Quo vadis?

Tiefe Seufzer und gequälte Augenaufschläge waren die wie­derholte Reaktion auf meine Frage an verschiedene namhafte “Lin­ke”, wer heute “die Linke” in Guatemala und welche ihre Per­spektive sei. Das gemeinsame La­mento der URNG-Angehöri­gen, der “DissidentInnen” und der schon immer Unabhängigen ist, daß “die Linke” mit Aus­nah­me derjenigen, die sich unter dem Dach der Ex-Guerilla URNG wiederfinden, auf viele Klein­gruppen verteilt bzw. nicht organisiert ist. Auch fehle ihr eine gemeinsame Position oder gar Strategie angesichts der neo­liberalen Durchmarschpläne, mit denen die Regierung in die Nachkriegszeit zieht.
Aber Kla­gen beiseite, es gibt sie, die Linke. So gehört es zur neuen Konjunktur nach den Frie­dens­abkommen, daß in Zei­tungs­ko­lumnen, in neugegründeten Zeit­schriften und gutbesuchten Po­di­umsdiskussionen über eben die­se Fragen debattiert wird. Zwi­schen zurückgekehrten URNG-Kadern, schon länger heim­gekehrten Dis­sidentInnen, jun­gen AktivistIn­nen und denen, die irgendwie die Repres­sions­jah­re im Land über­standen ha­ben, hat ein Prozeß der Be­geg­nung, des Kennenler­nens und Wie­dererkennens be­gon­nen, der ne­ben den öffentli­chen Schau­plä­tzen in vielen pri­vaten Zu­sammenhängen stattfin­det.
Die gegenseitige Vermittlung von zehn, fünfzehn, zwanzig Jah­ren unterschiedlicher Erfah­run­gen, das Anhören anderer Wertungen über vermeintliche Erfolge oder Niederlagen wäh­rend der Kriegsjahre und die gemeinsame Trauer um verlo­rene FreundInnen und Angehö­rige brauchen ihre Zeit. Nicht immer enden sie harmonisch. Auch die Zersplittertheit der Linken am Rande der URNG selbst ist ein Produkt des 36jährigen bewaffneten Kon­flikts. Des­sen Logik erstickte, so­zu­sagen bis vorgestern, jeden Versuch einer linken Formierung au­ßerhalb der URNG: Entspre­chend der allumfassenden Dok­trin des Aufstandsbekämpfungs-Staats verfolgten und vernichte­ten die repressiven Regimes alle An­sätze von Opposition.
Die URNG ihrerseits ak­zep­tier­te in­folge ihrer militärisch-po­liti­schen Macht­er­grei­fungs-Stra­te­gie keine Gruppie­rung, die au­ßerhalb oder innerhalb der ei­ge­nen Reihen ihren Avantgarde-An­spruch in Frage stellte. Im Lau­fe ihrer 15jährigen Existenz hat sie dies auf allen Ebenen vie­le Kader gekostet.

Vom Primat des Militärischen

“Die Praxis der URNG cha­rak­terisierte sich durch drei Ele­men­te: das Primat des Mi­li­tä­r­i­schen über die Poli­tik, die Aus­wei­tung der konspi­rativen Me­tho­den auf politische Ebenen, und die Notwendigkeit, andere po­litische Kräfte und so­ziale Or­ga­ni­sationen zu lenken und zu kon­trollieren. Der Blick durch die militärische Brille po­la­ri­sier­te die Sicht auf soziale und po­li­ti­sche Aspekte. Die ei­gene Kampf­form wurde verab­so­lu­tiert, und wer mit der Fort­füh­rung des bewaffneten Kam­pfes nicht einverstanden war, endete da­mit, als Gegner be­trachtet zu wer­den. (…) Abge­se­hen davon, daß diese einge­schränkte und sek­tiererische Sichtweise zur Auf­splitterung der Linken bei­ge­tra­gen hat, mach­te sie die realen Ver­bünde­ten sozusagen un­sicht­bar”, resü­miert Megan Thomas in einem Dis­kussionsbeitrag über die Zu­kunft der Linken in der neu­en Zeitschrift Aportes.
All die “Ehe­maligen”, so ihre Schluß­folgerung, stellen jedoch ne­ben den vielen, die in URNG-un­ab­hängigen Strukturen in der ei­nen oder anderen Weise für so­zi­ale Veränderungen, Ent­mili­ta­ri­sie­rung und reelle De­mo­kra­ti­sie­rung gearbeitet haben, ein gro­ßes Potential dar. Mit grö­ße­rem Bündnisgeschick und -wil­len als bisher könnte dies in ei­nem neuen linken Projekt zu­sam­men­gebracht werden: “Not­wen­dig ist eine wirkliche De­mo­kra­ti­sie­rung der politischen Praktiken der Linken. Unser Diskurs über De­mokratie, Respektierung der Viel­falt und Verschiedenheit ver­liert angesichts von Prakti­ken, die dem tagtäglich wider­spre­chen, an Glaubwürdigkeit.”

Die URNG konstituiert sich als Partei

Ohne Zweifel ist die URNG wei­terhin die bedeutendste Kraft im Lager der guatemaltekischen Linken. Ihre Mitgliedsorganisa­tionen haben sich in den ersten drei Monaten des Jahres sukzes­sive aufgelöst und damit den Pro­zeß des Parteiaufbaus einge­lei­tet. Über die zukünftige Partei ist bisher wenig Konkretes durch­gedrungen. Auf einer De­legierten-Vollversammlung in El Sal­vador im März wurde – Ver­laut­barungen zufolge ohne Pro­porz­rücksichten auf die Stärke der einzelnen URNG-Mitglieds­or­ganisationen – ein 15 köpfiger “Pro­visorischer Nationalrat” ge­wählt, dem die bisherige Gene­ral­kommandantur der URNG vor­steht.
Ein Parteiprogramm und die Sta­tuten werden zur Zeit aus­ge­ar­beitet und sind somit bis­lang nicht veröffentlicht. Be­kannt ist aber, daß es eine offene Massen­partei werden soll, wenn­gleich sich die Struktur zunächst na­tür­lich auf die bisherigen Kämpfer­Innen der URNG stüt­zen wird. Über Allianzen – so Miguel An­gel Sandoval, ehema­liges Mit­glied der Politisch-Di­plo­ma­ti­schen Kommission der URNG und weiterhin Kader der URNG – wer­de man sprechen können, wenn es Gruppen neben der URNG gibt, mit denen Bünd­nis­se möglich sind. Bisher sehe er nur einen verstreuten Haufen klei­ner Grüppchen. Eine Aus­nah­me bilde die Partei der De­mo­kratischen Front Neues Gu­a­te­mala FDNG (Frente De­mo­crá­ti­co Nueva Guatemala), mit der ein strategisches Bündnis ge­sucht werde.

Klarheit tut not

Schwer behindert wird der Weg zur offiziellen Parteikon­stituierung dadurch, daß Rodrigo Asturias, Ex-Kommandant Gas­par Ilom der ORPA (der URNG-Teilorganisation Organi­zación Re­volucionaria del Pue­blo en Ar­mas, Revolutionäre Or­ga­ni­sa­tion des bewaffneten Vol­kes) und Mitglied des Provisori­schen Na­tionalrats, bislang nicht nach Guatemala zurückgekehrt ist. Grund dafür ist die Entfüh­rungs-Affaire vom Oktober ver­gan­genen Jahres, die weiterhin un­an­genehme Wellen schlägt.
Zur Erinnerung: Im Laufe des ver­gangenen Jahres entführte ein nach ORPA-Lesart autonom agie­rendes Kommando von ORPA-Mitgliedern die Industri­el­len-Greisin Olga de Novella. Die Aktion endete mit der Fest­nahme des Kommando-Verant­wortlichen Rafael Baldizón alias Comandante Isaías, der nach dis­kreten Verhandlungen auf höch­ster Regierungs- und URNG-Ebe­ne im Austausch ge­gen die Ent­führte freigelassen wur­de. Als die Ultrarechte die ganze Ge­schichte ans Tageslicht zerrte, kam es zum Abbruch der Frie­dens­verhandlungen, bis Ro­dri­go Astu­rias mit seinem Rück­zug vom Verhandlungstisch die Fort­set­zung ermöglichte.

Stillschweigen über ein unschönes Detail

Inzwischen wurden der Presse Informationen zugespielt, daß sei­nerzeit nicht nur Comandante Isaías festgenommen wurde, sondern noch ein weiteres URNG-Mitglied, Juan José Ca­brera Rodas alias Mincho. Min­cho wurde offenbar nach der Festnahme zu Tode gefoltert, und offensichtlich war es Teil der diskreten Austauschvereinba­rung zwischen Regierung und URNG, über dieses häßliche Detail Stillschweigen zu wahren. Als nun in den Zeitungen die er­sten Fragen über den Verbleib von Mincho gestellt wurden, lie­ßen sich Regierung und URNG/ ORPA zu bizarren und teilweise makabren Erklärungen hinrei­ßen, in denen sie die Exi­stenz dieser Person negierten. Ange­sichts der Ergebnisse erster Nachforschungen, die die UNO-Mission für Guatemala MINU­GUA auf Antrag von Familien­angehörigen durchführte, sind solche Äußerungen jedoch nicht länger möglich. Erklärungen beider Seiten stehen aus.
Die politische Bedeutung die­ses Vorfalls ist vielschichtig. Ein­deutig werden die Informa­tionen, wie schon zu Beginn des Entführungsskandals, gemäß dem Zeitplan und Kalkül der Hardliner-Fraktion aus den Rei­hen der Armee und der ultra­rech­ten Oppositionspartei FRG (Fren­te Republicano Guatemal­te­co) gestreut. Sie sind scharfe Muni­tion, gegen den Präsidenten und sein Kabi­nett, im anhalten­den Macht­kampf in­nerhalb der Ar­mee und zur Diskreditierung der URNG. An dieser Stelle will ich mich auf die Konsequenzen für die URNG beschränken.

Politischer Schaden für die URNG

Ro­dri­go Asturias, der URNG-Kom­man­dant mit dem stärksten Cha­risma und der meisten Poli­tik­erfah­rung, galt als sicherer Prä­sident­schaftskandidat und po­li­tische Leitfigur der künftigen Par­tei. Der Entführungsfall in all seinen Facetten ist daher für die Rechte auch innerhalb der regie­ren­den “Partei des Nationalen Fort­schritts” (PAN) ein reichhal­tiges Arsenal, um ihn als politi­sche Figur völlig in Verruf zu brin­gen. Gleichzeitig hat dieser Fall eine zersetzende Wirkung in den Reihen der URNG und der ehe­maligen ORPA selbst: Die an­de­ren URNG-Mit­glieds­or­ga­ni­sa­tionen werden es irgendwann mü­de sein, die eklatanten politi­schen Fehler der ORPA mitzu­be­zah­len. Und auch unter den ORPA-Mitgliedern ist Unmut zu hö­ren über die Linie der Füh­rung, die nicht nur Co­mandante Isa­ías verleugnete, sondern of­fen­sichtlich auch dem zu­stimm­te, daß die Folter und Er­mordung ei­nes ihrer Kamera­den ungestraft bleibt. All diese un­schönen De­tails erfahren einfa­che URNG-Mit­glieder wie an­dere auch aus der Tagespresse. Das hat nicht ge­rade einigende Wirkung.
Auch die Demobilisierung der Ex-KämpferInnen, die inzwi­schen abgeschlossen wurde, birgt Un­sicherheitsfaktoren für den künf­tigen Zusammenhalt der URNG. Für viele GenossInnen wa­ren deren konkrete Umstände ein bitteres Erwachen. Beim Ver­lassen der Demobilisie­rungs­la­ger erhielten sie drei Mo­nats-Schecks in Höhe von insge­samt 3.780 Quetzales (rund 635 US-Dol­lar) als dreimonatiges “Aus­bil­dungs-Stipendium”, dazu je 30 Quetzales (5 US-Dollar), für die Busfahrt vom Ende des Sam­mel­transports zum An­kunftsort. Über Inhalt, Ort und Kon­di­tio­nen der Fortbildungs­kurse konn­te mir in drei Lagern kei­neR der “Be­günstigten” Aus­kunft geben. Es gibt lediglich vage Aussichten auf weitere Exi­stenz­grün­dungs­hil­fen, ungefähr in Höhe des ge­nann­ten Stipendi­ums. Über die Fru­stration und Zukunftsangst in den Reihen der Demobilisierten kann sich ange­sichts dieser Um­stän­de jedeR eine eigene Vor­stellung machen – noch herrscht al­lerdings eine bewundernswerte Dis­ziplin und Vertrauen in die Füh­rung vor.
Es wäre ein Mißverständnis, die­se Darstellungen als Rundum­schlag gegen die URNG zu in­terpretieren. Ein ebensolches Mißverständnis wäre es, die Ge­neralkommandantur mit der URNG gleichzusetzen, oder das eine auf das andere zu reduzie­ren. Während der ersten drei Monate ihres “öffentlichen Le­bens” in den Demobilisierungs­lagern wurde deutlich, daß die jeweiligen Guerillaverbände in der Bevölkerung der Umgebung verankert waren und große Achtung genießen. Ebenfalls traten die zahlreichen Kader auf mittlerer Ebene ans Licht der Öf­fentlichkeit.

Gehversuche als (parla­mentarische) Opposition

Nun werden sie Gelegenheit ha­ben, ihre politi­schen und mensch­lichen Füh­rungs­qua­li­tä­ten im zivilen Rah­men ein­zu­se­t­zen. Die URNG stellt ein großes po­litisches Po­tential dar. Ihre Füh­rung wird hoffentlich in der La­ge sein, den schwierigen Über­gangsprozeß von der klan­de­st­inen, militäri­schen Grup­pie­rung zur offenen, poli­ti­schen Or­ga­nisation zu lei­ten und da­bei Raum für eine neue Führ­ungs­ge­ne­ration und Allianzen zu öf­f­nen.
Ende April, anläßlich der er­sten Bilanz zur Umsetzung der Frie­densabkom­men auf Regie­rungs­seite, gab die URNG ihr De­but als zivile poli­tische Oppo­si­tion. Viel beachtet von links und rechts, kritisierte sie die neo­li­berale Wirtschafts­politik der Re­gierung und präzi­sierte ihre ab­lehnende Haltung gegenüber der Privatisierung grundlegender staat­licher Dienst­leistungen, nach­dem Rodrigo Asturias die Ge­werk­schaften mit einer pri­va­ti­sie­rungsfreundlichen Äu­ße­rung von Mexiko aus ver­ärgert hatte. Die Erfüllung der Frie­dens­ab­kom­men ist derzeit der einzig prä­zise Bezugsrahmen für die Poli­tik der URNG. Nun gilt es ab­zuwarten, wann sie wieder ge­nug Luft ho­len kann. Dann muß sie konkre­tisieren, was sie meint, wenn sie sagt, daß die Ab­kom­men nur eine Mini­mal­ba­sis für die De­mokratisierung von Wirt­schaft und Gesellschaft sind.

URNG und FDNG – eine strategische Allianz

Eine weitere Unbekannte auf dem künftigen Weg der Linken ist die Zukunft der FDNG. In ih­rer Gründungsphase von einem wirk­lich breiten Bündnis linker In­tellektueller, Volksorganisa­tio­nen und KleinunternehmerIn­nen ge­tragen, konstituierte sie sich schließlich drei Monate vor den letz­ten Präsidentschafts- und Kon­greßwahlen im November 1995 als Ausdruck der mit der URNG sympathisierenden Volks­bewegung und konnte über­raschend als drittstärkste Par­tei des Landes mit sechs Ab­ge­ordneten in den Kongreß ein­zie­hen.
Nineth Montenegro, eine der FDNG-Abgeordneten, ge­steht in ei­nem Artikel über die Per­spek­ti­ven der Linken selbst­kritisch ein, daß die FDNG bis­lang kein brei­tes Bündnis, son­dern die Iz­quier­da Popular vertritt. Ihre po­li­ti­sche Zukunft hänge davon ab, Tei­le der ver­streuten linken Inte­llek­tuellen, der Frauen- und Indí­gena­bewe­gung und der Mittel­schicht zu gewinnen. Als Be­din­gungen da­für nennt sie, “das ei­ge­ne Haus in Ordnung zu brin­gen”, und das nächste Na­tio­nal­ko­mi­tee demo­kratisch zu wäh­len. Im gua­te­mal­te­kischen Kon­text heißen diese vor­sich­ti­gen Um­schreibun­gen, daß die Par­tei eine wirkliche Un­ab­hängigkeit von der URNG ge­win­nen muß, mit der im übri­gen eine stra­te­gi­sche Allianz an­ge­strebt wird.

Im Bündnis gegen Machtmonopole

Insgesamt ist zu beobachten, daß sich sowohl die URNG als auch die FDNG stark auf die nächsten Wahlen im Jahre 2000 konzentrieren. Sicher hat der Aufbau glaubwürdiger, demo­kra­tischer Wahloptionen eine nicht zu unterschätzende Be­deutung in einem derart abge­wirtschafteten politischen Sy­stem, in dem für die Einführung minimaler rechtsstaatlicher Prak­ti­ken die Waffen erhoben werden mußten. Er kann aber in die Sackgasse führen, wenn die Parteien nicht gleichzeitig daran arbeiten, zum offenen Sprach­rohr und Katalysator der zer­splitterten sozialen Bewegungen zu werden, ohne diese zu domi­nieren oder zu instrumentalisie­ren. Bündnisse zu schaffen und diesen im wohlverstandenen ei­genen politischen Interesse zu dienen, kann dabei durchaus als historische Bringschuld gesehen werden. Denn ausgehend von politischen Strömungskämpfen, die von URNG-Spaltungen aus­gelöst wurden, hat sich bei­spielsweise die Flüchtlingsbe­völkerung gespalten, in Ver­handlungsunfähigkeit gegenüber der Regierung manövriert, und nun verschleißt sie sich gegen­seitig im Ixcán (Grenzregion zu Me­xiko, in der viele Flüchtlings­rücksiedlungen entstanden sind; Anm. der Red.) zugunsten land­gieriger Öl-Firmen.
Gleiches gilt für die 300 Landbesetzungen von Bauern­or­ga­nisationen verschie­de­ner po­li­ti­scher Ausrichtung, die in allen Lan­des­teilen der Ent­faltung der Bündnisfähigkeit ih­rer Führer harren, damit sie nicht länger ein­zeln zu schlagen sind, sondern gemeinsam der Regie­rung Lösungen abtrotzen kön­nen.
Die Regierung ihrerseits be­setzte in den vergangenen Wo­chen fast unangefochten die Schlüssel­positionen verschiede­ner von den Friedensabkommen vor­gesehener Kommissionen mit ih­ren KandidatInnen: Dem Na­tio­nalen Frauen-Forum wurde ohne vorherige Konsultationen mit Aracelli de Conde eine Frau vor­gesetzt, die ihre Politikerfah­rung im Team des Putschisten Jorge Serrano gesammelt hat. Die Nationale Kommission zur Be­handlung der Agrarprobleme führt Luis Reyes Mayen an, ehe­ma­liger Präsident der Agrar­kammer, des Horts der reaktio­nären Unverbesserlichen. (Vor­läu­fig) ist es also so, wie der Ko­or­dinator der Bauern- und In­dí­gena­organisation KABAWIL in ei­nem Gespräch sagte: “… schwie­rig, gegen diese Manöver der Regierung anzugehen, so­lange wir nicht einmal in der Lage sind, gemeinsam eigene Ge­genkandidaten aufzustellen.”
Suche nach Einheit
Die gesamte Marschrichtung zur Umsetzung der Friedensab­kommen hängt daher von der Bündnis- und Handlungsfähig­keit einer Linken ab, die mehr als die URNG und FDNG um­fassen müsste. Die Ausgangsbe­dingungen dafür sind, trotz der geschilderten Probleme, günstig. Denn innerhalb und außerhalb der Hauptstadt ist eine Vielzahl von Initiativen entstanden, die mit viel Schwung damit begon­nen haben, die neu gewonnenen politischen Spielräume zu beset­zen. Lokale BürgerInnengruppen machen den Nachfolge-Instanzen der Zivilpatrouillen das bisherige Macht­monopol auf der lokalen Ebe­ne streitig und gewinnen Ver­handlungsfähigkeit gegen­über den politischen Parteien.
Frauen organisieren sich in ver­schie­densten Landesteilen und nehmen über Re­gio­nal­ko­or­di­na­tionen an den nationalen Fo­ren teil. Dieser Prozeß wird ge­ra­de auch von Indígena-Frauen ge­tra­gen und ist nicht nur in­te­res­sant und wichtig für die Her­aus­bil­dung einer Frauenbewegung auf nationaler Ebene, sondern hat ebenfalls frischen Wind in die Debatten der Indígena-Bewe­gung über die Interpretation von au­thentischer Kultur gebracht. Die Indígena-Bewegung selbst kon­solidiert nach und nach plu­rale, repräsentative Vertretungs­struk­turen und gewinnt Schritt für Schritt Stimme und Gehör auf nationaler Ebene.
Neue Ak­teure arbeiten an neu­en Themen und alle sind sich be­wußt, daß jede zukünftige Ver­änderung der Kräfte­ver­hält­nis­se im Land nur über Zu­sam­men­schlüsse gehen wird. In die­sem Zusammenhang ist es viel­ver­sprechend, wenn aus den Rei­hen der “alten” Akteure zu hö­ren ist, daß künftige Allian­zen nicht als ideologische son­dern als so­zi­ale Bündnisse ge­sucht wer­den sol­len. Im Mo­ment, und wohl ei­ne ganze Weile noch, ist Um­bruch- und Auf­bruch­stimmung an­gesagt, kön­nen von außen nur Fra­gen ge­stellt, aber keine Wer­tun­gen ab­gegeben wer­den.

Editorial Ausgabe 276 – Juni 1997

“Kaffee ist der Duft meiner Heimat Guatemala”, erklärt uns eine alte Frau, mit deren sympathischem Konterfei Tschibo seit einigen Wochen in deutschen Medien wirbt. Die neue Kqfeesorte, deren Duft uns angepriesen wird, trägt den programmatischen Namen ‘Privat Kaffee Guatemala Grande”. Private Kaffeegroßgrundbesitzer -darunter nicht wenige Deutsche -sind mit Anbau und Kommerzialisierung der begehrten Bohne ja auch wirklich groß geworden.
Die andere Seite der Kaffeeproduktion verschweigt uns Tschibo allerdings. War jedoch kein Wunder ist, schließlich eignet sich diese -Landraub durch die Finqueros sowie Unterdrückung und Ausbeutung der indianischen Bevölkerungsmehrheit -nur schlecht, um uns zum Genuß dieses “faszinierenden Kaffees” zu bewegen.
Auch zum Krieg, der nach 36 Jahren gerade zu Ende gegangen ist, schweigt Tschibo. Dabei sind die Zusammenhänge nur allzu deutlich -die Basis der “‘Privat Kaffee“-Produktion war schließlich die jahrzehntelang gut funktionierende Allianz von Agraroligarchie und Militär. Ergebnis dieser Allianz war unter anderem ein semi-feudales System, das die Arbeiterlnnen auf den Kaffeeplantagen zu Quasi-Leibeigenen der Großgrundbesitzer machte. Die damit verbundene Repression und Misere gehörten denn auch zu den Auslösern des Krieges, der zehntausende Tote forderte und mehr als eine Million Menschen zu Vertriebenen machte.
Widerstand gegen das repressive System hatte es schon immer gegeben. Zu einer existentiellen Bedrohung für die weiße und ladinische Herrschaftselite wurden ab Ende der 70er Jahre die Guerillaorganisationen, die sich 1982 zur “‘Nationalen Revolutionären Einheit Guatemalas” (URNG) zusammen-schlossen. Als dritte Befreiungsbewegungklassischen Typs in Mittelamerika konnte sie sich neben der FSLN in Nicaragua und der FMLN in E1 Salvador festsetzen. Neben dieser “Avantgarde” wuchs, vor allem nach dem Übergang des Landes zum formalen Parlamentarismus im Jahre 1986, eine starke Volksbewegung heran, in der sich Opfer von Menschenrechtsverletzungen, lndígenas und Campesinos zu Wort meldeten.
An den Kriegsursachen hat sich bis heute nur wenig verändert, doch seit dem 29. Dezember I996 ist einer der längsten bewaffneten Konflikte zu Ende, der letzte in einem mittelamerikanischen Land. Jenseits der Süd-grenze der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA herrscht nun Frieden -zumindest auf dem Papier. Ein halbes Jahr nach diesem historischen Datum schauen wir -die Lateinamerika Nachrichten und die Informationsstelle Guatemala -,wo das Land steht und welche Perspektiven sich ergeben.
Ob nun neoliberale Notwendigkeiten, der Druck von unten, das Ende des Ost-West-Konfliktes oder eine Kombination dieser Faktoren ausschlaggebend waren: Die unversöhnlichen Fronten zwischen Militär und Guerilla brachen Anfang der 90er Jahre ebenso auf wie die althergebrachten Machtstrukturen. Der Wunsch, die langen Jahre des internen bewaffneten Konflikts zu beenden, wuchs in allen gesellschaftlichen Gruppen. Der Weg bis zur Einigung auf ein Friedensabkommen war dennoch lang und mühselig.
Knapp ein halbes Jahr ist seit dem Friedensschluß vergangen. Die Bevölkerung, soziale und politische Kräfte suchen nach dieser Zäsur noch nach Orientierungen. Aber immerhin: Gesellschaftliche Auseinandersetzungen, die die ganzen Jahre durch die allgegenwärtige Aufstandsbekämpfung unmöglich waren, werden heute geführt. Die wichtigsten Diskussionen und einige der Fragen, die Guatemala bewegen, finden sich auch in diesem Heft: Wie integrieren sich die Guerilleras/os in das gesellschaftliche Leben des Landes? Welche Chancen hat die Landbevölkerung, ihr (Uber-)Leben zu sichern? Wird das Militär für seine grausamen Taten zur Verantwortung gezogen? Auch ideologische Grundfesten des Systems stehen zur Diskussion -vor allem der alltägliche Rassismus der ladinischen Elite gegenüber der indigenen Bevölkerungsmehrheit.
Deutlich wird in allen Beiträgen dieses Heftes: Das Land ist im Um-und Aufbruch. Vieles und viele sind in Bewegung. Der herrschende Neoliberalismus hat widersprüchliche Entwicklungen in Gang gesekt -die vor-schnelle Kategorisierung in richtige oder falsche, gute oder schlechte Entwicklungen verstellt dabei mehr denn je den Blick auf die Realität.
PS: Für die Abonenntlnnen des Guatemala-Infos: Diese Ausgabe der Lateinamerika Nachrichten ist gleichzeitig das Guatemala-Info 2/97.

“Das Land gehört uns!”

Nueva Palestina ist ein kleines Dorf in Chiapas, dem südlichsten der 32 Bundessstaaten Mexikos. Ein Rinnsal schlängelt sich durch den Ort und sorgt an seinem Ufer für spärliches Grün durch Sträucher und Bäume. Hühner gakkern umher und im Schatten dösen abgemagerte Hunde.(…)
Die Familien in Nueva Palestina sind arm. Das Dorf unterscheidet sich kaum von Tausenden anderen in Mexiko. Nichts deutet auf den ersten Blick darauf hin, daß in Nueva Palestina Krieg geführt wird. Eigentlich muß es heißen, daß gegen Nueva Palestina Krieg geführt wird. Das Dorf liegt nur wenige Kilometer von den Kaffeeplantagen Liquidambar und Prusia entfernt, Eigentum der Familien Schimpf-Hudler und von Knoop aus dem fernen Deutschland. Der Krieg gegen Nueva Palestina sorgt für keine großen Schlagzeilen. Er wird leise und verdeckt geführt, ist aber umso brutaler und zermürbender.
Seitdem sich die BewohnerInnen Nueva Palestinas in der Unión Campesina Popular Francisco Villa (UCPFV) zusammengeschlossen haben, um Land für die Erweiterung ihrer landwirtschaftlichen Kooperative, ihres Ejidos, zu erstreiten, lasten Angst und Unsicherheit auf ihnen. Fast täglich kommen bewaffnete Einheiten ins Dorf. Wenn die Jeeps aus dem Tal heraufdröhnen und am Horizont eine weit sichtbare Staubwolke aufwirbeln, wird es plötzlich still in der Siedlung. Meistens passiert die Kolonne Nueva Palestina ohne anzuhalten. Dann atmen die Menschen, die sich in ihren Häusern versteckt halten, erleichtert auf. Manchmal jedoch kommen die Fahrzeuge mitten in der Ortschaft zum Stehen und vermummte Gestalten mit Maschinenpistolen in den Händen springen von den Ladeflächen der Jeeps. Dann schließen die Menschen in Nueva Palestina vor Furcht die Augen: Heute treten sie vielleicht meine Haustür ein und rauben alles, was ich besitze. Heute verschleppen sie vielleicht mich und verbrennen mir die Augenlider. Heute tauchen sie vielleicht meinen Kopf in Dreckwasser und vergewaltigen mich, wie vor kurzem Julieta Flores. Oder ich kehre als verstümmelter Leichnam zurück, wie Reyes Penagos Martínez.
Nur kurz währte die Zeit, als die Hoffnung auf ein besseres, menschenwürdiges Leben ihre Herzen mit Optimismus erfüllte.
Begonnen hatte alles am 4. August 1994.(…)

Liquidambar wird besetzt

In den Morgenstunden des 4. August 1994 erobern 500 Mitglieder der Unión Campesina Popular Francisco Villa (UCPFV) die deutsche Kaffeeplantage Liquidambar.(…)
Ihre Gesichter mit Masken und Tüchern verhüllt, in den Händen Macheten, Knüppel und hier und da alte Jagdflinten, sperren sie die Zufahrtswege zur Finca ab. Für einen Moment vermischen sich Vergangenheit und Gegenwart. Ein Hauch der Mexikanischen Revolution breitet sich über der Siedlung aus.(…)
Immer mehr Menschen strömen dem Herrenhaus zu: “Hoch lebe Pancho Villa!”, “Es lebe die EZLN!”, “Das Land gehört uns!”, “Nieder mit den Reichen!”(…)
Am 15. September besetzen sie die Kaffeeplantage Prusia (Preußen), im Besitz der von Knoops, einer weiteren deutschen Großgundbesitzerfamilie im Landkreis und am 25. Oktober die Fincas Sayula, Las Chicharras sowie einhundert Hektar Staatsland. Dadurch haben sie nicht nur die größten Latifundien des Landkreises in ihre Gewalt gebracht, sondern kontrollieren durch zahlreiche Straßensperren auch 90 Prozent des Territoriums von Angel Albino Corzo.(…)

Preußen am Pazifik

Hermann Schimpf wurde am 21.4.1890 in Osterode / Harz geboren. 1923 gründete der Niedersachse mit dem 35-jährigen in Guatemala ansässigen US-Bürger Max C. J. Mohr die Kaffeegesellschaft “Mohr y Schimpf”. Damit war der Grundstein für eine Entwicklung gelegt, die seiner Familie mehr als nur ein gutes Auskommen sichern sollte.(…)
1977 war die Finca in 15 Einheiten unterteilt. Für diese besaßen 13 Personen Besitztitel, darunter Hermann Schimpf, sein Sohn German, dessen Ehefrau Gertrude und deren Töchter Margarita und Marianne, zu diesem Zeitpunkt noch minderjährig. Auf niemanden entfielen mehr als 300 Hektar Land, somit war der Agrargesetzgebung genüge getan. Auf den Urkunden für zwei weitere vorgebliche Eigentümer, Justo Gutiérrez Bonifaz und Vidal Bermudez Bermudez, ist als Wohnanschrift San Francisco # 1517, Colonia del Valle, Mexico D. F. angegeben, interessanterweise die Hauptstadtresidenz der Familie Schimpf.(…)
Nach Hermann Schimpfs Tod übernahm sein Sohn German das Ruder auf der Kaffeeplantage. German Schimpf wurde am 13. April 1918 auf Liquidambar geboren. So besagt es auch eine Urkunde, die die Wand am Zugang zum Verwaltungsgebäude ziert. Allerdings handelt es sich hier nicht um die Geburts, sondern um eine Ehren-Urkunde der Deutschen Wehrmacht vom 23. Oktober 1938.(…)
Am 2. Mai 1987 heiratete German Schimpfs 26-jährige Tochter den Sohn des Hamburger Kaffee-Importeurs Karl Hudler. In der Kirche des Heiligen Geistes in Mexiko-Stadt gaben sich Marianne Schimpf und Laurenz Hudler das Ja-Wort.(…)
Nach der Hochzeit setzte sich der Hamburger Yuppie nicht nur ins gemachte Nest in Chiapas, sondern begann sich auch aktiv an der Lokalpolitik zu beteiligen. Die Verbesserung der Infrastruktur des Landkreises lag dem Neu-Mexikaner besonders am Herzen. Zur Modernisierung des zu seiner Finca führenden Verkehrsweges gründete er die Stiftung “Patronato Pro-Pavimentación”, der er 1994 als Präsident selbst vorstand.(…)
Der PRD-Kreistagsabgeordnete und UCPFV-Gründer Roberto Hernández Paniagua forderte am 20. Februar 1994 öffentlich Aufklärung darüber, warum bis dato mit Steuergeldern nur die Zufahrt zur Finca Montegrande, im Besitz von Salím Moisés befindlich und direkt neben Liquidambar gelegen, asphaltiert worden sei. Es waren diese Sticheleien, die Roberto Hernández Paniagua das Leben kosten sollten. Sechs Monate später wurde der PRD-Politiker von Pistoleros erschossen.(…)
Mit der Schaffung eines Naturschutzgebietes in unmittelbarer Nachbarschaft der Finca Liquidambar bot sich Laurenz Schimpf-Hudler Anfang der 90er Jahre ein anderes Betätigungsfeld. Er bekleidete als Sprecher der für den Erhalt der Flora und Fauna des Naturschutzgebietes “Reserva de la Biósfera El Triunfo” zuständigen Behörde PACONAAC, A.C. einen nicht einflußlosen Posten. Doch was die Herzen ökologisch gesinnter Menschen höher schlagen läßt, kam für die Kleinbauern der Gemeinde El Pajal einem Alptraum gleich. Von einem Tag auf den anderen wurden 90 Prozent ihrer 967 Hektar umfassenden Agrarkooperative zum Naturschutzgebiet deklariert.(…)
In der Besetzung der Plantage Prusia im Herbst 1994 sahen die BewohnerInnen El Pajals die einzige Möglichkeit, ihre Lebensverhältnisse zu ändern.(…)
Die vertriebenen Plantagen-Herren wähnten sich nach der geglückten Besetzung ihrer Ländereien mißverstanden und als Opfer einer ungerechtfertigten Kampagne. “Ich fühle mich schon wie ein Türke in Deutschland”, beschwerte sich Laurenz Schimpf-Hudler Ende ’94.(…)
zum ersten Mal in ihrem Leben arbeiteten die PflückerInnen auf Liquidambar unter Selbstverwaltung. 60 Pesos pro Tag verdienten sie jetzt, das sind umgerechnet zehn US-Dollar. Auch damit lassen sich keine Reichtümer anhäufen, aber zu einem menschenwürdigen Leben reicht es. Und welch ein Unterschied zu früher. Dieses von den ArbeiterInnen ausgesprochene “früher” klingt, als läge es hundert Jahre zurück. Dabei waren noch nicht einmal sechs Monate vergangen.(…)

Das Imperium schlägt zurück

Jorge Constantino Kanter, Chef der Confederación Nacional de Propietarios Rurales (CNPR), und Abkömmling deutscher Kaffeepflanzer, läßt Ende Januar 1995 auf einer Pressekonferenz keine Zweifel daran, daß die Großgrundbesitzer mit allen Mitteln die besetzten Plantagen und Grundstücke zurückerobern wollen. Wie das Vorgehen gegen die Landbesetzer aussehen soll, kündigt er auch gleich an: “Unsere Aktionen werden sich nicht gegen die Campesinos und Ejidatarios richten, sondern gegen die Führer der Gewerkschaften.”(…)
Chiapas, 9. Februar 1995: Noch sind die Kaffeeplantagen im Landkreis Angel Albino Corzo von den Villistas besetzt. Doch jetzt marschiert das Militär gegen die Stellungen der EZLN im Lakandonischen Urwald.(…)
Während in ganz Mexiko Tausende gegen die Kriegspolitik Ernesto Zedillos protestieren, wird woanders gefeiert. Laurenz Schimpf-Hudler und Ehefrau Marianne, die Familie von Knoop und all die anderen Kaffeebarone spüren wieder Rückenwind.(…)
Guillermo Escudero, Präsident der Unión Nacional de Productores de Café (UNPC) und enger Geschäftsfreund der Familie Schimpf-Hudler, verlangt am 3. März 1995, daß die “besetzten zweitausend Ländereien außerhalb des zapatistischen Einflußbereichs” jetzt endlich geräumt werden müßten. Auch der Chef der Unión Estatal de Productores de Café (UEPC), Carlos Bracamontes Gris, ein Verwandter der von Knoops, fordert am 12. März in der Presse die Räumung der besetzten 30.000 Hektar Land in Angel Albino Corzo: “Es muß eine schnelle Lösung für das Problem gefunden werden, weil die Einnahme von Devisen notwendig ist”, sagt er.(…)
Am 28. April um sechs Uhr morgens rücken Armee, Judiciales und Seguridad Pública aus dem Tal in Richtung Liquidambar vor. In Nueva Palestina räumen sie die von den Villistas errichtete Straßensperre. Mit Jeeps und LKWs dröhnen sie die Straße zur Plantage empor.(…)
Den 300 BesetzerInnen der UCPFV bleibt nichts anderes, als in die umliegenden Berge zu fliehen.(…)
Am 17. Mai 1995 erläßt der Richter Alejandro Cardenas López in der Landeshauptstadt Tuxtla Haftbefehl gegen 170 vermeintliche Mitglieder der UCPFV. Die Anklage, Strafsache Nr. 207/95, lautet auf “bewaffneten Raubüberfall”.(…)
Die Villistas versuchen nach der Räumung mit Protestkundgebungen auf ihre dramatische Situation aufmerksam zu machen. Zwei Protestmärsche der UCPFV im Sommer 1995 nach Tuxtla enden im Kugelhagel der Polizei. Wieder werden Menschen aus Nueva Palestina verhaftet, wieder fließt Blut.(…)
Am 17. September 1995 wird der PRD-Bürgermeisterkandidat Antelmo Roblero Roblero in Jaltenango erschossen. Nun überschlagen sich die Ereignisse. Nur wenige Stunden später wird der PRI-Kandidat José Rito Solis, ein langjähriger Freund der Schimpf-Hudlers, der von der Basis der PRD direkt für den Mord an Antelmo Roblero Roblero verantwortlich gemacht wird, entführt. Am 18. Sep-tember wird der PRI-Politiker Ausel Sánchez Pérez erschossen. Dieser hatte gegenüber einer Zeugin seine Beteiligung an der Ermordung Roblero Robleros gestanden und Laurenz Hudler und Folke von Knoop als Mittäter genannt. Die Welle der Gewalt, die den Landkreis erfaßt hat, fordert Opfer nach Opfer.(…)
Am 16. November 1996 nehmen Polizei-Einheiten nahe der guatemaltekischen Grenze zwei Campesinos aus der Umgebung Jaltenangos fest. Laut Angaben der Staatsanwaltschaft sollen sie drei Boden-Luft-Raketen samt Abschußgerät mitgeführt haben und Mitglieder der UCPFV sein.(…)

Dirk Pesara/Boris Kanzleiter: Die Rebellion der Habenichtse. Edition ID-Archiv 1997. 144 Seiten, 16,- DM (ca. 8 Euro).

Die Gegenwart ist virtuell

Die letzten Jahre vergingen schnell. Aufbaustimmung, Gründungsfieber und der Gedanke an die neuen Chancen prägten den politischen Diskurs. In der Politik ist das Wort “Versöhnung” ein abgenutztes Schlagwort geworden, seitdem sich die Meinung durchgesetzt hat, daß sowohl Wahrheit als auch Gerechtigkeit “im Rahmen des Möglichen” – so die wichtigste Maxime der chilenischen Politik – geschaffen worden seien. Die Diskussion um die demokratische Transformation Chiles wurde seit dem Amtsantritt von Technokraten-Präsident Eduardo Frei 1994 durch eine Debatte um die Konsolidierung und ökonomische Modernisierung abgelöst. Wenig überraschend, daß sich ein Wunschdenken entwickelte, nachdem die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nur noch den Schritt zur Versöhnung benötigte, um abgeschlossen zu werden.
“Die neue Demokratie beginnt ihr Leben als virtuelle Realität. Die Vergangenheit ist nicht zuletzt deshalb schwer bearbeitbar, weil sie zum Teil Gegenwart bleibt” schrieb 1996 der chilenische Psychologe David Becker. Er weiß, wovon er spricht.
Tagtäglich hat er mit den Folgen einer nichtbearbeiteten Vergangenheit zu tun, denn er betreut Folteropfer im Lateinamerikanischen Institut für Menschenrechte und psychische Gesundheit (ILAS) in Santiago. Nicht nur die traumatischen Erlebnisse der Folter machen dabei nach seinen Erfahrungen das Leiden der Opfer aus. Denn die ausbleibende gesellschaftliche Anerkennung des Opferstatus vergrößert den Schmerz. Die krankhaft auf Konsens ausgerichtete Politik der jungen Demokratie hat daran ihren Anteil. “Wie Seismographen”, so Bekker, reagierten die Patienten auf politische Vorkommnisse, etwa, wenn wieder einmal die Straflosigkeit der Folterer durch ein Gericht bestätigt wird. “Zur Zeit haben wir im ILAS mehr Anfragen nach therapeutischer Hilfe als vor fünf Jahren”, resümiert der Psychologe.
Dabei hatte alles vielversprechend begonnen, als im März 1991 der Kommissionsbericht, der nach seinem Vorsitzenden Raúl Rettig auch den Namen “Rettig-Bericht” trägt, vorgelegt wurde. Zum ersten Mal war von einer offiziellen Stelle anerkannt worden, daß während Pinochets Diktatur Menschen verschwanden, ermordet und gefoltert wurden. 2279 Menschen, so der Bericht damals, seien der Gewalt zwischen 1973 und 1990 zum Opfer gefallen. Breit wurde die Studie in der Öffentlichkeit diskutiert, die Zeitungen druckten die 1352 Seiten als Sonderausgabe nach. Die Militärs befanden sich, trotz Drohgebärden und Säbelrasseln, in der Defensive.

Politik: Suche nach Wahrheit

Doch für die neue Regierung war mit dem Bericht offensichtlich jegliche Schuld beglichen. Einen Monat nach der Veröffentlichung wurde der rechtsgerichtete Senator Jaime Guzmán auf offener Straße ermordet,was der Regierung einen willkommenen Anlaß bot, das Thema der Menschenrechte und des Kommissionsberichtes zu begraben. Tatsächlich hatte der Regierungsminister schon Tage vor dem Mord erklärt: “Wir betrachten die institutionelle Debatte als beendet.” Der Rettig-Bericht wurde somit zum ersten Verschwundenen der neuen Regierung.
Der Bericht hinterließ dennoch seine Spuren. In der Politik wurden umstrittene Versuche einer weiteren Wahrheitsfindung gemacht. Tatsächlich versuchte sowohl Präsident Aylwin, als auch sein Nachfolger Eduardo Frei, das Thema der Menschenrechtsverletzungen per Gesetz endgültig aus der Welt zu schaffen. Doch sowohl die Ley Aylwin (1993, LN Nr. 231/232) als auch die Ley Figueroa/Otera (1995, LN Nr. 259) scheiterten im Parlament. Zu deutlich war in den Gesetzesentwürfen, daß alles letztendlich auf die Bestätigung der Straffreiheit der Militärs hinausgelaufen wäre – im Austausch für Informationen über die letzte Ruhestätte der noch immer Verschwundenen. Ein hoher Preis für die Wahrheit.
Die Zahl der Opfer stieg indessen an, denn die Corporación de Reparación y Reconciliación, so hieß die Nachfolgeorganisation der Rettig-Kommission, recherchierte weiter. Im Frühjahr 1995 übergab die Organisation Eduardo Frei eine Liste mit weiteren 899 Fällen von Verschwundenen, was die Zahlen der Rettig-Kommission um fast 40 Prozent nach oben korrigierte. Doch die Liste wurde totgeschwiegen, eine Neuauflage der Debatte um die Menschenrechtsverletzungen ist eindeutig nicht erwünscht. “Ich glaube, diese Liste wird nie veröffentlicht werden”, so eine Mitarbeiterin der Corporación. Die Schließung der Regierungsorganisation ist indes bereits beschlossenen Sache, im Laufe des Jahres 1997 müssen die Schreibtische geräumt werden.
Und auch die Arbeit vieler unabhängiger Menschenrechtsorganisationen steht vor dem Aus, soweit sie nicht schon – wie die Vicaría de la Solidaridad 1992, dichtgemacht haben (LN Nr. 229/230). Noch dieses Jahr wird die chilenische Menschenrechtskommission (CCDH) ihre Arbeit einstellen. Zudem halbierte sich das aus dem Ausland für Nichtregierungsorganisationen gespendete Geld nach der Redemokratisierung innerhalb eines Jahres von 60 auf 30 Millionen US-Dollar. Inzwischen dürfte es noch weniger sein. Von der Regierung ist keine Hilfe zu erwarten. Sie will keine weitere Wahrheitssuche.

Justiz: Suche nach Gerechtigkeit

Bruna Truffa: Diese Wunde, die nie aufhört zu bluten. Acryl, 1989
Juristisch, sagen viele, sei einiges erreicht worden bei der Behandlung des Menschenrechtsthemas. Tatsächlich: materielle Wiedergutmachungsleistungen wurden ausgezahlt, Wiedereingliederungsprogramme für rückkehrende Exilierte aufgestellt, politische Gefangene freigelassen. Aber die Leistungen der Regierung werden von vornherein auf die Dauer von fünf jahren beschränkt. Und auch das Rückkehrbüro (Oficina de retorno) setzte bereits im Sommer 1994 einen Schlußstrich unter seine Arbeit, nachdem von offiziell 250.000 Exilierten rund 40.000 mit ihrer Hilfe zurückgekehrt waren. Doch schon verlassen die ersten Rückkehrer Chile wieder in Richtung ihres früheren Exils, weil sie mit dem Leben in ihrer verändertet Heimat nicht mehr zurechtkommen.
Eine Reform des noch von Pinochet-Getreuen durchsetzten Justizsystems ist nach wie vor überfällig, und so verdient die Rechtsprechung oft nicht einmal ihren Namen. Immerhin 220 Verfahren gegen Menschenrechtsverletzer konnten aufgrund der Informationen der Rettig-Kommission wiederaufgenommenen werden. Einige wenige Folterer wurden zu Haftstrafen verurteilt. Die prominentesten wie Ex-Geheimdienstchef Manuel Contreras und sein Adjutant Pedro Espinoza können ihre Strafen in einem eigens für sie gebauten Gefängniskomplex in Punta de Peuco bei Santiago absitzen (wobei die Verurteilungen wohl auch auf den außenpolitischen Druck der USA zurückgehen, mit denen man gerade über eine – später gescheiterte – Aufnahme in die NAFTA verhandelte).
Hoffnung für das chilenische Rechtssystem und die Zuerkennung von Gerechtigkeit nährt sich hauptsächlich aus dem erwarteten Generationenwechsel der Richterschaft. Mit Hilfe einer Aufstockung der finanziellen Mittel für die Gerichte schleuste die Regierung Aylwin eine große Anzahl junger Juristen in die Behörden, die dem Rechtsstaatprinzip aufgeschlossenener gegenüberstehen als ihre älteren Kollegen. Doch auch die Besetzung des Obersten Gerichtshofes, Hort der Pinochet-hörigen Richterschaft, wird eine Veränderung erfahren: Laut Verfassung muß die Hälfte der noch von Pinochet eingesetzte Robenträger im März 1997 ausgetauscht werden. Aber die von Pinochet ernannten acht Spezialsenatoren werden bis Dezember im Parlament ihre Arbeit weiter verrichten, und ob der greise Obermilitär wie vorgesehen im März 1998 sein Amt niederlegen wird, steht noch in den Sternen.
So ist Skepsis weiterhin angebracht: Die Vereinten Nationen berichten in einem Chile-Bericht im Frühjahr 1995 von 210 Folterfällen durch chilenische Sicherheitsbeamte seit 1990. Die Methoden unterscheiden sich nicht von denen der Diktaturzeit: Elektroschocks, Vergewaltigungen, Scheinhinrichtungen, Schlaf- und Nahrungsmittelentzug sowie Beinahe-Ersticken. Am Abend des 23. Jahrestages des Putsches vom 11. September 1973 kam es zu Ausschreitungen, in deren Verlauf mindestens 38 Menschen verletzt wurden und 222 Anti-Pinochet-Demonstranten festgenommen wurden. Und auch der Anfang Februar 1997 veröffentlichte jährliche Menschenrechtsbericht des US-State-Departments greift neue Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen auf. So sollen innerhalb des letzten Jahres mindestens drei Menschen wegen unangebrachter Gewalt der Polizei gestorben seien. Die Haftbedingungen sind nach wie vor schlecht. Die Regierung wiegelt nach wie vor ab, spielt sogar ein wenig beleidigt und spricht von “bedauerlichen Einzelfällen”, die allen Polizeiorganisationen der Welt unterkämen. Die rechten Parteien – bis hin zu den an der Regierung beteiligten Sozialisten – sekundieren. Gleichzeitig ist wieder einmal eine heftige Debatte um die innere Sicherheit und den Linksterrorismus losgetreten worden, nachdem Ende Dezember 1996 die vier mutmaßlichen Mörder Jaime Guzmáns mit Hubschrauberhilfe spektakulär aus ihrem Gefängnis entwischen konnten.

Gesellschaft: Suche nach Versöhnung

Wohl kein Wort ist in der chilenischen Rhetorik so vergewaltigt worden wie das der “Versöhnung”. Der Ursprung des Wortes ist religiöser Natur. Die Übertragung dieses auf das Individuum ausgerichteten Konzeptes auf Politik und Gesellschaft wirft viele Schwierigkeiten und Fragen auf, denn was “Versöhnung” bedeutet, bleibt angenehm nebulös. Und so wird “Versöhnung” in Chile zu einem Schutzbegriff für eine ausbleibende Beschäftigung mit der Vergangenheit. Es wundert nicht, daß oft das Wort “verzeihen” unmerklich an Stelle von “versöhnen” tritt: Verzeihen kann man allein, Versöhnung findet zwischeneinander statt. Die Opfer sind einsam wie nie, und niemand will sich mit ihnen versöhnen, sie sollen verzeihen.
Das deutlichste Symbol einer versuchten Versöhnung ist nach wie vor der Rettig-Bericht. Der fünfjährige Jahrestag der Veröffentlichung im März 1996 war allerdings keiner der großen Tageszeitungen auch nur eine Zeile wert. Sicher, ein Monument mit den eingravierten Namen der Verschwundenen wurde auf dem Zentralfriedhof errichtet. Nicht vergessen ist allerdings, daß das Projekt immer wieder an angeblichen Geldproblemen der Regierung zu scheitern drohte. Zur Einweihung 1993 fand sich ein einziger Regierungsvertreter auf dem Friedhof ein.
Das Desinteresse der Öffentlichkeit an den Opfern ist eindeutig. Bücher über die Diktatur verkaufen sich schlecht, soweit sie überhaupt geschrieben werden. Regimekritische Zeitschriften und Zeitungen wie Cauce, Fortin Diario, Análisis, Apsis, El Siglo oder Punto Final, auf die sich zu Plebiszitzeiten alle Hoffnungen einer unabhängigien Presse richteten, erscheinen gar nicht mehr oder im besten Falle seltener. Auch die Sozialwissenschaften sind in einer mißlichen Lage, und das nicht nur, weil sie in der privatisierten Universitätslandschaft nicht mehr nachgefragt werden. Der chilenische Philosoph Jorge Vergara stellt fest: “Die Produktion von vielen Zentren sozialwissenschaftlicher Forschung wird zwar publiziert, aber kaum gelesen. Die Geschichtsinterpretation der Militärs, die besagt, daß der Putsch durch das Chaos unter Allende zwingend notwendig wurde, setzt sich so unmerklich durch und bleibt weithin unwidersprochen. Pinochet kann in einem Interview auch noch im September 1996 behaupten: “Ich war kein Diktator.”
Die allgemeine geschichtliche Apathie zeigt Wirkung. Immer mehr Chilenen und Chileninnen wollen die schmerzlichen Abschnitte der Vergangenheit endgültig hinter sich lassen. Während sich in einer Umfrage 1992 nur 13 Prozent der Befragten dafür aussprachen, die Diskussion um die Menschenrechtsverletzungen zu beenden, waren es 1993 schon 17,4 Prozent und 1994 bereits 24,5 Prozent. David Becker hat die Lehren aus diesem Schauspiel für den chilenischen Fall gezogen: “Ohne Haß keine Versöhnung” überschreibt er einen seiner Artikel, der für die berechtigte Wut der Opfer Partei ergreift. Wo die Vermeidung von Konflikten zum Programm wird, entsteht keine neue, hoffnungsvolle Gesellschaft. “Um eine neue Diktatur zu vermeiden, verzichtet man am besten gleich auf den Wunsch nach einer echten Demokratie”, und das betrachtet Becker als Fehler. Insofern war auch der Rettig-Bericht nützlich, denn er war konfliktgeladen. Doch der potentiell reinigende Konflikt wurde zugunsten der Konsenspolitik vermieden.
Und dennoch: Mit der Wahrheitskommission in Chile entstand das erste zugkräftige Exportprodukt. Je nach Zählweise kommt man heute weltweit auf bis zu 60 dieser Kommissionen, doch der kleinste Teil legte schon vor 1991 Ergebnisse vor. Erst die Arbeit José Zalaquetts, chilenischer Rechtsanwalt, Mitglied der Rettig-Kommission und ehemaliger Präsident von amnesty international, entwarf ein Konzept für Wahrheitsfindungskommissionen, das nun in Ländern wie Südafrika oder Guatemala als Vorbild genutzt wird. In Chile entstand kein offener Konflikt, und die Opfer hielten weitgehend still – das ist wohl der Haupterfolg der Kommission, der sie so nachahmenswert für andere Nationen macht.

Editorial Ausgabe 272 – Februar 1997

Durch die Besetzung der japanischen Botschafterresidenz in Lima rückte die peruanische Guerilla MRTA unerwartet ins Rampenlicht. Das Medienspektakel legte den Vergleich mit der EZLN nahe, deren Aufstandsbeginn sich diesen Januar zum dritten Mal jährte. Der Medienpräsenz wegen ist gelegentlich von einer neuen Qualität bewaffneter Erhebungen die Rede, ja es hat sogar den Anschein, als sei die globale Öffentlichkeit wichtiger als die lokale Aktion. Aber EZLN und MRTA lassen sich nicht ohne weiteres auf einen Nenner bringen.
Außer der Freisetzung des guatemaltekischen Botschafters -mit Blick auf das dortige Friedensabkommen im Dezember 96- ist der MRTA bisher kein symbolträchtiger Coup gelungen. Ihre Aktion erinnert an die siebziger Jahre und wirkt heute anachronistisch. Sie ist aus ihrer Sicht verständlich als Versuch, die gefangenen Mitglieder aus unmenschlichen Haftbedingungen freizupressen, aber eine Utopie, darin besteht weithin Konsens, ist so nicht mehr umsetzbar. Der zeitgleich abgeschlossene Friedensvertrag in Guatemala spricht eine andere Sprache, die mit der Botschaftsbesetzung wenig gemein hat.
Die EZLN verkörpert hingegen einen neuen Ansatz von Aufstandsbewegung. Sie unterscheidet sich sowohl in verbaler als auch politischer Praxis von anderen Guerillas. Ihr ging es von vornherein nicht primär um Kriegsgebaren und militärische Siege, sondern um friedliche Lösungen, bei denen die Zivilgesellschaft mobilisiert und in einen Prozeß grundlegender Demokratisierung einbezogen werden sollte.
Die Zapatisten in Chiapas bedienten sich in schneller Folge unterschiedlicher Strategien, ohne je im Dogmatismus zu verharren. Sie führten neue Werte in die politische Kultur ein, die auf die Formel “Ethik statt Linientreue” zu bringen wären. Ihr ging es um eine “gehorchend be-fehlende” Gemeinschaftsdemokratie. Von der MRTA ist sie damit ähnlich weit entfernt wie von der EPR im mexikanischen Guerrero.
Der dynamische Vorstoß der EZLN entspricht jedoch nicht ihrem konkreten politischen Erfolg. Die Zivilgesellschaft hat sich nicht in dem erwarteten Maße in einer zapatistischen Bewegung engagiert. Wenngleich der Widerhall in aller Welt enorm ist- es bleibt eine ent-täuschte Hoffnung, enttäuscht sowohl von der Unbeweglichkeit politischer Eliten als auch von mangelndem praktischen Engagement der “Massen”.
Aber auch die politisch mobilisierten Indigenas sehen pressen, aber eine Utopie, darin besteht sich immer wieder schwerstens getäuscht kein Wunder angesichts der Ausdauer, mit der die Verhandlungen von Regierungsseite behindert und Übereinkünfte und mißachtet werden.
Das Rückzugsgefecht der MRTA vermag als politisch-kämpferische Strategie neuen Ansatz von Aufstandsbewegung. nicht zu überzeugen. Die Utopie einer partizipativen, gerechten Zivilgesellschaft, die die EZLN aufgriff, ist hingegen nicht überlebt. Aber der Versuch, sie ausgehend von Chiapas in die Wirklichkeit zu übersetzen, scheint vorerst nicht zu gelingen. Wohin mit der Hoffnung?

Ein Alptraum voller Realität

Angela Delli Santes Buch “Nightmare or Reality. Guatemala in the 1980s” ist eine nachdrückliche Anklage. In unermüdlicher Detailtreue analysiert die US-amerikanische Professorin die Mechanismen, Hintergründe und sozialen Folgen der politischen Repression in Guatemala. Unerbittlich zeigt sie Verantwortlichkeiten auf, nennt Entscheidungsträger, Akteure und Kollaborateure, klagt Schuldige an. Dabei verläßt sie sich nicht allein auf die moralisch-ethische Kraft ihres erhobenen Zeigefingers, sondern stützt ihre Anklagen auf die Verletzung nationalen wie auch internationalen Rechts. So ist Guatemala offizieller Unterzeichner der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der UN-Folterkonvention und der UN-Konvention über den Genozid. Dem steht allerdings in der Realität eine schaurige Bilanz hunderttausender ziviler Opfer staatlicher Repression gegenüber, Konsequenz einer nahezu fanatischen Politik der Vernichtung jedes potentiellen Gegners. “Zerstörung ländlicher Strukturen” und “Umsiedlung, Kontrolle, Militarisierung”, so hießen die Programmstufen des systematischen Staatsterrorismus, welcher der bewaffneten Opposition die wachsende gesellschaftliche Basis untergraben sollte. Ihren traurigen Höhepunkt erreichten die 50 Jahre der Repression in den 80er Jahren mit der Auslöschung ganzer Dörfer, extralegalen Hinrichtungen, Folter und der Systematik des “Verschwindenlassens”.

Die Verantwortlichen der Repression

Als Hauptakteure und Verantwortliche nennt die Autorin Armee, Polizei, Geheimdienst, die Zivilen Patrouillen zur Selbstversteidigung (PACs) und verschiedene paramilitärische Gruppen, aber auch zivile Entscheidungsträger, insbesondere die auf die Militärregierung folgenden Regierungen von Venicio Cerezo Arévalo, Jorge Serrano Elías und Ramiro de León Carpio, die kein Ende der Menschenrechtsverletzungen bewirkten. Zur Verantwortung zieht Delli Sante jedoch ebenso weite Kreise der internationalen Staatengemeinschaft, ohne deren militärische, wirtschaftliche und logistische Unterstützung der Ausbau und die Aufrechterhaltung des polizeilichen und militärischen Überwachungs- und Repressionsapparates in diesem Maß nie durchführbar gewesen wäre. Besonders hart ins Gericht geht sie mit Entscheidungsträgern in den USA und Israel, denen sie die größte Bedeutung bei der ideologischen Indoktrinierung und militärischen Unterstützung zuspricht. Als Kollaborateur von Format nennt sie aber auch das ehemalige Westdeutschland, aus dem vor allem als Entwicklungshilfe getarnte Gelder zum Ausbau des guatemaltekischen Terrorapparates flossen. Ihre Thesen und Argumentationen stützt die Autorin dabei nicht auf Gerüchte, sondern auf genauestens recherchierte Aussagen und Dokumente, die sowohl von Menschenrechtsorganisationen und zivilen Augenzeugen, als auch von Regierungsseite und den Militärs stammen.

Das Leid der Flüchtlinge

Der Schwerpunkt des 400-Seiten Buches liegt indes nicht auf den Akteuren des Bürgerkrieges oder den Helden des Widerstandes, sondern auf den Überlebenden des Staatsterrors, die sich hinter so abstrakten Begriffen wie ‘Exodus’ und ‘Hinterbliebene des Völkermords’ verbergen.”We all have this ability to cease to see”, zitiert sie V.J. Steiner und so widmet sie ihr Buch vor allem jenen, die leicht in Vergessenheit geraten. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Flüchtlingen und Vertriebenen, die, von panischer Angst getrieben, ihr Heil in Mexiko und den Vereinigten Staaten suchten – und es nur selten fanden. Dokumentiert werden in diesem Zusammenhang die Konsequenzen der erbarmunslosen Abschottungspolitik, die die USA und Mexiko trotz eindeutiger Hinweise auf umfassende Menschenrechtsverletzungen in Guatemala gegenüber den Bürgerkriegsflüchtlingen praktizierten. Die Aberkennung eines Status als bona fide Flüchtlinge, sowie aller damit verbundenen Schutz- und Aufenthaltsansprüche, bedeutete in jedem Fall ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, im Falle der USA auch die klare Nichteinhaltung ihrer Verpflichtungen als Unterzeichner der UN-Flüchtlingskonventionen. Für die Flüchtige bedeutete dies oftmals die traumatische Wiederdurchlebung bereits erlittener Repressionen, die Fortsetzung eines Lebens in permanenter Angst und für die Mehrzahl von ihnen sogar ein Leben im Untergrund, ständig auf der Flucht vor drohender Deportation.

Eingefrorener Schrecken

“Nightmare or Reality” – so lautet der Titel von Agela Delli Santes Buch, und hier klingt bereits an, daß die beschriebenen Zustände der Beklemmung noch lange in der Psyche ihren Nachhall haben: Schlaflosigkeit, Depressionen, Schuldgefühle und krankhaftes Mißtrauen sind nur einige der weitverbreiteten Symptome der psychischen Zerrissenheit. Die hohe Anzahl von Selbstmördern – in der Mehrzahl mißbrauchte Frauen – und das Zusammenbrechen sozialer Gefüge in den Flüchtlingscamps sind die sichtbarsten Alarmsignale dieses Elends. Als größtes Hindernis auf dem Weg zur Rehabilitierung nennt die Autorin das Fehlen jeglicher Behandlungs-und Beratungsstellen, insbesondere für die Gefolterten und den fortbestehenden inneren und ihnen von außen auferlegten Zwang zum Schweigen. Frozen grief heißt die Bezeichnung für diesen Zustand des gelähmten Schreckens, in dem sich die Opfer des Bürgerkriegs befinden.
Angst vor Repressionen, die soziale Isolierung der Opfer, ihre Schuldgefühle und Sprachlosigkeit, sowie das permanente Abstreiten des angetanen Leids von Seiten staatlicher Institutionen verhindern das Aufbrechen dieser Eisschicht und damit einen effektiven nationalen Dialog. In einem größeren Rahmen bezieht sich dies nicht nur auf die Vertriebenen und Opfer, sondern auch auf die Täter, die oftmals durch systematische Indoktrinierung zum Dienst in den berüchtigten PACs (Zivile Einheiten zur Aufstandsbekämpfung) gezwungen wurden, sowie Angehörige des Militärs. Auch hier beschränkt sich die Autorin nicht auf bloße Fakten, sondern stellt das unmenschliche Ausmaß an Gewalt in den Kontext einer psychologisch-ideologischen Manipulierung, mit Hilfe derer grundlegende Veränderungen in der Persönlichkeitsstruktur der Täter vollzogen wurden.

Perspektiven

Denkmuster und Bewußtseinsformen lassen sich nicht einfach ablegen. Aus dieser grundsätzlichen Einsicht zieht Angela Delli Sante im Hinblick auf den guatemaltekischen Friedensprozeß die Konsequenz, daß moralischer Druck allein nicht ausreicht, um ein Aufbrechen der repressiven Strukturen zu erzwingen. Stattdessen fordert die Autorin die Einstellung jeglicher direkter und indirekter Unterstützung der guatemaltekischen Ordnungs- und Sicherheitskräfte und die Verhängung von Sanktionen im Falle einer Rebellion des Militärs. Ohne ausländische Unterstützung, so ihre feste Überzeugung, könne sich das repressive Regime nicht lange halten. Ein Einlenken der Weltwirtschaftspolitik auf here Prinzipien erhofft sie jedoch kaum. Optimismus schöpft sie vielmehr aus dem sichtbaren Erstarken der Zivilgesellschaft, in Guatemala selbst und auf internationaler Ebene.

Umfassende und differenzierte Darstellung

Insgesamt hält sich Angela Delli Sante jedoch sehr mit Spekulationen und Thesen zurück. Sie nimmt Partei, versteht es aber, ihre Wissenschaftlichkeit zu wahren. Es ist wohl ihre größte Leistung, trotz persönlicher Betroffenheit und Hingabe, Opfer und Täterrollen zu durchleuchten und polemische oder gefühlsgeladene Aussagen zu vermeiden. Zehnjährige aufwendige Forschung, die Auswertung von Statistiken, Kongressen und selbstgeführten Interviews machen das Buch zur wohl umfangreichsten Quelle dokumentarischen Materials über die politische Situation Guatemalas in den 80er- und frühen 90er-Jahren. Nicht zuletzt das ausführliche Quellenverzeichnis, Fundstelle für die oft mehrfachen Belege der Aussagen der Autorin, ist für Guatemala-Interessierte eine Leistung von unüberschätzbarem Wert. Es ist der Autorin auf diese Weise gelungen, in ihrer Monographie das Leid eines großen Teiles der guatemaltekischen Bevölkerung umfassend darzustellen, die von staatlicher Seite lang geleugnete Realität der alptraumartigen Flüchtlingsberichte hieb und stichfest zu belegen und eindeutige Verantwortlichkeiten aufzuweisen. Darüber hinaus gewinnt das Buch durch die interdisziplinäre Verflechtung von historischen, politischen, soziologischen, ethnologischen und psychologischen Erkenntnissen nicht nur an Breite, sondern auch an Tiefe. Wünschenswert, um den umfassenden Einblick in die Problematik abzurunden, wäre noch ein Kommentar dazu gewesen, wie die Autorin die Auswirkung der von ihr analysierten psychischen Folgen auf die von der Zivilbevölkerung in den letzten Jahren gebildeten Organisationen einschätzt, die ihr Grund zu einem gewissen Zukunftsoptimismus geben. Eine interessante Frage wäre in dieser Hinsicht, welche Bevölkerungsgruppen sich aufgrund erlittenen Unrechts und eines gestörten Gesellschaftslebens von solchen Mobilisierungstendenzen in der Zivilbevölkerung ausschließen, und welche Personen dagegen aus der gemeinsamen Erfahrung der Vergangenheit Mut zur Solidarität und politischer Aktivität schöpfen.

Überunterschriftenchaos

Negative Kritik ist jedoch bezüglich der Gestaltung angebracht. So wird den LeserInnen in der Fülle dokumentarischen Materials oft der rote Faden fehlen. Die Monographie gleicht an manchen Stellen einem etwas überstürzt veröffentlichten Forschungsbericht, in dem selbst vom Text gefangene LeserInnen über orthographische Behinderungen des Leseflusses stolpern. Direkt aus der Forschungsarbeit übernommen wurde wohl auch die grobe Einteilung der Hauptkapitel in die Phasen direkter militärischer Kontrolle, indirekter militärischer Kontrolle und ein Update zum Aufbruch der 90er Jahre. Angesichts der Tatsache, daß weitaus mehr die Kontinuität alter Repressionsmuster und Verantwortlichkeiten demonstriert wird als die Gegenüberstellung unterschiedlicher historischer Abschnitte, erscheint diese chronologische Einteilung seltsam und führt zu einer gewissen Frustration der LeserInnen, die sich nach über hundert Seiten wieder in alte Zusammenhänge einarbeiten müssen. Unzählige Unter- und Unterunterüberschriften , die zudem optisch schlecht hervorgehoben sind, tragen zu weiterer Verwirrung bei.
Wenn diese kosmetischen Aspekte jedoch letztendlich zugunsten der Aktualität geopfert werden mußten, so sei dieses Kavaliersdelikt verziehen – denn kommt das Buch in mancher Hinsicht auch zu spät, so doch zumindest nicht in jeder. Gerade in Hinblick auf den vollzogenen Friedensschluß und das umstrittene Amnestiegesetz, sowie die Pläne für einen nationalen Wiederaufbau haben Bücher wie Nightmare or Reality ihren Stellenwert. Stetig neue gewaltsame Zusammenstöße zwischen Militär und Bevölkerung, insbesondere den Repatriierten, führen vor Augen, daß sich hinter auch noch so automatisierten Repressionsapparaten Menschen verbergen, die ihre Mentalität und Überzeugung nicht durch bloße Veränderung verfassungsmäßiger Machtkonstellationen ändern. Das Buch zeigt sehr deutlich, daß die überlebenden Opfer der Repressionen nicht allein durch Gesetze in die Normalität zu integrieren sind. Ein (inter-)nationaler Dialog muß deshalb auch das Schweigen über vergangenes Unrecht brechen, sonst werden für viele dieser Menschen ihre Alpträume weiterhin die Realität bestimmen.

Das Schweigen Netos

Eines der Lieblingsexperimente des elfjährigen Neto ist, seinen Kopf so lange unter Wasser zu halten, wie er es aushalten kann. Auch ansonsten wirkt der pummelige, asthmakranke Junge recht introvertiert und verdruckst. Wenn er nicht gerade Telenovelas oder Fußballübertragungen im Radio hört, vertreibt er sich die Zeit damit, seine Eltern im Schlafzimmer zu belauschen oder die junge indianische Muchacha Nidia, für die er schwärmt, bei dem zu beobachten, was sie mit ihrem Geliebten in der Wäschekammer anstellt. Kaum jemand hält es für nötig, Neto und seinen kleinen Bruder Mario über etwas aufzuklären. Auch nicht darüber, was die immer bedrohlicher klingenden Nachrichten im Radio angeht. Da ist vom drohenden Sturz des Präsidenten Arbenz Guzmán die Rede. Der einzige, der von Zeit zu Zeit etwas frischen Wind in sein gutbürgerliches Elternhaus bringt, ist Onkel Ernesto, der “verlorene Sohn” der Familie. Im Gegensatz zu Netos Eltern, einem engstirnig-autoritären Juristen und einer sanften, introvertierten Mittelschichtsdame, ist er ein Globetrotter und Freigeist, kennt Zauberstücke und weiß, wie man einen Heißluftballon steigen läßt. Aber auch Ernesto kehrt eines Tages sterbenskrank nach Hause zurück – für seinen Neffen ein trauriges, aber auch aufschlußreiches Erlebnis.

Ende der Apathie?

“El Silencio de Neto” von Luis Argueta, stolz als erster guatemaltekischer Film, der international in die Kinos kommt, annonciert, nähert sich den Ereignissen um den Sturz des demokratisch gewählten linken Präsidenten Jacobo Arbenz Guzmán im Jahre 1954 aus einer bewußt naiven und kindlichen Perspektive. Der familiäre Mikrokosmos fungiert als Spiegel gesellschaftlicher Zustände. Da sind die beiden antagonistischen Brüder Eduardo und Ernesto, deren lebenslange Rivalität sich unter anderem in dem Streit um Netos Erziehung ausdrückt. “Gib’ den Kindern Luft zum Atmen”, fordert Ernesto. Sein Bruder versieht anfangs brav, aber ohne inneres Engagement seinen Dienst in der Regierungsadministration von Arbenz Guzmán. Auch als die von der CIA inszenierte Invasion ins Haus steht, halten Netos Eltern an ihrer apathischen Haltung fest.
Nach Jahren des erzwungenen Schweigens in Guatemala ist es endlich möglich, einen Film zu drehen, der eben diese Zustände thematisiert. “Das Schweigen Netos” ist solide inszeniert, politisch engagiert und trotzdem zu keinem Zeitpunkt platt pamphletisch. Auf der psychologischen Ebene finden sich allerdings etliche Klischees und überdeutliche Metaphern, was der inneren Spannung nicht gerade zugute kommt. So ist die Entwicklung der Figuren an vielen Stellen vorhersehbar. Natürlich gelingt es Neto letztendlich dank einiger Erlebnisse und Onkel Ernestos moralischem Beistand, ein Stück weit aus der von Eltern und System verordneten Unmündigkeit auszubrechen. “Sag’ nie, du kannst nicht”, lautet dann die Botschaft, die der Sterbende ihm mit auf den Weg gibt.

“El Silencio de Neto”; Regie: Luis Argueta; Guatemala 1994; Farbe, 106 Minuten.

Friedensschluß in Guatemala

Der Wind hat sich gedreht. Als Anfang Dezember 1996 das deutsche Projekt zur Begleitung der Rückkehr der guatemalteki­schen Flüchtlinge CAREA und die Informationsstelle Guatemala wieder einmal hiesige Abgeord­nete um ihre Unterschrift baten, um in einer bezahlten Pressean­zeige vor der Regierung in Gua­temala gegen die drohende Ent­kräftung des Rückkehrvertrages mit den Flüchtlingen zu prote­stieren, war die Resonanz bei ei­nigen bewährten Ansprechpart­nerInnen verhalten: Jetzt müsse das Protestieren doch mal ein Ende haben, schließlich stehe man kurz vor dem Friedens­schluß…
Auch das deutsche Fernseh­publikum war am 29. Dezember 1996 Zeuge der Feierlichkeiten zur Unterzeichnung des “Ab­kom­mens über einen festen und dau­erhaften Frieden” in Gua­te­ma­la-Stadt, das den seit 36 Jah­ren andauernden Konflikt been­det. Zutiefst bewegende und op­ti­mistisch stimmende Bilder: Die vier Kommandanten der Guerilla Re­volutionäre Nationale Einheit Guatemalas (URNG) werden von Basisorganisationen und Gue­rilla-Einheiten am Flug­hafen em­pfangen, ein langer Marsch im Gedenken an die über 150.000 Opfer führt zum Fried­hof der Hauptstadt; Treffen, Umarmun­gen und Freude über das Wieder­se­hen. Verbrüderung auch zwi­schen der Guerilla und hoch­ran­gigen Militärs, und schließlich der letzte große Auf­tritt Boutros Boutros Ghalis, der den Frie­dens­vertrag vor zirka 1000 ge­la­de­nen Gästen unter­zeichnete. Etwa 1,7 Millionen US-Dollar ließ sich die Regie­rung die Fei­er­lich­keiten kosten, etwas mehr als ein Viertel der Summe, die sie für 1997 zum Erwerb von drin­gend benötigtem Land für meh­re­re zehntausend Rückkehrer, Land­lose und intern Vertriebene vor­sieht.
“Der Frieden muß durch eine partizipative sozioökonomische Entwicklung untermauert wer­den, die auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist”, heißt es in Punkt sechs des Friedensab­kommens. Entwicklung erfor­dere soziale Gerechtigkeit sowie nachhaltiges Wirtschaftswachs­tum. Ehrenwerte Ziele: Landes­weit gelten gegenwärtig 75,5 Prozent der Haushalte als arm bis extrem arm, im ländlichen Raum bis zu 94 Prozent. Gua­temala weist immer noch eine der ungerechtesten Landvertei­lungen Lateinamerikas auf, der Mindestlohn in der Landwirt­schaft liegt heute mit knapp 3 US-Dollar pro Tag unter dem von 1980. Auch das ebenfalls am 29. Dezember unterzeichnete Abkommen zum Zeitplan der Umsetzung der Friedensverein­barungen schweigt sich über konkrete Mechanismen aus, “sozialen Gerechtigkeit” erreicht werden soll. Es betont lediglich die Notwendigkeit, jegliche Vor­haben “mit Vorsicht und Reali­tätssinn” anzugehen. Nicht nur Celso Cuxil zweifelt daher als Vertreter der Widerstandsdörfer (CPR) am Durchsetzungswillen der Regierung: “Schon jetzt kämpfen wir mit der Regierung um die Einhaltung des Abkom­mens über die vom Konflikt entwurzelte Bevölkerung. Wer garantiert uns, daß sie die ande­ren Abmachungen einhält?” Un­terdessen wurden in den ersten Wochen dieses Jahres erneut eine gewalttätige Räumung so­wie zwei Morde an Bauern be­kannt, die sich für die Wieder­erlangung von widerrechtlich enteignetem Land einsetzten.

Amnestie: Die Verbrechen bleiben unge­straft

Aber nicht nur die wirtschaft­lichen Sorgen trüben bei der großen Mehrheit der Bevölke­rung die allgemeine Erleichte­rung über das Kriegsende. Seit Präsident Arzús Partei des Na­tionalen Fortschritts (PAN) und die Ultrarechten von Ríos Montts Republikanischer Front Gua­temalas (FRG) Mitte Dezember in nur zwei Tagen das “Gesetz zur Nationalen Versöhnung” durch den Kongreß peitschten, wurde auch die Hoffnung auf ein Ende der im Land herrschenden Straflosigkeit geschmälert. Die Verantwortlichen für die politi­schen Morde, die Massaker, Vertreibungen und weiteren schweren Menschenrechtsverlet­zungen in den letzten 36 Jahren bleiben vermutlich unbehelligt.
Das Gesetz war in erster Li­nie notwendig geworden, um recht­zeitig zur Friedensunter­zeich­nung die Voraussetzungen für eine Amnestie der Guerilla zu schaffen. Das Abkommen zur Wie­dereingliederung der URNG-Käm­pferInnen bildet dafür die Grundlage. Nun sieht das Gesetz aber vor, daß auch für den Staat, das Militär und deren Helfershel­fer bei Delikten jeglicher Art, die aus politischen Motiven began­gen wurden, eine Amnestie gel­ten soll. Zwar sollen die Tatbe­stände Genozid, Folter und ge­waltsames Verschwindenlassen sowie – gemäß dem internatio­nalen “Vertrag über die Unver­jähr­barkeit von Verbre­chen ge­gen die Menschlichkeit” – auch Mas­saker und außerge­richtliche Hin­richtungen von der Amnestie aus­genommen werden. Inter­na­tio­nale Verträge aber sollen laut Ge­setzestext nur dann zur An­wen­dung kommen, wenn sie bereits ratifiziert sind, und das ist bei dem genannten Ver­trag nicht der Fall. Anwaltskreise sind sich da­her einig, daß das in sich völ­lig unschlüssige Gesetz kaum eine rechtliche Grundlage zur ef­fektiven strafrechtlichen Verfol­gung der Täter bietet.
Diese Regelung wirft einen dunklen Schatten auf die Zukunft und spottet der jahrelangen Ar­beit verschiedenster Menschen­rechtsgruppen. Seit 1990 ver­sucht beispielsweise Helen Mack gerichtlich gegen zwei Armee­generäle als Drahtzieher des Mordes an ihrer Schwester, der Anthropologin Myrna Mack, vorzugehen. Sämtliche Be­mühungen wurden bislang mit dem Argument abgewiesen, es habe sich um ein allgemeines Verbrechen gehandelt, der Täter säße bereits in Haft. Nun reichte der Anwalt der Generäle einen Amnestieantrag ein. Begrün­dung: Da die Klägerin darauf be­stehe, der Mord sei aus politi­schen Motiven begangen wor­den, müßte nach dem neuen Ge­setz der Mörder straffrei ausge­hen. Daher beantrage er auch Amnestie für den bereits ver­hafteten Täter. Der Bock wird zum Gärtner. Der zuständige Staatsanwalt erklärt, die Amne­stieregelung fände auf den Fall Myrna Mack keine Anwendung, da diese nachgewiesenermaßen nicht der Guerilla angehörte. An­fang Januar legte die 1996 als breites Menschenrechtsbündnis gegründete “Allianz gegen Straf­freiheit” Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz ein. Der Ober­ste Gerichtshof allerdings ent­schied bereits, daß die Be­schwer­de keine aufschiebende Wir­kung hat. Fieberhaft beantra­gen seitdem die Militärs noch vor einem Entscheid über die Verfassungsmäßigkeit ihre Am­nestie. Nicht nur Menschen­rechts­prokurator Languardia be­klagt daher, daß die getroffene Regelung zwar die begrüßens­wer­te Eingliederung der Guerilla erleichtere, in ihrer unklaren Formulierung aber einen schwe­ren Rückschlag für den Kampf gegen die Straflosigkeit in Staat und Militär bedeute.

Wer kontrolliert die Umsetzung?

Ist dies ein erster Vorge­schmack darauf, wie die ausge­handelten Vereinbarungen in Gesetzesform gegossen werden? Denn auch die anderen aus den Abkommen hervorgehenden Ver­fas­sungsänderungen und Vor­haben sollen nicht etwa in einer Verfassungsgebenden Ver­sammlung, sondern noch inner­halb der Regierungszeit von Prä­sident Arzú verabschiedet wer­den. Die PAN hat 1995 bei einer Wahlbeteiligung von nur 35 Pro­zent über die Hälfte der Parla­mentssitze erhalten. Als interne Kontrollinstanz soll zwar ein Ausschuß geschaffen werden, in dem Regierung und Guerilla pa­ritätisch neben vier noch zu er­nennenden “Vertretern der Zivil­gesellschaft” und einer interna­tionalen BeobachterIn sitzen werden. Schon in seiner Rede am 29. Dezember machte Arzú je­doch deutlich, daß der Beitrag der friedenswilligen Kräfte aus Unternehmertum und Militär überaus überraschend und be­grüßenswert sei. Vom Präsiden­ten ist also in dieser Richtung wohl nicht viel Druck zu erwarten.
Während Arzú nach Friedens­abschluß die Ankunft des inter­nationalen Kapitals erwartet, verkündet die URNG, die spätestens mit dem Bekanntwer­den der Verwicklung eines ihrer Ex-Kommandos in einen Entfüh­rungsfall in den Verhandlungen deutlich an Kraft verloren hatte, eifrig die Gründung einer ein­heitlichen, breiten Massenpartei. Im Vordergrund steht für sie je­doch vorerst die Wiedereinglie­derung ihrer etwa 3500 Kämpfe­rInnen. Eigentlich sollten seit dem 15. Januar 155 militärische BeobachterInnen der UNO die Konzentration und Entwaffnung der verschiedenen Fronten be­gleiten. In zwei weiteren Phasen ist vorgesehen, die Sicherung der Lebensgrundlagen und die be­rufliche Wiedereingliederung der Ex-Guerilleros zu regeln. Dem lag zwischenzeitlich ein Stein im Wege, da Arzú ausgerechnet dem taiwanesischen Außenmini­ster John Chang bei der Frie­densunterzeichnung einen inter­nationalen Rang zugestanden hat. Verärgert legte daraufhin China im UNO-Sicherheitsrat sein Veto gegen die Entsendung von UNO-BeobachterInnen ein. Taiwan jedoch ist nicht nur wichtiger Handelspartner und Investor, die guten Beziehungen zu Guatemala gründen auf der langjährigen militärischen Zu­sammenarbeit bei der Auf­standsbekämpfung. Zuletzt zeig­te sich China wieder dia­log­wil­lig, Menschenrechtskreise in Gua­temala vermuten aber, daß es sich bei der diplomatischen Klün­gelei um einen vom Militär geforderten Versuch handelte, der internationalen Beobachtung durch die UNO nach Friedens­schluß auszuweichen.
Die guatemaltekische Regie­rung ihrerseits reiste Ende Januar erst einmal nach Brüssel. Zusa­gen in Höhe von über 1,8 Milli­arden US-Dollar erhofft sie dort auf dem Konsultativtreffen der Geberländer und internationalen Finanzinstitutionen als “Frie­dens­dividende” zu erhalten, bei­na­he das Doppelte des durch­schnittlichen Regierungshaus­hal­tes der letzten Jahre. Dafür hat sie in Windeseile einen Ka­talog von um die 300 Projekten zu­sam­mengeschustert, ohne je­doch, wie vorher zugesagt, die zum Teil gemeinsam mit der Versammlung der zivilen Sekto­ren Guatemalas (ASC) erarbei­teten Projektvorschläge zu be­rücksichtigen. Dies ist nicht neu. Aber so einfach will sich die ASC nicht ausbooten lassen. Wenn nämlich mit dem Frie­densschluß für die Bevölkerung Guatemalas etwas gewonnen wurde, dann die Entstehung neuer politischer und demokrati­scher Freiräume und die Hoff­nung auf wirkliche gesellschaft­liche Partizipation, die unzählige Male in allen Abkommen betont wird. Nicht umsonst gilt daher in der guatemaltekischen Opposi­tion die Devise, die Abkommen als “ersten Schritt” zu begreifen, ihre Umsetzung nun mit Hart­näckigkeit und über breite Bünd­nisse einzufordern und selbst zu gestalten. “Der Krieg war schwer, aber ich denke, der Auf­bau eines wirklichen Friedens wird noch schwerer sein”, kom­mentiert Celso Cuxil die nahe Zukunft. Auch kurz nach dem Friedensschluß wird und kann das Protestieren kein Ende haben.

Finca Irlanda – Erfolg der Boykott-Kampagne

Schaut man in das Telefon­buch von Ta­pachula, so tauchen etliche für die mexika­nisch-gua­temaltekische Grenz­region eher be­fremdlich klingende Namen auf: von Knoop, Hudler-Schimpf, Giesemann, Kahle, Pohlenz und andere. Die deut­schen Koloniali­sten kamen wäh­rend der Diktatur des Porfi­rio Díaz (1876-1910) nach Mexiko und grün­deten, beseelt vom pro­testantischen Geist des Kapita­lismus und ausgestattet mit guten Kontakten zur heimischen Han­delsbourgeosie, im ertragreichen Soconusco Kaffeeplantagen, die sich noch heute im Besitz der jeweiligen, mittlerweile oftmals verschwägerten Familien befin­den. Die deutsche Oligarchie gewann schnell Einfluß auf die Politik des Bundes­staates und hatte auch das “Recht” auf ihrer Seite, besser gesagt, das Recht auf Rechts­freiheit. Ob die Rura­les, die Landpolizei un­ter Dik­tator Porfirio Díaz, oder heute die Guardias Blancas, die para­militärischen Weis­sen Garden: Sie setzte nackte Gewalt gegen jegliche Versuche, gegen ihre Arbeitsbedin­gungen aufzubegeh­ren. Wenn auch mittler­weile durch die ohnehin halbherzig durch­geführte mexikanische Agrar­reform auf eine Ober­grenze von 300 Hektar ge­schmälert, werfen Plantagen immer noch satte Gewinne ab. Im fruchtbaren Soconusco wer­den Kaffee­sorten wie etwa Ma­ragogype produziert, die bis zu 25 Prozent über dem Weltmarkt­preis gehandelt werden. Die gut­bewachten Villen der Plantagen­besitzer in der Provinzhaupt­stadt Tapachula zeugen von Prosperi­tät.

Anthroposophischer Kapitalismus

Mit dem Namen Rudolf Pe­ters verbindet sich eine darüber hinausgehende Besonder­heit: Die­se aus Hamburg stammende Familie betreibt auf ihrer Finca Irlanda seit 1928 biologisch-dy­namischen Anbau gemäß den von Rudolf Steiner, dessen per­sönlicher Schüler Peters war, entwickelten Demeter-Richtli­nien, und war damit seinerzeit der erste Produ­zent von organi­schem Kaffee weltweit. Dieser Kaffee wird hierzulande vom Bio-Großhändler Lebensbaum ver­trieben und landet so in der Regel im selben Regal wie auch diverse al­ternativ gehandelte Kaf­fees. Die Packung trägt das Label “FairTrade”. Das hat je­doch nichts gemein mit der ähn­lich titulierten nie­derländischen Alternativhandelsorganisation Fair Trade Organisatië, noch mit der deutschen Siegelvereini­gung “Transfair”, son­dern ist ein von Lebensbaum selbst kreiertes Pseudo-Siegel, um so dem wach­senden Konkur­renzdruck im Bio- und Alterna­tivhandel Rech­nung zu tra­gen, wie auch dem Trend der Kunden zum politisch be­wußten Kauf.
Diesen Etikettenschwindel pran­gert die FAU/IAA (Freie Arbeiter Union/ Internatio­nale Arbeiter-Assoziation) seit Sep­tember letzten Jahres mit Flug­blatt- und sonstigen Aktionen an. Begründung: Mit der Bezeich­nung “fair” wiegt sich, wer für diesen Kaf­fee mit 30,60 DM pro Kilo “gerne ein paar Mark mehr hinlegt” (aus dem pastellfarbe­nen Lebensbaum-Prospekt), in der Illusion, hier­mit marginali­sierte Menschen in Chiapas zu unterstützen.
Dem ist jedoch mitnichten so. Auf der Finca Ir­landa wird mit den gleichen ka­pitalistisch-aus­beuterischen Methoden pro­du­ziert wie auf den umliegenden Fincas Ham­burgo, Prusia, Nueva Alemania und an­deren mit ähn­lich klingenden Namen. Die so­zialen und arbeits­rechtlichen Be­dingungen der 40 bis 100 (nach widersprüchlichen Angaben) Fest­angestellten und der rund 500 meist guatemalteki­schen Sai­sonarbeiterInnen sind unter al­ler Sau. Es herrschen mi­serable Zu­stände, die sich im Kern nicht von denen unter­scheiden, die schon B. Traven in seiner “Rebellion der Gehenk­ten” einen Tzotzil so beschreiben läßt: “Nach Soconusco gehe ich nicht. Da sind die Alemanes. Die haben alle Cafetales. Und die sind grausamer als die Bestien des Dschungels und behandeln einen Indianer, als wäre er weni­ger als ein Hund.”
Die von der FAU/IAA in Flugblattaktio­nen, Medienbei­trägen sowie durch Aufklä­rungskampagnen bei Naturkost­mes­sen, etwa der Frankfurter BIOFACH, zur Diskussion ge­stell­ten Mißstände, wie unzurei­chende Unter­bringung der Pflük­kerInnen in sogenannten galleras (Hühnerställen), Ak­kord- und Hun­ger­löhne sowie Kinderarbeit wurden und werden von Lebens­baum-Geschäftsfüh­rer Ul­rich Wal­ter, der nebenher auch Vor­stands­mitglied bei De­meter ist, be­stritten. Die Finca Irlanda be­hauptet in öffentlichen Dar­stel­lun­gen von sich, den ge­setzlich vor­geschriebe­nen mexi­kanischen Mindestlohn einzu­halten. Auf vor­gebliche Errun­genschaften wie eine Sozialversicherungsab­ga­be und eine Schule wird eben­falls hingewie­sen. Gerne wird auch das Argu­ment vorgebracht, die Situation der saisonal einge­stell­ten PflückerInnen sei im­mer­hin noch wesentlich besser als bei ver­gleichbaren Ar­beits­ein­sätz­en in Guatemala.
Die Finca Irlanda liegt geo­graphisch in­nerhalb des Terrains der Finca Hamburgo, die bestens durch Guardias Blancas ge­schützt ist, denen man nachsagt, auch für die Besitzer der Finca Ir­landa tätig zu sein. Es herrscht ein allgemeines Klima der Angst.

Besuch im Potemkinschen Dorf

Zwei mexikanischen Journali­stInnen gelang es, bis Irlanda vorzudringen, indem sie be­haup­teten, sich als Touristen aus New York für den Öko-An­bau zu in­ter­essieren und zu Pe­ters zu wol­len. Auf der Finca an­gekommen, wur­den sie schleu­nigst von ei­nem Verwalter ver­jagt, hatten je­doch vorher, zu Fuß un­terwegs, die Gelegenheit gehabt, sich mit Ern­te­arbeiterIn­nen zu unter­hal­ten. Sie er­fuhren, daß Schule und Gesund­heits­ver­sor­gung mehr oder weniger nur Makulatur sei­en und daß allen offiziellen An­ga­ben zum Trotz der Min­dest­lohn von 12 bis 18 Pesos (etwa 3,- bis 4,- DM für einen Arbeits­tag von Sonnenauf- bis unter­gang) kei­nesfalls im­mer ein­ge­hal­ten wird, schon gar nicht wäh­rend der Erntezeit. Hier gel­ten Ak­kordlöhne, es wird nach der Men­ge von cajas (ein Korb von Kaf­feekirschen à 66 kg) be­zahlt. Mit dieser Methode läßt sich un­ter Umständen der Min­destlohn, zu­min­dest der gua­te­mal­tekische, sogar überschreiten – wenn man die Kinder ein­spannt.

Leben nach Steiner-Richtlinien

Das Thema Kinderarbeit beim Kaffee ist ein heikles: Vermut­lich gibt es weltweit keine “kin­derarbeitsfreie” Tasse Kaffee zu trinken. Auch bei der noch so sehr in den Alternativhandel ver­strickten Kleinkoopera­tive ist nicht auszuschließen, daß letzt­endlich doch die Achtjährigen hel­fen müssen, die schweren Kaf­feesäcke kilometerweit zur näch­sten Sammelstelle zu schlep­pen. Die oben erwähnten Jour­nalistInnen zitieren jedoch ei­nen Arbeiter dahingehend, daß – entgegen der Erklärung von Le­bensbaum, die Finca Irlanda wür­de keinen Lohn an Kinder zah­len, man könne jedoch nicht kon­trollieren, daß mitkommende Kinder ihren in der Saisonar­beit beschäftigten Eltern beim Pflük­ken “helfen” würden – durchaus auch Kinder unter Vertrag ge­nommen werden.
Was den Min­destlohn angeht, ist ohnehin an­zumerken, daß dies eine offi­zielle Größe ist, die de facto un­ter dem Existenzmini­mum liegt. Von dieser stolzen Summe wer­den den PflückerIn­nen pro Tag noch 3 Pesos für eine Verpfle­gung ab­gezogen, die sich auch seit 1912 nicht we­sentlich verän­dert hat, wo sie der deutsche Finquero Fuhrbach stolz be­schreibt mit: “Kaffee und drei Tortillas des Morgends, fünf Tortillas, gekochte Bohnen und Pozol zum Frühstück und gerade so zum Mittag um 5 Uhr, bis auf zwei Tage in der Woche, an denen sie Fleisch und Reis be­kommen.” Bleibt zu hoffen, daß dieses Menü wenigstens den De­me­ter-Richtlinien entspricht.
Weiter hinzu kommt, daß die Entlohnung zweiwöchentlich er­folgt, womit die ArbeiterIn­nen an die Finca gebunden wer­den. Ein System, das an die alt­her­ge­brachte Praxis der Patrones er­in­nert, Abhängigkeitsverhält­nisse mit­tels der sogenannten tiendas de raya (“Läden der Kreide­stri­che”) zu zementieren.
Über die Höhe der Sozialab­gaben gibt es ebenfalls Wider­sprüch­liches zu hören. Was von Lebensbaum als eine “Vielzahl so­zialer Vergünstigungen” her­vor­gehoben wird, ist letztendlich nichts anderes als die Erfüllung mexi­kanischer Gesetzesvorga­ben, die auch mehr auf dem Pa­pier als in der Praxis Sinn ma­chen, wenn es auf der Finca kei­nen Arzt gibt und das nächste Hos­pital mehrere Auto­stunden entfernt ist.

Reif für die Schlagzeilen

Bereits im Mai 1995 forderte die FAU/IAA die Firma Lebens­baum in einem Schreiben auf, den Vertrieb von Irlanda-Kaffee einzu­stellen. Wie zu erwarten, blieb eine Reaktion des Unter­nehmens aus. Daher begann im September des gleichen Jahres eine breit angelegte Boykott-Kampagne, die tatsächlich die Aufmerksamkeit auf das Pro­blem lenkte. Innerhalb einiger Mo­nate hatte die Kampagne zur Folge, daß die Kaffeeumsätze bei Lebens­baum um bis zu 25 Pro­zent sanken. Die Firma Le­bens­baum rea­gierte stereotyp: Immer wieder wurde verlautbart, daß es die Miß­stände in Wirk­lichkeit gar nicht gäbe. Als “Be­weis” hielten nicht ob­jektive, da bran­chen­interne Gut­achten her.
Die Berichter­stattung von Ver­tre­tern der Naturkostbran­che sei grund­sätz­lich problematisch, da von bio­logischen Scheuklap­pen ge­prägt und da­her auf dem so­zialen Auge eher blind, so der Vor­wurf. Die FAU/IAA zitiert ei­nen Ver­treter von Allos, eben­falls ein Marktführer der Bran­che: “Es geht doch um die bio­lo­gi­sche Qualität. Die Indianer sollen froh sein, daß sie nicht mehr mit Giften arbeiten, das an­dere ist doch erstmal egal.”
Spätestens seit der BIOFACH – weltweit die führende Natur­kostmesse – im Frühjahr 1996 wurde die von der FAU/IAA los­getre­tene Diskussion so weit in die Öffentlichkeit getragen, daß der Rechtfertigungsdruck wuchs. Der Demeter-Bund, der die Finca Ir­landa seit 35 Jahren zer­tifiziert und nach eigenen An­gaben “regelmäßig kontrolliert”, erstellte plötzlich, auf’s Renom­mee bedacht, selbst ein Gutach­ten. Es beruht zwar nur auf zwei Stippvisiten im April und Juni 1996 – also außerhalb der Ernte­zeit – und in weiten Teilen auf Aussagen der Besitzer, außerdem ist es in den Zahlenangaben et­was widersprüchlich.

Das Demeter-Gutachten

Die Studie kommt dennoch zu kritischen Befunden: Wohn­räu­me und Sa­ni­täreinrichtungen für die Ern­te­ar­beiterIn­nen wer­den mo­niert, eben­so die Tatsa­che, daß die Schu­le kaum mit Bü­chern aus­ge­stat­tet ist, wobei ausdrück­lich Er­wähnung fin­det, daß das Farm-Management auch noch vor­gab, hiervon nichts zu wissen. Die Ar­beiterInnen kom­men in dem von einem Forst­wis­sen­schaftler erarbeiteten Gut­achten prak­tisch nicht zu Wort, außer mit einem Zitat, daß ihnen kein Platz gegeben wird, einen Garten anzulegen – ein merk­wür­diger Wi­der­spruch zu an­ders­lau­tenden An­gaben von Le­bens­baum, die betonen, die Finca Ir­lan­da würde den Angestellten Ge­mü­segärten zur Verfügung stellen.

“In der ersten Reihe” ge­brandmarkt

Spätestens seit am 18. Sep­tem­ber im ZDF-Magazin “Kenn­zei­chen D” der Beitrag “Kin­der­arbeit auf dem Deut­schen Öko­markt” ausgestrahlt wurde, in dem es auch um die Finca Ir­lan­da ging, ist die Kam­pagne der FAU/IAA im Auf­wind, nachdem die Organisa­tion bereits ein pres­se­rechtliches Ver­fahren ge­won­nen hatte. Juristisch vertreten wur­de Lebensbaum inter­es­san­terweise von einem Anwalt des Le­bensmittelmultis Tengelmann-Grup­pe. Man sitzt ja im gleichen Boot – wer hat schon Interesse da­ran, wenn dem Kunden der Schluck Kaffee im Hals stecken bleibt.
Etwa zeitgleich fand eine wei­tere interes­sante Diskussions­run­de statt: Im Rahmen ih­rer “Mon­tags­gespräche” lud die anthro­po­so­phische GLS-Bank mit Sitz in Bo­chum am 23. Sep­tember zu ei­ner Veranstaltung zum Thema ein – Imagerettung allenthaben.
Lebensbaum-Geschäftsführer Ul­rich Wal­ter nämlich hatte bei die­sem Geldinstitut einen 150.000,- DM Kredit für plötz­lich doch notwendige Renovie­rungs­maßnahmen der Mas­sen­un­ter­künfte, sowie für “allgemeine In­fra­strukturmaßnahmen” bean­tragt. Dieser Antrag wurde abge­lehnt, was voraussehbar war, nicht nur wegen des Gutachtens, son­dern nicht zuletzt aufgrund der Tatsa­che, daß die Finca Ir­landa beim besten Willen nicht in die Kate­gorie “Klein- und Kleinst­pro­jekte aus der Dritten Welt” zu quetschen ist, an die sich der ent­sprechende GLS-Fonds richtet.

Ein Öko-Chamäleon

Im Laufe der GLS-Veran­stal­tung teilte Ulrich Walter dann ei­nem allerseits verblüff­ten Pub­li­kum mit, daß er das FairTrade-Sie­gel in Zukunft nicht mehr zu ver­wenden ge­denke. Und mit ei­ner Mitte Ok­tober erschie­nenen Preis­aufli­stung wurde auch amt­lich – Sin­neswandel hinter Sin­nes­wandel – daß auch Schluß ist mit der einst gepriesenen langfri­sti­gen Ab­nahmegarantie. Rund 75 Prozent des bislang von Finca Ir­landa bezogenen biolo­gisch an­ge­bau­ten Kaffees wurde quasi über Nacht aus dem Verkehr ge­zo­gen und nur der Anteil des biologisch-dynamisch angebau­ten Demeter-Kaffees beibehal­ten.
Bei dem neuen Lebensbaum-Kaffee – schlagartig erhältlich in eben­falls neuen Tü­ten – handelt es sich offenbar um biologi­schen Kaffee, der von drei mexikani­schen Kooperativen stammt, die von der Siegelver­einigung Trans­Fair lizensiert sind. Ein du­bio­ser Frontenwandel: “die so­zialpolitische Ausrichtung”, so Wal­ter, sei “immer schon Be­stand­teil der Firmenphilosophie” ge­wesen. Finanziell ist diese Ima­gerettung vermutlich eine eher bittere Pille: Erstens ist der Ko­operativkaffee – woher auch im­mer er kon­kret stammt – teu­rer, zweitens gilt es nun auch pro Kilo 0,39 DM Lizenzgebühren an TransFair zu bezahlen – billi­ger war’s doch mit der selbstge­schnitzten Medaille. Seit einigen Wochen also ist Fin­ca Ir­landa-Kaffee mehr oder we­niger nur noch im Zusam­men­hang mit Demeter bezie­hungs­wei­se in geringerem Um­fang über die niederländi­sche Natur­kost­firma Simon Levelt im Han­del erhältlich. Worin besteht nun der Erfolg der Kampagne? Ver­än­derung des Bewußtseins hier­zu­lande – kein Thema. Ist es ge­lungen, eine positive Verände­rung der Lebenssitua­tion der Ar­bei­terInnen auf der Finca zu er­wir­ken? Offenbar leider nein.
Selbst die Fa­milie Peters ist re­lativ schnell fallengelassen wor­den, über die ohnehin hart­näckig das Ge­rücht am Leben erhalten wird, sie bewege sich permanent am Rande der Pleite. Als Aus­gleich für das Unvermö­gen, den Ange­stellten Gemüse­gärten zur Verfügung zu stellen, leistet sich die Familie Peters jeden­falls ein dreißig Hektar großes Natur­schutz­gebiet mit vom Aus­sterben be­drohten Wild­hühnern (Stück­preis jeweils ge­schätzte 25.000 US-Dollar) – die kann man ja, an den Rand des Exi­stenzminimums ge­drängt, not­falls versilbern.

Erfolg – für wen?

Was jedoch wäre die Alterna­tive für die durch eine seit sieb­zig Jahren bestehende, zwar an­throposophische, aber doch pa­tri­ar­chalische Betriebsführung ge­präg­te Arbeiter­schaft, wenn sich die Familie Peters dem­nächst nur noch der Hühnerzucht widmete? Die Landbesetzungen auf den Fin­cas Li­quidambar und Prusia haben gezeigt, daß es möglich war, binnen kurzem den Real­lohn der Cafeteros zu ver­fünf­fachen. Und so trotz dieser poli­tisch rasch unterbundenen Ak­tion erneut aufgezeigt, daß eine kooperative Or­ganisationsform al­le­mal, wenn auch nicht op­timale, so doch würdevollere Über­le­bensmöglichkeiten schafft.

Wer zahlt?

“Die Welt wird kleiner, La­teinamerika rückt näher. Es ist auch unsere Sache, die dort ver­handelt wird”, hieß es im Vor­wort der ersten Ausgabe von “Lateinamerika – Analysen und Berichte”. Der Anspruch, den die HerausgeberInnen 1977 an ihre gerade aus der Taufe gehobene Jahrbuch-Reihe stellten, war es, die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Subkontinents darzustellen und kritisch zu dis­kutieren. Eine Entwicklung, die – so die AutorInnen – “in eine ein­deutige Richtung” ging: Hin zu einem Modell der Kapitalakku­mulation, das die Kombination von wirtschaftlichem Liberalis­mus mit extremer politischer Repression benötigte, um hohe Profite zu erzielen. Tatsächlich ergab der Blick auf Lateiname­rika in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre – nach Chile und Uruguay hatten sich nun auch in Argentinien die Militärs an die Macht geputscht – ein reichlich düsteres Bild. Hoffnungen auf revolutionäre Veränderungen hin zu einer gerechteren Gesell­schaft, sei es nach kubanischem oder chilenischem Vorbild, wur­den allmählich zu den Akten gelegt.
Zehn Jahre später stellten die unfreiwilligen “Chronisten von Niederlagen” zwar nicht ihre damaligen Einschätzungen in Frage, gingen aber dennoch mit sich ins Gericht: Skepsis sei an­gebracht gegenüber der in den ersten Bänden praktizierten Les­art der lateinamerikanischen Ak­tualität – basierend auf der Über­zeugung, anhand ökonomi­scher “Akkumulationsmodelle” ließen sich quasi automatisch Ten­denz­aussagen über die politi­sche Zu­kunft im “abhängigen Kapi­ta­lis­mus” treffen. Solcherlei “Ablei­tungen” hatten der kom­plexen Wirk­lichkeit der jeweili­gen Län­der nicht Rechnung ge­tragen und ließen umgekehrt auch nur man­gel­haft auf die Qualität der Ge­genkräfte zur herrschenden Ord­nung schlies­sen. Was die Beo­bachtung jener anbetraf, brauchte sich das Jahr­buch-Team freilich keine Vor­würfe gefallen zu las­sen. “Neue Organisations- und Kampffor­men” gegen wirtschaft­liche Mar­ginalisierung und poli­tische Un­terdrückung – Stadt­teil­bewegun­gen, Basisgemeinden, Indígena-Organisationen und lin­ke Par­teien jenseits leninistischer Kon­zeptionen – hatten von Be­ginn an das Augenmerk der Her­ausgebe­rInnen gefunden. Nur – vor­aus­sagbarer wurde die Zu­kunft La­teinamerikas damit auch nicht.

Verdrängung allerorten

Im zwanzigsten Jahr der “Analysen und Berichte” war es wieder einmal an der Zeit, sich anhand der Entwicklungen der vergangenen Jahre über die “Zukunftsfähigkeit” des Unter­suchungsobjektes Rechenschaft abzulegen. “Offene Rechnungen” heißt dementsprechend Band 20 der Reihe, denn – so die im Vor­wort geäußerte Ansicht – zu­kunftsfähig ist Lateinamerika nur, wenn nicht “Vergessen und Verdrängen” die Tagesordnung bestimmen. Vergessen und ver­drängt wird freilich überall, und in eigener Sache fehlt nicht der Hinweis auf die Gefahr, die “besseren Einsichten von ge­stern” – Solidarität mit den sozia­len Kämpfen und das Ziel einer befreiten Gesellschaft – der mo­dischen Anpassung an herr­schende Terminologie und The­mensetzung zu opfern.
Offensichtlich unbewältigte Schatten der Vergangenheit sprechen die ersten beiden Bei­träge an. Daß die Ökonomie in Chile “zur Staatsreligion erho­ben” worden ist, und die Regie­renden eine konsequente Aufar­beitung der unter der Diktatur begangenen Menschenrechts­verletzungen scheuen, schildert David Becker und liefert zudem eine überzeugende Analyse der psychischen Mechanismen bei den Opfern, aber auch der Be­völkerungsmehrheit. Die “inter­nalisierte Angst”, so Becker, ist das zentrale Element der neuen chilenischen Demokratie: Nach­dem die auf dem zuerst nur zäh­ne­knirschend akzeptierten Kon­sens­prinzip basierende tran­si­ción zumindest teilweise ge­lun­gen war, blieb die traumati­sche Er­innerung an Putsch und Repression der Garant für die “politisch wirksame Gleichung Konflikt = Zerstörung = Neuauf­la­ge der Diktatur”.
Unter diesem Vor­zeichen werden Mutlosigkeit und feh­len­der Wille der regie­renden Con­certación und ihrer christ­de­mo­kra­tischen Präsiden­ten ver­ständ­li­cher, wenn auch nicht le­gi­ti­mer. Tragischerweise deckt sich hier der Wunsch vieler Politiker nach schnellem Vergessen und weit­gehend fol­genlosen Sym­bol­hand­lungen mit dem Bedürfnis der nicht direkt von der dik­ta­to­riellen Repression betroffenen Chi­lenInnen, Kon­flik­ten aus dem Weg zu gehen. Folteropfer und An­gehörige von Ver­schwun­de­nen sehen sich in einem Umfeld man­gelnden Erin­nerungswillens neu­erlich diskri­miniert. Das, meint Becker, muß allerdings nicht so bleiben: Trotz aller Ver­su­che seitens Präsident Frei und sei­nem Technokraten­team, miß­lie­bige Erinnerungen an Ver­gangenes auszuklammern, mel­det sich dieses immer wieder zu Wort – und sei es durch das Sä­bel­rasseln der Militärs. “Das un­ver­mittelt Konflikthafte kann nicht mehr unter den Teppich ge­kehrt werden, es sucht sich sei­nen Weg an die Öffentlich­keit. Und das ist ein wesentlicher Be­stand­teil einer echten Demo­kra­ti­sierung.”

Linke Altlasten

Gedächtnislücken einer ganz an­deren Art beschreibt Ricarda Knabe in ihrem Bericht über die Studie, die eine salvadorianische Frauenorganisation unlängst der FMLN und der aus ihr hervorge­gangenen Partido Democrático vorgelegt hat. Das Thema ist bri­sant, geht es doch um die Rolle der Frauen im Guerillakampf, ge­nauer: um ihre Sexualität. Vie­le der guerrilleras – ent­stammten sie nun dem haupt­städtisch-intel­lek­tuellen Milieu oder den Dör­fern im Kriegsge­biet – litten nicht nur an der Brutalität der Kämpfe sondern ebenso an der se­xuellen Diskri­minierung durch ih­re eigenen com­pañeros und die Be­vormun­dung durch die FMLN-Hierar­chie. Diese, so die Au­torinnen der Studie, hatte in den ersten Kriegsjahren noch ei­ne rigide Kontrolle über das Pri­vat­leben der GenossInnen aus­ge­übt und qua selbst durch­ge­führ­ten Ehe­schließungen (revolutio­nä­re) Mo­ral praktiziert. Später, als Kampfbereitschaft Priorität vor ideologischer Festigkeit ge­wann und diese Einflußnahme nach­ließ, kamen etliche der in den Camps lebenden Frauen vom Re­gen in die Traufe. “Den Kör­per mit den Genossen solidarisch tei­len”, war ein häufig miß­brauch­tes Schlagwort. Den gue­rrilleras, die aus eigener Ent­scheidung ein promiskuitives Ver­halten praktizierten, schlug freilich nicht selten die geballte männliche Verachtung entgegen. Daß diese Problematik inzwi­schen offen thematisiert und dis­kutiert wird, hält Knabe freilich für eine hoffnungsvoll stim­men­de Errungenschaft.

Die “Multis”: unheilvolle Wohltäter

Der Frage “Was von den Multis noch zu erwarten ist” geht Urs Müller-Plantenberg in sei­nem Artikel nach. Dabei konsta­tiert er die bemerkenswerte Wandlung, die die Beurteilung trans­nationaler Unternehmen in Lateinamerika selbst in der Sichtweise einstiger Kritiker durchgemacht hat: Wurden die “Multis” zu Zeiten der “Import­substituierenden Indu­striali­sie­rung” mit Argwohn be­trachtet und nach Möglichkeit rigiden Kon­trollen unterworfen, hat spätestens seit den achtziger Jah­ren ein Wettlauf um die Gunst der ausländischen Wohl­täter ein­gesetzt.
Aufschlußreich ist Müller-Plan­tenbergs histori­sche Ana­ly­se, mit der er zu zei­gen ver­sucht, wie gering schon immer der tat­sächliche Beitrag transnationaler Un­ter­nehmen zum ersehnten Ka­pitalzufluß ge­wesen ist. Das ge­genwärtige, ge­rade von stei­genden Portfo­lio­investitionen ge­prägte Szena­rio ist noch be­denklicher: In dem Maße, in dem das global allge­genwärtige Kapi­tal dank moder­ner Technologie im­mer mobiler, ja “scheuer und flüch­tiger” ge­worden ist, über­wiegt das Risiko des unkon­trol­lierbaren Zusam­men­bruchs, ei­nes Kollaps, wie er Mexiko 1994 er­eilte.
Auch die Hoffnung auf Be­schäf­tigungsef­fekte und Tech­no­lo­gietransfer, die Direkt­in­ve­sti­tionen entge­gengebracht wird, hält einer ein­gehenderen Be­trach­tung nicht stand. Dennoch ist die Gier nach frischem Ka­pi­tal nicht einfach ein “frommer Selbst­betrug” wirt­schafts­li­be­ra­ler Regierung, fol­gert Müller-Plan­ten­berg. “Viel­mehr ent­sprechen massive Di­rekt­in­ve­sti­tio­nen auch den hand­festen In­te­res­sen derer, denen es darauf an­kommt, ein Wachs­tumsmodell zu fördern, das schnelle Be­rei­che­rung er­laubt und unter der Dro­hung von möglichen Ka­pi­tal­ab­flüssen im­mer weiter geführt werden muß.”
Handfeste Interessen weltweit agierender Konzerne stehen auch im Mittelpunkt der Debatte um “Biodiversität”, die Elmar Römpczyk nachzeichnet. Vor al­lem Pharmaunternehmen aus den USA versuchen, sich die Ver­fügungsgewalt über den ge­ne­tischen Reichtum des tropi­schen Lateinamerika zu sichern – sei es mittels Druck auf interna­tionale Gre­mien wie die Welt­han­delsorganisation WTO oder Lob­bying bei lateinamerikani­schen Regierungen. Sollte es diesen “Multis” gelingen, so Römpczyk, über die Schaffung eines ver­bind­lichen Patent­schutz­systems die Resultate ihrer Forschung zu mo­nopolisieren und dem­ent­spre­chend exklusiv zu verwerten, kä­me den Ländern des Südens einer ihrer größten Reichtümer – die Verfügung über ihre Artenvielfalt – abhanden. “Neben­effekt” der transnationa­len Offensive ist der skrupellose Eingriff in den Lebensraum der in­digenen Völker, die den Kapi­tal­interessen nur insofern von Nut­zen sind, als sie durch ihr tra­diertes Wissen eine Informa­tions­quelle über die Anwendung des “genetischen Materials” ab­ge­ben können.
Perspektiven für ei­ne gerech­tere Nutzung der Bio­diversität sieht Römpczyk in er­sten Ini­tia­ti­ven indigener Grup­pen, die sich ein Mitspra­cherecht erkämpft ha­ben, aber auch in einer Wei­ter­ent­wicklung der 1992 in Río ge­schaf­fenen Bio­di­ver­sitäts­kon­ven­tion.

Die Kosten der (De)industrialisierung

Anhand der brasilianischen Aluminiumproduktion versucht Dieter Gawora, “offene Rech­nungen” im Amazonasgebiet auf­zuzeigen. In diesem Falle handelt es sich zwar weniger um den direkten Einfluß der allge­genwärtigen Transnationalen, wohl aber um die ökologische Zerstörung und ethnische Ver­drängung, die Großprojekte wie die extrem energieintensive Alu­miniumgewinnung und -ver­ar­beitung zu verantworten haben.
Detailliert schildert Gawora die Situation am Rio Trombetas, ei­ner Region mit reichen Bauxit­vorkommen, in der seit Ende der sechziger Jahre entstandene För­derstätten und Retortenstädte die Nachkommen der vor zwei Jahr­hunderten in dieses Gebiet ge­flohenen afrikanischen Sklaven, der quilombos, verdrängen. Im Zusammenhang mit einem Stau­dammkomplex, der den Energie­bedarf der Produktion sichert, treiben die Aluminiumkonzerne die Umweltzerstörung voran; kri­tische GewerkschafterInnen wer­den mit zum Teil kriminellen Me­thoden mundtot gemacht. Gaworas Fazit: “Großprojekte sind immer geprägt von einer Ignoranz gegenüber ‘den ande­ren’. Sie sind unvereinbar mit ethnischen Differenzen und tra­ditioneller Wirtschaftsweise”.
Mit Akribie und einer Fülle an Datenmaterial schildert Paul Singer eine andere Facette brasi­lianischer Realität: die fort­schreitende Deindustrialisierung, ja “ökonomische Aushöhlung” des Großraums Sâo Paulo, wo sich vor den Inflationskrisen der achtziger Jahre und der in den Neunzigern forcierten Welt­mark­töffnung mehr als ein Drit­tel der industriellen Arbeitsplätze Brasiliens konzentrierte. Sym­ptomatisch für die Folgen der Strukturanpassung ist auch die stetige Zunahme prekärer, da informeller Arbeitsverhältnisse und ein Anwachsen der ohnehin starken Einkommenskonzentra­tion.
Eine Option, sinnvoll auf die kurz­fristig kaum umkehrba­ren Rah­menbedingungen von Markt­öff­nung und Strukturkrise zu re­agieren, erkennt Singer in de­zen­tralen Kompensationspoli­tiken. Dar­über hinaus denkt er über die Mög­lichkeit nach, “ausgehend von Initiativen der Stadt­re­gie­run­gen gemeinsam mit Kräften der Zi­vilgesellschaft einen neuen Wachs­tumszyklus zu eröffnen”, in­dem das enorme brachliegende Ar­beitspotential der Ar­beitslosen, Informellen und Un­ter­beschäftigten in “an­gepaßten For­men der Organi­sierung der Pro­duzenten” akti­viert wird. “Al­le Organisations­formen sind mög­lich, von iso­lierten oder zusammengeschlos­senen Privat­un­ternehmen bis zu kollektiven Un­ternehmen wie Ko­operativen, Pro­duktionsge­mein­schaften oder was sonst noch ausgedacht und aus­probiert werden könnte”.

Revolutionäre Werte in Erosion

Inwiefern die kubanische Re­volution alte Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten nicht restlos hat beseitigen, sondern nur ver­drängen können, beschreibt ab­schließend Bert Hoffmann. Lan­ge nicht für möglich gehaltene “Come­backs” – von der Wieder­kehr des Weihnachtsfestes über die öffentliche Akzeptanz der santería bis hin zum Aufleben des latenten Rassismus – haben die Versuche von Partei und Re­gierung den KubanerInnen be­schert, Wege aus der wirtschaft­lichen Misere zu finden. Daß mit der faktischen Legalisierung des Dollarbesitzes, der beginnenden Liberalisierung der Arbeitsver­hältnisse und den Privilegien des devisenträchtigen Tourismusge­schäftes neu-alte soziale Un­gleichheit entstanden ist, er­scheint noch weniger erschrek­kend als die Renaissance einer rassistischen Mentalität, die von einem ebenso neuen wie alten sozialen Gefälle zwischen den Ethnien genährt wird. Das ideo­logisch verordnete Gleichheits­postulat erweist sich hier als we­nig tragfähig, galten doch auf Kuba zaghafte Ansätze ethni­scher Selbstartikulation etwa als “schwarzer Rassismus”. Für Hoffmann stellt gerade die von der kubanischen Führung betrie­bene Ineinssetzung von Revolu­tion und sozialistischem Staat in diesen Krisenzeiten eine Gefahr dar, denn “wenn diese Verknüp­fung nicht aufgebrochen werden kann, droht der Legitimitätsver­lust des politischen Systems auch die der Revolution zugrun­deliegenden Werte insgesamt in Frage zu stellen”.
Trotz der zum Teil ausgespro­chen lesenswerten Artikel krankt die Konzeption des Jubiläums­bandes an der zu weit formu­lierten und locker gehandhabten Themenvorgabe. Vorausgegan­ge­ne Ausgaben konnten deutlich stringenter der bewährten Schwer­punktsetzung folgen. Si­cher: “Offene Rechnungen” wer­den präsentiert. Bloß läßt sich diese Interpretationshilfe mit ein wenig Geschick auf nahezu alle sozialen, politischen und öko­no­mischen Problematiken an­wenden.
Daß die Herangehensweise der AutorInnen an ihr Thema stark variiert, hat weniger Aus­wirkungen auf den Gehalt ihrer Darstellungen als auf die Les­barkeit. Während die Herausge­berInnen Singers Beitrag im Vorwort zu Recht als “sperrig” bezeichnen, fällt Hoffmanns feuilletonistischer Stil wohltuend auf.
Lesenswert sind wie immer die Länderberichte, die im zweiten Teil die Ereignisse des vergangenen Jahres in Brasilien, El Salvador, Guatemala, Haiti, Kolumbien, Kuba, Mexiko und Ve­nezuela nachzeichnen. Be­dau­erlich ist allerdings die im vor­liegenden Band reduzierte An­zahl von Ländern: Während durch den Kuba-Artikel eine ge­wis­se Dopplung entsteht, wäre der Blick auf ein anderes der hier fehlenden Länder – Argenti­nien, Bolivien, Peru oder Ecuador – wünschenswert gewesen.

Nichts Neues in Sicht?

Die Zeiten großer gesell­schaftlicher Gegenentwürfe sind vorbei. Zwar ist dem Herausge­berInnenteam zuzustimmen, daß sich “zentrale Fragen internatio­nalisierter Ausbeutung und des Spielraums von Emanzipations­be­wegungen gerade in Latein­amerika in exemplarischer Weise stellen”. Die Texte dieses Jahr­buches sind durchaus in der Lage, dies zu zeigen. Mit Vor­schlägen für gangbare linke Al­ternativen – etwa wie der Glo­balmacht der “Multis” zu begeg­nen sei – halten sich allerdings die meisten AutorInnen vorsich­tig zurück oder bleiben vage. Das Vorwort vermerkt dies mit Selbstkritik und verweist nur auf Singers locker konzipierten Ent­wurf einer Basisökonomie jen­seits von Staatsunternehmen und Finanzkapital, da dieser “eine Diskussion über vorhandene und nicht vorhandene Alternativen der Linken zum Neoliberalismus eröffnen könnte”.
Eine revidierende Feststellung mußten die HerausgeberInnen – zwanzig Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes – allerdings treffen: Lateinamerika steht nach den weltweiten Veränderungen der letzten Jahre zweifelsohne nicht mehr im Mittelpunkt der Auf­merksamkeit. Daß dennoch auch im deutschen Sprachraum aktuelle und kritische Forschung weiterhin ein Sprachrohr hat, ist nicht zuletzt auch ein Verdienst der “Lateinamerika”-Reihe.

Lateinamerika – Analysen und Be­richte 20: Offene Rechnungen, hg. von Karin Gabbert u.a., Horlemann 1996.

Von Träumen und dem Tag danach

In Zentralamerika grassiert – nicht zum ersten Mal – der Traum von der wirtschaftlichen und politischen Integration. Einer Zauberformel gleich wird sie ein ums andere Mal von Politikern und Politikerinnen aller Schattierungen beschworen, wenn diese über einen möglichen Ausweg aus der tiefen Krise, in denen sich ihre Länder befinden, sprechen. Es ist schön, zumal in schweren Zeiten, wenn man noch träumen kann. Nur ist den Menschen, deren eigene Träume von einem besseren Leben schon zu oft enttäuscht wurden, mit dem Verweis auf eine bessere Zukunft nicht ge-holfen, wenn sie nicht einmal wissen, wie sie in der Gegenwart ihre Familie ernähren sollen.
Es spricht in der Tat einiges für eine politische und wirtschaftliche Integration der Länder auf der Landbrücke zwischen Nord- und Südamerika. Die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarkts und eine sektorale Aufteilung der industriellen Produktion könnten die Konkurrenzfähigkeit der zentralamerikanischen Industrien erhöhen. Doch dieses Konzept, das bereits in den fünfziger Jahren unter Federführung der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) ausgearbeitet wurde, scheiterte schon im Mercado Común Centroamericano (MCCA), dem ersten wirtschaftlichen Integrationsversuch in den sechziger Jahren. Letztlich waren es politische Widerstände der nationalen Wirtschaftseliten, die eine sinnvolle gemeinsame Industriepolitik verhinderten. Und die CEPAL-Vorschläge für soziale Reformen und insbesondere auch eine Agrarreform fanden schon gar keinen Eingang mehr in den “Vertrag von Managua”, mit dem 1960 der MCCA beschlossen worden war. Schließlich bestimmten die Agraroligarchien damals in allen Ländern des Isthmus das politische Geschehen.
Deren Einfluß ist in den letzten Jahren zurückgegangen. Eine Verbesserung der sozialen Lage der Bevölkerung hatte dies allerdings keineswegs zufolge. Im Zeitalter des Neoliberalismus ist kein Platz für eine Sozialpolitik, die diesen Namen verdient, und Umverteilung findet, wenn überhaupt, stets von unten nach oben statt. Nicht Zentralamerika zählt, sondern ausschließlich der Standort Guatemala, Honduras oder Nicaragua, wenn sich die Länder der Region in ihrem Bemühen, Produktionsstätten der boomenden Maquila-Industrie ins eigene Land zu holen, beim Lohndumping und dem Abbau der Gewerkschafts- und Arbeitsrechte gegenseitig zu überbieten versuchen.
Düstere Aussichten – und dies, obwohl durchaus Erfolgsmeldungen vom zentralamerikanischen Isthmus zu vermelden sind. Die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition gehören weitgehend der Vergangenheit an, in Guatemala wird wohl noch in diesem Jahr das Ende des letzten Krieges in der Region gefeiert werden. Die Militärs sind in der Defensive, ihre Macht wird beschnitten. Doch das Ende der Bürgerkriege bedeutet längst nicht das Schweigen der Waffen. In allen Ländern Zentralamerikas nimmt die Kriminalität zu. In El Salvador sterben heute mehr Menschen eines gewaltsamen Todes als in den meisten Jahren des Krieges.
Ob Armutskriminalität, organisiertes Verbrechen oder Morde durch Todesschwadrone und Polizei: Die Gewalt, die nicht zuletzt ein Ergebnis der herrschenden Politik ist, erweist sich als Triumph für die rechten Parteien, die von Panama bis Guatemala die Regierung stellen: Immer mehr Menschen wünschen sich eine Verschärfung der Gesetze. Und eine repressive law and order-Politik – das hat sie in der Vergangenheit oft genug bewiesen – kann die Rechte wesentlich glaubwürdiger vertreten als die Linke.
Die Mächtigen haben kein Monopol auf Träume. Bleiben denen, die andere Wege suchen, nur Alpträume? Vielleicht kann es hoffnungsvoller stimmen, wenn überhaupt noch geträumt wird in Zentralamerika.

Zweckehe im Isthmus?

Da gab es die kriegerischen Unternehmungen des Söldnerführers William Walker aus Tennessee, der in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Nicaragua aus den ganzen Isthmus unterwerfen wollte, und die des liberalen Präsidenten von Guatemala, Justo Rufino Barrios, der eine Einheit unter guatemaltekischer Hegemonie anstrebte. Walker scheiterte weil sich alle fünf Republiken gegen ihn zusammentaten, Barrios dagegen scheiterte weil die fünf für eine gemeinsame Regierung doch zu individualistisch waren. In diesem Jahrhundert setzte man eher auf friedliche Mittel und wirtschaftliche Integration. Meist steckten hierbei Interessen der USA dahinter.
Wer Zentralamerika kennt, der weiß, wie schwierig es ist, den Isthmus auf dem Landweg zu durchqueren. Die bis vor kurzem bestehende Visapflicht, umständliche Amtswege für die Grenzüberschreitung mit Privatfahrzeugen, Willkür bei der Zollabfertigung und schlechte Straßen garantieren den Fluggesellschaften, die zwischen den Hauptstädten verkehren, ein sicheres Geschäft. Und das, obwohl die Tarife für die Anzahl der Flugkilometer deutlich überhöht ist. Der grenzüberschreitende Busverkehr – mit Ausnahme der Strecke Guatemala-El Salvador – ist mühsam und unbequem. Eine moderne Eisenbahnlinie von Guatemala bis Panama, die das Reisen und den Gütertransport innerhalb der Region dramatisch vereinfachen und verbilligen würde, ist bisher nicht einmal ernsthaft diskutiert worden. Es wird den Brüdern und Schwestern der Region also nicht leichtgemacht, einander näherzukommen. Deswegen gibt es auch mehr NicaraguanerInnen, die Miami kennen, als solche, die schon einen Urlaub in Guatemala verbracht haben und mehr Salvadorianer, die in Los Angeles aus- und eingehen als im nur zwanzig Flugminuten entfernten Tegucigalpa. Das Vorurteil blüht: so gelten die Ticos (Costa Rica) als hochnäsig, die Nicas als faul und gewalttatig, die Catrachos (Honduras) als doof, die Guanacos (El Salvador) als übertrieben strebsam und die Chapines (Guatemala) als verschlagen.
Eine Ausnahmeerscheinung ist das Volk der Miskitos am Río Coco, für die der Grenzfluß zwischen Nicaragua und Honduras nie eine maßgebliche Trennungslinie gewesen ist. Für sie war es bis zur Aufrüstung der Konterrevolution während der sandinistischen Jahre selbstverständlich, auf der einen Seite zu leben und auf der anderen das Feld zu bestellen. Und die Mobilität der Arbeitskraft war schon in den 70er Jahren eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Ohne die ArbeiterInnen aus Honduras und El Salvador wären die Expansion der Kaffeewirtschaft und der Baumwollboom in Nicaragua nicht denkbar gewesen. Und heute würden die Bananenplantagen in Costa Rica ohne die legal oder illegal eingereisten WanderarbeiterInnen aus Nicaragua nicht auskommen.

Versuche der Kooperation

Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua und Costa Rica, mit einer Gesamtfläche von 432.000 Quadratkilometern und 27 Millionen EinwohnerInnen, sind nicht nur Länder mit einem guten Stück gemeinsamer Geschichte, sie sind auch Konkurrenten, die ihre traditionellen Produkte wie Kaffee, Bananen, Zucker und Baumwolle auf denselben Märkten placieren wollen. Bis in die 60er Jahre waren es fast reine Agrargesellschaften, die ausreichend Nahrungsmittel für den Eigenbedarf produzierten, aber gleichzeitig mit Exportmonokulturen einem zunehmenden Bedarf in den USA entgegenkamen. Erst nach 1960, als die Kennedy-Regierung mit der Allianz für den Fortschritt in Lateinamerika ein Bollwerk gegen das castristische Kuba schaffen wollte, wurden politische Reformen und Industrialisierung gefördert. In diesem Rahmen wurden in Zentralamerika drei Organisationen geschaffen: auf der politischen Ebene die Organisation Zentralamerikanischer Staaten (ODECA), auf der militärischen der Zentralamerikanische Verteidigungsrat (CONDECA) und auf der wirtschaftlichen der Zentralamerikanische Gemeinsame Markt (MCCA). Dem letzteren lag die Idee zugrunde, daß nur der gemeinsame Markt die Industrieproduktion lohnend mache. In jedem Land sollte ein Zweig für die Versorgung der gesamten Region angesiedelt werden, um größere Mengen zu vertretbaren Stückkosten herzustellen: etwa Zahnpasta in Guatemala, Schuhe in El Salvador und Seife in Nicaragua. Die Anfänge waren vielversprechend, zumal die wirtschaftliche Konjunktur die Kaufkraft der Konsumenten steigerte. Doch MCCA und CONDECA scheiterten mit dem Ausbruch des sogenannten Fußball-Krieges zwischen Honduras und El Salvador. Nicht an primitivem Sportchauvinismus, wie der Name der dreitägigen bewaffneten Auseinandersetzung suggeriert, sondern an der unterschiedlichen demographischen Struktur der Länder. Aus dem überbevölkerten El Salvador hatten sich tausende BäuerInnen auf honduranischem Boden angesiedelt, von wo sie im Zuge einer demagogischen Agrarreform des honduranischen Militärdiktators vertrieben wurden.

Der Wunsch der USA: gegen Nicaragua vereint

Diese Wunden waren noch nicht verheilt, als in Nicaragua die sandinistische Revolution ausbrach. Die Solidarität, die die honduranische Bevölkerung während des Volksaufstandes den Flüchtlingen vor Somozas Nationalgarde entgegengebracht hatte und die Sympathien der Nachbarvölker für das neue Gesellschaftsmodell waren bald gebremst. Als Flüchtlinge kamen jetzt Soldaten der aufgelösten Nationalgarde, und das Grenzgebiet wurde in eine Aufmarschbasis für die Konterrevolution verwandelt. Auch an der Südgrenze zu Costa Rica wurde Nicaragua zunehmend isoliert. Während Nicaragua mit einem Wirtschaftsembargo bestraft wurde, bekamen die loyalen Länder Vorzugsquoten für den Export von Zucker und anderen Rohstoffen in die Vereinigten Staaten zugebilligt. Die USA förderten aber auch eine Integration Zentralamerikas gegen Nicaragua, vor allem auf der Ebene der Streit- und Sicherheitskräfte. Bleibendster Effekt dieser Vernetzung sind die Autoschieberringe und Drogenbanden, die in den Polizeiapparaten von El Salvador, Honduras und Guatemala aufgebaut wurden.
Von der Europäischen Gemeinschaft wurde die diskriminierende Wirtschaftspolitik nicht geteilt. Im Gegenteil: die EuropäerInnen setzten auf Integration statt Isolation Nicaraguas und machten seit Mitte der 80er Jahre ihre multilaterale Wirtschaftshilfe von einer regionalen Einigung abhängig, die jedes Jahr bei den San-José-Nachfolgetreffen erneuert wird. Doch die Programme waren zu dürftig, um gegen die Machtpolitik der USA eine echte Annäherung der verfeindeten Regierungen durchsetzen zu können.

Die neunziger Jahre: Ära des Freihandels

Erst im Jahre 1990, als die Sandinisten in Nicaragua abgewählt wurden, konnte die regionale Integration aller wieder versucht werden. Seit sich in den USA unter Präsident George Bush die Überzeugung durchsetzte, daß die größte Wirtschaftsnation der Welt auf Dauer gegenüber einem geeinten Europa und einem boomenden Ostasien nur bestehen kann, wenn sich der ganze Kontinent in einen gemeinsamen Wirtschaftsraum verwandelt, ist von Labrador bis Feuerland Integration angesagt. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen zwischen Kanada, Mexiko und den USA (NAFTA) sprengte die Grenzen zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern – für den Kapitaltransfer, nicht für den Verkehr menschlicher Arbeitskraft. Freihandel heißt die Devise, die in ganz Lateinamerika aufgegriffen wurde. Plötzlich wurde dem Mercosur, zu dem sich Argentinien, Brasilien, Uruguay und Chile schon lange zusammengeschlossen hatten, neues Leben eingehaucht. Mexiko, Venezuela und Kolumbien schlossen ein Freihandelsabkommen und auch der Andenpakt wurde wiederbelebt.
Da konnte Zentralamerika nicht nachstehen. Die Region hat nur eine Chance ernstgenommen zu werden, wenn sie ihre traditionelle Zersplitterung überwindet. Deswegen nehmen seit einigen Jahren auch Panama und Belize, die zwar geographisch, aber nicht historisch zu Mittelamerika gerechnet werden, seit einigen Jahren an den Gipfeltreffen der zentralamerikanischen Präsidenten teil. Für Guatemala bedeutet diese Erweiterung einen stillschweigenden Verzicht auf die offiziell noch immer aufrechten Ansprüche auf das Territorium von Belize, das 1981 von Großbritannien in die Unabhängigkeit entlassen wurde.
Die Integration schreitet jetzt in Riesenschritten voran. Zumindest auf dem Papier. Im Dezember 1991 wurde in Tegucigalpa das Zentralamerikanische Integrationssystem (SICA) als Folgeorganisation der ODECA gegründet. Dies ist für die ZentralamerikanerInnen weniger ein neuer Versuch echter regionaler Integration, sondern eine Voraussetzung, um sich irgendwann in den NAFTA einzuklinken und ihre Exporte ohne Handelshemmnisse in diesen gigantischen Wirtschaftsraum liefern zu können.

Sozialpolitik und Umwelt haben das Nachsehen

Die im Interesse der Globalisierung gefaßten Beschlüsse der Gipfeltreffen dienen den einzelnen Regierungen dazu, unpopuläre Maßnahmen innenpolitisch zu rechtfertigen. Zum Beispiel den Sozialabbau und die Beschneidung von Gewerkschaftsrechten, mit dem Hinweis, der Wirtschaftsstandort müsse verteidigt werden.
Freihandel und Sozialabbau können die strukturellen Probleme der Region gewiß nicht lösen. Für die 68 Prozent der ZentralamerikanerInnen, die laut United Nations Development Programm (UNDP) in “kritischer” Situation leben oder überleben, sind dringende Programme gefordert. So hat zuletzt der Sozialgipfel von Tegucigalpa die extreme Armut weder national noch regional eingedämmt.
Auch bei der Umweltzerstörung liegt Zentralamerika mit sechs Prozent Entwaldung jährlich weltweit im Spitzenfeld. Trotzdem hat der Umweltgipfel von Managua außer vielen schönen Worten nicht viel Konkretes gebracht.

NGOs haben es schwer: Integration als Chefsache

Deswegen sind die zentralamerikanischen NGOs immer weniger bereit, die Integration allein den Regierungen zu überlassen. Der Globalisierung widersetzt sich heute keiner mehr ernsthaft. Doch: “Damit die nachhaltige Entwicklung der Menschheit möglich wird, müssen drei Aktoren zusammenwirken: Staat, Markt und Zivilgesellschaft”. Mit diesem Vorstoß brachte sich die Concertación Centroamericana auf der UNO-Sozialkonferenz von Kopenhagen ein. Unter diesem Namen haben sich nichtregierungsgebundene Organisationen der Region zusammengeschlossen, um mit einer gemeinsamen Stimme gegen die Regierungen – die Integration als Chefsache betrachten – auftreten zu können. Kurz darauf, im Oktober 1994, schufen die regierungsunabhängigen Organisationen die “Zivile Initiative der Zentralamerikanischen Integration” (ICIC), die alle Themen der folgenden Gipfeltreffen aufgriff und sich als ständiges Konsultativorgan einzubringen versucht. Mit bisher wechselhaftem Erfolg.
Zwar sind ICIC-Mitglieder inzwischen als ständige Beobachter beim SIECA, SICA und im Zentralamerikanischen Parlament anerkannt, doch ist ihr Einfluß gering. Die Präsidentengipfel, so heißt es in einem Papier der ICIC, benützten einen “scheinbaren Dialog” mit der Zivilgesellschaft, um bei der internationalen Gebergemeinschaft an zusätzliche Mittel zu kommen, “die in der Praxis weit entfernt sind, den Bedürftigen zu nützen.”
Konkrete Vorschläge der Zivilgesellschaft sind bisher von den Staatschefs ignoriert worden, so zum Beispiel die Vorlage für einen regionalen Sozialpakt. Dennoch unterbreiteten die Regierungen Zentralamerikas beim Sozialgipfel in Kopenhagen eine Konvention der Sozialen Integration, die sie als Produkt einer breiten Diskussion mit allen betroffenen Gruppen präsentierten.

Eigener Weg nur mit Druck von unten

Von einer gemeinsamen Sozialpolitik ist Zentralamerika aber noch genauso weit entfernt wie vom gemeinsamen Wirtschaftsraum. Zwar gibt es schon seit vielen Jahren einen Energieverbund, der auch während der Revolutionsjahre funktionierte und verhinderte, daß die Stromversorgung noch häufiger als ohnehin schon zusammenbrach. Doch wenn es um partikuläre Handelsinteressen geht, kehren die Regierungen schnell wieder zu protektionistischen Maßnahmen zurück. So läßt Costa Rica unter dem Vorwand der Lebensmittelhygiene nicaraguanische Bohnen an der Grenze verschimmeln, um die eigenen Produzenten zu schützen. Auch beim Aushandeln von Bananenquoten mit der EU stieg Costa Rica aus dem gemeinsamen Verhandlungsforum aus und suchte seine Exportquote im Alleingang zu erhöhen. Und bei der Verhandlung der Staatsverschuldung ziehen die Regierungen gesonderte Verhandlungen mit den Gläubigern vor, statt gemeinsam aufzutreten.
Investoren nützen die Konkurrenzsituation aus, um günstigere Bedingungen zu erpressen. Warum sollten sie sich Gewerkschaften in den Fertigungsbetrieben gefallen lassen, wenn im Nachbarland die Organisationsfreiheit eingeschränkt ist? Warum eine Erhöhung des Mindestlohnes hinnehmen, wenn nur 200 Kilometer entfernt für weniger Geld mehr gearbeitet wird? So gesehen ist die Unterzeichnung einer zentralamerikanischen Sozialcharta nicht nur eine legitime Forderung der Arbeitnehmer sondern muß auch im Interesse der Regierungen liegen. Die Integration “von unten” unter Mitwirkung der verschiedenen sozialen Akteure ist heute eine Notwendigkeit. Solange aber der Druck von unten fehlt, werden sich die Staatschefs der Region ihre Politik weiterhin “von oben”, also von den USA und dem Weltwährungsfonds, diktieren lassen.

Nationaler Dialog als Strukturanpassung

Oktober 1996: Bereits seit dem 20. März schweigen die Waffen, eine Guerillaeinheit kommt nach Quetzaltenango, der zweitgrößten Stadt des Landes. Die Guerilleros ziehen durch die Innenstadt, durch ein Einkaufszentrum, reden mit Passanten, geben Radio- und Fernsehsendern Interviews. Nach dem Auftritt werden sie im Ehrensaal des Stadtpalastes von einer Abordnung der Stadtregierung empfangen. Schließlich ziehen sie sich wieder zurück. Die lokale Armeeeinheit war vorher unterrichtet worden, alles blieb ruhig. Das zunehmend öffentliche Auftreten von URNG-KämpferInnen im Land kündigt an, daß diese sich – nach mehr als 35 Jahren bewaffneten Konfliktes – in naher Zukunft in das zivile Leben integrieren wollen. Die Angaben über die Anzahl der aktiven KämpferInnen schwanken, die niedrigste liegt bei 3000. Sie kommen in eine Gesellschaft, die trotz der gerade beschriebenen Episode nach wie vor von Gewalt und Polarisierung, von massiven Menschenrechtsverletzungen und krasser ökonomischer und sozialer Ungerechtigkeit geprägt ist. Und sie werden mit den Auswirkungen der jahrelangen Regierungspropaganda konfrontiert, die sie als Terroristen diffamiert hat.

Die guatemaltekische Linke im Umbruch

Gleichzeitig wird die URNG, und mit der Gesamtorganisation auch die einzelnen KämpferInnen, auf eine guatemaltekische Linke treffen, in der sie sich neu verorten muß. Seit ihrer Gründung am 9. Februar 1982 ist die URNG, beziehungsweise in den vorangegangenen Jahren deren einzelne Teilorganisationen, die wichtigste oppositionelle Kraft. Die Guerilla war über lange Zeit in der Lage, auf militärischen und diplomatischen Wege politische Freiräume zu eröffnen sowie national und international als legitime Stimme der Unterdrückten aufzutreten. Innerhalb der erkämpften Spielräume konnten sich Volksorganisationen wie zum Beispiel die Gruppe für gegenseitige Hilfe (GAM), die Witwenbewegung CONAVIGUA oder die “Gemeinden der Bevölkerung im Widerstand” (CPR) bilden. In dieser sozialen Bewegung organisierten sich vor allem die Opfer der staatlichen Repression, aber auch Campesina/o-Gruppen und Gewerkschaften. Ziel war es, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, für die Demilitarisierung des Landes zu kämpfen und so Einfluß auf die nationale Politik zu gewinnen. Mit der Entschärfung der Kriegssituation konnte sich in den letzten Jahren allerdings ein weites oppositionelles Spektrum bilden, in dem linke AktivistInnen im Land u.a. die Politik der URNG hinterfragten. So wurden 1994 nach der Unterzeichnung des Teilabkommens zur Frage der Menschenrechte durch Guerilla und Regierung erstmals Stimmen laut, die sich von den schwachen Verhandlungsergebnissen enttäuscht zeigten und die URNG deswegen heftig kritisierten.
Eine wichtige Etappe im Prozeß der Differenzierung innerhalb der guatemaltekischen Opposition waren die Querelen um die Gründung des Frente Demócratico Nueva Guatemala (FDNG) im Sommer 1995. Im FDNG hatten sich RepräsentantInnen von Basisorganisationen zu einer Partei zusammengeschlossen und bei den Kongreßwahlen im letzten November auf Anhieb sechs Mandate errungen. Nach den Wahlen bezeichneten URNG-Kommandanten die FDNG immer wieder als ihre Schöpfung und kündigten an, sich nach Friedensschluß in die Partei zu integrieren. Die Distanzierungen seitens der FDNG-PolitikerInnen ließen nicht lange auf sich warten und lassen sich nicht allein mit der Angst erklären, in der guatemaltekischen Öffentlichkeit mit der URNG identifiziert zu werden und daher mit Repression rechnen zu müssen. Vielmehr entwickelt die Linke im Land gegenüber der URNG ein stärkeres Selbstbewußtsein und hinterfragt zunehmend den Avantgardeanspruch der URNG. Der FDNG ist nicht die einzige Organisation, in deren Verhältnis zur URNG Veränderungen sichtbar werden. Deutlich zu beobachten sind sie auch innerhalb des Spektrums der progressiven NGOs, unter Flüchtlingsorganisationen, Indígena- und Campesina/o-Gruppen.

Neuer Integrationskurs von Arzú

Mittlerweile hat die URNG bekanntgegeben, daß sie nach ihrer Eingliederung in das zivile Leben nicht in den FDNG eintreten, sondern eine eigene Partei gründen wird. Mit diesem Schritt kann die Hoffnung verbunden werden, daß die URNG den Übergang von einer politisch-militärischen Organisation, die in klandestinen Strukturen arbeitet, zu einer zivilen, linken Kraft vollzieht. Es steht aber zu befürchten, daß sich die guatemaltekische Linke weniger wegen inhaltlicher Differenzen, sondern eher wegen Streit um Organisationsfragen und wegen interner Machtkämpfe nach dem Friedensschluß aufsplittert, wie es schon in El Salvador und Nicaragua zu sehen war. Zeitgleich mit diesen Entwicklungen wird die Opposition durch die Politik des Präsidenten Arzú vor neue Herausforderungen gestellt.
Nach seinem Amtsantritt im Januar diesen Jahres machte Alvaro Arzú sofort deutlich, daß der schnelle Abschluß der Friedensverhandlungen eine Grundbedingung seiner Politik ist. Geschickt agiert er seitdem auf der politischen Bühne, im Machtgefüge zwischen Guerilla, Volksbewegung, Militär, Unternehmern und den internationalen Akteuren wie dem IWF (Internationaler Währungsfond) und den darin vertretenen Mächten. Dabei versucht er, die guatemaltekische Linke als Verbündete zu gewinnen. Der URNG kam er auf der diplomatischen Ebene weit entgegen. Noch nie zuvor hatte ein Präsident vor seinem Amtsantritt direkte Kontakte zur Guerilla aufgenommen oder gar einen URNG-Dissidenten zu seinem Verhandlungsführer ernannt. In Bereichen wie dem Kampf um die Einhaltung der Menschenrechte und die Entmilitarisierung des Landes zeigt er immer wieder guten Willen. Direkte, wenn auch gescheiterte Gespräche mit Abgeordneten des FDNG über die Einrichtung eines Indígenasekretariats, zeugen von Arzús Bereitschaft bei einzelnen Themen das Gespräch mit RepräsentantInnen der Volksbewegung zu suchen. Eröffnet dies einerseits neue Einflußmöglichkeiten, stellt es die Volksbewegung andererseits vor neue Schwierigkeiten: Protestierte sie bisher immer gegen die “Schweinereien”, die von den Mächtigen begangen worden sind, wird sie jetzt – wenn auch an der Ernsthaftigkeit gezweifelt werden muß – von Regierungsseite in Entscheidungsprozesse miteinbezogen. Die Opposition steht vor dem Problem, eigenständige Vorschläge in die Politik einbringen zu müssen. Zur Durchsetzung ihrer Forderungen nach kultureller Anerkennung und deren praktischen Umsetzung sind Indígena-Organisationen hierzu auch in der Lage. In der praktischen Umsetzung der entsprechenden Vereinbarungen des Friedensabkommens werden sie besonders auf dem Land eine wichtige Rolle spielen. Schwieriger wird es bei der Entwicklung von Vorschlägen zur Wirtschaftspolitik, repräsentiert die Volksbewegung doch gerade die Bevölkerungsgruppen, die unter den ökonomischen und politischen Verhältnissen im Land besonders gelitten haben. Daher fehlt es ihnen oft an entsprechenden Kapazitäten. Am ehesten verfügen noch progressive NGOs, die im Entwicklungsbereich tätig sind, über solche Ressourcen. Das Verhältnis zwischen Volksorganisationen, die politischen Druck aufbauen können, und NGOs ist aber häufig gespannt. Das gegenseitige Mißtrauen vor Manipulation und Ausnutzung ist groß.
Innerhalb der guatemaltekischen Opposition wird die URNG – trotz der geschilderten Auseinandersetzungen – weiterhin eine zentrale Rolle spielen: aufgrund der Vergangenheit, in der sie immer wieder richtungsweisend für politische und soziale Kämpfe im Land war; aufgrund dessen, daß sie als Verhandlungspartei ein Gegengewicht zur Regierung bilden kann; aufgrund ihrer langen politischen, militärischen und diplomatischen Erfahrung. Neben den schon länger kämpfenden Volksorganisationen drängen neue Akteure auf die politische Bühne, erstarkende Campesino-Organisationen und zahllose lokale Initiativen, die für die direkte Verbesserung ihrer Lebensbedingungen kämpfen, eine Schule, einen Gesundheitsposten oder Trinkwasserversorgung. Es ist zu hoffen, daß die verschiedenen Gruppen die politische Polarisierung, die Guatemala prägt und ein schwieriges Klima für Einigungsprozesse hat entstehen lassen, zusammenfinden können. Denn eine starke linke Opposition nach dem Friedensschluß tut not. So ergeben sich aus dem Friedensprozeß zwar politische Spielräume, an der ökonomischen, patriarchalen und rassistischen Unterdrückung für einen Großteil der GuatemaltekInnen hat sich kaum etwas verändert.

Strukturanpassung in Guatemala

Vor noch gar nicht allzu langer Zeit wäre ein Präsident undenkbar gewesen, der die Volksbewegung nicht mehr nur mit Repression kleinhält und sich mit der Guerilla trifft. Er hätte es, zumindest politisch, nicht überlebt. Der Grund für die Aufgeschlossenheit Arzús ist sicherlich nicht, daß der schwerreiche Zuckerhändler ein herausragender Philantrop ist. Eher entspricht seine politische Haltung dem ökonomischen Projekt der neoliberalen Strukturanpassung. Das erklärte Ziel von Arzú – der die Interessen eines kleinen Kreises von finanzkräftigen, modernen UnternehmerInnen vertritt – ist es, Guatemala auf den Weltmarkt auszurichten, also über freie Marktmechanismen größere Standortattraktivität und Investitionssicherheit für internationales Kapital zu schaffen. Um dies durchzusetzen, wird die Regierung Arzú wohl drei Handlungslinien verfolgen: erstens die Beendigung des internen, bewaffneten Konfliktes, zweitens die Zurückdrängung von reaktionären Machtgruppen im Land, die durch eine Weltmarktintegration um ihre “traditionellen” Privilegien fürchten, und drittens die Verschlankung des aufgeblähten, unfähigen Staatsapparates sowie die Deregulierung der nationalen Wirtschaft.

Geld von außen

Dem ersten Ziel scheint die Regierung nahe zu sein, ist doch in absehbarer Zukunft mit dem Abschluß der Friedensverhandlungen zu rechnen (s. Kasten). Mit der “Befriedung des Landes” öffnen sich immense Finanzquellen. Bereits im letzten Jahr wurde über die “Entwicklungshilfegelder” verhandelt, die nach Friedensschluß von internationalen GeberInnen zur Umsetzung der ausgehandelten Abkommen ausgeschüttet werden. IWF, Weltbank und die Europäische Union haben angekündigt, Fonds in Höhe von insgesamt über einer Millarde US-Dollar ins Land fließen zu lassen, zu 90 Prozent in Form von Krediten. Mit diesen internationalen Institutionen verbindet die Regierung Arzú das gemeinsame Interesse an neoliberalen Wirtschaftsstrukturen in Guatemala. Hierfür benötigt die Regierung Geld von außen, da über die Steuern nicht genug in die Staatskasse fließt.
Die zweite Linie stellt ein deutlich schwierigeres und längerfristiges Problem dar: alteingesessene Machtcliquen in ihrem Einfluß einzudämmen. Zum einen ist da das omnipräsente Militär, das sich hemmungslos an allem bereichert, was ihm über den Weg läuft und für zahllose Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist. Dieser Apparat entwickelte im Laufe der Jahre eine Art Eigenleben. Jeglicher Kontrolle entzogen, baute das Militär einen “parallelen Staat” auf. Es besetzte Schlüsselpositionen in Bereichen wie der Telekommunikation, in der Errichtung und dem Unterhalt von Infrastruktur sowie in staatlichen Institutionen. Erste Erfolge im Rückbau dieses eigenen Staates kann Arzú bereits vorweisen: Nach mehreren Säuberungswellen im Staatsapparat erschütterte in den letzten Wochen die Zerschlagung eines großangelegten Schmuggler- und Korruptionsnetzes die guatemaltekische Öffentlichkeit. Auch wenn dieser Schlag gegen die organisierte Kriminalität nur die Spitze des Eisberges enthüllte, wird der Stellenwert dieser Aktion an zwei Dingen deutlich: Es wurden Machenschaften von hohen Persönlichkeiten des militärischen Geheimdienstes, die bisher als Unberührbare galten, ans Licht der Öffentlichkeit gezogen. Die Einflußmöglichkeiten dieser mafiösen Organisation waren in Guatemala ein offenes Geheimnis. Sie hatte eine Machtfülle erreicht, daß sich kein Unternehmen ihren Regeln entziehen konnte – keine guten Voraussetzungen für freies Unternehmertum.
Die andere Machtgruppe bilden die reaktionären GroßgrundbesitzerInnen, die ihre Vorgehensweise in der Vergangenheit mit den Militärs abstimmten. Es widerspricht ihren wirtschaftlichen Interessen, Guatemalas Märkte noch weiter als bisher für internationales Kapital zu öffnen. Es würde eine bedrohliche Konkurrenz für sie entstehen. Arzú ist allerdings klug genug, sich nicht auch noch mit ihnen anzulegen. Zwar möchte er deren Machtdünkel bekämpfen, gleichzeitig gibt es aber auch gemeinsame wirtschaftliche Interessen, deren Opfer – wiedereinmal – Campesina/os sind. So gab es dieses Jahr schon mehrere Tote zu beklagen, nachdem Polizeieinheiten gegen Campesina/o-Gruppen vorgingen, die zur Durchsetzung ihrer Landrechte Fincas von GroßgrundbesitzerInnen besetzt hatten. Durch die äußerste Härte, mit der die Sicherheitskräfte bei diesen Räumungen vorgingen, zeigt die Regierung, daß ihre Liberalität durchaus ihre Grenzen hat, nämlich dort, wo die ökonomischen Privilegien der Reichen in Gefahr geraten. Dies stellte sie auch im Mai unter Beweis, als die Regierungsdelegation bei den Friedensverhandlungen mit der URNG beim Thema Wirtschaft durchsetzte, daß keinerlei Beschränkungen oder gar eine soziale Verantwortung für Privateigentum gelten sollen.

Neoliberale Strukturanpassung

Auch bei der Durchsetzung der dritten Leitlinie zeigt die Regierung Entschlossenheit. Parallel zum Vorantreiben der Friedensverhandlungen und dem Machtkampf mit dem Staat im Staate begann die Regierung in den letzten Monaten mit der Strukturanpassung: Antistreikgesetze für den öffentlichen Dienst, die Entlassung tausender Beschäftigter staatlicher Institutionen, die Erhöhung der Strompreise mit anschließender Privatisierung des Elektrizitätssystems. Die Maßnahmen lesen sich wie aus einem Leitfaden liberaler Regierungspolitik.
Guatemala befindet sich mitten in einem Transformationsprozeß am Schnittpunkt verschiedener sich kreuzender Entwicklungen, die immer wieder für Verwirrung und Erstaunen sorgen. Da ist zum einen der Übergang von der Zeit des bewaffneten, internen Konflikts zu der nach dem Friedensschluß. Dieser Prozeß ist eingebettet in die Zurichtung der bisher von einer nationalen, willkürlich agierenden Führungsclique dominierten Wirtschaft und Politik auf die Bedingungen des liberalen Weltmarktes. Irritierenderweise geht die ökonomische Liberalisierung mit einer politischen einher, ja sie unterstützt sie sogar. Diejenigen Kreise, die massive Menschenrechtsverletzungen als Instrument zur Durchsetzung ihrer Interessen benutzen, werden in ihrer Macht beschnitten. In einem Land, das unzählige Tote durch die Folgen staatlicher Repression zu beklagen hat und in dem Oppositionelle kaum Möglichkeiten hatten, ihren Widerstand auch nur verbal zu artikulieren, bedeutet dies einen nicht zu bestreitenden Fortschritt. Das politische Leben wird in Guatemala sicherer werden. Für die mehr als dreiviertel der insgesamt ca. 10 Millionen GuatemaltekInnen, die in Armut leben – mehr als die Hälfte von diesen wiederum in extremer Armut -, muß aber befürchtet werden, daß das Überleben unter der Strukturanpassung noch schwieriger wird.

Der Friedensprozeß – eine schwierige Geburt

Die Friedensverhandlungen in Guatemala – sie schienen nicht zum Abschluß kommen zu wollen. Jetzt aber sind die wesentlichen Teilabkommen unterschrieben, die nach der Unterzeichnung des endgültigen Friedensvertrages in Kraft treten sollen: das Abkommen zu den Menschenrechten vom März 1994 und das Abkommen zu Identität und Rechten der indigenen Völker vom März 1995. Nach über einem Jahr Verhandlungen und dem Präsidentenwechsel vom anfänglichen Hoffnungsträger de León Carpio auf den geschickt taktierenden Unternehmer Alvaro Arzú, wurde im Mai 1996 das Teilabkommen zur “Sozioökonomischen Aspekten und Agrarsituation” besiegelt. Nur vier Monate später folgte das nächste Dokument zur Rolle des Militärs in einer zukünftigen Gesellschaft und zur Stärkung der Zivilgesellschaft.
Zwar steht die Klärung einzelner Fragen noch aus, zum Beispiel die nach den Modalitäten für die Reintegration der URNG-KämpferInnen in die Gesellschaft und die Frage nach Amnestieregelungen. Die Frage des Ortes für die Unterzeichnung des abschließenden Abkommens wird aber bereits diskutiert. Bis Silvester diesen Jahres soll es soweit sein, nachdem die noch ausstehenden Teilabkommen im Rahmen einer Europatournee der Verhandlungsparteien in Oslo, Stockholm und Madrid unterschrieben werden sollen. Mit dem Akt in Madrid kehren die Parteien in die Stadt zurück, in der das erste Treffen zwischen VertreterInnen der URNG und der guatemaltekischen Regierung stattgefunden hatte. Im Mai 1986, also vor über 10 Jahren, legte die URNG erstmals einen Vorschlag zu direkten Verhandlungen mit der Regierung vor. Die Situation war günstig: Aus einer großen Offensive der Armee gegen die Guerilla war diese eher gestärkt denn geschwächt hervorgegangen, das Militärregime sollte die politische Macht an einen “bewachten” Parlamentarismus übergeben, die mittelamerikanische Friedensinitiative war auf ihrem Höhepunkt angelangt. Aber erst nach Abschluß des Friedensvertrages Esquipulas II durch die mittelamerikanischen Präsidenten konnte die guatemaltekische Regierung nicht mehr anders, war man doch übereingekommen, schnellstmöglich die internen, bewaffneten Konflikte auf dem Verhandlungsweg zu beenden: Also fuhr eine Regierungsdelegation zu ersten Gesprächen mit der Guerilla nach Madrid. Das war im Oktober 1987.
Je nach politischen Interessen der Verhandlungsparteien, immer abhängig von der internationalen Konjunktur, mal mißtrauisch beäugt, meist aber unterstützt von der guatemaltekischen Opposition, torpediert von den Reaktionären im Land, ging es am Verhandlungstisch auf und ab. Daß gerade die reaktionären Kräfte immer noch versuchen, den Friedenschluß zu behindern, wurde und wird immer wieder deutlich. Nach einem Versuch im Sommer 1994, mit einer Steuerreform die Unternehmer stärker zur Kasse zu bitten, wurden schnell Putschgerüchte laut, die nach Rücknahme der Maßnahmen wieder verstummten. Im Oktober vergangenen Jahres ermordeten Soldaten in Xamán elf aus Mexiko zurückgekehrte Flüchtlinge; ein Massaker, das unter anderem darauf abzielte, die Friedensverhandlungen massiv zu stören.
Daß die Reaktionäre immer noch große Erfolge verbuchen können, zeigte die jüngste Aussetzung der Friedensverhandlungen. Der Auslöser: Ohne Kenntnis der Führung hatte ein ehemaliges Kommando der ORPA, einer der vier URNG-Teilorganisationen, vor einigen Wochen die einfluß- und schwerreiche Unternehmerin Olga de Novella entführt. Nachdem die Entführung selbst bereinigt worden war, nutzten die Hardliner in Militär und Unternehmerkreisen diesen Anlaß zu einer Kampagne gegen den Verhandlungsfortgang im allgemeinen und die URNG im speziellen. Aufgrund des sich entwickelnden Druckes wurden die Verhandlungen am 28. Oktober ausgesetzt, woraufhin heftige Aktivitäten einsetzten: Weite Kreise der Bevölkerung, die Regierungen der “Gruppe der mit Guatemala befreundeten Länder” sowie UN-Institutionen drängten die Verhandlungsparteien, die Gespräche möglichst schnell wiederaufzunehmen. Nach einigen Tagen des Schweigens veröffentlichte die URNG-Führung schließlich ein Kommunique, in der sie verlautbarte, die Entführung sei zwar ohne ihr Mitwissen geschehen, sie übernehme aber trotzdem die politische Verantwortung. Einige Tage später erklärte Gaspar Ilom, Mitglied der Generalkommandantur für die ORPA, seinen Rückzug von der Verhandlungsdelegation der URNG. Zugleich kündigte er an, daß die ORPA in Kürze einen neuen Verhandlungsführer benennen werde. Gaspar Ilom, der mit bürgerlichem Namen Rodrigo Asturias heißt und der Sohn des guatemaltekischen Literaturnobelpreisträger Miguel Angel Asturias ist, galt bis zu diesem Zeitpunkt als derjenige URNG-Kommandant mit dem höchsten internationalem Ansehen und der größten Reputation im Land und wurde als durchaus aussichtsreicher Kandidat für die Präsidentschaft im Jahr 2000 gehandelt.
Es scheint, daß der Rücktritt von Ilom den Weg zur Wiederaufnahme der Verhandlungen freigemacht hat, denn am 9. November trafen die Delegationen wieder zusammen. Vereinbart wurde, daß die Gespräche mit einer veränderten Tagesordnung weitergeführt werden. Vor der Unterbrechung hatten sich die Verhandlungen an der Frage der Amnestieregelungen festgefahren, die in der guatemaltekischen Öffentlichkeit heiß diskutiert werden. Dieses Thema wurde nun auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Statt dessen werden jetzt die Bedingungen für einen endgültigen Waffenstillstand und die anschließende Waffenabgabe durch die Guerilla besprochen. Die Konsequenzen für die Machtbalance am Verhandlungstisch sind erkennbar. Die URNG wird gezwungen sein, eines ihrer Druckmittel, eben ihre militärische Stärke, preis- und aufzugeben, noch bevor wichtige Teilaspekte des endgültigen Friedensabkommens behandelt worden sind.

Auf dem Weg in die Zivilgesellschaft

Anders als seine Nachbarn Guatemala, El Salvador und Nicaragua hat Honduras in den achtziger Jahren keinen Bürgerkrieg durchlitten. Nach Zehn- oder Hunderttausenden zählende Ermordete, Verschwundene oder Flüchtlinge blieben diesem Land damit erspart. Dennoch konnte von funktionierender Demokratie keine Rede sein, und mit der Einhaltung der Menschenrechte nahmen es Militär und Polizei nicht ernster als anderswo.
Honduras lag aus Sicht der USA strategisch ideal, um von dort in die Konflikte in Nicaragua und El Salvador einzugreifen. Das Land nahm im Konzept der Nationalen Sicherheit, das die Reagan-Administration in Zentralamerika durchzuführen versuchte, einen wichtigen Platz ein. Die honduranischen “Sicherheitskräfte” standen dabei in direktem Auftrag der nordamerikanischen Kollegen und setzten deren Vorgaben um. Damit war klar: Jede Opposition, die die Legitimität des Militärs in Frage stellte und es einer zivilen Macht untergeordnet sehen wollte, wurde rücksichtslos bekämpft. Politische Gegner, vor allem aus der Linken, verschwinden zu lassen, zu foltern und/oder zu ermorden, gehörte daher auch in Honduras zur Tagesordnung.
Die Aufarbeitung konkreter Fälle von Menschenrechtsverletzungen durch Militärs ist dem Engagement einzelner Gruppen und Personen zu verdanken und hat juristisch und, was für die honduranische Gesellschaft insgesamt vielleicht noch wichtiger ist, moralisch einige bemerkenswerte Konsequenzen nach sich gezogen. Aufsehenerregend war, daß das unabhängige honduranische Menschenrechtskomitee Codeh unter seinem Leiter Ramón Custodio 1988 beim Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof einen Prozeß gegen das Land Honduras wegen Entführung und Ermordung zweier Personen in Gang brachte – und Honduras tatsächlich verurteilt wurde. Es war das erste Mal, daß vor diesm Gericht ein Land wegen Menschenrechtsverletzungen der Armee für schuldig befunden wurde. Das Urteil, in dem Honduras zur Bestrafung der Täter und zur finanziellen Entschädigung der Opfer verpflichtet wurde, blieb zwar in der Praxis weitgehend wirkungslos. Auf die Verfolgung der Täter wurde stillschweigend verzichtet, und die festgesetzte Entschädigungssumme brauchte nach einer Geldentwertung nur teilweise gezahlt zu werden. Insofern ist zu Euphorie kein Anlaß. Aber dieses Urteil war erst der Anfang.
Leo Valladares und sein Büro hatten ganze Arbeit geleistet. Der 1992 ins Amt berufene Menschenrechtsbeauftragte der honduranischen Regierung legte im Dezember 1993 einen tausendseitigen Bericht vor, in dem belegt wurde, daß zwischen 1979 und 1989 184 Menschen “verschwanden”. Der Impuls, der von diesem Bericht ausging, war enorm. Daß er nicht von oppositioneller Seite kam, sondern vom Beauftragten der Regierung selbst, erhöhte die Chance, mit dem Bericht Druck auf die Justiz und das Militär ausüben zu können. Und er war und ist Grundlage für die tatsächliche strafrechtliche Verfolgung der Täter.

Tausend Seiten Aufklärung

Der Codeh, das unabhängige Menschenrechtsbüro unter Ramón Custodio, hat den Bericht von Valladares als einen Anfang anerkannt – und dokumentiert seinerseits 140 Fälle von “Verschwundenen”, die auf das Konto des inzwischen aufgelösten Sonderbataillons 3-16 der Armee gehen. Die Verbrechen, wegen derer Honduras 1988 angeklagt wurde, sind zwei dieser 140 gewesen.
Ohne daß von Regierungsseite Bereitschaft signalisiert worden wäre, irgendwelche Untersuchungen und Verfahren gegen Militärs zuzulassen, wäre der Aufklärungsprozeß insgesamt allerdings kaum denkbar und noch viel weniger politisch machbar gewesen. Insofern war es ein Glücksfall, daß Carlos Roberto Reina Anfang 1994 sein Amt antrat. Reina war vorher am Internationalen Gerichtshof in Den Haag tätig und hatte für seine Präsidentschaft eine “moralische Revolution” versprochen. Er brachte jene notwendige Bereitschaft mit und hat sich in den bereits angestoßenen Reformprozeß eingeklinkt, in dem die Macht des Militärs begrenzt und wenigstens eine gewisse Rechtsstaatlichkeit auf den Weg gebracht werden sollte.

Militärs vor dem Zivilgericht

Wichtiger Meilenstein in diesem Prozeß war noch vor Reinas Amtszeit der Parlamentsbeschluß vom 29. Juni 1993, der eigentlich nichts weiter tat, als geltendes Recht zu bestätigen – Recht jedoch, das bis dahin stets mißachtet worden war. Es ging um die Amnestierbarkeit von Menschenrechtsverbrechen, die die Militärs begangen hatten. Und damit um genau den Knackpunkt, an dem schon mehrere Versuche der strafrechtlichen Aufarbeitung solcher Verbrechen in anderen lateinamerikanischen Ländern gescheitert sind. Kern des Parlamentsbeschlusses ist, daß bereits ausgesprochene Amnestien für Armeeangehörige keine Gültigkeit haben, wenn es sich bei den Verbrechen um “gewöhnliche”, also zivilrechtliche handelt. Aus dem zivilrechtlichen Rahmen fallen nur politische Delikte, die auf Beseitigung oder Gefährdung der Staatsmacht abzielen. Bei den Menschenrechtsverletzungen war das jedoch nie das Ziel der Täter. Damit ist der Weg frei für die Diskussion um den Charakter einzelner Straftaten und – bei deren Anerkennung als “gewöhnliches” Delikt – ihre Aufarbeitung vor einem zivilen Gericht.
Einige dieser Prozesse sind in den letzten Jahren tatsächlich in Gang gekommen. Begonnen hatte es mit zwei Prozessen schon im Sommer 1993: In einem wurde ein ranghöherer Militär vor Gericht gebracht, der die Verantwortung für ein Massaker trug, im anderen ein Urteil gegen einen Oberst und einen Hauptmann wegen Vergewaltigung eines Mädchens gefällt.
Im Juli 1995 wurde dann das bislang spektakulärste Verfahren gegen 10 Offiziere des erwähnten Batailons 3-16 eröffnet, die in die Entführung und Folterung von sechs HonduranerInnen im Jahre 1982 verwickelt sind. Die Militärspitze ließ zwar nach Prozeßbeginn als Drohgebärde Panzer durch die Hauptstadt Tegucigalpa rollen, streute Putschgerüchte und nahm ihre damals noch in Dienst befindlichen “Kameraden” in Schutz. Dennoch scheint sie letzten Endes den juristischen Prozeß im besonderen und die Demokratisierung im allgemeinen hinzunehmen. Zumindest hat sie sich trotz aller Hindernisse, die sie der Verbrechensaufklärung in den Weg legt, im Prinzip zur verfassungsmäßigen Ordnung bekannt.
In der Aktualität findet ein Tauziehen zwischen den verschiedenen politischen Kräften statt.
Dadurch wird einerseits ein Fortschreiten der Aufklärung immer wieder gebremst. Beispiel dafür sind die Morde an führenden Militärs, die über Einzelheiten von konkreten Fällen Bescheid wissen; man nennt sie auch “menschliche Akten”. Mit ihnen gehen wichtige Zeugenaussagen verloren, so daß die Vermutung naheliegt, daß die Morde von denjenigen Militärs in Auftrag gegeben werden, die sich gefährdet sehen. Für diese Annahme spricht vor allem auch, daß die Morde in zwei Wellen stattfanden: die erste im Oktober 1995, als die Haftbefehle im erwähnten Prozeß gegen die zehn Offiziere erlassen wurden, die zweite im Juni und Juli 1996, gleichfalls im Kontext von Haftbefehlen aus einem 96er Prozeß.
Die Aufklärung dieser Morde geht schleppend voran. Der Codeh wirft Präsident Reina vor, sich nicht ernsthaft um die Aufklärung zu bemühen und generell zu lasch gegen jüngst begangene Menschenrechtsverletzungen vorzugehen.
Auch an anderer Stelle kam die Aufarbeitung kürzlich ins Stocken. Menschenrechtsombudsmann Leo Valladares hatte versucht, Licht in den Hintergrund der Verbrechen von Anfang der achtziger Jahre zu bringen. Damals waren neben US-amerikanischen Militärs auch dreizehn argentinische Spezialisten für Aufstandsbekämpfung in Honduras tätig gewesen. Die argentinische Regierung hat Mitte Oktober abgelehnt, Informationen über die Verwicklung ihrer Landsleute an Honduras weiterzugeben.
Trotz all dieser Erschwernisse gibt es jedoch zahlreiche positive Tendenzen. So haben Dokumente, die Valladares vom US State Departement erhalten hat, einige Erkenntnisse gebracht. Ihnen zufolge könnten mehr als die bisher bekannten 184 Fälle von “Verschwundenen” dokumentarisch nachweisbar sein.
Weiterhin haben seit 1995 Exhumierungen von außergerichtlich Ermordeten in Honduras stattgefunden. Diese zogen nicht nur erste juristische Konsequenzen nach sich, sondern riefen auch in der Bevölkerung Entsetzen hervor.
Honduras ist demzufolge längst in Bewegung geraten. Das Geflecht von Spannungen und Interessen, das sich dabei herausgebildet hat, ist zwar nicht leicht durchschaubar, und Prognosen sind nur schwer zu treffen: Offen ist, was passieren würde, wenn Präsident Reina bei einem Machtwechsel von einem weniger reformwilligen Politker abgelöst werden sollte. Offen ist auch, ob sich die Armeeführung tatsächlich auf Dauer die Beschneidung ihrer Macht gefallen läßt, die Reina zur Zeit mit aller Konsequenz betreibt. Mit Sicherheit lässt sich aber feststellen, daß Honduras mit seinen Menschenrechtsgruppen über einen Motor verfügt, der wichtige, fundamentale Arbeit geleistet hat und von dem noch viel zu erhoffen ist.

KASTEN:
Zum Thema Straflosigkeit

Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen, auch impunity oder impunidad, bedeutet etwa, daß die russischen Bombenangriffe auf die Zivilbevölkerung in Tschetschenien keine strafrechtlichen Folgen für die Täter haben. Weder für den Oberkommandierenden der russischen Streitkräfte, Boris Jelzin, noch für die – häufig nur Befehlen gehorchenden – Täter. Oder, daß der Oberbefehlshaber und politische Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, trotz eines internationalen Haftbefehls bis heute noch nicht vor dem Haager Jugoslawien-Gerichtshof steht. Impunidad bedeutet auch, daß staatlich gedeckte, initiierte oder geförderte Menschenrechtsverletzungen oder Menschlichkeitsverbrechen ungesühnt bleiben. Straflosigkeit hat schließlich auch eine rein persönliche Seite: Ehemalige Opfer treffen auf ehemalige Täter in Zeiten demokratischer Normalität, sei es auf der Straße oder anderswo; sie fühlen sich ohnmächtig und wütend.
Die Gründe der impunidad sind vielfältig und komplex. Menschenrechtsverbrechen werden regelmäßig nicht verfolgt, weil es am Verfolgungswillen und -interesse der darin verwikkelten Staatsführung fehlt. In vielen lateinamerikanischen Ländern behindern die staatlichen Sicherheitskräfte etwa massiv zivile Ermittlungen, indem sie Zeuginnen einschüchtern, Beweismittel vernichten etc., oder sie erschweren die Ermittlungen schon dadurch, daß sie die Taten anonym begehen (Benutzung von Fahrzeugen ohne Kennzeichen, Tragen von Zivilkleidung). Über diese faktischen Ursachen der Nichtverfolgung hinaus gibt es jedoch auch normative Ursachen. Entweder werden umfassende Generalamnestien oder amnestieähnliche Regelungen erlassen (so in Peru, Chile und Argentinien) oder die extensive Zuweisung von Verfahren wegen Menschenrechtsverletzungen – so es denn überhaupt zu Verfahren kommt – an die Militärgerichtsbarkeit erweist sich als zentraler Faktor der Straflosigkeit. Einzelne strafrechtliche Regelungen, etwa die Anerkennung des Handelns auf Befehl als Strafausschlußgrund, runden das Bild ab.
Die beschriebenen nationalen Straflosigkeitsmechanismen stehen freilich in krassem Gegensatz zum geltenden Völkerstrafrecht. Zwar existieren noch keine völkervertraglichen Bestrafungspflichten, doch folgt aus einer Analyse des Völkergewohnheitsrechts und der allgemeinen Rechtsgrundsätze, daß bestimmte schwere Menschenrechtsverletzungen, insbesondere Folter, extralegale Hinrichtungen und das sogenannte Verschwindenlassen von Personen, Verfolgungs- und Bestrafungspflichten unterliegen. Für diese Auffassung lassen sich nicht nur eine beträchtliche Zahl völkerrechtlicher Quellen anführen (vor allem Beschlüsse von UN-Organisationen und Staatenvertretern) sondern auch eine umfassende völkerstrafrechtliche Spruchpraxis. Sie reicht vom Nürnberger Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher bis zum jüngsten Beschluß des Haager Jugoslawien-Gerichtshofs im Fall Tadic.
Demzufolge sind Amnestien oder amnestieähnliche Regelungen zwar nicht unter allen Umständen ausgeschlossen – Art.6 Abs.5 des zweiten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen erlaubt sie etwa nach Beendigung der Feindseligkeiten zum Zwecke der nationalen Versöhnung. Doch unterliegen sie relativ klaren völkerrechtlichen Schranken. So kann eine umfassende Amnestie von schweren Menschenrechtsverletzungen (Verletzungen des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit), die zudem die eigenen Sicherheitskräfte begünstigt, nur als völkerrechtswidrig bezeichnet werden. Ebenso gebietet das geltende Völkerstrafrecht eine Reform der Militärgerichtsbarkeit. Nur noch ausschließlich militärische Dienstvergehen dürfen danach in die Zuständigkeit der Militärgerichtsbarkeit fallen, während allgemeine Straftaten, zu denen Menschenrechtsverletzungen zählen, vor die zivilen Strafgerichte gehören.
Das Völkerstrafrecht allein wird Menschenrechtsverletzungen sicherlich niemals verhindern können. Es enthält jedoch schon heute Regeln, die die Verantwortlichen als internationale Verbrecher stigmatisieren und ächten können. Diese zum großen Teil noch ungeschriebenen Regeln müssen zusammengeführt und in einem für alle Rechtsordnungen tragbaren Regelwerk kodifiziert werden. Mit der Verabschiedung eines Entwurfs für einen Internationalen Strafgerichtshof im Jahre 1994 und eines internationalen Strafgesetzbuchs im Jahre 1996 durch die ILC sowie entsprechende Alternativ-Entwürfe wurde entsprechende Vorarbeit geleistet. Es geht nun darum, sie zu verbessern.

Kai Ambos

Von Kai Ambos ist erschienen: Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen. Zur impunidad in südamerikanischen Ländern aus völkerstrafrechtlicher Sicht. edition iuscrim, Freiburg i.Br., 1996, ISBN 3-86113-987-7.

Friede, Freude, Strukturanpassung

Am Anfang stand der Friedensprozeß von Esquipulas in den 80er Jahren. Dort wurden die Grundlagen gelegt für den Integrationsprozeß in Mittelamerika, der, so die Hoffnung der Beteiligten, den kleinen mittelamerikanischen Ländern ein Stückchen vom Wohlstandskuchen verschaffen sollte. Dann kamen die WirtschaftsberaterInnen aus dem In- und Ausland: Zuerst müssen die mittelamerikanischen Volkswirtschaften ihre traditionelle landwirtschaftliche Exportproduktion steigern, so ihre Ratschläge. Danach soll mit den erwirtschafteten Devisenerlösen die Exportdiversifizierung und die Modernisierung der Agrarproduktion vorangetrieben werden. Landreformen sowie die Befriedigung sozialer Bedürnisse werden ebenfalls anvisiert. Dennoch wird allein der Rückgang der Exporterlöse seit Anfang der siebziger Jahre als Erklärung für den Ausbruch der bewaffneten Konflikte in den siebziger und achtziger Jahren angesehen – die ungleichen Bodenbesitzverhältnisse bleiben außen vor.
Entsprechend dieser Strategie wurden die Strukturanpassungsprogramme in Zentralamerika konzipiert und umgesetzt. Die Erfahrungen unterscheiden sich kaum von denen anderer Länder Lateinamerikas. Das Besondere in Mittelamerika liegt vielleicht darin, daß die neoliberalen Reformen parallel zu den Friedensprozessen stattfinden. In allen Ländern, in denen es bewaffnete Konflikte gab, wurden erfolgreiche Friedensverhandlungen durchgeführt: In Nicaragua, El Salvador und zum Teil auch in Guatemala konnten sich die Regierungen und die bewaffnete Opposition über die Modalitäten für die Beilegung der Konflikte einigen. Die Friedensabkommen sind nichts anderes als die gegenseitige Verpflichtung, die bestehenden Gegensätze allein auf der politischen Ebene zu lösen.
Die neoliberalen Reformen werden aufgrund der politischen Instabilität von sozialen Ausgleichsmaßnahmen begleitet. So wurden in sämtlichen Ländern Zentralmerikas mit Hilfe internationaler Geldgeber die sogenannten Fondos de Inversion Social errichtet, Sonderfonds, die die sozialen Auswirkungen der Strukturanpassung abfedern sollten. Da solche Instrumente nur für einen begrenzten Zeitraum und nur für die schwächsten sozialen Gruppen gedacht sind, ist es für die Regierungen außerdem notwendig, den Ausgleich mit den anderen Interessensgruppen der Gesellschaft zu suchen. In Guatemala und El Salvador wurde mit dem Foro de Concertación Social und der Asamblea de la Sociedad Civil Dialogforen geschaffen. Beteiligt sind daran drei Gruppen: Regierung, Unternehmen und Gewerkschaften beziehungsweise Bauernorganisationen. In Honduras und Costa Rica gewannen die politischen Parteien die letzten Wahlen, die die Strukturanpassungsmaßnahmen kritisierten. Allerdings haben sie kaum Spielraum ihre programmatischen Alternativen umzusetzen. Die neoliberale Variante in Nicaragua erhält mit dem Wahlerfolg der Liberalen Allianz unter Arnoldo Alemán die politische Legitimation, makroökonomische und politische Reformen zugunsten der mächtigen Wirschaftselite durchzuführen.

Traditionelle Abhängigkeiten

Die Volkswirtschaften der fünf zentralamerikanischen Länder (Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras und Nicaragua) sind von vier traditonellen Exportprodukten abhängig: Bananen, Kaffee, Baumwolle und Zucker. Der Anteil dieser Produkte an den Gesamtexporten liegt weiterhin durchschnittlich bei über fünfzig Prozent. Und dies, obwohl seit Anfang der achtziger Jahre starke Anstrengungen unternommen wurden, die Exportpalette um sogenannte nicht-traditionelle Güter (zum Beispiel Krabben, Schnittblumen, Kardamom) anzureichern.
Die Investitionen sowohl des öffentlichen als auch des privaten Sektors sind im Zeitraum 1978-1995 mit Ausnahme Costa Ricas zurückgegangen. Der Rückgang der öffentlichen Investitionen läßt sich unschwer als Folge der Sparmaßnahmen im Rahmen der Strukturanpassungsprogramme ausmachen. Demgegenüber kann der Rückgang der Privatinvestionen trotz verbesserter Investitionsförderung nur durch das fehlende Vertrauen des Privatkapitals in die politische Stabilität der Region begründet werden. Für das Auslandskapital hatten die mittelamerikanischen Länder schon in der Vergangenheit eine im lateinamerikanischen Kontext vergleichsweise liberale Investitionspolitik. Dabei bestand zwischen den Ländern im Grunde schon immer ein Konkurrenzverhältnis um die Gunst der Auslandsinvestitionen. So sind heute noch nationale Unterschiede bei der Behandlung des Auslandskapitals festzustellen: Guatemala ist beispielsweise das einzige Land, das eine gleiche Behandlung für inländisches und ausländisches Kapital gesetzlich verankert hat. In El Salvador und Honduras sind Auslandsinvestitionen bei Kleinunternehmen verboten. Costa Rica, El Salvador und Honduras fördern die Auslandsinvestitionen, indem sie sie durch ihre Wechselkurspolitik begünstigen. Gleichzeitig wird in El Salvador und Honduras aber die einheimische Kleinindustrie geschützt. Aufgrund der schärfer werdenden Standortkonkurrenz ist für die nahe Zukunft bei allen Ländern mit einer weiteren Liberalisierung der Investitionspolitik zu rechnen. Damit werden die einheimischen KleinproduzentInnen verstärkt der übermächtigen ausländischen Konkurrenz ausgesetzt.

Instabilität durch Liberalisierung

Mit dem Abbau von Zöllen und anderen Schutzinstrumenten sind die Volkswirtschaften Mittelamerikas anfälliger gegenüber der Weltmarktkonkurrenz geworden. Für kleinere Volkswirtschaften wie die mittelamerikanischen, spielt der Schutzzoll auf ausländische Importe eine wichtige Rolle für die einheimische Industrie, denn die einheimische Produktion könnte sonst nicht mit den Preisen der Importgüter konkurrieren. Die Öffnung Zentralamerikas gegenüber dem Weltmarkt findet in einer Zeit statt, in der auf internationaler Ebene zahlreiche Gewichtsverschiebungen und Schwankungen zu verzeichnen sind. Das Wirtschaftswachstum in den Industrieländern verläuft ungleichmäßig. Trotz dem erfolgreichen Abschluß der Uruguay-Runde des GATT (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen) vor zwei Jahren, ist bei vielen Produkten aus der Region ein verstärkter Protektionismus seitens der Industrieländer zu konstatieren. Zudem sind die Preise für die vier traditionellen Exportgüter weiterhin instabil. Die Tendenzen zur Bildung regionaler Wirtschaftsblöcke gehen oft mit handelsumlenkenden statt mit handelsschaffenden Effekten einher. Kein Wunder also, daß in Zeiten höherer internationaler Schwankung die kleinen Volkswirtschaften Mittelamerikas mit einer ständigen makroökonomischen Instabilität konfrontiert sind.

Die Auslandsverschuldung

Die Gesamtschulden der fünf zentralamerikanischen Länder sind von 17,5 Milliarden US-Dollar 1985 auf knapp 24,5 Milliarden US-Dollar 1994 gestiegen. Aussagekräftiger ist indes der Anteil der Exporterlöse, die für den Schuldendienst aufgewandt werden müssen. Für die Region lag er 1994 bei 31,5 Prozent. Bei den einzelnen Ländern fällt er höchst unterschiedlich aus: Während Guatemala (11 Prozent), El Salvador (14,5 Prozent) und Costa Rica (14,6 Prozent) eine erhebliche Entspannung ihrer Schuldendienstsituation im Vergleich zum Jahr 1985 erzielten, liegen Honduras (34,9 Prozent) und Nicaragua (38,2 Prozent) weit über der von der Weltbank als akzeptabel eingestuften Obergrenze von 20-25 Prozent.
Ungeachtet der nationalen Unterschiede ist die Belastung der Auslandsverschuldung für lateinamerikanische Verhältnisse überdurchschnittlich groß. Die Länder Zentralamerikas haben eine Auslandsverschuldung, die im Verhältnis zu ihrem Wirtschaftspotential um einiges höher ist, als die der anderen lateinamerikanischen Länder. Ein besonderes Problem stellt heute der auffällig hohe Anteil an multilateralen Schulden dar. Dieser ist insbesondere für El Salvador (57,2 Prozent), Honduras (46,7 Prozent) und Costa Rica (33,6 Prozent) sehr hoch. Ein hoher Anteil an multilateraler Auslandsverschuldung wirkt sich auf die Kreditwürdigkeit gegenüber anderen Gläubigern negativ aus und schafft zusätzliche Schwierigkeiten bei Umschuldungsverhandlungen.
Angesichts der zunehmenden Zahlungsschwierigkeiten mußten die Regierungen schon Anfang der achtziger Jahre Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) aufnehmen und die berühmt-berüchtigten letter of intents (Absichtserklärungen) unterzeichnen. Mit jenen verpflichteten sie sich, Anpassungsmaßnahmen durchzuführen, um die finanzielle Unterstützung für den Zahlungsbilanzausgleich zu erhalten. Die durchgeführten Maßnahmen (Liberalisierung der Wechselkurse, restriktive Geldpolitik, Senkung der Staatsausgaben undsoweiter) stehen aber zumindest kurzfristig im Widerspruch zu den wachstumspolitischen Zielen, die sich die Regierungen gesetzt haben. Die Schuldenverhandlungen mit dem IWF haben bislang kaum Handlungsspielraum für die erwünschte Wachstumsstrategie gelassen. Besser sieht es nur in El Salvador und Costa Rica aus. El Salvador profitierte von im Zusammenhang mit dem Krieg gewährten finanziellen Hilfen in Form von nicht rückzahlbaren Zuschüssen und von den Geldüberweisungen der in den USA arbeitenden salvadorianischen BürgerInnen. Costa Rica konnte seine Exporterlöse bei traditionellen und nicht-traditionellen Gütern steigern. Ansonsten haben die Schuldenverhandlungen keine Entlastung der Verschuldungssituation erbracht. Sowohl Honduras als auch Nicaragua stehen heute auf der Weltbank-Liste der vierzig ärmsten Länder mit einer nicht zu bewältigenden Verschuldungssituation.

Die regionale Wirtschaftsintegration

Der gemeinsame zentralamerikanische Markt (MCCA) ist mit seinen 35 Jahren das älteste Integrationsprojekt in Lateinamerika und der Karibik. Seitdem vor etwa dreißig Jahren die ersten Zollvereinbarungen getroffen wurden, kommt die mittelamerikanische Integration nur im Schneckentempo voran. Die guten Absichten können nicht geleugnet werden. Davon zeugen der achtzehnte Präsidentengipfel, das Treffen mit der mexikanischen Regierung, das Treffen der Wirtschaftsminister und der Beauftragten für die regionale Integration und zahlreiche andere Zusammenkünfte von VertreterInnen aus Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft. Doch das Hindernis, das die reale sozio-ökonomische Lage dieser Länder darstellt, kann nicht ignoriert werden. Die zentralamerikanische Region durchlebt seit 1978 eine wirtschaftliche Krise, die sich in einem Rückgang des Pro-Kopf-Einkommens widerspiegelt. Die sporadisch auftretenden Exporterfolge waren nur ein kleiner Kontrapunkt in dieser Entwicklung.
Neben den vielen Absichtserklärungen wurden auch Maßnahmen für eine Liberalisierung des Handels getroffen: Die zentralamerikanische Zollunion hat den gemeinsamen Außenzoll auf maximal zwanzig Prozent gesenkt, eine weitere Absenkung auf fünfzehn Prozent ist geplant. Bis auf wenige Ausnahmen ist der Warenverkehr innerhalb der Zollunion frei. So hat sich das Volumen des Außenhandels von 1988 bis 1993 auf 1,13 Milliarden US-Dollar verdoppelt. Doch Zollfreiheit hat nur eine begrenzte Wirkung, wenn es keine Eisenbahnlinien, Straßen oder Häfen gibt, um die Güter zu transportieren. In diesen Zusammenhang fällt auch das Urteil von Michael Porter, Professor an der Harvard University. Das Fazit seiner Studie über die Wirtschaftsintegration, die er den Präsidenten Mittelamerikas Mitte des Jahres vorlegte, ist ernüchternd: Kein einziges mittelamerikanisches Land verfügt über ein System, das den Frachttransporterfordernissen des Weltmarktes entspricht – ein ernstzunehmendes Hindernis für die Wirtschaftsintegration Mittelamerikas.
Dieses Defizit ist den Regierungen bewußt. Bei ihren Treffen wurden Gemeinschaftsprojekte in den Bereichen Stromerzeugung, Telekommunikation, Eisenbahn- und Straßenbau verabredet, die mit voller Kraft vorangetrieben werden sollen. Doch das Kardinalproblem bleibt bestehen: Woher soll das Geld kommen? Allein für ein Projekt zur Elektrifizierung der ganzen Region müßten 400 Millionen Dollar herbeigeschafft werden. Nicht einmal die Hälfte davon können die Regierungen über weiche Kredite bei der Interamerikanischen Entwicklungsbank erhalten. Eigenmittel sind bei der herrschenden Finanzlage nicht vorhanden. Die Folgen für die anvisierte Integration wiegen schwer: Dem Vernehmen nach haben in Guatemala eine Reihe von Betrieben der Maquilaindustrie, der Werke US-amerikanischer Firmen, in denen lediglich Vorgefertigtes für den US-Markt zusammengesetzt wird, wegen Stromknappheit eine Verlagerung nach Mexiko beschlossen. So können sie einerseits auf eine effizientere Energieversorgung zurückgreifen und andererseits die Vorteile des NAFTA-Marktes ausnutzen.

Die Verhandlungen mit NAFTA

Obwohl der regionale Handel in den letzten fünf Jahren stark angestiegen ist, bleibt der US-Markt für Zentralamerikas Außenhandel von herausragender Bedeutung. Dementsprechend wird eine schnelle Anbindung an das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) angestrebt. Die Verhandlungen gestalten sich aber schwierig. So kann dem Acht-Punkte-Anforderungskatalog, der 1991 von der US-Handelsbeauftragten Carla Hills als Grundlage für ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und Mittelamerika vorgelegt wurde, nicht ohne grundlegende Zugeständnisse entsprochen werden. Insbesondere Fragen des Marktzugangs, Investitionsregelungen, Umweltnormen, Streitschlichtung und Eigentumsrechte bedürfen einer Klärung.
Für die Nicht-Mitgliedsländer hat das NAFTA nicht zu unterschätzende Folgen. Im Falle Zentralamerikas kommt der größte Nachteil dadurch zustande, daß der seit 1983 gegenüber Mexiko durch die Initiative des Karibischen Beckens (CBI) erlangte Vorteil wegfällt. Dadurch wurde unter anderem den Ländern des MCCA, aber eben nicht Mexiko, der präferentielle Zugang zum US-Markt für diverse Produkte gewährt. Mexiko hat nun im Konkurrenzkampf mit Zentralamerika um Handel und Investitionen mit den USA seine Position wesentlich verbessert. Die Mindestlöhne in Mexikos Fabriken sind normalerweise niedriger als die in den beiden wettbewerbsfähigsten Ländern Mittelamerikas Guatemala und Costa Rica. Gleiches trifft auf die Transportkosten zu. Zudem sind die Investitionsbestimmungen in Mexiko viel liberaler und trotz zunehmendem Widerstand der mexikanischen Bevölkerung gegenüber der neoliberalen Politik werden die anderen zentralamerikanischen Länder immer noch als politsch instabiler eingestuft.
Insbesondere zwei Kategorien von Exportgütern sind vom NAFTA besonders betroffen und geraten gegen mexikanische Konkurrenzprodukte in Nachteil: erstens jene Exportgüter, die nicht auf der Präferenzliste der CBI stehen (zum Beispiel Textilien und Kleidung) und zweitens jene Exportgüter, die aufgrund der CBI-Präferenzen eine gewisse Wettbewerbsfähigkeit auf dem US-Markt erreicht hatten. Durch das NAFTA werden auch andere Vorteile aufgehoben. Für bestimmte nicht-traditionelle Exportgüter wie Honigmelonen, die aus den CBI-Ländern zollfrei in die USA eingeführt werden, fallen die Zollschranken auch für die anderen Länder schrittweise. Da Mexiko bei fast allen Exportgütern in offener Konkurrenz zu Zentralamerika steht, kommt es durch NAFTA automatisch zu einer Verschlechterung der Handelsposition der MCCA-Länder auf dem US-Markt.
Bislang haben die Verhandlungen als MCCA-Block mit dem NAFTA zu keinem nennenswerten Ergebnis geführt. Auch die getrennten Verhandlungen mit Mexiko oder mit Kanada haben außer 20 Millionen Entwicklungshilfe nicht die Flanken des NAFTA geöffnet. Daraufhin wurde parallel zu dem Integrationsprozeß von einzelnen Ländern (Costa Rica) oder Ländergruppen versucht, bilaterale Freihandelsabkommen mit den Mitgliedsländern von NAFTA zu erreichen. So besteht seit 1995 ein bilaterales Freihandelsabkommen zwischen Costa Rica und Mexiko.

Gescheiterte Strategie

Die Diversifizierung der Exporte hat trotz starker Exportsubventionen nicht die erwarteten Erfolge gebracht. Der Tourismus wuchs außer in Costa Rica und Guatemala nur mäßig. Auch für die nächste Zukunft bleibt Zentralamerika von seinen traditionellen Exportprodukten abhängig: Bananen, Kaffe, Zucker und mit abnehmender Bedeutung Baumwolle. Mit Ausnahme Costa Ricas liegen die Exportanteile dieser Güter in den restlichen Ländern bei über 50 Prozent der Gesamtexporte. Baumwolle erlitt seit Anfang der achtziger Jahre einen dramatischen Produktionsrückgang von jährlich 13 Prozent. Vor allem Nicaragua sah sich dadurch mit erheblichen Einkommensverlusten konfrontiert.
Gerade das Angebot dieser Exportprodukte reagiert aber relativ unelastisch auf Preisentwicklungen, das heißt produziert wird relativ unabhängig von den Preisentwicklungen auf den internationalen Märkten. Ein nennenswertes Potential zur Exportexpansion ist so auch bei Preissteigerungen nicht vorhanden. Folglich sind von diesen Branchen keine signifikanten Entwicklungsimpulse zu erwarten. Aber gerade eine auf diesen Produkten basierende Exportexpansionsstrategie steht im Mittelpunkt der Strukturanpassungsprogramme, die erfolglos in allen Länder Mittelamerikas seit Mitte der achtziger Jahre durchgeführt werden.
Die Friedensprozesse werden in einer Zeit abgeschlossen, in der die Ausgaben des Staates für die Befriedigung sozialer Bedürfnisse stark gekürzt werden. In vielen Fällen könnte der soziale Friede gerade eben mit Hilfe von sozialen Abfederungsprogrammen gerettet werden. Die Folgen des NAFTA überfordern die Volkswirtschaften Mittelamerikas, die nun weniger Vorteile auf dem US-Markt genießen, während gleichzeitig die Verschärfung der Schuldensituation engere Handlungspielräume für den Binnenmarkt setzt. Es gibt aber kaum Grund zur Annahme, daß mit dem bisher gebildeten gesellschaftlichen Konsens die Herausforderungen bewältigt werden können, die durch die Verengung des Handlungsspielraums des Staates, die neoliberale Transformation und die Verschärfung sozialer Ungleichheiten entstanden sind. Für ein anhaltendes Wirtschaftswachstum ist eine kontinuierliche politische Stabilität notwendig, diese ist aber ohne soziale Gerechtigkeit nicht zu erreichen.

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