­ker beeinträchtigen, zu beob­achten und Standards für den Schutz ihrer Rechte auszuarbeiten”. Wie die Um­setz­ung dieser Standards auf interna­tionaler Ebene vorangeht, zeigt die Tat­sache, daß der Deklarationsentwurf der UN über die Rechte der indigenen Völ­ker, erst im Fe­bruar 1995, zwei Jahre nach seiner Verab­schiedung, von der Menschenrechtskom­mission der UN angenommen wird. Ob diese De­klaration auf die verschiedenen Re­gierungen einwirken wird bleibt noch abzuwarten.
Der tägliche Kampf der indigenen Völ­ker wird in den Beiträgen der Ex­pert­Innen aus Entwicklungsprojekten dar­gestellt. Berichte über Venezuela und Ecuador zeigen, wie die rechtliche Stellung ihrer Reservate den Indígenas keinen Schutz vor der Ausplünderung ihrer Boden­schätze seitens des Staates gibt. Durch die Militarisierung der Zone und die Zerstö­rung ihrer Le­bens­grundlage sind sie stark bedroht. Andere Beispiele dagegen zei­gen, wie in Guatemala und Brasilien sich die Indígenas gegen die Interessen des Staates wehren. In Guatemala erobern die Kekchí-Indianer die Region Petén mit Bauernsiedlungen, in denen ihre tradi­tionellen Strukturen und ihre Identität auf­rechterhalten werden. In Brasilien ist das Gebiet der Zuflüsse des oberen Rio Negro eine der weni­gen Regionen des Ama­zonasbeckens, in dem seit Jahrhunderten verschie­dene indianische Völker nahezu die ein­zigen ständigen BewohnerInnen sind. Wie die 19 Volksgruppen dieses Ge­biets zusammenleben und ihre kul­tu­relle Vielfalt aufrechterhalten, könnte ein Vor­bild für andere Gesellschaften werden…
Menschenrechte und Indianität
Ethnische Rechte der indigenen Völ­ker als speziell begründeter Anspruch inner­halb der Menschenrechte zu be­trachten, erfordert eine Definition der Indianität. Bei Rodolfo Stavenhagen wer­den die konzeptuellen Problem­fel­der, die dadurch entstehen, benannt: Individuelle und kol­lektive Rechte, ethnische Minderheiten und indigene Völ­ker auf der ganzen Welt. Als Ge­gengewicht steht der Beitrag von Leo Gabriel über die “Indianisierung” der Volksbewegungen in Lateinamerika. Er vertritt die These, daß durch die neu­en Transformationsprozesse in diesem Kon­tinent Begriffe wie Ethnie, Rasse und Klasse nicht mehr gültig sind. Als Folge der neoliberalen Wirt­schaftspolitik orga­nisiert sich die Zivil­gesellschaft in Volks­organisationen, um die Armut zu bekämp­fen. Darin ist die indianische Identität der gemeinsame Nen­ner, unter dem sich auch Mestizen und andere benachteiligte Grup­pen finden.
Natur als Mit- und Umwelt
Aus ökologischer Sicht zeigen die Be­richte der Experten über die indige­nen Auseinandersetzungen mit dem Staat eine alternative Lebensweise, in der die Natur als Mit- und Umwelt erlebt wird. Es ist beeindruckend zu er­fahren, wie in den zwei Vorträgen, die von Indianer-Vertre­tern in Wien gehalten wurden, der Kampf um die Um­welt gleichgesetzt wird mit dem Kampf um das eigene Leben. Dieses Natur­konzept ist Gegenstand der Menschen­rechtsdiskussion, weil es ein anderes Rechtsverständnis darstellt als das von Europa in die Kolonien über­tra­gene und heute international gültige. Eine Al­ternative zu diesem juristischen Problem wird von Wolfgang Dietrich analysiert, sowie im Beitrag von Otmar Höll, in dem die juristischen Hinder­nisse zu einer nachhaltigen Entwick­lung gezeigt werden.
Ob die Internationale Dekade der Indi­genen Völker, die im Dezember 1994 be­gonnen hat, dazu beitragen wird, die Lage der Indígenas zu ver­bessern, bleibt noch offen. Was der Sammelband zeigt, ist die Vielschich­tigkeit eines Problems, das durch den europäischen Kolonialismus vor 500 Jahren in den Trikont-Ländern in Gang gesetzt wurde.

Tierra: Indigene Völker, Umwelt und Recht./ Doris Cech u.a., Frankfurt a.M. 1994,. ISBN 3-86099-131-0 (Brandes und Apsel), 180S.,ca 28DM.-

Wer hat Angst vorm illegalen Mann?

Die WahlkampfstrategInnen des Republika­ners Wilson (des ehemaligen und zukünf­tigen Gouverneurs von Kali­fornien) ent­warfen letztes Jahr ein Wahl­programm, das von den wirtschaftlichen Problemen ablenken und zu zwei äußerst emotionionsgeladenen Problemen hinlen­ken sollte: Immi­gration und Gewalt. Die Schuldigen waren schnell gefunden: Die Verantwortlichen für das Loch im Staats­haushalt seien die ille­galen ImmigrantIn­nen – oder wie sie sich sel­ber lieber nen­nen – die ausweislosen Im­migrantInnen, los indocumentados. Und so star­tete Pete Wilson im August letzten Jahres mit ei­nem dramatischen of­fenen Brief an Bill Clinton die SOS-Kam­pagne (Save Our State) und sammelte mehr als 600.000 Unterschriften für die Durchführung des Referendums 187. Er übertraf damit bei weitem die Mindestanzahl von 385.000 Unterschriften und erhielt mehr Unter­schriften für seinen Gesetzes­vorschlag, als jemals für eine bundesstaa­tenweite Kam­pagne gesammelt worden waren.
Die Sprache des SOS-Antrags ist durch und durch rassistisch. Es geht nicht um illegale EinwanderInnen an und für sich, son­dern um solche, die kriminell sind und die US-AmerikanerInnen allein durch ihre Anwe­senheit bedrohen. Der Gesetzesvor­schlag 187 beginnt mit einem Lamento: “Die Menschen aus Kalifornien erklären, daß sie aufgrund der An­wesenheit illega­ler Ausländer in ih­rem Staat ökonomische Härten erlitten haben und weiterhin erlei­den, und daß sie durch das kriminelle Verhalten der Ein­dringlinge persönliche Verletzungen und Schaden erlitten haben und weiterhin er­leiden; und daß sie ein Recht darauf ha­ben, daß der Staat sie ge­gen illegale Ein­wanderer beschützt.”
Die möglichen Folgen
Nach Inkrafttreten der Gesetzesände­rung sollen alle EinwandererInnen ohne gültige Papiere aus dem öffentlichen Erziehungs- und Gesundheitssystem ausgeschlossen werden. Einzig Notfällen soll weiterhin Erste Hilfe geleistet werden. Ermöglicht werden soll dies durch repressive Kon­trolle durch Er­zieherInnen, LehrerInnen, ÄrztInnen und Pflegepersonal, also durch sogenannte Vertrauenspersonen. Eine Gruppe von ÄrztInnen wehrte sich laut­hals gegen diese Bespitzelung ihrer Pati­entInnen und warnte zu Recht davor, daß unter diesen Bedingungen viele nur noch in absoluten Notfällen kämen und so die Ge­fahr bestehe, daß hochan­steckende Krankheiten unbehandelt blie­ben.
Der durchschlagende Wahlerfolg vom Proposal 187 zeigt, wie sehr dieses Thema den Leuten unter den Nägeln brennt. Selbst gestan­dene DemokratInnen unterstützten dieses Re­ferendum, um ihren Unmut zu äußern. Viele Steuerzah­lerInnen sind einfach erbittert darüber, daß Neuankömmlinge von dem System zu profitieren scheinen, für das sie selbst immer nur zahlen, aber kaum etwas her­auskriegen. So sind die öffentlichen Schulen in einem derartig katastrophalen Zustand, daß Eltern, die sich dies leisten können, ihre Kin­der auf private Einrich­tungen schicken. Das verringert freilich nicht die Steuern, die für öffentliche Ein­richtungen gezahlt werden müssen. Gou­verneur Wilson machte sich dieses Manko in seinem Wahlkampf zunutze, indem er einfach folgendes be­hauptete: Werfe man die ganzen “illegalen” Kinder aus den öffentlichen Schulen, gäbe es genügend Geld, um je­dem verbleibenden Kind einen Computer zur Verfügung zu stellen: eine in­fame, unhaltbare Idee, die bei den Wähler­Innen aber trotzdem sehr gut ankam.
Latinos/as als Sündenböcke
Ein Abbau dieser tiefverwurzelten Vorur­teile – “Kalifornien geht es nur des­wegen jetzt so schlecht, weil seit Ewig­keiten diese Immigranten aus dem Süden kom­men und das amerikanische Gesund­heits- und Sozialsystem ausnutzen” – könnte von Seiten der Latinos/as mit sinn­voller Öf­fentlichkeitsarbeit erreicht wer­den. Diese müßte versuchen, mit Fakten die beste­henden Vorurteile aus der Welt zu schaf­fen. Vorsichtigen Schätzungen zufolge halten sich in Kalifornien 1,5 Millionen ausweislose ImmigrantInnen auf. Umbe­kannt ist aber, wie hoch der Anteil der verschiedenen Ethnien liegt. Denn neben den Latinos/as, die in erster Linie aus Mexiko, Guatemala, El Salvador und Nicaragua kommen, gibt es viele asiati­sche EinwanderInnen und eine Gruppe, von der man wegen ihres as­similierten Äußeren kaum spricht: KanadierInnen.
Immer wieder kommt die erhitzte und emotionale Debatte darauf, wie viele la­teinamerikanische Frauen in die USA kä­men, nur um Kinder zu bekommen und völlig umsonst Schwanger­schaftsversorgung einzustreichen. Diese Kinder wären immerhin qua Geburt US-AmerikanerInnen. Es ge­nügt offenbar, daß es diese Fälle gibt und daß die durch­schnittlichen US-AmerikanerInnen sich durch sie bedroht und ausgenutzt fühlt. Unge­achtet dessen hat ein Großteil der gut bis sehr gut Verdienenden keine Skrupel, solch illegale Arbeitskräfte weiterhin in ihren Haushalten, Gärten und Betrieben zu beschäftigen – ohne Papiere, ohne Steu­ern, ohne Abgaben.
Unterstützung erhielt das Proposal 187 aber auch aus dem sogenannten Ghetto. Argu­mente, daß die Jobs, die die Lati­nos/as annehmen, ansonsten sowieso kei­ner will, treffen für Stadtteile wie South-Central in Los Angeles nicht zu. In diesem wahr­scheinlich ärmsten Slum von Los Angeles, der im April vor zwei Jahren durch die riots zu trauriger Berühmtheit gelangte und seither von Weißen gemieden wird wie die Pest, hat eine Menge Afro-Ameri­kanerInnen für das Re­ferendum 187 gestimmt. Denn hier, wo jeder Job rar ist, glauben die Leute, daß die ImmigrantInnen bevor­zugt werden. Man nimmt auch an, daß mindestens die Hälfte der legalen Lati­nos/as für die Ver­abschiedung des um­strittenen Refe­rendums gestimmt haben. Ihre Argumen­tation beinhaltet eine ge­wisse Logik: Wenn sie sich den Schikanen der INS un­terworfen haben und jetzt brav ihre Abga­ben zahlen, warum sollen die anderen Neuankömmlinge – wenn sie wirklich in den USA bleiben wollen – sich nicht dem gleichen Procedere aussetzen?
Viele linke Intellektuelle sehen die Ein­wanderInnen aus dem Süden hingegen als eine neue, starke, unternehmerische Kraft, die eventuell Kalifornien die wirtschaftli­che Erneuerung bringen könnte, die sich der Bundesstaat so dringend herbeisehnt. Kalifornien ist seit Anfang der neunziger Jahre durch die tiefste Rezession seit den Tagen der Großen Depression in den dreißiger Jahren gegangen. Stichpunkte dazu sind der Zu­sammenbruch der Rüstungsin­dustrie und die Schließung der Aerospace-Werke, bei der Hunderttau­sende ihren Job verloren und die eine Massenflucht von kleinen Unternehmern und Angestellten nach sich zog. Zur Zeit ziehen mehr Men­schen aus dem Bundes­staat Kalifornien weg als sich neue ansie­deln.
Aus der politischen Verschla­fenheit erwachen
Offen bleibt die Frage, ob der Antrag überhaupt verfassungsrechtlich in Ord­nung ist. Vor der Einführung des Propo­sals 187 ver­sprechen sowohl GegnerInnen wie BefürworterInnen dieses Antrages, bis vor das Oberste Ver­fassungsgericht zu gehen. Der sprin­gende Punkt ist, daß die Formulierung des Referendums von “illegalen Personen” ausgeht. GegnerIn­nen argumentieren mit den grundlegenden Menschenrechten, nach denen es keine “illegalen” menschlichen Individuen geben kann. Ein ähnlich for­mulierter Gesetzesamtrag wurde in Texas unlängst als nicht verfassungsmäßig ab­gelehnt. Insofern ist für die GegnerInnen noch nicht aller Tage Abend.
Trotzdem machte sich am Tag nach den Wahlen erst einmal eine gewisse Fas­sungslosigkeit breit. Latinos/as in Kalifor­nien, ob nun legal oder illegal im Lande, verspüren die Notwendigkeit, sich zu or­ganisieren. Selbst für diese wichtigen Wahlen waren die Latinos/as nur schwer zu motivieren. Die spanischsprachige Ta­geszeitung ‘La Opinion’ geht zwar davon aus, daß 1,75 Millionen lateinamerika­stämmige Menschen sich für die Wahlen registrieren ließen, aber höchstens 900.000 auch an den Wahlen teilnahmen. Trotzdem ist dies ein 50prozentiger Zu­wachs an registrierten Wählerstimmen ge­genüber den Wahlen von 1990. Die hef­tigsten Proteste, sowohl vor als auch nach der Wahl, gingen und gehen von den SchülerInnen aus. Und deren explosive Sprengkraft wird von Seiten der Behörden ziemlich gefürchtet, da man Ausschrei­tungen wie im April 1992 verhindern will. Bislang verliefen alle Proteste nach der Wahl friedfertig, einzig in Mexiko wurde ein ‘Mc Donalds’ als Symbol des Yankee-Imperialismus auseinandergenommen.
Es gibt in Los Angeles viele kleinere NGOs, die mit Hilfsbedürftigen aus be­stimmten Ländern zusammenarbeiten. Unterschiedliche politische Hintergründe, geformt durch die Bedingungen in den jeweiligen Herkunftsländern, machen eine Zusammenarbeit der verschiedenen Orga­nisationen aber oft sehr schwierig. Daß diese Haltung aber auch in Krisenzeiten wie in der heißesten Wahlkampfzeit mit der vehementen Po­lemik für das Referen­dum 187, nicht aufgege­ben wird und die spanischsprachige Co­munidad nicht etwas enger zusammen­rückt, ist äußerst schade.
Business as usual
Sowohl bei der Gesundheitsversorgung als auch in den Schulen herrschte am Mitt­woch, dem 9. November, einen Tag nach den Wahlen, business as usual. Fehlende Instruktionen einerseits, andererseits aber auch der Unwillen insbesondere des Ge­sundheitspersonals, sich nunmehr als Spitzel der INS zu betätigen, werden wohl auf kurze Sicht nicht dazu führen, daß das Referendum 187 wirklich eingesetzt und seine Vorschriften befolgt werden. Aber die Angst vor möglicher Denunzierung geht um, und die Verunsicherung ist groß.
Am zweiten Tag nach den Wahlen zeich­nete sich auf bundesstaatlicher Ebene eine multiethnische Kampagne des zivilen Un­gehorsams ab, die die Einführung von “187” um jeden Preis verhindern will. Die erste Aktion dieser Allianz aus asiati­schen, afroamerikanischen und lateiname­rikanischen Gruppen, die sich “Ge­rech­tig­keit für alle” nennt, war das Verteilen von Informationsheften, die zum Engagement für die Bewegung aufrufen. Diese Bewe­gung will die Latinos/as aus deren politi­scher Verschlafenheit erwecken. Voller Selbstkritik beschreiben Re­präsentantInnen aus dem Gewerkschafts- und Arbeitnehmerbereich die Latino-Ge­mein­de in den letzten Jahren als “schlafenden Giganten”.
Trotzdem ist Kalifornien über Nacht, wie die liberale Tageszeitung ‘Los Angeles Times’ schreibt, nicht mehr das “Land al­ler Möglichkeiten”, ist weniger “Schmelz­tiegel”, sondern mehr “wir” und “ihr” ge­worden.

Politische Einmischung unerwünscht

Im Vergleich zu den privaten Universitä­ten ist es preiswert, an der staatlichen Universidad San Carlos zu studieren: 1,50 DM Studiengebühren monatlich, bis zu 70 DM für Bücher und Arbeitsmittel, allge­mein recht niedrige Lebenshaltungs­kosten.
Aber für die meisten Menschen sind die Kosten jedoch eine so große Hürde, daß sich an der Universität nur die kleine Schar derer zu­sammenfindet, deren Eltern ihnen das Studium bezahlen können. Das sind ganze 0.7 Prozent der Bevölkerung. 55 Prozent aller GuatemaltekInnen sind von höherer Bildung ausgeschlossen, da ihnen nicht einmal zugestanden wird, Lesen und Schreiben zu lernen. Wer zum Rest ge­hört, darf nicht aus einer normalen campesino-Familie stammen, denn die ge­ringe Studiengebühr von einer Mark fünf­zig ist der Tageslohn eines Landar­beiters, der Wert eines Fachbuchs ent­spricht schon einem Monatslohn. Außerdem wer­den alle arbeitsfähigen Fa­milienmitglieder zum Geldverdienen gebraucht.
In ganz Guatemala studieren etwa 82.000 Menschen, die Hälfte davon in der Haupt­stadt. An den vier privaten Universitäten, die Studiengebühren zwischen 70 und 300 Mark monatlich erheben, sind 9.000 Stu­dierende eingeschrieben. Und wer die fi­nanziellen Möglichkeiten hat, studiert im Ausland. Das sind jedoch verhältnismäßig wenige.
Glücklich also, wer sich einen Platz an der San Carlos leisten kann. Aber die Zu­gangsbedingungen zur Universität sind nicht das einzige, was die Lage deutscher StudentInnen von der eines Studierenden in Guatemala un­terscheidet. Für uns ist es normal, daß sich Studierende politisch artikulieren können; von den Fach­schaftsinitiativen bis zum Streiksemester ist alles dabei. Vielmehr ist deutlich, daß sich die meisten hier nicht engagieren wollen. In Guatemala dürfen sie nicht, je­denfalls nicht so, wie sie wollten.
Politisches Engagement ist ein Wagnis
Zu diesem Thema war kürzlich Genaueres zu erfahren: Am 2. November waren drei studentische VertreterInnen aus Gua­temala am Berliner Otto-Suhr-Institut der Freien Universität zu Gast und berichteten ausführlich über Geschichte und Situation politischer Mitwirkung von Studierenden in ihrem Heimatland. Rebeca, Cecil und Víctor – drei junge Menschen, an das Re­den in der Öffentlichkeit gewöhnt, erfah­ren und kompetent, könnten genauso gut einer hiesigen studentischen Gruppierung angehören. Aber nach und nach wurde deutlich, was es dort heißt, politisch zu arbeiten. Es kann das Leben kosten.
Alle Studierenden in Guatemala sind au­tomatisch Mitglieder der Asociación de Estudiantes Universitários (AEU), dem StudentInnenverband. Sie wählen alle zwei Jahre ein Generalsekretariat, be­stehend aus vier Mitgliedern. Für viele Themen wie inneruniversitäre, nationale und internationale Fragen, Umwelt, Frauen, Kultur usw. gibt es Arbeitskom­missionen; dazu kommen 29 Fachbe­reichsräte. Die politische Orientierung der AEU (hier also: der VertreterInnen in den Gremien) hängt vom Wahlverhalten der Studierenden ab, jedoch – so Víctor – wurde in den letzten 30 Jahren immer links gewählt.
Die AEU zählt zu den Organisationen im Land, die sich im Laufe der Jahrzehnte immer wieder politisch eingemischt ha­ben. Eine politisch motivierte StudentIn­nenbewegung gab es an der viertältesten Universität Lateinamerikas schon um die Jahrhundertwende. 1920 wurde die AEU gegründet und war von Anfang an ein wichtiges Element bei sozialen Bewegun­gen, so daß sie von Jorge Ubico, Diktator in Guatemala von 1932 bis 1944, kurzer­hand aufgelöst wurde. Die sogenannte Oktoberrevolution vom 20.10.1944 er­möglichte ihr die Neugründung. Und in den zehn folgenden Jahren der Reform war die AEU eine einflußreiche Kraft, Jurastudenten wirkten am Landreformpro­gramm mit, und auch Regierungsmitglie­der gingen aus der AEU hervor.
Aber der Putsch von rechten Militärs und des CIA im Jahre 1954 erstickte neben allen anderen Reformkräften auch die StudentInnenbewegung: Ermordungen, Ver­haf­tungen und Exil waren an der Ta­gesordnung, und der politische Winter zwang dazu, die Organisation unter re­pressiven Bedingungen neu aufzubauen. Erst in den sechziger Jahren konnten sich AEU-VertreterInnen wieder zu Wort mel­den. Damals ging es vor allem um soziale Forderungen und Öffentlichkeitsarbeit. Die StudentInnenbewegung bekam in den Siebzigern großen Auftrieb, der durch den Mord an AEU-Chef Oliverio Castañeda de León am 20.10.1978 einen brutalen Einschnitt erlitt. Seither nennt sich die AEU nach ihm.
Die Repressionen nahmen während der Präsidentschaft von Lucas García (1978-82) und von Rios Montt (1982-83) stark zu. Bis Mai 1984 war die gesamte Lei­tungsebene der AEU beseitigt worden, 3.000 Mitglieder der Universität waren ermordet, “verschwunden” oder im Exil.
Die Repression dauert auch nach der Diktatur an
Erst unter den Zivilregierungen seit 1986 änderte sich wenigstens die offizielle Haltung der Machthaber zur AEU. Im an­geblichen Demokratisierungsprozeß konnten die AEU-AktivistInnen nicht mehr so pauschal diskriminiert und nicht mehr unter den Augen der Öffentlichkeit verfolgt werden. Dennoch gab und gibt es immer wieder gewaltsame Übergriffe auf politisch engagierte Studierende. 1989 wurden zehn MitarbeiterInnen der AEU entführt – vier von ihnen fand man später tot auf, und von den anderen fehlt noch jetzt jede Spur. Erst vor kurzem, Anfang Oktober dieses Jahres, wurde ein AEU-Funktionär bedroht, der eine Landbesetze­rInnengruppe mitorganisieren wollte; er wurde geschlagen, man besprühte ihn mit Tränengas und fügte ihm Schnittverlet­zungen im Gesicht zu. Dies geschah in der Hauptstadt, nahe der Universität.
Die AEU vermochte ihre Arbeits- und Artikulationsformen dennoch zu ändern, denn ab Mitte der 80er Jahre konnte die “Politik der verbrannten Erde”, des bedin­gungs- und rücksichtslosen Kampfes von Militär und Todesschwadronen gegen jede Form von Opposition nicht mehr auf­rechterhalten werden.
Seither ist die AEU auf zwei großen Ge­bieten tätig. Sie kümmert sich zum einen um inneruniversitäre Angelegenheiten, um die Rechte von Studierenden, um Frieden an der Universität und vernünftige Aus­bildungsbedingungen. Zum anderen ar­beitet sie am Demokratisierungs- und Friedensprozeß mit.
Im Mai 1993 erreichte die AEU einen großen Erfolg, als sie mit vielen anderen Reformkräften auf die Straße ging und Präsident Jorge Serrano Elias zum Rück­tritt zwang, der mir seinem Selbstputsch eine Staatskrise hervorgerufen hatte.
Die AEU ist Mitglied in einem der Dach­verbände der Volksorganisation Unidad de Acción Sindical Popular (UASP) und sitzt im Kreis der zivilen Vereinigungen, die als eine Art Beratergremium die Frie­densverhandlungen zwischen URNG und Regierung begleiten. Dort können sie auch ihre Vorstellungen für einen Frieden in Guatemala einbringen können. Leider, so beklagten sich die drei Studierenden, werde dieses Gremium viel zu wenig in den Verhandlungsprozeß einbezogen, es ginge da eher um ein Alibi…
Sie betonten, daß nach Meinung der AEU ein Frieden noch nicht automatisch mit dem Ende des Krieges erreicht sei. Dieser könne nur dann entstehen, wenn die vielen Fragen, an denen sich der Konflikt seit Jahrzehnten entzündet, ernsthaft angegan­gen werden.

Reformismus ohne den Staat

PC ist, wenn es einem wenigstens peinlich ist, im Supermarkt den billigen Melitta-Kaffee zu kaufen. Political Correctness – ein Erstweltbegriff par excellence. Und ein dummer noch dazu. Der Begriff setzt verschiedenes voraus: Erstens, daß es Dinge gibt, die definitiv richtig sind – und somit auch solche, die immer falsch sind, und zweitens, daß das auch noch irgend­was mit Politik zu tun hat. Political Cor­rectness also ein Kampfbegriff einer Avantgarde, die die Realität richtig, und zwar einzig richtig, zu interpretieren weiß und daraus politische Handlungsrichtli­nien vorzugeben in der Lage ist? Wohl nicht, denn da ist keine Avantgarde, da sind höchstens viele Avantgärdchen, und so wie sich das Wort anhört, ist es viel­leicht gar nicht so falsch – Gärtchen eben, wohlgehütete Wahrheiten, deren Beach­tung kaum Anerkennung, deren Verlet­zung aber umso mehr Empörung auslöst, bei jeweils denjenigen, die gerade den Überblick haben, was political correct zu tun und vor allem, was zu lassen ist.
Da wird unversehens gemieden, wer im falschen Moment ein Päckchen “Marl-boro” aus der Tasche zieht, da macht sich unmöglich, wer einfach so Urlaub in Guatemala macht. Das nervt natürlich, und so ist in Deutschland Political Cor­rectness auch nie zum identifikationsstif­tenden Begriff einer Bewegung geworden, es sei denn, einer Gegenbewegung. Anti-PC, das ist schon wieder Protest gegen den Mittelstandsliberalismus, gegen die ge­langweilt-aufgeklärte Schulmeisterlich­keit, gegen die Lebensunlust, die den Kon­sum-Einzwängern anzuhängen scheint, gegen das ewige Miesmachen. Ich geb Gas, ich will Spaß – Love-Parade, Lackleder und Techno-Gebumse haben längst gegen Alpaca-Pullover und Ku­schelsex gesiegt. Und trotzdem ist der al­ternative Handel in den letzten Jahren nicht zurückgegangen, sondern angewach­sen, trotzdem haben sich in die Kaufent­scheidungen neben Preis und Qualität an­dere Kriterien eingeschlichen.
Nichtsdestoweniger scheint es in Deutsch-land eine ganz be­sondere Schieflage zu geben. Und wieder, wie schon seit ein paar Jahren, steht der Be­griff der Identität da im Mittelpunkt. Nica­ragua-Kaffee trin­ken und gleichzeitig auf SAT 1 70er-Jahre-Pornos gucken, Nestlé boykottieren und ab und an mal zu Mc­Donalds gehen, oder McDonalds boy­kottieren, aber ein Konto bei der Deut­schen Bank haben, oder nur Neutralreini­ger verwenden aber dreilagiges Klopapier, oder aus Prinzip Fahrrad fahren, aber mit batteriebetriebe­nen Lämpchen… all das hilft nicht weiter bei der Identitätsstiftung. “Sag mir, wo du stehst”, sang in der DDR einst der Ok­toberklub, im Westen hieß das “Alle, die lieber Selbstgedrehte rauchen, sollen auf­stehen”, war noch blödsinniger und kam von den Bots. Lang ist’s her.
Die individuelle Entscheidung über das Lassen und Nichtlassen, das Tun und Nichttun wird in Deutschland immer als Ausdruck einer ganzen Lebenseinstellung verstanden – und eben auch nur so gelten gelassen. Sicher auch deshalb hat in Deutschland zum Beispiel die Boykott-Bewegung gegen bestimmte Produkte oder Hersteller nie so recht Erfolg haben können. Wenn in den USA eine Gewerk­schaft zum Boykott von irgendwas auf­ruft, dann geht es meist um ganz konkrete politische Ziele. Sind die erreicht, wird der Boykott auch wieder aufgehoben – so ist er lebbar und nicht selten erfolgreich, wenngleich er das System nicht aus den Angeln hebt. Wenn man das mit dem deutschen Shell-Boykott in Sachen Süd­afrika vergleicht, wird der Unterschied klar: “Kill a Multi” war das Motto, und das hält lebenslang und bewirkt gar nichts. Es sind diese Übertreibungen, die die Lebbarkeit des politisch Richtigen für so viele unmöglich machen.
Im Konsumbereich kommt dazu der Idio­tismus so manchen alternativen Verkaufs­schlagers: Honig aus Südmexiko, ganz ökologisch hergestellt, soll hier gekauft werden. Als ob es nicht tausendfach öko­logisch sinnvoller wäre, den allüberall et­wa im Berliner Umland von Klein-Imker­­­Innen produzierten Honig zu kaufen, der nicht energieverzehrend tausende von Kilo­­metern transportiert werden muß. Aber: Was schick ist, bestimmt das Be­wußtsein.
Die Liste des Unsinnigen ließe sich endlos fortsetzen. Was fehlt, ist eine Debatte dar­über, was womit eigentlich erreicht wer­den soll. Das ist umso schlimmer, weil so die Niederlage ewig ist. Denn wo kein Ziel ist, kann auch nie ein Erfolg erreicht werden.
Nehmen wir die Debatte um den “fair ge­handelten” Kaffee. Jeder weiß, daß der Kaffee nicht wirklich fair gehandelt ist, daß mit ein paar Mark Aufschlag nicht die Ausbeutung aus der Welt geschafft wird. Jeder kriegt Bauchschmerzen, wenn Rie­senröstereien in der Bundesrepublik für eines ihrer Produkte plötzlich das Trans­Fair-Siegel verpaßt bekommen. Warum? Weil wir immer alles wollen, und unter­halb dessen nur Mißerfolge, faule Kom­promisse, Betrugs- und Vereinnahmungs­versuche sehen. Daß der TransFair-Verein zunächst einmal den Beweis erbracht hat, daß sich ein mit politischen und sozialen Kriterien vermarktetes Produkt verkaufen läßt, fällt in der Bewertung unter den Tisch. Immer­hin 37 Prozent der Bundes­bürgerInnen, so sagens die Marktumfra­gen, sind bereit, aus derartigen Gründen Aufpreise zu be­zahlen. Und das ist ein gutes Zeichen, auch wenn die Revolution damit nicht näher gerückt ist. Hier ist doch ein Ansatzpunkt zum Weiterarbeiten – das einfache Distanzieren hilft niemandem.
Und grundsätzlich sei einmal konstatiert: Mit politisch korrektem Individualverhal­ten ist kein Sy­stem auszuhebeln, bewußtes Einkaufen ist nicht revolutionär. Die Überlegung frei­lich, wen oder was ich mit meinem Geld finanzieren will, wovon ich mich ernähren will und ob ich meinen Spaß unbedingt auf Kosten anderer erle­ben muß, ist damit längst nicht vom Tisch. Jede Entscheidung aber bleibt systemim­manent, will von der Nachfrageseite aus das Angebot beeinflussen und tut dies auch nicht gänzlich ohne Erfolg. Die Art des Wirtschaftens wird genau da zu ver­ändern versucht, wo sie verwundbar ist: Nicht an der Moral, sondern an der Ver­marktung; Reformismus ohne staatlichen Eingriff.
Aber zurück zum Begriff des “Politically correct”. Der ent­stand in den USA als et­was ganz anderes denn als Liste von Ein­kaufstips und Verhaltensmaßregeln. Zu­nächst einmal war die Ebene der Spra­che, der Kommunikation gemeint. Unter dem Ein­fluß solcher Leute wie dem Sprach­wissenschaftler und Gesellschaftskritiker Noam Chomsky sollten Worte und Sprachgebrauch auf diskriminierende In­halte untersucht und dementsprechend verändert werden. Hier erst hat auch das “correct” wirklich seinen Sinn: Denn von “Amerika” zu sprechen und die USA zu meinen, ist schlicht falsch, genauso wie “Bürger” zu sagen und damit nicht nur Männer zu meinen. Wer Guatemalas Mi­litärs als “Sicherheitskräfte” bezeichnet, unterliegt einem Irrtum genau wie diejeni­gen, die von “Familienplanung” schreiben und “Bevölkerungspolitik” meinen. Auf dieser Ebene bekommt “PC” einen Sinn, und der ist auch nicht überholt, modeab­hängig oder szenebegrenzt. Denn wenn es so ist, daß Sprache unser Denken erst möglich macht, dann ist die Art der Spra­che auch für die Art des Denkens ent­scheidend – gerade hier aber scheint der Einfluß der Kritik in Deutschland ver­schwindend ge­ring geblieben zu sein. Selbst in der taz ist das große “I” als nicht-diskriminierende Sprachform schon fast wieder verschwun­den, und in die meisten Medien hat dieses Bemühen um sprachli­che Präzision über­haupt nie Eingang ge­funden. Hier haben wir – und gemeint sind Menschen, die mit Medien zu tun haben – noch einiges zu lei­sten.
Kurz: Vergessen wir PC als Individual­kategorie für das Konsumverhalten. Dabei hilft nur Nachdenken – ohne Dogmen und modischen Schick.

Die Verhandlungen laufen

Das Abkommen vom März (vgl. LN 239) über die allgemeine Einhaltung der Men­schenrechte, die Auflösung der Todes­schwadrone und illegalen Streitkräfte und die Einrichtung einer UNO-Mission in Guatemala waren nur ein brüchiges Funda­ment für weitere Verhandlungen. Bereits im Mai klagten verschiedene Sektoren der guatemaltekischen Gesell­schaft Regierung und Militär an, die Be­stimmungen nicht einzuhalten; neue Men­schenrechtsverletzungen wurden bekannt, und die UNO-Mission ließ auf sich warten.
Nach jahrelangem Widerstand hatte sich die URNG im März der Forderung der Regierungsseite gebeugt, die Frage der Wiederansiedlung der Flüchtlinge aus den allgemeinen Friedensverhandlungen aus­zuklammern. Seit über zehn Jahren befin­den sich hunderttausende Flüchtlinge in Mexiko und im Landesinneren; zu ihnen gehören auch die Geheimen Widerstands­dörfer (CPR). Das Befürchtete trat ein: Die Armee war in den Verhandlungen im Frühjahr nicht bereit, irgendeine Verant­wortung für die Repressionen zu über­nehmen, die zu der riesigen Flüchtlings­welle geführt hatten. Sie erklärte den Ver­handlungsbereich zu einem allgemeinen humanitären Problem, so daß nach ihrer Vorstellung nur praktische Fragen gelöst werden müßten, ohne die Ursachen zu thematisie­ren. Die Verhandlungen zur Wieder­an­sied­lung waren vor allem durch folgende Streit­fra­gen belastet:
1. Die Militärs waren nicht bereit, die Rückkehrenden einschließlich der Be­wohnerInnen der CPR (die von ihnen als politischer Arm der Guerilla betrachtet werden) als Zivilbevölkerung anzuerken­nen.
2. Die Landbeschaffung für die retornos stand (und steht) vor großen Schwierig­keiten, weil das Land, von dem die Men­schen 1981/82 vertrie­ben wurden, unter staatlicher Aufsicht neu besiedelt worden ist – durch sogenannte Modelldörfer und durch Militärstütz­punkte.
3. Die Forderung der Flüchtlingsorganisa­tionen, einzelne Personen als Zeugen der Vertreibung auftreten zu lassen, wurde seitens der Armee zurückgewiesen. “Verständlich”, denn die meisten der Ver­antwortlichen sitzen noch auf ihren Po­sten.
Zwei Abkommen im Juni
Aufgrund dieser Diskrepanzen kam es Anfang Juni zu einem kurzzeitigen Ab­bruch der Verhandlungen. Erstaunlicher­weise wurde Mitte Juni in Oslo dennoch ein Abkommen zur Wiederansiedlung ge­schlossen. Es scheint aber so, daß die Re­gierungsseite großen Druck auf die URNG ausgeübt hat, um überhaupt ir­gendein Ergebnis vorweisen zu können, freilich um den Preis wirklicher Lösun­gen. Zum einen treten die Vereinbarungen erst nach Abschluß des Friedensvertrages in Kraft, der für Dezember dieses Jahres geplant ist, womit sich der Rückkehrprozeß unerträglich ver­zögert; zum anderen sind in dem Abkom­men keinerlei Regelungen über eine Ent­militarisierung der Rückkehrgebiete ge­troffen worden. Dies ist aber eine der Hauptforderungen der Flüchtlinge und der URNG, zumal die letzten beiden Jahre ge­zeigt haben, daß die Militärpräsenz für die, die schon zurückgekehrt sind, eine reale Bedrohung bedeutet, von der psychi­schen Wirkung einmal abgesehen.
Wenige Tage nach dem Abkommen zur Wiederansiedlung unterzeichneten die Parteien ein zweites, in dem sie die Ein­richtung einer Wahrheitskommission be­schlossen. Auch dieses eine Farce, denn es tritt gleichfalls erst nach dem Friedens­vertrag in Kraft. Zudem soll die Kommis­sion lediglich sechs Monate arbeiten dür­fen, was zu einem sehr lückenhaften Er­gebnis führen muß – ganz im Sinne derer, die für die aufzudeckenden Verbrechen verantwortlich sind.
Im Sommer nahm die Zahl der Menschen­rechtsverletzungen nicht ab, wie nach den beiden Juni-Abkommen zu erwarten ge­wesen wäre. Man verzeichnete sogar eine neue Welle von Gewalttaten, die rasch zum Abbruch der Verhandlungen führte: GewerkschafterInnen wurden ermordet, VertreterInnen internationaler Organisa­tionen bedroht, und im Ixcán kam es zu schweren Gefechten zwischen der Armee und der URNG.
Neue Verhandlungsrunde unter UNO-Vermittlung
Am 19. September stimmte die UN-Voll­versammlung, fast ein halbes Jahr nach den Beschlüssen vom März, der “Mission der Vereinten Nationen für Guatemala” (MINUGUA) zu. Bereits am 20. Septem-ber traf eine Vorbereitungsde­legation mit zehn TeilnehmerInnen im Land ein, geleitet von dem Argentinier Leonardo Franco. Er löste Jean Arnault ab, der bis dahin bei der UNO für Gua­temala zuständig war und nach anfängli­chem Desinteresse doch heftig auf Lösun­gen gedrängt hatte. Die Hintergründe die­ses Wechsels wurden jedoch nicht be­kannt.
Am Tag nach der Ankunft begannen die Gespräche der UN-Vertreter mit Präsident de Léon und anderen leitenden Regie­rungsmitgliedern. Am 28. und 29. September fand in Mexiko die erste neue Runde der Verhandlungen zwischen URNG und Regierung statt.
Das Klima der ersten Begegnung war von gegenseitigen Anschuldigungen wegen der Menschenrechtsverletzungen und Kriegsaktionen der letzten Monate ge­prägt. Darüber hinaus zeichnete sich ab, daß die Regierungsseite nun sehr auf einen termingerechten Abschluß des Frie­densvertrages im Dezember drängt und daß sich die Verhandlungen eher um die Einhaltung des Termins als um inhaltliche Fragen drehen werden.
Wie nun weiter? Offenbar hat die URNG eine schlechte Position, da sie militärisch nicht sehr schlagkräftig zu sein scheint, Regierung und UNO jedoch vor allem an schnellen Ergebnissen interessiert sind; der “Erfolg” von El Salvador soll sich in Guatemala wiederholen. Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, daß die URNG im­mer weiter hinter ihre ursprünglichen Forderungen zu­rückweichen muß, daß beispielsweise die Flüchtlinge zwar zurückkehren, daß aber die Zustände, die sie zur Flucht gezwun­gen haben, nicht geändert werden.
Wird es die Guerilla wagen, die Ver­handlungen abzubrechen, wenn die Ver­handlungspositionen zu weit von ihren Grundforderungen abweichen?

“Romper el cerco”

Szenenwechsel: Eine alte Indígena in tra­ditioneller Kleidung blickt fast eine halbe Minute lang ruhig in die Kamera. Dann beginnt sie, Maismehl zu mahlen. Ihre zu­packenden, geduldigen Hände, die dem Mahlstein ein monotones, schabendes Ge­räusch entlocken, und die behandschuhten Trommler der Militärcombo bilden das symbolträchtige optische und akustische Kontrastmuster, welches das Video “Romper el cerco” durchzieht.
Im Mittelpunkt der Dokumentation von Uli Stelzner und Thomas Walter, die Ende `93 gedreht wurde, steht die Situation der Flüchtlinge des guatemaltekischen Bür­gerkriegs. Nachdem die Autoren sich in ihrem Video “Ojalá” in erster Linie mit den guatemaltekischen Flüchtlingen in Mexiko und deren Rückkehrplänen be­schäftigt haben, dokumentiert “Romper el cerco” die Situation in dem Land selbst. Im beobachtenden Reportagestil, der nur von wenigen Kommentaren durchbrochen wird, werden ruhige, lange Bildsequenzen und ausführliche Interviews aneinander­montiert. Während die Parteinahme für die Flüchtlinge unmißverständlich deut­lich wird, enthalten die Filmemacher sich einer Einschätzung der politischen Chan­cen für einen Friedensprozeß in Gua­temala.
Gespräche mit Landbesetzern in einem Armenviertel am Rande von Guatemala-Stadt, mit BewohnerInnen von Wider­standsdörfern in entlegenen Regionen des Landes und RückkehrerInnen aus Mexiko kontrastieren mit Zeugnissen der offiziö­sen Propaganda des guatemaltekischen Militärs: In einem Interview liest ein Pres­seoffizier haarsträubende Verlautbarungen vom Blatt ab. Die Rede ist von einer “Kampagne zur Verteidigung der Bevöl­kerung und Zerstörung der Subversion”. Anschließend führt er ein Propagandavi­deo vor, in dem die BewohnerInnen der Widerstandsdörfer als “entführte Bauern” und “Opfer eines Betruges” bezeichnet werden, die aus Angst oder Unwissenheit mit der Guerilla kooperieren.
Dem werden die Aussagen von Bewohne­rInnen der sogenannten Widerstandsdörfer entgegengestellt: Die indianischen Cam­pesinos und Campesinas erzählen ihre persönlichen Geschichten: Vom Be­ginn der Repression und Vertreibung An­fang der achtziger Jahre, von der Flucht in ent­legene Gebiete, wie etwa die Berge der Provinz Quiché, wo mittlerweile etwa 20.000 Menschen außerhalb der Kontrolle von Armee und Militär leben.
Insgesamt gibt es in Guatemala 1,5 Mil­lionen Flüchtlinge. Die Widerstandsdörfer in den Bergen und im Dschungel waren und sind permanenten Angriffen und Bombardements von Seiten der Militärs ausgesetzt. Noch immer weigert sich die Regierung, die BewohnerInnen dieser Dörfer als Zivilbevölkerung anzuerken­nen. Im Laufe der Jahre haben diese ge­lernt, Maßnahmen zum Selbstschutz zu ergreifen. Der Film dokumentiert den Alltag in diesen Dörfern und läßt die Be­wohnerInnen zu Wort kommen. Einige der Interviewten glauben trotz Friedens­verhandlungen und der Rückkehr einiger Flüchtlinge aus Mexiko nicht an die Re­formfähigkeit des guatemaltekischen Staates und wollen daher auf jeden Fall in den Bergen bleiben. So sagt ein Campesino: “Wir erklären, daß wir unser Volk nie mehr ausliefern werden, denn wir sehen, daß keine Regierung Gua­temala verändert hat.”
Die 5.000 Flüchtlinge, die zum Zeitpunkt der Dreharbeiten nach jahrelangem Exil im benachbarten Chiapas in die Urwald­region der Provinz Quiché zurückgekehrt sind, scheinen dagegen optimistischer zu sein, setzen auf ihre guten Organisations­fähigkeiten und hoffen, die Kooperativen, die es dort vor der Vertreibung gab, wie­derbeleben zu können. Gleichzeitig sehen auch sie sich vor großen Problemen, wie etwa der Knappheit von Land. So finden die RückkehrerInnen auf ihren alten Par­zellen Bauern vor, die vom Staat angesie­delt wurden. Das schafft Konflikte. Die Flüchtlingsbehörde versucht, die ver­schiedenen Campesinogruppen gegenein­ander auszuspielen. Das Militär ist massiv präsent, schüchtert ein und versucht, die RückkehrerInnen davon abzuhalten, Kontakt zu den versteckten Widerstands­dörfern in der Region aufzunehmen. Gleichzeitig werden die Offensiven gegen die Subversion fortgesetzt. Deshalb kommt ein Campesino zu dem Fazit, daß kein Wille da sei, die Problematik des Landes zu lösen: “Das ist unsere große Sorge: Wenn die Repression weitergeht, könnte es leicht sein, daß wir noch mal fliehen müssen.”
Dagegen meint ein Mann aus einem Wi­derstandsdorf in der Dschungelregion der Provinz Quiché: “Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, ans Licht zu gehen. Wir müs­sen versuchen, den Kreis zu durchbre­chen, oder den Eindruck zunichtezuma­chen, den die Armee und diejenigen von uns haben, die unserem Kampf nicht wohlgesinnt sind. Trotzdem werden wir unsere Organisationsform niemals aufge­ben.”
Bettina Bremme
Romper el cerco – Flüchtlinge eines ver­deckten Krieges. BRD/Guatemala 1994, Video, 60 Min. Leihgebühr: 40,- (plus Porto), Deutsche oder spanische Version
Verleih und Vertrieb:
ISKA, Oberste Gasse 24, 34117 Kassel, Tel: 0561/772894 oder: autofocus, Orani­enstraße 45, 10969 Berlin, Tel. 030/6155458

Debatten jenseits der Wirklichkeit

Pragmatische Frauenlobby
Drei Wochen lang tagten auf der letzten Vorbereitungskonferenz für Kairo (Prepcom) Regierungsdelegationen und insgesamt 1200 VertreterInnen von ge­ladenen NGOs in New York. Sie korri­gierten an einem rund 100-seitigen Papier herum, dem sogenannten “Weltaktions­plan”, der nicht weniger als eine Richtlinie für die nächsten 20 Jahre internationaler Bevölkerungspolitik dar­stellen soll. Er wird in Kairo zur Unter­zeichnung vor­liegen.
Anfangs wurde auf der Konferenz daran gearbeitet, den Spagat zwischen weiterhin formulierten demographischen Zielset­zungen und der allgemein bezeugten Ab­leh­nung von Zwangsmaßnahmen gegen Frauen zu kaschieren. Die Kritik von Frauen­gesundheitsorganisationen an der Pra­xis von Familienplanungsprogrammen hat inzwischen Eingang in die Diskurse bevölkerungspolitischer Institutionen und Regierungen gefunden. Freiwilligkeit, Wahl­freiheit der Verhütungsmethoden, Beachtung der sozialen und kulturellen Hintergründe und die Achtung der repro­duktiven Gesundheit von Frauen sind all­gemeinbenutzte Floskeln. Den Vertrete­rinnen von Frauenorganisa­tionen, die einen Großteil der NGO-Dele­gierten aus­machten, gelang es in profes­sioneller Lobbyarbeit, weitere Formulie­rungen über ethische Normen und Quali­tät von Familienplanungsprogrammen im Akti­onsplan durchzusetzen. Damit ließen sie sich jedoch auf den ideologischen Rah­men des Planes ein: die Verknüpfung von Bevölke­rungswachstum als Ursachefaktor mit ver­schiedensten gesellschaftlichen Problemen wie Verarmung, Flucht und Umweltzer­störung. Die internationale Kontro­verse innerhalb der Frauenbewe­gungen, ob Bevölkerungspolitik an sich notwendig und feministisch reformierbar ist oder als Herrschaftsstrategie und bio­logistische Ideologie grundsätzlich be­kämpft werden muß, wurde unter den Tisch gekehrt. Und dies, obwohl demo­graphische Zielsetzun­gen weiterhin Teil des Aktionsplanes sind.
Der offizielle Machbarkeitswahn sieht keine Widersprüche zwischen Freiwillig­keit der Geburtenkontrolle und demogra­phischen Zielen. Die Weltbevölkerung soll ohne Zwangsmaßnahmen bis zum Jahr 2015 auf 7,3 Milliarden Menschen “stabilisiert” werden. Familienplanungs­programme sollen lediglich die statistisch genau ermittelte Anzahl von Frauen errei­chen, die an einem “ungedeckten Bedarf” an Verhütungsangeboten leiden. Wie dies geschehen soll, drücken die bevölke­rungspolitischen Planer auch hauptpsäch­lich in Zahlen aus. Bis zum Jahr 2000 soll der Etat für bevölkerungspolitische Pro­gramme international auf insgesamt 13 Milliarden US-Dollar steigen. Dazu wer­den die Re­gierungsbudgets für Familien­planung offi­ziell von 1,4 auf 4 Prozent der Entwick­lungshilfegelder erweitert, also zu Lasten anderer entwicklungspolitischer Etats. Die von der pragmatischen Frauen­position unterstützte Strategie, sozialpoli­tische Progamme zur Voraussetzung von mehr Entscheidungsmöglichkeiten für Frauen zu erklären, erweist sich damit als Farce.
Massive päpstliche Intervention verdeckt Konflikte
Erfolg oder Vereinnahmung: So oder so wurden die Korrekturen der Frauenlobby durch die Intervention des Vatikans im zweiten Teil der Konferenz wieder zu­nichte gemacht. Der durch das Konsens­prinzip und als Vollmitglied mit Macht ausgestattete “Heilige Stuhl” erreichte es mit Unterstützung der Delegationen aus Nicaragua, Honduras, Guatemala, Malta und Kroatien, daß die wichtigsten Formu­lierungen zu reproduktiver Gesundheit wieder in Klammern gesetzt wurden und damit in Kairo neu verhandelt werden müssen. Die päpstliche Lobby stellte nicht nur den Zugang zu sicheren Abtreibungs­möglichkeiten und zu “künstlichen” Ver­hütungsmitteln in Frage. Auch die Passa­gen über ein Individualrecht an Geburten­kontrolle, die dem traditionellen katholi­schen Familienbild widersprechen, waren Angriffspunkte. Diese Polarisierungsstra­tegie des Papstes, der inzwischen in der argentinischen Regierung einen weiteren Bündnispartner gefunden hat, führt dazu, daß nicht nur die Widersprüche innerhalb der Frauenbewegungen, sondern auch zwischen bevölkerungspolitischen Institu­tionen und Frauenbewegung öffentlich unsichtbar werden. Damit verringert sich auch der politische Spielraum der Frau­enlobby weiter.
Kanther-Bericht verärgert NGOs
Unter diesen Bedingungen bemüht sich die Bundesregierung noch nachträglich, ihre dem Bundesinnenministerium unter­stehende Nationale Kommission durch eine Frauenrepräsentantin aus dem Deut­schen Frauenrat aufzupeppen und warb Mitte Juni auf einem NGO-Hearing um dessen Teilnahme. Die deutsche Regie­rungsdelegation wird international beson­ders beobachtet, weil sie wegen der deut­schen EU-Präsidentschaft als Sprecherin des europäischen Blocks auf der Welt­bevölkerungskonferenz auftreten wird. Sie besteht bisher als eine der wenigen Dele­gationen ausschließlich aus Männern: Vertreten sind Bundes- und Ländermini­sterien, die Kirche, das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung sowie verschie­dene etablierte NGOs, unter anderem die 1991 von Unternehmern gegründete Deut­sche Stiftung Weltbevölkerung (DSW).
Aber selbst in dieser Herrenrunde gelang es der Kanther-Behörde nicht, ihren bei der Prepcom vorgelegten Regierungs­bericht als Dokument der “Zivilgesell­schaft” darzustellen. Die DSW sah den Bericht anscheinend als kon­traproduktiv für ihr liberales Image an. Sie kritisierte, daß er Deutschland nicht zum Einwande­rungsland erkläre und verwei­gerte die Zu­stimmung. Die DSW hat es innerhalb kürzester Zeit mit Fernsehauf­tritten, Hochglanzbroschüren und renom­mierten Mit­gliedern aus ARD, GTZ und der Be­völkerungswissenschaft erreicht, als Re­präsentantin einer seriösen um das “Weltbevölkerungsproblem” besorgten Öffentlichkeit zu gelten.
Der Regierungsbericht bedient die apo­kalyptischen Visionen von uns überflu­tenden Menschenmassen, wie sie seit ei­niger Zeit in Medien wie SÜDDEUT­SCHE, SPIEGEL oder ZEIT zum Thema Bevölkerungswachstum verbreitet wer­den. So lobt der Bericht das neue Asyl­recht und die Ausländergesetzgebung als geeignete Mittel, dem “Wanderungsdruck auf Westeuropa” entgegenzuwirken: “Die angestrebte Integration (von Ausländern) ist aber nur möglich, wenn der weitere Zuzug aus den Staaten außerhalb der Eu­ropäischen Union begrenzt und gesteuert wird.” Dem in dem Bericht ausführlich beklagten “Bevölkerungsrückgang” und der “Alterung” der deutschen Bevölkerung könne deswegen nicht durch Einwande­rung entgegengewirkt werden. Unterstri­chen wird dies durch Anwendung des deutschen Lex Sanguinis in den beige­fügten demographischen Prognosen: Bis in das Jahr 2030 wird das Wachstum der Kategorie ausländische Bevölkerung ge­trennt von der Kategorie deutsche Bevöl­kerung hochgerechnet. Eine implizit durch diese Betrachtungen nahegelegte pronata­listische Politik für letztere will die Regie­rungskommission allerdings nicht dekla­rieren. Der Bericht sieht von einer “Zielvorstellung für die künftige Gebur­tenentwicklung” in der BRD ab. Famili­enpolitik habe eine eigenständige Bedeu­tung.
Anders sieht es dagegen bei Bevölke­rungspolitik im Rahmen internationaler Entwicklungspolitik aus. Die Ursachen des “Wanderungsdrucks” werden zwar als “komplex” beschrieben. Die angepriesene Lösung ist aber einfach die Bekämpfung der Ursache “Überbevölkerung” durch die Erhöhung des Etats des Bundesministe­riums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) für Familienplanungsprogramme. Das BMZ hat seit 1991 Bevölkerungs­politik zu einem Schwerpunkt internatio­naler Entwicklungshilfe erklärt und die Gelder dafür von 74 Millionen DM 1990 auf 160 Millionen DM 1993 erhöht. Dar­über hinaus schlägt der Bericht für die Zukunft eine Art bevölkerungspolitische Konditionie­rung von Entwicklungspolitik, eine “Überprüfung von Projektansätzen auf eine mögliche Einbindung be­völ­ke­rungs­politisch wirksamer Maßnahmen” vor.
Liberaler Mainstream
Mit diesem zweiten, entwicklungspoliti­schen Teil des Regierungsberichts hat die liberale Öffentlichkeit keine Probleme. Die in den 70er Jahren noch in breiteren Kreisen umstrittene Verknüpfung von Be­völkerungswachstum und Um­weltzer­störung/Verarmung gilt heute als objek­tive Tatsache. Dabei gehen die in Öko­lo­gie und Entwicklungspolitik enga­gierten Lobbyisten nicht mehr so platt von Be­völ­ke­rungswachstum als alleiniger Ur­sache von Armut und Umweltzerstörung aus, son­dern präsentieren komplizierte Mo­del­le von Wechselwirkungen ver­schiedener sich gegenseitig beeinflussen­der Faktoren. Die Menschenzahl sei nur eine der zu re­du­zierenden Größen, auf die man sich aber gerade spezialisiert habe. Der Öko­Marshallplan etwa, der von Franz Alt zu­sammen mit vier Umweltpolitikern aus CDU, SPD, FDP und GRÜNEN im letz­ten Jahr proklamiert wurde, fordert von Ent­wicklungsländern eine Bekämp­fung der “Bevölkerungsexplosion” und stellt dies als gleichwertige Aufgabe zu einer Po­litik der CO-2-Reduzierung in den In­du­striestaaten dar. Menschen und Schad­stoffemissionen werden dabei zu kompa­ti­blen, als politische Verhand­lungsmasse einsetzbaren Größen.
Auch die von verschiedenen Entwick­lungshilfeagenturen (Brot für die Welt, Misereor, Terre des Hommes, GEPA, DED u.a.) getragene Kampagne “Eine Welt” hat sich dieses Jahr das “Welt­bevöl­kerungsproblem” auf ihre Fah­nen ge­schrieben. Dazu hat “Eine Welt” mit Sub­ventionen des BMZ preisgünstige Unter­richtsmaterialien in einer Auflage von 50.000 Exemplaren produziert. Die Titel­frage “Ein überbevölkerter Planet?” wird im Text folgendermaßen beantwortet (Sug­gestiv wird die Antwort schon auf dem Deckblatt nahegelegt. Ein Foto zeigt eine hinter einem Stacheldrahtzaun wartende Menge schwarzer Menschen): “Überbevölkerung ist auch im Zusam­menhang mit den ökologischen Zerstö­rungen nur ein Faktor der Erklärung, der allerdings vor allem lokal für die konkrete Umwelt in der Dritten Welt eine erhebli­che Bedeutung hat”. Auch hier wird Be­völkerung zur Variable für die Lösung von sich in Entwicklungsländern zuspit­zenden sozialen Problemen. Und auch ein weiterer Trend zeigt sich in dieser angeb­lich zum Fragen und Lernen anregenden Broschüre. Die realen Auswirkungen der bereits seit dem Zweiten Weltkrieg beste­henden Programme bevölkerungspoliti­scher Agenturen auf das Alltagsleben von Frauen werden ausgeblendet. An deren Stelle treten allgemeine Empfehlungsflos­keln: “Das ‘generative Verhalten’ der Menschen ist von einer Vielzahl sozialer und kultureller Faktoren abhängig; das bedeutet auch, daß Bevölkerungspolitik, die auf dieses Verhalten Einfluß nehmen will, die Vieldimensionalität dieses Be­reichs anerkennen muß”.
Wirklichkeit in die Debatte einbringen
Die Frauenorganisationen UBINIG aus Bangladesh und AWHCR von den Philip­pinen wollen solchen Plastiksätzen mit ei­nem Internationalen Hearing “Crimes Against Women Related to Population Policies” auf der Konferenz in Kairo ent­gegenwirken und damit “die Wirklichkeit von Frauen in die Debatten über Bevölke­rung und Entwicklung einbringen. Denn viele dieser Diskussionen sind ihres Kon­textes beraubt worden.”
In der BRD ist die BUKO-Pharmakampa­gne gegen die schon weit entwickelten Forschungen an einem Antischwanger­schaftsimpfstoff ein Beispiel der Kritik an den tatsächlichen Entwicklungen in den Methoden von Bevölkerungspolitik. Auch die Bundesregierung finanziert über die Weltgesundheitsorganisation die Ent­wicklung eines Impfstoffes, der darauf ausgerichtet ist, das Immunsystem von Frauen auf eine Abwehrreaktion gegen die als Epidemie konstruierte Schwanger­schaft umzupolen. Einziger Zweck eines solchen in seinen Konsequenzen für die Gesundheit von Frauen nicht abschätzba­ren Eingriffs in das Immunsystem kann nur sein, einen Schritt weiterzugehen in der Entwicklung möglichst massenhaft und billig einsetzbarer, der Kontrolle und Motivation von Frauen entzogenen lang­fristig wirksamen Verhütungsmethoden.

Der Artikel speist sich im we­sent­lichen aus den in den blät­tern des iz3w Nr. 198 Juni/Juli (Schwer­punkt: Be­völ­kerungs­politik) er­schie­nenen Ar­ti­keln von Ingrid Schneider über die in­ter­na­tio­nale Vor­be­rei­tungs­kon­ferenz und von Ute Sprenger über die Vor­be­reitungen der Bundes­regierung (blät­ter Nr 196).
Die LN hatten in der Nummer 231/232 einen Schwer­punkt zum Thema Be­völ­kerungs­politik, in dem auch ein längerer Artikel von Susanne Schultz ab­ge­druckt ist. Die ge­naue Über­sicht ist im bei­ge­hef­teten In­dex zu finden.

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