Reggae Boys im Beat-Rhythmus

Länderspiele werden in Jamaica nicht gespielt, sondern zelebriert. Meistens beginnen die Spiele um 15 Uhr oder 17 Uhr Ortszeit. Es gibt aber Ausnahmen. Zum Beispiel wenn gegen die USA gespielt wird. High Noon war als Spielbeginn angesagt, als die kleine, geschärfte Axt versuchte, den großen Baum USA zu fällen und sich die Mittagshitze als Mitspieler erhoffte. Das Spiel endete 0:0 und bildete den Auftakt der WM-Qualifikationsendrunde der Nordamerika/Mittelamerika/Karibik-Zone (CONCACAF). Oder als beim letzten Qualifikationsspiel alles auf dem Spiel stand: Simultaner Anpfiff in Boston und in Kingston um 14 Uhr. Der Grund: Jamaica und El Salvador kämpften um den dritten und letzten nach Frankreich führenden Platz in der CONCACAF-Gruppe. El Salvador mußte gegen die USA gewinnen, Jamaica reichte gegen Mexiko ein Unentschieden. El Salvador verlor 2:4, Jamaica spielte 0:0. Damit war etwas vollbracht, was der Ministerpräsident Percival James Patterson als den „zweifellos größten Tag in Jamaicas Sportgeschichte“ bezeichnete. Im Anschluß fand die größte Feier seit der Unabhängigkeit des Landes am 6. August 1962 statt. In Montego Bay ließen sich die Fans auch von strömendem Regen nicht abhalten, mit dröhnendem Gehupe und Scheinwerferblenden ein Autokorso zu veranstalten. Tagelang wurden Leuchtraketen in den karibischen Himmel gefeuert. Auf den Straßen tanzten die Leute zur Musik, die aus riesigen Lautsprecherwänden dröhnte.
Egal, wann die Spiele im „The Office“ genannten Nationalstadion in Kingston beginnen, das Szenario ist fast immer das gleiche: Die letzten drei Heimspiele waren alle ausverkauft. Offizielle Zuschauerzahl: 35.000. Meist drängen sich jedoch einige mehr ins Stadion, begünstigt durch Baufälligkeiten, die den Zugang ohne Ticket ermöglichen. Die Kontrollen wurden jedoch von Spiel zu Spiel verschärft – schließlich ist die Stadionkatastrophe vor einem Jahr in Guatemala noch allzu gut in Erinnerung, als über 80 Menschen in einer Massenpanik zu Tode gedrückt wurden.

Ganz Kingston feiert

Spieltage sind Festtage. Schon in den frühen Morgenstunden sorgen die Fans für einen Ausnahmezustand in Town, wie Kingston mangels anderer Großstädte auf der Insel genannt wird. Ab spätestens neun Uhr morgens herrscht reges Treiben rund um das Stadion, drei Stunden vor dem Anpfiff ist es bereits zur Hälfte gefüllt, 90 Minuten davor gerammelt voll. Es wird schließlich einiges geboten außer Fußball: DJ’s sorgen für Unterhaltung, bis Spielbeginn dröhnt unablässig Reggae-Musik aus den unzähligen auf der Tartanbahn aufgestellten Boxen. In der Halbzeitpause dann gibt sich die Prominenz der Reggae-Szene das Mikro in die Hand, um mit kurzen Live-Acts das Publikum auf die zweite Hälfte einzustimmen, so Bounty Killer und Beenie Man beim vorletzten Heimspiel gegen Costa Rica. Gegen Mexiko war es die lebende Legende Jimmy Cliff, der mit „Many Rivers to Cross“ und „The Harder They Come“ das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinriß.
Während des Spiels dagegen legt das jamaicanische Publikum ein aus europäischer Sicht eher ungewöhnliches Verhalten an den Tag. Es gibt keine ausdauernden Fangesänge, stattdessen herrscht, wenn der Gegner in Ballbesitz ist, angespannte Ruhe. Bei jeder vergebenen Chance der Gäste und jedem jamaicanischen Ballgewinn kommt dann eine Begeisterung auf, die sich dann in Richtung Ekstase entwickelt, wenn sich die Jamaicaner Torchancen erspielen. Das ist ziemlich selten der Fall, denn Jamaica praktiziert eine extrem kontrollierte Offensive, wie es der auf Jamaica eher unbekannte Otto Rehagel Bezeichnen würde. Ein Libero hinter der Abwehr, einer davor, zwei Innen- und zwei Außenverteidiger. Oberstes Ziel ist der Ballbesitz. Der wird dann in den eigenen Reihen gehalten, der Gegner ins Leere laufen gelassen. Hin und wieder erfolgt ein Paß in die Tiefe, auf die zwei in England spielenden Stürmer Deon Burton (Derby County) und Paul Hall (Portsmouth).

Verstärkung aus England

Seit der Rückrunde Anfang September bilden sie den Sturm der Reggae Boys. Zusammen mit den anderen „Engländern“, Mittelfeldregisseur Fitzroy Simpson (Portsmouth) und dem Ergänzungsspieler Robby Earle (Wimbledon) wurden sie während der karibischen Meisterschaft und in Freundschaftspielen in der Pause bis zum Rückrundenstart getestet, als „Beatles“ getauft und in die Reggae Boys integriert. Beatles und Reggae Boys – ob das wohl paßt? Es paßt. Inzwischen verstehen sie sich so gut, als ob sie in einem schwarz-gelb-grünen U-Boot zusammenleben würden, so die weitverbreitete Meinung. Dabei gab es nach Erreichen der Endrunde im Dezember 1996 heftige Diskussionen, ob die Reggae Boys mit Spielern aus Übersee verstärkt werden sollten. Nein, meinte die Mehrheit. Dies würde eine Zurücksetzung der Inselspieler bedeuten, die mit dem Erreichen der Endrunde der WM-Qualifikation schon den bis dahin größten Erfolg in der Fußballgeschichte des Landes bewerkstelligt hatten. Der Verband schloß sich dieser Position an, so daß die Vorrunde nur mit einheimischen Spielern, zwei Toren und fünf Punkten bestritten wurde. Der Zug nach Frankreich schien schon abgefahren und die Diskussion, ob man nicht doch auf „englische Spieler“ zurückgreifen sollte, entbrannte erneut. Diesmal setzte sich der brasilianische Trainer Rene Simoes durch. „Wir müssen unsere Offensive stärken, dafür brauchen wir die „Engländer“. „Aber sie bekommen keine Extrabrötchen, sie müssen in den gleichen Hotels schlafen und bekommen das gleiche Essen wie die anderen. Wenn sie das nicht akzeptieren, brauchen sie gar nicht erst zu kommen.“ Neun kamen und die erwähnten vier bestanden den kombinierten Spiel- und Charaktertest. Kein Spiel ging seitdem mehr verloren und alle fünf Tore erzielten die „Engländer“, vier Burton, eins Hall. Das reichte für zusätzliche neun Punkte, den dritten Platz hinter Mexiko und den USA und das von der Privatwirtschaft initiierte Förderprogramm „Road to France“ wurde mit Erfolg gekrönt.

Sponsor Privatwirtschaft

Das Förderprogramm umschließt einen Sponsorenpool privater Unternehmen und leistete einen entscheidenden Beitrag für den Aufschwung der Reggae Boys. Es ermöglicht dem Verband, den Nationalspielern ein monatliches Grundgehalt zu zahlen, damit diese nicht mehr nebenher jobben müssen. Denn bis heute gibt es in Jamaica kaum einen Verein, der seinen Spielern mehr als ein Butterbrot zahlen kann. Selbst ein Starspieler wie der Spielmacher und stellvertretende Kapitän Theodore „Tapper“ Whitmore bekommt von seinem Verein nur 20.000 Jamaica-Dollar im Monat, das sind gerade mal gut 1000 DM. Nicht zuetzt deshalb spielen in Jamaicas Premier League überwiegend Kicker der Jahrgänge 1973 bis 1982. „Spätestens mit 25“, sagt Whitmore, „mußt du dich entscheiden: Job oder Fußball.“ Neben dem Sponsorenpool rief Nationaltrainer Simoes noch ein weiteres Programm ins Leben: „Adopt a player“. Er forderte die Privatwirtschaft auf, einzelne Nationalspieler direkt zu unterstützen. Mit Erfolg: „Tapper“ Whitmore wird so zum Beispiel von einer Zementfabrik gesponsert und bekommt damit um die 2000 DM zusätzlich. Finanzielle Hilfe für die für ihn am 5. August anstehende Grundsatzentscheidung: Dann wird er nämlich 26 Jahre alt. Hinter Torhüter und Mannschaftskapitän Warren Barrett steht das Kultbier „Red Stripe“. Zu Werbezwecken wird er deshalb innerhalb einer Flasche abgebildet, was aber mit Sicherheit keine Anspielung auf seine Leistung ist, denn seinen Spitznamen „The Rock“ verdankt er seiner Unbezwingbarkeit im heimischen Kingston. Während der gesamten Qualifikation mußte er in sage und schreibe neun Spielen kein einziges Gegentor hinnehmen. Der umstrittenste und wohl populärste jamaicanische Kicker, Walter „Blacka Pearl“ Boyd, wird von einem Bankenkonsortium gesponsert. Boyd war der beste und erfogreichste jamaicanische Stürmer der letzten Jahre – bis die „Engländer“ kamen. Seine fehlende Treffsicherheit zu Beginn der Endrunde, vor allem aber seine Kritik am Führungsstil des Trainers Simoes kostete ihn seinen Stammplatz.

Autokratischer Führungsstil

Der autokratische Führungsstil von Simoes ist bekannt und umstritten – der Erfolg hielt die Kritik jedoch in Grenzen. Boyd beklagte sich als einziger öffentlich: „Er behandelt einen wie einen Niemand oder einen Idioten. Er will Gott in deinem Leben spielen. Wenn du nicht springst, wenn er es sagt, heißt es, Dir fehlt die Disziplin.“ Vermutlich fehlt Boyd nun zumindest das Ticket nach Frankreich, so daß er sich die WM in Kingstoner Kneipen anschauen muß. Allerdings ist Boyd kein Unschuldslamm. Schlägereien auf dem Platz gehören ebenso zu seinem Repertoire wie unentschuldigtes Fernbleiben vom Training oder von öffentlichen Auftritten der Reggae Boys. Und Simoes, der tiefgläubige und häufig ein „Jesus saves“ T-Shirt tragende Brasilianer, schwört auf Disziplin und geistlichen Beistand. „Ich habe einen starken Glauben und ich denke, das hilft, das Team zusammenzuschmieden. Wir nehmen einen geistlichen Beistand mit zur WM und ich hoffe, daß die Spieler darauf ansprechen.“ Was die Spieler davon halten, bleibt geheim, denn Kritik ist – wie gesehen – gefährlich.

Kritische Presse

Offene Kritik kommt von der Presse. Vier „englische“ Spieler sind genug, so der Tenor, nachdem Simoes selbstherrlich angekündigt hatte, bis zu 10 „englische“ Spieler mit zur WM mitnehmen zu wollen, vor allem um die Disziplin in der Truppe zu fördern. Tony Becca, Kolumnist der größten und ältesten jamaicanischen Tageszeitung The Gleaner verlieh der Meinung der Mehrzahl der Fans Ausdruck: „So wichtig es ist, in Frankreich eine gute Show zu bieten, Jamaica gut zu verkaufen und Devisen zu verdienen, ist es richtig, daß Jamaicaner, die in der Qualifikation spielten, zu Hause bleiben müssen? Ist es gegenüber den jungen Jamaicanern fair, die eine gute Leistung gebracht haben und von Frankreich als Vorzeigebühne geträumt haben, auf der sie einen Vertrag von einem europäischen Verein ergattern könnten, wenn jetzt andere aus „England“ an ihrer Stelle mitfahren?“ Der 44jährige Simoes zeigte sich gewohnt uneinsichtig: „Ich kümmere mich nicht darum, was die Leute denken. Wenn die englischen Spieler jamaicanischer Herkunft in den Tests gut spielen, werden sie spielen.“ Simoes gab jedoch an, daß er die Chemie innerhalb der Mannschaft nicht stören wolle und er deshalb die Integration von neuen „englischen“ Spielern immer mit den erfahrenen Spielern absprechen würde. „Wenn’s die Chemie stört, werde ich sie wieder zurückschicken.“ Wie immer er sich auch entscheidet, die Insel wird rückhaltlos hinter ihren Reggae Boys stehen. Und deren Ehrgeiz ist groß. Keeper Barett meinte, ein bißchen mehr als die Gruppenspiele dürfe es schon sein.
Vielleicht kommt es ja zum Achtelfinale aller Achtelfinale: Jamaica gegen England. Der Spielplan läßt dies zu und spätestens dann werden in Deutschland Überlegungen über den Import jamaicanischer Fußballer angestellt. Einen solchen gab’s übrigens schon in den siebziger Jahren. Beverly Rangers war damals der Star im deutschen Frauenfußball und ging in die Annalen der deutschen Fußballgeschichte ein: Ihr gelang es als erster Frau, das Tor des Monats zu erzielen.

Der Krieg aus der Sicht der Opfer

Drei Jahre haben die MitarbeiterInnen von REMHI gearbeitet, um die schwersten Menschenrechtsverletzungen des Bürgerkrieges in Guatemala zu dokumentieren. 600 eigens für dieses Projekt der Katholischen Kirche ausgebildete InterviewerInnen haben dazu mehr als 5.000 Zeugenaussagen gesammelt. „Das wichtigste Ziel unserer Arbeit war, die Geschichte des Krieges aus der Sicht der Opfer darzustellen“, erklärt der für das Projekt verantwortliche Bischof Juan Gerardi, der selbst von der Repression des Militärs betroffen war: 1981 mußte er mit seiner gesamten Diözese die Region des Quiché verlassen. Erst Mitte der achtziger Jahre konnte er aus dem Exil zurückkehren.
Mehr als 150.000 Tote forderte der Bürgerkrieg in Guatemala, der nach 36 Jahren Dauer am Ende des Jahres 1996 durch ein Friedensabkommen zwischen der guatemaltekischen Regierung und der Guerillabewegung URNG beendet wurde. Am schlimmsten war die Repression zu Beginn der achtziger Jahre, als das Militär im Kampf gegen die erstarkende Guerilla eine „Strategie der verbrannten Erde“ anwendete, in deren Verlauf hunderte Dörfer dem Erdboden gleichgemacht, zehntausende Zivilisten ermordet und hunderttausende Menschen vertrieben wurden. Die Täter genießen bis heute Straffreiheit. Seit Verabschiedung eines „Versöhnungsgesetzes“ Ende 1996 sind alle Menschenrechtsverletzungen, die im Rahmen des Krieges begangen wurden, amnestiert.

Keiner Schuld bewußt

Auch Ex-General Efraín Rios Montt, in dessen Amtszeit als Präsident einer Militärregierung 1982/83 unzählige Massaker an der Zivilbevölkerung begangen wurden, muß kaum fürchten, daß ihm für seine Verbrechen jemals der Prozeß gemacht wird. Heute steht er an der Spitze der „Republikanischen Front Guatemalas“ (FRG) und macht sich Hoffnungen, erneut Präsident des Landes zu werden. Die Kandidatur wurde dem Massenmörder bislang verwehrt, da laut Verfassung niemand zum Präsidenten gewählt werden darf, der zuvor durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen war. Doch dies kann sich noch ändern, auch die derzeitige Regierungspartei PAN möchte einen Schlußstrich unter die Vergangenheit ziehen. Oscar Berger, vermutlich der nächste Präsidentschaftskandidat der PAN, sprach sich kürzlich dafür aus, Rios Montt zur nächsten Wahl zuzulassen.
Verdrängen und Vergessen lautet die Devise, die Beschäftigung mit der Vergangenheit liegt nicht im Interesse der Regierung. Auch die offizielle „Wahrheitskommission“, die im Rahmen der Friedensabkommen beschlossen wurde und im Juli ihren Abschlußbericht vorlegen wird, ist für die Regierung von Präsident Arzú nur eine lästige Pflicht.
Diesem Verdrängen soll mit dem REMHI-Bericht entgegengearbeitet werden. Denn für die Opfer und Überlebenden des Krieges ist es enorm wichtig, sich Gehör zu verschaffen. Jahrelang waren sie zum Schweigen verurteilt – es war zu gefährlich, über die Massaker des Militärs auch nur zu sprechen. Weil die InterviewerInnen von REMHI meist selbst aus den betroffenen Gemeinden kamen, konnten sie den Menschen ihre Angst nehmen und sie dazu bewegen, über ihre Erfahrungen zu sprechen.
Die Wunden des Krieges sitzen tief, das Sprechen über die Vergangenheit war aber immerhin ein erster Schritt zur Verarbeitung des Erlebten. Die Tabuisierung der Repression hat die so wichtige Trauerarbeit in den vom Krieg betroffenen Gemeinden lange verhindert: „Oft konnten die Überlebenden nicht einmal die für sie so wichtige Totenwache für ihre ermordeten Angehörigen abhalten. Sie mußten befürchten, daß das Militär in diesem Moment neue Morde begeht“, erzählt der deutsche Anwalt Michael Moerth, der seit 1995 bei REMHI tätig ist.

Das Trauma der Überlebenden

Der Terror gegen wehrlose Männer, Frauen und Kinder hatte System. In rund der Hälfte der mehr als 400 untersuchten Massaker wurden gezielt Kinder ermordet, manche von ihnen noch Säuglinge. Diese Grausamkeit sollte die Überlebenden traumatisieren und den Zusammenhalt der Indígena-Gemeinden zerstören, um die verbleibende Bevölkerung in paramilitärisch organisierten sogenannten „Selbstverteidigungspatrouillen“ dem Willen der Militärs zu unterwerfen. Diese Patrouillen waren ein wichtiges Instrument zur Bespitzelung und Verfolgung der Bevölkerung.
REMHI will die Menschen auch weiterhin begleiten: Sei es durch Projekte zur psychosozialen Betreuung in den Gemeinden, Hilfestellung bei der Exhumierung von Massengräbern oder durch ein Mahnmal an der Kathedrale von Guatemala-Stadt, an dessen Eingang die Namen der mehr als 16.000 Opfer, die im Bericht erwähnt werden, auf Marmorplatten eingraviert werden. „Den Menschen ihre Würde zurückzugeben und das im Krieg zerstörte Netz sozialer Beziehungen neu zu knüpfen“, formuliert Bischof Gerardi als zentrale Herausforderungen für die zukünftige Arbeit von REMHI in den von der Repression betroffenen Gemeinden.
Doch auch Regierung und Staat sollen nicht aus der Verantwortung entlassen werden. Zuallererst, so eine der Forderungen des Berichts, müsse „der Staat öffentlich die Geschehnisse und seine Verantwortung für die massive und systematische Verletzung der Menschenrechte der guatemaltekischen Bevölkerung anerkennen.“ Gleiches wird von der Ex-Guerilla URNG verlangt, die während des Krieges ebenfalls Menschenrechtsverletzungen begangen hat und für mehrere Massaker an der Zivilbevölkerung verantwortlich ist. Das Anerkennen der Schuld seitens der Täter sei die Basis für eine Versöhnung, zu der viele Opfer durchaus bereit seien.
Darüber hinaus solle die Regierung die Opfer materiell entschädigen, schließlich haben die Menschen durch die Zerstörung ihrer Dörfer und die anschließende Flucht oft ihre gesamte Habe verloren. Dazu gehöre auch eine gerechtere Landverteilung, denn auf den großen Fincas, den Landgütern, auf denen die landarme oder landlose Bevölkerung zu arbeiten gezwungen ist, sind Menschenrechtsverletzungen auch heute noch alltäglich.
Es ist nicht zu erwarten, daß die Regierung dem REMHI-Bericht allzu große Aufmerksamkeit schenken wird. Die Empfehlungen des Berichts stehen der neoliberalen Regierungspolitik diametral entgegen und der Schutz der Menschenrechte hat für Präsident Arzú keine Priorität.

Medico International und das INKOTA-netzwerk (zu INKOTA siehe auch den Artikel auf den Seiten 41-44 dieser Ausgabe) haben die Veröffentlichung des REMHI-Berichts mitfinanziert. Für die Weiterarbeit von REMHI in den Gemeinden wird dringend Unterstützung benötigt. INKOTA bittet dafür um Spenden auf das Konto Nr. 155 500 0010 bei der Bank für Kirche und Diakonie (BLZ: 350 601 90). Stichwort: REMHI.

KASTEN:
Fall 2173, Buena Vista, Huehuetenango, 1981:

„Ich betete zu Gott, daß sie mich wenigstens zuerst töten würden, ich wollte nicht ansehen müssen, was sie mit meinen Kindern machen, denn sie machten es immer so: zuerst bringen sie die Kinder um, es war eine Art, die Leute zu foltern, die Eltern, und ich dachte all dies. Aber Gott sei Dank kam es nicht dazu.
Da gab es einen, der mit dem Leben davon kam. Seiner Frau haben sie das Kind rausgeholt, die war noch am Leben, und sie holten ihr das Kind raus, das sie erwartete – vor dem Ehemann und ihren Kindern, und die Frau starb und auch die Kinder. Sie haben sie getötet. Der einzige der überlebte, war der Mann, er entkam.“

Fall 8586, Aldea Ixcahin Nuevo Progreso, San Marcos, 1973:

„Als sie meinen Vater verhafteten, war ich zwölf Jahre alt, ich war das älteste Kind. Wir haben uns nicht getraut, etwas zu sagen, wir waren im Haus und weinten, als sie ihn herausholten. Kurz danach kam mein Vater zurück und sagte: Schau Mario, du mußt nicht weinen, ich komme gleich zurück; es war ungefähr zehn oder elf Uhr nachts, zu dieser Zeit ging ich in die 4. Klasse der Grundschule; am nächsten Tag ging ich in die Schule und sagte der Lehrerin, daß sie meinen Vater entführt haben und daß ich nicht mehr in die Schule ginge, weil es niemanden mehr gäbe, der mir Hefte kauft. Meine Stiefmutter ging nach Pajapita, um Arbeit zu suchen, und so blieb ich allein mit meinem kleinen Bruder. Eine Tante von mir, die Lorenza heißt, hat uns zu essen gegeben und auch die Nachbarn.
Kurze Zeit nach der Entführung meines Vaters, haben sie unser Haus niedergebrannt: in dieser Nacht waren wir zum Haus meiner Tante gegangen, um dort zu essen, und wir spielten mit einem Ball, meiner kleiner Bruder war schon vorausgegangen und als er am Haus ankam, wartete eine Gruppe Männer auf uns, sie hielten ihn am Nacken fest und fragten ihn: Bis Du Mario? Nein? Wir werden auf ihn warten. Ich war noch weiter weg. Sie begannen Benzin auf das Haus zu gießen. Ismael dachte, sie würden uns beide töten und dann dachte er sich, besser sie bringen nur mich um, ich werde laufen. Also stand er auf und sagte ihnen, er ginge pinkeln. Und sie sagten ihm: Bleib hier, pinkle hier vor uns! Und sie faßten ihn, aber er riß sich los, und sie schossen zweimal auf ihn, damit er nicht wegliefe, aber ihm war es egal, ob sie ihn töteten, um mir das Leben zu retten. Und das hat er gut gemacht, denn ich kam schon den Weg entlang. Ich hatte die Schüsse gehört und fragte mich, was da los sei. Da kam er weinend angelaufen, sie hatten ihn nicht getroffen! Ich lief ihm hinterher und fragte ihn: Hey, was ist los? Mario, sagte er, stell Dir vor, da wollen einige Männer mit Dir sprechen, aber sie wollen uns töten. Ich fing an zu zittern, wir waren unschuldig. Wir kehrten zum Haus der Tante zurück; als wir dort ankamen, sahen wir die Flammen, sie brennen unser Haus nieder! Unser Leben als Kind war voller Leid, sie haben uns nichts gelassen.“

Fall 5339, Plan de Sánchez, Baja Verapaz, 1982:

„An diesem Tag kam die Armee. Sie kamen aus dem Militärquartier von Rabinal. Im Morgengrauen gingen sie nach Plan de Sánchez hoch. Als sie die Gemeinde erreichten, sperrten sie die Wege auf beiden Seiten des Dorfes ab. Mitglieder der Zivilpatrouillen gingen jeweils zu zweit von Haus zu Haus und holten die Familien aus ihren Häusern. Als sie in allen Häusern waren, brachten sie die Familien in das Haus von Rosa Manuel, wo sie sie gefesselt haben: Männer, Frauen und Kinder. Alle Personen, die zum Markt gekommen waren: Leute aus Concul, Ixchel, Balanché, Raxjut, Joyá de Ramos, sie hatten ihre Waren dabei und dort blieben sie, tot. Ungefähr 180 Menschen sind an diesem Tag gestorben.
So begangen sie das Massaker: sie trieben alle Personen zusammen, Männer, Frauen, Alte, Kinder, Mädchen. Und da nicht alle in das Haus von Rosa Manuel paßten, holten sie die Mädchen zwischen 12 und 14 Jahren und brachten sie in ein anderes Haus, um sie zu vergewaltigen. Sie vergewaltigten 14 Mädchen, die 14 Jahre alt waren. Der Anführer der Zivilpatrouille war der Kommandant Díaz, der in Chol lebte. Die Kadetten baten beim Kommandanten um Erlaubnis, alle Leute, die sie versammelt hatten, durchsuchen zu dürfen. Sie nahmen ihnen ihr Geld weg, den Frauen alte Halsketten und Ringe, sie packten alles in einen Sack und nahmen es mit. Als sie ihnen alles weggenommen hatten, durchsuchten sie alle Häuser, sie begannen herumzuschießen, warfen eine Granate mitten in die Familien und schossen Maschinengewehrsalven auf sie. Das dauerte ungefähr drei Stunden, danach gossen sie Benzin auf das Haus, und sie zündeten die armen Seelen an.
Wir waren in der Nähe und sahen alles, was sie taten. Wir wurden zwei Jahre lang nach dem Tod unserer Familie verfolgt, und drei Jahre lang hatten wir kein Haus, wir lebten unter Bäumen. Aber hier sind wir. Sie haben unsere Häuser zerstört, unseren Besitz geraubt, die Tiere mitgenommen, das Maisfeld zerstört, sie haben uns Tag und Nacht verfolgt.“

Ein wenig Befreiung von unten

Nicht nur mit Worten die SandinistInnen verteidigen, sondern „konkret etwas für Nicaragua tun“ – so lautete die Quintessenz dieser Auseinandersetzung. Der Anlaß mag zufällig sein, die Motivation für unabhängige Gerechtigkeit war es nicht, meist hatte sie zwei Aspekte: Das Wissen von Elend in unserer Welt läßt Untätigkeit nicht zu. Und: Nur wer „etwas Sinnvolles tut“, konnte der Apathie und den vorgefertigten Strickmustern der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR entgehen.
Wie andere Basisinitiativen auch, standen die Mitglieder der IHN in einem generellen Spannungsfeld, denn charakteristisch und tragisch war, wie in fast allen Bereichen der ehemaligen DDR, die Trennung von staatlich bzw. gesellschaftlich kontrolliertem Vorgehen und dem innovativen, unabhängigen Engagement nicht weniger Bürgerinnen und Bürger. Nichts fürchtete das alte System mehr als klarblickende, nicht erpreßbare Menschen, die nicht aufgaben.

Engagement gegen den Staat

In dieses gesellschaftliche, besser noch Partei- und Staatsumfeld, pflanzte sich die Arbeit der IHN, deren Mitglieder mit durch das unabhängige Engagement für Nicaragua geschärftem Blick auch die gesellschaftliche Realität in der ehemaligen DDR kritisch reflektierten. Kunst und Kultur des Volkes, Befreiungstheologie und Dialog zwischen SandinistInnen und ChristInnen blieben somit nicht nur Begriffe aus einer fernen Welt, sondern wurden zu Instrumentarien für unser eigenes Handeln. Karim Saab, einer der Mitbegründer der IHN, brachte dies in einigen Thesen wie folgt zum Ausdruck:
– „Die Theologie der Befreiung verweist uns auf die Armen im eigenen Lebensbereich. … Christen in der DDR, die sich von der Theologie der Befreiung inspirieren lassen, müssen sich daher in ihrem eigenen Lebensbereich den Armen (Deformierten, Benachteiligten, Leidtragenden) zuwenden.
– Die Auseinandersetzung mit dem Elend in der Zweidrittelwelt provoziert Rückfragen an uns und unsere Gewohnheiten. … Hören wir von der Beteiligung salvadorianischer Christen am bewaffneten Befreiungskampf, sollten wir es nicht versäumen, unsere Haltung zur Gewaltfrage zu differenzieren….
– Wenn uns ein Mosambikaner von der Hoffnung erzählt, daß die neuen Verhältnisse in seinem Land einen „Neuen Menschen“ prägen werden, sollte uns das anregen, über die Verwirklichung dieses sozialistischen Ideals in der DDR nachzudenken….“
Diese Ausführungen spiegeln etwas vom Selbstverständnis der IHN-Arbeit wider. Innerhalb der quantitativ recht kleinen Gruppe der „unabhängigen“ Zweidrittelwelt-Engagierten waren Selbstverständnisdiskussionen eher die Ausnahme denn die Regel. Man war froh, sich überhaupt gefunden zu haben, kommunizieren und arbeiten zu können – möglicherweise „trennende“ Diskussionen wurden vermieden.
Aber klar war: Gruppen wie die IHN verstanden sich auch als entwicklungspolitisch Wirkende, die bewußt und gezielt das gesellschaftliche Konzept in der DDR, Normen und Wertvorstellungen mit Hilfe von Systemdiskussionen in den Zweidrittelweltländern in Frage stellten. Zugleich waren diese Gruppen Praxis- und Erprobungsfelder für Demokratieverhalten und alternative Ansätze für kommunikative und partizipatorische Strukturen. Neben der konkreten Zweidrittelwelt-Arbeit stellten sie ganz bewußt ein Stück Gegenöffentlichkeit in der DDR dar.

Zwischen Opposition und Anpassung

Eine solche Arbeit war ohne die Unterstützung der Kirche nicht möglich, da sich der realsozialistische Staatsapparat bekanntermaßen und paradoxerweise dem Bedürfnis nach echter Basisinitiative verschloß (was zweifelsohne auch zu seinem beschleunigten Verfall beitrug) und den bestehenden Gruppen das Leben schwer machte. Der Staat überließ sowohl die Legitimation der Gruppen als auch die Reglementierung in den meisten Fällen der Kirche, deren hierarchische Organisation er als Pendant zu sich (Staat im Staate) ansah und geradezu herausforderte.
Die Kirche nahm diese Rolle an – in Form einer Gratwanderung zwischen Opposition und Anpassung, als Konfliktvermittler und Stellvertreter. Mitunter war dabei die innere Zensur fast größer als die äußere staatliche. Diese politische Selbstbeschränkung stieß bei aktiven Basisgruppen zum Teil auf erhebliche Kritik. Dieser, im Verhältnis zwischen Kirchenleitung und Basisgruppen immer latent oder offen vorhandene Konflikt, verschärfte sich in den achtziger Jahren durch veränderte politische Rahmenbedingungen.
Die IHN war der Superintendentur Leipzig an der Nikolaikirche angegliedert. Dies bildete zum einen den Rahmen und die Voraussetzungen ihrer Arbeit, zum anderen aber befand sie sich damit auch in dem komplexen Spannungs-, Abhängigkeits- und Entsprechungsgefüge zwischen Kirche und Staat. Letztlich wurden viele Initiativen der Gruppen durch den Synodalausschuß bei der Superintendentur Leipzig mehr behindert denn gefördert, wie man heute aufgrund von Stasimit- und zuarbeit einzelner Mitglieder weiß. Auch die IHN war lange Jahre im Visier der Stasi. Mehrmals versuchte sie, Inoffizielle Mitarbeiter in die Gruppe einzuschleusen – manchmal mit Erfolg.
Unabhängig aber vom ambivalenten Verhältnis zwischen Basisgruppen und Kirchenleitung ermöglichte dieser Bezug der IHN eine Arbeit, die tatsächlich in die Öffentlichkeit getragen werden konnte und den vom Staat zuerkannten Rahmen sprengte. So zum Beispiel mit einer dreitägigen Veranstaltung zugunsten des Projektes der Gruppe, dem Landschulzentrum Monte Fresco in Nicaragua, an der sich eine ganze Reihe bekannter KünstlerInnen beteiligte, einschließlich einiger, die mit Auftrittsverbot belegt waren, oder durch die Veranstaltungsreihe „Hoffnung und Politik“, die zu einem Podium des Austausches über Innenansichten zur DDR wurde.
Auch nach außen, über die Ländergrenzen hinweg, wurde die staatliche Abschottung durchbrochen. So konnte jahrelang das Landschulzentrum Monte Fresco unterstützt werden, auch mittels des Erlöses aus einer mail-art-Ausstellung „Hoffnung Nicaragua“, an der sich KünstlerInnen aus etwa 20 Ländern mit ihren Arbeiten beteiligten und die in zahlreichen Kirchen zu sehen war.
Diese und andere Initiativgruppen wurden natürlich staatlicherseits nicht einfach hingenommen, sondern beständig behindert. So wurde eine Lichterkette der IHN vor dem Leipziger Capitol während der Internationalen Dokumentar- und Kurzfilmwoche 1983 zum Anlaß genommen, über die Botschaft den nicaraguanischen StudentInnen den Kontakt zur Gruppe zu untersagen, da diese vom CIA (!) unterwandert sei. An dieser Legende hatte die Gruppe jahrelang zu tragen, bis sie mit Hilfe eines neuen nicaraguanischen Botschafters ausgeräumt werden konnte.
Ähnlichen Behinderungen waren auch die anderen unabhängigen Gruppen ausgesetzt. Dies änderte jedoch nichts daran, daß die Nicaragua-Solidaritätsarbeit sich stark entwickelte. Wie im Westen, so im Osten: In der Soli-Szene war das „Modell Nicaragua“ Beispiel eines alternativen Gesellschaftsentwurfes. Anders aber als im Westen „strickte“ in der DDR der Staat selbst an diesem „leuchtenden Bild“ mit. Dies aber offenbarte die Absurdität nur um so offensichtlicher: Offizielle Solidarität mit Nicaragua war “in”, ließ sich davon aber eine Gruppe anstecken und initiierte ihrerseits Aktivitäten, so wurden diese argwöhnisch beäugt.
Die Nicaragua-Solidarität bildete nicht zuletzt wegen des „Modellcharakters“ den Schwerpunkt der Arbeit von unabhängigen Gruppen in der DDR. Aber es war nicht nur der Schwerpunkt, es war auch der einzige zu Lateinamerika: es gab nur Nicaragua. Es arbeiteten in den achtziger Jahren etwa zehn Basisgruppen und -initiativen zu diesem Land. Deren Aktivitäten waren sehr unterschiedlich akzentuiert und motiviert. Die IHN war eine der politischsten, andere hatten eher einen karitativen Ansatz und waren mehr durch eine „Paketpackmentalität“ geprägt. Zentren der Arbeit waren Leipzig, Jena, Berlin und Magdeburg.

Solidarität zwischen Ost und West

Manche Projekte waren eigentlich „Dreiecksbeziehungen“ Ost-West-Süd. Es waren nämlich West-Gruppen, die diese beiden (Vor)-Schulprojekte wesentlich förderten (Auf- und Ausbau der Infrastruktur, Gehälter für Kindergärtnerinnen etc.) während die Ost-Gruppen vor allem didaktisches und Schulmaterial beisteuerten. Vor allem über diese (verbotenen) Westkontakte gelangten dann auch die Informationen, Dias und sonstige Medien zu uns, mit denen wir unsere konkrete Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit bestritten. Man brauchte für dieses Engagement also verläßliche Verbündete und schuf sich gleichzeitig selbst größere – und damit wirkungsvollere – Arbeitszusammenhänge und -strukturen.
Eine der wichtigsten war INKOTA (Information, Koordination und Tagungen zu Problemen der Zweidrittelwelt). Der Name war Programm: es wurden die in der Regel schwer zu beschaffenden Informationen besorgt, koordinierte Aktionen gestartet und zentrale und dezentrale Tagungen durchgeführt. Wenn dann zu einer solchen Tagung zum Beispiel Bernd Päschke aus Mainz auftauchte, einen Stapel seines El Salvador-Buches „Befreiung von unten lernen“ über die Grenze geschmuggelt hatte und wir mit ihm gemeinsam eine „lateinamerikanische Bibelstunde“ durchführten, dann war dies ein ganz besonderes Highlight und die TagungsteilnehmerInnen fühlten sich danach selbst ein wenig „von unten befreit“.
INKOTA hatte es sich in der DDR zur Aufgabe gemacht, die Kluft zwischen Basisinitiativen und Administration zu überbrücken. Dabei kam uns zugute, daß zumindest einige Leute beim damaligen „Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR“ die Arbeit unterstützten, so daß wir als ökumenischer Arbeitskreis unter seinem Dach arbeiten konnten. Dies eröffnete die Möglichkeiten für Verhandlungen mit dem Staat „auf höherer Ebene“, die für eine Basisgruppe allein nicht möglich gewesen wären. Dadurch wurde einiges ermöglicht, daß auch der Nica-Arbeit zugute kam und deren AkteurInnen motivierte, weiterzuarbeiten. So wurde beispielsweise erreicht, daß über das staatliche Solidaritätskomitee einmal im Jahr unentgeltlich ein Sammelcontainer unabhängiger Nicaragua-Gruppen zu ihren Partnern transportiert wurde. Das war ein „unheimlicher Erfolg“, ebenso das Zustandekommen einer Studiendelegation der Evangelischen Studentengemeinde und INKOTA 1986 oder mein halbjähriger Aufenthalt in Nicaragua 1989.
So wie INKOTA vor der Wende die Grundlage für die Arbeit der unabhängigen Nica-Gruppen war, gingen von dem Netzwerk nach der Wende wesentliche Impulse für den Auf- und Ausbau dieser Arbeit aus.
Paradoxerweise hatte die Mehrzahl der Nica-Engagierten erst nach der Niederlage der Sandinisten 1990 die Möglichkeit, dieses Land und seine Leute von „Angesicht zu Angesicht“ kennenzulernen. Diese Möglichkeit führte zu einem Motivationsschub im Osten just in dem Moment, in dem sich Soli-Engagierte aus dem Westen wegen des fracasos der Sandinisten aus der Arbeit zurückzogen.

Nach der Wende

Die Wende brachte den unabhängigen Soli-Gruppen im Osten zudem einen unverhofften Geldregen. Von den rund 16 Millionen Mark Soligeldern, die der FDGB veruntreut hatte, zahlte dieser, das schlechte Gewissen wog schwer, eine Million Mark auf das Konto von INKOTA. Über den „Nicaragua-Verteilerrat“ der unabhängigen Soligruppen wurde dieses Geld – nach der Währungsreform noch eine halbe Million DM – für Projekte vor allem in Zentralamerika zur Verfügung gestellt. Heute ist die 1994 gegründete Stiftung Nord-Süd-Brücken von großer Bedeutung für die Arbeit in den Neuen Bundesländern. Diese entstand aus übriggebliebenen Geldern des staatlichen „Solidaritätskomitees“ auf Intervention des „Entwicklungspolitischen Runden Tisches“, dem es gelang, diese Mittel der Treuhandgesellschaft zu entreißen – Theo Waigel wollte mit dem Geld Haushaltslöcher stopfen.
1990 führte INKOTA das erste und gleichzeitig letzte Workcamp zu DDR-Zeiten in Nicaragua durch. Das war der Ausgangspunkt für Kontakte, die über Nicaragua hinaus gingen, denn ein Teil der Gruppe besuchte auf Einladung des Lutherischen Bischofs Medardo Gómez auch El Salvador. Aus diesen Workcamps heraus – die bis heute Bestandteil der INKOTA-Arbeit sind – entstanden neue Projekt- und Partnerbeziehungen.
So haben heute INKOTA-Mitgliedsgruppen zahlreiche Kontakte nach Zentralamerika. Der „Eine Welt Laden am Dom“ in Brandenburg hat Projektbeziehungen nach El Paisnal, die Berliner Segensgemeinde pflegt eine Gemeindepartnerschaft mit der Gemeinde am Vulkan von San Miguel (beides in El Salvador) und das „Eine Welt Haus“ in Jena hat erreicht, daß es heute eine Städtepartnerschaft mit San Marcos in Nicaragua gibt.
Die Geschäftsstelle von INKOTA in Berlin begleitet heute Projekte in Nicaragua, El Salvador und Guatemala. Schwerpunkte sind die Menschenrechts- und Versöhnungsarbeit, Kommunalentwicklung und Frauenprojekte. Damit werden die Ansätze weiter verfolgt, die durch INKOTA noch zu Zeiten der DDR initiiert worden sind.

Willi Volks war in den achtziger Jahren Mitglied der „Initiativgruppe Hoffnung Nikaragua“ und ist seit 1994 Geschäftsführer des INKOTA-netzwerks.

Macht Literatur Politik?

Was hat Literatur mit Politik zu tun? Nicht viel, möchte man auf den ersten Blick meinen, denn für das politische Geschäft sind diejenigen zuständig, die es betreiben – eben die Politiker, von der Regierungschefin bis zum Demonstranten. Bestenfalls sind alle aufgefordert, sich für Politik zuständig zu fühlen, aber eine Sonderrolle für Literaten anzunehmen, liegt zunächst nicht auf der Hand. Dafür bleibt deren Arbeitsfeld gleichfalls weitgehend unbehelligt.
Auf den zweiten Blick stimmt dieses Bild mit der Realität nicht überein. Natürlich greifen Mächtige immer wieder und bis heute durch Zensur in die Arbeit von Schriftstellern ein – und es ist nicht ungewöhnlich, daß sich Schriftsteller direkt, also nicht über den Umweg des Schreibens, politisch betätigen. Aber um dieses direkte Engagement für politische Ziele soll es in der Debatte, die wir mit dieser Ausgabe beginnen, nicht gehen. Wir wollen uns auf das geschriebene Wort beschränken.
„Literatur, jede, ist ganz sicher politisch“, behauptete Günter Kunert kürzlich in einem Artikel (moosbrand 5 / März 1997) – und meinte damit den „Widerstand der literarischen Sprache gegen die Einvernahme der Gehirne durch öffentliche und offizielle Sprachregelungen“. Politisch sei Literatur also nicht im Sinne von „politischem Bekennertum“, sondern indem sie aus der Unterwerfung unter vorherrschende Mechanismen befreit (soweit Kunert).
Darüber hinaus sind Bezüge zu politischen Themen – ob nun direkte oder nur sehr mittelbare – aus literarischen Texten kaum wegzudenken. Mag man „Politik“ weiter oder enger fassen, Teil der Lebenswirklichkeit ist sie allemal. Aber nicht alle Schriftsteller behandeln politische Fragen lediglich als literarische Sujets wie andere Sujets auch. Sie verstehen – so eine sehr spitze, aber bezeichnende Metapher – Kunst als „Waffe“ (Friedrich Wolf) und sich selbst als Krieger. Dafür hat sich der Begriff „Engagierte Literatur“ eingebürgert, auf spanisch literatura comprometida. Literatur dient hier nicht mehr nur dazu, die Welt zu beschreiben und zu deuten, sondern sie zu verändern. Engagierte Literatur hatte die Aufgabe, Menschen von der Notwendigkeit einer Handlung zu überzeugen – etwa indem eine sozial miserable Lage, das Funktionieren eines Unterdrückungsapparates, die Brutalität eines Krieges geschildert werden – und sie zum Handeln selbst zu bewegen. Häufig steht engagierte Literatur im Kontext klarer parteilicher Abgrenzungen, so für die Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg, gegen Pinochets Diktatur in Chile, für Solidarität mit dem unterdrückten Volk und so weiter.
In Lateinamerika hat engagierte Literatur eine wichtige Rolle gespielt. Erstaunlich viele namhafte Autoren (Miguel Ángel Asturias, Jorge Icaza, Miguel Otero Silva, Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa, César Vallejo, Pablo Neruda, Jorge Amado, Carlos Monsiváis, Elena Poniatowska, Sergio Ramírez, Roque Dalton…) haben in ihren Werken zumeist explizit Partei ergriffen, haben politische Verhältnisse als veränderungsbedürftig beschrieben und sich selbst als engagierte Schriftsteller betrachtet. Vor allem gegen den „US-amerikanischen Imperialismus“ sah man sich in vorderster Front kämpfen.
Selbstverständlich läßt sich vielen lateinamerikanischen Schriftstellern das Prädikat „engagiert“ nicht antragen. Dennoch, und ohne ungerechtfertigt zu pauschalisieren, hat das Engagement in der lateinamerikanischen Literatur einen besonders guten Stand.
Seit etwa zehn Jahren bahnt sich jedoch ein Wandel an, ja ein radikaler Bruch ist zu bemerken: engagiert im herkömmlichen Sinne schreibt kaum noch jemand. Wohl kritisiert García Márquez in „Nachricht von einer Entführung“ kolumbianische Verhältnisse, wohl rechnet Vargas Llosa in „Tod in den Anden“ unmißverständlich mit der Guerilla Sendero Luminoso ab. Aber die Zeiten, in denen Schriftsteller für oder gegen politische Projekte oder Organisationen dezidiert Partei ergriffen hätten, und zwar mittels ihrer Literatur, diese Zeiten scheinen trotz mancher Ausnahme vorbei.
Zwei Vermutungen stellen wir der Debatte voran, wie dieser sich vollziehende Wandel erklärt werden könnte.
Erstens: Vielleicht ist mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten und – für Lateinamerika besonders einschneidend – mit der Wahlniederlage der FSLN in Nicaragua 1990 diejenige Seite einer bipolaren Realität weggefallen, die zum Engagement besonders ermuntert hatte. Die Totalopposition zum „Yankee-Imperialismus“ ist damit gleichfalls nicht mehr möglich. Wenn in einem Land wie Bolivien oder (beinahe) Guatemala frühere Militärdiktatoren als Präsidenten gewählt werden, kann vom unterdrückten Volk, auf dessen Seite sich Schriftsteller und Leser zu schlagen hätten, nicht mehr problemlos gesprochen werden.
Zweitens: Es geht wieder ein Gespenst um, diesmal ein postmodernes. Das 1978 proklamierte Ende der „Großen Erzählungen“ hat mittlerweile den Zeitgeist ergriffen. Utopien, egal welcher Couleur, sind out. Subjekte, ganz gleich ob als Held, Klasse oder Volk, spielen in diesem Denken keine Rolle mehr. Die Geschichte hat ihr Ende erreicht. Zudem verwischen die nationalen Grenzen, und überhaupt wird allenthalben von hybriden Identitäten geredet. Wofür sollte man sich als Schriftsteller, auch in Lateinamerika, noch engagieren?
Wenn die junge Starautorin Zoé Valdés Fidel Castro diskreditiert, dann ruft sie niemanden zum Widerstand gegen ihn auf, sondern sie plädiert für den Rückzug ins Private. Themen wie Liebe, Erotik, auch Esoterik haben in den Verlagsprogrammen Konjunktur, und Isabel Allende schreibt Kochbücher.
Täuscht dieser Eindruck? Ist die literarische Beschäftigung mit politischen Fragestellungen subtiler geworden? Oder gehen ihr Schriftsteller von heute tatsächlich aus dem Weg? Ist an die Stelle von Engagement ein Bemühen um – unparteiliche? objektive? – Analyse, um Aufklärung getreten?
Es soll also in der Debatte darum gehen, einen Prozeß zu beschreiben und Vorschläge zu seiner Deutung anzubieten, einen Prozeß, der sich in den letzten zehn Jahren vollzogen hat und der besonders für Lateinamerika einige Relevanz besitzen dürfte, eben wegen der vormals starken Prägung der lateinamerikanischen Literatur durch ihren engagierten Impetus.
Eine Art Zusatzfrage könnte sein, ob die Unterscheidung in engagierte und nichtengagierte Literatur überhaupt noch sinnvoll aufrechtzuerhalten ist. Denn die Grenze zwischen beiden ist mitunter außerordentlich schwer zu ziehen und dürfte, wenn sie zu einer Entweder-Oder-Entscheidung auffordert, die Komplexität vieler literarischer Werke stark unterschätzen.
In diesem Heft beginnen wir mit einem historischen Überblick, in dem auch Begriffe näher bestimmt werden, und einem Interview zum Thema mit dem mexikanischen Intellektuellen Carlos Monsiváis.

Wenn es regnet, tönt der Stein

Wenn man „Gedicht“ wörtlich nimmt, als etwas Verdichtetes, als die kunstvolle Auswahl und Anordnung von Wörtern, die ein Ding genauer treffen als die ungedichtete Wortmasse, dann sind Humberto Ak’abals Verse besonders „stark“ gedichtet:

Das Feuer
Das Feuer
kauernd
nimmt es dem Brennholz seine
Trauer
indem es ihm
sein brennendes Lied summt.

Und das Holz
hört zu
und verbrennt
bis es vergißt
daß es Baum war.

Dieses Gedicht ist schon eines der längeren in „Trommel aus Stein“, nicht selten finden sich nur vier, drei oder zwei Zeilen. Nach Auskunft des Dichters liegt das aber auch am K’iche’-Sprachgebrauch selbst: Was wichtig ist, sagt man kurz.
Ak’abal, der selbst auf K’iche’ schreibt und seine Gedichte dann ins Spanische übersetzt, wird von den Menschen seiner Sprache verstanden. Seine Verse werden weitererzählt, sie sind bekannt, werden verehrt. Sein Erfolg in Guatemala selbst wie auch die langsam wachsende internationale Anerkennung riefen Mißtrauische auf den Plan. Sie warfen Ak’abal vor, er sei „Trittbrettfahrer auf der Welle des Ethnokults“ (so berichtet das der Herausgeber und Übersetzer Erich Hackl in seinem Nachwort). Abgesehen davon, daß er tatsächlich einer indigenen Ethnie angehört, die bisher wenig zu Wort kam – und da ist sein Erfolg ja nur zu begrüßen –, ist an dem Vorwurf nichts dran. Den Gedichten ist alles Seichte und Idyllisierende fremd, und auch die Kehrseite des Ethnoklischees, das Jammern über die Misere, ist nicht anzutreffen. „Trommel aus Stein“ bietet reichlich Gelegenheit, sich davon zu überzeugen.
Ak’abal pflegt den Blick auf Dinge, die aus seiner Alltagserfahrung stammen. Liebe und Tod haben hier genauso ihren Platz wie Steine, Vögel und Menschen. Manche sind unscheinbar, manche groß und überwältigend. Wie selbstverständlich werden sie zusammengebracht, mit Gedanken und Gefühlen ausgestattet, so auch im Gedicht „Das Feuer“. Aber Ak’abal läßt den Dingen doch ihren eigenen Wert, er bezieht nicht alles und jedes auf sich selbst. Feuer und Holz als Allegorien auf zwei Menschen zu begreifen, oder auf Gott und Mensch, das liegt nahe – die Bibel ist voll von solchen Bildern – und ist doch nicht alles. Das „kauernde Feuer“ und das Brennholz mit seiner Trauer, sie sind zunächst einmal sie selbst. Erst danach bieten sie sich für Deutungen an.
Das wunderschön gemachte Buch hat einen Haken: es ist einsprachig. Völlig unverständlicherweise, da bei der Kürze der Gedichte nicht einmal mehr Seiten notwendig gewesen wären, um wenigstens die spanischen Texte unterzubringen, die ja von Ak’abal selbst stammen. An einem Beispiel wird das Dilemma deutlich. Das Gedicht „Steine“, veröffentlicht in der Zeitschrift „Das Gedicht“ 5/97 (vgl. LN 283) geht auf Spanisch so:
Piedras
No es que las piedras sean
mudas:
sólo guardan silencio.
Die Übersetzung:
Steine
Die Steine sind eigentlich nicht
stumm:
sie schweigen nur.
Während also die Steine im Deutschen nur „schweigen“, geht ihre Aktivität im Spanischen viel weiter. „Guardar silencio“ bedeutet zunächst „schweigen“, aber wörtlich „das Schweigen bewahren, behüten“ und so weiter, dies geht über die aktuelle Handlung weit hinaus. Das Schweigen der Steine sorgt dafür, daß es auch in Zukunft Schweigen geben kann. Möglicherweise sind durch die Einsprachigkeit des Buches eine ganze Reihe solcher Feinheiten verloren.
Das ist aber auch schon der einzige Makel. Das Zusammentreffen von sorgfältiger Übersetzung, thematisch und stilistisch repräsentativer Auswahl der Gedichte, lesenswertem Nachwort und der Premierenfrische des ganzen Unternehmens machen das Buch zu einem Muß.

Humberto Ak’abal: Trommel aus Stein. Gedichte, übersetzt und hg. von Erich Hackl, Unionsverlag, Zürich 1998.

Die Linie

In Tijuana will eigentlich keiner bleiben. Trotzdem wird die mexikanische Grenzstadt zu den USA immer größer. Die Busse aus dem Süden bringen jeden Tag Hunderte, deren Reisegepäck aus einer Plastiktüte oder einem kleinen Koffer besteht. Menschen aus Guatemala, El Salvador, Nicaragua, aber die meisten kommen aus den südlichen Bundesstaaten Mexikos. Und auch aus dem Norden, aus den USA, treffen jeden Tag Tausende ein, unfreiwillig allerdings. Sie sind die von der Grenzpolizei Abgeschobenen. Ihr Gepäck ist genauso ärmlich. Etwa 1,5 Millionen MexikanerInnen waren es laut offizieller Zahlen, die 1997 von den US-Behörden des Landes verwiesen wurden. Sie hatten geschafft, was die Ankömmlinge in Tijuana erst noch vor sich haben: Illegal die Grenze, die „Linie“, zu überqueren. Doch Tijuana ist für viele Ausgangspunkt und Endstation ihrer Reise ins Land der spiegelverglasten Wolkenkratzer, wo es Arbeit geben soll und wo man Geld verdienen kann, wenn man nur tüchtig genug ist. Wo allerdings auch die Migrationspolizei jeden verhaftet, der nicht um Erlaubnis gefragt hat, sich den „amerikanischen Traum“ zu erfüllen. In Tijuana, der Stadt der Gewalt, des Drogenhandels, der Billiglohnfabriken und unzähligen Bordelle, will keiner bleiben, doch die Armenviertel wachsen in alle Richtungen.
Ramón ist einer, der hängen geblieben ist. „Ich warte auf Arbeit“, sagt er. Mit einem Dutzend anderer junger Männer steht er bei Sonnenaufgang an einer Straßenecke in einem der Vororte. „Hin und wieder kommt hier ein Unternehmer vorbei und nimmt uns mit in eine Fabrik oder auf eine Baustelle“, erklärt er. Wie die meisten möchte er Geld verdienen, um einen Schlepper, einen „Coyoten“, bezahlen zu können. „Sie wollen von jedem 1.400 Dollar, damit sie uns rüberbringen“, sagt er. Die anderen nicken stumm. Auf eigene Faust ist es fast unmöglich geworden, den Sprung auf die andere Seite zu schaffen. Die Grenzanlagen haben sich nördlich von Tijuana zu einer unüberwindbaren Barriere ausgewachsen: Mauern, Polizeipatrouillen, Infrarotgeräte, versteckte Sensoren im Boden, Flutlichtanlagen und Helikoptertiefflüge.
Der Drang nach Norden
„Es gibt eine gemeinsame Verantwortung der Regierungen der USA und Mexikos für diese Situation“, sagt Fidel Fuentes López. Er ist Mitarbeiter eines Menschenrechtsbüros in Tijuana und kennt die Probleme der Migranten wie kaum ein anderer: „Die Kluft zwischen den armen und reichen Staaten hat sich in den letzten zwanzig Jahren drastisch vergrößert. An dieser Grenze schweben wir über diesem Abgrund“, beginnt er zu erklären. „Die verschiedenen Handels- und Wirtschaftsverträge zwischen den beiden Ländern, zuletzt das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA, haben über die Jahre hinweg immer den mächtigen Wirtschaftsinteressen gedient und nicht der Lösung der inneren Probleme Mexikos. Daher konnte die Regierung nie ausreichend Arbeitsplätze im Land schaffen.“ Zudem orientierten sich die verschiedenen mexikanischen Regierungen seit den 40er Jahren an den Entwicklungsmodellen der westlichen Industrienationen, meint er. „Sie unterstützten Großinvestoren beim Bau von Straßen und sonstiger Infrastruktur, während sie gleichzeitig den Kleinbauern keine günstigen Kredite mehr gewährten und die garantierten Mindestpreise aufhoben. Die Planung geht nur für die Industrieländer und ihre Firmen auf, die hohe Gewinne verzeichneten. In Mexiko ist eine massive Abwanderung aus den ländlichen Regionen in die Städte und nach Norden in die USA die Folge.“
Mexiko-Stadt liegt im Süden des Landes, dreitausend Kilometer von der Grenze zu den USA entfernt. In den vierziger Jahren war es noch eine eher beschauliche, fast dörfliche Hauptstadt. Bilder in den Museen zeugen von dieser längst vergangenen Zeit, als noch Pferdekutschen die Prachtboulevards entlang schaukelten. Heute wälzen sich nicht enden wollende, qualmende Autoschlangen über ein verknotetes Stadtautobahnnetz. Hinter den Vorstädten liegen andere Vorstädte und dahinter die unüberschaubaren Armenviertel. In Mexiko-Stadt lebten vor 60 Jahren noch knapp eine Million Menschen, heute überschreitet die Einwohnerzahl des größten Ballungsraumes der Welt die 22-Millionen-Grenze. Die Regierung hat alles in dieser Stadt konzentriert: Industrie, Bürokratie, Universitäten. Und so hat sich die Metropole auch in ein Auffangbecken für die verarmten Kleinbauern aus den südlichen Bundesstaaten verwandelt. Nur hier hatte man Aussicht auf Arbeit. Doch auch das hat sich längst verändert. Mit der Wirtschaftskrise seit Beginn der 80er Jahre verwandelte sich die aufstrebende Hauptstadt in ein selbstzerfleischendes Monster. Die „Postapokalypse“, wie Carlos Monsívais, der literarische Hauptstadtchronist meint: Unterbeschäftigung, Armut, Umweltzerstörung, Gewalt. Heute treibt es viele aus der Hauptstadt fort nach Norden, in die USA. Doch noch immer kommen jeden Tag die Campesinos aus den Dörfern. Man sieht die Familien im unendlichen Stau an Ampelanlagen, wo sie die Windschutzscheiben der Autos putzen oder an einer Ecke Akkordeon spielen. Aber auch für sie ist Mexiko-Stadt zu einer Durchgangsstation geworden.

Willkür gegen MigrantInnen

Florencio Arteaga Rivas ist Kleinunternehmer. Er fährt mit seinem Bus die Strecke Mexiko-Stadt – Tijuana. Drei Tage hin, ein Tag Pause, drei Tage zurück. Rivas kennt aus jahrelanger Erfahrung die Schicksale vieler Migranten nur zu gut. „Sie verkaufen ihr bißchen Land, oder verpfänden es, um sich einen Fahrschein von hier nach Tijuana kaufen zu können. Aber es gibt viele Probleme auf dem Weg. Der Hauptfeind der armen Leute ist die Polizei, weil sie Straßensperren aufrichtet, entweder die Bundesgerichtspolizei, die Straßenpolizei oder die Migrationspolizei. Die Polizei holt die Ärmsten, die lediglich etwas zu essen und Geld für die Reise dabei haben, aus dem Bus und nimmt ihnen von ihrem Geld einen Teil ab. Sie lassen beispielsweise fünf, sechs Personen aussteigen, bringen sie in einen Raum und fragen sie ‘Wo fahrt Ihr hin?’ Wenn sie den Polizisten nicht antworten oder keine Ausweispapiere dabei haben, nehmen sie ihnen zehn bis zwanzig Dollar ab.“ Arteaga Rivas ist sichtlich erbost und berichtet weiter: „Die Polizisten mißbrauchen manchmal auch die Frauen, ich habe es mit eigenen Augen gesehen.“
Auch die Menschenrechtsakademie Baja California, so ihr Mitarbeiter Fidel Fuentes López in Tijuana, „hat zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen MigrantInnen von der mexikanischen Polizei verhaftet wurden, weil sie keine Ausweispapiere bei sich trugen.“ Er holt die mexikanische Verfassung aus seiner Tasche und liest Artikel elf vor, in dem geschrieben steht, daß kein Mexikaner Ausweispapiere benötige, um sich innerhalb Mexikos zu bewegen: „Die Migranten werden lediglich wegen ihres Aussehens, ihrer Armut, festgenommen“, faßt er zusammen. Der Menschenrechtsaktivist führt in Tijuana regelmäßig Informationsveranstaltungen im Migrantenhaus des Scalabriner-Orden durch und klärt die Migranten, die dort für zwei Wochen Unterschlupf und Verpflegung bekommen können, über ihre Rechte auf. Die Informationsabende sind gut besucht, im Haus kommen in Hochzeiten bis zu 170 Migranten zusammen, mehr Betten gibt es nicht. Pater Gianni Fanzolato, der aus Italien stammende Leiter der Notunterkunft, erzählt: „Der Migrant kommt hier mit psychischen Problemen an, da ihm auf dem Weg hierher alles mögliche passiert ist, er wurde ausgeraubt, überfallen. Daher fühlt er sich niedergeschlagen und denkt ‘was ist mein Leben wert?’. Endlich in Tijuana denkt er ‘ich bin am Tor zum gelobten Land angekommen’, also in Kalifornien. Aber was findet er in Tijuana vor? Eine Stadt mit vielen Problemen, eine schreckliche Mauer und die Migra, die Migrationspolizei, die grausam ist.“
Nebenan befindet sich ein ähnliches Haus für Frauen und Kinder, „Wir sind aus dem Süden gekommen und wollen nach Los Angeles gehen. In unserem Dorf haben wir weder genügend Arbeit, noch ausreichendes Einkommen, um davon leben zu können. Deshalb sind wir hier, um Geld zu sparen, einen Coyoten, einen Schlepper, zu bezahlen, und nach drüben zu gelangen. Die Schlepper verlangen 700 bis 1.500 Dollar. Manchmal können sie uns bis ins Landesinnere bringen, manchmal nur bis über die Grenze“, erklärt Isabel, die dort vorübergehend untergekommen ist, ihre Situation. Sie hat mit der Notunterkunft Glück im Unglück gehabt, ihr Mann hingegen muß draußen schlafen, wie viele der täglich Neuankommenden. Sie verbringen die Nacht am Kanal, unter freiem Himmel. Im Morgengrauen machen sie sich dann auf die Suche nach Arbeit. An einer Straßenecke in einem Außenstadtteil warten einige von ihnen auf Kleinlastwagen, die hin und wieder vorbeikommen, um ein paar Leute aufzuladen und zu einer Arbeitsstelle zu fahren.
„Wir dachten, es wäre einfach, rüber zu kommen. Aber nein, wir sehen, daß es sehr schwer ist, auf die andere Seite zu gelangen“, sagt einer. Dann kommt ein Lastwagen die Straße herunter und in wenigen Sekunden umringen ihn die Arbeitsuchenden. Sie recken den Finger, rufen, und rangeln sich nach vorne an einen Platz an der Pritsche des LKW. Ein hemdsärmeliger Mann zeigt auf eine Handvoll von ihnen, die aufsteigen dürfen, dann fährt er davon. Die anderen stehen wieder an der Ecke. „Wir hatten die Grenze schon überquert. Wir waren in Montana, in der Nähe von Kanada, dort hat uns die Migrationspolizei aufgegriffen. Wir warten hier bis der Winter kommt, um wieder auf die andere Seite zu kommen“, erklären zwei der Übriggebliebenen ihr Vorhaben. „Hier, die zwei Hemden sind das einzige, was ich besitze“, sagt einer und deutet auf eine Plastiktüte. Dann schiebt sich Martín in den Vordergrund: „Ich habe in den Vereinigten Staaten einen offenen Fall vor Gericht. Ich habe eine Tochter im Alter von zwei Jahren und sieben Monaten, sie ist Amerikanerin, ihr Mutter ist Amerikanerin. Mich hat die Polizei festgenommen und dann der Migrationspolizei übergeben, die mich ausgewiesen hat“, beginnt er seine Geschichte zu erzählen. “Die Regierung hat mich aufgegriffen, weil ich keine Papiere besitze. Sie packen mich, dann nehmen sie mir meine Tochter, mein Baby, weg, geben mir einen Tritt und schmeißen mich aus dem Land“, erzählt er verbittert. Alle hier Versammelten haben ein ähnliches Schicksal. Entweder kommen sie aus dem Süden und brauchen Geld, um über die Grenze zu kommen. Oder sie waren bereits auf der anderen Seite, sind als illegale Einwanderer deportiert worden, nur um jetzt wieder zu versuchen, zurückzukommen.

Der neue „Eiserne Vorhang“

„In den letzten Jahren hat die Zahl der Deportierten drastisch zugenommen,“ berichtet Pater Gianni Fanzolato. Die Ursache liegt in der neuen US-amerikanischen Migrationspolitik. „Die USA haben einen Plan, gemäß dem sie innerhalb von zwei Jahren mehr als fünf Millionen Mexikaner deportieren wollen und innerhalb der nächsten zehn Jahre weitere fünf Millionen. In den USA leben insgesamt 14 Millionen Mexikaner, und nach dem neuen Migrationsgesetz würden sie gerne alle Mexikaner abschieben. Das neue Migrationsgesetz ist das unmenschlichste und rassistischste aller Migrationsgesetze, die ich auf der ganzen Welt kenne,“ stellt der Pater fest.
An der Grenze in Tijuana ist tatsächlich kein Durchkommen mehr möglich. An einem Metallzaun enden die ärmlichen Hütten aus Wellblech, Plastik und Holz. Die Mittagsonne knallt auf einen kahlen, staubigen Hügel, der dahinter liegt. Flutlichtanlagen sind auf Metalltürmen angebracht, in der Nacht ist der Grenzstreifen hell erleuchtet. Unter einer Plane, die Schatten spenden soll, steht ein Fahrzeug der Border Patrol, der US-Grenzpolizei. Direkt hinter dem Metallwall zieht sich ein steiniger Feldweg entlang, auf dem andere Jeeps Patrouille fahren. Hin und wieder knattert ein Hubschrauber im Tiefflug die „Linie“, wie hier die Grenze genannt wird, entlang. Erst viele Meilen weiter im Landesinneren verliert sich die undurchdringbare Metallmauer, die wie eine endlose stählerne Schlange im Sand liegt, im Gebirge.
Noch ist die mehr als dreitausend Kilometer lange Grenze zwischen Mexiko und den USA nicht überall militärisch befestigt wie in Tijuana. Doch die Aufrüstung gegen die Armutsflüchtlinge ist im vollen Gang. 10.000 Soldaten sollen an die Grenze verlegt werden, Radargeräte werden installiert. Die Nationalgarde und verschiedene Sondereinheiten, wie das INS (Immigration and Naturalization Service) und die Border Patrol wurden bereits verstärkt. An verschiedenen Stellen in Tijuana kann man beobachten, wie hinter der ersten zwei weitere Mauern aufgebaut werden.
Ein illegaler Grenzübertritt ist riskant. Nicht nur die von Menschen geschaffenen Barrieren müssen überquert werden, er ist auch ein Kampf gegen die unwirtliche Natur entlang der Grenze: Die unerträgliche Hitze der Wüste im Sommer, die Canyons, die sich in der Regenzeit innerhalb von Minuten in reißende Ströme verwandeln und die eisige Kälte im Winter mit Temperaturen unter dem Gefrierpunkt in den Bergen, die nur wenige Kilometer östlich von Tijuana liegen. Laut einer gemeinsamen Studie der US-amerikanischen Menschenrechtsorganisation American Friends Service Committee aus San Diego und der Universität Houston sind allein zwischen 1993 und 1996 1.185 Menschen an der Grenze umgekommen. Das American Friends Service Committee dokumentiert jährlich Hunderte von Übergriffen, Mißhandlungen und Vergewaltigungen seitens der US-Grenzpatrouille und Polizei.
An der Ecke der Arbeitsuchenden in Tijuana ist es nicht schwer, Zeugen für die Vorwürfe der Menschenrechtsgruppen zu finden. Immer wieder erzählen die Männer von den Prügeln, die sie in den USA einstecken mußten, bevor sie deportiert wurden. Doch auch auf der mexikanischen Seite werden sie verfolgt. „Warte noch ein paar Minuten, dann kommt hier die Polizei vorbei und vertreibt uns“, sagt einer der Arbeitsuchenden. Tatsächlich fährt pünktlich um acht Uhr ein Fahrzeug der mexikanischen Polizei vor und kündigt per Lautsprecher an, daß alle verhaftet werden, die sich nicht sofort entfernen. „Manchmal sperren sie uns für 24 oder 36 Stunden ein, ohne Grund, nur weil wir nach Arbeit suchen“, sagt der Mann und setzt sich wieder an den Randstein. Auch die anderen bleiben, denn wenn sie nicht in der nächsten halben Stunde Arbeit finden bis die Polizei wiederkommt, wartet auf sie ein verlorener Tag, ohne Geld in der Tasche, ohne Essen, ohne Unterkunft in der Nacht.

Sie versuchen es an gefährlicheren Stellen

Herr Solís, Sie arbeiten in einem Menschenrechtsprojekt in Reynosa, einer Grenzstadt zu den USA. Mit welchen Problemen sind Sie hauptsächlich konfrontiert?

Die Hauptprobleme an der Grenze haben mit Menschenrechten zu tun. Ein Problem ist die Migration. Besonders die Grenze im Bundesstaat Tamaulipas ist eine Region großer Migration von Zentralamerikanern und Mexikanern nach den USA. Über Belize kommen auch Menschen aus Ländern wie Pakistan oder Indien. Sie zahlen Tausende Dollar, damit sie in die USA gelangen. Dies zieht Gewalt an der Grenze nach sich. In den letzten sieben Jahren sind auf einem Grenzabschnitt von nur 300 km 852 Menschen beim Versuch, die Grenze über den Fluß Rio Grande zu überqueren, umgekommen.
Dann gibt es den Drogenhandel. Er provoziert innerhalb der Polizeikräfte Korruption und begünstigt Straflosigkeit. Die Drogenhändler, die der Öffentlichkeit allgemein bekannt sind, werden durch die staatlichen Autoritäten in keiner Weise belangt. Dies hat eine große Anzahl von Verbrechen zur Folge, die vom Drogenhandel ausgehen, bei denen die Verantwortlichen aber nie verhaftet werden.
Ein weiteres Problem stellt der illegale Waffenhandel von den USA nach Mexiko dar. Dieser bedingt ebenfalls Repressionen auf mexikanischer Seite gegen die Bevölkerung im allgemeinen, da Straßenkontrollposten des Militärs aufgebaut werden und das Militär in den Grenzstädten in der Funktion der zivilen Polizei Kontrollen durchführt.
Auch die Verschmutzung der Umwelt ist ein Problem, mit dem wir konfrontiert sind. Die Nordgrenze ist ursprünglich keine industrialisierte Region. Als die Maquiladoras in den 60er Jahren entstanden sind, war ihre Funktion – laut damaligen Angaben – Mexikanern vorübergehend Arbeit zu verschaffen, die aus den USA ausgewiesen wurden, als das Bracero-Programm auslief. Allerdings wurden die Maquiladoras gebaut, um zu bleiben. Sie haben Probleme verursacht, die es vorher nicht gab, wie beispielsweise die Verschmutzung des Wassers. Sie haben außerdem das rasante Wachstum der Grenzstädte verursacht, weil viele Migranten an die Grenze kommen, um in die USA einzureisen. Aber nachdem ihre Versuche, die Grenze zu überqueren, gescheitert sind, beginnen viele von ihnen in den Maquiladoras zu arbeiten. Sie erhalten einen Lohn, der drei Dollar täglich nicht überschreitet. Diese Menschen bilden die Bewohner der Elendsviertel an der Grenze, in denen es an allen fundamentalen Versorgungsleistungen wie Trinkwasser, Abwasserkanäle, Schulen, Transportmittel, befestigte Straßen und Gesundheitsversorgung fehlt.

Um wieviele Menschen handelt es sich, die jedes Jahr die Grenze überqueren wollen?

Wir beobachten besonders einen Grenzabschnitt von etwa 200 km bei Matamoros in Tamaulipas. Dort gibt die US-Grenzpolizei an, daß sie letztes Jahr 201.000 Mexikaner deportiert hat. Nur auf diesem kurzen Abschnitt wohlgemerkt. Viele von ihnen kommen aus dem Süden oder dem Zentrum Mexikos. Dazu kommen etwa 5000 Zentralamerikaner, die meisten aus El Salvador, aber auch Menschen aus Honduras, Guatemala und Nicaragua.

Was sind die Hauptgründe der Migration?

Das hängt mit der schlechten sozialen Lage in Mexiko zusammen. Die wirtschaftliche Liberalisierung und die Integration Mexikos in den nordamerikanischen Markt haben dazu geführt, daß eine größere Menge ausländischer Produkte nach Mexiko importiert werden. Viele mexikanische Unternehmen machen Pleite, weil sie dem Konkurrenzdruck nicht standhalten können. Das erzeugt Arbeitslosigkeit. Andererseits sind die Löhne geschrumpft und völlig unzureichend, um die grundlegenden Bedürfnisse einer Familie zu befriedigen.
Aber außerdem ist die Migration von Mexikanern nach den USA auch ein historischer Prozeß, der bis in die Zeit zurückreicht, als Mexiko die Territorien verloren hat, die heute den Südwesten der USA bilden. Migration hat seither existiert und ist nichts Neues. Oftmals handelt es sich lediglich um eine zeitlich begrenzte Migration, und die Leute kehren nach einigen Monaten oder Jahren wieder zurück.

Wie werden die Migranten aus den USA vertrieben?

1993 verfügte die US-Grenzpolizei am Grenzabschnitt zu Tamaulipas etwas über 3200 Beamte, jetzt sind es 6300. Das zeigt, wie die MigrantInnen kriminalisert werden. Die MigrantInnen werden als Kriminelle behandelt, was sie zu 99 Prozent nicht sind.
Seit April 1997 ist ein neues Gesetz in Kraft, das die Migration nach den USA weiter erschwert. Menschen ohne Dokumente werden stärker verfolgt. In Matamoros hat die Grenzpolizei im August 1997 die Operation Rio Grande begonnen. Sie verwenden jetzt Methoden wie in Tijuana. Sie mußten lediglich keine Mauer bauen, weil es hier den Fluß gibt.
Aber auf der US-Seite stehen jetzt alle hundert Meter Patrouillen der Grenzpolizei. 120 neue Polizeikräfte werden auf einer Strecke von 10–20 km eingesetzt. Sie durchkämmen die Grenzstadt und der Grenzstreifen wird mit Flutlicht ausgeleuchtet, damit MigrantInnen erkannt werden können. Diese Maßnahmen haben zu einer Abnahme der illegalen Grenzübertritte auf dieser Strecke geführt, aber auf lange Sicht werden sie dazu führen, daß mehr Menschen beim Grenzübertritt umkommen, weil sie ihn an immer gefährlicheren Stellen versuchen.

Blutige Weihnachten in Chiapas

Plötzlich kommt ein Lastwagen mit etwa 40 Männern, begleitet von einem Polizeifahrzeug, entgegen. Die Überlebenden aus Acteal erkennen mehr als ein Dutzend der Mörder ihrer Angehörigen wieder. Sie blockieren die Straße und versuchen, die Männer vom Lastwagen zu zerren. Um einen Aufruhr zu verhindern, greift die Seguridad Publica ein und rettet die Verdächtigen vor der aufgebrachten Menge ins Polizeifahrzeug.
Der Trauerzug setzt sich wieder in Bewegung. Keine zwanzig Meter von dem Ort, an dem die meisten der 45 Toten den Schüssen der Paramilitärs zum Opfer fielen, schaufeln Dutzende von Männern seit dem frühen Morgen zwei große Massengräber. Dort werden auch die Särge aufgereiht. Leichengeruch liegt in der Luft.
Die mexikanische Tageszeitung La Jornada bezeichnet den Angriff auf das Dorf Acteal im Bezirk Chenalho im Hochland von Chiapas als das größte Massaker an Zivilisten seit 1968. Der etwa 70 Kilometer nordöstlich von San Cristobal de las Casas gelegene Bezirk hat in den letzten Monaten häufig für Schlagzeilen gesorgt: Chenalho, wo 30 000 Menschen verteilt auf 61 Gemeinden leben, ist seit August 1995 gespalten. Einerseits besteht die alte Verwaltung der Regierungspartei PRI weiter, andererseits eine autonome Gemeinde, die sich als zivile Unterstützungsbasis der EZLN versteht. Die von der PRI dominierte Verwaltung beruft sich auf die Wahlen vom Oktober 1995, zu deren Boykott die EZLN aufgerufen hatte, und bei denen die Wahlbeteiligung unter 25 Prozent lag. Beide Bezirksverwaltungen agieren seit nunmehr zweieinhalb Jahren parallel, wobei die autonome Verwaltung mit Sitz in Polho jegliche staatliche Hilfe ablehnt. Hinzu kommt noch eine dritte Gruppe im Bezirk Chenalho, die sich 1993 aus Protest gegen behördliche Willkür gegründet hat, die mit der autonomen Gemeinde zusammenarbeitet, sich aber nicht der EZLN zuordnen möchte und gegen jede Gewalt ausspricht. Sie nennt sich Sociedad civil Las Abejas. Ausnahmslos dieser Gruppe gehörten die Opfer von Acteal an.
Mit der Konstituierung der autonomen Gemeinde begann auch der Terror: Nach Informationen des Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de las Casas in San Cristóbal zwingen die PRI-Gemeindevorstände die ansässigen Familien, Schutzgelder zu bezahlen, von denen Waffen und Munition gekauft werden. In zahlreichen Gemeinden wurden BewohnerInnen, die derartige Maßnahmen verweigerten, vertrieben. Anfangs pflegten die Aggressoren, selbst die verlassenen Hütten zu beziehen und sich als reine PRI-Gemeinden neu zu konstituieren. Doch in den letzten Monaten eskalierte die Gewalt: Auf Plünderungen folgten immer häufiger Brandstiftungen und Morde. Bereits vor dem Massaker von Acteal hatte der Konflikt mindestens 29 Tote gefordert und es befanden sich im Bezirk Chenalho sechs- bis siebentausend Menschen auf der Flucht. Sie leben in notdürftig errichteten Flüchtlingslagern, unter Bananenblättern oder Plastikplanen, ohne Latrinen, gesundheitliche Versorgung und ausreichende Nahrung. Manche sind seit Monaten da, andere erst seit ein paar Tagen. Viele sind aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit und der nächtlichen Temperaturen um den Gefrierpunkt erkrankt. Mehrere Kleinkinder sind in den letzten Tagen gestorben.

Paramilitärs schießen in Gottesdienst

Die autonome Gemeinde Polho verteilt die Hilfsgüter, die zuweilen mit LKW aus der Hauptstadt kommen. Einige der Lager sind jedoch nur zu Fuß auf langen Märschen durch den Schlamm zu erreichen. Polho, wo immer nur einige hundert Menschen lebten, hat mittlerweile etwa 5.000 Flüchtlinge zu versorgen.
Dieses Dorf, gleich neben der Gemeinde Acteal, war es, das die PRI- Anhänger gemeinsam mit Angehörigen des Partido Cardenista, einer von der PRI aufgebauten Scheinopposition, am 22. Dezember angegriffen haben. Gegen elf Uhr morgens – gerade wurde in der kleinen Holzkapelle Kleidung vom Roten Kreuz verteilt, während einige der katholischen Abejas-Mitglieder für den Frieden beteten – fielen die ersten Schüsse. Auf die Kapelle, in der und um die sich rund 350 Menschen drängten, ging ein Kugelhagel von zwei Seiten nieder.
Auch als der Trauerzug aus Polho drei Tage später in Acteal zur Beerdigung eintrifft, sind die Spuren noch gut zu erkennen: Berge von Kleidung in der panikartig verlassenen Kapelle, Einschußlöcher in den Holzplanken und Baumstämmen. Nur die Blutspuren an den Bäumen haben Militär und Polizei, die den Ort drei Tage lang besetzt und abgeriegelt hielten, zum Teil mit Machetenhieben abgeschält. Doch in einer Mulde am Hang, in der einige vor den Schüssen Zuflucht gesucht hatten, liegen noch blutgetränkte Kleidung und Tüten mit hastig zusammengerafften Sachen.
Hier, so erzählt ein Mann, habe er in der Nacht vom 22. auf den 23. Dezember gut dreißig Tote gefunden, die kreuz und quer übereinander lagen. “Ich stand oben an der Böschung vor diesem schrecklichen Bild und habe heruntergerufen, ob noch jemand lebt. Eine Frau hatte sich auf ein kleines Mädchen geworfen und es so vor den Kugeln geschützt, und zwei verletzte Frauen habe ich noch aus dem Leichenberg gezogen. Alle anderen waren tot.” Die meisten Opfer hatten Einschußlöcher im Genick und im Rücken. Sie wurden aus etwa vier Meter Abstand, von oben, in der Mulde erschossen, in der sie Schutz gesucht hatten. Direkt an der Kante fand man die Patronenhülsen. Neun der Opfer waren Männer, alle anderen Frauen und Kinder, einschließlich eines Neugeborenen.

Polizei schaut weg

Bereits um 12 Uhr jenes 22. Dezember, also noch während des Massakers, haben italienische Fotografen aus der Ferne einen Polizeitransporter in Acteal fotografiert. Doch der örtliche Polizeichef, Comandante Jesús Rivas, will mit seinen Leuten erst vier Stunden später ins Dorf gekommen sein – zu dem Zeitpunkt also, an dem nach Aussage der Zeugen aus Polho die Detonationen geendet haben. Alles sei ruhig gewesen, so Rivas, die Menschen hätten sich bei seinem Eintreffen in den Häusern verschanzt und geweigert, mit ihm zu sprechen. Und obwohl die Kaserne der Polizei zwischen Polho – wo jeder die Schüsse gehört hat – und Acteal liegt, will die Polizei nichts derartiges vernommen haben. Mittlerweile ist allerdings bekannt, daß die Polizei nur zweihundert Meter von der kleinen Kirche entfernt stand und sich darauf beschränkte, ein paar Mal in die Luft zu schießen. Als dies die Angreifer mit roten Mützen und Halstüchern nicht abschreckte, überließen sie Acteal den Paramilitärs, der Mascara Roja. Diese benutzten Gewehre und Munition, die nicht frei verkäuflich und der Armee vorbehalten sind. Nachdem sie etwa eine Stunde lang auf ihre Opfer eingeschossen hatten, verbrachten sie weitere vier Stunden damit, sie mit Macheten zu verstümmeln. Einigen wurden Hände und Füsse abgehackt, schwangeren Frauen die Bäuche aufgeschlitzt, die Embryos herausgerissen und vielen Kindern die Köpfe aufgeschlagen.

PRI-Bürgermeister als Drahtzieher

Über eine Woche nach dem Überfall auf Acteal sind 39 Angreifer inhaftiert, darunter auch Jacinto Arias Cruz, der Bürgermeister des Bezirks Chenalhó. Er hatte am ersten Tag noch öffentlich geleugnet, daß es in Acteal Tote oder Verletzte gegeben habe. Doch die Anschuldigungen gegen den PRI-Bürgermeister sind eindeutig. Er soll Drahtzieher des Massakers und der seit Monaten anhaltenden Vertreibungen und Morde im Chenalhó sein. Arias Cruz, der über hervorragende Verbindungen zu der Regierung des Bundesstaates Chiapas verfügt, wird bisher lediglich “Anstiftung” zu dem Angriff vorgeworfen.
Inmitten einer Gruppe von Journalisten und Schaulustigen steht auf dem Hauptweg des Dorfes Polho “Luciano”, der Repräsentant der autonomen Zapatistengemeinde und örtliche Verbindungsmann zur EZLN. Sein Gesicht spärlich mit einem Halstuch verdeckt, übersetzt er für die Presse immer neue Berichte von Augenzeugen aus dem Tzotzil. Unter Tränen erzählt Maria Perez Perez, wie Bürgermeister Arias Cruz am Samstag vor dem Massaker eine Versammlung einberufen habe, an der die Vorstände von fünf PRI-Gemeinden des Bezirks teilgenommen hätten. Dort habe er die Gemeindevorstände angewiesen, jeweils 25 bewaffnete Männer für den Überfall auf Acteal zur Verfügung zu stellen. Der Koordinator der Paramilitärs sei Tomas Mendez, ein ehemaliger Militär aus der Gemeinde Los Chorros, die auch als Zentrale der Paramilitärs bekannt ist. Von dem geplanten Angriff erfuhr Maria Perez Perez noch am Samstag von ihrem Ehemann, der Mitglied des Rates von Chenalhó ist. Die Tzotzil-Indianerin wollte daraufhin ihre Familie vor dem bevorstehenden Angriff warnen. Doch auf dem Weg wurde sie von der Polizei von Chenalhó verhaftet und verbrachte vier Tage im Gefängnis, wo sie von der Polizei geschlagen wurde und nichts zu Essen bekam.

“Mein Mann ist ein Mörder”

Juana Vasquez Perez, eine kaum zwanzigjährige Tzotzil-Indianerin aus Acteal, denunziert ihren eigenen Ehemann als Mörder und Paramilitär. Sie hält ein Foto hoch, wahrscheinlich ihr Hochzeitsfoto, von dem sie ihr eigenes Konterfei abgerissen hat. Zu sehen ist ein junger Mann. “Das ist er, Armando Vasquez Luna aus Quextic, er ist ein Mörder!” ruft sie erregt. Sie hat bei dem Massaker ihre Mutter und zwei Schwestern verloren. Nun ist sie zu ihrem Bruder nach Polho geflohen. Ihr Mann sei bei der PRI, berichtet sie, während der Großteil ihrer Familie zu Las Abejas und ihr Bruder in Polho zu der zivilien Unterstützungsbasis der EZLN gehöre. Da die Angreifer aus den Nachbargemeinden rekrutiert wurden, kann “Luciano” schon zwei Tage später eine komplette Namensliste aller 140 Männer verlesen, die an dem Massaker beteiligt waren.
In den Tagen nach dem Massaker von Acteal kamen Gerüchte auf, daß bewaffnete Gruppen 3.500 Flüchtlinge in einem weit abgelegenem Lager namens X’Cumumal umzingeln wollen. Eine parlamentarische Delegation der oppositionellen PRD aus Mexiko-Stadt hat in der Zwischenzeit gemeinsam mit dem Roten Kreuz und unter Militärbegleitung das Lager erreicht. Auf dem Weg kann die PRD-Delegation noch 400 weitere Flüchtende “befreien”, die in zwei verschiedenen PRI-Gemeinden seit Wochen gefangengehalten und zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden. Doch die Situation in vielen Gemeinden ist nach wie vor unklar: Das Militär hat viele Straßen gesperrt, und auf den einsamen Bergpfaden fühlen sich mittlerweile nur noch die Paramilitärs sicher.

KASTEN:
Das geplante Massaker

Der Schock nach dem Massaker vom 22. Dezember sitzt tief. Das Signal, das von ihm ausgeht, läßt keine Zweifel: Die mexikanische Regierung und die lokal herrschenden Familien in Chiapas lassen nichts unversucht, den Aufstand der indianischen Kleinbauern um jeden Preis zu unterdrücken. Der Dialog hat keine Chance mehr, wenn sich bei den Mächtigen nicht doch noch die Bereitschaft einstellt, auf langangestammte Privilegien zu verzichten. Doch damit ist nicht zu rechnen.
Die Reaktion der Regierung war zwar einerseits die Absetzung des Gouverneurs von Chiapas und des Innenministers sowie die Inhaftierung von am Massaker beteiligten Paramilitärs. Aber gleichzeitig verstärkt Präsident Zedillo die Truppen der Bundesarmee in Chiapas weiter und versucht, das Blutbad als einen “Konflikt zwischen Dorfgemeinschaften” hinzustellen, mit dem die Regierung nichts zu tun hätte. Dabei kam die Order für das Massaker zweifelsfrei und bewiesenermaßen von ganz oben. Seit dem 1. Januar patroullieren Militärs in aggressiver Weise durch die Dorfgemeinschaften der EZLN, und am 12. Januar, während in ganz Mexiko über 200.000 Menschen gegen das Massaker protestierten, feuerten Angehörige einer Polizeispezialeinheit in eine Demonstration in Ocosingo, töteten eine junge Frau und verletzen ihr Kleinkind sowie einen Mann schwer.
Die bestialische Art und Weise, wie die völlig wehrlosen 45 Frauen, Kinder und Männer in Acteal in einem stundenlangen Blutbad ermordet wurden, schockiert, doch das Massaker kommt alles andere als überraschend. Zwischen dem 14. Februar 1995 und dem 7. Januar 1998, der Regierungszeit des jetzt zurückgetretenen Gouverneurs Julio César Ruíz Ferro, sind in Chiapas über 1500 Indígenas der Strategie des “Krieges der niedrigen Intensität” zum Opfer gefallen. 800 von ihnen wurden von paramilitärischen Gruppen erschossen. In den Lateinamerika Nachrichten kommentierten wir die Zuspitzung der Situation kontinuierlich. (vgl. zuletzt LN 282 und 283)
Die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN), mit der der überwiegende Teil der Opfer der Gewalt der letzten Jahre sympathisierte, hat auf die doppelgesichte Eskalationsstrategie der Regierung mit fast unbegreiflicher Geduld und mit konstanten Versuchen reagiert, einen friedlichen und würdevollen Weg aus der Situation zu finden. Doch wie lange kann sie diesen Weg noch weitergehen, ohne ihre eigene Existenz auf das Spiel zu setzen? Und was kommt dann?
Einen eskalierenden Krieg kann jetzt nur noch die mexikanische Oppostionsbewegung und die internationale Öffentlichkeit aufhalten. Eine Entwicklung, wie wir sie aus dem Guatemala der 80er kennen, kann nur verhindert werden, wenn die mexikanische Regierung gezwungen wird, die Bedingungen für einen gleichberechtigten Dialog mit der EZLN zu schaffen. Das bedeutet konkret, daß die Vereinbarungen von San Andrés vom Februar 1996 über “Indianische Rechte und Kultur” endlich als Gesetzesvorlagen den Parlamenten zugeführt werden müssen. Gleichzeitig müssen die paramilitärischen Organisationen (Paz y Justicia, Los Chinchulines, Máscara Roja, Movimiento Indígena Revolucionario Antizapatista, Alianza San Bartolomé de los Llanos, Los Degolladores, Fuerzas Armadas del Pueblo und die Brigada Tomás Munzer) entwaffnet und aufgelöst werden sowie die Bundesarmee aus den Konfliktgebieten zurückgezogen werden.
Boris Kanzleiter

“Der Krieg wird in den höchsten Sphären der Regierung geplant”

Wie kann der mexikanische Innenminister Emilio Chauyffet (mittlerweile zurückgetreten, d. Red.) weiterhin darauf beharren, es handele sich bei dem Massaker von Acteal um das Ergebnis von “interkommunitären” Konflikten. Schließlich besteht kaum mehr ein Zweifel daran, daß Mitglieder der Regierungspartei PRI in den Überfall paramilitärischer Gruppen involviert waren?

So soll versucht werden, einen Konflikt zu verdunkeln, der Teil eines umfassenderen, staatlich geplanten Krieges ist. Als religiöses Problem konnte die Situation in der Region Chenalho nicht dargestellt werden, da sowohl der Bürgermeister von Acteal als auch der Bürgermeister der autonomen Gemeinde von Chenalho Presbyterianer sind. Also wird nach einem anderen Vorwand gesucht. Und deshalb wird der Konflikt als interkommunitär dargestellt. Der Innenminister versucht die Regierungsstrategie zu verheimlichen, die darin besteht, nicht die Armee sondern die PRI-Basis auf die EZLN loszujagen, und so Konflikte an der Basis auszulösen.

Die Regierungsstrategie scheint darauf hinauszulaufen, öffentlich zu erklären, daß alle Konfliktparteien, also Paramilitärs und EZLN, “verhandeln” müßten. Das Ergebnis solcher Verhandlungen kann dann natürlich nur die Rückkehr zum vorherigen Status Quo sein. Wie wird die Conai gegenüber einer solchen Strategie reagieren?

In der Geschichte von Chiapas hat es bereits zwei Mal Indianer-Kriege gegeben, die auch Aufstände gegen die Marginalisierung, den Rassismus, die Armut und die Ausbeutung waren. Auch damals wurden von Regierungsseite andere Konfliktursachen vorgeschoben. Heute werden paramilitärische Gruppierungen geschaffen, um sie der EZLN gegenüberzustellen. Die Regierung will dann als Vermittler auftreten, obwohl sie doch die Hauptverantwortung für diese Strategie trägt. Als Conai sprechen wir weder für die Regierung, noch für die EZLN. Wir wollen die Seiten nur einander näherbringen und die Verhandlungen erleichtern. Aber man darf nicht vergessen, daß die EZLN fünf Bedingungen gestellt hat, um die Gespräche mit der Regierung wieder aufzunehmen. Eine davon ist die Auflösung der paramilitärischen Gruppen. Die Verhandlungen sollen mit der Regierung und nicht mit den Paramilitärs stattfinden. Diese Bedingung wurde bisher nicht erfüllt. Und hier ist die Regierung gefragt und nicht die EZLN.

Eine ähnliche Situation existiert auch in Kolumbien, wo die Guerilla es ablehnt, mit den Paramilitärs zu verhandeln, da sie die Gesamtverantwortung bei der Regierung sehen. In den letzten Monaten erinnert die Situation in Chiapas stark an Guatemala und Kolumbien …

Ja, es ist das gleiche Schema, auch wenn sich die Situation in Mexiko doch unterscheidet. Die EZLN ist unter anderen Bedingungen entstanden. Es gab keine Sowjetunion und auch kein sandinistisches Nicaragua mehr. Kuba ist auch keine Unterstützung, die Berliner Mauer ist gefallen, und wir befinden uns mitten in einem Prozeß nationaler und internationaler Neuordnung der Kräfte. Dann spielt natürlich auch die Form eine Rolle, in der sich die EZLN auf internationaler Ebene bewegt hat. Das hat zu einer großen Solidarität geführt, so daß es bisher nicht zu einem Vernichtungskrieg wie anderswo gekommen ist, und wie es die Regierung ursprünglich vor hatte. Diese Bedingungen schaffen für die Zivilgesellschaft Möglichkeiten zu intervenieren. International wird von der Solidaritäts-Bewegung etwa versucht, Mexikos Ökonomie zu treffen. Zum Beispiel wird versucht, Druck auszuüben, damit die Staaten der EU sich gegen die Ratifizierung des Abkommens mit Mexiko aussprechen, wenn es nicht eine minimale Respektierung der Menschenrechte gibt.

Wie sieht die “Kriegsführung niederer Intensität” in Mexiko genau aus?

Zentral ist, daß die Regierung natürlich nicht zugibt, daß Krieg herrscht. Zudem kann man beobachten, daß die Paramilitärs genau in den Gebieten der EZLN auftauchen und geographisch eine Barriere Richtung Küste und dem Gebiet der geplanten interozeanischen Verbindung bilden. (Siehe LN 283) Dort sind die besseren Böden und in dieser Region sollen auch Freihandelszonen entstehen. Daher soll es dort, wo die unmittelbaren ökonomischen Interessen stark sind, ruhig bleiben, während es ansonsten egal ist, ob sich die Indios umbringen. Hier wird das ganze Gebiet vom Aufbau paramiltärischer Gruppen erfasst. Wenn wir uns die Karte anschauen, so stellen wir fest, daß überall erst die Nationalpolizei Seguridad Publica Präsenz zeigt. Sie schürt die Konflikte in den Gemeinden. Irgendwann tauchen dann Leichen auf und die Polizei präsentiert der Öffentlichkeit die Situation als Gemeindekonflikt, Hexerei oder anderes. Alldem liegen natürlich politische Konflikte zugrunde: Die Leute sind aufständisch geworden, sie wollen diese Regierung nicht mehr, aber auch nicht den Krieg. Es ist offensichtlich, daß dieser Krieg in den höchsten Sphären der Regierung geplant wird, und so dienen auch viele Regierungsumbildungen einzig dem Ziel, diese Kriegsführung zu verfeinern. Es wurde bereits nachgewiesen, daß jede paramilitärische Gruppe an einen Abgeordneten gebunden ist. Man sieht also, es handelt sich um ein gut durchdachtes Schema, mit dem die PRI-Gemeinden militärisch organisiert werden. Das ganze läuft in direkter Verbindung mit einer zunehmenden Militarisierung der Region. So findet sich dann auch unter dem Dokument, das die paramilitärische Gruppe Paz y Justicia von Seiten der Regierung mehrere Millionen Pesos für “Anbau und Viehzucht” zukommen läßt, keine einzige Unterschrift aus der zuständigen Behörde. Dafür aber die des Oberbefehlshabers der 7. Militärregion, Mario Renan Castillo. Die paramilitärischen Gruppen sind der Vorhang, hinter dem sich die Armee versteckt. Militär und Polizei bilden die Paramilitärs für den Krieg gegen die zapatistischen Gemeinden aus, tauchen aber selbst nicht auf und können so für die Taten nicht angeklagt werden. Daß die PRI-Gemeinden sich die Hände schmutzig machen, oder der Bürgermeister von Chenalho inhaftiert wird, ist ein tragbares Opfer, solange Polizei und Armee sauber bleiben. Dieses Vorgehen ist einerseits die Folge davon, daß Armee und Polizei in bestimmte Gebiete nicht mehr eindringen konnten und – auf Kosten der 45 Toten – andererseits der Vorwand, um jetzt genau dort hinein vorzudringen. Das System und die Regierung tauchen nicht mehr auf. So soll verhindert werden, daß man sie verantwortlich machen kann.

Landkämpfe in San Marcos

Mit dem Begriff „Landfrage“ ist in Guatemala häufig nur die ungerechte Landverteilung gemeint. Hinter dem Schlagwort verbirgt sich aber ein komplexes Geflecht von Einzelproblemen: Ein Großteil der Bevölkerung hat keinen Zugang zum Produktionsmittel Boden, oder dieser ist nicht abgesichert. Beides zieht unzureichende Wohn-, Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten nach sich. Diejenigen, die ein kleines Stück Land haben, erhalten keine Kredite zum Kauf von Saatgut und landwirtschaftlichem Gerät, um die Produktion auszubauen. In vielen Regionen scheitert eine Vermarktung von Produkten an fehlenden Transportmitteln, an nicht vorhandenen Straßen und am unzureichenden Wissen um Marktmechanismen. Zur „Landfrage“ gehören zudem die Arbeitsbedingungen auf den Kaffee-, Zuckerrohr- und Bananenplantagen, auf denen hunderttausende TagelöhnerInnen für ihren Lebensunterhalt schuften.
Eine der Regionen, in der all diese Probleme zusammenkommen, ist die Provinz San Marcos. Diese liegt an der Grenze zum mexikanischen Bundesstaat Chiapas im äußersten Südwesten Guatemalas und ist geographisch und wirtschaftlich in drei Zonen unterteilt: An die etwa 20 Kilometer breite Küstenebene grenzt das Gebiet der Boca Costa, eine Übergangsregion zwischen 600 und 1800 Meter Höhe. Über 1800 Metern beginnt das Hochland, das den größten Teil der Provinz ausmacht und bis in eine Höhe von über 4200 Metern reicht. Die Bevölkerung lebt hier von den kargen Böden, auf denen sie Mais, Bohnen, Kartoffeln sowie in geringem Maße Gemüse anbaut. Die Familien besitzen größtenteils weniger als einen Hektar Land. Da fast alle Betriebe die gleichen Produkte anbauen, gibt es kaum lokale Absatzmöglichkeiten. Es wäre folglich notwendig, die geringen Überschüsse zum Verkauf in die größeren Städte zu transportieren. Zwar liegt die zweitgrößte Stadt Guatemalas, Quetzaltenango, nur etwa 50 Kilometer Luftlinie entfernt. Die Asphaltdecke der Verbindungsstraße zur Provinz endet jedoch bereits einige Kilometer hinter dieser Stadt. Im Hochland gibt es nur noch Buckelpisten. Zudem sind kaum LKWs vorhanden, da den Kleinbetrieben das notwendige Kapital fehlt.

Staatliche Verpflichtungen bleiben uneingelöst

Um einige von diesen Problemen zu lösen, gäbe es – von außen betrachtet – für die Campesinas/os die Möglichkeit, sich in Kooperativen zusammenzuschließen, um gemeinsam Lösungswege zu suchen. In der Vergangenheit diffamierte die Armee aber jegliche Form gemeinsamen Wirtschaftens als „kommunistisch und subversiv“ und verfolgte diejenigen, die es dennoch versuchten, als potentielle UnterstützerInnen der Guerilla. Daher hat sich bei der Bevölkerung individualistisches Denken tief eingeprägt. Eine andere Möglichkeit, das Einkommen aufzubessern, wäre eine Diversifizierung der Produktpalette. Dies kann sich jedoch kaum jemand leisten, da mit dem Saatgut auch gleich Dünger und Schädlingsbekämpfungsmittel gekauft werden müssen. Hinzu kommt, daß die Kleinbauern und -bäuerinnen nicht über das Wissen verfügen, wie neue Produkte angebaut werden.
Im Rahmen der Friedensabkommen verpflichtete sich die guatemaltekische Regierung, gerade in solchen marginalisierten Regionen die Bevölkerung zu unterstützen. Die Infrastruktur soll verbessert werden, die Campesinas/os günstige Kredite und Ausbildungsprogramme erhalten. Geschehen ist in dieser Hinsicht allerdings noch nichts: Straßen werden zwar gebaut, aber in Regionen, die für die Wirtschaftselite lukrativ sind. Bei den Kreditprogrammen ist zum einen unklar, woher das Geld dafür kommen soll, zum anderen wird noch diskutiert, zu welchen Konditionen sie vergeben werden sollen. Im Gespräch sind Zinssätze von 13 Prozent, was für Kleinbäuerinnen und -bauern immer noch sehr hoch ist – auch wenn die Zinsen damit günstiger als auf dem freien Markt wären, wo sie, wenn Banken ihnen überhaupt Geld leihen, bis zu 30 Prozent zahlen müssen. Und staatliche Ausbildungsprogramme rücken angesichts der neoliberalen Regierungspolitik, in deren Zuge das nationale Bildungssystem zunehmend privatisiert wird, in immer weitere Ferne.

Landbesetzende Großgrundbesitzer…

Aber selbst wenn diese Probleme angegangen werden, würden sie nur einem Teil der Campesinas/os helfen. Denn im Hochland reicht das Land nicht aus, um alle Menschen zu ernähren. Jahr für Jahr gehen daher 60 bis 75 Prozent der Hochlandbevölkerung den Weg in die zeitweilige Arbeitsmigration. Für die Erntemonate ziehen sie entweder auf die Kaffeefincas in Chiapas oder in die Küstenebene und das Gebiet der Boca Costa in San Marcos, wo sie sich zu Hungerlöhnen und miserablen Arbeitsbedingungen verdingen müssen. Viele würden sich gerne in diesen Regionen von San Marcos fest ansiedeln. Doch dafür fehlt ihnen das notwendige Geld. Für TagelöhnerInnen liegt der gesetzliche Mindestlohn nach einer 12prozentigen Erhöhung Mitte Dezember 1997 bei 17.86 Quetzal (ca. DM 5.40), und auch dieser wird nur auf den wenigsten Fincas gezahlt. Ein Landstück, das für einen Neuanfang reichen würde, kostet allerdings mindestens eineinhalb Jahreslöhne. Um diese Summe aufzubringen, müßten die Familien entweder sparen – was angesichts der Lebenshaltungskosten unmöglich ist – oder Geld leihen. Das können sie aber nicht, da sie für Privatbanken nicht kreditwürdig sind. Laut Friedensabkommen sollen Landsuchende nun durch einen staatlichen Fonds Kredite zum Landkauf erhalten können. Der Fonds ist auch schon gegründet worden. Bislang scheint er aber nur mit sehr geringen Mitteln ausgestattet zu sein. Immerhin konnten schon drei kleinere Gruppen demobilisierter Guerilleras/os mit den Fondsmitteln Fincas kaufen, über die allgemeinen Vergabekriterien und Kreditkonditionen herrscht aber noch Unklarheit. Unabhängig vom Geld würden Campesinas/os in San Marcos auch nur schwer zum Verkauf stehendes Land finden, denn die Küstenebene und die Boca Costa ist Großgrundbesitzerland.
In der Küstenebene von San Marcos werden großflächig Zuckerrohr, Kautschuk und Afrikanische Palmen angebaut, aus denen Pflanzenöl gewonnen wird. Weite Flächen des fruchtbaren Landes werden zudem zur Fleischproduktion genutzt. Das Land ist im Besitz einiger weniger. Selbständige Kleinbauern gibt es hier kaum, die meisten Menschen leben als TagelöhnerInnen. Anfang der 60er Jahre, als es nach der kubanischen Revolution auch in einigen Landesteilen Guatemalas gärte, siedelte die damalige Regierung unter General Ydígoras Fuentes hier Familien aus besonders konfliktträchtigen Gebieten an. Im Zuge dessen wurde beispielsweise der Ort La Blanca – Ocós gegründet. Der Gemeinde wurden neben dem eigentlichen Siedlungsgebiet von der Behörde für Agrartransformation unverkäufliche Reserveflächen zur Ausweitung zugesprochen, die in Staatsbesitz und ungenutzt blieben. Der Besitzer einer angrenzenden Finca erreichte es allerdings über Bestechung, dieses Land – von der Gemeinde unbemerkt – zu kaufen. Als diese sich vor einigen Jahren ausweiten wollte, wies der Finquero seine Kaufurkunde vor. Nachdem Verhandlungen mit Behörden erfolglos blieben, bauten die BewohnerInnen von La Blanca auf ihrem Reserveland, das der Finquero als Viehweide nutzte, provisorische Häuser. Seitdem gibt es ein Hin und Her von Räumungen durch die Polizei und Rückeroberungen durch die Gemeinde. Bei einer Räumung Anfang letzten Jahres eskalierte die Situation: Die BewohnerInnen zogen sich nicht schnell genug vor den Sondereinheiten der Polizei zurück, die von Schlägertrupps des Finqueros unterstützt wurden. Bei der folgenden Konfrontation starben zwei Campesinas/os.
So wie in La Blanca gibt es nach Auffassung der Campesino/a-Organisationen in Guatemala viele Flächen, die eigentlich in Staatsbesitz sind und zur Verteilung an Landsuchende zur Verfügung stünden. Doch ist es schwierig, diese nachzuweisen, da die verantwortlichen Behörden von Großgrundbesitzern dominiert werden. AktivistInnen der Organisationen fahren dennoch durch das Land, um genau solche Flächen aufzuspüren. Mit den gesammelten Daten wollen sie Druck auf die Regierung ausüben, die im Zuge des Friedensabkommens zugesichert hat, die Grundbücher, in denen die Besitztitel eingetragen sind, zu überarbeiten. Um dafür eine verläßliche Datengrundlage zu haben, wird das Land aber ersteinmal neu vermessen. Unterstützt durch deutsche Entwicklungshilfe wurde damit bereits in einigen Pilotregionen begonnen, wobei schon erste Probleme mit Finqueros auftraten: Der Besitzer der Finca La Perla, der größten in der Provinz Quiché, lehnte es ab, sein Land vermessen zu lassen. Hintergrund dürfte sein, daß auch er sich widerrechtlich Land angeeignet hat, wofür es vielfache Hinweise gibt. Derartige Probleme sind noch viele zu erwarten. In der Küstenregion gibt es zudem eine Diskussion zwischen Campesino/a-Organisationen und Großgrundbesitzern, ob die Neuerstellung des Katasters und eine Revision der Grundbücher überhaupt notwendig ist. Die Großgrundbesitzer vertreten die Auffassung, dies sei überflüssig, da beides bereits zwischen 1967 und 1976 durchgeführt worden sei. Campesino/a-Organisationen wenden dagegen ein, daß die damalige Erhebung manipuliert wurde, und die Finqueros hätten ihren unrechtmäßig erworbenen Besitz legitimiert. Daher fordern sie, daß das Zustandekommen der Eigentumsverhältnisse untersucht und illegaler Besitz enteignet werden müsse.

…verhindern Lösungen

Auch an der Boca Costa von San Marcos, der Übergangsregion vom Tief- ins Hochland, dreht sich die Landfrage oft um Besitzverhältnisse. In dem gemäßigten Klima wird fast ausschließlich Kaffee angebaut. Für mittelamerikanische Verhältnisse erreicht der Großgrundbesitz hier immense Ausmaße: Die größte Finca umfaßt beispielsweise über 9000 Hektar. Angesichts des Kontrastes dieser Besitzfülle zur Armut derer, die auf den Plantagen arbeiten, setzten sich in dieser Zone – begünstigt durch das unüberschaubare Gelände – während der 70er Jahre verschiedene Guerillagruppen fest. Als diese Anfang der 80er Jahre landesweit stärker wurden, überzog das Militär die Region, wie auch andere Gegenden Guatemalas, mit der „Politik der verbrannten Erde“ und beging zahlreiche Massaker. Ein Opfer dieser Politik wurde die Gemeinde El Tablero (s. Beilage in LN 281). Die Bevölkerung flüchtete und wagte erst nach über zehn Jahren, auf ihr Land zurückzukehren. In der Zwischenzeit hatte dies aber der Eigentümer der tiefer gelegenen Finca, Ricardo Díaz Marquez, besetzt. Wie die BewohnerInnen von La Blanca gingen sie trotzdem auf ihr Land, auch hier folgten Räumungen, die letzte am 27. August vergangenen Jahres.
Laut Friedensvertrag soll in Landkonflikten eine Schlichtungskommission, die direkt dem Staatspräsidenten zugeordnet ist, mit den Beteiligten nach Verhandlungslösungen suchen. Die Kommission konstituierte sich im Juni letzten Jahres, doch wurde ihre Arbeit bislang durch die Großgrundbesitzer und die Regierung selbst sabotiert. Zuletzt beklagte dies auch der Vorsitzende der Kommission, Alvaro Colóm, und schmiß im Dezember nach nur fünf Monaten Amtszeit das Handtuch: Die Regierung räume ihm kaum politische Handlungsspielräume ein, so daß während seiner Amtszeit gerade einmal drei der 200 bis 300 akuten Landkonflikte effektiv bearbeitet werden konnten.
Dieser mangelnde politische Wille seitens Regierung und Großgrundbesitzern, in der Landfrage zu Fortschritten zu kommen, die die Situation der Landbevölkerung wirklich verbessern, zieht sich durch die gesamte Umsetzung des Friedensabkommens. Und wo der Wille fehlt, ist auch kein Weg. Daher können Landfonds, Neuerstellung des Katasters, Revision der Grundbücher sowie die Schlichtungskommission für Landkonflikte kaum die Antwort auf die Landfrage sein, zumal bei den unterschiedlichen Maßnahmen nicht absehbar ist, ob sie überhaupt positive Veränderungen mit sich bringen. Für die Campesino/a-Organisationen bedeutet das Friedensabkommen daher auch nur einen Ansatzpunkt für ihre Forderungen nach würdevollen Lebensverhältnissen. Der alltägliche Kampf um Land wird in den einzelnen Gemeinden weitergehen. Und angesichts der Widerstände werden diese einen langen Atem brauchen!

KASTEN:
Am 29. November 1997 kehrten aus Mexiko erstmals 46 guatemaltekische Familien in ihre Heimat zurück, die zu der Gruppe von Flüchtlingen gehörten, die von offizieller Seite nicht anerkannt waren. Auf ihrer Flucht vor der ‘Politik der verbrannten Erde’ in den 80er Jahren hatten viele von ihnen ihre Papiere verloren oder waren gezwungen, ihre guatemaltekische Identität zu verheimlichen, da die mexikanischen Behörden sie sonst zurückgeschickt hätten. Im Gegensatz zu den meisten anerkannten Flüchtlingen lebten sie nicht in Flüchtlingslagern, sondern verstreut in mexikanischen Gemeinden. 1992 gründete sich ARDIGUA (Vereinigung nicht anerkannter Flüchtlinge Guatemalas) als Vertretungsorganisation dieser Menschen. Den ersten großen Erfolg erzielte ARDIGUA, als schließlich nach zähen Verhandlungen ab 1994 auch nicht anerkannte Flüchtlinge das Abkommen vom 8.10.92 geltendmachen konnten. Dieses Abkommen zwischen den anerkannten guatemaltekischen Flüchtlingen und der Regierung garantiert die würdevolle und kollektive Rückkehr aus dem Exil und ermöglicht den Zugang zu „revolvelten“ Krediten. Das bedeutet, daß die Zinsen nicht an den Kreditgeber gehen, sondern in den Kreditnehmergemeinden verbleiben. Im August 97 forderte ARDIGUA Präsident Arzú abermals zur Befürwortung einer Kreditvergabe auf und wandte sich an die Öffentlichkeit, um auf die schwierige Situation in Chiapas hinzuweisen. Nachdem frühere Versuche, eine Finca zu erwerben, aus verschiedenen Gründen gescheitert waren, erhielt ARDIGUA den Kredit und unterzeichnete am 25.9.97 den Kaufvertrag für die Finca Buenos Aires. Diese liegt im Bezirk Nuevo Progreso, im Departement San Marcos, an der Pazifikküste in 1000 Meter Höhe. Die mexikanische Grenze ist 50 km entfernt. Die geflüchteten Campesinos wollten an die fruchtbare Südküste, da hier höhere Erträge zu erzielen sind, aber es war für ARDIGUA nicht leicht, neben den Kaffeeplantagen der Großgrundbesitzer Land zu erwerben. In Buenos Aires gibt es bis jetzt ausschließlich Kaffeepflanzungen. Das wird sich jedoch ändern, da die Campesinos zunächst ihre eigene Versorgung sichern wollen und desweiteren eine Diversifizierung anstreben, um eine Unabhängigkeit von den Kaffeeweltmarktpreisen zu erlangen. Die Widerstandsbereitschaft der Agraroligarchie gegen die Ansiedlung von ARDIGUA Flüchtlingen ist besorgniserregend. Männer, die auf der Finca arbeiteten, wurden kurz vor Eintreffen der Familien von Unbekannten mit Messern verletzt und beschimpft. Außerdem konnten ARDIGUA-Delegierte einem Überfall nur knapp entkommen. Von weiteren Übergriffen wird ebenfalls angenommen, daß sie von den Großgrundbesitzern ausgehen. Isabella Kalthofen

Boden unter die Füße

Die ungerechte Landverteilung war die Hauptursache des 36jährigen bewaffneten Konfliktes in Guatemala. Anfang 1996 unterzeichneten Regierung und Guerilla ein Friedensabkommen – aber die Ursachen des Krieges wurden damit keineswegs beseitigt. Die Mehrheit der indigenen Landbevölkerung kämpft weiter im buchstäblichen Sinne um „Boden unter die Füße“. Und ein Ende ist nicht abzusehen. Einen echten Frieden und soziale Gerechtigkeit wird es in Guatemala erst dann geben, wenn das Land wieder in die Hände jener gelangt, die es bebauen. Nicht umsonst konzentrierten sich die TeilnehmerInnen einer Delegation der hiesigen Solidaritätsbewegung, die im Frühjahr 1997 Guatemala bereiste, auf die Landfrage nach Unterzeichnung des Friedensabkommens. Die Ergebnisse ihrer Erfahrungen dokumentieren sie in eindrücklicher Weise in der kürzlich erschienenen Broschüre „Boden unter die Füße… Der Kampf um Land in Guatemala“.
Auf 32 Seiten entstand hierbei ein umfassender Überblick über die Landproblematik Guatemalas. Und nicht ganz zufällig wurde daraus auch eine knappe, gut strukturierte geschichtliche Einführung. Der Kampf um Land zieht sich seit der Eroberung durch die Spanier im 16. Jahrhundert wie ein roter Faden durch die guatemaltekische Geschichte. Damals wurde der Grundstein für Machtverhältnisse gelegt, an denen sich bis zum heutigen Tag strukturell wenig geändert hat: die Ausbeutung und Unterdrückung der indigenen Bevölkerung durch die herrschende (weiße) Schicht. Das geeignete Mittel hierfür war und ist der Landraub. Noch heute konzentriert sich der fruchtbarste landwirtschaftlich nutzbare Boden in den Händen weniger Großgrundbesitzerfamilien. Hingegen nennen 78 Prozent der ProduzentInnen lediglich 4 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche ihr eigen. Ein Großteil der entwurzelten, landlosen Bevölkerung wird – damals wie heute – durch Knechtschaft oder Lohnsklaverei in Abhängigkeit gehalten.
Die in der Broschüre enthaltenen Darstellungen, Interviews und Erfahrungsberichte vermitteln auch dem/der nicht vorgebildeten LeserIn einen guten Einblick in die Ursachen des Landkonfliktes. Die Texte werden durch knappe Hintergrundinformationen und Begriffserklärungen aufgelockert und erleichtern so den Einstieg in die Problematik. Anhand von Interviews mit Betroffenen oder AktivistInnen von Campesino-Organisationen werden Möglichkeiten zur Lösung der Konflikte aufgezeigt.
Daß es konkrete Lösungen gibt, veranschaulichen die Beispiele aktueller Landkonflikte. Viele landlose Campesinos/as oder TagelöhnerInnen beharren trotz zahlreicher Rückschläge und der Repression der letzten Jahrzehnte auf dem Kampf innerhalb ihrer Organisationen. Ihre Kampftaktik variieren sie zwar oder passen sie der jeweiligen politischen Situation an, aber das Ziel, die Rückgewinnung des ihnen geraubten Landes, verlieren sie nicht aus den Augen. Denn Land ist für sie gleichbedeutend mit Sicherung des Überlebens in einer möglichst selbstbestimmten Form. Es ist ein Synonym für menschliche Würde. Und es ist eine realistische Alternative zur Verdingung auf den Plantagen der Großgrundbesitzer oder in den Weltmarktfabriken, zur Flucht in die Elendsgürtel der Großstädte oder gen Norden.
Es zeichnet sich ab, daß die Friedensabkommen, deren Inhalte in den meisten Fällen ohnehin die von jeher Besitzenden begünstigen, eher ein Schritt in Richtung einer weltmarktgerechten, kapitalistischen „Modernisierung“ Guatemalas sind, als daß sie soziale Gerechtigkeit schaffen werden. Dennoch gibt es einige Ansatzpunkte, die der organisierten Landbevölkerung einen gewissen Handlungsspielraum verschaffen, etwa die Schaffung von staatlichen Instanzen zur Kreditvergabe oder zur Regelung und Überwachung von Landkonflikten. Diese Maßnahmen bedeuten für sich genommen zunächst gar nichts. Die in der Broschüre erwähnten Beispiele zeigen jedoch, daß auch noch so kleine Spielräume von den Organisationen für den Kampf um Land ausgefüllt werden. In Kombination mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen oder Landbesetzungen konnten bereits einige kleine Schritte getätigt werden.
Die Darstellung und Aufarbeitung der Landkonflikte in Guatemala wirkt wie ein Lehrstück. In zweierlei Hinsicht. Den HerausgeberInnen der Broschüre gelingt es, Schlagworte wie „Globalisierung“, „Neoliberalismus“ oder „wirtschaftliche Strukturanpassung“ mit konkreten Inhalten zu füllen. Zum anderen verdeutlichen sie mit ihren Beiträgen, daß der Kampf um menschliche Würde und soziale Gerechtigkeit auch unter diesen veränderten Bedingungen erfolgreich geführt werden kann. Nur vielleicht ein wenig anders, als wir es bisher gewohnt waren…

Boden unter die Füße… Der Kampf um Land in Guatemala, Broschüre November 1997, 32 S., DM 5.- (für WiederverkäuferInnen DM 3.50), Hrsg. und Bezug: Informationsstelle Guatemala e.V., Heerstr. 205, 53111 Bonn.

„Versöhnung ist nur eine Utopie“

Nach 36 Jahren Bürgerkrieg unterzeichneten die guatemaltekische Regierung und die URNG am 29. Dezember 1996 ein Friedensabkommen. Wie hat sich die Menschenrechtssituation seitdem entwickelt?

Wenn wir uns auf eine traditionelle Definition der Menschenrechte beschränken, also vor allem auf die politischen und individuellen Rechte, ist die Quantität der Menschenrechtsverletzungen zurückgegangen. Qualitativ hat es längst nicht so viele Fortschritte gegeben. Noch immer werden Menschen aus politischen Gründen ermordet. Zum Beispiel wurde vor kurzem im Departement Quiché ein Maya-Priester getötet, der sich um die Freilegung eines Massengrabes mit Opfern eines Massakers des Militärs bemüht hatte.
Betrachten wir die Menschenrechte hingegen umfassender, also unter Einschluß der ökonomischen und sozialen Rechte, deren Verletzung eine wichtige Kriegsursache war, so sind wir nach wie vor sehr weit von der Einhaltung der Menschenrechte entfernt. Das Friedensabkommen hat an den ungerechten sozio-ökonomischen Strukturen gar nichts verändert. Im Gegenteil: Durch die neoliberale Regierungspolitik verschlechtert sich die Lage der armen Bevölkerungsmehrheit noch weiter.

Wie können die „Organisationen der Zivilgesellschaft“, wie es in Guatemala so schön heißt, auf diese Situation Einfluß nehmen?

Einerseits sind die unterschiedlichsten sozialen Sektoren und Organisationen an verschiedenen Kommissionen beteiligt, die im Rahmen des Friedensprozesses gebildet wurden. In diesen erarbeiten wir Vorschläge, wie die Friedensabkommen umgesetzt werden oder neue Gesetze aussehen sollen. Aber andererseits haben wir Angst, daß auf unsere Vorschläge kaum eingegangen wird und die Reformen oberflächlich bleiben. Insgesamt sind wir damit überfordert. Die sozialen Bewegungen sind nicht ausreichend auf die Veränderungen und die Arbeit, die der Friedensschluß mit sich brachte, vorbereitet.

Es gab einigen Streit um das Teilabkommen über die Wiedereingliederung der Guerilla und das Versöhnungsgesetz, das gegen Ende der Verhandlungen im Eiltempo verabschiedet wurde. Wie wurde das Gesetz bislang gehandhabt?

Das Abkommen und vor allem das Versöhnungsgesetz waren in der Tat sehr umstritten. Das Teilabkommen über die Versöhnung war schon unzulänglich. Das anschließend in nur drei Tagen im Parlament durchgepeitschte Versöhnungsgesetz begünstigt das Militär gegenüber der Guerilla URNG [das Gesetz sieht vor, daß alle Menschenrechtsverletzungen, die direkt im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg begangen wurden, amnestiert werden; die Red.]. Besonders wenn man an den Zustand unseres Justizsystems denkt, bestand zu Recht große Angst, daß es für eine allgemeine Amnestie eingesetzt wird. Bislang kam es allerdings besser als erwartet. Immerhin wurden rund 50 Amnestiegesuche von Militärs abgelehnt. In drei Fällen wurde URNG-Mitgliedern die „Wiedereingliederung ins Zivilleben“ ermöglicht.
Diese insgesamt positive Entwicklung wurde nicht zuletzt durch die Proteste der „Allianz gegen die Straffreiheit“ erreicht, die sich gegen die Amnestie von Menschenrechtsverletzungen einsetzt. [Die alianza contra la impunidad ist ein Zusammenschluß von Menschenrechtsorganisationen und kirchlichen Einrichtungen, dem auch die Stiftung Myrna Mack angehört; die Red.]

Wie erklärst Du Dir, daß die URNG das Amnestiegesetz akzeptiert hat?

Schließlich wird durch das Gesetz die strafrechtliche Aufarbeitung der allermeisten Menschenrechtsverletzungen der Kriegszeit unmöglich.
Die URNG war zum Ende der Verhandlungen in einer Position der Schwäche. Während der Verhandlungen über das Abkommen zur Wiedereingliederung der URNG wurde die Entführung der Señora de Novella aufgedeckt. [Entführung der Industriellen-Greisin Olga de Novella im Herbst 1996 durch ein angeblich autonom agierendes Kommando der URNG-Teilorganisation ORPA, die von einer Sondereinheit des Militärs beendet wurde. Der Verantwortliche der Aktion, Comandante Isaías, wurde bei der Aktion verhaftet und nach geheimen Absprachen zwischen URNG und Regierung, die den Verhandlungsprozeß nicht gestört sehen wollten, wieder freigelassen. Nachdem der ganze Fall in der Öffentlichkeit bekannt wurde, kam es zu einer vorübergehenden Unterbrechung der Verhandlungen. Schließlich mußte Rodrigo Asturias, einer der historischen Führer der URNG, aus der Verhandlungskommission zurücktreten. Der politische Schaden für die URNG war enorm; die Red.]
Durch den Fall Novella hatte die URNG keine moralische Autorität mehr, um sich klar gegen eine Amnestieregelung auszusprechen. Auch anderweitig protestierte kaum jemand gegen die Amnestieregelung, und die es taten, wurden heftig angefeindet. Als „Allianz gegen die Straffreiheit“ wurden wir sogar beschuldigt, gegen den Friedensprozeß zu sein. Dabei ging es uns gerade darum, den Gehalt des Friedensprozesses zu retten und die Amnestie von Menschenrechtsverletzungen zu verhindern.
Die Verhandlungsparteien haben uns zwar angehört und zumindest einige unserer Forderungen in den Abkommenstext aufgenommen. Aber es gehörte schließlich zum vereinbarten Verhandlungsmechanismus, daß die Organisationen der Asamblea de la Sociedad Civil („Versammlung der Zivilgesellschaft“) offiziell Vorschläge an die Verhandlungsparteien unterbreiten können.

Die Auseinandersetzung mit der URNG ging nach dem Amnestiegesetz ja noch weiter…

Da ging es vor allem um den „Fall Mincho“. Mincho war an der Entführung von Frau Novella beteiligt und wurde von dem Spezialkommando der Armee verhaftet und später zu Tode gefoltert. Die Guerilla machte die Verhaftung von Mincho nicht öffentlich. ORPA-Chef Rodrigo Asturias hatte anfangs sogar dessen Existenz geleugnet. Es gibt die These, daß Mincho noch einen ganzen Monat nach seiner Verhaftung lebte. Der Fall wurde lange Zeit heruntergespielt. Das Verhalten der Guerilla-Führung war für viele, auch für die eigene Basis, eine große Enttäuschung.
Schließlich hat die „Allianz gegen die Straffreiheit“ bei der Staatsanwaltschaft eine Anzeige wegen des Verschwindenlassens von Mincho eingereicht. Die Geschichte hat gezeigt, daß unser Justizsystem nicht funktioniert. Denn das Verteidigungsministerium, das für das Verschwinden von Mincho verantwortlich ist, gibt die Unterlagen nicht frei. Im gesamten Fall Novella-Mincho geht es um die Straffreiheit, sowohl der Regierung als auch der Guerilla.

Kommen wir zurück zu den Menschenrechtsverletzungen während des Krieges. Im Rahmen des Friedensprozesses hat mittlerweile unter der Verantwortung der Vereinten Nationen die „Wahrheitskommission“ ihre Arbeit aufgenommen. Wie beurteilst Du ihre Chancen, zur Aufarbeitung der Vergangenheit in Guatemala beizutragen?

Das Abkommen, auf dessen Grundlage die „Wahrheitskommission“ eingerichtet wurde, grenzt ihre Möglichkeiten stark ein. Zum einen ist sie auf sechs Monate befristet, mit der Möglichkeit einer sechsmonatigen Verlängerung. Das ist einfach zu kurz, um einen umfassenden Bericht vorzulegen. In unserer Gesellschaft herrscht eine Kultur des Terrors: Die Menschen haben große Angst, über das zu sprechen, was sie erlitten haben. Da reicht es nicht aus, daß die Kommission einige Anzeigen veröffentlicht, und schon kommen die Leute und sprechen über ihre Erfahrungen.
In den Gemeinden, die vom Terror des Krieges betroffen waren, wurden die Menschen zudem nicht auf die Arbeit der Kommission vorbereitet. Das führt dazu, daß die Aussagen der Menschen oberflächlich bleiben. Nach all den Jahren der Unterdrückung haben die Menschen kein Vertrauen, wenn jemand kommt, den sie nicht kennen, noch dazu oft aus dem Ausland, und der sie über ihre Erlebnisse während des Krieges befragen will.
Ein weiteres Problem für die Kommission waren ihre finanzielle Schwierigkeiten. Anfangs war die Kommission vor allem damit beschäftigt, Geld aufzutreiben, um geeignetes Personal einzustellen. Dadurch blieb keine Zeit, um eine adäquate Methodologie für die eigene Arbeit zu diskutieren. So sind die ersten zwei Monate vergangen. Als Folge wurde in jeder Region anders verfahren, was es sehr schwer machen wird, die Aussagen zu systematisieren und auszuwerten.

Und wie sieht es mit der Zuarbeit seitens der Armee und der URNG aus?

Keine der beiden Seiten hat der Wahrheitskommission bislang ihre Dokumente zur Verfügung gestellt. Die Armee meint, sie müsse erst noch analysieren, welche Dokumente sie der Kommission übergibt. Diese Informationen werden dann sehr lückenhaft sein. Und die URNG sagt, sie habe ihre Dokumente im Ausland. Aber auch die USA haben ihre Dokumente noch nicht freigegeben. Und im April wird die Kommission ihre Untersuchungen bereits abschließen.
In Guatemala gab es sehr hohe Erwartungen an die Wahrheitskommission. Aber ich glaube, daß die Enttäuschung am Schluß sehr groß sein wird. Es wird ein akademisches Dokument rauskommen, das so etwas wie die offizielle Geschichte des Krieges werden wird. Aber ich glaube nicht, daß der Bericht sein ursprüngliches Ziel erreichen kann: einen Beitrag zur Versöhnung zu leisten, vor allem in den Gemeinden auf dem Land.

Was hältst Du von dem Projekt „Wiedererlangung des historischen Bewußtseins“ (REMHI), einer Art alternativer Wahrheitskommission der katholischen Kirche?

REMHI macht eine sehr seriöse Arbeit. Es ist eine wirkliche Alternative zur offiziellen Wahrheitskommission. REMHI hat sich viel Zeit genommen und über 20.000 Zeugenaussagen gesammelt und analysiert. Außerdem ist für die Zeit nach der Veröffentlichung des Berichts [im kommenden April; die Red.] geplant, den Menschen die Ergebnisse der bisherigen Arbeit „zurückzugeben“ und durch konkrete Arbeit in den Gemeinden zum Prozeß der Versöhnung beizutragen.

Was kann ein Bericht in der Gesellschaft und der Politik Guatemalas bewirken, der keinen offiziellen Charakter hat und nicht von den Verhandlungsparteien vereinbart wurde, sondern von der katholischen Kirche stammt?

Zunächst wird es wohl einige Kritik von Guerilla und Regierung geben, die mit den Ergebnissen des Berichts nicht einverstanden sein werden. Die katholische Kirche gehört jedoch zu den wenigen Institutionen in Guatemala, die noch Glaubwürdigkeit besitzen. Der Bericht wird sicherlich gelesen und diskutiert. Ich habe die große Hoffnung, daß der Bericht von REMHI für das Land von großem Nutzen sein wird.
Vielleicht wird er nicht die gleiche Bedeutung für das offizielle politische Leben haben wie der Bericht der Wahrheitskommission, aber er wird sicherlich großen Einfluß auf die Gesellschaft haben.

Ein Ziel von REMHI war es, die Geschichte des Krieges aus der Sicht der Opfer zu schreiben. Was müßte der Staat Deiner Meinung für die Opfer des Krieges tun?

Zunächst einmal: Die Bedürfnisse der Opfer sind je nach Person und Gemeinde sehr verschieden. So haben einige Gemeinden sehr detailliert die Schäden ausgerechnet, die ihnen während des Krieges zugefügt wurden, und wollen dafür Wiedergutmachung. Anderen geht es vor allem um die moralische Anerkennung ihres Leids. Die Regierung steht, unabhängig davon, was sie zu leisten bereit ist, vor dem Problem, daß sie nicht weiß, wie sie dies finanzieren soll. Die Empfehlungen der Wahrheitskommission werden aber großen Einfluß auf das Entschädigungsgesetz haben, das verabschiedet werden soll.

Im Zusammenhang mit der Entschädigung der Kriegsopfer stellt sich die Frage der Versöhnung. Wie kann diese Deiner Meinung nach erreicht werden?

Es klingt vermutlich sehr negativ, aber für mich ist Versöhnung in Guatemala eine Utopie. Es ist eine Utopie, weil sich nichts wirklich ändert. Das System und die Menschen sind noch nicht reif für Versöhnung.

Was bedeutet für Dich Versöhnung?

Versöhnung heißt für mich, daß die Wahrheit bekannt und Gerechtigkeit geschaffen wird. Und genau dies wird es nicht geben. In Bezug auf den Mord an meiner Schwester Myrna heißt das, daß die Verantwortlichen verurteilt werden. Das Problem ist natürlich, daß die Wahrheit eines Gerichtsverfahrens nicht unbedingt dem entspricht, was tatsächlich geschehen ist. Ich bin überzeugt davon, daß es noch weitere Verantwortliche für die Ermordung von Myrna gibt. Aber ich werde sie niemals vor Gericht bekommen, weil die Militärs einen Schweigepakt geschlossen haben. Mir geht es nicht um materielle Entschädigung, ich will die Verurteilung der Mörder meiner Schwester.

Die Grundlage für Versöhnung ist also die Verurteilung aller, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben?

Für mich ja. Aber andere Menschen können selbstverständlich ganz andere Forderungen haben. Einigen reicht es bereits, wenn anerkannt wird, daß sie zu unrecht verfolgt wurden, oder daß sie erfahren, wo das Grab ihres Angehörigen ist. Ich habe nicht das Recht, für andere zu sprechen. In den vergangenen Jahren habe ich aber mit sehr vielen Opfern gesprochen, für die es schon ein großer Schritt wäre, wenn die Verantwortlichen der Menschenrechtsverletzungen ihre Schuld eingestehen und sich bei den Opfern entschuldigen würden. Es gibt jedoch eine unglaubliche Arroganz von Seiten der Täter.
Daran hat sich genauso wenig geändert wie an den Strukturen, die für die Aufstandsbekämpfung geschaffen wurden und noch weitestgehend intakt sind. Und die wirtschaftlichen und sozialen Reformen, die viele erhofft hatten, sind ebenfalls ausgeblieben. Wie kann es da Versöhnung geben?

In Südafrika wurde ein anderer Weg eingeschlagen. Die dortige Wahrheitskommission geht davon aus, daß…

…die Gesellschaft nicht dazu in der Lage ist, Gerechtigkeit zu schaffen…
…und die Gesellschaft den Versuch, all jene zu bestrafen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, gar nicht aushalten würde.
In Südafrika wurden die Erfahrungen aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas aufgenommen. Wer vor der Wahrheitskommission aussagt und seine Schuld anerkennt, der soll amnestiert werden. Aber so einfach ist es nicht. Viele Opfer wollen auch Gerechtigkeit, wenn sie die Wahrheit erfahren haben. Sie wollen nicht, daß die Täter nun, da sie an die Öffentlichkeit gehen, amnestiert werden, obwohl sie dies sonst vermutlich niemals getan hätten.
Auch das, was in Südafrika versucht wird, ist kein verallgemeinerbarer Weg. Positiv ist, daß in Südafrika das Thema intensiv in der Öffentlichkeit behandelt wird. Die Vergangenheit darf nicht in Vergessenheit geraten, damit sie sich nicht wiederholt.

Wird dem Thema in Guatemala denn genug Bedeutung beigemessen?

Auf keinen Fall. Dies liegt nicht im Interesse der ehemaligen Kriegsparteien.

Neben Regierung, Armee und URNG gibt es aber noch viele andere Organisationen, die für die politische und gesellschaftliche Diskussion des Landes große Bedeutung haben…

Die sind zur Zeit aber sehr schwach, da sie noch keine neue Identität und Zielrichtung für die Zeit des Friedens gefunden haben. Meines Erachtens gibt es in Guatemala zur Zeit überhaupt keine richtige Opposition. Von der URNG und den ihr nahestehenden Organisationen ist nur sehr wenig zu merken. Die URNG ist mit dem Aufbau der eigenen Partei beschäftigt. Aber es gibt zahlreiche andere Organisationen, die diese Aufgaben schon heute übernehmen könnten. Zudem ist die URNG beim Thema der Wahrheit so passiv, weil sie ihm keine so große Bedeutung beimißt und weil sie Angst hat, daß dann auch ihre eigenen Menschenrechtsverletzungen thematisiert würden.

Die mangelnde Beschäftigung mit der Menschenrechtsthematik und das Amnestiegesetz sorgen ja dafür, daß die jahrzehntelange Straffreiheit bestehen bleibt. Welche Reformen am Staat und am Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Regierung beziehungsweise Armee fordert die „Allianz gegen die Straffreiheit“, um die Straffreiheit in Zukunft zu beenden?

Die Armee hat sich im Laufe des Krieges stark verändert. Gemeinsam mit Zivilisten aus den unterschiedlichsten sozialen Sektoren – auch aus der Regierung – ist sie in die organisierte Kriminalität verwickelt: Schmuggel, Drogenhandel, Entführungen. Diese Verbindungen machen es sehr schwer, dagegen vorzugehen. Präsident Arzú hat ja versucht, etwas gegen diese Strukturen zu unternehmen, aber bis heute ist kein einziger der „Großen“ belangt worden. Als 1996 das Teilabkommen über die „Stärkung der Zivilgesellschaft“ unterzeichnet wurde, ist der „Fall Moreno“ bekannt geworden. Bis heute ist jedoch gegen keinen einzigen der Offiziere, die in diesem Fall als Anführer dieser Schmuggler- und Autoschieberbande bezeichnet wurden, angeklagt worden. Das gleiche gilt für die Entführungen, an denen immer wieder Militärs beteiligt sind: Kein einziger Militär wurde vor Gericht gestellt.
Wie ist das möglich? Diejenigen, die für die Entführungen verantwortlich sind, und jene, die die Ermittlungen leiten, gehören zum selben Geheimdienstapparat, der bereits in der Aufstandsbekämpfung aktiv war. Sowohl die Entführungen als auch ihre Untersuchungsmethoden sind illegal, doch sie genießen noch immer Autonomie. Solange diese Strukturen fortbestehen, sind auch keine wirkliche Verbesserungen im Justizsystem möglich. Dies gilt sowohl für die Polizei als auch für die Staatsanwaltschaft und die Gerichte.

Akzentfrei Deutsch

Sie besitzen Textilfabriken und Kaf-
feeplantagen, die „Bremen“ oder „Westfalen“ heißen, vertreten deutsche Reedereien, BASF und Mercedes Benz auf guatemaltekischem Boden. Sie sprechen auch in der dritten Generation fast akzentfrei deutsch und feiern Gartenparties, die – vom einheimischen Servierpersonal abgesehen – den Charme eines mittelständischen Betriebsfestes in der deutschen Provinz verströmen: „Los Civilisadores – Die Zivilisationsbringer“ – dieses Selbstverständnis ist bei den deutschstämmigen Guatemalteken, die Uli Stelzner und Thomas Walther für ihr Dokumentarvideo interviewten, immer noch ungebrochen. Bereitwillig kramen die Alten in Erinnerungen und die Jüngeren in der familiären Fotoschatulle. Mit Ausnahme der ehemaligen Kolonien gibt es kein anderes Land, in dem Deutschstämmige eine so dominante Position in Wirtschaft und Politik einnehmen wie in Guatemala. Die erste Einwanderungswelle wurde durch den Kaffeeboom Ende des letzten Jahrhunderts ausgelöst. „Fröhliche, glückliche, erfolgreiche Leute“, seien die meisten von ihnen hier geworden, schwärmt der 97jährige Plantagenbesitzer Hugo Droege. „Sehr arbeitsam“ seien die Deutschen, meint ein guatemaltekischer Ladenbesitzer anerkennend.
Peu à peu setzt sich aus Gesprächen und historischem Material ein Mentalitätspanorama zusammen. Zum Beispiel von Patriarchen alter Schule à la Droege: Nach dem verlorenen 1. Weltkrieg hielt er es in Deutschland nicht mehr aus. Im deutschen Club von Guatemala, den lange Zeit noch eine Kaiser-Wilhelm-Büste schmückte, fand er seine Enklave: „Unser Club war natürlich sehr konservativ, also Sozis und das fanden wir alle furchtbar. Die Leute waren sehr deutsch-national alle, das wird man ja hier draußen.“ Hier draußen – ein paradoxer Ausdruck für jemanden, der 75 Jahre seines Lebens in Guatemala verbracht hat. Die 97jährige Mathilde Dieseldorff-Quirin, die immerhin eine indianische Großmutter hat, konserviert zwischen Plüschsofas und Familienreliquien das Deutschlandbild der Ewig-Gestrigen, blättert in einem Buch mit Fotos von Hitler und Rudolf Hess.
Im Gegensatz zu ihren Filmreportagen „Ojalà“ und „Romper el cerco“ (1994), die kämpferisch Position für die linke Opposition und die Bürgerkriegsflüchtlinge in Guatemala bezogen, haben sich Uli Stelzner und Thomas Walther diesmal in ein ganz anderes Milieu begeben. Zwar werden fortlaufend Kontraste hergestellt zur Welt der gutbürgerlichen Wohnstuben und klimatisierten Büros, weisen Straßenszenen und Äußerungen von Landarbeitern auf die anderen guatemaltekischen Realitäten hin. Der Fokus liegt jedoch bei den Deutschstämmigen: Wie sie sich präsentieren, wie sie Erinnerung inszenieren, wie sie lästige Fragen abwimmeln oder sich, ohne es zu merken, selbst vorführen. Die Filmemacher verzichten weitgehend auf Kommentare oder einen konfrontativen Interviewstil – letzteres nicht zuletzt deshalb, weil gerade einige der jüngeren Deutschguatemalteken wohl clever genug waren, an bestimmten Punkten mißtrauisch zu werden. So existiert auch ein ziemlicher Unterschied zwischen der unverhohlenen Nostalgie, mit der einige der alten Leute von der mit Hitler befreundeten Ubíco-Diktatur schwärmen, und den schwammigen Kommentaren zu den Menschenrechtsverletzungen der jüngsten Vergangenheit. Die Grenzen zwischen tatenlosem Zuschauen und Verdrängen, demonstrativer Abscheu angesichts der Massaker und beflissener Selbstrechtfertigung sind fließend: „Sehr betrüblich“, „sehr unangenehm“, „schwierige Sachen“, „maßlos übertrieben“. Nur Inge Schleehauf – die übrigens Lehrerin an der deutschen Schule ist – meint: „Das Land würde nur besser werden, wenn es eine rechte Diktatur wäre“. Ein Geschäftsmann dagegen hofft, daß es jetzt endlich „eine ordentliche Demokratie“ geben werde. Wenn bei der Gartenparty des „Asociación de Humboldt“ die Hymne der überseeischen Mutterscholle ertönt, springen alle auf und singen „Einigkeit und Recht und Freiheit“. Beim anschließenden Small-talk versucht man die lästigen Filmemacher mit Meinungshäppchen abzuspeisen. Zum Beispiel: „Es wird immer Reiche und Arme geben“ oder „Als Ausländer hält man sich hier zurück.“

„Los Civilisadores/ Die Zivilisatoren – Deutschtum in Guatemala, Deutschland 1997, Regie: Uli Stelzner und Thomas Walther, Video, 130 Minuten.

Bis zum letzten Baum…

Der Regenwald hat inzwischen eine auf über 40.000 Menschen angewachsene Bevölkerung zu ernähren, deren produktive Grundlagen der extensive Maisanbau und Rinderzucht sind. Jedes Jahr im Frühjahr “raucht” die zwischen den Flüssen Rio Chixoy und Rio Lacantun gelegene Selva von den zahlreichen Brandrodungen, die sich immer tiefer in bisher unberührten und intakten Urwald fressen.
“Die ersten von uns kamen 1976 aus Oaxaca hier an”, berichtete ein älterer Bauer aus Reforma Agraria, eines der am besten organisierten Dörfer. “Wir siedelten zuerst weiter unten am Fluß, doch das Hochwasser vernichtete unsere Ernte und zerstörte unsere Hütten. Daraufhin gab uns die Regierung 2.000 Hektar hier oben und 1979 gründeten wir Reforma Agraria. Am Anfang hatten wir nichts: kein Werkzeug, keinen Zucker, keine Schuhe. Es war eine sehr schwere Zeit. Zweimal im Jahr kam ein Boot aus Guatemala den Fluß herauf und wir tauschten unseren Mais gegen diese Sachen ein. Der Fluß war damals unsere einzige Verbindung nach außen.” Damals, das war in den 70er und frühen 80er Jahren, als weniger als 10.000 Menschen in dieser Region lebten. In jener Zeit förderte die mexikanische Regierung noch massiv die Einwanderung in das als Kolonisierungsgebiet und “Auffangbecken” für landsuchende Bauern konzipierte Marques de Comillas. Wenige Jahre später veranlaßte die Eskalation des Bürgerkrieges in Guatemala die Regierung unter Miguel de la Madrid (1982-88), die Region schneller zu besiedeln und neue Genossenschaften (Ejidos) zu gründen, um nationale Sicherheitsinteressen im erdölreichen Niemandsland zu schützen.
Die einst unbesiedelte “grüne Hölle” verkörpert aufgrund der multikulturellen und multiethnischen Vielfalt der ImmigrantInnen ein Mexiko im Kleinformat. Etwa 70 Prozent der heutigen Siedler stammen aus Bundesstaaten außerhalb von Chiapas, mehrheitlich aus Veracruz, Tabasco, Oaxaca und Guerrero. Dem Kolonisierungseifer der mexikanischen Regierung und der chiapanekischen Landesregierung folgten jedoch bald vorwurfsvolle Stimmen, adressiert an die lokale Bevölkerung. Es hieß, die Campesinos zerstörten den Regenwald durch unachtsame Brandrodungen und ökologisch unverträgliche Anbautechniken. Darüber hinaus begannen Biologen und Umweltschützer über die Unbelehrbarkeit der Campesinos zu klagen, die trotz massiver Ökopropaganda mit den jährlichen Brandrodungen scheinbar unbeeindruckt fortfuhren. Schätzungen des Landesministeriums für Umwelt, Naturressourcen und Fischerei (SEMARNAP) gehen davon aus, daß bis 1996 insgesamt 70.000 Hektar Regenwald gerodet wurden. Davon dienten 36.700 Hektar dem Anbau von Grundnahrungsmitteln (Mais, Bohnen, Reis) und knapp 30.000 Hektar werden als Weideland genutzt. Seit Anfang der 80er Jahre verdrängen Weiden allmählich Ackerland, ein Prozeß, der sich seit 1994 aufgrund günstiger Kredite für Rinderzüchter beschleunigt hat. Zwischen 1986 und 1995 ging die Anbaufläche für Mais von 36.400 Hektar auf 24.100 Hektar zurück, obwohl sich die Bevölkerung während dieses Zeitraums vervierfachte. Hingegen stieg die Anzahl der Rinder von rund 4.550 (1987) auf über 17.000 (1996) an. Rinderzucht ist überwiegend auf die Märkte von Palenque und Mexiko-Stadt ausgerichtet. Für viele Familien jedoch bleibt Rindfleisch trotz der steigenden Produktion ein Luxusartikel, den sie sich nur zu besonderen Anlässen leisten.
Rinderzucht ist die wichtigste legale Einkommensquelle in der Region. Für ein junges Rind erhalten die Kleinbauern durchschnittlich umgerechnet 400 Mark von Zwischenhändlern. Ein Kilogramm Mais können sie für höchstens 40 Pfennig verkaufen und müssen außerdem den beschwerlichen Transport über Flüsse und unbefestigte Straßen selbst arrangieren. Oft genug deckt der spärliche Gewinn aus dem Maisverkauf kaum die Transportkosten.

Illegal, aber lohnend: Mahagonihandel

Eine weitere wichtige, jedoch illegale Einkommensquelle ist der Edelholzhandel, dessen Anteil am Verschwinden des Regenwaldes zwar beträchtlich, jedoch aufgrund fehlender Daten kaum zu ermessen ist. 1989 erließ der damalige Gouverneur von Chiapas Patrocinio González Garrido ein allseitiges Verbot für das Fällen und die Vermarktung von Edelhölzern aus dem Lacandonischen Urwald. Zwei Jahre zuvor hatte die Landesregierung jedoch erst begonnen, den Ejidos Lizenzen für den Edelholzverkauf auszustellen. Nach dem Verbot setzten viele Campesinos in Marques de Comillas den Edelholzhandel illegal fort, da große Mengen Mahagoni bereits gefällt waren. Nach Angaben der Siedler wurden zwischen 1989 und 1993 Tausende von Mahagoni-Bäumen zu Billigpreisen (rund 2,- DM pro Kubikmeter Mahagonibohle) nach Guatemala verkauft. 1994 lockerte SEMARNAP unter anderem als Antwort auf den Zapatistenaufstand in den benachbarten Cañadas das Verbot und erlaubte die Vermarktung von rund 23.000 Kubikmetern gefällten Mahagoni-Holzes. Nach Angaben von SEMARNAP verkauften Campesinos in Marques de Comillas von August bis Dezember 1994 mindestens 17.000 lebende Mahagoni-Bäume zu Billigpreisen nach Palenque. Das entsprach mehr als dem Fünffachen der mit dem Umweltsekretariat vereinbarten Menge. Trotz des skandalös geringen Aufkaufpreises für Mahagoni sehen viele Bauern die Vermarktung ihrer Edelholzressourcen als einzige Alternative zur Brandrodung, die wenigstens ein stabiles Einkommen verspricht.

Was tun?

Stellt sich die Frage: ist der Regenwald in Marques de Comillas überhaupt zu retten und wenn ja, wie? Die Region leidet unter einer chronischen wirtschaftlichen und sozialen Vernachlässigung sowohl von seiten der Regierung als auch von seiten privater Investoren und NGO’s. Hunger gehört in vielen Familien zum Alltag, ebenso wie die Unterernährung ihrer Kinder. Wer soll sich da um den Schutz des Regenwaldes kümmern? Politiker, Agrarexperten, Umweltorganisationen und die lokale Bevölkerung sind sich weitgehend darüber im Klaren, daß die fortschreitende Rodung des Regenwaldes nur durch alternative Einkommensquellen und Anbaumethoden aufzuhalten ist. Über beide besteht jedoch alles andere als ein Konsens. Seit Anfang der 80er Jahre hat das Landwirtschaftsministerium SAGAR verschiedene Projekte initiiert, die Anbau und Vermarktung von Kakao, Chili, Kautschuk und Vanille fördern sollten. Aus unterschiedlichen Gründen, wie schlechte Beratung, Korruption, fehlende oder zu spät eintreffende Kredite, sind diese Programme früher oder später gescheitert. 1995 rief SEMARNAP einen Pilotplan für eine selektive und ökologisch verträgliche Kommerzialisierung von Edelhölzern ins Leben. Der Plan sollte ein alternatives Einkommen schaffen und gleichzeitig den illegalen Edelholzraubbau beenden. Alle 38 Ejidos in der Region unterzeichneten den Pilotplan, jedoch haben bis heute nur acht eine Verkaufslizenz erhalten. Die Umweltorganisation Conservacion Internacional versucht seit 1995 mit einem Schmetterlingsprojekt die Bauernfamilien über den ökonomischen und ökologischen Nutzen des Regenwaldes aufzuklären. Die Organisation kauft von der lokalen Bevölkerung Schmetterlinge zu relativ hohen Preisen (für die seltensten Exemplare werden bis zu 200 DM gezahlt) und verlangt im Gegenzug den Schutz von 70 bis 100 Hektar großen Waldgebieten. Viele Familien begrüßen diesen Extraverdienst. “Trotzdem werden wir Campesinos bleiben,” sagte einer der Bauern. “Die Schmetterlingsjagd ist eher was für Frauen und Kinder.” In einigen Ejidos begannen Campesinos auf eigene Initiative, Naturschutzprojekte zu entwerfen. So gelang etwa einer Gruppe im Ejido Reforma Agraria, mit Hilfe eines Regierungskredits von 18.000 DM eine Infrastruktur für ein Ökotourismusprojekt zu schaffen. Seit 1996 reserviert das Ejido rund 1.000 Hektar Regenwald für ausschließlich forstwirtschaftliche und touristische Zwecke. Eine ähnliche Idee verfolgten Campesinos des dicht bevölkerten und stark von Brandrodungen betroffenen Ejidos Nuevo Orizaba. Ihre Anfrage nach Förderung eines Ökotourismusparks und eines Aufforstungsprojekts wurde jedoch vorerst von der Landesregierung abgelehnt. “Mit dieser Absage ist für die Leute das Projekt gestorben,” erklärte Don Constantin, der Organisator der Initiative. “Die werden weiterroden, bis nichts mehr da ist.”

“Wovon soll man sonst auch leben?”

In Boca de Chajul organisierten sich einige Campesinos, um eine Reisschälmaschine zu kaufen und ökologisch angebauten Reis zu vermarkten. Bisher fehlt es jedoch an Abnehmern des Produktes und der Verkauf innerhalb der Region wird kaum die Kosten der Investition decken.
Die Reihe von Problemen und Mißerfolgen auf der Suche nach Alternativen ließe sich beliebig fortsetzen. Während die Regierung und dieUmweltorganisationen die Kleinbauern als Hauptakteure der Zerstörung des Regenwaldes beschuldigen, verteidigen sich diese, indem sie die Regierung und Umweltschützer für ihre soziale und wirtschaftliche Misere und fehlende Einkommensquellen verantwortlich machen. “Ich brauche ein Pferd, einen Pflug…Düngemittel. Die Regierung unterstützt uns nicht im Umweltschutz. Sie will den Wald retten, aber tut nichts dafür. Wenn die Regierung nicht bald was unternimmt, wird eines Tages alles in die Luft gehen. Ich schütze 10 Hektar Wald in meiner Parzelle, denn ich brauche das Holz. Man sollte doch besser das Land nutzen, das bereits kultiviert ist, anstatt neuen Wald zu roden,” meinte ein 80-ähriger Campesino aus Nuevo Orizaba, der erst vor wenigen Jahren sein zweites Werkzeug für die Feldarbeit erhielt: eine Hacke. Auch Bauern aus El Piru sehen die Ursache der Regenwaldzerstörung in der fehlenden Intensivierung und Modernisierung ihrer Anbautechniken. “Wir wollen mechanisieren, brauchen Technik. Es ist wichtig, den Regenwald zu bewahren, aber wir müssen davon leben können. Auch wir haben Bedürfnisse.”
Ein anderer meinte: “Mit Maschinen könnte ich die Stämme und Wurzeln aus meinem Maisfeld ziehen und die Pflanzen enger setzen. Dadurch hätte ich höhere Erträge und müßte nicht so viel Wald abbrennen.” Viele Campesinos sind entgegen der Behauptungen von Umwelt- und Agrarbehörden bereit, in Projekten mitzuarbeiten, die beides, Umweltschutz und produktive Entwicklung, fördern. Solang jedoch Regierung und Umweltorganisationen den Erhalt des Regenwaldes von der produktiven und sozialen Modernisierung der lokalen Gemeinden abkoppeln, werden Brandrodung und Edelholzschmuggel aus Mangel an Alternativen fortgesetzt – bis zum letzten Baum.

Den arbeitenden Kindern nützt nur, was sie selbst wollen

In Lateinamerika, Westafrika und Südostasien sind seit einigen Jahren Organisationen arbeitender Kinder im Entstehen. Ihre Vorstellungen und Forderungen zur Kinderarbeit decken sich oft nicht mit dem, was Regierungen und internationale Organisationen wie ILO und UNICEF verkünden. Vor allem wenden sie sich dagegen, jede Arbeit von Kindern in Bausch und Bogen zu verdammen und abschaffen zu wollen. Statt dessen verlangen sie, Armut und Ausbeutungsverhältnisse ins Visier zu nehmen und die Kinder dabei zu unterstützen, bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen und in Würde und freier Entscheidung arbeiten zu können. Die Kinder wollen weiter ihre Familien unterstützen und eine aktive anerkannte Rolle in ihren Gesellschaften spielen.
Die Osloer Konferenz näherte sich ein Stück weit den Vorstellungen der Kinderorganisationen, indem sie sich auf die besonders ausbeuterischen und riskanten Formen der Kinderarbeit konzentrierte. Sie blieb aber meilenweit von den Erwartungen der Kinder entfernt, indem sie die internationalen und strukturellen Ursachen der Ausbeutung von Kindern ignorierte und sich wie eh und je auf gesetzliche Verbote und Boykottappelle kaprizierte. Eine neue Strategie, die wirklich den arbeitenden Kindern zugute käme und ihre Situation verbesserte, kam auf der Osloer ILO-Konferenz nicht in Sicht.
Die 300 MinisterInnen und ExpertInnen von ILO, UNICEF, Gewerkschaften, Unternehmensverbänden und Kinderhilfsorganisationen, die sich auf der Konferenz die Köpfe heiß redeten, duldeten sage und schreibe drei (3) handverlesene Kinder unter sich und störten sich auch noch daran, daß die anderen ihr Forum verließen und vor der Tür ihrer luxuriösen Konferenzstätte demonstrierten. In Oslo waren es vor allem einige Gewerkschaften und Regierungen, die sich die Mitwirkung und Kritik der Kinder verbaten.
Ihre Sturheit und Arroganz wurde selbst innerhalb der UNICEF, die die Konferenz mitveranstaltete, mit Empörung quittiert. Immerhin: In einem Brief an die norwegische Regierung erklärte Bill Myers, einer der profiliertesten UNICEF-Experten zur Kinderarbeit:
„Allein pragmatische Erwägungen erfordern, die arbeitenden Kinder gerade in dem Moment, in dem wir Maßnahmen zu ihrem Schutz beschließen, mitwirken zu lassen und uns ihnen zu stellen. Jedes Mal mehr erkennen die Experten, daß ein wirksamer Schutz der Kinder gegen den Mißbrauch am Arbeitsplatz nicht von oben gegen den Willen der Bevölkerung dekretiert werden kann, vor allem in Ländern mit einem hohen Anteil armer Familien, deren Kinder mehrheitlich in der Landwirtschaft, im Haushalt und im informellen Sektor arbeiten.“
In Oslo wurde die Chance verpaßt, neue Wege im Kampf gegen die wirtschaftliche Ausbeutung und den sozialen Ausschluß zusammen mit den direkt betroffenen Kindern zu suchen. Um so wichtiger ist es, die Kritik, Vorschläge und Forderungen der sich organisierenden Kinder selbst einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

KASTEN

Erklärung des V. lateinamerikanischen und karibischen Treffens
arbeitender Kinder an die internationale Gemeinschaft

Für Arbeit in Würde und eine Gesetzgebung, die uns schützt und anerkennt

Die VertreterInnen der Bewegungen und Organisationen arbeitender Kinder Lateinamerikas und der Karibik (NATs) sowie anwesende VertreterInnen der arbeitenden Kinder Afrikas und Asiens, die sich auf dem V. lateinamerikanischen und karibischen Treffen aller organisierten arbeitenden Kinder versammelt haben, geben hiermit im Namen von weiteren Millionen von arbeitenden Kindern dieser Regionen folgende Erklärung an die internationale Öffentlichkeit ab:
Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen hat für uns Kinder die Rechte, angehört zu werden (Art. 12), uns zu organisieren (Art. 15) und beschützt zu werden (Art. 32) festgelegt. In unserem tagtäglichen Leben, in unserer Arbeit, in unseren Organisationen und auf diesem lateinamerikanischen Treffen haben wir NATs jedoch feststellen müssen, daß diese Rechte nicht ausreichend sind, denn sie werden in der Praxis nicht respektiert.
Man hört uns an, aber man berücksichtigt unsere Ansichten nicht. Man gibt uns das Recht, uns zu organisieren, aber unsere Organisationen arbeitender Kinder und Jugendlicher werden nicht anerkannt. Man „beschützt“ uns, aber man läßt uns nicht an der Ausarbeitung solcher „Schutz“programme mitwirken. Unsere Organisationen kämpfen Tag für Tag für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, für unsere Rechte auf angemessene und qualitativ gute Ausbildung, für bessere Gesundheitsbedingungen, für Möglichkeiten, uns versammeln zu können, um gemeinsam Aktionen durchzuführen, das heißt dafür, in unserem Leben selbst die Protagonisten zu sein und in unseren Gesellschaften als soziale Subjekte anerkannt zu werden. Unsere Organisationen haben sich als die beste Art erwiesen, uns vor Ausbeutung, schlechter Behandlung und der Geringschätzung durch die Gesellschaft zu schützen. Innerhalb unserer Organisationen fühlen wir uns als würdige, fähige und vollwertige Personen und empfinden Stolz für unsere Arbeit. Hier bilden wir uns und finden Raum für Solidarität und für die Erarbeitung von Vorschlägen für Alternativen zum bestehenden System von Armut und Gewalt, das für uns unzumutbar ist.
Damit unsere Meinungen ernstgenommen werden, müssen unsere Organisationen auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene rechtlich voll anerkannt werden. Unsere demokratisch gewählten VertreterInnen müssen in allen lokalen, nationalen und internationalen Gremien mitreden und mitwählen können, in denen über Politik, die die Kinder und die Arbeit betrifft, entschieden wird, wie in der Bildungspolitik, der Arbeitspolitik sowie bei Plänen zur sozialen Absicherung und Gemeindeentwicklung. Die Präsenz der NATs innerhalb dieser Gremien gemeinsam mit Delegierten anderer sozialer Organisationen ist die beste Garantie im Kampf gegen Ausbeutung, Armut und Ausgrenzung und ein großer Schritt zur Durchsetzung der Menschenrechte. Wir NATs aus Lateinamerika und der Karibik wie auch unsere Freunde aus Afrika und Asien verstehen uns als ProduzentInnen DES LEBENS, angesichts der Kultur des Todes, die uns jegliche Rechte und unsere volle Eingliederung in die Gesellschaft verwehrt. Dies nicht anzuerkennen bedeutet, uns noch weiter als jetzt schon auszugrenzen. Gleichzeitig von Bürgerrechten zu uns zu sprechen, ist ein Hohn.
JA zur Arbeit in WÜRDE, NEIN zur Ausbeutung!
JA zur Arbeit unter SCHUTZ, NEIN zu schlechter Behandlung und Mißbrauch!
JA zu ANERKANNTER Arbeit, NEIN zu Ausschluß und Ausgrenzung!
JA zu Arbeit unter MENSCHLICHEN BEDINGUNGEN, NEIN zu unwürdigen Bedingungen!
JA zum RECHT, IN FREIHEIT ZU ARBEITEN, NEIN zur Zwangsarbeit!
Huampaní, Lima (Peru), 6.–9. August 1997
VertreterInnen der Bewegungen arbeitender Kinder: aus der Region Südamerika: Argentinien, Paraguay, Uruguay; aus der Andenregion: Kolumbien, Chile, Ecuador, Peru, Venezuela; aus Mittelamerika und der Karibik: Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Dominikanische Republik.
Übersetzung: Jutta Pfannenschmidt und Manfred Liebel

Newsletter abonnieren