Bombenleger verhaftet

Es war irgendwann am Jahresende 1991, als ein Schnellboot am Strand des kubanischen Touristenzentrums Varadero auftauchte und einige Hotels unter Feuer nahm. Nach wenigen Minuten war der Spuk vorbei: Zurück blieben einige Einschußlöcher im Beton und durchsiebte Sonnenliegen, auf denen zum Glück niemand gelegen hatte. Zum ersten Mal war die damals noch relativ unbedeutende kubanische Tourismusindustrie Opfer eines Anschlag geworden. Die politische Führung tobte ob der Schlafmützigkeit der kubanischen Abwehr. Wenige Wochen später folgte die nächste Panne: Am 29. Dezember landeten drei schwerbewaffnete Exilkubaner mit einem Schlauchboot an. Diesmal konnte allerdings Schlimmeres verhindert werden. Die drei wurden rechtzeitig geschnappt, bevor sie die geplanten Anschläge auf Restaurants, Hotels und Kinos durchführen konnten. Ihr Anführer, der 38jährige Eduardo Díaz Betancourt, wurde am 20. Januar 1992 nach einem Schnellprozeß hingerichtet.

Terrorwelle in Havanna

Die abschreckende Wirkung des harten Richterspruchs hielt allerdings nicht lange vor. In den folgenden Jahren kam es immer wieder zu Anschlagsversuchen, die allerdings größtenteils von der kubanischen Abwehr rechtzeitig aufgedeckt werden konnten.
In den letzten Monaten tappte die kubanische Abwehr allzulange im Dunkeln. Eine Serie von Bomben detonierte in verschiedenen First-Class-Hotels und einer Bar der Hauptstadt, ohne daß der Sicherheitsapparat den Verantwortlichen auf die Spur kam.
Zum ersten publik gewordenen Anschlag kam es am 12. Juli 1997 im Hotel Nacional, wenig später explodierte ein weiterer Sprengsatz im Hotel Capri. Dann blieb es drei Wochen ruhig bevor wieder eine Detonation, diesmal im Hotel Cohiba, vom Innenministerium vermeldet wurde. Dieser dritte Anschlag vom 4. August, kurz vor dem Ende der Jugend-Weltfestspiele, war identisch mit den vorangegangen. Analysen kubanischer Spezialisten ergaben, daß der Sprengstoff aus den USA stammt, wo dem kubanischen Innenministerium zufolge auch die Täter zu suchen seien. Deutlicher wurde die Parteizeitung „Granma“, die die Verantwortlichen in der exilkubanischen Organisation Alpha 66 ausgemacht haben will. Dessen führender Kopf, Andrés Nazario Sargent, hatte sich in einem Interview mit der Agentur Notimex gebrüstet, daß „wir geschichtlich betrachtet die Verantwortlichen für nahezu alle gewaltsamen Aktionen in Kuba sind“, ohne sich allerdings für die jüngste Anschlagserie verantwortlich zeichnen zu wollen.
Es vergingen noch einige Wochen, in denen es zu vier weiteren Anschlägen kam, bis die kubanischen Behörden am 15. September der beunruhigten Öffentlichkeit einen Hauptverdächtigen präsentieren konnten: Es ist der 26jährige Raúl Ernesto Cruz León, salvadorianischer Staatsbürger, der noch vor dem letzten von insgesamt sieben offiziell bestätigten Anschlägen festgenommen wurde. Wenige Stunden später detonierte Cruz Leóns letzter Sprengsatz in Havannas legendärer Bodeguita del Medio.

TV-Geständnis

Eiskalt präsentierte sich der 26jährige im kubanischen Fernsehen. Ohne jegliche Gefühlsregung rekonstruierte er, wie er die Einzelteile für die Sprengsätze, eingeschleust hatte: Bei seinem ersten Kubatrip am 9. Juli war der Sprengstoff C-4 US-amerikanischer Herkunft in den Hacken seiner Schuhe verstaut, bei seiner zweiten Visite hatte er die benötigte Menge in einem Fernseher eingeschmuggelt. Die Zünder hingegen waren in einem Radiowecker eingebaut, der ebenfalls umbeanstandet die Kontrollen passierte.
Cruz León war vor seiner zweiten Anschlagsserie via Guatemala am 31. August nach Havanna eingereist und hatte am 3. September drei Bomben in den Hotels Copacabana, Triton und Chateau gezündet. Im Copacabana wurde ein italienischer Geschäftsmann beim Kaffeetrinken getötet, im Triton und Chateau verursachten die synchronen Detonationen erhebliche Sachschäden. Am folgenden Tag detonierte dann der letzte der Leonschen Sprengsätze um 23 Uhr in der Bodeguita del Medio. Hier blieb es glücklicherweise bei einigen Leichtverletzten und Sachschäden. Cruz León, bei dem Anleitungen und Materialien für den Bau der Bomben gefunden wurden, hat seinem Geständnis zufolge für jeden der Anschläge ein Handgeld von 4.500 US-Dollar erhalten und ist für diese Aufträge in den USA ausgebildet worden. Auf einer Liste, die bei ihm gefunden wurde, stehen – so der leitende Vernehmungsoffizier Oberst Rabeiro – insgesamt zwölf touristische Objekte. Von wem der Söldner allerdings den Auftrag für die Terroranschläge erhalten hat, ist bis dato nicht bewiesen.

Die Spur führt nach Miami

Das kubanische Innenministerium macht in seinen Erklärungen die exilkubanische Cuban American Nacional Foundation (CANF) verantwortlich, ohne jedoch schlüssige Beweise für diese Beschuldigung vorzulegen. Die Indizien der Ermittlungsbehörde weisen allerdings daraufhin, daß Cruz „zu einem Netz von Terroristen und Drogenhändlern gehört, das von El Salvador aus operiert und von der National Cuban American Foundation (CANF) in Miami bezahlt wird.“ Dem Innenministerium zufolge sei die CANF und weitere ihr nahestehende reaktionäre Exilorganisationen auch für mehr als 30 weitere Attentatspläne, die zwischen 1994 und 1997 aufgedeckt wurden, verantwortlich. Entsprechende Informationen seien an die Amtsstellen in Washington weitergegeben worden, ohne daß diese etwas gegen das terroristische Treiben unternommen habe.

Dementis aus den USA

Von den USA wurden diese Vorwürfe in einer offiziellen Erklärung zurückgewiesen. Ein Regierungssprecher erklärte, daß keinerlei Informationen über in den USA geplante Aktionen gegen Kuba vorlägen. Es sei wenig glaubhaft, daß die erfahrenen Sicherheitsdienste Kubas nicht in der Lage seien, derartige Pläne aufzuspüren. Diese Erklärung der US-Verantwortlichen, denen bekannt ist, daß in den Sümpfen Floridas Exilkubaner von Ausbildern der US-Armee trainiert werden (was durch Ton- und Videomaterial hinreichend belegt ist), ist denn auch an Süffisanz kaum zu überbieten. Zumal die USA genau wissen, wie schwierig es ist, Terroranschläge zu unterbinden. Oklahoma läßt grüßen. Aber auch die unbestätigten Informationen, wonach die kubanischen Sicherheitsdienste um Antiterror-Spezialisten aus Großbritannien und Israel baten, um die Tourismuseinrichtungen des Landes zu schützen, verdeutlichen hinreichend die Probleme der kubanischen Führung.
Die CANF hingegen, die sich bester Kontakte zu den Senatoren Jesse Helms und Dan Burton, den Initiatoren des sogenannten Helms-Burton-Gesetzes, erfreut, wies zwar die Beschuldigungen der kubanischen Seite als „lächerlich und absurd“ zurück. Andererseits hatte sie nach dem vorletzten Anschlag, bei dem ein italienischer Tourist ums Leben kam, erklärt, daß jede Aktion, die die Regierung Fidel Castros destabilisiere, gerechtfertigt sei. Zudem unterhält die CANF beste Kontakte zu paramilitärischen Einheiten wie Alpha 66, Comando L oder der Brigade 2506, die 1961 in der Schweinebucht landete und deren Veteranen, unter ihnen Mas Canosa, fanatische Kommunistenhasser sind.
Was allerdings den Verdacht erhärtet, daß die CANF nicht gänzlich unbeteiligt an den Anschlägen ist, ist die Tatsache, daß der mutmaßliche Auftraggeber des salvadorianischen Söldners Luis Posada Carriles heißt – ein ehemaliger Waffenbruder des CANF-Präsidenten aus den Tagen der Schweinebucht. Posada Carriles, verantwortlich für die Explosion eines kubanischen Zivilflugzeugs mit 73 Passagieren im Oktober 1973, lebt in El Salvador und kündigte in einem der von der CANF kontrollierten Fernsehsender von Miami eine Serie von Anschlägen gegen touristische Einrichtungen auf der Karibikinsel an. Erhärtet wird der Verdacht gegen Posada auch durch die Tatsache, daß sich nach den Anschlägen von Anfang September ein kubanischer Touristenführer namens Ramon Medina bei der Familie Cruz León meldete – unter diesem Pseudonym war Posada bereits früher aktiv geworden.
Um jedoch die Indizien zu überprüfen, müßten die US-amerikanischen Behörden aktiv werden. Angesichts der Erklärung aus dem Weißen Haus ist es allerdings wenig wahrscheinlich, daß dieses eine Untersuchung gegen die CANF und andere Exilorganisationen einleitet. Demzufolge ist es nicht auszuschließen, daß es weitere Anschläge geben wird, zumal sich Cruz León nicht zu allen Anschlägen der letzten Monate in Havanna bekannt hat. Weder hat er den Anschlag vom 4. August im Cohiba gestanden noch die von der Regierung vertuschten vorherigen Anschläge: Bereits am 12. April des Jahres war ein Sprengsatz im kubanischen Luxushotel Cohiba explodiert, ohne daß die Presse über den Vorfall informiert wurde. Und auch der Fund eines Sprengkörpers niederer Intensität am 1. Mai im gleichen Hotel gelangte erst Monate später via El País an die Öffentlichkeit.
Darüber scheint sich auch die kubanische Sicherheit im klaren zu sein, denn nicht umsonst sprach Oberst Rabeiro von einem „Netz von Terroristen, das von El Salvador aus operiert“. Daß den reaktionären ExilkubanerInnen der boomende Tourismus ein Dorn im Auge ist, ist keine Neuigkeit. Sie haben nur ihre Strategie gewechselt: Statt die eigenen, dem kubanischen Geheimdienst mehr oder minder bekannten Leute zu benutzen, werben sie nun Söldner für die riskante Drecksarbeit an, auf die in Kuba die Todesstrafe steht.

Recht auf Land und Freiheit

Zum ersten Jahrestag des Massakers von Eldorado dos Carajás verstopften zehntausende landloser Bäuerlnnen die Straßen Brasilias, um ihren Schrei nach Gerechtigkeit in die Regierungsviertel zu tragen. Wieder einmal wurde deutlich: Es bleibt unruhig auf dem Lande in Lateinamerika. Allein in Brasilien waren zwischen 199 1 und 1995 pro Jahr zwischen 180.000 und 550.000 Bäuerlnnen in Landrechts- kämpfe verwickelt. Die Zapatistas legten ihren Aufstand in Chiapas auf den ersten Tag der Nordamerikanischen Freihandelszone und sprachen damit all jenen Bewegungen aus dem Herzen, die sich in diesem Kampf engagiert haben. Bei aller Unterschiedlichkeit der nationalen Kon-texte zieht sich ein roter Faden durch die Auseinandersetzungen: Es geht darum, das neoliberale Dogma des Endes der Agrarreform zu behindern, verhindern oder, im besten Falle, zu überwinden. Nicht alle Konflikte haben die gleiche internationale Be-achtung gefunden, wie sie zunächst der zapatistischen Erhebung und derzeit der brasilianischen Landlosenbewegung zuteil werden. Viele kleinere und größere Organisationen versuchen auch in anderen Staaten, den Agrarreformprozeß wie-der in Gang zu bringen. Die erreichten Erfolge jedoch sind gering. In Brasilien erhielten trotz der enormen Proteste zwischen 1990 und 1996 gerade mal 80.000 Familien Land. Das ist im Blick auf die insgesamt 4,8 Millionen landlosen Familien zynisch, und angesichts der von der staatlichen Agrarbehörde bezifferten 100 Millionen Hektar brachliegen-den Landes eine unglaubliche Unverschämtheit. In Honduras hat das Agrarmodernisierungsgesetzbeispielhaft und konsequent die Strukturanpassung des Agrarsektors umgesetzt. Trotz des massiven Widerstands der kritischen Bauern- organisationen und den inzwischen nachweisbaren katastrophalen Effekten der Agrarmodernisierung ist es bisher noch nicht gelungen, das Gesetz grundlegend zu revidieren. In EI Salvador werden nach mehreren Jahren zähen Ringens nun Ländereien der zweiten Agrarreformphase enteignet und an Landlose übertragen werden -zehn Jahre später als es die Verfassung vorsah. In Guatemala eröffnet das Friedensabkommen zwar neue Perspektiven, ein umfassendes Agrarreformprogramm aber ist nicht in Sicht, Doch wie soll es zu Frieden und einer ländlichen Entwicklung kommen, die diesen Namen verdient, in Staaten, in denen ein Drittel bis die Hälfte der bäuerlichen Bevölkerung ohne ausreichend Land und ohne permanente Arbeit ist? Zehn Jahre nach Beginn des zentralamerikanischen Friedensprozesses in Esquipulas herrscht ein „Frieden ohne Gerechtigkeit”, den insbesondere die arme Landbevölkerung in unruhig knurrenden Mägen spürt: Hungern in Freiheit?
Das Menschenrecht auf Land
Landrechtskämpfe gehen in den meisten Fällen mit Menschenrechtsverletzungen einher. Allein in dem Konflikt um die Hacienda Bellacruz in Kolumbien wurden 1996 über 30 Bäuerlnnen umgebracht. 199 1 wurden nach Angaben der brasilianischen Land- pastorale 287 Menschen bei Landkonflikten getötet. Allerdings sind es keineswegs nur die bürgerlichen und politischen Menschenrechte, die immer wieder mißachtet werden. Viel häufiger und systematischer sind die Verletzungen der wirtschaftlichen und sozialen Rechte, insbesondere des Menschen-rechts, sich zu ernähren. Die meisten Staaten Lateinamerikas haben den internationalen Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte ratifiziert. Ihre Pflicht, die darin anerkannten Rechte zu achten, zu schützen und zu gewährleisten, haben sie in vielen Fällen jedoch chronisch mißachtet. Vielmehr haben die Regierungen oft selbst im Zuge von Staudammbauten oder Erz-und Goldabbauprojekten Bauernfamilien vertrieben und so ihrer Ernährungsbasis beraubt. Oder sie haben, statt ihrer Schutzpflicht gegenüber diesen Gruppen nach-zukommen, transnationalen Bananen-oder Olkompanien bei der Vertreibung indigener oder anderer bäuerlicher Gemeinschaften assistiert. Der Pakt jedoch impliziert, daß die Regierungen den Armen per Agrarreformen den größtmöglichen Zugang zu produktiven Ressourcen ermöglichen müßten. Denn ohne ausreichend Land, bezahlbare Kredite oder permanente Arbeit können sich die Bäuerlnnen nicht ernähren.
Der enge Zusammenhang zwischen den bekannteren bürgerlichen und politischen und den lange Zeit fast vergessenen sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechten wird gerade bei Landkonflikten sehr deutlich. Als ich vor zwei Jahren an den Gräbern dreier Bauern stand, die bei einem Landkonflikt in Honduras umgebracht worden waren, bat ich die Über-lebenden dringend darum, von einer Wiederbesetzung des Landes abzusehen. Ich hatte die Bewaffnung und Entschlossenheit der Soldaten gesehen, die das umstrittene Landstück zu verteidigen hatten. Darauf reagierte Manuel, einer der hageren Landlosen mit einem bitteren Satz: „Es gibt Schlimmeres als zu sterben: die Kinder jeden Tag hungrig im Dreck spielen sehen zu müssen.” Für diese Menschen sind in der Tat die Landkonflikte zentraler Kristallisationspunkt eines Kampfes für ihre fundamentalen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rechte, die für ein Leben in Würde unentbehrlich sind.
Wesentlich ernster als ihre Verpflichtungen gegenüber den Menschenrechtspakten nehmen die
Regierungen die Auflagen, an die internationale Finanzinstitutionen ihre Kreditvergabe knüpfen. Neoliberale Strukturanpassungspolitiken bilden seit Jahren den wesentlichen strukturellen Rahmen für die Liberalisierung der nationalen und internationalen Agrarmärkte sowie die Privatisierung der Dienstleistungen im Kredit-und Beratungsbereich. Neoliberale Logik beherrscht auch den Zugang zu Land. Land wird als Ware wie jede andere gesehen, die gekauft und verkauft wird. Enteignungen mit der Begründung, daß das Eigentum eine soziale Funktion erfüllen soll, sind dieser Ideologie fremd. Dagegen wirkt das Postulat: „Das Land denen, die es bebauen”, geradezu archaisch. Im Zeichen der sogenannten Agrarmodernisierung besteht kein Zweifel mehr. Statt: „La tierra para quien la trabaja” heißt es nun: „La tierra para quien la puede comprar”, das Land denen, die es kaufen können. Dieses Dogma ist exklusiv. Wer von diesen Millionen landlosen Bäuerlnnen verfügt über das nötige Kapital zum Kauf von ausreichend Land? Für sie ist das neoliberale Modell weder theoretisch noch praktisch eine Option. Diese Menschen interessieren nicht, denn ihre Kaufkraft ist gleich null.
Wenn aber Regierungen auf diese Weise große Teile der bäuerlichen Bevölkerung von der Teilhabe an ländlicher Entwicklung ausschließen, dann ist dies nicht nur aus volkswirtschaftlichen und moralischen Gründen problematisch. Es ist vor allem ein massiver und systematischer Verstoß gegen die Menschenrechte genau dieser Bevölkerungsgruppen. Dieser Aspekt ist bisher bei den Diskussionen über Agrarreform und Strukturanpassung in Lateinamerika viel zuwenig beachtet worden. Dabei eröffnet eine menschenrechtliche Begründung der Notwendigkeit von Agrarreformen in Lateinamerika enorme Chancen, besonders im Zeichen und im Kontrast zum herrschenden neoliberalen Dogma.
Ich plädiere dafür, den Kerngehalt des Rufs nach Land und Freiheit in menschenrechtlicher Perspektive neu zu entdecken und für die Solidaritätsarbeit zu operationalisieren. Land und Freiheit, das war nie nur ein Stückchen Land und ein Stückchen Freiheit. Land war immer mehr, der Schrei nach Land verdichtete immer eine übergreifende, fundamentale Forderung nach den Grundlagen einer menschenwürdigen Existenz.
Land bedeutet Leben, ganz und gar nicht nur für indigene oder andere bäuerliche Gemeinschaften, auch wenn diese am ehesten um das Geheimnis wissen. Land ist für viele Garant ihrer Ernährungssicherheit und somit für Würde und Unabhängigkeit. Land ist für viele Garant der Freiheit. Freiheit wiederum bedeutete nie nur, frei zu sein von politischer Repression. Freiheit war immer auch ein Kampfbegriff gegen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Unterdrückung. Freiheit von Angst und Freiheit von Not sind zwei Seiten derselben Medaille.
Wer heute für eine neue Debatte über Agrarreformen plädieren will, knüpft an der langen Tradition des Kampfes für Land und Freiheit an. Es bleibt die Vision, daß den „verdammten Bäuerlnnen dieser Erde” eine Zukunft ohne Unterdrückung gebührt. Es bleibt die Verpflichtung, die wir Engagierten gegenüber denjenigen mutigen Menschen empfinden, die ihren Einsatz für Recht und Gerechtigkeit mit Repression und Mord quittiert bekommen haben. Auch die Anklage der noch immer himmelschreienden Besitzverhältnisse auf dem Lande Lateinamerikas muß bleiben. Die altbekannten volkswirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Argumente zur Begründung von Agrarreformen sind nach wie vor gültig, worauf auch Senghaas in einer unlängst veröffentlichten Polemik „gegen den entwicklungspolitischen Gedächtnisschwund” hingewiesen hat.
Agrarreform als Staatenpflicht
Neuere einleuchtende Argumentationslinien sind in den letzten Jahren nicht nur in menschenrechtlicher, sondern auch aus feministischer und ökologischer Perspektive formuliert worden. Die honduranischen Bäuerlnnenorgansiationen etwa haben immer wieder darauf hingewiesen, daß die im Agrarmodernisierungsgesetz festgelegte Gleichberechtigung der Frauen bei der Übertragung von Agrarreformland Makulatur geblieben ist, da dasselbe Gesetz den gesamten Agrarreformprozeß zum Still-stand gebracht hat. Wenn kein Land mehr zu verteilen ist, gibt es auch keines für die Frauen. Die fortschreitende Erosion und Entwaldung hängen in den meisten Ländern mit der Frage des Landbesitzes zusammen. Dies zeigen nicht nur die hemmungslosen Abrodungen riesiger Forstgebiete durch private Firmen und Großgrundbesitzer. Auch an der prekären Lage der kleinen Parzellenbauern, die mangels Alternative landwirtschaftlich kaum nutzbare Hänge oder Flächen bewirtschaften, wird deutlich: Eine ökologisch nachhaltige, ländliche Entwicklung in Lateinamerika ist ohne grundlegende Re-formen der Grundbesitzstruktur nicht denkbar. Die angedeuteten feministischen, ökologischen und menschenrechtlichen Argumentationslinien sollten dringend weiter analysiert und debattiert werden.
Solange neoliberale Agrarpolitiken in Lateinamerika Millionen von Bäuerlnnen von der Teilhabe an der wirtschaftlichen Entwicklung ausschließen, ist das nicht nur ein moralisches, sondern auch ein rechtliches Problem. Die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechte genau dieser besonders gefährdeten Gruppen werden aufgrund fehlender oder falsch priorisierter staatlicher Politiken nicht verwirklicht.
Damit verletzen die Staaten ihre völkerrechtlich verankerten Achtungs-, Schutz-und Gewährleistungspflichten, die sie sich mit der Ratifizierung des Paktes für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte gegenüber diesen Menschenrechten zueigen gemacht haben. Die Staatenpflichten gegenüber dem Menschenrecht auf Nahrung, das in Artikel I I des Paktes anerkannt wird, implizieren in Ländern mit hohem Anteil landloser Bauernfamilien und gleichzeitig hochgradig ungleichen Grundbesitzstrukturen eine Reform der landwirtschaftlichen Systeme. Der UN-Ausschuß, der über die Einhaltung der wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte wacht, hat in seinen Leitlinien und Beratungen über Staatenberichte immer wieder darauf hingewiesen: Die Regierungen müssen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln dafür sorgen, daß gerade die ernährungsunsicheren Gruppen, Landlose, kleinbäuerliche Familien, indigene Gemeinschaften und in jeder dieser Gruppe besonders die von Frauen allein geleiteten Haushalte, ausreichend Zugang zu den produktiven Ressourcen bekommen müssen, die sie für eine würdige Existenz benötigen.
etwa, die nicht umgesetzt wer-den, sind von dem UN-Ausschuß wiederholt als Verletzungen des Menschenrechts auf Nahrung angeprangert worden.
Perspektiven für die Solidaritätsarbeit
Offensichtlich ist der Kampf um Land und Freiheit in Lateinamerika ein Kampf für die Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen und politischen Menschenrechte. Um es pointiert zu sagen: Die meisten Landlosenorganisationen sind in diesem Sinne immer auch Menschenrechts- organisationen. Und oft genug ist ihnen noch kaum bewußt, daß sie -nicht erst wenn einer ihrer Sprecher verhaftet, gefoltert oder ermordet wird -durch die menschenrechtliche Dimension ihres Kampfes ganz neue und völkerrechtlich fundierte Argumentationslinien nutzen könnten, um die Regierungen im Blick auf Agrarreformen in die Pflicht zu nehmen. Auch die Menschenrechts-und entwicklungs- politischen Nichtregierungsorganisationen stehen erst am Anfang einer großen, noch zu führenden Debatte. So auch die Solidarität hier.
Die sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte sind nicht nur in Lateinamerika gleichzeitig eine Kontrastvision und Kriterien für harte Kritik neoliberaler Politiken. Sie eröffnen auch Perspektiven für die Solidaritätsarbeit, nicht nur, aber gerade auch im Blick auf die Unterstützung von Agrarreformforderungen. Sowohl im Blick auf unsere Bildungs- und offentlichkeitsarbeit hier wie auch auf unsere materielle und politische Unterstützung sozialer Bewegungen dort sind viele neue Möglichkeiten denkbar, wenn wir die Perspektive der sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte durchbuchstabieren.
Viele von uns haben ihre Solidaritätsarbeit zu Lateinamerika mit konkreten Offentlichkeits- und Unterstützungsmaßnahmen zur Situation der bürgerlichen und politischen Menschenrechte in Zeiten der Diktaturen und politischen Repression begonnen. Menschenrechte werden, das scheint eine durchgängige erkenntnistheoretische Erfahrung zu sein, immer dann entdeckt, wenn sie massiv negiert werden. In Zeiten der politischen Repression sind es vor allem die bürgerlichen und politischen Rechte, die im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Heute sind es die sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte, die im Zeichen der neoliberalen Strukturanpassung und Agrarpolitiken, in Zeiten des Friedens ohne Gerechtigkeit, immer mehr in den Vordergrund treten. Angesichts der Koexistenz demokratisch legitimierter Regimes und wachsender Verelendung großer Bevölkerungsteile ist es Zeit, für das Recht auf Land und Freiheit, für eine neue Debatte über die Notwenigkeit von Agrarreformen in Lateinamerika die Stimme zu er-heben. Die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Menschenrechte der ländlichen Armen Lateinamerikas dürfen nicht länger mit Füßen getreten werden.

Martin Wolpold
Lateinamerikareferent der deutschen Sektion von FlAN (FoodFirst Informations-und Aktions-Netzwerk), internationale Menschenrechtsorganisation für das Recht, sich zu ernähren.

Intensive Aromaerlebnisse

Mit Pflanzen, die mittels Gentechnik gegen Pflanzengifte (Herbizide) widerstandsfähig gemacht wurden, sind bisher mehr als die Hälfte aller weltweit durchgeführten Freisetzungsexperimente durchgeführt worden. Für die Konzerne ist die Herbizidresistenz ein gutes Geschäft, weil das Gift, gegen das die Pflanzen widerstandsfähig gemacht wurden, oftmals aus dem eigenen Hause kommt. So konstruierte der US-Multi Monsanto Raps- und Sojapflanzen, die den firmeneigenen Unkrautvertilger Roundup überleben.
Mit Hilfe der Gentechnik sollen Pflanzen giftige Substanzen produzieren, die sie vor Schädlingen schützen. Dazu werden sie mit dem Erbgut von Organismen ausgestattet, die sich natürlicherweise mit Gift-Genen in ihrer Umwelt behaupten. Der Bacillus thuringiensis (Bt) ist ein solcher Organismus. Der Schweizer Konzern Novartis hat einen Mais konstruiert, der sich mittels eines Bt-Gens vor gefräßigen Maiszünsler-Raupen schützen soll. Damit die Pflanzen sich selbst gegen Viren oder bakterielle Krankheitserreger schützen können, werden sie mit Genen von Mikroorganismen oder Viren ausgestattet. So sollen die Zuckerrüben der Kleinwanzlebener Saatzucht (KWS), die seit 1993 in Niedersachsen und Bayern im Freiland getestet werden, gegen die Viruskrankheit Rizomania widerstandsfähig sein.

Neue Inhaltsstoffe

Vielen Nutzpflanzen, die zu den Hauptnahrungsmitteln der Menschheit zählen, fehlt der eine oder andere für den Menschen lebenswichtige Inhaltsstoff. Zum Problem wird das meist dann, wenn Menschen nicht die Möglichkeit haben, sich ausgewogen von unterschiedlichen Lebensmitteln zu ernähren.
Die Gentechnik bietet High-Tech-Lösungen: Philippinische und Schweizer Forscher entwickeln eine neue gentechnische Reissorte, die den Vitamin A-Mangel in vielen Ländern beheben soll. Auch in den Industrieländern sollen die Verbraucher von neuen Pflanzeninhaltsstoffen profitieren: Fades Obst und Gemüse soll mit Genen für intensive Farb- und Aromaerlebnisse aufgepeppt werden.
Je nach Bedarf kann aus gentechnisch veränderten Pflanzen Plastik, Verpackungsmaterial oder Treibstoff fabriziert werden, maschinengerecht und industriegenormt. Das Max-Planck-Institut für molekulare Pflanzenphysiologie testet seit 1996 im brandenburgischen Golm bereits über 90 verschiedene Kartoffellinien im Freiland. Sie enthalten nur noch ganz spezielle Stärken, maßgeschneidert für die Kosmetik-, Verpackungs- oder Nahrungsmittelindustrie.
Pflanzen können nach gentechnischer Manipulation plötzlich den Süßstoff Thaumatin, künstliche Eiweiße oder sogar teure menschliche Antikörper für Impfstoffe produzieren. Das Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) in Gatersleben testet bereits manipulierten Tabak im Freiland, der für die Backindustrie das Enzym Xylanase produzieren kann.
Einige Vorhaben der PflanzengenetikerInnen lassen sich vielleicht erst in ferner Zukunft, möglicherweise auch gar nicht, in marktreife Produkte umsetzen. Denn die Wechselbeziehungen des Pflanzenerbguts mit den jeweiligen Umweltfaktoren sind oft viel komplizierter, als die ForscherInnen zu Beginn ihrer Projekte gedacht hatten.

Kunterbunter Wildwuchs

Schon das erste offizielle deutsche Freisetzungsexperiment in Köln endete in einem Fiasko: 40.000 manipulierte Petunien, ausgestattet mit einem Maisgen für eine lachsrote Blütenfarbe, blühten statt rot plötzlich weiß. Auch waren die manipulierten Petunien vitaler und größer als ihre unveränderte Ausgangsform. Sie besaßen also plötzlich ganz neue Eigenschaften, obwohl ihnen doch nur das Gen für die Blütenfarbe übertragen worden war. Das zeigt: Lebewesen sind mehr als nur molekulare Maschinen. Und ein Gen ist kein einfacher Programmierbefehl.
Gene können, das ist längst bekannt, von Pflanzen an Bodenbakterien weitergegeben werden. Und erst nach den ersten Freisetzungen entdeckte man, daß Milben Gene zwischen Pflanzen und Tieren hin- und hertransportieren und sogar in fremdes Erbgut einschleusen können. Zwischen der ersten Aussaat der neuen Pflanze und dem Auftreten von massenhaften Schäden können zweihundert Jahre liegen. Eines muß klar sein: Einsammeln und wie manche Chemie-Schadstoffe entsorgen lassen sich vermehrungsfähige Organismen nicht.

Der Hunger bleibt

Gentechnik soll die Welternährung sichern, so lautet ein Versprechen der ForscherInnen. Zu den ganz großen Versprechen der Gentechnologie gehört es, das Hungerproblem einer ständig wachsenden Weltbevölkerung lösen zu können. Genmanipulierte Nutzpflanzen sollen Erträge steigern und Verluste durch Pflanzenkrankheiten und Insektenfraß vermindern. Doch der Hunger von 800 Millionen Menschen hat politische Ursachen. Menschen verhungern neben gedeihenden Feldern, deren Erträge in die Industrieländer exportiert werden, um Zinslasten und Schulden abzutragen. Die Gentechnologie wird die Länder des Trikonts in weitere Abhängigkeiten treiben. Wer sich keine hochgerüstete Wissenschaftsindustrie leisten kann, darf das patentierte Gentech-Saatgut nur gegen Lizenzgebühren nutzen, auch wenn die Pflanzen ursprünglich einmal aus dem eigenen Land stammten.
Agrarwissenschaftler sind sich heute weitgehend darüber einig, daß annähernd stabile Ernten Vielfalt brauchen. Am besten ist es, wenn jeder Halm auf dem Acker sich genetisch ein wenig von seinem Nachbarn unterscheidet und die Nahrungspflanzen den besonderen Bedingungen vor Ort angepaßt sind. Ein Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) wirft die Frage auf, ob mit einem Einstieg der Länder der sogenannten Dritten Welt in die Gentechnik nicht Mittel gebunden werden, die für einfachere und effektivere Produktionssteigerungen eingesetzt werden können.

Vom Acker…

Genmanipulierte Pflanzen werden in allen Erdteilen freigesetzt, oft in Ländern ohne gesetzliche Regelungen für gentechnische Experimente, ohne Sicherheitsvorschriften und Kontrollen. Auch kommerziellen Anbau gibt es bereits: Virus-resistenten Tabak in China, Anti-Matsch-Tomaten in Guatemala, Herbizid-resistente Soja- und Rapspflanzen oder Insekten-resistente Baumwolle in den USA und Kanada. Dabei werden die Pflanzen auf zum Teil riesigen Flächen freigesetzt. Oft genügt ein Windstoß, um mit den Blütenpollen auch die Zusatz-Gene über große Entfernungen unkontrolliert zu verbreiten. Dänische Wissenschaftler konnten am Raps zeigen, daß schon nach kurzer Zeit die Fremd-Gene auf andere verwandte Pflanzen überspringen. Die Folgen solcher Genwanderungen sind unübersehbar.

…in den Magen

Mit den neuen Kreationen aus dem Labor werden immer, ob gewollt oder ungewollt, auch Substanzen verspeist, die bisher in der menschlichen Nahrung nichts zu suchen hatten. Zufällig und unerwartet wurde entdeckt, daß gewöhnliche Bohnen, die dem Wirkstoff von Roundup (Glyphosat) ausgesetzt waren, Substanzen anreicherten, die wie das Hormon Östrogen wirken. Mit der Genübertragung werden Pflanzen dazu gebracht, Eiweiße zu bilden, die bisher überhaupt nicht oder nur in Spuren in Lebensmitteln zu finden waren.
Hülsenfrüchte sollen so verändert werden, daß sie die Aminosäure Methionin in großen Mengen produzieren. Hintergrund: Bohnen sind in einigen Regionen der Welt der wichtigste Lieferant für Eiweiße. Es fehlt ihnen jedoch vor allem an der essentiellen Aminosäure Methionin, so daß Menschen nicht allein von Bohnen leben können. Die WissenschaftlerInnen des Saatgutunternehmens Pioneer Hi-Bred übertrugen den Bohnen ein Gen für Methionin aus der Paranuß. Das Projekt sorgte für weltweite Schlagzeilen: Die Sojabohnen mit dem Nuß-Gen lösten – ebenso wie die Paranuß – in Vortests schwere Allergien aus. Das Forschungsprojekt wurde eingestellt.
Unbeirrt forscht man am Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) in Gatersleben an einem ähnlichen Vorhaben weiter: Resistenz-Gene gegen Antibiotika. Den meisten genmanipulierten Pflanzen wird ein Resistenz-Gen gegen Antibiotika übertragen. Dieses Gen wird von den Gen-Forschern benötigt, um kontrollieren zu können, ob die Genmanipulation erfolgreich war oder nicht. Zu befürchten ist, daß sich die Antibiotika-Resistenz auf Krankheitskeime, auf Tiere oder gar auf Menschen überträgt. Als Medizin verordnete Antibiotika könnten so ihre Wirkung verlieren.

Gentech à la carte

Die ersten genmanipulierten Nutzpflanzen sind bereits für die Länder der Europäischen Union (EU) und damit auch für Deutschland zugelassen. Noch dürfen Sie hier nicht angebaut werden – es fehlen die notwendigen Sortenzulassungen. Doch schon jetzt werden genmanipulierte Nutzpflanzen in die EU importiert.
Die erste Marktzulassung für eine genmanipulierte Nutzpflanze erteilte die Kommission für die Länder der EU 1994. Der französische Konzern Seita, durch seine Zigarettenmarken Gauloises und Gitanes bekannt, darf seitdem Gen-Tabak unbeschränkt anbauen und verarbeiten.
Ob Mais, Raps oder Salat, viele Pflanzen sollen die Gentech-Speisekarte bereichern. Selbst Vertreter der Genehmigungsbehörden gestehen ein, daß sie noch kein umfassendes Konzept zur Risikobewertung von genmanipulierten Pflanzen haben. Trotzdem geben sie der Gentech-Industrie Grünes Licht für den großflächigen Anbau der neuen Hightech-Pflanzen. In der Praxis soll sich dann zeigen, ob die Pflanzen oder daraus hergestellte Lebensmittel neuartige Risiken bergen: Ein weltweites Experiment – und die VerbraucherInnen sind die Versuchskaninchen.

Falschgestellte Weichen

Die Gen-Ingenieure versprechen bei der Nutzpflanzenforschung viel, zu bieten haben sie jedoch allenfalls Scheinlösungen – mit einem ganzen Bündel unkalkulierbarer gesundheitlicher und ökologischer Risiken. Die Gentechnologie führt die Landwirtschaft weiter in die High-Tech-Sackgasse. Statt den integrierten Pflanzenschutzes weiterzuentwickeln und den ökologischen Landbau zu fördern, werden die Pflanzen selbst zu Pestiziden aufgerüstet. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die unerwünschten Beikräuter resistent sind. Neue Mixturen aus der Giftküche sind gefragt, der Teufelskreis des chemischen Pflanzenschutzes geht weiter. Die angeschlagene bäuerliche Landwirtschaft gerät in neue Abhängigkeit: So verkauft der US-Konzern Monsanto sein Herbizid-resistentes Sojasaatgut nur an Farmer, die ausdrücklich erklären, daß sie bei der Ernte kein Saatgut für die nächstfolgende Aussaat zurückbehalten. Statt natürlicher Vielfalt der Sorten gibt es uniforme nachwachsende Rohstoffe, passend für die Großindustrie. Und statt gesunder, möglichst wenig verarbeiteter Nahrung aus umweltverträglichem Anbau kommen künftig noch künstlichere, durchkonstruiertere Nahrungsmittel ins Angebot. Den VerbraucherInnen wird ein völlig überflüssiges gesundheitliches Risiko aufgebürdet.

KASTEN

Wußten Sie, daß…

… zu Beginn der 80er Jahre fast der gesamte Zuckerimport der Philippinen in sich zusammenbrach?
Allein auf der Insel Negros wurden 250.000 Menschen arbeitslos. Der Grund: In den USA wurde plötzlich kaum noch Rohrzucker gebraucht. Vor allem Pepsi und Coca Cola süßten ihre Limos mit einem neuen Zuckersirup. Man gewann den neuen Zucker mit Hilfe von Spezial-Enzymen, die inzwischen fast ausschließlich von genmanipulierten Mikroorganismen gewonnen werden. Dieser Zucker-Ersatz HFCS (High Fructose Corn Sirup) wurde das kommerziell erfolgreichste Produkt der neuen Biotechnologie und entwertete damit das Zuckerrohr, von dem viele Länder des Südens leben.
… die traditionellen Anbauländer des Südens allein beim Zucker mit Exportverlusten von jährlich 6,5 Milliarden US-Dollar rechnen müssen?
… das Aroma der Vanille demnächst in großen Tanks, gefüllt mit Kulturen von Vanille-Zellen, hergestellt werden soll?
Jedenfalls haben einige US-Unternehmen erklärt, ihnen sei die pflanzenlose Produktion echter Vanille gelungen. Derzeit stammt die Vanille noch aus den Schoten der Orchideenart Vanilla planifolia, die überwiegend von Kleinbauern und -bäuerinnen auf Madagaskar und den Reunión-Inseln angebaut wird. Vanille ist das Hauptexporterzeugnis dieser Länder, die mehr als zwei Drittel des Weltbedarfs liefern.

Freisetzungen in Lateinamerika

Die offizielle Chronologie der Freisetzungen transgener Organismen beginnt 1986 mit dem Anbau genmanipulierter Tabakpflanzen in Frankreich und den USA. 1986 ist auch das Jahr des ersten Freisetzungsskandals: Das US-amerikanische Wistar Institute testete in Argentinien einen rekombinanten Virus-Impfstoff an Kühen, ohne daß argentinische Behörden oder die beteiligten LandarbeiterInnen, von denen einige infiziert wurden, darüber informiert worden waren.
Im folgenden Jahr wurde in Chile erstmals mit herbizidresistentem Raps eine gentechnisch veränderte Pflanze freigesetzt, vermutlich die weltweit erste Freisetzung von transgenem Raps überhaupt. Freisetzungen transgener Organismen erfolgten in Lateinamerika bis 1994 in größerem Umfang als in europäischen Staaten, Informationen darüber gibt es jedoch kaum. Bis 1995 war gerade ein halbes Dutzend von Darstellungen bekannt, die auch die Freisetzungssituation in der sogenannten Dritten Welt berücksichtigten. Sie wurden entweder von Personen verfaßt, die Zugang zu der Freisetzungsdatenbank der Green Industry Biotechnology Platform (GIBiP) hatten, einem Zusammenschluß von einigen in der Pflanzengentechnik aktiven Unternehmen. Oder sie beruhten auf Untersuchungen und Erhebungen von Nichtregierungsorganisationen wie Friends of the Earth, Greenpeace oder GRAIN (Genetic Resources Action International). Aus den Materialien dieser Gruppen wurde deutlich, daß die in den Ländern des Südens durchgeführten Freisetzungen in der Regel ohne rechtliche Bestimmungen und vielfach ohne Kontrollen erfolgten und weiterhin erfolgen.

Was ist eine Freisetzung?

Freisetzungen sind gezielte Ausbringungen von gentechnisch veränderten Organismen in die Umwelt. Freigesetzt werden einerseits transgene Pflanzen, um im Feldversuch die im Labor und im Gewächshaus gefundenen Ergebnisse unter Freilandbedingungen zu testen (Freisetzungsversuche oder -experimente). International wird aber auch, abweichend von den Definitionen des deutschen Gentechnikgesetzes, das zwischen Freisetzung und Inverkehrbringen unterscheidet, der kommerzielle Anbau von transgenen Pflanzen als Freisetzung bezeichnet. Während vermutlich die meisten Freisetzungen (noch) Freisetzungsexperimente sind, ist der kommerzielle Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen in Ländern wie Argentinien (Anbau von herbizidresistenten Raps- und Sojapflanzen) und Mexiko (Anbau der FlavSavr-Tomaten, herbizidresistenten Raps- und Sojapflanzen und von insektenresistenten Kartoffeln und Baumwolle) schon seit 1995 Realität.

Welche Freisetzung wird bekannt?

Anfang 1996 publizierte das Deutsche Umweltbundesamt (UBA) eine Studie zur „Gentechnik in Entwicklungsländern“. Diese UBA-Studie liefert die derzeit umfangreichste und differenzierteste Übersicht über Freisetzungen transgener Pflanzen in Entwicklungsländern. Die im Oktober 1995 abgeschlossene Übersicht des Umweltbundesamtes liefert vor allem für die Region Lateinamerika und Karibik ausführliche Informationen über Freisetzungen in 11 Staaten. Dabei benennt sie für jede Freisetzung das Land, die Pflanze, die Art der genetischen Manipulation, den Zeitpunkt der Genehmigung und Durchführung, den oder die Durchführenden, und sie bewertet die Aussagesicherheit der Quelle. Außerhalb dieser Region werden Freisetzungen in Indien und Thailand sowie in Ägypten und Südafrika erwähnt.
Auf der Grundlage der verfügbaren Informationen gelangt der Autor der UBA-Studie, André de Kathen, zu der Einschätzung, daß der Anteil der in oder von Entwicklungsländern durchgeführten Freisetzungen „bei unter 5 Prozent aller Freisetzungen weltweit“ liegen dürfte. Mit seiner Einschätzung liegt Kathen deutlich unter der Erhebung von James und Krattiger (1996), nach der acht Prozent der zwischen 1986 und 1995 durchgeführten Freisetzungen in den Entwicklungsländern stattfanden, davon 70 % in der Region Lateinamerika und Karibik, 21 % in Asien und 9 % in Afrika.
Nach Auskunft offizieller Stellen hat es in Brasilien, Kolumbien und Venezuela wie auch in Indonesien, Malaysia, Nigeria und auf den Philippinen bisher keine Freisetzungen transgener Pflanzen gegeben. Von diesen Ländern verfügte allerdings allein Brasilien über ein 1995 verabschiedetes Gesetz zur biologischen Sicherheit, so daß in den anderen Ländern die rechtliche Grundlage für die Anmeldung von Freisetzungen fehlte. Es ist daher nicht auszuschließen, daß Freisetzungen stattfanden, ohne daß staatliche Stellen davon in Kenntnis gesetzt wurden.
In Lateinamerika und der Karibik wurden zwischen 1987 und 1995 nach Kathen 137 Freisetzungen in 11 Ländern durchgeführt [1]. Die meisten Freisetzungen erfolgten in Argentinien (43 Freisetzungen), Puerto Rico (21), Mexiko (20), Chile (17) und Kuba (13). Weitere Länder mit bekanntgewordenen Freisetzungen sind: Costa Rica (8), Bolivien (5), Belize (4), Guatemala (3), Peru (2) und die Dominikanische Republik (1).
Vor allem fünf Pflanzen stehen im Vordergrund des Freisetzungsinteresses: Mais, Sojabohnen, Tomaten, Baumwolle und Kartoffeln. Damit weicht die Freisetzungssituation in der Region Lateinamerika und Karibik von der globalen vor allem hinsichtlich des unterschiedlichen Stellenwertes von Sojabohnen und Raps ab. Die Reihenfolge der weltweit am häufigsten freigesetzten Pflanzen führt nach James / Krattiger ebenfalls Mais (28 %) an, mit Abstand folgt Raps (18 %). Nach Kartoffeln und Tomaten (jeweils 10 %) finden sich die Sojabohnen mit 8 % erst auf Platz 5.

Woran wird geforscht?

Bei den insgesamt 137 für die Region Lateinamerika und Karibik dokumentierten Freisetzungen dominiert die Erforschung der Resistenz gegenüber Herbiziden (51) vor der gegen Insekten (30). In weiteren neun Fällen wurde auf beide Resistenzaspekte getestet. Bei zehn Freisetzungen ging es um Virusresistenz, während 20 die Veränderungen der Produktqualität zum Ziel hatten. Sieben Mal wurde mit Kälte- bzw. Frostresistenz experimentiert, die restlichen zehn Freisetzungen hatten andere gentechnologische Manipulationen zum Ziel.

Wer forscht?

Die oben genannten Freisetzungsversuche wurden vor allem von privaten Firmen durchgeführt: In 74 Prozent der Fälle waren es Unternehmen aus den Bereichen Chemieindustrie, Saatgut, Biotechnologie, Agrarhandel und Lebensmittelindustrie, die für die Freisetzung verantwortlich waren. Zwanzig Prozent der Freisetzungen wurden jedoch von den in der Region Lateinamerika und Karibik beheimateten internationalen Agrarforschungszentren oder von nationalen Forschungseinrichtungen (partiell auch von beiden gemeinsam) durchgeführt. Die Liste dieser Forschungseinrichtungen wird von dem staatlichen kubanischen Zentrum für Gen- und Biotechnologie (CIGB) mit insgesamt 13 Freisetzungen angeführt. Das Internationale Kartoffelforschungszentrum (CIP) setzte sechsmal transgene Kartoffeln frei – davon in vier Fällen gemeinsam mit dem bolivianischen landwirtschaftlichen Forschungsinstitut (IBTA). Das mexikanische Untersuchungs- und Studienzentrum (CINVESTAN) brachte in insgesamt fünf Fällen transgene Kartoffel-, Mais- und Tomatenpflanzen aus. Das Internationale Forschungsinstitut für Mais und Weizen (CIMMYT) wird mit zwei Mais-Freisetzungsversuchen aufgeführt, und das argentinische Photosynthese- und Biochemie-Zentrum (CEFOBI) war für zwei Freisetzungsversuche mit transgenem Mais und Weizen verantwortlich. In sechs Prozent der Fälle waren keine Angaben darüber verfügbar, wer die Freisetzungen veranlaßt hatte.

Trends in Lateinamerika und Karibik

Für die Region Lateinamerika und Karibik zeichnen sich nach den Daten der UBA-Studie die folgenden Trends bei den Freisetzungen ab:
1. Das Freisetzungsinteresse konzentriert sich auf die fünf Pflanzen Mais, Sojabohnen, Tomaten, Baumwolle und Kartoffeln, mit denen zusammen gut 80 Prozent der Freisetzungen durchgeführt wurden.
2. Herbizid- und Insektenresistenz sind die vorherrschenden Ziele der durchgeführten Freisetzungen, knapp zwei Drittel aller Freisetzungen wurde zu einem bzw. zu beiden Resistenzaspekten vorgenommen.
3. Nur zwanzig Prozent der Freisetzungen sind vom öffentlichen Sektor, d.h. von nationalen oder internationalen Agrarforschungseinrichtungen zu verantworten. Die überwiegende Zahl der Freisetzungen erfolgt durch oder im Auftrag von Konzernen des Agrobusiness. Unter ihnen dominieren die US-amerikanischen und nimmt das Chemie- und Gentechnikunternehmen Monsanto die Spitzenposition ein.
4. Die Kulturen, die Ziele und die Auftraggeber der Freisetzungen dokumentieren eindeutig, daß bei den durchgeführten Freisetzungen die Forschungsinteressen der Industrienationen im Vordergrund standen.

Anmerkung:
[1] Bei den aufgeführten Daten wurden Angaben über Puerto Rico (ist seit 1952 mit den USA assoziiert, ohne ein US-Bundesstaat zu sein) berücksichtigt. In Puerto Rico wurden 144 Freisetzungen durchgeführt. Nur die 21 genehmigten Freisetzungen wurden von uns erfaßt.

Gentech-Multis außer Kontrolle

Es sind verschiedene Fälle dokumentiert, bei denen transnationale Konzerne Entwicklungsländer als Versuchskaninchen für genmanipulierte Pflanzen mißbraucht haben. Greenpeace Zentralamerika deckte 1996 einen ungenehmigten Versuch mit genmanipulierten Tomaten in Guatemala auf. Asgrow, eine US-amerikanische Gentechnikfirma, die sich auf verschiedene Gemüsearten wie Tomaten und Kürbis spezialisiert hat, besitzt eine Tochterfirma in Guatemala, die im Auftrag des Gentech-Multis Calgene 1995 und 1996 Versuche mit der sogenannten FlavrSavr-Tomate durchgeführt hat. FlavrSavr war die weltweit erste gentechnisch veränderte Pflanze, die zur Vermarktung zugelassen wurde (1994 in den USA). Es handelt sich dabei um die sogenannte Anti-Matsch-Tomate, die aufgrund der gentechnischen Manipulation länger haltbar ist.

Ohne Genehmigung

In Guatemala existierte – zumindestens bis 1996 – keine Gesetzgebung, die eine Kontrolle über Versuche mit gentechnisch veränderten Organismen erlauben würde. Einzig die guatemaltekische Saatgutverordnung („Regeln für die Produktion, Zertifizierung und Vermarkung landwirtschaftlichen Saatgutes“) regelt den Im- und Export. Sie hätte auch den Versuch mit Flavr Savr-Tomaten betroffen, da das genmanipulierte Saatgut aus den USA ein- und nach Versuchsende wieder ausgeführt wurde.
Wie in zahlreichen anderen Entwicklungsländern wird seit Mitte der 90er Jahre in Guatemala die Entwicklung von Biosafety-Regularien betrieben, und zwar unter Federführung der nationalen Biotechnologie-Kommission COMBIOTEC. Asgrow hatte zwar im September 1995 bei COMBIOTEC um Auskunft über das geltende Verfahren zum Import von genmanipuliertem Saatgut sowie für Freisetzungsversuche nachgefragt. Eine formelle Genehmigung wurde jedoch nicht erteilt, da seinerzeit noch keine gesetzlichen Regeln in Kraft waren. Bei der einzigen Behörde, die in jedem Falle hätte konsultiert werden müssen, nämlich dem Landwirtschaftsministerium, hat Asgrow zu keiner Zeit um Auskunft oder Genehmigung nachgesucht.
Der Versuch fand jedoch nicht nur ohne jegliche behördliche Genehmigung oder Kontrolle statt, er folgte nicht einmal den einfachsten Sicherheitsanforderungen. Er war als Gewächshausversuch angelegt – Recherchen von Greenpeace in Guatemala ergaben jedoch, daß das entsprechende Gewächshaus über weite Strecken offen stand, Ziegen ein- und ausgingen, und die Tomaten nach der Ernte außerhalb des Gewächshauses getrocknet wurden. Unter diesen Umständen ist ein Austrag des genetischen Materials aus dem Versuchsgelände relativ wahrscheinlich, da Tomatensamen auch gegen Verdauung sehr resistent sind und so durch Tiere in andere Gegenden verschleppt werden können.

Unkalkulierbare Risiken

Dies ist gerade in Guatemala besonders kritisch, da hier viele ursprüngliche Tomatenformen und auch wildwachsende Tomatenverwandte verbreitet sind, in welche die Asgrow-Gene eingekreuzt werden können. Im Umkreis von einem Kilometer um das Asgrow-Gewächshaus werden verschiedene kommerzielle und lokale Tomatensorten angebaut, zudem wurde der Versuch in einer Gegend durchgeführt, die als Diversitätszentrum für wilde Tomaten (Lycopersicon esculentum ceraciforme) gilt. Die Freisetzung von genmanipulierten Pflanzen birgt gerade in den Diversitätszentren dieser Welt unkalkulierbare Risiken und ist deshalb aus ökologischer Sicht besonders kritisch zu sehen.
Obwohl noch einige weitere Fälle von Freilandversuchen mit genmanipulierten Pflanzen ohne behördliche Kontrolle in Entwicklungsländern dokumentiert sind, ist dies zur Zeit eher die Ausnahme. Die Gentech-Multis sind sich der Brisanz eines halblegalen Versuches in Ländern des Südens durchaus bewußt, da es hierfür eine breite kritische Öffentlichkeit im Norden gibt.

Lieber legal

Aus diesem Grund haben sie ihre Freisetzungsversuche auf der Südhalbkugel vorzugsweise in den Ländern durchgeführt, die bereits eine Gentechnik-Gesetzgebung hatten. Calgene und Monsanto haben u.a. deshalb Südafrika als Versuchsstandort ausgewählt, weil dort durch das halbstaatliche „Südafrikanische Komittee für Gentechnologie“ (SAGENE) eine Überwachung von Versuchen mit genmanipulierten Organismen zumindest theoretisch vorgesehen ist.
Der Aufwand für die Firmen hält sich dabei in Grenzen. Zwar müssen umfangreiche Daten vorgelegt werden, durch die die Zulassungsanträge bisweilen auf mehrere hundert oder gar tausend Seiten aufgebläht werden. Aber da die Gesetzgebung in Südafrika nicht über die der USA hinausgeht, haben die Firmen all diese Daten schon vorher für ihre Versuche in den USA und anderen Ländern produziert. Diane Re, Zulassungsspezialistin bei Monsanto: „Die Daten, die wir für das Zulassungsverfahren in den USA vorlegen müssen, reichen vollkommen für alle anderen Zulassungsverfahren, beispielsweise in Europa oder Japan, aus.“ Gleiches gilt auch für die wenigen Entwicklungsländer, die eine formale Regulierung von Gentechnik-Experimenten vorsehen.
Zulassungsverfahren bieten für die Gentechnik-Multis bislang also kaum Hindernisse oder Mehraufwand, verschaffen ihnen dafür aber ein Saubermann-Image. Aus ökologischer und entwicklungspolitischer Sicht stehen deshalb weniger die vereinzelten illegalen Versuche im Mittelpunkt der Kritik, sondern die institutionalisierte Oberflächlichkeit im Umgang mit genmanipulierten Organismen. Bislang sind kaum Fälle bekannt, daß eine Regulierungsbehörde einen Versuch mit genmanipulierten Pflanzen abgelehnt hätte.

Friß oder stirb

Die Etablierung einer stringenten, sowohl an ökologischen als auch an sozioökonomischen Fragen ausgerichteten Risikobewertung, die über die Regulierungspraxis in Europa oder den USA hinausgeht, ist in kaum einem Entwicklungsland zu erwarten. Zu gering ist in den armen Ländern das öffentliche Bewußtsein für diese Fragestellung, zu gering die öffentlichen Mittel, die eingesetzt werden könnten, und zu vielschichtig die Problematik, als daß sie von den wenigen Fachleuten in den Entwicklungsländern umfassend bearbeitet werden könnte.
Selbst in einem Land wie Südafrika mit einer vergleichsweise guten ökonomischen Basis und einer breiten wissenschaftlichen Elite wird Biosafety äußerst stiefmütterlich betrieben. Bei einem Jahresetat (1995) von nur wenigen tausend Mark kann SAGENE kaum mehr als nur verwalten. Die Sicherheitsbewertungen werden auf ehrenamtlicher Basis von Universitäts-Wissenschaftlern durchgeführt, die verständlicherweise nur vor dem Hintergrund ihres eigenen Wissens urteilen können und keine Möglichkeit haben, sich so wie ihre hauptamtlichen Kollegen aus den Industrienationen in weitere spezifische Fragen einzuarbeiten.
Dabei kommen selbst die fundamentalsten Grundfragen einer Sicherheitsbewertung zu kurz. Sozioökonomische Fragen sind dabei gar nicht erst vorgesehen, und die Kontrollmöglichkeiten sind sehr begrenzt.
Während der Import genmanipulierten Saatgutes in Südafrika illegal ist, wird er in den meisten anderen Entwicklungsländern gar nicht geregelt – statt findet er seit einem Jahr überall dort, wo Mais oder Soja aus den USA eingeführt wird.
Die US-Multis hatten sich noch die Mühe gemacht, den Import ihrer genmanipulierten Produkte in Europa und Japan zu beantragen – bei fast allen anderen Ländern wurde das gar nicht erst für nötig gehalten. Den armen Ländern wird die genmanipulierte Ware nach dem Motto „Friß oder Stirb“ einfach vorgesetzt, aber auch zwischen Europa und den USA entspannt sich gerade ein Streit. Wegen anhaltender Proteste in vielen europäischen Ländern wird in Brüssel zur Zeit über eine weitergehende Kennzeichnung für Lebensmittel diskutiert.
Dagegen haben schon vorsorglich die USA protestiert und mit einer Klage bei der WTO gedroht, falls Europa ein diskriminierendes Label für Gentech-Essen einführen würde.
Auf Druck einzelner Entwicklungsländer – unterstützt von mehreren NGOs – konnte im Rahmen der Biodiversity Convention die Forderung nach einem „Protokoll für biologische Sicherheit“ durchgesetzt werden.

Biosafety Protocol

Seit zwei Jahren arbeitet eine sogenannte ad hoc working group an diesem Protokoll, das noch im Laufe des Jahres 1998 fertiggestellt werden soll. Das Biosafety Protocol soll Fragen des Im- und Exports mit gentechnisch verändertem Material ebenso regeln wie weltweite Standards für die Regulierung von gentechnischen Experimenten und Freisetzungen.
Da die USA bislang noch nicht einmal die Biodiversitäts-Konvention unterzeichnet haben, ist noch nicht absehbar, welche praktische Bedeutung das Biosafety Protocol einmal haben wird. Während sich auf der einen Seite gerade die G77-Länder formieren und einen sehr weitgehenden Entwurf für das Protokoll in die Diskussion geworfen haben, wird ihnen andererseits das Mitdiskutieren erschwert: Entwicklungsländer bekommen die Reisekosten für die Teilnahme an der ad hoc working group nicht mehr finanziert – was faktisch einen Ausschluß für die meisten der armen Länder bedeutet.
Greenpeace arbeitet gemeinsam mit anderen internationalen NGOs an der Durchsetzung eines Biosafety Protocols, das seinen Namen wirklich verdient und durch eine möglichst engmaschige Kontrolle über die Freisetzung genmanipulierter Organismen zur Erhaltung der Artenvielfalt beitragen kann.

Das Schokoladenbonbon

Wenngleich kulinarische Vergleiche für sein Werk ziemlich abwegig sind, amüsierte sich Ak’abal köstlich darüber, weil doch eigentlich zum Ausdruck kommen sollte, daß seinen oft kurzen und lakonisch anmutenden Gedichten eine eindrucksvolle Vermittelbarkeit zueigen ist. Hier ein erstes Beispiel.

Ferne

In diesem kleinen Land
ist alles weit entfernt:

das Essen,
die Literatur,
die Kleidung.

Sein eigentlicher Name lautet Kaqulja Ak’abal und bedeutet in der Mayasprache Quiché “Sturm am Morgen”, aber bei der Geburtsmeldung erlaubte man damals – in “diesem kleinen Land” Guatemala – keinen indianischen Vornamen, sondern lediglich einen spanischsprachigen, der dann Humberto war. Humberto Ak’abal wurde 1952 in Momostenango, Provinz Totonicapán, geboren. Nach der Schulzeit schlug er sich erst mit einigen Gelegenheitsjobs durch, bevor er 1990 mit der Veröffentlichung seiner Gedichtbände beginnen konnte. Darunter befinden sich folgende Buchtitel: “Ajyuq’ – El animalero” (1990); “Guardián de la caída de agua” (1993); “Hojas del árbol pajarero” (1995); “Ajkem tzij – Tejedor de palabras”, zweisprachig, Quiché-Spanisch (1996); “Lluvia de luna en la cipresalada” (1996). Die Journalistenvereinigung Guatemalas APG erklärte seinen zweiten Gedichtband “Guardián de la caída de agua” zum Buch des Jahres 1993 und ehrte den Dichter mit dem Kulturpreis “Quetzal de Oro”.
Der fast neunzigjährige guatemaltekische Romancier und Sozialwissenschaftler Mario Monteforte Toledo eröffnete seinen Aufsatz mit dem Titel “Der Fall Ak’abal” in der Zeitschrift “Revista USAC/ letras” mit folgenden Worten: “Der Fall Ak’abal ist das größte Ereignis in der aktuellen Literatur Guatemalas. Der erste Maya-Dichter, der aus einem Volk kommt, das die Wörter verschluckt, weil ihm nach vier Jahrhunderten der Herrschaft von Schwert und Kreuz die Stimme geraubt wurde.”
Ak’abal schreibt in erster Linie für sich und sein Volk, daher auch die poetische Vermittelbarkeit, doch nicht allein in der Mayasprache, sondern auch in der spanischen Sprache, in die er seine Gedichte dann weiterübersetzt. Er fügt der Maya-Literatur, wozu das Schöpfungsbuch “Popol Vuh” und die archaische Maya-Poesie gehört, ein völlig neues Kapitel hinzu. Seine meditativen und lautmalerischen Gedichte sind in der zum Teil noch intakten Kulturtradition einer integralen Weltsicht der Maya-Nachfahren verankert, in der einst die Steine, Pflanzen und Bäume, Tiere und Menschen miteinander lebten, sprachen und träumten. Die zeitgenössische Poetik der Verse Ak’abals korrespondiert auf schlichte Weise mit dem zivilisatorischen Zeitsprung. Ak’abal zählt zu den Mitbegründern einer innovativen indigenen Poesie.

Poesie

Die Poesie ist Feuer,
das in einem brennt
und im anderen,

ansonsten wird es irgend etwas sein,
aber nicht Poesie.

Dieses poetische Phänomen kann man aber auch sonst in Lateinamerika beobachten, wenn man zum Beispiel nach Südchile schaut und die junge Poesie der Mapuche-Dichter, darunter Elicura Chihuailaf und Lorenzo Aillapán Cayuelo, kennenlernt.
Als Ak’abal im vergangenen Jahr beim VI. Internationalen Poesiefestival in Medellín im Theatersaal Camilo Torres der Universität von Antioquia vom stürmischen Applaus bei seiner Lesung – an einem Tisch mit Dichtern aus Bosnien-Herzegowina, Japan, Kolumbien und Brasilien – überrascht wurde, war er so stark bewegt, daß er kaum mehr weiterlesen konnte und schließlich seinen Gedichtband ins Publikum warf, um aufhören zu dürfen und sich wieder irgendwie zu sammeln. Aus dieser unerwarteten Erfahrung entstand sein folgendes Gedicht.

Verwirrung

Abdulah Sidran,
Marilia und Gozo Yoshimasu,
Henry Luque Muñoz,
Lindolf Bell
und ich.

Sprachverwirrung,
Vogelgestalten der Poesie,
Blumenregen

und 3.000 Rufe
im Saal “Camilo Torres”
der Universität
von Antioquia.

Harald Hartung, der in Berlin lebende Lyriker und Literaturprofessor, schrieb folgende Zeilen über Humberto Ak’abal: “Wir begegnen dem in der Mayasprache dichtenden Humberto Ak’abal. ‘Was ist das für ein Lärm?’ beginnt der ehemalige Schafhirte und Teppichweber ein Gedicht und hängt an die Antwort ‘Eine Uhr’ die listige Frage: ‘Wem ist so was bloß eingefallen?’ Ak’abals lakonisch-witzige Poesie besteht sehr wohl neben Antonio Cisneros, Haroldo de Campos und Alvaro Mutis.” (FAZ, 5.12.1996)

Ak’abal lebt heute in Momostenango und Guatemala-Stadt. Erste Gedichtproben von ihm wurden ins Französische, Englische, Italienische und auch ins Deutsche übersetzt und in Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht, hierzulande in: “Literaturmagazin”, “Chelsea Hotel” sowie “Das Gedicht”.

Zwei Tote für 9000 Hektar Land

“Es ist nicht auszu­schließen, daß die mexika­nischen Zapati­sten, ehema­lige sal­vadorianische Gueril­lakämpfer und poli­tische Gruppierungen aus Nicara­gua die indigene Be­wegung von Honduras in­filtriert ha­ben.” Julio Chá­vez, Polizei­kommandant aus Tegu­cigalpa, hat seiner Phanta­sie offensichtlich freien Lauf gelas­sen. Es ist nicht klar, warum er in sei­ner Spekulation nicht noch an­dere Widerstandsbewegun­gen erwähnt, etwa die pe­ruanische oder die gua­temaltekische oder auch Fidel Castro persönlich. Aber es ist klar, daß der Hüter der öffentlichen Si­cherheit von der schlag­kräftigen Organisation der Indianer beeindruckt ist. Er kann sich die Stärke und Vielfalt der politischen Ak­tivitäten der Ureinwohne­rInnen, die sich in der “Konföderation der au­tochthonen Völker von Hondu­ras” (CONPAH) gesammelt ha­ben, nur durch äußere Unterstüt­zung erklären.
Tatsächlich sind die “Eth­nien”, wie in Honduras die indi­ge­nen Völker und die schwarzen Be­völ­ke­rungsgruppen zusam­men­fassend genannt wer­den, tra­di­tionell die stärkste der sozialen Be­we­gungen. In dieser “Tra­di­tion” stehen auch die jüng­sten Pro­teste der Chortí-Indianer in Te­gu­cigalpa.
Die Chortí leben in den an Guatemala angrenzen­den De­partamentos Copán und Ocotepeque. Sie haben Anfang Mai einen Marsch auf Tegu­cigalpa organisiert und mit etwa 3000 Men­schen die Residenz des honduranischen Präsidenten be­lagert. Ziel der Proteste war zum einen, die Auf­klärung des Mor­des an ei­nem Chortí-Führer einzu­fordern. Cándido Amador Recinos, einer der Haupt­aktivisten im Landkampf der Chortí gegen Groß­grundbesitzer und Vieh­züchter, wurde Mitte April erschossen. Zum anderen forderten die Chortí die umge­hende Aushändigung der Besitz­titel über 14.000 Hektar Land in ihrem tra­ditionellen Siedlungs­gebiet, das ihnen Viehzüchter streitig machen.
Am Tag, als die Demon­stra­tion vor dem Präsiden­tenpalast be­gann, setzte die Re­gierung eine Verhand­lungskommission un­ter der Lei­tung des Ministers für Kultur, Kunst und Sport ein.

Leihgabe Land

Die sagte nach mehrstündigen Ver­handlun­gen den Demon­strie­ren­den le­diglich die “vor­über­ge­hen­de Nutzung” von Agrarland zu: 2000 Hektar als “Leihgabe” für drei Monate. Die Chortí be­zeich­neten dies als “lächerlich und ignorant” und brachen die Verhand­lungen ab. Zweihundert von ih­nen begannen einen Hun­ger­streik.
Ausdruck von Ignoranz und Rassismus gegenüber der Urbe­völkerung sind auch öffentliche Stellung­nahmen der Kommis­sions­mitglieder. Der staatliche Eth­nien-Beauftragte Eduardo Vi­lla­nueva ver­suchte, die Chortí mit der Behauptung zu dif­fa­mie­ren, diese hätten bei ihrem Marsch auf Tegucigalpa Frauen und Kinder geopfert.
So überrascht es nicht, daß auch das zweite Ange­bot, mit dem die Regie­rungskommission we­nige Tage später auf den Ver­hand­lungsabbruch reagierte, le­diglich Absichtserklärun­gen und keine konkreten Zusagen ent­hielt. Zum Beispiel schlug die Kom­mission vor, die Groß­grund­be­sitzer im Gebiet der Chortí “aus humanitären und so­zialen Grün­den zu bitten”, den In­dí­ge­nas eine für die Subsi­stenz­wirt­schaft nötige Menge Land zu über­lassen. Die Chortí ant­wor­te­ten ihrer­seits mit ei­nem kon­kre­ten Acht-Punkte-Kata­log, in dem an erster Stelle die Forde­rung nach Übertragung von 14.000 Hek­tar Land wie­derholt wird. Der Forde­rungskatalog wurde von CONPAH vorgelegt und hat­te somit das Gewicht ei­nes Do­ku­mentes aller hon­du­ra­ni­schen Ethnien.
Am fünften Tag der Be­la­ge­rung der Residenz un­terbreitete die Regie­rung schließlich ein An­gebot zur Überschrei­bung von 4000 Hektar Agrarland. Bevor die Chor­tí über Zustim­mung oder Ablehnung ent­scheiden konn­ten, wurde die Belagerung völ­lig uner­wartet und gewalt­sam ge­räumt. Polizei­beamte und Sol­da­ten vertrieben die 3000 De­mon­strantInnen aus dem aus Kar­tons und Plastikpla­nen er­rich­teten Lager. Frauen, Kinder und alte Menschen wur­den da­bei ge­schlagen. Der Dia­log brach er­neut zusammen. 400 Meter von der Resi­denz des Prä­sidenten ent­fernt ließen sich die Chortí erneut nieder.

Gewalt gegen die Belagerer

Die Verhandlungen wur­den erst wieder aufgenom­men, als eine Kernbedin­gung der Demon­stranten für die Fortsetzung der Verhandlungen erfüllt wurde und der Kulturmini­ster als Leiter der Regie­rungskommission aus­schied. Schließlich konnte – neun Tage nach Beginn der Proteste – eine Überein­kunft mit der Regie­rung erzielt werden: Sie sicherte zu, den Chortí im Verlauf der näch­sten sechs Mo­nate Besitz­ti­tel für 9000 Hektar Land schritt­wei­se zu über­schreiben.
Der Vertrag zwischen den Chor­tí und der Regie­rung be­deu­tet keineswegs das Ende der Land­konflikte und sollte nicht vor­eilig als “historischer Erfolg nach Jahrhunderten” gefeiert wer­den. Der Tag des Ab­kom­mens zwischen den Chortí und der Regierung wird durch den Mord an einem weiteren In­di­ge­na-Führer überschattet: Jorge Ma­nueles, Aktivist bei der Ver­tei­digung des Landbe­sitzes des Lenca-Volkes und engagiert im Kampf gegen die Abholzung der Wäl­der durch die großen Sä­ge­wer­ke, ist am selben Tag auf of­fener Straße er­schossen wor­den. Gleich­wohl ist das Ergebnis der neun­tägigen Protestaktion ein wich­tiger Schritt nach vorn: Es ist Zeichen da­von, daß die Poli­ti­sierung der Indígenas zunimmt, und es ist ein kon­kreter Erfolg im Kampf der Eth­nien um ihre Land­rechte.

“Wir haben Guatemala geformt…”

Guatemala-Stadt, 1993
“Es lebe das Deutschtum”, Teil I

Gläser klingen, Wein und Bier fließt. Vornehm­lich weiß lackierte Karossen fahren vor. Die Aso­ciaciòn de damas gua­temaltecas-alemanas (Ver­ei­ni­gung guatemaltekisch-deutscher Damen) hat ei­nen schwarz-rot-gold/weiß-blau ge­blümten Kranz im Foyer postiert. Die Asociación de Hum­boldt, im Volksmund “Deutscher Club”, hat gela­den. Die Deutsche Ge­meinde trifft sich zur alljäh­rigen Wie­dervereinigungsfeier. Der Botschafter mahnt in seiner Rede zu Toleranz, Verantwortung und Soli­darität in wirtschaftlich schlechten Zeiten. Nie­mand scheint ernsthaft interessiert, Deutsch­land ist weit weg und diese Tugenden sind in Gua­temala weniger gefragt. Mit dem Ende der Natio­nalhymne kommt Leben in das sonnige Gefilde zwischen Sonnenschirmen und Swimmingpool. Die Kamera bewegt sich auf Gäste zu: “Wer sind Sie”?
Der alte Plastikfabrikant: “Ich bin die 3.Generation, 100 Pro­zent deutsch abstämmig aus, äh, hier in Guatemala ansässig. Mein Großvater ist seinerzeit eingewandert, er hat sich hier ausge­brei­tet im Kaffeeanbau. Durch den Krieg, 2.Weltkrieg, haben hier sehr viele Deutsche ihren Besitz verloren und es wurde uns hier das ganze Ei­gentum entnommen. Ich bin dann wieder zu­rückgekommen, nach­dem wir durch diese Sache in den Staaten interniert wurden und dann später ge­gen amerika­nische Kriegsgefangene ausge­tauscht wur­den.Und wir kamen zurück, praktisch zu nichts. Heute hab ich mir einen Platz erobert in unserer Gemeinschaft und wir sitzen hier in unserem Deut­schen Club, wo wir schöne Zeiten verleben, wo wir un­ser Deutschtum wieder erkennen und wo wir un­ser Deutschtum erleben und unsere deutschen Freunde wiedersehen. Und an­dere Leute kennen­lernen, wie zum Beispiel die Herrschaften, die jetzt bei mir sitzen (verweist auf Tischnachbarn) und die Ar­beiten machen in unseren Ur­wäldern für die richtige ökologi­sche Ausbeutung…”
Bratwürste, Sauerkraut und Erdbeeren, Wein von der Mosel und aufgelockerte Stimmung. Man ist unter sich, ausgelassen und gut gelaunt.
Die Hemdsärmeligen: “Was, aus Deutschland sind Sie? Mensch, hier Deutsches Fernse­hen … wir sind Banker, Ree­dereivertreter, Spediteure, Kaf­feehändler, was Sie wollen….wir sind mal ausge­wandert und füh­len uns immer noch wohl. -Zwi­schenfrage- Ja, hier sind schon mal Reportagen gemacht wor­den. Da haben wir uns vollkom­men gegen gewehrt … die haben alles verdreht, Foto­montagen gemacht, oben die Reichen, un­ten die armen Indianer…”

Hamburg, 1994
Die Recherche zeigt…

Das doppelseitige Titelfoto einer Ausgabe des “Stern” von 1980 präsentiert zwei deutsche Groß­grundbesitzer vor ihrer avioneta, einem kleinen Sport­flugzeug, mit dem man in Guatemala auf seine Fincas zu fliegen pflegt, seit es auf dem Lande so gefährlich geworden ist. Vater und Sohn, beide sind bewaffnet. Aufreißerischer Titel: “Wir wissen, daß wir die nächsten sind.” Der Artikel ist besser als der Titel: Der Autor schreibt von extre­men sozialen Gegensätzen, Bürgerkriegszustand, 37 Toten bei der Stürmung der spanischen Bot­schaft, die von campesinos besetzt worden war. Der Autor zu Besuch bei deutschen Bankern und Kaffeehändlern: “Die Bankleute haben Angst vor der Revolution. Jetzt schnell das Geld aus dem Land holen, bevor die Scheiße hier los geht.” Ei­nige Zeilen darunter: “70 Prozent des Kaffeehan­dels liegt in den Händen Deutscher oder Deutsch­stämmiger.”

Stuttgart, 1993-1995
Kontinuitäten

Das Archiv des Instituts für Auslandsbeziehun­gen (ifa) in Stuttgart, vor dem 2. Weltkrieg “Deut­sches Auslands-Institut”. Alte Kolonial­schriften, vergilbte Fotos, ein Artikel eines gewis­sen Fried­rich Karl v. Erckert über “Die wirtschaft­lichen In­teressen Deutschlands in Guatemala” von 1904:
“Man kann ohne Übertreibung behaupten, daß in keinem außerdeutschen Gebiete, unsere eigenen Kolonien nicht ausgenommen, ein, wenn nicht ab­solut, so doch relativ so umfangreicher und örtlich so konzentrierter ländlicher Grundbesitz in deut­schen Händen ist wie in Guatemala. … Wenn man nur die für den eigentlichen Plantagenbetrieb ge­eigneten Distrikte ins Auge faßt, sind gerade diese fruchtbaren Landstriche im Besitz von Deutschen. Die Zunahme der deutschen Interessen ging mit der Entwicklung des Landes gleichen Schritts, ja letztere war bis zu einem gewissen Grade die Wir­kung der ersteren. …
Überhaupt spielen unsere Landsleute wirt­schaft­lich die Hauptrolle. 3/5 des Kaffees wurden 1897 von ihnen produziert, und die Handelshäuser Ger­lach, Sapper, Nottebohme nebst ihren Filialen monopolisieren so ziemlich den Handel.”

Guatemala-Stadt, 1995
Ministerängste

Ein gut bewaffneter Wachposten öffnet das 2,50 Meter hohe Eisentor. Ein Großraumbüro, unzäh­lige Computer on-line zur New Yorker Börse, Hemds­ärmelige. Ein Vorgespräch liegt hinter uns. Man ist vorsichtig in Guatemala. zwei Jahre stille Be­mühungen, um hier zu drehen. Don Fritz emp­fängt uns. Weißes Hemd, Jeans, locker, man ist so­fort auf Du. “Die starke deutsche Tradition in der Kaffeeproduktion ist leider nach dem Kriege fast verschwunden, seitdem ist überwiegend der Kaf­fee­handel in deutscher Hand geblieben. Gua­te­ma­la war schon immer ein interessantes Land für deut­sche Einwanderer. Der deutsche Immigrant hat sich immer schnell zurechtgefunden. Die deut­sche Disziplin, die deutsche Zähigkeit, die deut­sche Zuverlässigkeit, verbunden mit dem lockeren und freundschaftlichen Leben in Guatemala ist an­schei­ndend eine optimale Kombination und man sieht es an der gesamten deutschen Kolonie: fröh­liche, glückliche und erfolgreiche Leute.”
-Zwischenfrage- “Unsere Firma exportiert heut­zu­tage um die 500.000 Exportsäcke Kaffee. Das ist 20 Prozent der Landesproduktion, das Vo­lumen in Guatemala hat damit auch ein Limit ge­funden, nich. Wir exportieren 60 Prozent unserer Produk­tion nach Deutschland. Unsere Firma ist im gan­zen Land vertreten, obwohl die Verkehrsver­bindungen nicht optimal sind … Guatemala ist ein Land mit totaler Handelsfreiheit … wir haben ein furchtbar sprunghaftes Jahr gehabt … spektaku­läre Preiserhöhung an der New Yorker Börse … .
-Zwischenfrage- Die Gründerfamilie dieser Fir­ma hat eine lange Tradition im Land, seit Beginn des Jahrhunderts. -Zwischenfrage- Die familiäre Sei­te sollten wir nicht unbedingt rein nehmen, das ha­ben die Inhaber nicht so gerne, das schneidet ihr dann raus, nich?” – Ja, natürlich.

Guatemala – Deutschland, 1897 – 1996
Kontinuitäten

I. Die Firma des Geschäftsführers Don Fritz ist im Familienbesitz der Firma Nottebohm. Es gibt in Guatemala ein Sprichwort: Dios protega nuestros hijos de Schlubbach, Sapper, Nottebohm. Zu deutsch: Gott behüte unsere Söhne vor Schlub­bach, Sapper, Nottebohm. Nottebohm ist zu Be­ginn des Jahrhunderts das alles dominierende Han­delshaus in Guatemala.
II. Die Firma des Don Fritz heißt heute Agro Comercial. Die zweite, ebenfalls große Kaffee-Ex­portfirma der Familie Nottebohm heißt Trans-Café und erhielt von der guatemaltekischen Regie­rung 1995 das Goldene Band für das best geführte­ste Unternehmen des Landes.
III. Don Fritz ist wenige Monate nach diesem Gespräch Kommunikationsminister. Die Politana­lysen hatten Recht: Die Regierung Arzú besteht aus Angehörigen der reichsten Familien des Lan­des. Und das neoliberale Wirtschaftsprogramm wird von Don Fritz nach kurzer Zeit in seinem Mi­nisterium in die Tat umgesetzt: erste Massenent­lassungen in seinem Ministerium, Streiks, die bald im Sande verlaufen …

Guatemala-Stadt, 1993
“Es lebe das Deutschtum”, Teil II

Etwas später, das Bier fließt weiter und der deutsche Botschafter hat den Club verlassen, nicht ohne sich vorher vertrauensvoll auf das Filmteam zu verlassen: “Treten Sie den Leuten hier nicht zu nahe, bitte.” Seine Einladung zur Besteigung des Vulkans Pacaya unter Begleitung von Beamten des deutschen Innenministeriums nehmen wir vorerst an. Endlich wird uns der wichtigste Mann im Land vorgestellt: der Prototyp eines erfolg- und einfluß­reichen Geschäftsmannes, eine wahrhaft sprung­hafte Karriere. Doch zur Sache:
“Wir sind eigentlich hier sehr zufrieden, wir hal­ten hier unsere Position, der Guatemalteke ist auch ein Autonarr, kauft gerne sofisticated cars, und auf dem Nutzfahrzeugesektor sind wir stark ver­treten … und im Stadtbus haben wir 80 Prozent Markt­anteil, wir sind im Überlandbusverkehr sehr stark, und können uns eigentlich nicht beklagen, das Geschäft läuft recht gut.”
-Zwischenfrage- der mozo schenkt nach …
“Ja also, wenn Sie beobachten, daß Firmen wie Hoechst und Bayer ihre Produktionsstätten hier in Gu­atemala haben, die haben sich das auch über­legt, wo ist also das größte Land und der größte Ab­satz für ihre Produkte und alle haben sich also hier angesiedelt. Guatemala hat den Nachteil, po­litisch gesehen, daß es ja bekannt ist als ein Land, das also sehr viele Probleme mit Menschenrechten hat, aber wirtschaftlich ist es also so bedeutend, be­deutender wohl als jedes einzelne Land in Zen­tral­amerika. -Zwischenfrage- Auf der ganzen Welt sterben Menschen. Auch in Deutsch­land schlägt mal einer einem andern ‘n Stein aufn Kopf. Hier wird das also immer gleich hingestellt, als wenn das was mit Menschenrechts­ver­letzungen zu tun hätte. Bedauerlich, daß Gua­te­ma­la sich diesen Mantel nie abstreifen kann. -Zwischenfrage- Ja, die 80er Jahre waren sehr betrüblich, Sie wis­sen, der Kommunismus hat hier gekämpft … -Zwi­schenfrage- Der Indianer trägt nicht viel zum wirt­schaftlichen Leben bei … Wenn der zum Bei­spiel nach zwei Tagen sein Geld zusammenhat, was er für die Woche braucht, dann kommt er nicht mehr zum Arbeiten. Das sind also so Dinge, die können Sie erforschen, wenn Sie mal über Land fahren.” -Vielen Dank-

Alta Verapaz, 1995
Landflucht

Wir fahren über Land, befragen Leute am We­gesrand, auf den Fincas … Ausschnitte:
I. “Der erste Deutsche, der hierher kam, hieß Sapper. Die Alten sagen, früher bauten die Leute hier ihren Mais an. Als die Deutschen kamen, kauf­ten sie das ganze Land, mit Blechmünzen. Und al­le, die auf diesem Land lebten, wurden ihre mo­zos, um die Kaffeeplantagen anzulegen.”
II. “Was die Leute sagen ist, daß die Deutschen hier viele Kinder mit Indianerinnen hinterlassen haben. Sie haben sich nie mehr darum gekümmert, denn sobald sie ihre eigene Finca hatten, holten sie sich eine weiße Frau aus Deutschland.”
III. “Leute wie die Deutschen kommen wohl nie mehr nach Guatemala. Die konnten arbeiten, Es herrschte Ordnung und Disziplin, vor allem zu Zeiten des General Ubico.”
IV. “Diese Straße hier hieß früher “Heilige Elena”, denn Elena hieß die Frau des deutschen Verwalters. Sie hat sich später vergiftet. – Zwi­schenfrage- Sie wollte einen Hiesigen heiraten, aber sie ließen sie nicht …”

Guatemala – Deutschland, 1897 – 1995
Herren denken, Herren handeln

Ia. Die französische Zeitung “Le Monde Diplo­matique” schreibt 1979:
“In Alta Verapaz toben heftige Landkonflikte. … Pläne für den Bau einer neuen Straße verschlim­mern die Situation. Angelockt durch steigende Preise der Ländereien beansprucht der Kaffee­pflanzer Richard Sapper 1300 ha Land der Keck­chí-Dörfer Secuachil, Semococh und Yalicoch. Die Bewohner verfügen nicht über Besitzurkunden und werden mit Gewalt vertrieben. Die Landkonflikte eskalieren im Massaker von Panzos am 29. Mai 1979.”
Die Recherche zeigt: Der Schießbefehl kam von Otto Spiegeler, General und Verteidigungsmini­ster.
Ib. Der Pfarrer in San Pedro Carcha:
“Ja, Sapper. Erst in den Jahren 1986,1987,1988 verbrannte er die Ernten dreier Gemeinden. Er behauptete, es sei sein Land.”
II. Eine Gesundheitsstation auf einer deutschen Finca im Polochic-Tal (1995):
Hier wird Präventivmedizin geleistet. Die Ka­mera läuft: Der Finquero: “Auf unserer Finca le­ben 1200 Leute. Wieviel haben sich sterilisieren las­sen?” Die Angestellte: “10 Familien!” Der Fin­quero: “10 Familien von 200. Das sind fünf Pro­zent. Die denken nicht an Familienplanung. In zehn Jahren weiß ich nicht mehr, was ich machen soll.” Sein Vater, 96 Jahre, Pionier des Kaffeean­baus, aus dem Hintergrund: “10-12 Kinder kann ‘ne Indianerin kriegen.”
Zwei Tage später gesteht der Alte: “Zuerst hatte ich ja fünf Kinder mit einer Hiesigen, so ‘ne ganz einfache Indianerin, wie sie halt hier sind. Die wa­ren aber schon 75 Prozent rassisch, denn die hatte schon nen deutschen Vater. Später hab’ ich dann meine deutsche Frau geholt, mit der hab’ ich auch fünf Kinder.”
III. Alta Verapaz, Österreich, Guatemala-Stadt Filmarchiv (1936-1995):
Die Regierung des General Ubico in den 30er Jahren: Gewaltherrschaft in Guatemala, es herrsch­te Ordnung und Disziplin, das berüchtigte ley fuga. Kriminellen und Oppositionellen wurde gesagt: “Du bist frei.” Nach zehn Metern Freiheit wurden sie hinterrücks erschossen.
Ubico war vor seiner Machtüber­nah­me Wegein­spek­tor in Alta Ver­apaz, dem imperio ale­mán. Er­win Paul Die­seldorff, Kaf­fee­ba­ron und Ur­groß­va­ter des ge­gen­wär­ti­gen Vorsit­zenden des Kaffee­pro­du­zen­tenverbandes ANA­CAFE, über­setzt für Ubico das Skla­vengesetz aus Deutsch-Südwest­af­ri­ka. Ubico erläßt es als das “Gesetz ge­gen das Va­ga­bun­den­tum”: landlose In­dígenas werden ge­zwun­gen, auf den Fin­cas oder im Stra­ßen­bau zu ar­beiten.
Das Filmarchiv zeigt: vor dem Na­ti­onalpalast defilieren die Motorräder aus Deutsch­land für die Po­lizei Ubicos. Deut­sche defilieren mit Hitlergruß. Eine SA-Formation aus Deut­schland grüßt den Präsidenten.
Ein Fotoalbum in Öster­reich offen­bart: Haken­kreuz­fah­nen auf den Fin­cas, im Deutschen Club, auf den Sport­festen…
Mathilde Diesel­dorff de Quirin, 97 Jahre, Tochter des Erwin Paul Die­seldorff, Gründer des Kaf­fee-Imperio alemán, sagt: “Ja, sie waren sehr für Hitler, und mein Mann war einer der viel sprach.”

Guatemala, 1942 – 1954 – 1995
Adenauer sagt…

Pearl Harbour, U-Boot-Krieg in der Karibik. Eine Nachrichten-Relais-Station auf einer deut­schen Finca in der Alta Verapaz vermittelt ver­schlüsselte Nachrichten von deutschen U-Booten ins Führerhauptquartier nach Berlin. Die USA be­sinnen sich auf ihren Hinterhof (Teil I), deportie­ren alle Deutschen und der faschistische Spuk in Guatemala findet ein Ende. Guatemala besinnt sich auf seine eigenen Kräfte. Arevalo und Arbenz hei­ßen die Erneuerer (“O-Ton 1995: “der eine war rot, der andere noch röter und drogensüchtig”). Wir finden verloren geglaubte Filme über eine Re­volution: die Landreform, ein Neubeginn. Bundes­kanzler Adenauer sagt 1952: “Nach Korea und In­dochina ist jetzt Guatemala das Ziel der kommuni­stischen Angriffe.” Die USA besinnen sich 1954 auf ihren Hinterhof (Teil II): Arbenz wird gestürzt, die Zeit der ewigen Diktaturen be­ginnt. (O-Ton 1995: “Dann haben wir mit dem An­ti­kommunismus peu a peu weitergearbeitet”).

Guatemala – Zentralamerika, 1967 – 1984
Wie man mit Antikommunismus Geschäfte macht

Der Zentralamerikanische Markt entsteht. “Gua­temala ist für ein Entwicklungsland fast un­verschämt gesund und stabil” stellt “Die Zeit” 1979 fest. Ausländische Unternehmen investieren: Bayer, Hoechst, Siemens, einfach alle fallen ins Land ein. Billige Arbeitskräfte, keine Steuern, keine Arbeitsgesetze … der Standort Guatemala ver­spricht horrende Gewinne. Dem ehrgeizigsten deutschen Entwicklungshilfeprojekt, dem Wasser­kraftwerk Chixoy, müssen hunderte Indígena-Fa­milien weichen. Im ganzen Land müssen die Indí­genas weichen. Als sie sich wehren, beginnt die Politk der Verbrannten Erde. Anfang der 80er Jah­re sterben zehntau­sende, hunderttausende flüchten.

Guatemala – BRD, 1981 – 1986
Hilfe!

Das Land ist am Boden zerstört. Das Militär & Co. hat gesiegt. Die deutsche Regierung wehrt den Vor­wurf der Waffenlieferung an die Diktatoren ab, lediglich “kleine Handfeuerwaffen” wurden 1981 geliefert.
“Lebensmittel für Arbeit” heißt ein Programm der Armee für die zurückgebliebenen Verlierer. Deutschland (Caritas) spendet Lebensmittel für die Campesinos, die ihre zerstörten Häuser, Straßen, Brunnen sich selbst helfend wieder aufbauen. “De­mo­kratie” heißt kontinentweit das Zauberwort (O-Ton BMW-Vertreter, Enkel von Sapper: “Die hie­sigen müssen spüren, daß die europäischen Sy­steme die besseren sind …”)
Die Demokratie braucht eine Ordnungsmacht. 50 Jahre nach den ersten deutschen Polizei-Motor­rädern für Ubico (zu sehen auf alten 35mm-Film­schnipseln aus Guatemala) defiliert der Hoff­nungs­träger Polizei mit Mercedes-Benz-Gelände­wa­gen und BMW-Motorrädern 1986 vor dem Na­tio­nal­palast. Der Polizeihilfe-Deal wird koordiniert über die Innenministerien beider Länder, finanziert aus dem Entwicklungshilfetopf.

Guatemala-Stadt, 1993
“Es lebe das Deutschtum”, Teil III

Inzwischen sind wir anerkannte Gesprächspart­ner, willige Zuhörer. Nehmen auch einen Schluck.
Der Sesamexporteuer: “Soviel tausende Tote, wir können nicht so weiterleben.” -Zwischenfrage- “Wir müssen weg vom Kaffee, das haben die Leute auch hier erkannt. Wir exportieren heute große Mengen Broccoli, Blumen, Frischgemüse usw. Wir trainieren die Leute, die Leute werden finanziert, sie unterschreiben einen Kontrakt und dann liefern sie das Produkt auch bei Ihnen ab. -Zwischenfra­gen- “Auf Wiedersehen, wenn Sie mal ein Sesam­brötchen essen, denken Sie an mich.”
Der wichtigste Mann im Lande: “Es gibt viele soziale Spannungen, und die lösen sie nur mit Geld, und Geld ist eben Mangelware in Gua­temala.”
Die Lehrerin der Deutschen Schule auf die Frage “Was müßte verändert werden?”: “Die gan­zen Menschen.”
Das Bier fließt weiter, die mozos schenken nach, der Abend endet deutsch-national.

Es gibt kein Zurück

Das Ende des Krieges hat den An­stoß zu einer Dis­kussion ge­ge­ben, die von den Maya-Organisa­tio­nen vehement ein­ge­for­dert wird. Erstmalig in der gua­temaltekischen Ge­schichte wird in dem im März 1995 von URNG und Regierung un­ter­zeich­neten “Ab­kommen über Rechte und Identität der in­di­ge­nen Bevölkerung” (Indígena-Abkommen) die rassisti­sche Dis­kri­minierung der indianischen Be­völkerung aner­kannt und für die Zu­kunft die Vision einer mul­tiethnischen, plurikulturel­len und vielsprachi­gen Na­tion Gua­te­mala gezeich­net. Die in den ver­gangenen ein­hundert Jahren do­minie­rende ge­sellschaftliche Grup­pe der La­dino/as scheint dabei zusehens in die Defensive zu geraten. Dies kann kaum ver­wun­dern, denn ein Blick in die Ge­schichte zeigt, daß die Ent­wick­lung des gua­temaltekischen Na­tional­staates und die pro­pa­gier­te nationale Identität in en­gem Zusammen­hang mit den Herr­schaftsinteres­sen der La­dino/as stand und steht.

Die Geschichte ethnischer Machtkonstellationen

Waren es in der Koloni­alzeit Spa­nier und deren Nachfahren, die sogenann­ten Criollos, die die ge­sell­schaftliche Vormacht inne­hat­ten, so begann sich dies mit der Unabhängigkeit Guatemalas 1821 zu verän­dern. Zunächst dran­gen vor allem europäische Ein­wan­derInnen in die traditio­nelle Machtstruktur ein, mit Be­ginn der liberalen Herr­schafts­periode und dem Auf­schwung der Kaffee­wirtschaft ab 1870 er­kämpf­ten sich die “Misch­lings­be­völkerung” und IndianerInnen, die den Bezug zu ihrer Kultur ver­loren hatten – die soge­nannten Ladinos oder Mestizos – ihren Platz im gua­temaltekischen Macht­gefüge. Zwar waren die bei­den Gruppen in der Ko­lo­nial­zeit und in der Pe­riode der frü­hen Unabhän­gigkeit genauso dis­kri­mi­niert und aus­gegrenzt wor­den wie die indiani­sche Be­völ­ke­rung, sie konnten sich aber im Verlauf des vergan­genen Jahr­hun­derts in den länd­lichen Gebieten, in denen sich die “Weißen” kaum blicken lie­ßen, eine Vormachtstellung erarbei­ten. Mit der sich ausbrei­tenden Plan­tagenwirtschaft über­nahmen sie eine wich­tige Brüc­ken­funk­tion. Sie wurden zu An­werbern von billigen Arbeits­kräften in den indianischen Gemein­schaf­ten, zu Landverwal­tern oder manchmal auch zu Land­be­sit­zern und damit zum wichtigsten Element des Zwangs­ar­beits­sy­stems sowie der Inte­res­sen­ver­tre­tung des Staates und der Kaffeeoligarchie in den indiani­schen Gebieten.
Während in den anderen mit­tel­amerikanischen Län­dern der Begriff “Ladino” zum Ende des letz­ten Jahr­hunderts durch “Mestizo” ersetzt wurde, bekam er – so die US-amerikanische An­thropologin Carol Smith – in Guatemala eine neue Bedeutung: Un­terdrücker in den indianischen Gebie­ten des westlichen Hoch­lan­des oder heimatloser Wander­ar­beiter in den Städten oder an der Südkü­ste. Es formte sich jene eth­nische Grenzziehung heraus, die in Guatemala bis heute Be­stand hat. Auf der einen Seite eine extrem heterogene ge­sell­schaft­li­che Gruppe aus Nach­fah­ren spanischer Eroberer, Ein­wan­derInnen und Ladi­nas/os, auf der anderen die indianische Be­völ­ke­rungs­mehrheit. Der Be­griff “Ladino” entwickelte sich dabei im 20. Jahrhundert zu ei­nem Synonym für die ge­samte gesell­schaft­lich do­minierende Gruppe. Auch wenn sich viele europäi­sche Nachfahren bis heute da­ge­gen wehren, als La­dino/as bezeichnet zu wer­den – sie betrachten sich als “Weiße” – hat sich der Be­griff im allgemei­nen Sprachgebrauch durchge­setzt. Zusammengehalten werden sie von einer ge­meinsamen Defi­ni­tion als “nicht-indianisch”, dem Glauben an die guatemal­tekische Nation und an die Auf­recht­er­hal­tung ihrer ge­sellschaftlichen Macht­po­sition. Es entstand damit jene unglück­selige Glei­chung Ladino + Macht + Unter­drückung = Staat + Nation, der sich die india­nische Bevölkerung seit langer Zeit gegenüber sieht.

Indígenas und Nation

Der Staat propagierte seine Politik nach dem Motto: Wer in unser natio­nales Boot will, muß sich anpassen. Dieser Homoge­ni­sierungs- und Assimilie­rungs­an­spruch stand jedoch im offenen Widerspruch zu einer Pra­xis, in der die in­dianische Bevölkerung als billige, ausbeut­bare Masse eingeplant war. Daß sich diese mit einem solchen Staatsgebilde nicht identi­fizieren konnte, liegt auf der Hand: Der gua­temalte­kische Nationalstaat hatte ihnen nie etwas anderes zu bieten als Unterdrückung, Aus­beu­tung und Raub. An­fang des 20. Jahrhunderts hatten die in­dia­ni­schen Ge­mein­schaften et­wa die Hälfte des Landes ver­loren, das noch während der Ko­lo­nial­zeit in ih­rem Besitz war. Da­her hatte die india­nische Be­völ­ke­rung auch nie ir­gend­welche Er­war­tung­en oder An­sprü­che an den Na­tio­nalstaat – aus­ser, daß er sie in Ruhe läßt.
Dies änderte sich erst in der zweiten Hälfte dieses Jahrhun­derts. Die kurze demokratische Phase zwi­schen 1944 und 1954 und vor allem die folgenden “Modernisierungsbestrebungen” ge­genüber der ländli­chen Bevöl­ke­rung verän­derten die Bezie­hun­gen zwischen Staat und indiani­scher Bevölkerung. Ironie der Geschichte: Gerade die auch als “vorbeugende Aufstandsbe­kämpfung” ge­planten ländlichen Ent­wicklungsmaßnahmen wie Ko­ope­rativenprojekte oder kirch­li­che Bewußtseinsar­beit ver­än­der­ten bei einem Teil der indianischen Be­völkerung ihre Ein­stellung zum Nationalstaat. Sie be­gann soziale und ökonomi­sche Forderungen an den Staat zu stellen. Dieser Prozeß mün­dete Ende der 70er Jahre schließlich in eine offene Unter­stüt­zung der revolutionären Be­we­gung durch große Teile der in­dianischen Bevölkerung. Die re­volutionäre Bewe­gung war zwar nicht aus der indianischen Be­völke­rung heraus erwachsen, viele Mayas sahen darin aber eine Chance zur grundlegenden Ver­besse­rung ihrer Lebensum­stände. Zum ersten Mal in der Ge­schichte Guatemalas hatte sich damit ein größe­rer Teil der in­dianischen Bevölkerung einer natio­nalen Bewegung ange­schlos­sen, die sich eine grundle­gen­de Veränderung des Staates auf die Fahnen geschrieben hatte. Sie wa­ren zu Akteuren auf natio­naler Ebene geworden. Ge­rade diese Allianz über die ethni­sche Grenze hinweg mit anderen gesellschaftli­chen Gruppen wie ökono­misch ausgebeuteten Ladi­nas/os, StudentInnen, städ­tischen Ge­werkschafts- und Volks­or­ga­ni­sationen war es, die die herr­schenden Machtverhält­nisse ernst­haft in Frage stellte. Die in­dia­nische Bevölkerung wurde al­ler­dings zum Hauptziel der Auf­standsbekämp­fungs­maß­nah­men.
Mit der Beendigung des be­waff­neten Konfliktes im Dezem­ber 1996 beginnt sich Guatemala lang­sam aus der politischen Er­star­rung zu lösen, die das Land fast 20 Jahre lang be­herrschte. Heute geht es um die Frage: Wie muß die Nation aussehen, mit der sich alle in Guatemala le­ben­den Bevölkerungsgrup­pen iden­ti­fi­zieren können? Dazu gibt es sehr verschie­dene Meinungen und Szenarien. Es ist zu beob­ach­ten, daß Mayas in dieser Dis­kus­sion mit durchaus unter­schied­lichen Stand­punkten kräf­tig mitmi­schen. Die Initialzün­dung lieferte das Indígena-Ab­kommen. Während die meisten Maya-Organisatio­nen sich dieses Ab­kommen zu eigen machen, es studie­ren, verbreiten, damit ar­bei­ten, ihre Forderungen und politischen Perspekti­ven daraus ableiten, scheint die Mehrheit der Ladinos der Auffassung zu sein, daß dieses Abkommen sie nicht betreffe. Die Soziologin Marta Casaus stellt dazu fest, daß die guatemalteki­sche Gesell­schaft eine “überaus rassistische ist, die sich in einer langsamen Metamorphose von einer biolo­gi­stischen Sichtweise zu einem Selbstverständnis unter kul­tu­rel­len Gesichts­punkten” befin­det. Weiter meint sie: “Im Indí­gena-Abkommen ist erstmalig die Exi­stenz dieses rassisti­schen Staates anerkannt worden”, und fordert die Ladinas/os dazu auf, “unsere Position als Ladi­nos neu zu bewerten und danach mit an­deren darüber (zu) diskutieren, mit wem und wie wir ein multikul­turelles, pluriethnisches Land aufbauen. Wir haben gar keine Basis, um ein einheitliches Land aufzu­bauen, das wäre künst­lich.” Allerdings sind sol­che Meinungen bis heute die Aus­nahme unter der ladini­schen Be­völkerung.

Verkrustungen und Abwehrkämpfe

Die traditionell herr­schenden Sektoren unter den Ladinos – dazu gehören große Teile der Regierung und viele Militärs – lehnen solche Po­si­tio­nen rundweg ab und torpe­dieren das Indígena-Abkommen. Sie wol­len dessen Umsetzung ver­hin­dern, da sie ihre bislang pri­vi­le­gierte Position ge­fährdet sehen.
Das Argument, auf das sich die herrschenden La­dinos zur Ver­teidung ihrer Position bezie­hen, ist para­doxerweise das Recht auf Gleichheit für alle. Kürz­lich brachte ein konservati­ver Abgeordneter im Par­lament einen Entwurf für ein Anti-diskri­minierungs­gesetz ein, nach dem “niemand als Person oder als ethnische Gruppe vor dem Ge­setz diskriminiert, bevorzugt oder besonders behandelt werden darf”. Solche Initiativen werden von vielen Mayas als An­griff be­trach­tet. Juan León von der Defensoria Maya meint dazu: “Wenn wir von unseren Rechten reden, sa­gen sie: ‘Das geht nicht, vor dem Gesetz sind wir alle gleich.’ Sie verdrehen die Argu­men­tation und recht­fertigen da­mit ihr diskrimi­nierendes Ver­hal­ten. Sie meinen, daß die Anerken­nung von Indígena-Rechten gleichzeitig eine Dis­kri­mi­nierung von anderen Völ­kern bedeute. Sie fühlen sich unterlegen, weil deut­lich wird, daß sie selbst nur sehr wenige eigene Werte haben. Aber das ist nicht unser Problem.” Den Vor­wurf von ladinischer Seite, die Mayas wollten jetzt den Spieß umdrehen und sich für die erlit­tenen Unge­rechtigkeiten rächen, weist er zurück: “Unsere Prinzi­pien sind nicht ausgren­zend. Diese Ängste müssen sie über­winden”.
Trotzdem sehen sich viele Ladinos/as durch die For­de­rungen der Maya-Organisatio­nen in ih­ren “Rechten” bedroht und beharren umso stärker auf der Gleichheit aller vor dem Ge­setz. Weit verbrei­tet ist unter ih­nen auch die Meinung, die Ma­yas seien diejenigen, die ihre Identi­tät und ihre Position zum Nationalstaat klären müß­ten, die Positon der Ladi­nas/os sei klar und bedürfe keiner Diskussion. Dahin­ter steht die Überzeugung, die Ladinas/os seien die “wahren GuatemaltekIn­nen”. Indirekt ist damit die alte ladinische Forde­rung an die Mayas verbunden, sich zu assimilieren. Gustavo Palma erklärt diese Situation damit, daß die guatemaltekische Ge­sellschaft weiterhin hoch­gra­dig autoritär und rassi­stisch geprägt sei. Solange viele Ladi­nos für sich die Bezeichnung “Mestize” zu­rückwiesen, weil die­se für sie ein Eingeständnis der Tatsache sei, daß sie in ih­rer Herkunft auch indiani­sche An­teile haben, sei auch die Aner­ken­nung der kulturellen und eth­ni­schen Vielfalt, von Indígena-Rechten extrem schwierig. Unter der Hand gelte das Thema der multikulturellen Gesellschaft als “gefährlich” und werde deshalb abgewehrt.

(K)Eine Bildungsreform

Die derzeitige Regierung ver­folge, erläutert Palma, eine dop­pel­bödige Strate­gie. Einerseits habe sie mit dem Friedensschluß den neuen Diskurs von der “Viel­falt in der Einheit” über­nom­men. Gleichzeitig benutze sie aber weiterhin den mehr als ein­hundert­jährigen Diskurs vom ho­mogenen Nationalstaat Gua­te­ma­la: “Guatemala den Gua­te­mal­te­ken” und “Wir sind alle Guatemalte­ken”. Dieser zweite Dis­kurs ist offensichtlich der weitaus stabilere, er ist fest im Denken verwurzelt und wird sich wahrscheinlich noch lange hal­ten. So wi­dersprechen nach Palma beispielsweise die der­zei­ti­gen Maßnahmen im Bil­dungs­be­reich im Grunde den In­halten des Indígena-Abkom­mens. Hier sei ab­zulesen, daß die Regierung die alte, homogenisie­rende Linie wei­ter verfolge und nicht ernst­haft an Refor­men im Sinne einer neuen nationalen Vi­sion der “Viel­falt in der Einheit” in­te­res­siert sei. Als Basis der jetzt betriebenen Maß­nahmen be­schreibt er das Bildungspro­gramm Educación para la Paz (“Erziehung für den Frie­den”). Dieses berücksich­tige aber die Themen Zu­sammenleben, Re­spekt vor den anderen, Toleranz, eth­nische Vielfalt überhaupt nicht. “Im Indígena-Ab­kommen steht, Rassismus und Diskrimi­nie­rung müs­sen bekämpft wer­den. Aber diese eliminiert man nicht einfach so per Dekret. Das wäre absurd. Es ist ja schön, es als großes, allge­meines Ziel für das ganze Land zu formulieren – aber wie das erreichen? Im Bil­dungs­bereich könnten Wege auf­ge­zeigt werden, aber wenn wir sehen, was die Regierung hier macht, wird die Diskrepanz zwi­schen Diskurs und Praxis deut­lich. Bis heute versucht die Regierung einzig und allein, die homogenisie­rende Vision auf­recht zu erhalten.”
Er berichtet von dem von der Präsidentengattin per­sönlich ge­förderten Projekt Libres y Tri­unfadores (wörtlich: “Freie und Sieg­reiche”), das kürzlich in den staat­lichen Schulen zur Förde­rung der Moralerzie­hung von Ju­gend­lichen eingeführt wurde: “Das Programm geht davon aus, daß alle von Gott geschaf­fen wur­den und deshalb gleich sind. Ein schreckli­ches, autoritäres Prinzip, das den Anschein er­weckt, alles andere zähle nicht. Er­reichen wollen sie zweier­lei: in der Primarstufe Ge­horsam, in der Sekundar­stufe Keuschheit. Damit wollen sie Schafe erzie­hen, ohne Fähigkeit zur Kritik – in allen staatlichen Sekun­dar­stufen arbeiten sie be­reits damit.”
Obwohl im Indígena-Ab­kom­men die Bildung ei­ner Ko­mis­sion zur Erar­beitung von Bil­dungs­re­formen im Sinne einer multikulturellen, plurieth­nischen und vielsprachigen Nation Gua­te­mala verein­bart wurde, die ihre Arbeit allerdings noch gar nicht begonnen hat, verkündet die Vize-Bildungsministe­rin, die Bil­dungsreform in Guatemala sei zu 80 Pro­zent abgeschlossen. Gegen diese Politik der schönen Worte und der gleichzeitig voll­en­deten Tatsachen müssen sich die Maya-Or­ganisationen be­haup­ten, die ihr Recht auf Unterschied­lichkeit einfordern. 120 Maya-Organisationen ha­ben ihr Interesse an einer Mitarbeit zur Formulierung der Bildungs­reform bekun­det, von Seiten der Regie­rung liegen dagegen noch keine Vorschläge über die Beset­zung eines entspre­chenden Gre­miums vor. Gustavo Palma dazu: “Das zeigt das enorme Interesse der Mayas, diesen Gestal­tungs­raum auszufüllen. Die Re­gie­rung, die Ladinas/os hingegen ignorieren diesen, weil nur die homogenisie­rende Sicht repro­duziert werden soll. Das wird sehr bald zu Problemen führen, weil die Mayas dabei sind, kon­krete Vorschläge aus­zuarbeiten, die Regierung hingegen darauf überhaupt nicht vorbereitet ist. Man kann daraus schließen, daß es von Seiten der Regie­rung über­haupt keine Be­reitschaft gibt, das Indí­gena-Abkommen um­zuset­zen. Die Regierung hat die­ses Abkommen aufgrund in­ter­nationalen Drucks un­ter­zeich­net, nicht aus in­haltlicher Über­zeu­gung.”

“Vielfalt in der Einheit” vs. “Wir sind alle Guatemalte­ken”

Obwohl die Strategien des Kampfes, die themati­schen Schwer­punkte und ideologischen Aus­gangs­punkte der in der Koordi­nation COPMAGUA (Co­or­dinación de Organi­sa­cio­nes del Pueblo Maya de Gua­te­mala) zu­sammen­geschlossenen Maya-Or­ga­nisationen sehr unter­schied­lich sind, ver­bindet sie die hi­sto­ri­sche Erfahrung der Aus­gren­zung, Diskriminierung, Re­pres­sion und des Wider­standes. All­er­dings inter­pretieren die in COP­MA­GUA zu­sam­men­ge­schlos­senen Grup­pen die jüngere Ge­schichte Guatemalas auf sehr ver­schie­dene Art und Weise. Zwei Hauptströ­mungen lassen sich unter­scheiden, die beide, bei al­ler Differenz, als wichtigste For­derung das Recht der Mayas auf Unterschied­lichkeit for­mu­lie­ren und diese auch gemeinsam tra­gen.
Die eine Fraktion bilden die Mayas innerhalb der Volksorga­nisationen und der Guerilla na­he­ste­hende Indígenas. Diese geht da­von aus, daß der bewaff­nete Kampf zwar keine wirklichen Lösungen für die Probleme der Indígenas in puncto Ausgren­zung, Diskriminierung und öko­no­mischer Ungleichheit gebracht habe, jedoch eine wichtige Phase im Kampf gewesen sei. Ihr Hauptar­gument: Wenn auch das ur­sprüngliche Ziel einer grund­legenden sozialen Umgestaltung der gua­temaltekischen Gesell­schaft nicht erreicht werden konnte, so ist dennoch festzu­halten, daß es ohne den bewaff­neten Kampf auch kein Indígena-Ab­kommen gäbe, mit dem jetzt alle Maya-Organisa­tionen poli­tisch arbeiten können. Trotz aller Kritik an der ladinisch dominier­ten Guerilla-Führung und daran, daß der Kampf der URNG auf die Änderung der ökonomischen Situa­tion ausgerichtet war und die der kulturellen Verhält­nisse auf einen späteren Zeitpunkt ver­schoben wurde, sieht dieser Flü­gel die Erfahrungen aus dem bewaffneten Kampf als wertvoll an. Viele derer, die diese Posi­tion vertreten, beteiligten sich – zumindest zeitweise – direkt oder indi­rekt als UnterstützerInnen an diesem Kampf und blic­ken auf diesen als einen wichtigen Lern­prozeß zu­rück, auf dem sie ihre heu­tige Arbeit fundieren.
Ein Vertreter dieser Fraktion innerhalb des Maya-Spektrums ist Juan León von der Defensoria Maya: “Es lag vielleicht am hi­sto­rischen Zeitpunkt, daß die In­dígena-Frage nicht konsequent ver­folgt wurde. Aber wir haben an der Formulierung der Abkom­men mitgearbeitet und sowohl Regierung als auch URNG haben Flexibilität gezeigt, indem sie gdas Pro­blem des Rassismus und die Forderung nach Mul­ti­eth­ni­zi­tät anerkannt ha­ben. Das war ein großer Fortschritt, da gibt es kein Zurück mehr. Jetzt müssen wir uns überlegen, wie wir den plurikulturellen Staat wollen, als Zukunftsvision. Das ist für mich zwar ein Traum, der noch weit ent­fernt ist, aber wir müssen jetzt damit anfangen, un­sere kol­lek­ti­ven Erfahrun­gen aufzugreifen, denn Identität ist kollektiv. Un­ser Vorschlag ist, die Viel­falt zur Grundlage der neuen Nation zu machen. Erst einmal soll jede Grup­pe ihre Po­sition fin­den. Dann können wir in einen Dialog tre­ten und ge­meinsam sehen, was wir daraus machen. Die Iden­tität zu stärken, ist be­reichernd für beide Seiten, denn auch viele Ladinos wurden durch die Repres­sion und Milita­ri­sie­rung in ihren Prozessen be­hin­dert. Ein Widerspruch zwi­schen ethnischer und nationaler Iden­ti­tät besteht doch nur für die Mächtigen. Sie be­harren auf der Idee, alle GuatemaltekInnen seien gleich, um die Vielfalt nicht anerkennen zu müs­sen.”
Die andere Strömung in­ner­halb von COPMAGUA lehnt den be­waffneten Kampf voll­ständig ab und vertritt die Mei­nung, daß der Krieg nie die Sa­che der Mayas gewesen sei. Viel­mehr seien die Mayas im Bürgerkrieg von beiden Seiten in gleicher Weise mißbraucht wor­den. Ihre For­derungen begründen sie in erster Linie ethnisch-kul­turell. Einer der re­nommiertesten Ver­tre­ter dieser Gruppe ist De­metrio Cojtí. Auch er macht das Recht auf Unterschiedlich­keit zum Aus­gangspunkt seiner For­de­run­gen: “Danach können wir nach den Gemeinsamkeiten schauen. So wie momentan die Mode des In­terkul­turellen be­trieben wird, ist es für mich nur eine Fort­führung des Ethnozids: Nur das Gemeinsame wird be­tont und das ist in der Re­gel das Ladinische. Da ha­ben wir dann wieder die Dominanz. Die Anforde­rungen an Veränderun­gen werden nur an uns Mayas gestellt. Da gibt es kein Gleich­gewicht.”
Anhand dieser Aussagen wer­den die unterschiedli­chen Grund­po­sitionen deutlich. Wäh­rend Juan León die visionäre Zielvor­stel­lung einer plurikul­turellen Nation formuliert, ist für Cojtí Interkulturalität zur Zeit kein Thema. Pro­vozierend fügt letz­te­rer noch hinzu: “Es ist ja auch noch nicht geklärt, ob wir über­haupt mit den Ladinos in ei­nem ge­meinsamen Staat zusam­men­le­ben wollen.” Gerade diese Aus­sage ist Wasser auf die Mühlen jener Ladino/as, die, in die De­fen­sive ge­drängt, das Ende ihrer Vormachtstellung be­fürchten und den Teufel ei­nes Aus­ein­an­der­brechens des gua­te­mal­te­ki­schen Staates an die Wand malen. Zuweilen geisterte schon das Wort von “jugoslawischen Verhält­nissen” durch die Kom­men­tarspalten der Presse.

Ladinas/os sind gefordert

Sicherlich liegt in dem Thema großer Zündstoff, allerdings ver­laufen die Hauptkonfliktli­nien weiter­hin zwischen der indiani­schen Bevölkerung und der la­di­ni­schen Machtelite. Die näch­sten Monate werden zeigen, ob es ge­lingt, aus der bewaffne­ten Aus­ein­an­dersetzung in eine Phase überzuleiten, in der eine breite und Vertrauen schaf­fende, ge­sell­schaftliche Diskussion über die Zu­kunft der guatemalteki­schen Nation mög­lich ist. Eines jedoch dürfte klar sein: Ohne eine Anerken­nung des Rechtes auf Ei­genständigkeit und Unter­schied­lichkeit der Mayabe­völ­ke­rung geht nichts. Die Ladino/as sind hier gefor­dert.

KASTEN

Zu den im Artikel er­wähnten Personen:

Marta Casaus ist gua­te­maltekische Soziologin, Pro­fes­sorin an der Univer­sidad Au­tónoma in Madrid und Au­to­rin verschiedener Pub­li­ka­tionen über ladini­sche und nationale Identität in Guate­mala.
Demetrio Cojtí gilt als einer der Vordenker der Intel­lek­tuellen innerhalb des Teiles der Maya-Be­wegung, die ih­ren Kampf in erster Linie eth­nisch-kulturell begründet.
Juan León ist Mitbe­gründer von der Campesina/o-Orga­ni­sa­tion CUC und der Or­ga­ni­sa­tion zur Verteidigung der In­dí­genarechte Defensoria Ma­ya. León blickt auf eine lan­ge Ge­schichte des Kam­pfes von Mayas inner­halb der Volks­organisatio­nen zurück. Bei den Wah­len 1995 war er Vizeprä­sident­schafts­kan­didat der Oppo­sitionspartei FDNG.
Alfonso Monroy ist als Ver­treter der Widerstands­dörfer im Petén und der “Bera­ten­den Ver­sammlung der Ent­wur­zelten Bevölke­rung” Mit­glied der Komis­sion für Er­zie­hungsrefor­men in COP­MA­GUA und dort einer der we­nigen La­dinos.
Gu­sta­vo Palma ist Histo­ri­ker und forscht im Rah­men sei­ner Tätigkeit am Sozial­for­schungs­institut AVANC­SO seit einigen Jahren zu Fra­gen nationaler Identität in Gu­a­te­mala.

Quo vadis?

Tiefe Seufzer und gequälte Augenaufschläge waren die wie­derholte Reaktion auf meine Frage an verschiedene namhafte “Lin­ke”, wer heute “die Linke” in Guatemala und welche ihre Per­spektive sei. Das gemeinsame La­mento der URNG-Angehöri­gen, der “DissidentInnen” und der schon immer Unabhängigen ist, daß “die Linke” mit Aus­nah­me derjenigen, die sich unter dem Dach der Ex-Guerilla URNG wiederfinden, auf viele Klein­gruppen verteilt bzw. nicht organisiert ist. Auch fehle ihr eine gemeinsame Position oder gar Strategie angesichts der neo­liberalen Durchmarschpläne, mit denen die Regierung in die Nachkriegszeit zieht.
Aber Kla­gen beiseite, es gibt sie, die Linke. So gehört es zur neuen Konjunktur nach den Frie­dens­abkommen, daß in Zei­tungs­ko­lumnen, in neugegründeten Zeit­schriften und gutbesuchten Po­di­umsdiskussionen über eben die­se Fragen debattiert wird. Zwi­schen zurückgekehrten URNG-Kadern, schon länger heim­gekehrten Dis­sidentInnen, jun­gen AktivistIn­nen und denen, die irgendwie die Repres­sions­jah­re im Land über­standen ha­ben, hat ein Prozeß der Be­geg­nung, des Kennenler­nens und Wie­dererkennens be­gon­nen, der ne­ben den öffentli­chen Schau­plä­tzen in vielen pri­vaten Zu­sammenhängen stattfin­det.
Die gegenseitige Vermittlung von zehn, fünfzehn, zwanzig Jah­ren unterschiedlicher Erfah­run­gen, das Anhören anderer Wertungen über vermeintliche Erfolge oder Niederlagen wäh­rend der Kriegsjahre und die gemeinsame Trauer um verlo­rene FreundInnen und Angehö­rige brauchen ihre Zeit. Nicht immer enden sie harmonisch. Auch die Zersplittertheit der Linken am Rande der URNG selbst ist ein Produkt des 36jährigen bewaffneten Kon­flikts. Des­sen Logik erstickte, so­zu­sagen bis vorgestern, jeden Versuch einer linken Formierung au­ßerhalb der URNG: Entspre­chend der allumfassenden Dok­trin des Aufstandsbekämpfungs-Staats verfolgten und vernichte­ten die repressiven Regimes alle An­sätze von Opposition.
Die URNG ihrerseits ak­zep­tier­te in­folge ihrer militärisch-po­liti­schen Macht­er­grei­fungs-Stra­te­gie keine Gruppie­rung, die au­ßerhalb oder innerhalb der ei­ge­nen Reihen ihren Avantgarde-An­spruch in Frage stellte. Im Lau­fe ihrer 15jährigen Existenz hat sie dies auf allen Ebenen vie­le Kader gekostet.

Vom Primat des Militärischen

“Die Praxis der URNG cha­rak­terisierte sich durch drei Ele­men­te: das Primat des Mi­li­tä­r­i­schen über die Poli­tik, die Aus­wei­tung der konspi­rativen Me­tho­den auf politische Ebenen, und die Notwendigkeit, andere po­litische Kräfte und so­ziale Or­ga­ni­sationen zu lenken und zu kon­trollieren. Der Blick durch die militärische Brille po­la­ri­sier­te die Sicht auf soziale und po­li­ti­sche Aspekte. Die ei­gene Kampf­form wurde verab­so­lu­tiert, und wer mit der Fort­füh­rung des bewaffneten Kam­pfes nicht einverstanden war, endete da­mit, als Gegner be­trachtet zu wer­den. (…) Abge­se­hen davon, daß diese einge­schränkte und sek­tiererische Sichtweise zur Auf­splitterung der Linken bei­ge­tra­gen hat, mach­te sie die realen Ver­bünde­ten sozusagen un­sicht­bar”, resü­miert Megan Thomas in einem Dis­kussionsbeitrag über die Zu­kunft der Linken in der neu­en Zeitschrift Aportes.
All die “Ehe­maligen”, so ihre Schluß­folgerung, stellen jedoch ne­ben den vielen, die in URNG-un­ab­hängigen Strukturen in der ei­nen oder anderen Weise für so­zi­ale Veränderungen, Ent­mili­ta­ri­sie­rung und reelle De­mo­kra­ti­sie­rung gearbeitet haben, ein gro­ßes Potential dar. Mit grö­ße­rem Bündnisgeschick und -wil­len als bisher könnte dies in ei­nem neuen linken Projekt zu­sam­men­gebracht werden: “Not­wen­dig ist eine wirkliche De­mo­kra­ti­sie­rung der politischen Praktiken der Linken. Unser Diskurs über De­mokratie, Respektierung der Viel­falt und Verschiedenheit ver­liert angesichts von Prakti­ken, die dem tagtäglich wider­spre­chen, an Glaubwürdigkeit.”

Die URNG konstituiert sich als Partei

Ohne Zweifel ist die URNG wei­terhin die bedeutendste Kraft im Lager der guatemaltekischen Linken. Ihre Mitgliedsorganisa­tionen haben sich in den ersten drei Monaten des Jahres sukzes­sive aufgelöst und damit den Pro­zeß des Parteiaufbaus einge­lei­tet. Über die zukünftige Partei ist bisher wenig Konkretes durch­gedrungen. Auf einer De­legierten-Vollversammlung in El Sal­vador im März wurde – Ver­laut­barungen zufolge ohne Pro­porz­rücksichten auf die Stärke der einzelnen URNG-Mitglieds­or­ganisationen – ein 15 köpfiger “Pro­visorischer Nationalrat” ge­wählt, dem die bisherige Gene­ral­kommandantur der URNG vor­steht.
Ein Parteiprogramm und die Sta­tuten werden zur Zeit aus­ge­ar­beitet und sind somit bis­lang nicht veröffentlicht. Be­kannt ist aber, daß es eine offene Massen­partei werden soll, wenn­gleich sich die Struktur zunächst na­tür­lich auf die bisherigen Kämpfer­Innen der URNG stüt­zen wird. Über Allianzen – so Miguel An­gel Sandoval, ehema­liges Mit­glied der Politisch-Di­plo­ma­ti­schen Kommission der URNG und weiterhin Kader der URNG – wer­de man sprechen können, wenn es Gruppen neben der URNG gibt, mit denen Bünd­nis­se möglich sind. Bisher sehe er nur einen verstreuten Haufen klei­ner Grüppchen. Eine Aus­nah­me bilde die Partei der De­mo­kratischen Front Neues Gu­a­te­mala FDNG (Frente De­mo­crá­ti­co Nueva Guatemala), mit der ein strategisches Bündnis ge­sucht werde.

Klarheit tut not

Schwer behindert wird der Weg zur offiziellen Parteikon­stituierung dadurch, daß Rodrigo Asturias, Ex-Kommandant Gas­par Ilom der ORPA (der URNG-Teilorganisation Organi­zación Re­volucionaria del Pue­blo en Ar­mas, Revolutionäre Or­ga­ni­sa­tion des bewaffneten Vol­kes) und Mitglied des Provisori­schen Na­tionalrats, bislang nicht nach Guatemala zurückgekehrt ist. Grund dafür ist die Entfüh­rungs-Affaire vom Oktober ver­gan­genen Jahres, die weiterhin un­an­genehme Wellen schlägt.
Zur Erinnerung: Im Laufe des ver­gangenen Jahres entführte ein nach ORPA-Lesart autonom agie­rendes Kommando von ORPA-Mitgliedern die Industri­el­len-Greisin Olga de Novella. Die Aktion endete mit der Fest­nahme des Kommando-Verant­wortlichen Rafael Baldizón alias Comandante Isaías, der nach dis­kreten Verhandlungen auf höch­ster Regierungs- und URNG-Ebe­ne im Austausch ge­gen die Ent­führte freigelassen wur­de. Als die Ultrarechte die ganze Ge­schichte ans Tageslicht zerrte, kam es zum Abbruch der Frie­dens­verhandlungen, bis Ro­dri­go Astu­rias mit seinem Rück­zug vom Verhandlungstisch die Fort­set­zung ermöglichte.

Stillschweigen über ein unschönes Detail

Inzwischen wurden der Presse Informationen zugespielt, daß sei­nerzeit nicht nur Comandante Isaías festgenommen wurde, sondern noch ein weiteres URNG-Mitglied, Juan José Ca­brera Rodas alias Mincho. Min­cho wurde offenbar nach der Festnahme zu Tode gefoltert, und offensichtlich war es Teil der diskreten Austauschvereinba­rung zwischen Regierung und URNG, über dieses häßliche Detail Stillschweigen zu wahren. Als nun in den Zeitungen die er­sten Fragen über den Verbleib von Mincho gestellt wurden, lie­ßen sich Regierung und URNG/ ORPA zu bizarren und teilweise makabren Erklärungen hinrei­ßen, in denen sie die Exi­stenz dieser Person negierten. Ange­sichts der Ergebnisse erster Nachforschungen, die die UNO-Mission für Guatemala MINU­GUA auf Antrag von Familien­angehörigen durchführte, sind solche Äußerungen jedoch nicht länger möglich. Erklärungen beider Seiten stehen aus.
Die politische Bedeutung die­ses Vorfalls ist vielschichtig. Ein­deutig werden die Informa­tionen, wie schon zu Beginn des Entführungsskandals, gemäß dem Zeitplan und Kalkül der Hardliner-Fraktion aus den Rei­hen der Armee und der ultra­rech­ten Oppositionspartei FRG (Fren­te Republicano Guatemal­te­co) gestreut. Sie sind scharfe Muni­tion, gegen den Präsidenten und sein Kabi­nett, im anhalten­den Macht­kampf in­nerhalb der Ar­mee und zur Diskreditierung der URNG. An dieser Stelle will ich mich auf die Konsequenzen für die URNG beschränken.

Politischer Schaden für die URNG

Ro­dri­go Asturias, der URNG-Kom­man­dant mit dem stärksten Cha­risma und der meisten Poli­tik­erfah­rung, galt als sicherer Prä­sident­schaftskandidat und po­li­tische Leitfigur der künftigen Par­tei. Der Entführungsfall in all seinen Facetten ist daher für die Rechte auch innerhalb der regie­ren­den “Partei des Nationalen Fort­schritts” (PAN) ein reichhal­tiges Arsenal, um ihn als politi­sche Figur völlig in Verruf zu brin­gen. Gleichzeitig hat dieser Fall eine zersetzende Wirkung in den Reihen der URNG und der ehe­maligen ORPA selbst: Die an­de­ren URNG-Mit­glieds­or­ga­ni­sa­tionen werden es irgendwann mü­de sein, die eklatanten politi­schen Fehler der ORPA mitzu­be­zah­len. Und auch unter den ORPA-Mitgliedern ist Unmut zu hö­ren über die Linie der Füh­rung, die nicht nur Co­mandante Isa­ías verleugnete, sondern of­fen­sichtlich auch dem zu­stimm­te, daß die Folter und Er­mordung ei­nes ihrer Kamera­den ungestraft bleibt. All diese un­schönen De­tails erfahren einfa­che URNG-Mit­glieder wie an­dere auch aus der Tagespresse. Das hat nicht ge­rade einigende Wirkung.
Auch die Demobilisierung der Ex-KämpferInnen, die inzwi­schen abgeschlossen wurde, birgt Un­sicherheitsfaktoren für den künf­tigen Zusammenhalt der URNG. Für viele GenossInnen wa­ren deren konkrete Umstände ein bitteres Erwachen. Beim Ver­lassen der Demobilisie­rungs­la­ger erhielten sie drei Mo­nats-Schecks in Höhe von insge­samt 3.780 Quetzales (rund 635 US-Dol­lar) als dreimonatiges “Aus­bil­dungs-Stipendium”, dazu je 30 Quetzales (5 US-Dollar), für die Busfahrt vom Ende des Sam­mel­transports zum An­kunftsort. Über Inhalt, Ort und Kon­di­tio­nen der Fortbildungs­kurse konn­te mir in drei Lagern kei­neR der “Be­günstigten” Aus­kunft geben. Es gibt lediglich vage Aussichten auf weitere Exi­stenz­grün­dungs­hil­fen, ungefähr in Höhe des ge­nann­ten Stipendi­ums. Über die Fru­stration und Zukunftsangst in den Reihen der Demobilisierten kann sich ange­sichts dieser Um­stän­de jedeR eine eigene Vor­stellung machen – noch herrscht al­lerdings eine bewundernswerte Dis­ziplin und Vertrauen in die Füh­rung vor.
Es wäre ein Mißverständnis, die­se Darstellungen als Rundum­schlag gegen die URNG zu in­terpretieren. Ein ebensolches Mißverständnis wäre es, die Ge­neralkommandantur mit der URNG gleichzusetzen, oder das eine auf das andere zu reduzie­ren. Während der ersten drei Monate ihres “öffentlichen Le­bens” in den Demobilisierungs­lagern wurde deutlich, daß die jeweiligen Guerillaverbände in der Bevölkerung der Umgebung verankert waren und große Achtung genießen. Ebenfalls traten die zahlreichen Kader auf mittlerer Ebene ans Licht der Öf­fentlichkeit.

Gehversuche als (parla­mentarische) Opposition

Nun werden sie Gelegenheit ha­ben, ihre politi­schen und mensch­lichen Füh­rungs­qua­li­tä­ten im zivilen Rah­men ein­zu­se­t­zen. Die URNG stellt ein großes po­litisches Po­tential dar. Ihre Füh­rung wird hoffentlich in der La­ge sein, den schwierigen Über­gangsprozeß von der klan­de­st­inen, militäri­schen Grup­pie­rung zur offenen, poli­ti­schen Or­ga­nisation zu lei­ten und da­bei Raum für eine neue Führ­ungs­ge­ne­ration und Allianzen zu öf­f­nen.
Ende April, anläßlich der er­sten Bilanz zur Umsetzung der Frie­densabkom­men auf Regie­rungs­seite, gab die URNG ihr De­but als zivile poli­tische Oppo­si­tion. Viel beachtet von links und rechts, kritisierte sie die neo­li­berale Wirtschafts­politik der Re­gierung und präzi­sierte ihre ab­lehnende Haltung gegenüber der Privatisierung grundlegender staat­licher Dienst­leistungen, nach­dem Rodrigo Asturias die Ge­werk­schaften mit einer pri­va­ti­sie­rungsfreundlichen Äu­ße­rung von Mexiko aus ver­ärgert hatte. Die Erfüllung der Frie­dens­ab­kom­men ist derzeit der einzig prä­zise Bezugsrahmen für die Poli­tik der URNG. Nun gilt es ab­zuwarten, wann sie wieder ge­nug Luft ho­len kann. Dann muß sie konkre­tisieren, was sie meint, wenn sie sagt, daß die Ab­kom­men nur eine Mini­mal­ba­sis für die De­mokratisierung von Wirt­schaft und Gesellschaft sind.

URNG und FDNG – eine strategische Allianz

Eine weitere Unbekannte auf dem künftigen Weg der Linken ist die Zukunft der FDNG. In ih­rer Gründungsphase von einem wirk­lich breiten Bündnis linker In­tellektueller, Volksorganisa­tio­nen und KleinunternehmerIn­nen ge­tragen, konstituierte sie sich schließlich drei Monate vor den letz­ten Präsidentschafts- und Kon­greßwahlen im November 1995 als Ausdruck der mit der URNG sympathisierenden Volks­bewegung und konnte über­raschend als drittstärkste Par­tei des Landes mit sechs Ab­ge­ordneten in den Kongreß ein­zie­hen.
Nineth Montenegro, eine der FDNG-Abgeordneten, ge­steht in ei­nem Artikel über die Per­spek­ti­ven der Linken selbst­kritisch ein, daß die FDNG bis­lang kein brei­tes Bündnis, son­dern die Iz­quier­da Popular vertritt. Ihre po­li­ti­sche Zukunft hänge davon ab, Tei­le der ver­streuten linken Inte­llek­tuellen, der Frauen- und Indí­gena­bewe­gung und der Mittel­schicht zu gewinnen. Als Be­din­gungen da­für nennt sie, “das ei­ge­ne Haus in Ordnung zu brin­gen”, und das nächste Na­tio­nal­ko­mi­tee demo­kratisch zu wäh­len. Im gua­te­mal­te­kischen Kon­text heißen diese vor­sich­ti­gen Um­schreibun­gen, daß die Par­tei eine wirkliche Un­ab­hängigkeit von der URNG ge­win­nen muß, mit der im übri­gen eine stra­te­gi­sche Allianz an­ge­strebt wird.

Im Bündnis gegen Machtmonopole

Insgesamt ist zu beobachten, daß sich sowohl die URNG als auch die FDNG stark auf die nächsten Wahlen im Jahre 2000 konzentrieren. Sicher hat der Aufbau glaubwürdiger, demo­kra­tischer Wahloptionen eine nicht zu unterschätzende Be­deutung in einem derart abge­wirtschafteten politischen Sy­stem, in dem für die Einführung minimaler rechtsstaatlicher Prak­ti­ken die Waffen erhoben werden mußten. Er kann aber in die Sackgasse führen, wenn die Parteien nicht gleichzeitig daran arbeiten, zum offenen Sprach­rohr und Katalysator der zer­splitterten sozialen Bewegungen zu werden, ohne diese zu domi­nieren oder zu instrumentalisie­ren. Bündnisse zu schaffen und diesen im wohlverstandenen ei­genen politischen Interesse zu dienen, kann dabei durchaus als historische Bringschuld gesehen werden. Denn ausgehend von politischen Strömungskämpfen, die von URNG-Spaltungen aus­gelöst wurden, hat sich bei­spielsweise die Flüchtlingsbe­völkerung gespalten, in Ver­handlungsunfähigkeit gegenüber der Regierung manövriert, und nun verschleißt sie sich gegen­seitig im Ixcán (Grenzregion zu Me­xiko, in der viele Flüchtlings­rücksiedlungen entstanden sind; Anm. der Red.) zugunsten land­gieriger Öl-Firmen.
Gleiches gilt für die 300 Landbesetzungen von Bauern­or­ga­nisationen verschie­de­ner po­li­ti­scher Ausrichtung, die in allen Lan­des­teilen der Ent­faltung der Bündnisfähigkeit ih­rer Führer harren, damit sie nicht länger ein­zeln zu schlagen sind, sondern gemeinsam der Regie­rung Lösungen abtrotzen kön­nen.
Die Regierung ihrerseits be­setzte in den vergangenen Wo­chen fast unangefochten die Schlüssel­positionen verschiede­ner von den Friedensabkommen vor­gesehener Kommissionen mit ih­ren KandidatInnen: Dem Na­tio­nalen Frauen-Forum wurde ohne vorherige Konsultationen mit Aracelli de Conde eine Frau vor­gesetzt, die ihre Politikerfah­rung im Team des Putschisten Jorge Serrano gesammelt hat. Die Nationale Kommission zur Be­handlung der Agrarprobleme führt Luis Reyes Mayen an, ehe­ma­liger Präsident der Agrar­kammer, des Horts der reaktio­nären Unverbesserlichen. (Vor­läu­fig) ist es also so, wie der Ko­or­dinator der Bauern- und In­dí­gena­organisation KABAWIL in ei­nem Gespräch sagte: “… schwie­rig, gegen diese Manöver der Regierung anzugehen, so­lange wir nicht einmal in der Lage sind, gemeinsam eigene Ge­genkandidaten aufzustellen.”
Suche nach Einheit
Die gesamte Marschrichtung zur Umsetzung der Friedensab­kommen hängt daher von der Bündnis- und Handlungsfähig­keit einer Linken ab, die mehr als die URNG und FDNG um­fassen müsste. Die Ausgangsbe­dingungen dafür sind, trotz der geschilderten Probleme, günstig. Denn innerhalb und außerhalb der Hauptstadt ist eine Vielzahl von Initiativen entstanden, die mit viel Schwung damit begon­nen haben, die neu gewonnenen politischen Spielräume zu beset­zen. Lokale BürgerInnengruppen machen den Nachfolge-Instanzen der Zivilpatrouillen das bisherige Macht­monopol auf der lokalen Ebe­ne streitig und gewinnen Ver­handlungsfähigkeit gegen­über den politischen Parteien.
Frauen organisieren sich in ver­schie­densten Landesteilen und nehmen über Re­gio­nal­ko­or­di­na­tionen an den nationalen Fo­ren teil. Dieser Prozeß wird ge­ra­de auch von Indígena-Frauen ge­tra­gen und ist nicht nur in­te­res­sant und wichtig für die Her­aus­bil­dung einer Frauenbewegung auf nationaler Ebene, sondern hat ebenfalls frischen Wind in die Debatten der Indígena-Bewe­gung über die Interpretation von au­thentischer Kultur gebracht. Die Indígena-Bewegung selbst kon­solidiert nach und nach plu­rale, repräsentative Vertretungs­struk­turen und gewinnt Schritt für Schritt Stimme und Gehör auf nationaler Ebene.
Neue Ak­teure arbeiten an neu­en Themen und alle sind sich be­wußt, daß jede zukünftige Ver­änderung der Kräfte­ver­hält­nis­se im Land nur über Zu­sam­men­schlüsse gehen wird. In die­sem Zusammenhang ist es viel­ver­sprechend, wenn aus den Rei­hen der “alten” Akteure zu hö­ren ist, daß künftige Allian­zen nicht als ideologische son­dern als so­zi­ale Bündnisse ge­sucht wer­den sol­len. Im Mo­ment, und wohl ei­ne ganze Weile noch, ist Um­bruch- und Auf­bruch­stimmung an­gesagt, kön­nen von außen nur Fra­gen ge­stellt, aber keine Wer­tun­gen ab­gegeben wer­den.

Editorial Ausgabe 276 – Juni 1997

“Kaffee ist der Duft meiner Heimat Guatemala”, erklärt uns eine alte Frau, mit deren sympathischem Konterfei Tschibo seit einigen Wochen in deutschen Medien wirbt. Die neue Kqfeesorte, deren Duft uns angepriesen wird, trägt den programmatischen Namen ‘Privat Kaffee Guatemala Grande”. Private Kaffeegroßgrundbesitzer -darunter nicht wenige Deutsche -sind mit Anbau und Kommerzialisierung der begehrten Bohne ja auch wirklich groß geworden.
Die andere Seite der Kaffeeproduktion verschweigt uns Tschibo allerdings. War jedoch kein Wunder ist, schließlich eignet sich diese -Landraub durch die Finqueros sowie Unterdrückung und Ausbeutung der indianischen Bevölkerungsmehrheit -nur schlecht, um uns zum Genuß dieses “faszinierenden Kaffees” zu bewegen.
Auch zum Krieg, der nach 36 Jahren gerade zu Ende gegangen ist, schweigt Tschibo. Dabei sind die Zusammenhänge nur allzu deutlich -die Basis der “‘Privat Kaffee“-Produktion war schließlich die jahrzehntelang gut funktionierende Allianz von Agraroligarchie und Militär. Ergebnis dieser Allianz war unter anderem ein semi-feudales System, das die Arbeiterlnnen auf den Kaffeeplantagen zu Quasi-Leibeigenen der Großgrundbesitzer machte. Die damit verbundene Repression und Misere gehörten denn auch zu den Auslösern des Krieges, der zehntausende Tote forderte und mehr als eine Million Menschen zu Vertriebenen machte.
Widerstand gegen das repressive System hatte es schon immer gegeben. Zu einer existentiellen Bedrohung für die weiße und ladinische Herrschaftselite wurden ab Ende der 70er Jahre die Guerillaorganisationen, die sich 1982 zur “‘Nationalen Revolutionären Einheit Guatemalas” (URNG) zusammen-schlossen. Als dritte Befreiungsbewegungklassischen Typs in Mittelamerika konnte sie sich neben der FSLN in Nicaragua und der FMLN in E1 Salvador festsetzen. Neben dieser “Avantgarde” wuchs, vor allem nach dem Übergang des Landes zum formalen Parlamentarismus im Jahre 1986, eine starke Volksbewegung heran, in der sich Opfer von Menschenrechtsverletzungen, lndígenas und Campesinos zu Wort meldeten.
An den Kriegsursachen hat sich bis heute nur wenig verändert, doch seit dem 29. Dezember I996 ist einer der längsten bewaffneten Konflikte zu Ende, der letzte in einem mittelamerikanischen Land. Jenseits der Süd-grenze der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA herrscht nun Frieden -zumindest auf dem Papier. Ein halbes Jahr nach diesem historischen Datum schauen wir -die Lateinamerika Nachrichten und die Informationsstelle Guatemala -,wo das Land steht und welche Perspektiven sich ergeben.
Ob nun neoliberale Notwendigkeiten, der Druck von unten, das Ende des Ost-West-Konfliktes oder eine Kombination dieser Faktoren ausschlaggebend waren: Die unversöhnlichen Fronten zwischen Militär und Guerilla brachen Anfang der 90er Jahre ebenso auf wie die althergebrachten Machtstrukturen. Der Wunsch, die langen Jahre des internen bewaffneten Konflikts zu beenden, wuchs in allen gesellschaftlichen Gruppen. Der Weg bis zur Einigung auf ein Friedensabkommen war dennoch lang und mühselig.
Knapp ein halbes Jahr ist seit dem Friedensschluß vergangen. Die Bevölkerung, soziale und politische Kräfte suchen nach dieser Zäsur noch nach Orientierungen. Aber immerhin: Gesellschaftliche Auseinandersetzungen, die die ganzen Jahre durch die allgegenwärtige Aufstandsbekämpfung unmöglich waren, werden heute geführt. Die wichtigsten Diskussionen und einige der Fragen, die Guatemala bewegen, finden sich auch in diesem Heft: Wie integrieren sich die Guerilleras/os in das gesellschaftliche Leben des Landes? Welche Chancen hat die Landbevölkerung, ihr (Uber-)Leben zu sichern? Wird das Militär für seine grausamen Taten zur Verantwortung gezogen? Auch ideologische Grundfesten des Systems stehen zur Diskussion -vor allem der alltägliche Rassismus der ladinischen Elite gegenüber der indigenen Bevölkerungsmehrheit.
Deutlich wird in allen Beiträgen dieses Heftes: Das Land ist im Um-und Aufbruch. Vieles und viele sind in Bewegung. Der herrschende Neoliberalismus hat widersprüchliche Entwicklungen in Gang gesekt -die vor-schnelle Kategorisierung in richtige oder falsche, gute oder schlechte Entwicklungen verstellt dabei mehr denn je den Blick auf die Realität.
PS: Für die Abonenntlnnen des Guatemala-Infos: Diese Ausgabe der Lateinamerika Nachrichten ist gleichzeitig das Guatemala-Info 2/97.

Abschied von den Bergen

Den Beginn für die Waffen­abgabe und den Eintritt ins zivile Le­ben der URNG-Mitglieder stell­te der sogenannte Tag “D” (für Demobilisierung) dar. Die­ser Tag war zugleich Fixpunkt al­ler die Demobilisierung betref­fenden Maßnahmen und Zeit­punkt des definitiven Waffen­stillstands. Seit dem D-Tag, dem 3. März, überwachten 155 Blau­helme aus 17 Staaten den Frie­den. Die größten Kontingente kamen aus Spanien mit 43 Soldaten, Uruguay mit 20, Bra­silien und Kanada mit je 15; Deutschland war mit vier Mili­tärärzten an der Mission betei­ligt.

Sammeln für den Tag “D”

Den Einheiten der URNG blieben vor dem Tag “D” drei Wo­chen, um sich in den acht vorbe­reiteten Sammelpunkten einzu­finden. Die Gesamtzahl der Kämpfer und Kämpferinnen in­klusive ihrer Kinder lag mit 2959 un­ter der ursprünglich von der URNG angegebenen Zahl von 3614. Die Guerilla erklärte die­sen Umstand damit, daß viele aus Mißtrauen zunächst nur ihre Pseu­donyme angegeben hätten, wo­durch Doppelregistrierungen ent­standen seien. Desweiteren sei­en etwa 400 KämpferInnen nicht in den Sammelpunkten er­schie­nen, da sie sich entschieden hät­ten, direkt zu ihren Familien zu gehen bzw. bei ihnen zu blei­ben.
Die eigentliche Demobilisie­rung erfolgte in vier Etappen. Zu­nächst mußte die URNG ihre ge­samte militärische Ausrüstung mit Ausnahme der persönlichen Waf­fen bis zum Tag “D+42”, dem 14. April, den Vereinten Na­tionen übergeben, bzw. in be­reit­gestellte Container ablagern. Diese wurden durch zwei Schlös­ser gesichert – eines unter der Verantwortung der UNO, das an­dere unter der der URNG. Au­ßer­dem mußte die Guerilla bis zu die­sem Termin alle Waffenver­stecke bekannt gegeben haben. In drei weiteren Etappen von je­weils fünf Tagen gaben bis zum Tag “D+60”, also dem 2. Mai 1997, je ein Drittel der Kämpfe­rInnen ihre persönlichen Waffen ab.
Insgesamt handelte es sich nach Angaben der URNG um 1818 Schußwaffen, 100 Kilo­gramm Sprengstoff, 409 Minen, sowie eine nicht genannte Zahl von Mörsern und Raketen. Die Dis­krepanz zwischen Anzahl von KämpferInnen und Waffen schür­te Gerüchte, die Guerilla habe nicht alle Waffen abgege­ben. Zweifel gab es zum Bei­spiel. bei der Südfront Santos Salazar der FAR, die 150 Kämp­ferIn­nen zählte, jedoch lediglich 70 Waffen abgab.

Mehrstufige Demobilisierung

Verwiesen sei aber darauf, daß im August 1994 während ei­ner Militäraktion drei Mitglieder der FAR festgenommen und 600 Ge­wehre des Typs AK-47 si­cher­gestellt worden waren. Diese im Verhältnis zur Gesamtstärke der FAR und zur Anzahl der ins­ge­samt von der URNG abgege­be­nen Waffen nicht unerhebliche Men­ge, wurde von einem Kom­man­danten der FAR damit er­klärt, daß die Waffen für die Ge­samt­struktur der URNG gedacht waren und durch die Mili­tär­ak­tion der Guerilla ja auch nicht mehr zur Verfügung gestanden ha­ben. Sowohl der Chef der UNO-Mission in Gua­temala, Jean Arnault, als auch die gua­te­mal­tekische Regierung wider­sprachen denn auch den Speku­la­tionen, die Guerilla würde einen Teil ihrer Waffen zurückhalten.
Anläßlich eines Besuches von RepräsentantInnen ziviler Bau­ern- und Indígenaorganisationen im Lager der Guerillaeinheit Luis Ixmatá umriß Capitán Héc­tor in einer kurzen Rede die neu­en Aufgaben der URNG: “Nach 36 Jahren bewaffneter Ausein­an­der­setzungen beginnt eine neue Pha­se des Kampfes. Für den po­li­tischen Kampf und die Schaf­fung einer Partei, die sich grund­sätzlich von allen an­deren Par­tei­en Guatemalas un­terscheidet, ist es unabdingbar, zunächst eine große politische Einheit zu schaf­fen.”
Angegangen wurden die neuen Aufgaben zunächst in den internen Strukturen der URNG. Zur Überwindung der histori­schen Differenzen der Teilorga­nisationen wurde eigens eine “Ho­mogenisierungskommission” ge­schaffen. Zudem wurden im September 1996 in allen Gue­rillafronten “Politische Schulen” eingerichtet, in denen die Kämp­fer und Kämpferinnen seitdem Un­terweisungen in der neuen strategischen Ausrichtung der URNG erhalten. Den Kämpfe­rInnen wurden ihre möglichen zukünftigen Arbeitsfelder erläu­tert, die sich grob in zwei Berei­che unterscheiden lassen: In den politischen Kampf der URNG (Aufbau der Parteistrukturen, politische Allianzen, Wahlen, parlamentarischer Kampf) und in den Kampf des “organisierten Vol­kes” (Unterstützung von For­de­rungen auf lokaler Ebene wie Was­ser, Elektrizität etc. und so­zia­le Kämpfe auf nationaler Ebe­ne wie Gleichstellung der Frauen und Schaffung von Ko­ope­ra­ti­ven).

Wiedereingliederung in die zivile Gesellschaft

Im Februar diesen Jahres führte die URNG Interviews an allen Fronten durch. Anhand der Ergebnisse sollen Fortbildungs­maßnahmen, wie sie in dem Ab­kom­men über die Eingliederung der Guerilla vorgesehen sind, vor­bereitet werden. Zur Durch­füh­rung dieser Projekte und Pro­gram­me gründete die URNG eine Stiftung, über die interna­ti­o­na­le und nationale Hilfsgelder ka­na­lisiert werden sollen. Die Phase der Eingliederung der Guerilla in die Gesellschaft be­gann mit dem Tag “D+60”, dem 2. Mai, und endet ein Jahr später. In dieser Zeit sollen den ehema­ligen KämpferInnen ausreichend Verpflegung, Bildungspro­gram­me und Dienstleistungen ge­währ­leistet werden sowie die Ein­gliederung ins Arbeitsleben be­ginnen. Danach beginnt die Pha­se der definitiven Eingliede­rung, während der langfristige Lei­stungen, die von der Regie­rung angeboten werden sollen, in An­spruch genommen werden kön­nen. Dabei handelt es sich laut Abkommen um finanzielle Un­terstützung, technische, juri­sti­sche und berufliche Beratung, so­wie um Erziehungs-, Bildungs- und produktive Projekte. Diese sollen dazu dienen, “die Einglie­derung in das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben des Landes unter den gleichen Be­dingungen zu gewährleisten, wie sie die restliche guatemalteki­sche Bevölkerung hat.”
Nach Meinung der Teniente (Leut­nant) Victoria der Frente Luis Ixmatá sind Schwierigkei­ten, wie sie in El Salvador nach Frie­densschluß aufgetreten sind, nicht zu erwarten. Ein großes Problem im südlichen Nach­bar­land sei die Gespalten­heit der re­vo­lutionären Organi­sationen in­ner­halb der damaligen FMLN ge­wesen. Diese hätte viel Un­zu­frie­denheit und Ungerech­tig­kei­ten verursacht. Die URNG hin­ge­gen sei sehr geeint und werde in dieser Hinsicht keine Pro­ble­me bekommen. Desweite­ren sei die Anzahl der URNG-Ange­hö­ri­gen geringer als seiner­zeit in El Sal­vador.
Alfonso Bauer Paiz, Wirt­schaftsminister der fortschrittli­chen Regierung Arbenz zu Be­ginn der fünfziger Jahre und heute juristischer Berater der im me­xikanischen Exil lebenden bzw. in den vergangenen Jahren zu­rückgekehrten guatemalteki­schen Flüchtlinge, äußerte sich in ähnlicher Weise: “Mit der Ein­gliederung der Guerilla wird es kei­ne Probleme geben, da es nicht sehr viele KämpferInnen sind. Im Gegensatz dazu wird es mit den Flüchtlingen große Schwie­rigkeiten geben, da allein aus Chiapas noch Tausende Fa­mi­lien zurückkehren werden.”

Landverteilung als Knackpunkt

Im Rahmen des Abkommens über die Eingliederung der URNG in die Gesellschaft ist keine direkte Landverteilung an ehemalige Kämpfer und Kämp­ferinnen der URNG vorgesehen. Dies ist ein substantieller Unter­schied zu den Vereinbarungen in El Salvador und auch gegenüber der Situation der guatemalteki­schen Flüchtlinge. Viele Kämp­ferInnen der FMLN mußten drei, vier Jahre oder gar vergebens auf ein Stück Land warten und sehen sich heute als eindeutige Verlie­rer eines Krieges, der laut Frie­densabkommen keine Verlierer kennen sollte. Den guatemalteki­schen Flüchtlingen im mexikani­schen Exil ergeht es ähnlich: Vertraglich zugesicherte Bedin­gungen, die den schnellen, unbü­rokratischen Zugang zu Land einschließen, geraten im befrie­deten Guatemala zusehends in Vergessenheit.
Insgesamt er­scheint die Integration der Gue­rilleros und Guerilleras in Gua­temala mit in erster Linie vom Aus­land finanzierten Ausbil­dungs- und Eingliederungspro­gram­men als durchaus über­windbare Hürde der Entwicklung zum Frieden. Die Führung der URNG verspricht ihren Kämpfe­rInnen außerdem Projekte, wel­che die politische und kulturelle Differenzen überwinden helfen und die persönliche Sicherheit der KämpferInnen gewährleisten sol­len. Gerade diese beiden Aspekte, die zunächst weniger relevant erscheinen, bzw. bezüg­lich der Sicherheit lediglich als ein Problem der höheren Kader an­gesehen werden, machen vie­len der KämpferInnen mehr Sor­gen als die materielle Zu­kunft.
“Ich weiß noch nicht, wohin ich gehen werde und was ich ar­bei­ten werde. In mein Dorf kann ich aus Sicherheitsgründen nicht zu­rückkehren.” Befragt nach den in­dividuellen Zukunftsplänen, ka­men häufig diese oder ähn­li­che Ant­worten von den Kämpf­er­In­nen. Tania Palencia, Re­prä­sen­tan­tin der “Versammlung der zi­vilen Gesellschaft” (ASC), for­mu­lierte die Problematik sehr tref­fend: “Die Demobilisierung wird ein sehr komplexer Prozeß sein, denn das Überleben muß nicht nur wirtschaftlich abgesi­chert werden. Die Demobilisier­ten müssen aber auch in eine für sie neue Kultur integriert wer­den. Angesichts der Erinnerung an den Krieg, des Fehlens eines Dia­loges, der Greueltaten des Mi­litärs und der Repression der 80er Jahre bedürfen gerade die Ex-Compas eines Raumes, damit sie in einen Dialog mit ihrer ei­genen Geschichte treten können. So müssen sie alle Kommunika­tionsmittel nutzen können, ohne daß sie Angst haben müssen. Das kann die Gesellschaft aber zur Zeit nicht gewährleisten.” In An­betracht wachsender “allge­mei­ner” Kriminalität, von Entfüh­rungen und Lynchjustiz läßt sich die Angst vieler Gue­rilleros/as, nach der Demobilisie­rung Frei­wild zu sein, auch durch die edelsten Bekundungen der Frie­densabkommen nicht ba­gatellisieren.

Schleppende Demobilisierung der Armee

Die Waffenabgabe der Gue­rilleros und Guerilleras ist mitt­lerweile ohne größere Probleme abgeschlossen. Auf Seiten der Regierungsarmee verläuft dieser Prozeß jedoch äußerst unbefrie­digend. Der unzureichende De­mobilisierungswille der Armee zeigte sich bereits Ende Januar durch einen Aufstand der Policía Militar Ambulante (PMA), einer Spezialeinheit der Armee, und durch einen Winkelzug der Mi­litärführung: Durch ihren Spre­cher Verhandlungsführer Coro­nel Otto Noack ließ die Armee verlauten, daß die in den Frie­densabkommen festgelegte 33 prozentige Reduzierung der Hee­resstärke von der Sollstärke von 46.000 Soldaten ausginge. Da die derzeitige Ist-Stärke jedoch lediglich 35.000 sei, müßten nur 4.180 statt 11.900 Soldaten de­mobilisiert werden, um auf 66 Prozent von 46.000 zu gelangen. Demnach wäre die Stärke der Armee nach der Demobilisierung also 30.820 gegenüber rund 23.100 Soldaten, wenn von der Ist-Stärke ausgegangen würde. Außerdem solle es in den oberen Rängen der Armee zu keinerlei Reduzierung kommen.
Sowohl die Reduzierungsde­batte als auch der PMA-Aufstand mögen sich in den kommenden Jahren als Nebensächlichkeiten he­rausstellen, in der derzeitigen Situation können sie jedoch auch als Warnsignale an die sich neu konstituierende Opposition Gu­a­te­malas verstanden werden. De­ren wichtigste Gruppe – die URNG – hat mit der Waffenab­ga­be ein wichtiges Faustpfand aus den Händen gegeben.

KASTEN

36 Jahre Guerillakrieg

Die erste guatemaltekische Guerillabewegung geht auf das Jahr 1960 zurück. In die­sem Jahr rebellierte eine Gruppe junger Offiziere ge­gen das korrupte Regime unter Ydígoras Fuentes, wel­ches den USA erlaubt hatte, Guatemala als Basis einer In­vasion Kubas zu nutzen. Der Aufstand wurde niederge­schla­gen. Die jungen Rebel­len kamen in Kontakt mit der Kommunistischen Partei Gu­atemalas, die im Jahre 1961 den bewaffneten Kampf als not­wendig für eine revo­lu­ti­o­nä­re Entwicklung erklärt hat­te. 1963 entstanden aus die­sem Bündnis die Fuerzas Ar­ma­das Rebeldes (FAR). Nach ei­ner groß angelegten Mi­li­tär­offensive hatte diese Gue­ril­la Ende 1967 jedoch prak­tisch aufgehört zu exi­stieren.
Einige ihrer Anführer flohen nach Mexiko, von wo aus sie den Widerstand reorgani­sier­ten. Aufgrund politischer Dif­ferenzen gab es jedoch kei­ne einheitliche Organisa­tionsstruktur mehr. Während die FAR im nordöstlichen De­partement Péten einen Guerilla-Focus aufbauten, wurden zwei weitere Grup­pen im westlichen, indigen ge­prägten Hochland des Landes aktiv. Dieses waren die Nueva Organización Re­vo­lucionaria de Combate, die am 19. Januar 1972 mit einer ersten Aktion und unter dem Namen Ejército Guerrillero de los Pobres (EGP) an die Öffentlichkeit trat, und die Regional de Occidente, die sich seit 1979 Organización del Pueblo en Armas (ORPA) nannte.
Beginnend mit wenigen Ak­tivisten und Aktivistinnen und ohne finanziellen und materiellen Rückhalt, gelang es der guatemaltekischen Guerilla bis zu Beginn der 80er Jahre eine militärische Stärke zu entwickeln, die – kombiniert mit dem Druck der Bauern-, Arbeiter- und Stu­dentenorganisationen – ei­nen nahen Umsturz der Mi­li­tär­diktatur Romeo Lucas Gar­cía möglich erschienen ließ. Es folgte jedoch eine ge­wal­tige, von den USA un­ter­stütz­te, Terrorwelle, unter der in erster Linie die Zivil­be­völkerung zu leiden hatte, die aber auch für die Guerilla ei­nen schweren Rück­schlag be­deu­tete. Ein revolu­tionärer Um­sturz rückte in weite Fer­ne, und damit be­gann 1991 die Verhand­lungsphase zwi­schen den je­weiligen Re­gie­run­gen und der URNG, dem 1982 gebil­deten Zusam­men­schluß der einzelnen Gue­ril­la­organisa­tionen. Das Er­geb­nis ist der am 29. Dezember 1996 un­terzeichnete feste und dau­er­hafte Frieden, dessen zu­vor ver­handelten Teil­ab­kom­men auch die De­mo­bi­li­sie­rung und Wie­der­ein­glie­de­rung der Kämpfer und Kämp­fer­innen der URNG regeln.

Von Stolpersteinen und Perspektiven

Schon die Frage, ob in Gua­temala über­haupt eine Frauen­be­we­gung existiert, führt unter Fe­mi­nistinnen und Mitgliedern der di­versen Frauenorganisatio­nen zu Diskussio­nen. Einige un­ter­stü­tzen wie ich die These, daß be­reits von der Existenz einer Be­wegung ausgegangen werden kann, andere halten diese Fest­stel­lung noch für verfrüht. Es hat in der öffentlichen Debatte schar­fe Kritik an den Frauenor­ga­nisationen gegeben. Der Vor­wurf lautet, sie hätten weder Re­prä­senta­tivität noch eine starke und organisierte so­ziale Basis. Auf diese Kritik erwidere ich: Wir Frauen haben nach wie vor gro­ße Schwierig­keiten, uns Zu­gang zum öffentlichen Raum zu ver­schaffen. Das liegt zum einen an der Kultur der Unter­ordnung, Angst und Abhän­gigkeit und zum anderen an der Ge­ring­schä­tz­ung, die uns schon als kleine Mäd­chen entgegenge­bracht wur­de. Darüberhinaus kön­nen wir nicht einfach an alle sozialen Aus­drucksformen, ins­besondere nicht an die neueren ge­sell­schaft­lichen AkteurInnen wie die In­dígena- oder die Frau­en­be­we­gung, die üblichen Krite­rien an­legen. Jeder Kampf hat sei­ne ei­ge­ne Besonderheit und un­ter­schied­li­che Ausdruckswei­sen.
In den sechziger Jahren, als in den USA die Demonstrationen für die Befreiung der Frau ihren Hö­hepunkt erreichten, also in den radikalsten Anfangszeiten der Bewegung, gab es in Gua­te­ma­la bereits einige Frauen, die sich für diese Themen interes­sier­ten. Ge­meinsam lasen und dis­kutierten wir Texte und such­ten uns eigene Zugänge zur Frau­enproblematik. Wir waren uns damals in die­sen Gruppen da­rüber im klaren, daß wir die Tex­te und Themen, die aus ande­ren Ländern kamen, analysieren muß­ten, ohne dabei unse­ren ei­ge­nen sozialen und historischen Kon­text aus den Augen zu ver­lie­ren.

Feministinnen als “Nestbeschmutzerinnen”

Diese Gruppen wurden in ih­ren Anstren­gungen entmutigt. Ih­nen wurde vorgeworfen, fremde Ide­en zu importieren, die nur das Kli­ma und die etablierten Or­ga­ni­sationsstrukturen störten. Au­ßer­dem, so hieß es, kämpften sie für Dinge, die jetzt nicht vor­ran­gig sei­en, und setzten sich für klein­bür­gerliche Forderun­gen ein. So kam es zur Absorbierung der Teil­neh­merinnen dieser Frau­en­gruppen durch andere Grup­pen, die sich meist den Kampf für so­zioökonomische Ver­besserungen als Hauptziel ge­setzt hatten. Die Forderungen, Käm­pfe und An­liegen der Frau­en wurden zu­rückgestellt. Auch rüc­kten sie in der gesell­schafts­po­litischen Aus­einandersetzung lan­ge hinter das Problem der ge­sell­schaftlichen Spaltung in In­dí­ge­nas und Ladi­nos, das die Auf­merk­samkeit der wichtigsten So­zial­wissen­schaft­lerInnen des Lan­des auf sich zog.
Nach dieser Zeit der “Zu­rück­stel­lung” ha­ben sich in den letz­ten zehn Jahren allmäh­lich Grup­pen, Vereinigungen und Kol­lek­ti­ve gebildet, in denen Frauen ih­re Problematik und For­derungen er­neut zum Aus­druck bringen. Von den ver­schiedensten Stand­punk­ten aus und mit unter­schied­lich­en Ar­beitsweisen widmen sie sich dem Kampf für die Rechte von Frauen. Inzwischen gibt es ver­schieden­ste Zu­sam­men­schlüs­se, darunter einige, die sich als fe­ministisch bezeichnen oder einer breiten Frauen­be­we­gung zuord­nen. Es gibt Gruppen von Gewerkschafterin­nen, an­de­re, die Arbeiterinnen im Haus­halt organisieren, Frauenvereine, Stu­dien­gruppen, studentische Frau­engruppen, Campesinas, Frau­en-Foren innerhalb der In­dí­gena-Bewe­gung, Frauen, die in den Medien arbeiten etc. Bei all die­ser Vielfalt koordinieren sie ge­meinsame Aktionen, Semi­na­re, Workshops und Demon­stra­tio­nen. Ihre Stimme war bei ver­schie­denen gesellschaftspoli­ti­schen Ereig­nissen zu hören. Das sehr breite Spektrum sehe ich als ei­nes der Merkmale unse­rer Be­we­gung und als Teil ihrer Stärke an.

Ein breites Spektrum …

Wollte ich versuchen, die Frau­enbewegung in Guatemala den verschiedenen Strömungen in­nerhalb des Feminismus zuzu­ord­nen – so­zialistisch, radikal, neo­liberal etc. -, so herr­schen mei­ner Meinung nach sozialisti­sche Forderungen vor. Denn die Mehr­heit der Gruppen kämpft für Reformen des Staates, der Poli­tik, der Gesetze, für eine wei­terge­hende Demokratisie­rung, für eine Verbesse­rung der Le­bensbedingungen und der staat­lichen Dienstleistungen für die Bevölkerung im Allgemeinen und für Frauen im Besonde­ren, so­wie für die gesellschaftliche Trans­formation, die auch zur Um­setzung ge­schlechts­spe­zi­fi­scher Forderun­gen notwendig ist.

… mit sozialistischem Akzent …

Die wichtigsten Forderungen und Aufga­ben, die wir hier in Gua­temala verfolgen, sind so breit gefächert wie die Frau­en­grup­pen unterschiedlich sind: Ei­ni­ge Frauen ar­beiten an der Durchsetzung von Reformen im Bil­dungssystem, um Stereo­type in der Erzie­hung zu beseiti­gen und für Frauen einen größe­ren Zu­gang zur Bildung zu errei­chen. Über verschiedene Aktio­nen wird der Ver­such unter­nom­men, die Bedingungen des Bil­dungs­angebotes an die soziale und kulturelle Realität insbeson­de­re der Familien in ländli­chen Ge­genden anzupassen. Andere Grup­pen setzen sich für die Ab­schaf­fung von diskri­minierenden Ge­setzen oder einzelner Para­gra­phen ein, wofür sie Gesetze­s­ent­wür­fe vorlegen oder rechtli­che Schrit­te gegen sol­che Ge­setze un­ternehmen. Andere ar­beiten in der Betreuung von mißhandelten Frau­en, be­mühen sich, auf Poli­tik und Alltag über­all dort ein­zu­wir­ken, wo Gewalt gegen Frauen aus­geübt wird. Wie­der andere or­ganisieren Frauen, die als Haus­angestellte oder in den Ma­qui­la-Betrieben arbeiten.

… und doch elitär?

Dennoch herrscht bei be­stimm­ten Volksor­ganisationen im­mer noch die Meinung vor, die Forderungen der Frauen stell­ten bis zu einem gewissen Grad eli­täre Probleme dar. Der Wi­der­stand und die Kritik, auf die die Be­wegung trifft, beruhen also auf der Un­kenntnis der so­zialen, wirt­schaftlichen und kulturellen Rea­lität der Frauen. Im Laufe der Ge­schichte gibt es immer wieder Be­wegungen mit bestimmten grup­penspezifischen Forde­run­gen, die eine Marginali­sierung und Dis­kriminierung er­leiden. Auf der Suche nach men­sch­li­che­ren und gerechteren Le­bens­for­men für alle sind aber gerade die­se Bewe­gungen notwendig, denn auch durch sie wird eine all­mähliche Entwick­lung des sozio­ökono­mischen Sy­stems er­reicht.
Die Bedeutung und Notwen­dig­keit ihrer Arbeits- und Orga­ni­sationsformen ist unbe­streitbar. Zum einen sind sie aus der Mar­gi­nalisierung, Unterordnung und Aus­beutung entstanden, die die ver­schiedenen Frauen tag­täglich er­leben. Außerdem sind sie eine wich­tige Voraussetzung dafür, daß die Frauen ein Selbst­ver­ständ­nis als soziale Gruppe er­rei­chen und ihr Selbstwertge­fühl und Selbstvertrauen stärken. Denn das herrschende kul­turelle Sys­tem er­zieht Frauen dazu, für an­dere zu le­ben. Jetzt aber be­gin­nen sie, sich gegen dieses Sy­stem zu be­haup­ten, das die Ent­frem­dung vom eigenen Körper, das “FÜR AN­DERE ZU SEIN”, als natür­lich ansieht, das Frauen in der häus­lichen Enge einsperrt, und das den Glauben, einer min­der­wer­tigeren Kategorie von Mensch anzugehören, ver­stärkt.
Frau­en werden- wie auch an­de­re “neue gesellschafliche Ak­teur­Innen” – immer mehr zu ei­nem Teil der sozialen Bewe­gung. Manchmal ignoriert, manch­mal sogar grausam ange­grif­fen, verschiedentlich mit Spott emp­fangen oder auch nur aus programmatischer Nützlich­keit oder wegen entsprechender Auf­lagen der internationalen Hilfs­organisatio­nen akzeptiert, sind sie dennoch da und werden trotz allem und überall stärker.

Die Wahrheit an höchster Stelle

Schon lange vor der Unter­zeichnung des Abkommens zur Wiedereingliederung der Kämp­ferInnen der Nationalen Revolu­tionären Einheit Guatemalas (URNG) am 12. Dezember 1996 war die Diskussion um die juri­stische Formel, die es den Gue­rilleros ermöglichen sollte, sich ins legale Leben einzufügen, von einer heftigen politischen Kon­troverse überschattet. Gestritten wurde um die Amnestieregelun­gen für die Guerilla, aber auch um die für das Militär und die paramilitärischen Einheiten, die im Auftrage des staatlicher Stel­len agiert hatten.
Die Kontro­verse wurde aller­dings jäh durch einen “bedauerlichen Zwischen­fall” beendet: Als im Herbst letzten Jahres ein URNG-Kom­mando die Unternehmerin Olga de No­vella entführt hatte, wur­den die Friedensverhandlungen zur Wie­dereingliederung abrupt ausge­setzt – das öffentliche In­teresse richtete sich von der Amnestie­diskussion weg hin zum Entfüh­rungsfall und zum grundsätzli­chen Fortgang der Friedensver­handlungen. Als die Gespräche wieder aufgenommen wur­den, waren die Verhandlun­gen zwi­schen Regierung und URNG zum Thema im Wesentli­chen abgeschlossen.
Die Verhandlungsparteien hat­ten die Gelegenheit genutzt und den Aufschrei der Bevölke­rung, die eine Generalamnestie befürchtete, geflissentlich über­hört. Ein wichtiges Sprachrohr der AmnestiegegnerInnen ist die Alianza contra la Impunidad (Al­lianz gegen die Straflosig­keit/ACI), ein Zusammenschluß von Menschenrechtsorganisatio­nen und kirchlichen Einrichtun­gen. Die ACI betonte, daß das Abkommen nur dann in der Ge­sellschaft moralisch anerkannt werden könne, wenn es aus­schließlich politische Delikte für straffrei erkläre, also diejenigen, die von der Guerilla gegen den Staat begangen wurden. Angehö­rige beider Konfliktparteien müßten sich jedoch vor der Ge­sellschaft und der Justiz für Men­schenrechtsverletzungen ver­antworten, insbesondere für solche, die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen werden. Das Hauptkriterium der ACI war, daß der Staat zwar das Recht habe, die gegen ihn ge­richteten Taten, aber auf keinen Fall Übergriffe gegen Dritte zu begnadigen. Einzig und allein die Opfer dieser Übergriffe könnten den Schuldigen verzei­hen.
Ende Dezember verabschie­dete der Kongreß hinter ver­schlos­senen Türen das “Gesetz zur Nationalen Versöhnung” (vgl. LN 272). Wie vorher schon das Abkommen, amnestierte das Gesetz in seinem umstrittensten Teil Delikte und Menschen­rechts­verletzungen, “die began­gen wurden, um zu verhindern, daß ein politisches Delikt began­gen würde”. Der Kommentar von fort­schrittlichen JuristInnen: Das Ergebnis ist eine juristische Un­geheuerlichkeit!

Das “Gesetz zur nationalen Versöhnung”

Auch wenn die Amnestiere­gelung bislang lediglich auf Ex-Guerilleros angewandt worden ist, haben die Menschenrechtsor­ganisationen, angeführt von der ACI, eine Verfassungsklage ge­gen das Gesetz eingereicht. (Das Urteil des höchsten Gerichtes des Landes wurde für Ende April angekündigt, lag bei Redaktions­schluß aber noch nicht vor; Anm. d. Red.) Das Gesetz wird als Ge­neralamnestie angesehen und ist in puncto Reichweite und All­gemeingültigkeit bereits das zweite seiner Art in der gua­temaltekischen Rechtsprechung. Mit dem ersten amnestierten sich die Streitkräfte am 13. Januar 1986 – dem formellen Ende der Militärdiktatur – selbst für auf alle Menschenrechtsverletzun­gen, die zwischen dem 23. März 1982 und dem Tag des Inkraft­tretens des Gesetzes begangen worden waren.

Wahrheitskommission im Dienste des Verschweigens

Der internationale Vergleich zeigt, daß beim Übergang von Dik­taturen und bewaffneten Kon­flikten zu demokratischen Ord­nungen Wahrheitskommis­sio­nen eine zentrale Stellung in­nehaben. Institutionen also, de­ren Aufgabe es ist oder sein sollte, die Verbrechen der Ver­gangenheit aufzuklären und durch Erkennen und Bearbeiten zum Versöhnen zu kommen.
In Guatemala beruht die Bil­dung einer Wahrheitskommis­sion auf dem “Abkommen über die Einrichtung zur historischen Aufklärung der Menschenrechts­verletzungen und Gewalttaten, durch die der guatemaltekischen Bevölkerung Leid zugefügt wurde”, auf das sich URNG und die Regierung bereits im Juni 1994 geeinigt hatten. Allgemein wird es als eines der schwäch­sten Dokumente des gesamten Ver­handlungsprozesses angese­hen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Der wichtigste ist der, daß die Verhandlungsparteien der Wahrheitskommission von vorn­herein einen Maulkorb ver­paßt haben. Weder darf die Kom­mission die an Menschen­rechts­verletzungen Schuldigen na­mentlich benennen, noch dür­fen die Untersuchungsvorgänge oder Resultate vor Gericht ver­wendet werden. So soll verhin­dert werden, daß die Menschen­rechtsverletzer in einer persönli­chen und direkten Form zur Ver­antwortung gezogen werden. Nicht nur die Wahrheitsfindung, die ja eigentlich das Ziel besag­ten Abkommens ist, bleibt dabei auf der Strecke, sondern auch das zweite fundamentale Anlie­gen erhält keine Chance: die Ge­rechtigkeit.
Die programmierte Schwäche der Wahrheitskommission liegt zu­dem in ihrem sehr begrenzten Mandat. Trotzdem ist es denk­bar, daß deren Mitglieder ihre Aufgabe flexibler wahrnehmen könnten als es im Abkommen vor­gesehen ist, und so einen Beitrag zur nationalen Versöh­nung leisten. Darauf zielte im November 1996 der Vorschlag guatemaltekischer Menschen­rechtsgruppen, die Kommission neu zu strukturieren, die Zahl ih­rer Mitglieder zu erhöhen und eine Garantie dafür zu schaffen, daß diese über angemessene Un­ter­suchungskapazitäten ver­fügen. Die Verhandlungsparteien über­gin­gen die Vorschläge der Men­schen­rechtsgruppen jedoch er­neut.

Begrenzte Kompetenz

Als Vorsitzender der Kom­mission war eigentlich Jean Ar­nault vorgesehen, zwischen Ja­nuar 1994 und der Unterzeich­nung des endgültigen Friedens­abkommens am 29. Dezember 1996 der von den Vereinten Na­tionen eingesetzte Vermittler im Verhandlungsprozeß. Arnault wur­de allerdings zum Leiter der UN-Mission in Guatemala MI­NU­GUA ernannt und kam daher für die Wahrheitskommission nicht mehr in Frage. Für die Ar­beit der Kommission kann dies von Vorteil sein, da er als ehe­maliger UN-Vermittler zwischen den Verhandlungsparteien si­cher­lich nicht die unabhängige Persönlichkeit gewesen wäre, die für ein derartiges Amt nötig ist. Als Ersatz stimmten die Ver­einten Nationen dem ge­mein­sa­men Vorschlag von URNG und Re­gierung zu, die sich auf den Ber­liner Völkerrechtler Christian Tomuschat geeinigt hatten. To­muschat mußte dann zwar den be­reits von Arnault eingesetzten Se­kretär der Wahrheitskommis­sion übernehmen, konnte aber die übrigen zwei Kommissions­mit­glieder ernennen. Beide, Oti­lia Coti und Alfredo Ballsels, ver­fügen über guten Rückhalt in ver­schiedenen gesellschaftlichen Grup­pen.
Der Handlungsrahmen der Wahrheitskommission ist durch die Comisión de Acompana­miento y Seguimiento de los Acuerdos (“Begleit- und Kon­trollkommission”) begrenzt, die aus VertreterInnen von Regie­rung und Ex-Guerilla gebildet wird. Diese Instanz überwacht die Umsetzung der gesamten Friedensvereinbarungen. Im Rah­men dieses Mandats wird sie letztlich den Zeitpunkt für Be­ginn und Ende der Untersuchun­gen wie auch über den Gebrauch, der von den daraus gewonnenen Resultaten gemacht wird, be­stimmen. Die Beteiligten der Wahrheitskommission sind so zwi­schen den unmittelbaren In­teressen der Vertragsunterzeich­ner eingekeilt.

Auch auf kleine Ergebnisse muß gewartet werden

Bis jetzt hat die Wahrheits­kommission ihre Arbeit noch nicht aufgenommen. Man wartet in Guatemala darauf, daß die Mit­glieder der Kommission die ver­schiedenen organisierten Grup­pierungen zusammenzuru­fen, damit diese “ihre” Fälle von Men­schenrechtsverletzungen vor­legen. Bereits seit einigen Jah­ren führen verschiedene Pro­jek­te unabhängige Untersuchun­gen zur Wahrheitssuche in Gua­temala durch und werden auf dieser Grundlage Berichte vorle­gen. Auch wenn diese in der Wahrheitskommission keine Be­rücksichtigung finden, werden sie sich zumindest in parallele, nicht-offizielle Informati­ons­quel­len verwandeln, um die wah­re Geschichte der Menschen­rechts­verletzungen im Lande auf­zudecken.
Die Position der Regierung, ihren eigenen Machterhalt wich­tiger zu nehmen als den gesell­schaftlichen Konsens, zeigt sich auch in anderen Bereichen der Inneren Sicherheit und Vergan­genheitsaufarbeitung. Zu nennen ist hier die Verabschiedung des Gesetzes zur Schaffung einer Po­li­cia Nacional Civil (“Zivilen Na­tionalen Poli­zei”/PNC), das in Form und In­halt stark vom ent­spre­chenden Abkommen zur “Stär­kung der Zivilgewalt und der Rolle der Streitkräfte in einer demokrati­schen Gesellschaft” vom Sep­tember 1996 abweicht. Das Ge­setz eröffnet jetzt den Mitglie­dern der Streitkräfte, die in den kommenden Monaten demobili­siert werden sollen, die Mög­lichkeit, in den Polizeidienst überzuwechseln. Inoffiziell ist bekannt, daß derzeit ungefähr 30 Offiziere der Streitkräfte in Spa­nien und Chile für künftige Füh­rungsaufgaben innerhalb der neu­en Polizei trainiert werden.
Auch an anderer Stelle zeigt sich, daß die Armee keineswegs bereit ist, ohne weiteres auf ihre Positionen zu verzichten. Eine Fraktion innerhalb der Regierung hat­te versucht, das für die Ge­heimdienste zuständige Büro des Präsidenten nach zivilen Maß­stäben umzuformen. Dieser Plan hielt sich aber nur kurz: Die Zi­vilisten wurden entfernt, an ihre Stelle traten Mitglieder der Streitkräfte, die über eine lange Vorgeschichte im militärischen Geheimdienst verfügen. Dieser Vorgang wird als klares Signal für die Absicht der Regierung gesehen, die Allianz mit den Streitkräften aufrechtzuerhalten.
Beide Beispiele, Polizei und Geheimdienst, bestätigen: Ob­wohl Mitglieder der Streitkräfte verstärkt Positionen besetzen, die weniger im Rampenlicht der Öf­fentlichkeit stehen, stellen sie nach wie vor einen wichtigen Machtfaktor im Kräftespiel der guatemaltekischen Politik dar. Darin liegt ein wichtiger Grund dafür, daß Menschenrechtsgrup­pen bei ihren Forderungen nach einer wirklichen Aufarbeitung der Diktaturvergangenheit auf er­bitterten Widerstand stoßen.
Zusätzlich sind die Be­müh­ung­en um Aufklärung der Men­schen­rechtsverletzungen und um Ver­folgung der Täter durch den all­gemeinen politi­schen Kontext ge­prägt, der seit der Un­ter­zeichnung des ab­schließenden Frie­densabkom­mens entstanden ist. Dieser ist nicht zuletzt von zwei Entwick­lungen geprägt: zum einen von der Eingliederung der URNG in das zivile Leben und deren Auf­bau einer po­li­ti­schen Partei, zum anderen von den sozialen Kon­flikten, die durch die neoliberale Politik des Prä­sidenten Alvaro Ar­zú ver­schärft werden. Die Men­schen­rechts­organisationen könnten sich in diesem Klima in eine wich­tige politische Opposi­tions­kraft verwandeln. Der Ruf nach dem Recht der Opfer und Hin­ter­blie­benen von Menschen­rechts­ver­letzungen, die Ver­ant­wort­li­chen zu benennen und zur Re­chen­schaft zu ziehen, wird wei­ter­hin laut bleiben.
Übersetzung: Bettina Bremme

KASTEN

Der guatemaltekische Anwalt Carlos Enríquez kommentiert das vom Kongreß ver­ab­schie­dete Amne­stiegesetz und zeigt notwendige Schritte für eine wirkliche Ver­ar­bei­tung der Verbrechen des be­waffneten internen Konflikts auf:

Das “Gesetz zur Natio­nalen Ver­söhnung” ist dehnbar genug, um alle Urheber von Menschenrechts­ver­letzungen oder sonstige Kriminelle straffrei ausgehen zu lassen. Dadurch wird es – gewollt oder un­gewollt- zu einer so umfassenden Amne­stie, daß es grundlegende Rechte des guatemaltekischen Vol­kes verletzt: das Recht auf Wahrheit, auf Gerechtigkeit, und auf die Verurteilung der direkten Ak­teu­re der staatlicherseits aus­geübten Terrorpolitik.
Angesichts der Unterzeich­nung des Friedensvertrages scheint das eigentliche Wesen des Terrors in Vergessenheit zu geraten: Die Menschenrechte wurden in den kritischen Mo­menten des Konfliktes in Gua­temala nämlich nicht “einfach so” verletzt. Vielmehr war dies ein wesentlicher Bestandteil ei­ner staatlicherseits gezielt und bewußt durchgeführten Politik des Terrors. Das Hauptziel: mit der Strate­gie der counter­insurgency jede Form des Aufstandes einzudämmen. Bild­lich gesprochen ging es da­rum, dem “Fisch” (der Guerilla) das “Wasser” (das Volk) abzugraben. Der größte Teil der Opfer ge­hör­te daher der Zivilbevölkerung an, die als schützendes und un­terstützendes Umfeld der Auf­stän­di­schen betrachtet wurde. Unbestreitbar sind daher der guatemaltekische Staat und das Heer als wich­tigs­te ausführende Institution die Hauptverantwort­lichen für die begangenen Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen. Um die Zivilbevölkerung in einem Kon­flikt vor ebensolchen Gewaltta­ten zu schützen, gibt es im Inter­nationalen Recht das Konzept der Menschenrechte und das Internationale Humanitäre Recht. Beides wurde in Guatemala staatlicherseits massiv und wie­derholt gebrochen.
An­dererseits ist bekannt, daß auch seitens der Aufständischen das Menschenrecht auf Leben und Un­ver­sehrtheit mißachtet worden ist. Bei solchen Taten der Guerilla handelte es sich je­doch nicht um ei­ne generelle Terrorstrategie, sondern um ver­einzelte Abrechnungen und be­grenzte Aktionen. Diese müs­sen vor dem Hintergrund der “Kultur der Gewalt” betrachtet werden, die in Guatemala, als Fol­ge­er­scheinung eines der grausamsten Kriege der letzten Zeit, das ge­samte soziale Gewebe durch­drun­gen hat. Für solche Delikte, die von nichtstaatlichen Akteu­ren begangen werden, hat das Inter­na­tio­nale Recht den Begriff der “Schweren Gewalttaten” ge­prägt. Unter Heranziehung eben dieses Kon­zeptes wurden in Ar­gentinien der Guerrillero Carlos Firmenich und in El Salvador Joaquín Vil­la­lo­bos verurteilt.
Das Beste, um den nationalen Versöhnungsprozeß voranzu­bringen, wäre, das beide Seiten öffentlich und als Institutionen getrennt voneinander eingeste­hen, daß aus ihren Reihen Ge­walttaten gegen Le­ben und Men­schenwürde begangen worden sind. Dazu gehört auf Seiten des Staates auch das Einge­ständ­nis einer Anti-Aufstands-Politik, die Menschenrechtsverletzungen als eine ihrer wesentlichen Kom­po­nenten ansah.
Übersetzung: Claudius Prößer
Gekürzt aus “Debate” vom Februar 1997

Landtitel – und dann?

Die Campesinos/as von San Roque in der Provinz San Mar­cos haben es geschafft: Zwei Jahre Kampf – Landbesetzung, Räumung, erneute Besetzung und Verhandlungen – führten dazu, daß die staatliche Agrarbe­hörde INTA den 105 Familien jeweils vier Hek­tar Land auf Kre­ditbasis zuteilte. Dies ist ein Sieg für jedeN ein­zelneN, für die Gruppe insgesamt und für die Na­tionale In­dí­ge­na- und Bauern­koor­dination CONIC, in der die Gruppe organisiert ist. Mit die­sem ersten Schritt ist aber auch die Hoffnung auf einen beschei­denen Wohlstand, auf Bildung, und bessere Infrastruktur ver­bunden. In San Roque ist die Hoffnung auf das Erschließen neuer Einnahmequellen ein Muß, denn jede Familie ist jetzt bei der INTA verschuldet: Um nach zehn Jahren den endgültigen Landtitel zu erhalten, wird jeder Haushalt ab dem kommenden Jahr 6.000 Quetzales (1.000 US-Dollar) jährlich zur Schuldentil­gung aufbringen müssen. Zu­sätzlich müssen Produktionskre­dite der katholischen Kirche ab­bezahlt werden.
Durch den Anbau von Mais und Bohnen haben die ehemals Landlosen eine unmittelbare Über­lebensgrundlage. Zur dar­überhinaus notwendigen Ein­kommensschaffung verdingen sich in der Provinz San Marcos viele Kleinbauern und -bäuerin­nen zusätzlich als TagelöhnerIn­nen auf den Großgrundbesitzen oder arbeiten als fliegende HändlerInnen und im Kleinstge­werbe. Wer jedoch, wie die Menschen in San Roque, sein Land nicht mehr verlassen will, sucht den Weg im Verkauf sei­ner landwirtschaftlichen Pro­dukte. Für Grundnahrungsmittel allerdings ist der lokale Markt klein und die Preise niedrig. Auf dem Land haben die wenigsten ausreichend Geld und schlimmer noch: Unter dem wohlwollenden Blick der guatemaltekischen Re­gierung wird aus den USA sub­ventionierter und industriell pro­duzierter Mais importiert, zu Preisen, mit denen einheimische ProduzentInnen keinesfalls kon­kurrieren können.

Der Export regiert

Um an das dringend benötigte Geld zu kommen, bietet sich heute in Guatemala für die we­nigsten KleinstproduzentInnen eine prak­tikable bzw. greifbare Alternative zum Einstieg in die gegebenen Marktverhältnisse. Den größten Gewinn verspricht hier, theoretisch, der Export von Produkten, die viel Handarbeit erfordern oder im Norden nicht angebaut werden können. Die alten Monokulturen aber, wie Kaffee, Baumwolle, Kardamom und Bananen, unterliegen starken Preisschwankungen.
Von Trendsettern als neue Weltmarktnischen propagiert wer­den die sogenannten “nicht-tra­di­tio­nellen Ex­port­produkte”: Darunter fällt alles, was nicht schon seit Menschengedenken für den Export angebaut wird, angefangen bei “fran­zösischen Spitz­bohnen” und weiteren Gour­met-Gemüsearten, über Bee­rensträucher bis hin zu afri­kanischen Palmen für die Palm­öl-Produktion. Aber auch diese sind nicht immer eine Goldgrube.

Liberalisierung im Süden – Protektionismus im Norden

Die Leute von San Roque zum Beispiel haben Sesam ange­baut. Aufgrund eines riesigen Angebotes aus Indien und China ist der Preis für Sesam im ver­gangenen Jahr auf rund die Hälfte gefallen, der Erlös pro Familie betrug danach nur noch durchschnittlich 6.000 Quetzales für die Jah­res­ernte. Darüber­hinaus schützen die Industrielän­der, im Gegensatz zu Guatemala, ihre einheimischen ProduzentIn­nen durch Subventionen vor der Konkurrenz aus dem Süden. So führen sie zum Beispiel scharfe Lebensmittelkontrollen durch: Findet sich auch nur ein Würm­chen in einer Gourmet-Gemüse­ladung aus Über­see, wird diese, je nach der Marktlage im Nor­den, oft komplett vernichtet. So etwas nennt sich Verbraucher­schutz, hat aber oft eher die Qualität eines nicht tarifären Handelshemmnisses. Die real geschaffenen (Welt-)Markt­be­din­gungen regieren gnadenlos. Solange die Regie­rung jedoch nichts unternimmt, um lokale und regionale Märkte zu stärken, erscheint die Ex­port­produktion den meisten Klein­pro­du­zen­tIn­nen die gewinnbrin­gendste Möglichkeit.

Vernachlässigung der klein­bäuerlichen Produktion

Unterstellt man dem Staat so­ziale Verantwortung für das Wohlergehen aller BürgerInnen, so wäre es Aufgabe der Regie­rung, mit den Kleinst­bauern und -bäuerinnen gemeinsam Kon­zepte zu entwickeln, um zur Ein­kommenssteigerung gerade den ärmsten Bevöl­kerungsgruppen un­ter die Arme zu greifen. Al­ler­dings hat der guatemaltekische Staat bislang nie “so­zial­staatliche Funk­tio­nen” über­nommen. Schon kurz nach seiner Grün­dung wurde er bis ins letzte De­tail auf die Exportinter­essen der Agraroligarie abge­stimmt. So sind zum Beispiel die zwei­monatigen Schulferien seit eh und je auf die Zeit der Zuc­ker- und Kaffeernte an der Küste aus­gerichtet. Der Export von Zucker – ein Produkt, das in Guatemala ausschließlich in pri­vaten Groß­plantagen angebaut wird – wird bis heute von der Handelspolitik subventioniert. Im Gegenzug zahlen die Klein­ver­braucherInnen auf dem ein­hei­mi­schen Markt eine zusätzli­che Steuer auf die süße Ware.
Auch im Bereich der Infra­struktur werden dringend not­wendige In­ve­stitionen nicht zu­gunsten der Bevölkerungsmehr­heit unternommen. Das ohnehin gute Straßennetz an der Küste wird, unter anderem mit den nach dem Friedensschluß ange­kündigten internationalen Gel­dern, für den Export der Fin­cas op­timiert – dringend notwen­dige Ver­bindungswege im dicht­be­sie­del­ten Hochland haben in diesem Zu­sammenhang keine Prio­ri­tät.
Die Agrarfrage im Friedens­abkommen: ein Papiertiger
Im “Abkommen über so­zio­ökonomische As­pekte und zur Agrar­frage”, als Teil der Frie­densabkommen im vergangenen Mai abgeschlossen, erkennt die Regierung zwar die vielfältigen Probleme bei der Einkommens­schaffung der Kleinstbauern und -bäuerinnen in der Theorie an, ein umfassendes Wirtschafts­konzept sucht man aber vergeb­lich. Die Rede ist allgemein von einer anzu­stre­benden Diversifi­zierung besonders der Export­pro­duktion. Das einzige explizit genannte Instrument zur Ein­kommensschaffung, nämlich die Kreditvergabe zum Landkauf oder zur Produktion, wird nur den etwa fünf Prozent der ohne­hin kapital­stärkeren Betriebe zu­gutekommen. Denn Vorgaben über zulässige Höchstzinsen werden nicht gemacht.
In der Praxis wird also der kapitalstarke Unternehmenssek­tor bevorzugt. Parallel dazu gilt das neoliberale Modernisie­rungsprogramm der PAN-Regie­rung: Der Staat solle sich aller Eingriffe in die Wirtschaft ent­halten, da dies das freie Spiel der Kräfte auf dem Markt, letztend­lich zuungunsten des gesamten Gemeinwesens, behindere. Mit dieser Argumentation soll auch die Bank für ländliche Entwick­lung BANDESA privatisiert werden.

Wirtschaftliche Unabhän­gigkeit?- Verboten

Wie steht es also angesichts dieser Politik um die Möglich­keiten für die neuen Kleinst­pro­du­zentIn­nen, sich nach ihrem er­folg­reichen Kampf um das Land in den gegebenen Markt­ver­hält­nissen einen Platz zu ver­schaffen? Der Anbau von Kaf­fee, Kardamon oder Sesam ist für viele ehemals Landlose kein Neuland, da die meisten aus ihrer Zeit der Lohnarbeit auf den Groß­grundbesitzen über die nö­tigen Erfahrungen und Fertig­kei­ten verfügen. Bei den neueren Pro­dukten, wie die Gourmet-Ge­müse­arten für die Spezialitä­ten­ab­teilung unserer Super­märkte, be­steht allerdings ein hoher Be­darf an technischer Be­ratung.
Die wirklichen Schwierigkei­ten setzen jedoch ein, sobald es um die Kenntnis der Markt­struk­turen und um Fragen einer ge­winn­bringenden Ver­marktung ins­gesamt geht. Hier stoßen die Kleinst­produzentIn­nen auf die ersten Fallstricke und Stachel­draht­zäune im ach so freien Markt. Denn diese für den Agrar­export grundlegenden Kennt­nisse und Fertigkeiten ha­ben die Großunternehmen im Agrar­wesen monopolisiert. Ge­stützt auf den Staat haben sie ihre ArbeiterInnen seit Jahrhun­der­ten in völliger Unmündigkeit ge­halten und verwehren ihnen bis heute grundlegendste Bil­dungsmöglichkeiten. Eine Kleinst­produzentInnengruppe bei­spiels­weise, die sich dennoch die notwendigen Kenntnisse be­sorgt hatte, Cashew-Kerne auf selbst­fabriziertem Gerät zu rö­sten, mußte ihr Vorhaben nach den direkten Drohungen benach­barter Großproduzenten abbre­chen. So hält der Unternehmens­sektor sein Monopol über Wei­ter­verarbeitung und Export in fe­ster Hand.

Ausbeutung durch Zwischenhändler

Dabei kann er sich auch auf ein weitverzweigtes System von Zwischenhändlern, den soge­nannten Coyotes, stützen. Diese Coyotes, meist aus der kapital­stärkeren Mittelschicht, haben das nötige Wissen über Prei­s­ent­wick­lungen, Absatzmöglich­kei­ten und Qualitätsstandards, wel­ches sie nur höchst ungerne mit den Campesinos teilen. Dar­über­hinaus sind sie dank ihrer Kapi­talstärke im Besitz der nöti­gen Transportmittel, um die Pro­dukte aus schwer zugänglichen Gebie­ten in das weiterverarbei­tende Unternehmen, den nächst­größeren Markt oder gar zum Flugplatz zu befördern. Zur Si­cherung ihres Geschäftes haben die Coyotes vielfältige Abhän­gigkeitssysteme entwickelt, die von der Abschlagszahlung im Voraus bis zur “kostenlosen” Vergabe von Saatgut und Pesti­ziden reicht. Bedingung für die­sen “großzügigen Vorschuß” ist immer, daß die Ernte bei dem jeweiligen Coyote abgeliefert wird, der den Preis willkürlich festlegt. Bei
Mißernten steht der Bauer in der Schuld des Zwi­schenhändlers.

Erschwerter Zugang zu Krediten

Neben einem Einblick in das Marktgeschehen ist daher der grundlegende Dreh- und Angel­punkt jeder gewinnversprechen­den eigenständigen Produktion ein ausreichendes Startkapital. Der Anbau von Exportprodukten erfordert qualitativ hochwertiges Saatgut, Dünger, Pestizide, Werkzeug, und vor allem einen langen finanziellen Atem, um die Zeit zwischen dem ersten Anbau und der Ernte zu überbrücken. Diese Wartezeit beträgt nur ei­nige Wochen für Gemüse. Pflan­zungen für organischen Kaffee müssen jedoch über Jahre hin­weg auf eine ganz bestimmte Art und Weise gepflegt werden, bis schließlich der höhere Preis er­zielt werden kann. Der Zugang zu Krediten bei den regulären Banken aber bleibt den kapital­schwachen KleinbäuerInnen meist verwehrt. Gewähren sie den oft nur schlecht spanisch­sprechenden Campesinos/as über­haupt eine Audienz, fordern die Banken Zinsen zwischen 18 und 24 Prozent und zur Kreditsi­cherung hohe Bürgschaften, etwa ein Grundstück in der Haupt­stadt. Damit hat sich die Sache für die meisten Kleinstprodu­zentInnen erledigt und sie blei­ben auf irreguläre Kredite aus der Hand von Agrarexportunter­nehmen oder auch größeren Ko­operativen angewiesen. Diese wiederum bestimmen ihre Zins­sätze nach gusto, sie liegen bei 28 bis zu 33 Prozent.

Hilfe? – Hilfe!

In diesem Umfeld sind die neuen LandbesitzerInnen wie alle anderen Bauern und Bäue­rinnen auf viel­fältige Hilfe von außen angewie­sen. Im guate­maltekischen Ent­wick­lungs­geschäft tummeln sich aller­dings eine Vielzahl von Or­ga­nisationen, Konzepten und Inter­essen. In vielen Gegenden, ge­rade im zentralen Hochland und anderen Regionen, wo die Re­pression unter der indigenen Be­völkerung am unbarmherzig­sten gewütet hat, entdeckt man in beinahe jedem Dorf Hinweis­schilder auf kleine oder größere Taten in Sachen “Ent­wick­lung”. Hier präsentieren sich die “Lei­stun­gen” von NGOs, staatli­cher Kredit- und Sozialfonds, oder der Militärdiktatoren der 80er Jahre. Auch die Europäi­sche Union legt großen Wert darauf, ihre “Hil­fe” als solche kenntlich zu machen, es sollen sogar schon einzelne Wellblech­dächer mit dem Sternenkreis ge­sichtet wor­den sein. Bis heute wird aller­dings im seltensten Falle die Zielsetzung verfolgt, lokale Gruppen oder Dorfge­mein­schaften darin zu unterstüt­zen und zu befähigen, wirt­schaftlich zu werden. In der un­ter der Re­pression gepflegten Tradition, die Campesinos/as so­zial zu be­frie­den und in Abhän­gigkeit zu halten, werden Ent­wick­lungs­pro­jek­te weiterhin meist como un dulce verteilt – “Wie ein Bonbon, süß, bis es sich aufgelöst hat”, illustriert das die Angehörige ei­ner Frauen­gruppe.
Im Gegensatz zu dieser be­vormundenden Herangehens­weise gibt es von Seiten emanzi­patorischer NROs die Suche nach einer gleichberechtigteren Zusammenarbeit mit Produzen­tInnengruppen und Volksorgani­sationen auf dem Land. Auch diese stehen vor der Herausfor­derung, daß die Leute unmittel­bare Möglichkeiten zur eigen­ständigen Einkommensschaffung benötigen und dabei vorerst re­alistischerweise an dem gegebe­nen Marktgeschehen nicht vor­beikommen.

Hilfe zur Unabhängigkeit

Damit die Produ­zen­tInnen­gruppen aber in diesem lang­fristig, auch ohne “Hil­fe”, eine Chance haben, setzen sie neben der technischen Weiter­bildung in landwirtschaftlichen Fragen da­her vor allem darauf, die Ver­handlungsstärke der Klein­bäuerInnen im gegebenen Wirt­schaftssystem zu steigern. Hier­bei geht es um die Befähi­gung zum eigenständigen Han­deln und um Kenntnisse der Grund­mechanismen des Mark­tes. So ist es in den Projekten zur Pro­duktions- und Einkommens­stei­gerung eben nicht nur not­wendig, den üblichen Agrarex­perten vorbeizuschicken. Viel­mehr wird mit den ProduzentIn­nen auch über Preis- und Pro­duktionspolitik, die besten Mög­lichkeiten für Transport und Verkauf, und im Fall des Anbaus nicht-traditioneller Exportpro­dukte auch über die einkommen­den Faxe der Gemüsebörsen in Miami und die Flughafenbe­stimmungen für die Ausfuhr dis­kutiert. Dahinter steht die Idee, nicht länger der Spielball fremd­bestimmter Marktinstrumente zu sein, sondern sich über die An­eignung ebendieser Instrumente gegen die Vorherrschaft der Zwischenhändler und Großun­ternehmen eine gleichberechtigte Teilnahme auf dem Markt zu er­kämpfen.
Bei diesem Ansatz setzen die Organisationen zudem weiterhin auf den Zusammenschluß der ProduzentInnen. Zwar besteht heute in Guatemala selbst in den Reihen einiger Volksorganisa­tionen großes Mißtrauen gegen­über dem sogenannten “Zwangs­ko­o­pe­ra­ti­vis­mus”: Oft genug wurde er von außen ver­ordnet, sei es im Zuge der Ent­wicklungslogik der von den USA betriebenen “grü­nen Re­volu­tion”, oder einer mißverstan­denen Auslegung sozialistischer Kollektivideen – häufig war er mit Kontrolle verbunden und scheiterte an persönlichen Inter­essen. Dennoch wird auch heute ein gemeinsames Vorgehen der ProduzentInnen zumindest bei der Vermarktung als wesentlich erachtet, um die eigene Position zu stärken. So bevorzugen viele die individuelle Bearbeitung ih­rer Parzellen. Ausbildung, Trans­port und Vermarktung aber ge­sche­hen gemeinsam.

Förderung der Unab­hän­gig­keit durch Kleinkredite und Fortbildung

Eine weitere und grundle­gende Komponente, um der Ab­hängigkeit, Gängelei und Armut zu entfliehen, stellt die Vergabe günstiger Kleinkredite dar. Die­ses Konzept wird in den vergan­genen Jahren von fortschrittli­chen NROs und der katholischen Kirche mit einigem Erfolg an­gewandt. Daß dies dazu beitra­gen kann, nicht nur einen eige­nen Platz innerhalb der wirt­schaftlichen, sondern auch gegen die gesellschaftlichen Machtver­hältnisse zu erkämpfen, zeigt das Beispiel der Frauengruppe Las Violetas im guatemaltekischen Hochland: Seit mehreren Jahren erhält die Gruppe einen jährlich steigenden Kredit, den sie zu gleichen Teilen unter ihren 30 Mitglieder aufteilt. Das Geld wird zur Kleinviehhaltung, zum Gemüseanbau oder zur Errich­tung eines kleinen Ladens einge­setzt – die individuelle Verwen­dung steht den Frauen frei.
Par­allel dazu werden technische Be­ratung und Kurse in Buchfüh­rung, Markt- und Geldwesen an­geboten. Bedingung zur Fortset­zung der Zusammenarbeit ist die jährliche Rückzahlung der Kre­dite. Die Zinsen, die dem unter­sten bankenüblichen Satz ent­sprechen, fließen in einen Rota­tionsfonds. Dieser muß im Fall von Zahlungsschwierigkeiten her­halten, und soll langfristig auf eine Eigenkapitalisierung der Gruppe hinauslaufen. “Ent­ge­gen der Haltung der Männer, daß wir Frauen weder eine Stimme, noch eine Ahnung von den wichtigen Dingen des Lebens haben und uns schon daher gar kein Mit­spracherecht zusteht, haben wir uns mittlerweile einen eigenen Status erkämpft” erzählt ein Gruppenmitglied. “Als wir plötzlich Empfängerinnen von Kleinkrediten wurden, sahen sie, daß ‘mann’ uns durchaus ernst­nehmen kann.”

Ausblick

Niemand bestreitet, daß sich dieser Ansatz der Projektarbeit zur Einkommensschaffung erst­mal nicht aus den Grenzen der gegebenen nationalen und inter­nationalen Marktverhältnisse lö­sen kann. Die wirtschaftliche, rechtliche und organisatorische Befähigung der Cam­pesinos/as stellt jedoch die Grundvorausset­zung zu einem selbständigen Agieren im gesellschaftlichen Leben des Landes dar. Sie ist ein wichtiges Sprungbrett, um der sozioökonomischen Marginali­sierung zu entkommen. Unter Umständen kann sie also durch­aus dazu führen, die Grenzen der gegebenen wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnisse in Frage zu stellen.
Die Campesino/a-Organisa­tionen ihrerseits stehen nach ei­nem erfolgreich beendeten Land­kampf mit der Planung von land­wirtschaftlicher Produktion und Ver­marktung vor ganz neuen Auf­gaben und andersge­arteten Hür­den: Sie brauchen Vor­schläge und Alternativkon­zepte zur Einkommensschaffung. Es kann jedoch nicht ihre Zu­kunft sein, ihre in politischen Kämpfen er­langte Kompetenz der Ver­wandlung in eine (land)­wirt­schaft­liche Entwick­lungs­orga­ni­sa­tion zu opfern. Hier ist profes­sionelle Beratung und gleichbe­rechtigte Zusam­men­ar­beit mit fortschrittlichen NROs und ande­ren Instanzen ge­fragt. Diese wiederum benötigen den Druck von unten, wenn ihr An­satz er­folgreich sein soll. Denn ohne politischen Druck wird in Guate­mala weiterhin je­des eman­zipatorische Konzept an den strukturell gefestigten Macht­verhältnissen im Wirt­schafts- und Staatssystem schei­tern, ohne daß aller Sachverstand und guter Willen daran etwas ändern könnte.

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