Die Kosten der Einheit

Noch heute fahren in den entlegenen ländlichen Regionen Nicaraguas, auf Sand und Schlammstraßen, IFA-LKWs aus DDR-Produktion und befördern täglich Hunderte von Personen bei widrigsten Straßenverhältnissen. Diese Relikte vergangener Solidarität sind heute längst ins Eigentum von Fuhrunternehmen oder Beförderungskooperativen übergegangen und gelten technisch als unverwüstlich. Noch heute sind ehemalige Vorzeigeprojekte der DDR, wie das deutsch-nicaraguanische Krankenhaus in Managua (ehemaliges „Carlos Marx“-Krankenhaus) und eine Berufsschule mit dualem Ausbildungssystem stumme Zeugen dieser vergangenen Solidarität.
Die Kehrseite dieser praktischen Entwicklungshilfe heißt heute „Schuldentilgung“: Nicaragua zählt zu den höchstverschuldesten Ländern dieser Welt und verwendete zum Beispiel 1996 33,9 Prozent seines Haushalts zur Tilgung der diversen bilateralen und multilateralen Schulden, die sich im Laufe der unterschiedlichsten politischen Systeme in den vergangenen 40 Jahren angesammelt haben.

Nicaragua auf dem absteigenden Ast

Im Laufe der vergangenen Jahre hat es verschiedene – teils erfolgreiche – Initiativen gegeben, um eine Schuldenreduzierung von Seiten der Bundesregierung zu erreichen. Gründe für eine Schuldenreduzierung gibt es genug: seit Nicaragua 1994 einen IWF-Strukturanpassungsplan durchführt, haben sich die sozio-ökonomischen Daten und damit die Lebensbedingungen eines Großteils der Bevölkerung in den vergangenen Jahren stetig verschlechtert. Nach dem „Bericht für menschliche Entwicklung“ der Vereinten Nationen ist Nicaragua im Laufe der Jahre 1996 bis 1998 von Platz 127 auf Platz 137 von insgesamt 176 Ländern abgerutscht, und ist heute nach Haiti das ärmste Land Lateinamerikas und der Karibik. Die AnalphabetInnenrate ist erneut auf über 30 Prozent gestiegen, über 80 Prozent der nicaraguanischen Haushalte leben nach Kriterien der Vereinten Nationen in Armut und von 1.000 Kindern, die geboren werden, sterben 67 vor dem fünften Lebensjahr.
Wurden in den achtziger Jahren unter der sandinistischen Regierung noch 50 US-Dollar pro Person für das öffentliche Gesundheitswesen ausgegeben, waren es 1997 nur noch 16 US-Dollar. Hauptsächlich Frauen sind die Leidtragenden der mangelnden Gesundheitsversorgung, die durch die Kürzungen des Staates im Rahmen der Strukturanpassung hervorgerufen wurde: die registrierte Müttersterblichkeit liegt bei 211 Toten auf 100.000 Geburten, während die Dunkelziffer mindestens das Doppelte beträgt.
Die Unterzeichnung des ersten Strukturanpassungsprogramms 1994 ebnete Nicaragua aber auch den Weg zu weiteren Verhandlungen über Schuldenreduzierungen. Es folgten zahlreiche Kontroversen zwischen der Bundesregierung und der mittlerweile neoliberalen Regierung Nicaraguas, die rund 50 Prozent der aufgelaufenen Schulden als militärische Lieferungen an die SandinistInnen deklarieren wollte. Bonn argumentierte, daß es sich bei den DDR-Lieferungen zu keiner Zeit um Kriegswaffen, sondern um sogenannte „Dual use“-Güter (Mehrzweckgüter) gehandelt habe – wie jene noch heute genutzten IFA-Lastwagen. Im Juli 1994 kam es zu den ersten erfolgreichen Gesprächen zwischen der nicaraguanischen und der bundesdeutschen Seite, und im September desselben Jahres wurde eine Vereinbarung unterschrieben, welche Nicaraguas Zahlungen in bezug auf die Schulden aus der DDR-Ära faktisch um 78 Prozent reduzierte.
Die aktuellste Schuldenumwandlung im Falle Nicaraguas stammt vom 18. August 1998: Im Rahmen der im Pariser Club beschlossenen Umschuldung von 80 Prozent der akkumulierten Schulden (berechnet ab dem Moment, als Nicaragua zum ersten Mal im Pariser Club um einen Schuldenerlaß gebeten hat) wurden folgende Streichungen bzw. Umwandlungen in Aussicht gestellt: im Bereich der Handelsforderungen werden 111 Millionen DM von den fälligen Schuldendienstzahlungen in den Jahren 1998 bis 2000 erlassen und abhängig von den Regierungsverhandlungen können weitere 12 bis 21 Millionen DM umgeschuldet werden.

Starre Bundesregierung

Die Bundesregierung lehnt nach wie vor eine besondere Umwandlungsoption im Falle von Nicaragua ab und tut keinen Schritt mehr, als im Pariser Club beschlossen. Trotzdem gab es in den vergangenen Jahren kleine Lichtblicke am Horizont der Entschuldung, die auf weitreichendere Lösungen hoffen lassen. Im Rahmen der Ergebnisse der Rio-Konferenz, erleichterte die Bundesregierung die Umwandlung von Forderungen aus der bundesdeutschen Entwicklungshilfe. 30 Millionen DM würden Nicaragua erlassen, wenn die nicaraguanische Regierung in Landeswährung den Gegenwert von sechs Millionen DM in einen Fonds einzahlte, der für Projekte zum Umweltschutz oder zur Armutsbekämpfung verwendet würde. Im Fall von Nicaragua ist die Säuberung des Managua-Sees zur Trinkwasseraufbereitung für ein solches Umschuldungsprojekt ausgewählt worden, dessen Planung und Durchführung bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KFW) läge. Bis zum heutigen Zeitpunkt gibt es nach wie vor kein grünes Licht für dieses Vorhaben, da die nicaraguanische Alemán-Regierung nicht bereit ist, ihren eigenen, finanziellen Beitrag zu leisten.
Währenddessen läuft die Sanduhr für viele Menschen in Nicaragua ab: Fehlende Kleinkredite für kleine und mittlere Bauern und Bäuerinnen, ungeklärte Eigentumsfragen, Ernteverluste durch Dürreperioden und Korruption auf Seiten der Regierung tragen zu fortschreitender Verarmung und Mangelernährung bei. Ein Anstieg der Beschaffungskriminalität, mangelnde Strafverfolgung durch die marode Justiz und das Ansteigen von Gewalt gegen Frauen und Kinder prägen das Krisenszenario Nicaraguas. Das Bild der Armut ist weiblich dominiert: So erklärten 1996 mehr als 75 Prozent der Frauen bei einer Untersuchung in über 40 kleinen Gemeinden, daß sie ohne regelmäßige Erwerbsarbeit leben. Über 30 Prozent der Haushalte in Nicaragua werden von einer Frau als Haushaltsvorstand geführt. Diese Haushalte weisen eine noch größere Armut auf als die Familien, in denen ein Mann als Familienoberhaupt gilt. Kein Wunder, da Frauen vorwiegend im informellen Sektor tätig sind und dort durchschnittlich mehr als 30 Prozent weniger Geld als die Männer verdienen.

“Nicaragua braucht Entschuldung”

Schon seit Jahren gibt es eine von deutschen entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen (NROs) ins Leben gerufene Initiative „Nicaragua braucht Entschuldung“, die eine grundsätzliche Lösung der anhaltenden Verschuldungssituation Nicaraguas fordert und damit in erster Linie auch die Bundesregierung anspricht:
* Neueinstufung der Schulden aus der DDR-Ära, die es ermöglicht, diese Schulden wie bundesdeutsche Entwicklungshilfegelder zu behandeln – womit sie Subjekt von Schuldenerlassen und Schuldenumwandlungen werden könnten.
* Umwandlung der restlichen Schulden zu Gunsten eines Fonds, der ein alternatives Kleinkreditsystem für die arme Bevölkerung speisen soll. Es besteht bereits ein Netzwerk von zwölf nicaraguanischen Nichtregierungsorganisationen (FOCAD – Alternativer Kreditfonds für Entwicklung), die im Bereich von alternativen Kleinkreditfonds arbeiten und diesen Vorschlag aus der nicaraguanischen Zivilbevölkerung weiterverfolgen.
Darüber hinaus hat sich auf nicaraguanischer Seite eine politische Lobby-Fraktion aus anderen Nichtregierungsorganisationen gebildet (grupo prepositivo de cabildeo), die eher im Bereich der sozialen und gesellschaftlichen Entwicklung angesiedelt ist und sich vor allem um die Bedürfnisse der Zivilbevölkerung kümmert. Damit bildet sie quasi das Gegengewicht zur nicaraguanischen Regierung, die zwar den Zugang zu Leistungen von IWF und Weltbank sucht, jedoch wenig Interesse an einer nachhaltigen Lösung zugunsten der Bevölkerung zu haben scheint.
Alternativen sind möglich, wenn der politische Wille besteht – das zeigt unter anderem das Beispiel der Vereinigten Staaten, die nach dem Wahlsieg des neoliberalen Wahlbündnisses UNO in Nicaragua schon im Jahre 1991 die gesamte Schuld aus der Entwicklungszusammenarbeit konditioniert erlassen haben. Die Bedingung: die nicaraguanische Regierung verpflichtete sich, die Zinsen auf die nun mehr fiktiven Schulden in heimischer Währung in einen sogenannten „America Fund“ einzuzahlen.
Der bundesdeutschen Regierung als größtem Einzelgläubiger Nicaraguas stünde es gut an, diesem Beispiel zu folgen. Währenddessen beharrt die bundesdeutsche Regierung auf der Unmöglichkeit einer vollständigen Schuldenumwandlung – und das zum Teil bei Forderungen, die ihr, wie die aus den Zeiten der DDR, nur vererbt worden sind.

Angela Bähr koordiniert für das INKOTA-netzwerk in den neuen Bundesländern die Kampagne „Erlaßjahr 2000. Entwicklung braucht Entschuldung“.

Editorial Ausgabe 291/292 – September/Oktober 1998

Entwicklungspolitik taucht in den Wahlprogrammen der Parteien erst an letzter Stelle auf, auf den hinteren Seiten werden ein paar Statements aneinandergereiht. So das provokative Statement der Sprecherin des Berliner entwicklungspolitischen Ratschlags (BER) nach Lektüre der einschlägigen Werke anläßlich einer entwicklungspolitischen Podiumsdiskussion mit Berliner BundestagskandidatInnen Ende August. Und auch live war manchem Parteienvertreter anzumerken, daß er inmitten des Wahlkampfzirkus’ recht wenig Zeit gefunden hatte, sich Grundkenntnisse im Bereich Entwicklungspolitik anzueignen. Konzeptionslos schwadronierte der PDS-Vertreter von der Notwendigkeit, über Entwicklungspolitik nachzudenken. Sein CDU-Kollege versuchte mit Kompetenzvorsprung zu brillieren und gab zynische Argumentationshilfen zum besten. Er versuchte, dem – größtenteils aus hauptamtlichen NGO-VertreterInnen bestehenden – Publikum darzulegen, worauf es ankomme: Um Entwicklungspolitik in den Zeiten leerer Haushaltskassen zu legitimieren, müsse man direkt an den Egoismus des Wahlvolkes appellieren. Nach dem Motto: Wenn wir nicht jetzt etwas gegen die Armut in der Dritten Welt tun, stehen die Hungrigen bald hier auf der Matte… Auch die Vertreterin von Bündnis 90/Die Grünen hatte nur eine Verlegenheitsreplik auf den Vorwurf der Marginalisierung von Entwicklungspolitik parat: Diese komme im grünen Wahlprogramm erst an letzter Stelle, weil sie so etwas wie die “Quintessenz“ der vorangehenden Positionen darstelle.
Nicht nur zu Wahlkampfzeiten stellt sich bei Diskussionen um staatliche Entwicklungspolitik folgende Frage: Debattiert man ressortübergreifende Forderungen an die Bundesregierung, oder konzentriert man sich auf die Aktivitäten des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ)?
Sechzehn Jahre Kohl & Co. haben auch auf dem Feld der Entwicklungspolitik einiges verdorren lassen. Ein “Alibiministerium“ sei das BMZ, schrieb kürzlich der Chefredakteur der Zeitschrift “Entwicklung und Zusammenarbeits“ in der taz. Ohne tatsächliche Kompetenzen dümpele es vor sich hin.
Ob nachhaltige Entwicklung und globale Umweltprobleme, Habitat und Stadtentwicklung oder Migration und Armutsproblematik: Ganz gleich, um welche auf UNO-Konferenzen oder anderswo geführten Süd-Nord-Debatten es sich handelt: Vom BMZ-Hausvorsteher Carl-Dieter Spranger fehlt zumeist jegliche Spur.
Steckt das Ministerium bloß in der Krise, oder ist es längst zum Anachronismus degeneriert? Diese Frage werfen nicht nur neoliberale PolitikerInnen auf, für die Entwicklungszusammenarbeit höchstens als indirekte Form der Exportförderung fungieren darf. Auch in der entwicklungspolitisch engagierten Szene wird das Thema heftig diskutiert, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Da Entwicklungspolitik ein Projekt des Kalten Krieges gewesen sei, habe sie in Zeiten neoliberaler Globalisierung für die ohnehin keine Bedeutung mehr.
Tatsächlich erscheint vor diesem Hintergrund die “Projektitis“ nicht nur des BMZ, sondern auch so mancher Nichtregierungsorganisation (NRO) wie ein hilfloser Kampf gegen Windmühlen. So erfreulich es ist, daß die NRO in den letzten Jahren an Einfluß gewonnen haben, so falsch wäre es, ihr Machtpotential zu überschätzen oder zuzulassen, daß sie als Lückenbüßer für fehlendes staatliches Engagement instrumentalisiert werden.
Reicht eine deutliche Aufstockung des BMZ-
Etats aus, wie sie einige Grünen- und SPD-PolitikerInnen für den Fall eines Regierungswechsels in Aussicht stellen? Sollten die Kompetenzen des Ministeriums erweitert werden, oder wäre es besser, das BMZ aufzulösen und Entwicklungspolitik als Querschnittsaufgabe ressortübergreifend zu verankern? Immerhin ist die aktuelle entwicklungspolitische Debatte in den vergangenen Jahren wieder über die Projektfixierung hinausgewachsen. Allerdings werden Stichworte wie “Entwicklungspolitik für den Norden“, “weltweite Strukturpolitik“ und “global governance“ meist noch recht nebulös diskutiert (so auch die Kritik der Berliner Initiative BLUE 21 am entwicklungspolitischen “Memorandum ’98″). Der Nebel könnte ein wenig gelichtet werden, wenn die Profiteure der neoliberalen Weltordnung deutlicher benannt würden.

Als Tiger losgesprungen, als Bettvorleger gelandet

Wie schon zum letzten Wahlkampf 1994 wurde auch diesmal ein entwicklungspolitisches Memorandum von einigen Entwicklungsexperten der Öffentlichkeit vorgestellt. Zu den Initiatoren des Memorandums gehören Eckhard Deutscher (DSE), Gunther Hilliges (Landesamt für Entwickungszusammenarbeit Bremen) und Manfred Kulessa (AGKED). (Auf das „Innen” wird aus diesem Grund, sofern die Initiatoren gemeint sind, verzichtet.) Das Memorandum `98 will, so das hochgesteckte Ziel, „herkömmliche Entwicklungspolitik“ durch „internationale Strukturpolitik“ ersetzen. Diese Politik soll sich an einem nicht näher definierten Leitbild der Nachhaltigkeit orientieren. Durchsetzen soll dies ein an keiner Stelle mit Namen genanntes Ministerium, das gegenüber dem jetzigen Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) über deutlich erweiterte Kompetenzen und mehr Mittel verfügen soll. Ob diesem Memorandum mehr Erfolg beschieden sein wird als seinem Vorgänger, bezweifeln wir. Es betont zwar in seinem ersten Teil die großen Herausforderungen, die sich aus der Globalisierung ergeben. Doch die rein institutionellen Reformvorschläge im zweiten Teil stehen in einem deutlichen Mißverhältnis zu den umrissenen globalen Problemen.
Über 250 Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft haben das Memorandum unterschrieben. Es wurde außerdem vom Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO) an den Bundeskanzler, den SPD-Kandidaten und die Spitzen der politischen Parteien verschickt. Mittlerweile ist es unter anderem in epd-Entwicklungspolitik 5/6/98 (März) und der Frankfurter Rundschau vom 16. Juni 1998 erschienen. Eine Kurzfassung und Kritik findet sich in der Zeitschrift blätter des informationszentrums 3. Welt (8/98, Nr. 231). Die große Aufmerksamkeit, die dem Papier geschenkt wurde, hat uns ebenfalls zu einer Auseinandersetzung damit veranlaßt. Als Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Umwelt und Entwicklung (BLUE21) wollen wir auf die Schwachstellen des Memorandums ‘98 hinweisen und unseren Beitrag zu der überfälligen Diskussion über die deutsche Entwicklungspolitik leisten.

Der Staat in der globalisierten Wirtschaft: Opfer oder Täter?

Das Memorandum beginnt mit einer relativ ausführlichen Analyse der Probleme und neuen Herausforderungen, die sich aus der Globalisierung ergeben. In dem Hinweis auf die veränderten weltpolitischen Bedingungen, der die Entwicklungspolitik Rechnung tragen müßte, liegt sicherlich die Stärke des Papiers. Allerdings entsteht der Eindruck, daß die Globalisierung von unsichtbarer Hand über uns kommt. Dadurch wird von den politischen Akteuren, die diesen Prozeß interessengeleitet forcieren, ebenso wie von hausgemachten Problemen der Entwicklungspolitik abgelenkt.
Was die Autoren von der Globalisierung halten, bleibt unklar. Sie und das dahinterstehende neoliberale Wirtschaftskonzept wird einmal als mitverantwortlich für die größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich angeführt. Dann wiederum wird sie als ungeahnte Chance angesehen, die einer „humanen Politik zum Durchbruch … verhelfen“ soll. Die Frage, von wem und wie die Chancen für eine humane Politik genutzt und gegen herrschende Interessen durchgesetzt werden sollen, wird nicht einmal gestellt.
Mehrfach ist in dem Papier in einem Zug von „Globalisierung und Deregulierung der Weltwirtschaft“ die Rede. Dabei wird vergessen, daß nicht überall dereguliert wird. Auf nationaler wie auf internationaler Ebene wird auch reguliert: siehe die Welthandelsorganisation (WTO), deren Regeln per Schiedsgericht durchgesetzt werden können, oder das geplante Multilaterale Investitionsabkommen (MAI), das ebenfalls eine Klageinstanz vorsieht; oder die Subventionszahlungen an die deutsche Wirtschaft. Genau das Gegenteil von Deregulierung ist hier der Fall. Die Autoren des Memorandums fordern nun eine stärkere Regulierung und die Herstellung von „Steuerungsfähigkeit“ auf internationaler Ebene, schreiben aber nicht, welche Art von Regulierung sie meinen.
Ist hier der Nationalstaat gefragt? Er wird im Memorandum als reines Opfer der Globalisierung und Deregulierung dargestellt, so daß man sich fragen muß, wie dieser schwache Staat künftig überhaupt eine „internationale Strukturpolitik“ durchsetzen soll. Wir sind dagegen der Auffassung, daß die Politik im Prozeß der Globalisierung keinesfalls ihr „Primat“ gegenüber der Wirtschaft verloren hat. Vielmehr sind es die Regierungen selbst, die aktiv neoliberale Wirtschaftsstrukturen und die Internationalisierung der Wirtschaft herbeiführen – sei es in der WTO oder in regionalen Handelsblöcken wie der EU oder der Nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA. Der Forderung nach mehr Steuerungsfähigkeit ist also die Frage entgegenzusetzen: Wer macht die Politik und in wessen Interesse?
Da wichtige Entscheidungen zunehmend auch auf der internationalen Ebene getroffen werden, wo in erster Linie die großen Industrienationen und die Konzerne dieser Länder das Sagen haben, verlieren unter den gegenwärtigen Bedingungen die Menschen in den Entwicklungs-, aber auch den Industrieländern zunehmend an Einfluß. Die Autoren des Memorandums beklagen nun zwar den Demokratieverlust, der mit der Globalisierung einhergeht. Mit keinem Wort aber fordern sie die Demokratisierung und größere Transparenz der inter- und supranationalen Institutionen.

Was eigentlich ist „internationale Strukturpolitik“?

Dem vermeintlich durch die Globalisierung geschwächten Staat wollen die Verfasser des Memorandums offenbar wieder zu Macht verhelfen, die er dann auf internationaler Ebene zum Nutzen aller einsetzen soll: Mit Hilfe einer „Entwicklungspolitik als internationale Strukturpolitik“ soll der Staat zudem dem Leitbild der Nachhaltigkeit zum Durchbruch verhelfen.
Der Begriff nachhaltige Entwicklung aber bleibt nebulös – als ob es schon genug sei, sich den Modebegriff als Leitbild zu verordnen, und alles andere regelt sich von selbst. Lapidar heißt es: „Die Verantwortung für eine Politik der Nachhaltigkeit muß auf allen Politikebenen verantwortlich wahrgenommen werden.“ Dann weisen die Autoren darauf hin, daß auf quantitatives Wachstum nicht verzichtet werden kann. Daß die Verknüpfung von Wachstum und Nachhaltigkeit ein Problem darstellen könnte, wird nicht bemerkt.
„An die Stelle der bisherigen Entwicklungshilfepolitik“ soll „eine verantwortliche weltweite Strukturpolitik treten“. Als Erkenntnis schimmert hier durch, daß Entwicklungshilfe sinnlos bleibt, wenn die „entgegenwirkende Dominanz der internationalen Finanzakteure“ nicht angegangen wird. Aber was folgern die Autoren daraus? Vergebens warten die LeserInnen auf eine Definition von Strukturpolitik. Handelt es sich um Infrastruktur, Bildung, Umweltschutz oder um die Regulierung des internationalen Finanzregimes? Auch folgender Satz aus dem Papier trägt kaum zur Klärung bei: „Eine nationale Politik, die dazu beitragen will, die gegenwärtigen internationalen Strukturprobleme zu lösen…, muß einen Beitrag zur internationalen Strukturpolitik leisten.“
Eines erscheint uns in diesem Zusammenhang sicher: Wenn man die herkömmliche Entwicklungshilfe zu recht in Frage stellt, dann kann man nicht einfach, wie im Memorandum geschehen, eine Aufstockung der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit auf 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und mehr Macht für das „zuständige Ministerium“ fordern, ohne zu erwähnen, wofür die zusätzlichen Mittel und Kompetenzen verwendet werden sollen. Egal, Hauptsache das Geld wird für den guten Zweck bereit gestellt. Ob vermehrte Zahlungsabflüsse an die Länder des Südens per se sinnvoll sind, ob das Geld für Großprojekte oder Armutsbekämpfung ausgegeben wird, diese Fragen werden sicherheitshalber nicht gestellt.

Die Rolle der Zivilgesellschaft

Noch einmal: Wer soll die Politik in die „richtigen Bahnen“ lenken und vor allem festlegen, was die „richtige Politik“ ist? Offenbar der Staat. Von ihm wird auch die Bühne abgesteckt, auf der die Zivilgesellschaft auftreten darf. Der Staat und seine Ministerien konzentrieren sich auf „die politische Führung und Leitung“. Den NGOs hingegen wird die Rolle der ausführenden Organe zugewiesen: „Die Nichtregierungsorganisationen und privaten Hilfswerke sollen die staatliche Zusammenarbeit (…) ergänzen“ – ausschließlich ergänzen, und nicht etwa kritisieren.
Was haben nun die entwicklungspolitischen Organisationen davon, wenn die Planungskapazität und die Steuerungskapazität sowie die Kompetenzen des zuständigen Ministeriums ausgeweitet werden und die vermeintliche Zivilgesellschaft eine spezifische Rolle in der Entwicklungspolitik erhält? Antwort: Geld. „Wir erwarten, daß das Ministerium die Förderungsmittel für NRO deutlich erhöht.“ Auch hier bleibt die Frage nach der Mittelverwendung unbeantwortet. Das entspricht einem generellen Problem in der bisherigen Entwicklungszusammenarbeit: Sie ist in höchstem Maße intransparent. Die Problemanalyse und Zielformulierung wird ebenso wie die Projektevaluierung vorwiegend zwischen staatlichen Behörden und wenigen NGOs vorgenommen. Ob letztere die gerne herbeigeschriebene Zivilgesellschaft darstellen, bezweifeln wir.

Entwicklungspolitische Notwendigkeiten

„Wir wollen Taten sehen!“, fordert das Memorandum. Aber welche Taten? Angesichts der Aneinanderkettung von Allgemeinplätzen in dem Wahlkampf-Papier muß ein Aufruf zum Handeln zwangsläufig folgenlos bleiben; noch dazu, wo sich der Nord-Süd-Konflikt im Memorandum verflüchtigt. Es wird nur noch von „unterschiedlich fehlentwickelten Ländern“ gesprochen.
Dabei ist die Voraussetzung für eine Verbesserung von Entwicklungspolitik die Auseinandersetzung mit der bisherigen Entwicklungspolitik und deren weitgehendem Scheitern. So ist bekanntlich der Abstand zwischen Arm und Reich gewachsen, wie übrigens auch im Memorandum vermerkt wird, als ob es Entwicklungshilfe nie gegeben hätte. Weit davon entfernt, daraus eine grundsätzliche Kritik der bisherigen Entwicklungspolitik abzuleiten, deuten die Autoren des Memorandums lediglich an, daß die „herkömmliche Entwicklungshilfepolitik allein den Fehlentwicklungen in den Ländern des Südens und Ostens nicht entgegenwirken kann.“
Das ist kein Wunder, sind doch die Hilfsgelder im Vergleich zu den Summen, die auf den globalen Waren- und Finanzmärkten unter kräftiger Mitwirkung der bundesdeutschen AkteurInnen umgesetzt werden, eine Marginalie. Richtiggehend fragwürdig wird die staatliche Entwicklungshilfe der Bundesrepublik dann, wenn sie zur Exportförderung verkommt. Immerhin rund 80 Prozent der Mittel der Entwicklungszusammenarbeit fließen wieder zurück in die heimische Wirtschaft.
Die Entwicklungspolitik muß sich wieder stärker mit den AkteurInnen auf den globalen Märkten, mit den Fragen der Produkions- und Handelsstrukturen, mit der Machtfrage und den Rahmenbedingungen, unter denen Hilfsmaßnahmen stattfinden, auseinandersetzen, um ihr Nischendasein verlassen zu können. Gerade diejenigen NGOs aber, die sich mit den Rahmenbedingungen und ihrer Veränderung befassen, erhalten keine staatlichen Mittel. Daher ist auch eine staatsunabhängige Finanzierung für NGOs unabdingbar.
Wichtige Aufgaben für die entwicklungspolitische Community wären beispielsweise, das System der Agrarsubventionen und -exporte der EU anzugehen. Vereinzelte Projekte zur Armutsbekämpfung wiederum haben allenfalls begrenzten Nutzen, solange die Bundesregierung aktiv bei allen internationalen Entschuldungsinitiativen blockiert. Weitere Aufgaben wären die Bekämpfung des Protektionismus gegen verarbeitete Produkte aus Entwicklungsländern, die Umgestaltung der bundeseigenen Hermes-Versicherung nach ökologischen und sozialen Kriterien und vor allen Dingen die Durchsetzung von Umwelt- und Sozialklauseln im Welthandel.
Wollen die EntwicklungspolitikerInnen und die NGOs substantielle Veränderungen bewirken, dann müssen sie da eingreifen, wo die politischen Rahmenbedingungen, vor allem im Bereich Wirtschaft und Finanzen, gesetzt werden – also in der EU, der OECD, dem IWF oder der WTO. Und das heißt auch, daß wesentliche Zielgruppen der NGO-Arbeit weniger im BMZ, als vielmehr im Wirtschafts-, Finanz- und zum Teil auch Außenministerium zu suchen wären. Mit den Memorandum-Autoren zu hoffen, daß eine künftige Regierung diese Ministerien schon dazu bewegen wird, Macht und Einfluß an das BMZ bzw. das angedachte Ministerium abzugeben, halten wir für unrealistisch.
Nachhaltige Entwicklung ist, anders als uns das Memorandum mit seiner Betonung auf internationaler Strukturpolitik glauben machen will, keine außenpolitische Maßnahme, die bloß unter der Federführung eines Ministeriums mit tatkräftiger Unterstützung von NGOs umgesetzt zu werden braucht. Hier schimmert eher ein technokratisches und paternalistisches Politikverständnis durch; nach dem Motto, die aufgeklärten Eliten des Westens werden es schon richten.
Statt dessen lassen sich das „Leitbild nachhaltiger Entwicklung“ und die daraus abgeleiteten konkreten Politikmaßnahmen nur über einen demokratischen Prozeß und innerhalb einer Zivilgesellschaft definieren, die von Rollenzuweisungen seitens des Staates möglichst verschont bleibt. Gerade von einer nationalstaatlichen Instanz kann wohl kaum die Führung erwartet werden, wenn es um die Behandlung der Machtfrage geht oder die Änderung von Strukturen, deren Nutznießer in erster Linie die Wirtschaft der Bundesrepublik ist. Hier müssen sich die NGOs schon selbst ihrer Kräfte besinnen.
Ausgerechnet aber in der entwicklungspolitischen Bildungspolitik, die die Memorandum-Autoren gerne in die Hände der NGOs geben möchten, darf sich der Staat nicht aus der Verantwortung ziehen. Im staatlichen Schul- und Hochschulwesen müssen Nord-Süd-Fragen und die Verantwortung aller für eine sozial gerechte und ökologisch tragfähige Entwicklung viel stärker als bisher verankert werden.
Insgesamt, so läßt sich unsere Kritik zusammenfassen, krankt das Memorandum ‘98 vor allem daran, daß es vorgibt, Antworten auf Probleme zu haben, die noch nicht annähernd untersucht und diskutiert worden sind. Die Orientierungslosigkeit in der Entwicklungspolitik sollte statt dessen zugestanden und ernstgenommen werden. Eine produktive Verunsicherung als Ausgangspunkt für eine Reformierung der Entwicklungspolitik erscheint uns allemal sinnvoller als das Jonglieren mit neuen Worthülsen und den altbekannten Forderungen nach Etaterhöhungen.

Ein düsterer Tag dämmert den Göttern!

Schon 1969 konstatierte der von den Vereinten Nationen in Auftrag gegebene “Pearson-Bericht” eine Krise der Entwicklungspolitik. Nichtsdestotrotz folgte Anfang der siebziger Jahre die Blüte der Entwicklungspolitik in der Bundesrepublik, untrennbar mit den Namen Brandt und Eppler verbunden. Selbst die inhaltliche Krise der Entwicklungspolitik, die in Epplers Rücktritt gipfelte, änderte nichts daran, daß die Mittel für die (west)deutsche Entwicklungshilfe ein Jahrzehnt lang weiter anstiegen, bis zum Höchsstand 1983 mit 0,48 Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP).
Notorisch sind auch die Theorie-Krisen der Entwicklungspolitik. Dies gilt sowohl für ihre kritischen Varianten als auch für die Mainstream-Konzeption von Entwicklung. So wurde die kritische Dependenz-Theorie zu Beginn der achtziger Jahre zu Grabe getragen und die Vision von „Entwicklung als Befreiung“ zerschellte spätestens mit der Niederlage der Sandinisten bei den freien Wahlen 1990. Die konventionelle Vorstellung nachholender Modernisierung nach westlichem Vorbild ist mit der Einsicht in die ökologischen Grenzen des Wachstums obsolet geworden. Spätestens seit der Rio-Konferenz ist offiziell aktenkundig, daß die westliche Art des Produzierens und Konsumierens nicht universalisierbar ist.
Davon unberührt hat die entwicklungspolitische Expertendiskussion ununterbrochen sektorale Innovationen hervorgebracht. Fast so schnell wie die Mode wechselten die Stichworte in den entwicklungspolitischen Publikationen: Grundbedürfnisstrategie, ländliche Entwicklung, informeller Sektor, Umwelt- und Ressourcenschutz, Frauenförderung, Armutsbekämpfung, Good Governance, Partizipation und vieles anderes mehr. In dieser Saison ist PPP (Public Private Partnership) der letzte Schrei.
Liegt angesichts dieser unverdrossenen Produktivität nicht der Schluß nahe: „Totgesagte leben länger!“?

Neue Qualität der Krise

Anders als in ihrer bisherigen Krisengeschichte ist die Konstellation heute jedoch eine grundsätzlich andere. Es gibt einige Umstände, die darauf verweisen, daß es zum letzten Gefecht der Entwicklungshilfe kommen könnte. An erster Stelle steht hier, daß die wichtigste Funktion der Entwicklungshilfe gegenstandslos geworden ist: Entwicklungshilfe als Instrument zur Eindämmung dessen, was im Kalten Krieg als „Kommunismus“ definiert wurde. Inzwischen gesteht selbst das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) dies nur noch leicht verklausuliert ein, wenn es in der entwicklungspolitischen Konzeption von 1996 heißt: „Die Entwicklungspolitik wird nicht mehr von geostrategischen Erwägungen des Ost-West-Konflikts überlagert.“ Da die Gefahr, daß Entwicklungsländer sich für einen anderen Entwicklungsweg als den kapitalistischen könnten, derzeit nicht besteht, entfällt eine entscheidende Legitimationsgrundlage für Entwicklungspolitik.
Hinzu kommt, daß die neoliberale Globalisierung, die sich zunächst vor und unabhängig von der historischen Wende von 1989/90 entwickelte, in Wechselwirkung mit dem Ende des Kalten Krieges zu einer Dynamik geführt hat, deren Konsequenzen nur mit den historischen Brüchen nach den beiden Weltkriegen vergleichbar ist. Damit sind die Rahmenbedingungen für Entwicklungspolitik völlig andere. Kamen Forderungen nach Abschaffung der Entwicklungshilfe früher nur von Teilen der Linken – mit der Begründung, es handele sich um verkappten Neokolonialismus – oder in Form immanenter, aber randständiger Kritiken wie von Brigtte Erler in ihrem Buch „Tödliche Hilfe“, so wird die staatliche Entwicklungshilfe heute aus zentralen Positionen in Frage gestellt. So meint Wolfram Engels von der Universität Frankfurt: „Für staatlich administrierten Kapitalverkehr in Form der Entwicklungshilfe ist in dieser Welt kein Raum mehr. Sie hat sich ohnehin nicht bewährt. ….Nun zeigt es sich, daß der Markt den Kapitaltransfer wirkungsvoller bewältigt als Entwicklungsbürokratien, wenn man ihm nur geeignete Rahmenbedingungen bietet.“ (Wirtschaftswoche 9/94).
Wenn es richtig ist, daß die Finanzen ein unbestechlicher Indikator für Interessenlagen und Prioritätensetzungen in der Politik sind, so finden wir die empirische Bestätigung Engels’ im freien Fall der Ausgaben für Öffentliche Entwicklungshilfe (ODA). Die Auszehrung der staatlichen Budgets der Industrieländer, die weithin als Begründung für den Rückgang der Entwicklungshilfe angeführt wird, ist dabei nur Symptom. Ursache für den Rückgang ist der systemische Anti-Etatismus des Neoliberalismus, nach dem der keynesianische Umverteilungs- und Sozialstaat tedenziell auf Null gebracht werden soll.

Flucht nach vorne

Angesichts dieser Perspektiven bleiben Rettungsversuche nicht aus, angefangen beim BMZ und großen Teilen der umgruppierten Development Community (kursiv) aus entwicklungspolitischen Consulting-Unternehmen und Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO), die an ihrer Abschaffung natürlich wenig Interesse haben. An die Stelle des sowjetischen Lagers treten jetzt neue Feindbilder als Legitimationsgrundlage wie Migration, die demographische Entwicklung im Süden, religiöser Fundamentalismus, Terrorismus und Umweltkatastrophen. Mit diesen wird der Süden zu einem Bedrohungskomplex aufgebaut, aus dem Entwicklungspolitik als zukunftsorientierte Risikovorsorge neu begründet werden soll.
Gleichzeitig wird eine Anpassung an den neoliberalen Mainstream gesucht, indem Entwicklungspolitik als Beitrag zur Sicherung des „Standorts Deutschland“ deklariert wird. Allerdings sollten solche Äußerungen in den offiziellen Verlautbarungen nicht überbewertet werden, da sie in hohem Maße rhetorische und taktische Züge tragen. Ziel der Anpassung ist es, wieder mehr Akzeptanz in Politik und Öffentlichkeit zu finden. Noch immer gibt es beim Personal des BMZ und den Durchführungsorganisationen zu viel Erfahrungsschatz, der einer umstandslosen Übernahme der neoliberalen Markt- und Standortreligion entgegensteht.
Gleichwohl findet schrittweise eine reale Orientierung der Entwicklungspolitik am neoliberalen Leitbild statt. Zentrale Momente dieses Ampassungsprozesses waren zum Beispiel:
– die uneingeschränkte Gefolgschaft gegenüber den Strukturanpassungsprogrammen von IWF und Weltbank, und in deren Schlepptau der EU-Entwicklungspolitik,
– die Aufnahme des Kriteriums „Einführung einer sozialen Marktwirtschaft“ in den Katalog, nach dem die bilaterale Hilfe vergeben wird,
– die wirtschaftsfreundliche Umformulierung des Regionalkonzepts für Lateinamerika und von Sektorkonzepten,
– sowie das Konzept der Public Private Partnership.
Das Dilemma dieser Strategie ist, daß sie die eigene Basis untergräbt: Je mehr sie sich auf die neoliberale Logik einläßt, desto eher macht sie staatliche Entwicklungshilfe überflüssig.

Das alternative Konzept

Weiter greift dagegen ein anderer Ansatz, der mit der Formel „Entwicklungspolitik als internationale Struktur- und Ordnungspolitik“ die aktuelle Diskussion zu dominieren beginnt. Politisch ist diese Debatte vor allem im Rot-Grünen Spektrum und bei zahlreichen NRO angesiedelt. So heißt es zum Beispiel im Memorandum entwicklungspolitischer Experten zur Bundestagswahl 1998, in dessen Titel bereits die Formel „Entwicklungspolitik als internationale Strukturpolitik“ auftaucht, es müsse „an die Stelle der bisherigen Entwicklungspolitik und der ihr entgegenwirkenden Dominanz der internationalen Finanzakteure eine verantwortliche weltweite Strukturpolitik treten.“ Und der jüngste Bericht über „Die Wirklichkeit der Entwicklungshilfe“ (herausgegeben von terre des hommes und der Welthungerhilfe), der alle Jahre eine Kritik der staatlichen Entwicklungspolitik aus Sicht dieser NRO übt, argumentiert, es müsse „staatliche Entwicklungspolitik als übernationale Ordnungspolitik“ gestaltet werden. Auch in der internationalen Development Community spielt der Ansatz unter der Bezeichnung Global Governance eine große Rolle.
Auch wenn es sich nicht um besonders präzise Begriffe handelt, so läßt sich hinter internationaler Struktur- und Ordnungspolitik respektive Global Governance doch ein diskursives Feld mit einigen festen, immer wiederkehrenden Größen ausmachen:
– das Konzept versteht sich als Alternative zur neoliberalen Globalisierung im allgemeinen und zur Strukturanpassungspolitik von IWF und Weltbank im besonderen,
– die internationalen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen sollen im Sinne dieses Leitbilds verändert werden,
– Strukturveränderungen innerhalb der Industriegesellschaften in Richtung „nachhaltiger Entwicklung“ werden für notwendig gehalten,
– zusammen mit anderen Politikfeldern, wie Außen-, Umwelt-, Landwirtschafts-, Verkehrs- und Energiepolitik soll Entwicklungspolitik zu einem neuen, „ganzheitlichen“ Politiktypus integriert werden,
– institutionell soll ein Netz aus reformbedürftigen internationalen Organisationen (UNO, Welthandelsorganisation (WTO), Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung etc.) sowie ein Geflecht von völkerrechtlichen Abkommen die globalisierte Wirtschaft regulieren und globale Probleme lösen,
– NRO wird eine gewichtige Funktion als demokratisierender Faktor und Träger von Kompetenz zugewiesen.

Wie alternativ ist die Alternative?

Internationale Struktur- und Ordnungspolitik ist also nicht mehr und nicht weniger als ein umfassendes Reformkonzept, das weit über das traditionelle Koordinatensystem von Entwicklungshilfe hinausgeht. Auch wenn über weite Strecken noch unvollständig formuliert, gewinnt es auf dem Hintergrund sinkender Akzeptanz des neoliberalen Leitbildes politische Bedeutung. In dem Maße, wie die Chancen auf einen politischen Paradigmenwechsel zunehmen, wird das Konzept an Attraktion gewinnen, und es ist nicht auszuschließen, daß es sich zum hegemonialen Diskurs für das kommende Jahrzehnt entwickelt.
So attraktiv das Konzept auf den ersten Blick erscheint, so geraten bei näherem Hinsehen auch seine Grenzen und Schwächen in den Blick.
So werden zum Beispiel die normative und analytische Ebene nicht deutlich voneinander getrennt, was zu einer blauäugig-idealistischen Aura führt, die das Ganze diffus umgibt, ähnlich wie bei dem Begriff der „nachhaltigen Entwicklung“. Besonders deutlich wird dies daran, daß das Konzept weitgehend Interessen, Macht- und Herrschaftsstrukturen im real existierenden Kapitalismus ausblendet. Ohne eine Kritik der politischen Ökonomie der Globalisierung dürfte aber auch eine tragfähige Alternativstrategie nicht zu haben sein.
Für die Handlungsempfehlungen steht demzufolge eine einseitige Konsensorientierung im Vordergrund, während Konflikt und die Entwicklung von emanzipatorischer Gegenmacht als Agent sozialen Wandels nicht vorgesehen sind.
Problematisch ist auch die Überschätzung von NRO als soziale Träger des Wandels. Neben Staat(en) und den dominanten Wirtschaftsakteuren wie den Transnationalen Konzernen, sollen sie ebenfalls als global players eine wesentliche Gestaltungsaufgabe in der internationalen Struktur- und Ordnungspolitik wahrnehmen.
Anders als Regierungen verfügen NRO kaum über Machtmittel. Anders als große Marktakteure verfügen sie auch nicht über nennenswerte finanzielle Mittel, mit denen sie Macht und Einfluß ausüben könnten. Ihre Ressourcen sind machtpolitisch „weiche“ Instrumente: Eine gewisse Sachkompetenz, Motivation und Engagement, das Image von Dynamik und Unverbrauchtheit, der Charme der Neuartigkeit sowie der Ruf moralischer Integrität, Unbestechlichkeit und selbstloser Idealismus. All dies verschafft den NRO hohe Akzeptanz in der Bevölkerung.
Wenn es ihnen gelingt, auf dieser Grundlage Öffentlichkeit herzustellen, gewinnen sie eine gewisse politische Relevanz und sind dann in der Lage, etwas mehr Transparenz in Entscheidungsprozesse zu bringen. Dennoch sollte die medienvermittelte Spektakularität einiger NRO-Aktionen (vor allem Greenpeace) und die Umarmungspolitik von staatlicher Seite nicht den Blick für die realistische Einschätzung verstellen, daß NRO im Vergleich zu Staat und Markt der Floh zwischen Rhinozeros und Krokodil ist. Ihre Stärke ist eine geliehene Stärke, denn erstens nutzt das neoliberale Projekt NRO gerne, um ihnen kostengünstig einige Aufgaben des demontierten Sozialstaates zu geben, darunter auch entwicklungspolitische. Der neoliberale Anti-Etatismus trifft sich hier mit der bei zahlreichen NRO zu findenden kommunitaristischen Mittelstandsphilosophie von der „Bürgergesellschaft“. Zweitens nutzen reformorientierte Regierungen und internationale Institutionen wie zum Beispiel die Entwicklungsorganisationen der Vereinten Nationen UNDP und UNEP die NRO gerne, um ihre Defizite an Problemlösungskompetenz in globalen Fragen zu decken.
In beiden Fällen droht Instrumentalisierung und Kooption.
Last but not least ist das politische Gewicht von NRO in hohem Maße von den elektronischen Medien abhängig. Wenn deren dramaturgischen Bedürfnisse nach Schwarz-Weiß- oder David-Goliath-Schemata, politische Action und Farbtupfern im Grau der offiziellen Politik nachlassen sollten (zum Beispiel weil neue soziale Bewegungen ihnen die Schau stehlen), werden NRO in die Unauffälligkeit zurückfallen, in der ihr Vorläufer, das traditionelle Verbandswesen, schon immer steckte.

Potential für emanzipatorische Politik

Mit kritischen Einwänden ist allerdings die Frage nicht beantwortet, ob und gegebenenfalls welches Potential für emanzipatorische Politik in diesem Konzept liegt und wie man sich politisch dazu verhält.
Tatsache ist, daß außer dem Konzept internationaler Struktur- und Ordnungspolitik bisher andere Alternativkonzepte weder existieren noch in Sicht sind. Zwar folgt daraus nicht, daß man sich deshalb dem Konzept schon anschließen müßte, dennoch ist unverkennbar, daß versucht wird, zahlreich Momente emanzipatorischer Kritik an der herrschenden Entwicklungspolitik zu integrieren. Zum Beispiel ist die Einbeziehung weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen als wesentlicher Parameter für Entwicklung ein Leitmotiv der Solidaritätsbewegung, von der UNCTAD-Kampagne (Handelskonferenz der Vereinten Nationen) der siebziger Jahre bis hin zur aktuellen Bewegung gegen das Multilaterale Investitionsabkommen (MAI). Ähnliches gilt für die Einsicht in die Notwendigkeit gesellschaftlicher Umgestaltungen im Norden – eine Logik, die durchaus strukturelle Affinitäten zu traditionellen Denkmustern aus der Solidaritätsbewegung aufweist.

Mit dem Diskurs die Welt verändern

Selbst der Begriff „nachhaltige Entwicklung“ kann, auch wenn er derzeit hauptsächlich ideologisch verwendet wird, produktiv gemacht werden, wenn man ihn nicht als irreversibel festgelegte Größe definiert, sondern als diskursives Terrain, auf dem das Ringen um Interpretationshoheit stattfindet.
Daß die Welt verschieden interpretiert wird, ist nicht neu. Es kommt darauf an, den Diskurs zu verändern und ihn über die Grenzen des Konzepts hinauszutreiben. Mit der Verschiebung der diskursiven Hegemonie verschieben sich auch die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Und genau hier liegt die Herausforderung für die Solidaritätsbewegung beziehungsweise das, was von ihr derzeit noch übrig ist.

Nach Kohl im Urwald

Nach dem Anstoß von Houston im Jahre 1990 durch den Bundeskanzler höchstpersönlich hatte es einige Zeit gedauert, bis das Pilotprogramm, inzwischen allgemein als PPG-7 bezeichnet, Konturen annahm. Von den zunächst angekündigten über eine Milliarde US-Dollar blieben nur etwa 250 Milionen übrig – und die sind anscheinend gar nicht so leicht auszugeben. Hauptgeber ist mit mehr als der Hälfte der internationalen Mittel eindeutig die Bundesrepublik. Im Laufe der Jahre ist eine ziemlich komplizierte Struktur entstanden, bei der sich bilaterale Finanzierungen mit denen aus dem Rain Forest Trustfund, einem eigens für das PPG-7 geschaffenen internationalen Fond, mischen. Die Weltbank koordiniert alles und fungiert nicht als Geldgeber, sondern verbraucht nur Mittel.
Inzwischen sind folgende Programmlinien im Stadium der Umsetzung: Im Bereich der Naturresourcenpolitik sollen Landesumweltbehörden gestärkt und in kritischen Regionen Flächennutzungkonzepte („Zonierung“) entwickelt werden. Mit dem Ziel der Bewahrung und Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen werden Sammelreservate für traditionelle Waldnutzer wie die Kautschukzapfer gefördert, Indianergebiete demarkiert und Projekte nachhaltiger Waldnutzung durch Forschungseinrichtungen und Demonstrationsprojekte unterstützt. Weitere Programme befinden sich noch in der Planungsphase, wie etwa die Verbindung und Erweiterung vorhandener Schutzgebiete („ökologischer Korridore“) oder Projekte zur Prävention von Waldbränden.

Fresh money für die „Zivilgesellschaft“

Die Demonstrationsprojekte mit Musteranlagen und Ausbildungsangeboten stellen gewissermaßen die Quote für Nichtregierungsorganisationen (NRO) und soziale Bewegungen und fungieren bisher als Vorzeigeprojekte des PPG-7. Weil die „Zivilgesellschaft“ erheblich flexibler ist als der Staat, ist die Organisation des Mittelabflusses hier viel besser gelungen: Im letzten Jahr war das Geld praktisch schon ausgegeben und die Bundesregierung sorgte für fresh money. In rund hundert Kleinprojekten mit maximaler Förderungshöhe von 210.000 US-Dollar für drei Jahre sollen Beispiele für nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen entwickelt werden. Fast alle NRO Amazoniens und unzählige Basisbewegungen werden inzwischen durch das Pilotprogramm gefördert. Der Großteil des Geldes allerdings – etwa die Hälfte der fest zugesagten 200 Millionen US-Dollar – geht ins Naturressourcenprojekt, das die sieben Amazonasstaaten Brasiliens bedient. Auch in den anderen Projekten geht der Löwenanteil in den Staatsapparat, insbeondere in die Umweltbehörde IBAMA, wohingegen lediglich etwa 10 Prozent der Gelder für Demonstrationsprojekte vorgesehen sind.
Das Markenzeichen des Pilotprogramms ist die Beteiligung der Zivilgesellschaft. Tatsächlich wurde mit dem Grupo de Trabalho Amazonico (GTA) eine spezielle Partizipationsstruktur geschaffen, in der inzwischen mehr als 300 Gruppen zusammengeschlossen sind. Alles, was in Amazonien Rang und Namen hat – oder auch nicht – findet sich dort wieder: Die Organisationen der Kautschukzapfer, der indigenen Bevölkerung, der Fischer und der Kleinbauern, sowie zahreiche lokale und regionale Gruppen. Auch wenn die GTA bis heute finanziell vom PPG-7 abhängig ist, versteht sie sich inzwischen als umfassenderes Netzwerk, das auch andere Themen als das Pilotprogramm bearbeitet. Zwar sind für alle Programmbereiche Kommissionen vorgesehen, in denen die GTA vetreten ist, die aktive Beteiligung hat sich jedoch auf die Demonstrationsprojekte konzentriert. Zumal diese Kommissionen erst in der Umsetzungsphase eingerichtet werden, während in der Planungsphase ad-hoc Konsultationen der Beteiligten stattfinden. Dies stellt keine reguläre Partizipation dar.

Lediglich verhaltene Kritik

Berücksichtigung der Interessen der „Zielgruppe“ ist wohl die passendste Charakterisierung für das, was das PPG-7 hauptsächlich geleistet hat. Trotz dieser Einschränkung hat das Pilotprogramm durch die GTA eine Legitimation erreicht, die in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit ihresgleichen sucht. Auch wenn es im Detail viele Kritiken und manchen Streit gibt – die sozialen Bewegungen Amazoniens haben das PPG-7 angenommen. Kritische Äußerungen beziehen sich eher auf mangelnden Einfluß des Pilotprogramms, fehlende Mittel oder auf die langsame Umsetzung. Tatsächlich ist das PPG-7 nur zu verstehen vor dem Hintergrund langjähriger kritischer Auseinandersetzung mit der Rolle der Weltbank in der Entwicklungspolitik Amazoniens. Das PPG-7 soll einen Paradigmenwechsel signalisieren: Statt Entwicklung, die zerstört, ein eindeutiges Bekenntnis zu Walderhaltung und Umweltschutz. Wie wichtig die Weltbank das PPG-7 nimmt, läßt sich daran ablesen, daß nicht weniger als neun Task Managers für diesen Arbeitsbereich abgestellt sind – eine für Weltbankverhältnisse unerhört hohe Zahl.

Nur ein grünes Feigenblatt?

Aber – wie sollte es auch anders sein – es ist doch nicht alles eitel Sonnenschein. Obwohl die GTA in der Regel eher diplomatisch und zurückhaltend als kritisch und laut agiert, hat sie in den letzten Jahren zusammen mit Friends of the Earth zwei wichtige Veröffentlichungen vorgelegt, die weniger das PPG-7 an sich als seine Stellung im Kontext der brasilianischen Amazonaspolitik reflektieren. Diese Sichtweise ist auch nur allzu berechtigt, da das PPG-7 nicht einzelne Projekte finanzieren will, sondern erklärtermaßen einen policy-Ansatz verfolgt, also die Korrektur einer Politik will, die den Regenwald zerstört.
Und genau da beginnen die Probleme: Das PPG-7 ist als Umweltprogramm konzipiert, demnach im Umweltministerium angesiedelt. Dieses ist ein schwaches und marginalisiertes Ministerium und ist gleichzeitig für Umweltpolitik, Wasserresourcen und Amazonien zuständig. Dabei sind etwa 80 Prozent der Mittel im Bereich Wasserressourcen konzentriert, wo es um lukrative Bewässerungsprojekte geht. Die für das PPG-7 zuständige Secretaria da Amazonia Legal hingegen verfügt nur über lächerliche Beträge und ist praktisch zu 100 Prozent vom Pilotprogramm abhängig. Dessen Ansatz als Umweltprogramm führt damit zu bedenklichen Konsequenzen: Das PPG-7 bleibt isoliert von den staatlichen Akteuren, die tatsächlich Entwicklungspolitik in Amazonien betreiben und auch das Geld dafür haben: die nationale Entwicklungsbank BNDES und die Regionalentwicklungsbehörde SUDAM. Das Pilotprogramm reflektiert (und zementiert?) somit eine fragwürdige Aufteilung in Umweltpolitik einerseits und Entwicklungspolitik andererseits.

Brasil em Ação

Außerhalb der Welt des Pilotprogramms scheint business as usual angesagt zu sein: Die brasilianische Regierung hat 1997 ein nationales Investitionsprogramm Brasil em Ação vorgelegt, das auch wichtige Investitionen in Amazonien vorsieht. Damit nimmt der Staat nach jahrelanger Lethargie durch hohe Inflation wieder eine Investitionspolitik auf, die einer formulierten strategischen Linie folgt. Zwar gibt es auch hier Verspätungen und Verzögerungen, aber ein Teil der Projekte werden nun tatsächlich umgesetzt. Für Amazonien bedeutet dies im Wesentlichen die Förderung von „Integrationsachsen“, sprich Bau von Straßen und Wasserwegen, womit der Transport von Soja billiger gestaltet werden soll. Die Mittel des Pilotprogramms betragen lediglich drei Prozent der vorgesehenen Gelder für Brasil em Ação.
Die Kritik, die von Anfang an seitens der NRO artikuliert wurde, läßt sich unter dem Stichpunk „fehlende Kohärenz“ zusammenfassen. Von Seiten der Geber oder des brasilianischen Umweltministeriums wird in der Regel auf diese Kritik erwidert, moderne Staaten seien eben komplexe Gebilde, und konkurrierende Politikansätze somit normal. Außerdem dürfe man die Latte für das Pilotprogramm nicht zu hoch hängen. Es handele sich dabei eben nicht um ein Regionalentwicklungsprogramm, sondern um ein Umweltprogramm, das durch gelungene Projektansätze Wirkungen zeigen müsse.
Gewiß, ein absolutes Kohärenzgebot ist sicherlich unrealistisch. Dennoch muß man sich fragen, welch einen Stellenwert das Pilotprogramm hat, ob es tatsächlich relevant ist, oder zu einem Beschäftigungsprogramm für NRO und dubiose Landesumweltbehörden verkümmert. Bedenklich ist vor allem, daß die brasilianische Regierung auch dem PPG-7 den Stempel Brasil em Ação verpaßt hat. Seit etwa einem Jahr tragen zumindest alle Publikationen des Pilotprogramms diesen Aufdruck.

PPG-7 als Lückenbüßer und Alibi

Auch wenn das Kohärenzgebot nicht zu einem von heute auf morgen zu erfüllenden Kriterium gemacht werden kann, so ist es doch unverzichtbar. Dabei geht es nicht um eine abstrakte Kohärenz von Mega-Politiken, sondern auch und gerade um Ansätze im unmittelbaren Umfeld des Pilotprogramms. Hierfür drei Beispiele: Die Demarkierung von Indianergebieten ist in der brasilianischen Verfassung verankert. Trotz dieser Verpflichtung sind die vorgesehen Termine nicht eingehalten worden. Die für indigene Völker zuständige Behörde Funai ist desolat, unzähligen Personalwechseln ausgesetzt und total unterfinanziert. Daß die Legalisierung und der Schutz von Indianergebieten in Amazonien keine Priorität der staatlichen Politik darstellt, ist nur zu offensichtlich. Hier läuft das Pilotprogramm Gefahr, zu einem reinen Lückenbüßer zu werden, nach dem Motto: Wenn den Gringos die Indios so am Herzen liegen, dann sollen sie das doch bezahlen.

Sojanabau im Regenwald

Amazonien droht außerdem eine neuer Zyklus der Waldzerstörung durch Sojaanbau, in den nach dem Niedergang der Viehfarmen neue Investitionen gelenkt werden. Ein Soja-Pol soll mitten im Regenwaldgebiet in der Region Baixo Amazonas angesiedelt werden, was die Geber und das Umweltministerium zwar beklagen, aber dem Vordringen des Sojas keine konkrete Aktionen entgegensetzen. Brasil em Ação schafft unterdessen fleißig die infrastrukturellen Voraussetzungen für den Sojaanbau.
Das Kohärenzgebot richtet sich nicht nur an den brasilianischen Staat, sondern natürlich auch an Geber und Weltbank. Letztere finanziert nun ein Programm zur Unterstützung dezentraler Umweltpolitik (PED), mit dem via Landesumweltbehörden Umweltprogramme in Gemeinden entwickelt werden sollen – obwohl es sich zum Teil um dieselben Gemeinden handelt, in denen das Pilotprogramm arbeitet. Eine gemeinsame Konzeption jedoch existiert nicht. Ganz im Gegenteil: Die den sozialen Bewegungen nahestehenden Gruppen (das heißt die Klientel des PPG-7) werden zugunsten von Assoziationen und Kooperativen, die die örtlichen Politiker unterstützen, ausgeschlossen, da die Gelder des PED direkt über die Gemeindeverwaltungen laufen.
Trotz aller Kritik im Einzelnen hat das PPG-7 in Amazonien ein breites Bündnis von G-7, Weltbank und sozialen Bewegungen geschaffen – eine wohl atemberaubende Entwicklung. Noch vor zehn Jahren standen Kautschukzapfer und LandarbeiterInnenorganisationen in einer schroffen Konfrontation mit dem Staat – heute sitzen sie in den Komissionen an einem Tisch mit Weltbank und Co. Wie wurde dieses Bündnis möglich? Meines Erachtens sind dafür zwei Gründe entscheidend: Zum einen sind die sozialen Bewegungen Brasiliens in eine neue Etappe eingetreten. Zwar sind Landkonflikte und Kampf um politische Rechte nach wie vor aktuell und brisant, aber in vielen Regionen ist das Recht auf Nutzung – auch aufgrund der Kämpfe der letzten Jahrezehnte – weitgehend gesichert. Hier stehen die sozialen Bewegungen vor ganz anderen und neuen Aufgaben: Organisation der Produktion und Vermarktung. Die sozialen Bewegungen müssen eine praktische Politik entwickeln, die ökonomische Resultate zeigt. Haben also Kautschukzapfer jahrelang um die Einrichtung von Sammelgebieten gekämpft, so müssen sie heute deren Umsetzung betreiben. Und da sind alle, die Geld geben, willkommen.
Zum anderen ist dieses Bündnis aber auch nur möglich, wenn es zumindest partielle Interessensüberschneidungen gibt. Und diese existieren tatsächlich: Bundesregierung, andere Geberländer und Weltbank haben den Schutz der tropischen Regenwälder zu einem erklärten Ziel ihrer Politik gemacht. Dahinter steht die Einschätzung, daß die Erhaltung der Artenvielfalt ein strategisch viel höheres Ziel ist als das Mästen von Rindern auf ungeeigneten Böden. Aber: Ausschlaggebend für diese Begründung sind nicht die Interessen der BewohnerInnen Amazoniens, sondern die berühmten „globalen Herausforderungen“, die allerdings eher im Umfeld der G-7 Gruppe als in Amazonien definiert werden. Diese Funktionalität macht die Regenwaldpolitik zu einem beliebten Anliegen der „internationalen Staatengemeinschaft“ und ermöglicht eine zumindest momentane Interessenüberschneidung.
Eine kritische Begleitung des Pilotprogramms sollte deshalb immer darauf achten, inwieweit die abstrakten globalen Ziele wie die Erhaltung der Artenvielfalt tatsächlich der lokalen Bevölkerung zugute kommen. Schließlich könnten auch intelligentere Unternehmensstrategien die Artenvielfalt erhalten – und gleichzeitig die Bevölkerung ausschliessen. Der Gedanke ist durchaus nicht abstrakt: Die brasilianische Regierung will die nationalen Wälder für den kommerziellen Holzeinschlag – nachhaltig, natürlich – öffnen. Hier könnte eine Waldnutzungsstrategie unter Ausschluß der örtlichen Bevölkerung umgesetzt werden, die nicht die technischen Mittel zu einer nachhaltigen Waldbewirtschaftung besitzt.
Für die Soldaritätsgruppen in der BRD ergibt sich noch ein anderer Ansatz zu Intervention, der auch bereits auf dem Gebertreffen in Bonn 1997 praktiziert wurde. In einer Stellungnahme haben zahlreiche Gruppen das Kohärenzgebot auch auf die Politik der Bundesregierung bezogen. Das Propagieren des freien Handels etwa ist keineswegs die geeignete Strategie zur Erhaltung des Regenwaldes. Naturkautschuk zum Beispiel kann nicht mit Plantagenkautschuk aus Malaysia konkurrieren. Hier ist eine aktive staatliche Regulationspolitik mit ökologischen Kriterien gefordert, die nichts mit neoliberalen Bekenntnisen zu tun hat. Die Diskussionen über die Welthandelsorganisation WTO und das Multilaterale Investitionsabkommen MAI haben auch mit den Regenwäldern zu tun. Diese Verbindungslinie wollen die Geber nicht ziehen, das kann nach wie vor nur eine kritische Öffentlichkeit leisten, die sich jedoch auf andere Herausforderungen als das einfache „Entlarven“ einstellen muß.

KASTEN

Der Wald brennt weiter

Die Bilder von den Waldbränden im Bundesstaat Rondonia haben Anfang des Jahres der Weltöffentlichkeit vor Augen geführt, daß in Amazonien keineswegs Entwarnung gegeben werden kann. Besonders dramatisch war, daß zwischenzeitlich das Gebiet der Yanomamis, der größten indigenen Gruppe Amazoniens, von den Bränden bedroht war. Und schließlich waren es nicht die chaotischen Aktionen der Regierung, sondern der Regen, der dem Feuer ein Ende bereitete.
Mit großer Verspätung wurden im Januar dieses Jahres die offiziellen Zahlen über die Entwaldung in Amazonien veröffentlicht. Die Daten des Regierungsinstituts INPE zeigen einen dramatischen Anstieg in den Jahren 1994/95, in denen 20.059 km2 Fläche entwaldet wurden. In den Jahren davor lag die jährliche Entwaldungsrate bei etwa 12.000 km2. Zwar liegen die Zahlen für 1995/97 mit 18.161 Km2 deutlich unter den Spitzenwerten von 94/95, aber eben auch erheblich über den Durchschnittszahlen der Vorjahre. Die Brandsaison beginnt in Amazonien etwa im August. Satellitenbilder und erste Großbrände zeigen, daß auch in diesem Jahr eine dramatische Entwicklung bevorsteht – und alle Maßnahmen zur Prävention zu spät kommen. Dabei hatte die Weltbank 26 Millionen US-Dollar für ein Brandbekämpfungsprogramm (Pro Arco) zur Verfügung gestellt. Der Grupo de Trabalho Amazonio GTA, Greenpeace, Friends of the Earth und andere brasiliansiche NGOs haben angesichts dieser Situation am 8. September eine Erklärung veröffentlicht, in der die Passsivität der Regierung kritisiert wird. Es heißt dort: „Innerhalb der Regierung fehlt es an Klarheit über die Aufgabenverteilung und Koordination. Obwohl der Präsident seine Besorgnis gezeigt hat, hat das Thema bisher keine Priorität erlangt.“
Von den vorgesehenen 30 Millionen US-Dollar für Pro-Arco hatte die Regierung 800.000 der GTA zur Verfügung gestellt, die damit innerhalb kürzester Zeit hunderte von Kursen einrichtete, in denen lokale Kräfte in Methoden der Feuerprävention ausgebildet werden. Von Seiten der Regierung oder gar der Großgrundbesitzer ist mal wieder nichts passiert.

“Es lebe die internationale Solidarität“

Die Akte DDR wurde vor acht Jahren geschlossen und seither verstaubt sie im Archiv der Geschichte. Hin und wieder wird sie nochmal aufgeschlagen, um darin zu lesen und Rechtfertigungen für ihre restlose Einäscherung zu suchen. In dieser Ausgabe soll ein relativ kleiner und ganz spezieller Ausschnitt der DDR-Geschichte aus der Versenkung geholt, entstaubt und mit dem Licht der fast ein Jahrzehnt alten Distanz beleuchtet werden. Es geht nicht um Geschichtsbewältigung oder -aufarbeitung. Auch soll es kein Ostalgietrip in eine Vergangenheit ohne Zukunft werden. Der Anspruch liegt einzig darin, Momentaufnahmen aus der DDR-Beziehungskiste aufzuzeichnen und dabei persönliche Erfahrungen ebenso wie offiziell verordnete Richtlinien einzubeziehen.
In der Tat war Lateinamerika, von Kuba und Nicaragua abgesehen, für die DDR politisch eher zweitrangig, in wirtschaftlicher Hinsicht sogar drittrangig. Beim näheren Hinsehen aber fördert das Thema sowohl spannungsgeladene Ost-West und deutsch-deutsche Konflikte als auch Konflikte innerhalb der DDR zutage und blendet Teile (gelebter) DDR-Geschichte ein. Und gerade für jene, die die 40 Jahre westlich der „großen Mauer“ verbrachten, enthalten die anschließenden Beiträge einiges Unbekanntes, aber durchaus Erfahrenswertes.
Wie kann man die jüngste Geschichte Lateinamerikas entschlüsseln, wenn man den Ost-West-Konflikt – den die DDR mitprägte – ausklammert? Wenn wir uns bezüglich lateinamerikanischer Außenbeziehungen immer nur auf die USA oder die Bundesrepublik stürzen, unterschlagen wir den wichtigen Einfluß, den ein untergegangenes System über Jahrzehnte hinweg in Lateinamerika ausübte, ein Einfluß, der noch immer nachwirkt.
Die acht Beiträge zeigen ein komplexes Gebilde ostdeutscher Beziehungen zu Lateinamerika. Bis auf die Analyse der 40jährigen Story der DDR Außenpolitik aus der Sicht von Raimund Krämer, eines ehemaligen Mitarbeiters der kubanischen Botschaft, spiegeln die Artikel eher kurze, aber prägnante Momente dieses Kapitels der DDR-Geschichte wieder.
So wirft Sabine Zimmermann einen Blick auf und hinter die Kulisse des Prestige-Entwicklungsprojekts Krankenhaus „Carlos Marx“ in Managua. Erfahrungen vor Ort, gepaart mit SED-Rhetorik, malen ein sehr differenziertes Bild von offizieller Entwicklungshilfe. Von „unten,“ aus der Perspektive inoffizieller Solidaritätsarbeit in Kirchengruppen, erzählt Willi Volks die Geschichte unabhängigen Engagements und der Schwierigkeiten in einem von Kontrolle besessenen Staat eigene Projekte, übers „Päckchenpacken“ hinaus, zu entwickeln. Christoph Links beschreibt seine ganz persönlichen Erinnerungen an die Vor- und Nachwendezeit – und wie diese sich auf sein Interesse für Lateinamerika auswirkten.
„Tania – la guerrillera“ zeichnet das Porträt der berühmten Nachkriegspartisanin, die nach Lateinamerika ging, „um den unterdrückten Völkern den Sozialismus zu bringen“ und wie Che Guevara zur Märtyrerin wurde. Daran anschließend schwenkt die Kamera vom letzten Schauplatz DDR-Politbüro nur einige Meter weiter in die Friedrichstraße. Dort überquerten zwischen 1973 und 1975 hunderte politische Flüchtlinge aus Chile die Westberliner Grenze Richtung Osten, um sich in der DDR – so gut es ging – erstmal ein neues zu Hause einzurichten. Der Artikel beleuchtet Ängste, Freude und Alltagsprobleme des Exils aus Perspektive der ChilenInnen und das Funktionieren staatlicher Solidaritätspolitik in diesem speziellen Fall.
Wer hat schon einmal von der Existenz eines Lateinamerikainstituts im Osten gehört? Nun, mittlerweile ist es mitsamt der DDR und mit der energischen Hilfe einiger Politiker eingeäschert worden. „Lichter aus!“ beschreibt Aufstieg und Fall des Lateinamerika-Instituts in Rostock. Und für Literaturfreunde, die wissen wollen, welche lateinamerikanischen Bücher die staatliche Zensur passierten und in der DDR gelesen werden durften, bringt der Beitrag von Hans Otto Dill abschließend das eine oder andere Licht ins Dunkel.

Die vergessenen Bauern

Die HerausgeberInnen dieser Ausgabe resümieren in ihrem Editorial die veränderten Bedingungen für die Landbevölkerung Lateinamerikas: Es gelang vielen Staaten durch Agrarreformen die Einbindung großer Teile der Landbevölkerung in das politische System, auch wenn die Lebensbedingungen nur sehr begrenzt verbessert wurden. Das Zentrum sozialer Auseinandersetzungen verlagerte sich dadurch in andere Bereiche. Die Rahmenbedingungen politischen Handelns haben sich wesentlich verändert, nicht nur durch die Ausdehnung der Schulbildung, den massiven Ausbau von Verkehrs- und Kommunikationswegen und den Einfluß der Massenkommunikationsmittel. Die überall zu beobachtende Dezentralisierung der Verwaltung – eine Auswirkung der neoliberalen Bestrebungen – bietet neue Handlungs- und Organisationsräume für die Landbevölkerung.

“Trade based food security”

Doch die Probleme der Landbevölkerung bestehen nach wie vor und wurden durch die Entwicklung der letzten Jahre noch verschärft. Die Zahl der unterhalb des Existenzminimums lebenden Menschen wuchs zwischen 1970 und 1990 von 54 auf 93 Millionen, und die Landbevölkerung macht noch immer mit Abstand den größten Prozentsatz der Armen in Lateinamerika aus. Durch das Konzept der Weltbank „trade based food security“ hat die Abhängigkeit lateinamerikanischer Staaten von Grundnahrungsmittelimporten aus Industriestaaten zugenommen. Die vergrößerte Konkurrenz durch die Liberalisierung der Agrarmärkte verschlechtert zudem die Situation der Kleinbauern, so daß der Zugang zu Nahrung für große Teile der Bevölkerung immer schwieriger wird. So untersucht der erste Analysebeitrag von Michael Windfuhr die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen von Ernährungssicherheit und die Rolle des Agrarsektors hierbei.
An dem Beispiel der Agrarpolitik Mexikos zeigt Ute Schüren, welch zentrale Bedeutung Faktoren wie der Zugang zu Infrastruktur, Kapital, Absatzmärkten etc. für die Bauern haben.

Indigene Spiritualität

In einem sehr lesenswerten Beitrag von Gerrit Huizer wird nicht nur durch sein persönliches Beispiel die Geschichte der Entwicklungshilfe und ihrer Ideologie analysiert. Er zeigt uns, welch große Rolle die indigene Spiritualität in der Geschichte des Volkswiderstands gerade der Landbevölkerung in Lateinamerika spielte und spielt (Chiapas). Mit Recht merkt er an, daß dieses Thema noch kaum systematisch untersucht worden ist.
Natürlich bleibt auch die Neuordnung der kubanischen Landwirtschaft nicht unerwähnt, ebensowenig wird vergessen, die Zukunftsfähigkeit des so oft als modellhaft gelobten Chiles in Frage zu stellen, und auch die schwierige Rückkehr peruanischer Bauern in ihre ehemalige Heimat, aus der sie durch den Sendero luminoso vertrieben worden waren, wird durch einen Beitrag beschrieben. Jedem, der sich umfassend informieren will, sei die 21. Ausgabe der Analysen und Berichte wieder einmal empfohlen.

Lateinamerika – Analysen und Berichte 21: Land und Freiheit, Horlemann-Verlag 1997; ISBN-3-89502-070-2

Landkämpfe in San Marcos

Mit dem Begriff „Landfrage“ ist in Guatemala häufig nur die ungerechte Landverteilung gemeint. Hinter dem Schlagwort verbirgt sich aber ein komplexes Geflecht von Einzelproblemen: Ein Großteil der Bevölkerung hat keinen Zugang zum Produktionsmittel Boden, oder dieser ist nicht abgesichert. Beides zieht unzureichende Wohn-, Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten nach sich. Diejenigen, die ein kleines Stück Land haben, erhalten keine Kredite zum Kauf von Saatgut und landwirtschaftlichem Gerät, um die Produktion auszubauen. In vielen Regionen scheitert eine Vermarktung von Produkten an fehlenden Transportmitteln, an nicht vorhandenen Straßen und am unzureichenden Wissen um Marktmechanismen. Zur „Landfrage“ gehören zudem die Arbeitsbedingungen auf den Kaffee-, Zuckerrohr- und Bananenplantagen, auf denen hunderttausende TagelöhnerInnen für ihren Lebensunterhalt schuften.
Eine der Regionen, in der all diese Probleme zusammenkommen, ist die Provinz San Marcos. Diese liegt an der Grenze zum mexikanischen Bundesstaat Chiapas im äußersten Südwesten Guatemalas und ist geographisch und wirtschaftlich in drei Zonen unterteilt: An die etwa 20 Kilometer breite Küstenebene grenzt das Gebiet der Boca Costa, eine Übergangsregion zwischen 600 und 1800 Meter Höhe. Über 1800 Metern beginnt das Hochland, das den größten Teil der Provinz ausmacht und bis in eine Höhe von über 4200 Metern reicht. Die Bevölkerung lebt hier von den kargen Böden, auf denen sie Mais, Bohnen, Kartoffeln sowie in geringem Maße Gemüse anbaut. Die Familien besitzen größtenteils weniger als einen Hektar Land. Da fast alle Betriebe die gleichen Produkte anbauen, gibt es kaum lokale Absatzmöglichkeiten. Es wäre folglich notwendig, die geringen Überschüsse zum Verkauf in die größeren Städte zu transportieren. Zwar liegt die zweitgrößte Stadt Guatemalas, Quetzaltenango, nur etwa 50 Kilometer Luftlinie entfernt. Die Asphaltdecke der Verbindungsstraße zur Provinz endet jedoch bereits einige Kilometer hinter dieser Stadt. Im Hochland gibt es nur noch Buckelpisten. Zudem sind kaum LKWs vorhanden, da den Kleinbetrieben das notwendige Kapital fehlt.

Staatliche Verpflichtungen bleiben uneingelöst

Um einige von diesen Problemen zu lösen, gäbe es – von außen betrachtet – für die Campesinas/os die Möglichkeit, sich in Kooperativen zusammenzuschließen, um gemeinsam Lösungswege zu suchen. In der Vergangenheit diffamierte die Armee aber jegliche Form gemeinsamen Wirtschaftens als „kommunistisch und subversiv“ und verfolgte diejenigen, die es dennoch versuchten, als potentielle UnterstützerInnen der Guerilla. Daher hat sich bei der Bevölkerung individualistisches Denken tief eingeprägt. Eine andere Möglichkeit, das Einkommen aufzubessern, wäre eine Diversifizierung der Produktpalette. Dies kann sich jedoch kaum jemand leisten, da mit dem Saatgut auch gleich Dünger und Schädlingsbekämpfungsmittel gekauft werden müssen. Hinzu kommt, daß die Kleinbauern und -bäuerinnen nicht über das Wissen verfügen, wie neue Produkte angebaut werden.
Im Rahmen der Friedensabkommen verpflichtete sich die guatemaltekische Regierung, gerade in solchen marginalisierten Regionen die Bevölkerung zu unterstützen. Die Infrastruktur soll verbessert werden, die Campesinas/os günstige Kredite und Ausbildungsprogramme erhalten. Geschehen ist in dieser Hinsicht allerdings noch nichts: Straßen werden zwar gebaut, aber in Regionen, die für die Wirtschaftselite lukrativ sind. Bei den Kreditprogrammen ist zum einen unklar, woher das Geld dafür kommen soll, zum anderen wird noch diskutiert, zu welchen Konditionen sie vergeben werden sollen. Im Gespräch sind Zinssätze von 13 Prozent, was für Kleinbäuerinnen und -bauern immer noch sehr hoch ist – auch wenn die Zinsen damit günstiger als auf dem freien Markt wären, wo sie, wenn Banken ihnen überhaupt Geld leihen, bis zu 30 Prozent zahlen müssen. Und staatliche Ausbildungsprogramme rücken angesichts der neoliberalen Regierungspolitik, in deren Zuge das nationale Bildungssystem zunehmend privatisiert wird, in immer weitere Ferne.

Landbesetzende Großgrundbesitzer…

Aber selbst wenn diese Probleme angegangen werden, würden sie nur einem Teil der Campesinas/os helfen. Denn im Hochland reicht das Land nicht aus, um alle Menschen zu ernähren. Jahr für Jahr gehen daher 60 bis 75 Prozent der Hochlandbevölkerung den Weg in die zeitweilige Arbeitsmigration. Für die Erntemonate ziehen sie entweder auf die Kaffeefincas in Chiapas oder in die Küstenebene und das Gebiet der Boca Costa in San Marcos, wo sie sich zu Hungerlöhnen und miserablen Arbeitsbedingungen verdingen müssen. Viele würden sich gerne in diesen Regionen von San Marcos fest ansiedeln. Doch dafür fehlt ihnen das notwendige Geld. Für TagelöhnerInnen liegt der gesetzliche Mindestlohn nach einer 12prozentigen Erhöhung Mitte Dezember 1997 bei 17.86 Quetzal (ca. DM 5.40), und auch dieser wird nur auf den wenigsten Fincas gezahlt. Ein Landstück, das für einen Neuanfang reichen würde, kostet allerdings mindestens eineinhalb Jahreslöhne. Um diese Summe aufzubringen, müßten die Familien entweder sparen – was angesichts der Lebenshaltungskosten unmöglich ist – oder Geld leihen. Das können sie aber nicht, da sie für Privatbanken nicht kreditwürdig sind. Laut Friedensabkommen sollen Landsuchende nun durch einen staatlichen Fonds Kredite zum Landkauf erhalten können. Der Fonds ist auch schon gegründet worden. Bislang scheint er aber nur mit sehr geringen Mitteln ausgestattet zu sein. Immerhin konnten schon drei kleinere Gruppen demobilisierter Guerilleras/os mit den Fondsmitteln Fincas kaufen, über die allgemeinen Vergabekriterien und Kreditkonditionen herrscht aber noch Unklarheit. Unabhängig vom Geld würden Campesinas/os in San Marcos auch nur schwer zum Verkauf stehendes Land finden, denn die Küstenebene und die Boca Costa ist Großgrundbesitzerland.
In der Küstenebene von San Marcos werden großflächig Zuckerrohr, Kautschuk und Afrikanische Palmen angebaut, aus denen Pflanzenöl gewonnen wird. Weite Flächen des fruchtbaren Landes werden zudem zur Fleischproduktion genutzt. Das Land ist im Besitz einiger weniger. Selbständige Kleinbauern gibt es hier kaum, die meisten Menschen leben als TagelöhnerInnen. Anfang der 60er Jahre, als es nach der kubanischen Revolution auch in einigen Landesteilen Guatemalas gärte, siedelte die damalige Regierung unter General Ydígoras Fuentes hier Familien aus besonders konfliktträchtigen Gebieten an. Im Zuge dessen wurde beispielsweise der Ort La Blanca – Ocós gegründet. Der Gemeinde wurden neben dem eigentlichen Siedlungsgebiet von der Behörde für Agrartransformation unverkäufliche Reserveflächen zur Ausweitung zugesprochen, die in Staatsbesitz und ungenutzt blieben. Der Besitzer einer angrenzenden Finca erreichte es allerdings über Bestechung, dieses Land – von der Gemeinde unbemerkt – zu kaufen. Als diese sich vor einigen Jahren ausweiten wollte, wies der Finquero seine Kaufurkunde vor. Nachdem Verhandlungen mit Behörden erfolglos blieben, bauten die BewohnerInnen von La Blanca auf ihrem Reserveland, das der Finquero als Viehweide nutzte, provisorische Häuser. Seitdem gibt es ein Hin und Her von Räumungen durch die Polizei und Rückeroberungen durch die Gemeinde. Bei einer Räumung Anfang letzten Jahres eskalierte die Situation: Die BewohnerInnen zogen sich nicht schnell genug vor den Sondereinheiten der Polizei zurück, die von Schlägertrupps des Finqueros unterstützt wurden. Bei der folgenden Konfrontation starben zwei Campesinas/os.
So wie in La Blanca gibt es nach Auffassung der Campesino/a-Organisationen in Guatemala viele Flächen, die eigentlich in Staatsbesitz sind und zur Verteilung an Landsuchende zur Verfügung stünden. Doch ist es schwierig, diese nachzuweisen, da die verantwortlichen Behörden von Großgrundbesitzern dominiert werden. AktivistInnen der Organisationen fahren dennoch durch das Land, um genau solche Flächen aufzuspüren. Mit den gesammelten Daten wollen sie Druck auf die Regierung ausüben, die im Zuge des Friedensabkommens zugesichert hat, die Grundbücher, in denen die Besitztitel eingetragen sind, zu überarbeiten. Um dafür eine verläßliche Datengrundlage zu haben, wird das Land aber ersteinmal neu vermessen. Unterstützt durch deutsche Entwicklungshilfe wurde damit bereits in einigen Pilotregionen begonnen, wobei schon erste Probleme mit Finqueros auftraten: Der Besitzer der Finca La Perla, der größten in der Provinz Quiché, lehnte es ab, sein Land vermessen zu lassen. Hintergrund dürfte sein, daß auch er sich widerrechtlich Land angeeignet hat, wofür es vielfache Hinweise gibt. Derartige Probleme sind noch viele zu erwarten. In der Küstenregion gibt es zudem eine Diskussion zwischen Campesino/a-Organisationen und Großgrundbesitzern, ob die Neuerstellung des Katasters und eine Revision der Grundbücher überhaupt notwendig ist. Die Großgrundbesitzer vertreten die Auffassung, dies sei überflüssig, da beides bereits zwischen 1967 und 1976 durchgeführt worden sei. Campesino/a-Organisationen wenden dagegen ein, daß die damalige Erhebung manipuliert wurde, und die Finqueros hätten ihren unrechtmäßig erworbenen Besitz legitimiert. Daher fordern sie, daß das Zustandekommen der Eigentumsverhältnisse untersucht und illegaler Besitz enteignet werden müsse.

…verhindern Lösungen

Auch an der Boca Costa von San Marcos, der Übergangsregion vom Tief- ins Hochland, dreht sich die Landfrage oft um Besitzverhältnisse. In dem gemäßigten Klima wird fast ausschließlich Kaffee angebaut. Für mittelamerikanische Verhältnisse erreicht der Großgrundbesitz hier immense Ausmaße: Die größte Finca umfaßt beispielsweise über 9000 Hektar. Angesichts des Kontrastes dieser Besitzfülle zur Armut derer, die auf den Plantagen arbeiten, setzten sich in dieser Zone – begünstigt durch das unüberschaubare Gelände – während der 70er Jahre verschiedene Guerillagruppen fest. Als diese Anfang der 80er Jahre landesweit stärker wurden, überzog das Militär die Region, wie auch andere Gegenden Guatemalas, mit der „Politik der verbrannten Erde“ und beging zahlreiche Massaker. Ein Opfer dieser Politik wurde die Gemeinde El Tablero (s. Beilage in LN 281). Die Bevölkerung flüchtete und wagte erst nach über zehn Jahren, auf ihr Land zurückzukehren. In der Zwischenzeit hatte dies aber der Eigentümer der tiefer gelegenen Finca, Ricardo Díaz Marquez, besetzt. Wie die BewohnerInnen von La Blanca gingen sie trotzdem auf ihr Land, auch hier folgten Räumungen, die letzte am 27. August vergangenen Jahres.
Laut Friedensvertrag soll in Landkonflikten eine Schlichtungskommission, die direkt dem Staatspräsidenten zugeordnet ist, mit den Beteiligten nach Verhandlungslösungen suchen. Die Kommission konstituierte sich im Juni letzten Jahres, doch wurde ihre Arbeit bislang durch die Großgrundbesitzer und die Regierung selbst sabotiert. Zuletzt beklagte dies auch der Vorsitzende der Kommission, Alvaro Colóm, und schmiß im Dezember nach nur fünf Monaten Amtszeit das Handtuch: Die Regierung räume ihm kaum politische Handlungsspielräume ein, so daß während seiner Amtszeit gerade einmal drei der 200 bis 300 akuten Landkonflikte effektiv bearbeitet werden konnten.
Dieser mangelnde politische Wille seitens Regierung und Großgrundbesitzern, in der Landfrage zu Fortschritten zu kommen, die die Situation der Landbevölkerung wirklich verbessern, zieht sich durch die gesamte Umsetzung des Friedensabkommens. Und wo der Wille fehlt, ist auch kein Weg. Daher können Landfonds, Neuerstellung des Katasters, Revision der Grundbücher sowie die Schlichtungskommission für Landkonflikte kaum die Antwort auf die Landfrage sein, zumal bei den unterschiedlichen Maßnahmen nicht absehbar ist, ob sie überhaupt positive Veränderungen mit sich bringen. Für die Campesino/a-Organisationen bedeutet das Friedensabkommen daher auch nur einen Ansatzpunkt für ihre Forderungen nach würdevollen Lebensverhältnissen. Der alltägliche Kampf um Land wird in den einzelnen Gemeinden weitergehen. Und angesichts der Widerstände werden diese einen langen Atem brauchen!

KASTEN:
Am 29. November 1997 kehrten aus Mexiko erstmals 46 guatemaltekische Familien in ihre Heimat zurück, die zu der Gruppe von Flüchtlingen gehörten, die von offizieller Seite nicht anerkannt waren. Auf ihrer Flucht vor der ‘Politik der verbrannten Erde’ in den 80er Jahren hatten viele von ihnen ihre Papiere verloren oder waren gezwungen, ihre guatemaltekische Identität zu verheimlichen, da die mexikanischen Behörden sie sonst zurückgeschickt hätten. Im Gegensatz zu den meisten anerkannten Flüchtlingen lebten sie nicht in Flüchtlingslagern, sondern verstreut in mexikanischen Gemeinden. 1992 gründete sich ARDIGUA (Vereinigung nicht anerkannter Flüchtlinge Guatemalas) als Vertretungsorganisation dieser Menschen. Den ersten großen Erfolg erzielte ARDIGUA, als schließlich nach zähen Verhandlungen ab 1994 auch nicht anerkannte Flüchtlinge das Abkommen vom 8.10.92 geltendmachen konnten. Dieses Abkommen zwischen den anerkannten guatemaltekischen Flüchtlingen und der Regierung garantiert die würdevolle und kollektive Rückkehr aus dem Exil und ermöglicht den Zugang zu „revolvelten“ Krediten. Das bedeutet, daß die Zinsen nicht an den Kreditgeber gehen, sondern in den Kreditnehmergemeinden verbleiben. Im August 97 forderte ARDIGUA Präsident Arzú abermals zur Befürwortung einer Kreditvergabe auf und wandte sich an die Öffentlichkeit, um auf die schwierige Situation in Chiapas hinzuweisen. Nachdem frühere Versuche, eine Finca zu erwerben, aus verschiedenen Gründen gescheitert waren, erhielt ARDIGUA den Kredit und unterzeichnete am 25.9.97 den Kaufvertrag für die Finca Buenos Aires. Diese liegt im Bezirk Nuevo Progreso, im Departement San Marcos, an der Pazifikküste in 1000 Meter Höhe. Die mexikanische Grenze ist 50 km entfernt. Die geflüchteten Campesinos wollten an die fruchtbare Südküste, da hier höhere Erträge zu erzielen sind, aber es war für ARDIGUA nicht leicht, neben den Kaffeeplantagen der Großgrundbesitzer Land zu erwerben. In Buenos Aires gibt es bis jetzt ausschließlich Kaffeepflanzungen. Das wird sich jedoch ändern, da die Campesinos zunächst ihre eigene Versorgung sichern wollen und desweiteren eine Diversifizierung anstreben, um eine Unabhängigkeit von den Kaffeeweltmarktpreisen zu erlangen. Die Widerstandsbereitschaft der Agraroligarchie gegen die Ansiedlung von ARDIGUA Flüchtlingen ist besorgniserregend. Männer, die auf der Finca arbeiteten, wurden kurz vor Eintreffen der Familien von Unbekannten mit Messern verletzt und beschimpft. Außerdem konnten ARDIGUA-Delegierte einem Überfall nur knapp entkommen. Von weiteren Übergriffen wird ebenfalls angenommen, daß sie von den Großgrundbesitzern ausgehen. Isabella Kalthofen

Boden unter die Füße

Die Guatemala-Solidaritäts­bewegung war innerhalb des Mittelamerika-Spektrums immer die kleine Schwester, hatte das Land doch in der deutschen in­ternationalistischen Linken nie ähnliche Konjunkturen wie etwa Nicaragua oder El Salvador. Nach wie vor gibt es eine kleine, aber aktive Szene: Eine Gruppe erarbeitet den wöchentlichen Gua­temala-Infodienst fijate!, die Projektgruppe CAREA entsendet Freiwillige nach Guatemala, die die vom Krieg entwurzelte Be­völkerung begleiten, in verschie­denen Städten gibt es Gua­te­mala-Solidaritätskomitees “klas­si­schen Musters”. Daneben ar­bei­tet in unterschiedlicher Art und Weise eine beträchtliche Zahl von einzelnen AktivistIn­nen und anderen Gruppen. Zu­dem ist die Infostelle Guatemala in Bonn mit derzeit zwei Haupt­amtlichen eine zentrale Anlauf- und Koordinierungsstelle.

Wie weiter?

Mit dem Friedensschluß in Guatemala stand diese Szene vor der Frage des “Wie weiter?”. Daß die Solidaritätsarbeit auch in Zu­kunft wichtig bleibt, war und ist für alle AktivistInnen klar. Es stellte sich aber die Frage nach dem Selbstverständnis und der politischen Ausrichtung der So­liarbeit. Denn in Zeiten der Glo­balisierung ist das Konzept der “Nationalen Befreiung” obsolet geworden, weltweite Lösungen sind gefragt. Gleichzeitig ver­schärfen sich die sozialen und politischen Probleme in Deutsch­land, so daß der Blick nach Gua­te­mala fast als politi­scher Luxus er­scheint. Dagegen stehen die po­litischen und per­sönlichen Be­zü­ge, die die Ein­zelnen zu dem mit­telamerikani­schen Land ha­ben, sowie die Einsicht, daß es fa­tal wäre, über das Engagement vor der eigenen Haustür die in­ter­nationalen Zu­sammenhänge und die interna­tionalistische Per­spek­tive zu verlieren. Ähnlich wie andere Soligruppen machte sich daher auch die Guatemala-Sze­ne auf, ersteinmal die eigene Ge­schichte zu verarbeiten, um
da­raus neue Ansätze zu ent­wik­keln.

Soliarbeit in Kriegszeiten

In den letzten Jahren stand die Guatemala-Soliarbeit unter den Vorzeichen des Krieges und massiver Menschenrechtsverlet­zungen, denen die Bevölkerung ausgesetzt war (und ist). Soziale Ungerechtigkeit und fehlende politische Handlungsspielräume in Guatemala machten interna­tionalen Druck notwendig und durch die Kriegssituation in der deutschen Öffentlichkeit ver­mittelbar. Die bundesdeutsche Entwicklungshilfe war als Unter­stützung des guatemaltekischen Machtapparates schnell entlarvt. Kampagnen gegen die Polizei­hilfe des Innenministeriums Ende der 80er Jahre oder den Bau der Petén-Straße im Rahmen der Aufstandsbekämpfung, der vom Bundesministerium für wirt­schaftliche Zusammenarbeit unterstützt wurde, konnten er­folgreich durchgeführt werden.
Auf der Gegenseite zu den Un­terdrückern stand neben den Volksorganisationen die Gue­ril­la, die über lange Zeit dieje­nige Ak­teurin in der guatemalte­ki­schen Politik war, die ein al­ter­na­tives nationales politisches Pro­jekt formulierte, bzw. mit ei­nem solchen identifi­ziert wurde. Über Jahre bot sie sowohl für die in­nergua­temaltekische Opposi­ti­on als auch für die deut­sche So­li­da­ritätsbe­wegung eine wichtige po­litische Orientierung, obwohl sie nie eine so zentrale Be­deu­tung hatte wie lange Jahre die FM­LN für die El Salvador- oder die FSLN für die Nicara­gua-So­li­bewegung.
Auch wenn die deutschen So­liaktivistInnen in Guatemala schon lange den Ruf genießen, kritisch zu sein, so hielt sich das Politikmuster doch im Schema des “Gut-Böse”: Hier die guten Guerilleras, Cam­pe­sinos und Op­fer der Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen, dort die bö­sen Mi­li­tärs und Groß­grund­be­sit­zer, un­ter­stützt von der deut­schen Re­gie­rung. Die­ses Mu­ster, das über lan­ge Jahre sei­ne Be­rechti­gung hat­te, be­kam al­ler­dings Ris­se: Die UR­NG verlor im Frie­dens­prozeß die ein oder an­de­re (politische) Sym­pathie, Kon­flikte inner­halb der gu­a­te­mal­te­ki­schen Op­posi­tion ma­chen eine ei­ge­ne Po­si­ti­o­nie­rung not­wen­dig. Gleich­zeitig än­der­te sich der Regierungsdiskurs, seit­dem sich die neoliberale Po­li­tik auch in der gua­te­mal­te­ki­schen Machte­lite durchgesetzt hat: Ein Präsi­dent, der an­schei­nend gegen Mi­litärs zu Felde zieht, sorgte in Guatemala – und in der hiesigen Solibewegung – erst einmal für Irritationen. Pro­test­aktionen hier konnten nicht mehr unter dem Leitspruch des An­prangerns der offenen oder ver­kappten Militär­diktatur lau­fen.

Orientierung im neoliberalen Dschungel

Mit der neoliberalen Regie­rungspolitik kommt das Land aber vom Regen in die Traufe. Die guatemaltekische Menschen­rechtlerin Lucia Quilá brachte es während eines Deutschland-Be­suches Ende 1995 auf den Punkt: “Früher er­schossen sie uns, heute hungern sie uns aus.” Dieser Satz gilt nach wie vor. Die neoliberale Politik, unter der allerdings noch althergebrachte Machtstrukturen fort­bestehen, provoziert ein ex­plosives Konfliktpotential im Land, das durch den Friedens­schluß nicht gemildert wird.

Diskussion vor Ort

Innerhalb dieser Konstellation machte sich im Februar diesen Jahres eine Delegation der Gua­temala-Solidaritätsbewegung auf die Reise, um mit Basisorgani­sationen vor Ort über die zu­künftige Soliarbeit zu diskutie­ren. Es war klar, daß die Arbeit weiterhin der Vielfalt der in Guatemala anstehenden Pro­bleme und den verschiedenen Volks­organisationen gerecht werden soll. Um aber nicht die Orien­tierung zu verlieren, hatte die Gruppe die Landfrage – einen der auslösenden Faktoren des Krieges – in den Mittelpunkt der Reise gestellt.
Während der Reise kam ein Teil der Gruppe nach El Tablero. Diese kleine Gemeinde liegt weit entfernt von der großen Küsten­straße der Südküste. Ein Fin­quero nutzte die Vertreibung der Bevölkerung in der Repressions­zeit Anfang der 80er Jahre dazu, um deren Land seinem Groß­grundbesitz einzuverleiben. Die 60 Familien lebten als Flücht­linge im Gebirge. Vor einigen Jahren entschieden sie sich, nicht wie viele andere in die Haupt­stadt zu gehen, um dort in einer Maquila oder im informellen Sektor ein Auskommen zu su­chen. So begannen sie mit dem Kampf um die Rückeroberung ihres Landes. Ihnen gegenüber stand (und steht) ein ladinischer Großgrundbesitzer, der mit sei­nem Rassismus, seinem Reich­tum und seiner Machtfülle den Rückhalt des guatemaltekischen Machtapparates genießt. In den folgenden Auseinandersetzungen haben die Menschen sich verän­dert: Nicht mehr geduckt stehen sie da, sondern treten selbstbe­wußt den staatlichen Autoritäten und dem Finquero gegenüber und fordern ihre Rechte ein.
Gruppen wie die von El Ta­blero gibt es viele in Guatemala. Sie haben keine großangelegten politischen Konzepte, sondern wollen vor Ort ihre Lebensver­hältnisse verbessern. Sicherlich wäre es nun eine hoffnungslose Überfrachtung von Situationen wie der in El Tablero, hierin einen großartigen Kampf der Campesinas/os gegen den allge­genwärtigen Neoliberalismus se­hen zu wollen. Worum es ihnen geht, ist ein selbstbestimmtes Leben, eine ökonomische Le­bensgrundlage und politische Beteiligung. Vernetzt in landes­weiten Organisationen versuchen sie, Druck von unten aufzu­bauen, um ihre unmittelbaren Interessen und Forderungen in die nationale Politik einzubrin­gen und durchzusetzen.

Konkrete Schritte

“Boden unter die Füße” – Un­ter diesem Motto steht ein Semi­nar, auf dem die Delegations­gruppe Mitte Juni in Freiburg ihre Erfahrungen und Erkennt­nisse mit allen Interessierten dis­kutieren möchte. Einig war sich die Gruppe aber bereits in Gua­temala darüber, daß der Land­kampf ein wichtiges Thema der zukünftigen Soliarbeit darstellen wird. Dieser soll aber nicht iso­liert, sondern in seinem nationa­len und internationalen Kontext betrachtet werden.

Diskussion daheim

Szenenwechsel – Wuppertal, im Dezember 1996: Solibewegte, die zu El Salvador, Nicaragua und Guatemala arbeiten, kom­men zusammen, um sich über die Landfrage in “ihren” Ländern auszutauschen und Möglichkei­ten einer gemeinsamen Solidari­tätsarbeit zu diskutieren. Schnell ist klar – was nicht gerade ver­wunderlich ist: Die grundlegen­den Probleme in den drei Län­dern ähneln sich, auch wenn sie verschiedene Erscheinungsfor­men annehmen: Strukturanpas­sungsprogramme richten die Länder und deren Bevölkerung auf den modernen Kapitalismus zu, die ländliche Bevölkerung soll dazu verurteilt werden, für den Weltmarkt zu produzieren und still zu sein. Campesina/o-Gruppen kämpfen um Land oder die Absicherung ihres Landbe­sitzes, der von Großgrundbesit­zern, staatlichen Institutionen oder durch angehäufte Schulden bedroht ist. In Wuppertal wird der Vorschlag gemacht, daß die Infostelle El Salvador, das Info­büro Nicaragua und die Info­stelle Guatemala eine Form ent­wickeln, mit der gemeinsam die Landlosen und Kleinbäuerin­nen/bauern in den drei Ländern unterstützt werden. Konkretes Ergebnis ist der Rechtshilfe­fonds, der in dieser Ausgabe der Lateinamerika Nachrichten auf Sei­te 39 erstmals vorgestellt wird. Mit diesem Fonds soll na­türlich Geld gesammelt werden. Gleichzeitig soll er aber auch zum Anlaß genommen werden, gemeinsam die Probleme in Mittelamerika in die hiesige Öf­fentlichkeit zu tragen und zur Solidarität mit den dortigen Ba­sisgruppen aufzurufen.
Ha, da haben wir es wieder, das alte Gut-Böse-Schema, hier die gute Campesina – dort der böse Finquero. Ganz von der Hand zu weisen ist dieser Ein­wand nicht. Vorsicht vor einer Romantisierung einer Situation wie der in El Tablero oder vor dem Projizieren eigener Utopien auf die “armen Campesinos” ist geboten. Doch: Eine Hinterfra­gung alter Schemata sollte nicht bedeuten, Macht- und Ausbeu­tungsstrukturen nicht mehr wahrzunehmen und sich selbst auf die “richtige” Seite zu stel­len.

Schneller, breiter, größer, besser?

Fünf Länder sind an dem Projekt beteiligt: Bolivien, das über einen Kanal mit dem Rio Paraguay verbunden ist, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Argentinien. Ausgangspunkt ist der bolivianische Ort Cáceres, der Zielhafen am Atlantik ist Nueva Palmira in Paraguay.
Als infrastrukturelles Rückgrat des Mercosur soll die Mega-Wasserstraße die Wettbewerbsfähigkeit des südamerikanischen Wirtschaftsbündnisses auf dem Weltmarkt stärken. Verkürze sich, wie geplant, die 45-tägige Schiffsfahrt von Caceres nach Nueva Palmira um die Hälfte – so die beteiligten Regierungen – würden die Exportprodukte preislich attraktiver und die Region für Investoren lukrativer. Geltend gemacht werden zudem noch länderspezifische Interessen: Bolivien hätte endlich freie Bahn zum Meer, Argentinien verspricht sich Exportverbesserungen, für Brasilien bieten sich geopolitische Vorteile (bessere Kontrollmöglichkeit über die Nachbarländer) und auch Paraguay lockt ein besserer Meereszugang. Ein zwischenstaatliches Hidrovía-Komitee koordiniert die Vorhaben und Studien und beteiligt sich außerdem an der Suche nach Finanzquellen. Zugleich fungiert es als Ansprechpartner für Nichtregierungsorganisationen (NROs) und als Organisator von sogenannten Partizipationstreffen.

Flüsse für die Schiffe statt Schiffe für die Flüsse ?

Bisher besteht das Projekt aus 90 Einzelvorhaben, wie Eindeichungen, Begradigungen, Stillegung von Seitenarmen, Hafenbau, Baggerarbeiten zur Vertiefung und die Sprengung störender Felsformationen. Die Kosten werden sich (nach Berechnungen von 1989) auf 1,3 Mrd. US-Dollar belaufen, mit danach folgenden Unterhaltungskosten von ca. 3 Mrd. US-Dollar jährlich. Wer das finanzieren soll, ist zur Zeit noch unklar; gerechnet wird mit Geldern der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID), der Weltbank und verschiedener bilateraler Geber, die sich teils mit Projekten, teils mit Exportbürgschaften beteiligen. Auch von der EU sind – als zukünftigem Handelspartner – Hilfen zu erwarten.
Aus den selben Töpfen finanzierten sich die in den letzten zwei Jahren unter Beteiligung von norwegischen und nordamerikanischen Beratern durchgeführten Umwelt- und Durchführbarkeitsstudien.Zur Zeit werden die Studien von verschiedenen Gruppen und Institutionen evaluiert. So untersucht der World Wildlife Fund for Nature (WWF), ob die ökologischen Folgen realistisch abgesehen wurden, die holländische Regierung schätzt Kostenpläne ein, Nichtregierungsorganisationen vor Ort untersuchen die Verläßlichkeit der Studien. International anerkannte Hydrologen, die von der Interamerikanischen Entwicklungsbank herangezogen wurden, beschrieben die Durchführbarkeits- und Verträglichkeitsstudien in einem vorläufigen Dokument als “simplifizierend” und kritisierten, daß die komplexen Wasser- und Strömungsverhältnisse nicht ausreichend beachtet wurden. Sie forderten dazu auf, “die Schiffe den Flüssen anzupassen und nicht die Flüsse den Schiffen”.
Trotz der aufkommenden Protesten haben die Präsidenten der Länder im Februar 1997 eine pressewirksame “Eröffnung” des Projektes inszeniert, um Tatsachen zu schaffen. Diese Eröffnung, die mit Ausschreibungen von Ausbaggerungsarbeiten einhergeht, steht im Widerspruch zu den Versprechungen des Hidrovía-Komitee, nicht vor Ende der Studien- und Evaluierungen mit der Umsetzung zu beginnen und eine ausreichende Partizipation der Bevölkerung zu gewährleisten.
Bei den Auswirkungen des Projekts muß man zwischen jenen unterscheiden, die sich unmittelbar aus dem Flußausbau ergeben und solchen, die als mittelbare Folgen abzusehen sind. Beide Flüsse zusammen haben ein Einzugsgebiet von ca 720.000 km2 (entspricht etwa der doppelten Fläche der Bundesrepublik). Auf diesem Gebiet leben 40 Millionen Menschen direkt an den Flüssen, 14 Millionen sind in ihrer Lebensweise eng an die Flüsse gebunden. Unter ihnen sind zahlreiche indigene Gemeinden.

Ein Feuchtgebiet liegt auf dem Trockenen

Eine ökologische Katastrophe wartet auf das Pantanal. Hier, im größten Feuchtgebiet der Erde, leben zahlreiche Menschen vom Fischen, Sammeln, Jagen, Ökotourismus und kleiner Landwirtschaft. Sie alle würden Land und ihre Erwerbstätigkeit verlieren. Für die inianischen Völker bedeutet die Terstörung ihrer Umwelt darüber hinaus den Verlust einer kulturellen Umwelt. Von einer Kompensation wurde bisher nicht gesprochen. Die geplanten Sprengungen während des Baus der Hidrovía würden sozusagen den “Pfropfen” aus dem Gebiet ziehen. Das Zukunftsszenario: Weite Teile des Feuchtgebietes trocknen aus, umliegende Strömungsverhältnisse verändern sich, da das Pantanal seine Funktion als Wasserschwamm verliert. Im Unterlauf ist dann entsprechend mit riesigen Überschwemmungen zu rechnen. Veränderte Strömungsverhältnisse bedeuten aber auch Versalzung, Versandung und Erosion in der Umgebung der Flußufer. Fischbestände und Fischreichtum werden beeinflußt. Der bisherige Transport, Einnahmequelle für tausende, wird gefährdet, statt dessen wächst mit den Riesenfrachtverbänden die Unfallgefahr.
Offiziell soll im Pantanalgebiet nicht gearbeitet werden, der Hafen von Descalvados soll aus den Planungen herausgenommen werden. Zweifel kommen jedoch auf seit oberhalb des Pantanals am bolivianischen Tamengokanal ausgebaggert wird. Diese Arbeiten sind nicht zu erklären, wenn die Schiffe nicht auch Fahrterleichterungen durch das Pantanal bekommen.
Weitreichendere Folgen sind abzusehen: geplant ist eine Vergrößerung und damit ein Heranrücken der Agrarfront an die Flußufer. Die Landspekulation beginnt bereits. Dank ungesicherter Eigentums- und Verfügungsrechte der Kleinbauern und indigenen Gruppen, vertreiben Großfirmen in den betreffenden Gebieten die Menschen mittels Gewalt, Druck oder Geld mit Leichtigkeit von ihrem Land. Die erhofften Arbeitsplätze werden ausbleiben: Großplantagen wie die geplanten, die Frachtverbände bis zu 16 Schiffen füllen sollen, sind hochmechanisiert. Dazu kommt die Wasserbelastung durch den Transport, den Pestizideinsatz, die Abwässer aus Minen und aus Häfen. Es werden Straßen in umliegende Waldgebiete getrieben und damit indianische Gebiete zerstört.

…. auch die sozialen Unterschiede werden tiefer

Die Nachhut bilden in solchen Fällen weitere Entwaldung, Brandrodung, Erosion, Aufgabe der Subsistenzwirtschaft, die Anlage illegaler und legaler Minen, die Ausbreitung von Krankheiten und sozialen Konflikten durch die Zunahme Landloser und WanderarbeiterInnen – und führt letztendlich zu einer weiteren Konzentration produktiver Ressourcen in den Händen weniger.
Von den offiziellen Stellen werden der Zusammenhang Hidrovía und nachfolgende Entwicklung ignoriert. Partizipative Planungsmethoden existieren höchstens als selektive Alibiauslese, die Betroffenen wissen in der Mehrheit kaum um das Projekt.

Soja für Europa

Problematisch ist Hidrovía allerdings nicht nur als Einzelprojekt. Bei einer Betrachtung der Hintergründe wird deutlich, daß sich die ganze wirtschaftliche Struktur der Region verändern wird. Geplant sind Agrar-, Holz- und Bergbauprojekte in der gesamten Region, privat, staatlich oder durch Entwicklungshilfe finanziert. Drei Ölfirmen haben ihre Kapazitäten verdreifacht, und es gibt neue Holzeinschlagskonzessionen in Formosa. Die Produkte sollen auf der Hidrovía bzw. Zugangsflüssen,-kanälen und Zügen transportiert werden. Ziel der Transporte: die EU, mit der Mercosur zur Zeit ein Sonderabkommen aushandelt. Absurd erscheint in diesem Zusammenhang, daß in weiteren Teilen Südamerikas Flüsse in Wasserstraßen umgewandelt worden sind oder werden sollen, also eine direkte Konkurrenz darstellen. Darunter sind die beiden Wasserstraßen Madeira-Amazonas und Toncantins-Araguaia in Brasilien, die den Norden des Landes nach Westen öffnen.
Die einseitige Exportorientierung von Produkten, die sowieso schon von mehreren Ländern in Masse exportiert werden, wird zum Preisverfall auf dem Weltmarkt führen. Kommt noch der – allerdings schleppende – Subventionsabbau in der EU, und das Aufholen der osteuropäischen Staaten bei der Agrarproduktion.
Exportiert werden soll vorrangig eins: Soja. Schon seit Jahren gehört Brasilien zu den drei größten Sojaproduzenten der Welt – Spitzenreiter sind die USA. Als Exportschlager, um Devisen zur Schuldenreduzierung zu bekommen, um Importe zu ersetzen, und um billiges Sojaöl zur Verfügung zu haben, ist die Sojaproduktion in Brasilien mit Subventionen und Krediten massiv gefördert worden. Paraguay, stets wachsam angesichts der Konkurrenz, hat das Programm des Nachbarn importiert, große, kapitalkräftige brasilianische Firmen ins Land gelockt und ebenfalls mit Soja expandiert.
Auch im Osten Boliviens soll der Sojaanbau massiv ausgeweitet werden. Dazu wird die Hafenkapazität in Caceres verdreifacht – mit Hilfe der größten Agrarfirma der Welt, Cargill aus den USA, die 51 Prozent am Hafen besitzt. Ab März 1997 sollen über den oben erwähnten Transportweg Madeira-Amazonas 750 Tonnen Soja pro Tag verladen werden – das ist eine LKW-Ladung alle 2 Minuten.

Widerstand – die Rios-Vivos Koalition

Gegen das Projekt wenden sich mittlerweile viele NRO. Gegen HPP haben sich über 300 Gruppen aller fünf Länder, darunter indigene Organisationen, soziale NROs und Umweltorganisationen zu einer Koalition namens Rios Vivos zusammengeschlossen. Sie versuchen, das Projekt und die Bandbreite der Folgen in der Bevölkerung bekannt zu machen, organisieren Seminare, auf denen sich zum Beispiel Indígenas aus mehreren Ländern treffen, um gemeinsame Positionen zu überlegen. Sie bündeln und koordinieren die Kritik der NROs und haben international Kontakt mit Organisationen aufgenommen, um von außen Druck auf Regierungen und Finanzinstitutionen auszuüben. Zu Rios Vivos gehören daher mittlerweile auch eine europäische und eine amerikanische Organisation.
In der Bundesrepublik halten mehrere Organisationen ständigen Kontakt zu Rios Vivos und arbeiten mit ihnen zusammen. So waren im Frühjahr 1996 fünf Vertreter von Rios Vivos in der Bundesrepublik und haben das BMZ und andere Institutionen der Entwicklungshilfe besucht und über die fehlende Vorabinformation und Einbeziehung der Bevölkerung in das Projekt aufgeklärt.

Kein Fortschritt ohne Aufklärung

Rios Vivos ist nicht grundsätzlich gegen den Transport auf den Flüssen, da diese seit Jahrhunderten genutzt werden. Die Organisation wendet sich aber dagegen, daß ohne jede Mitwirkung und voraussichtlich ohne jeden Nutzen für die regionale Bevölkerung ein Megaprojekt durchgezogen wird. Sie fordern daher eine umfassende Information über HPP und alle angekoppelten Projekte. Sie fordern eine Beteiligung und Einbeziehung der Menschen und eine Diskussion über das mit HPP vorgegebene Entwicklungsmodell. In den Worten einer Resolution, die 70 VertreterInnen von 22 indianischen Gruppen im Mai herausgegeben haben, sieht das so aus: “Erlaubt uns, den Regierungen zu mißtrauen angesichts der Gleichgültigkeit, die sie uns bei anderen Großprojekten entgegengebracht haben, die sie uns immer als positive Projekte dargestellt haben und die uns nie etwas Positives gebracht haben. Wir wissen, daß der Fluß vertieft wird, und wir fürchten, daß unser Land austrocknet. Wir wollen, daß die Regierung uns garantiert, daß sich die Flüsse nicht verändern und wir wollen wissen, was getan wird, um unser Leben zu verbessern. Wir verlangen, daß mit HPP nicht eher angefangen wird, als bis gründliche Umweltstudien fertig sind, die die Belange der Anwohner und unsere miteinbeziehen. Wir wollen, daß unsere Territorien bestätigt werden. Wir empfinden HPP als Angriff auf das sozioökonomische und kulturelle System der indigenen Völker, weil es uns ein Entwicklungsmodell auferlegt, daß einem adäquaten Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen fremd ist.”

Hidrovía und Deutschland

Die Bundesrepublik ist bisher nicht direkt an der Finanzierung und den Bauvorhaben beteiligt, wird aber als “reiches Land” als eine potentielle Finanzquelle betrachtet. Finanzierungen könnten dabei über die offizielle Entwicklungshilfe oder Exportbürgschaften laufen. In Betracht gezogen werden muß dabei, daß es nicht nur um die Finanzierung der Flußarbeiten geht, sondern auch um Anschlußprojekte wie Bergbau und Agrobusiness.
Indirekt ist die Bundesregierung allerdings schon jetzt an dem Projekt beteiligt – und zwar über ihre Beteiligung an der Interamerikanischen Entwicklungsbank, dem UNDP (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (8,9 Prozent Beitragsanteil 1993) und der EU. Letztere hat für Studien zur Modernisierung mehrerer Häfen entlang der Flüsse 850.000 ECU zur Verfügung gestellt. Die Durchführung der Studien, die bis September 1997 fertiggestellt werden sollen, obliegt der deutschen Consulting Rogge Marine in Bremerhaven. Innerhalb der EU ist die Bundesrepublik ausserdem der wichtigste Handelspartner für Lateinamerika, besonders für Agrarimporte: 28 Prozent aller Agrareinfuhren stammen aus der Region, davon sind 30 Prozent Futtermittel, also auch Soja. Vor dem Hintergrund wachsender Handelskontakte zwischen EU und Mercosur würden nicht nur substantielle Handelsinteressen der EU befriedigt, sondern wären auch millionenschwere Aufträge für europäische Firmen zu erwarten. Nur einige, durch die Erfahrung mit dem Erzabbauprojekt Grande Carajas in Brasilien mißtrauisch gewordene EU-ParlamentarierInnen haben sich vorsorglich in einer informellen Hidrovía-Arbeitsgruppe zusammengeschlossen.
Auf Nichtregierungsebene haben sich ca. 15 deutsche Umwelt- und Entwicklungsorganisationen und Einzelpersonen zusammengeschlossen, darunter der WWF, KoBra (Koordination der Brasiliengruppen) und Pro Regenwald. Die Gruppen machen in der Bundesrepublik und auf EU-Ebene Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit. Gesucht wird auch der Kontakt zu Gruppen, die sich in Deutschland mit der Problematik Wasserstraßen, also dem geplanten Ausbau der letzten Kilometer freifließender Flüsse und dem Rückbau kanalisierter Flüsse beschäftigen, um den Partnern in Lateinamerika Vergleichsmöglichkeiten und Kritikpunkte bieten zu können.
Ob HPP in der jetzigen Form verhindert werden kann, hängt zu einem grossen Teil davon ab, ob und wie europäische und dabei besonders deutsche Gruppen und Personen anfangen, Öffentlichkeit zu schaffen und Druck auf PolitikerInnen auszuüben. Die weltweite Degradierung von Flüssen zu Verkehrswegen auf Kosten der AnwohnerInnen und der Natur führt in eine Sackgasse. Transport muß nicht billiger und schneller werden, sondern anders: vermieden, wo nicht notwendig und vor allem so teuer wie es den ökologischen und sozialen Schäden entspricht, die er verursacht.

Ein Alptraum voller Realität

Angela Delli Santes Buch “Nightmare or Reality. Guatemala in the 1980s” ist eine nachdrückliche Anklage. In unermüdlicher Detailtreue analysiert die US-amerikanische Professorin die Mechanismen, Hintergründe und sozialen Folgen der politischen Repression in Guatemala. Unerbittlich zeigt sie Verantwortlichkeiten auf, nennt Entscheidungsträger, Akteure und Kollaborateure, klagt Schuldige an. Dabei verläßt sie sich nicht allein auf die moralisch-ethische Kraft ihres erhobenen Zeigefingers, sondern stützt ihre Anklagen auf die Verletzung nationalen wie auch internationalen Rechts. So ist Guatemala offizieller Unterzeichner der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der UN-Folterkonvention und der UN-Konvention über den Genozid. Dem steht allerdings in der Realität eine schaurige Bilanz hunderttausender ziviler Opfer staatlicher Repression gegenüber, Konsequenz einer nahezu fanatischen Politik der Vernichtung jedes potentiellen Gegners. “Zerstörung ländlicher Strukturen” und “Umsiedlung, Kontrolle, Militarisierung”, so hießen die Programmstufen des systematischen Staatsterrorismus, welcher der bewaffneten Opposition die wachsende gesellschaftliche Basis untergraben sollte. Ihren traurigen Höhepunkt erreichten die 50 Jahre der Repression in den 80er Jahren mit der Auslöschung ganzer Dörfer, extralegalen Hinrichtungen, Folter und der Systematik des “Verschwindenlassens”.

Die Verantwortlichen der Repression

Als Hauptakteure und Verantwortliche nennt die Autorin Armee, Polizei, Geheimdienst, die Zivilen Patrouillen zur Selbstversteidigung (PACs) und verschiedene paramilitärische Gruppen, aber auch zivile Entscheidungsträger, insbesondere die auf die Militärregierung folgenden Regierungen von Venicio Cerezo Arévalo, Jorge Serrano Elías und Ramiro de León Carpio, die kein Ende der Menschenrechtsverletzungen bewirkten. Zur Verantwortung zieht Delli Sante jedoch ebenso weite Kreise der internationalen Staatengemeinschaft, ohne deren militärische, wirtschaftliche und logistische Unterstützung der Ausbau und die Aufrechterhaltung des polizeilichen und militärischen Überwachungs- und Repressionsapparates in diesem Maß nie durchführbar gewesen wäre. Besonders hart ins Gericht geht sie mit Entscheidungsträgern in den USA und Israel, denen sie die größte Bedeutung bei der ideologischen Indoktrinierung und militärischen Unterstützung zuspricht. Als Kollaborateur von Format nennt sie aber auch das ehemalige Westdeutschland, aus dem vor allem als Entwicklungshilfe getarnte Gelder zum Ausbau des guatemaltekischen Terrorapparates flossen. Ihre Thesen und Argumentationen stützt die Autorin dabei nicht auf Gerüchte, sondern auf genauestens recherchierte Aussagen und Dokumente, die sowohl von Menschenrechtsorganisationen und zivilen Augenzeugen, als auch von Regierungsseite und den Militärs stammen.

Das Leid der Flüchtlinge

Der Schwerpunkt des 400-Seiten Buches liegt indes nicht auf den Akteuren des Bürgerkrieges oder den Helden des Widerstandes, sondern auf den Überlebenden des Staatsterrors, die sich hinter so abstrakten Begriffen wie ‘Exodus’ und ‘Hinterbliebene des Völkermords’ verbergen.”We all have this ability to cease to see”, zitiert sie V.J. Steiner und so widmet sie ihr Buch vor allem jenen, die leicht in Vergessenheit geraten. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Flüchtlingen und Vertriebenen, die, von panischer Angst getrieben, ihr Heil in Mexiko und den Vereinigten Staaten suchten – und es nur selten fanden. Dokumentiert werden in diesem Zusammenhang die Konsequenzen der erbarmunslosen Abschottungspolitik, die die USA und Mexiko trotz eindeutiger Hinweise auf umfassende Menschenrechtsverletzungen in Guatemala gegenüber den Bürgerkriegsflüchtlingen praktizierten. Die Aberkennung eines Status als bona fide Flüchtlinge, sowie aller damit verbundenen Schutz- und Aufenthaltsansprüche, bedeutete in jedem Fall ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, im Falle der USA auch die klare Nichteinhaltung ihrer Verpflichtungen als Unterzeichner der UN-Flüchtlingskonventionen. Für die Flüchtige bedeutete dies oftmals die traumatische Wiederdurchlebung bereits erlittener Repressionen, die Fortsetzung eines Lebens in permanenter Angst und für die Mehrzahl von ihnen sogar ein Leben im Untergrund, ständig auf der Flucht vor drohender Deportation.

Eingefrorener Schrecken

“Nightmare or Reality” – so lautet der Titel von Agela Delli Santes Buch, und hier klingt bereits an, daß die beschriebenen Zustände der Beklemmung noch lange in der Psyche ihren Nachhall haben: Schlaflosigkeit, Depressionen, Schuldgefühle und krankhaftes Mißtrauen sind nur einige der weitverbreiteten Symptome der psychischen Zerrissenheit. Die hohe Anzahl von Selbstmördern – in der Mehrzahl mißbrauchte Frauen – und das Zusammenbrechen sozialer Gefüge in den Flüchtlingscamps sind die sichtbarsten Alarmsignale dieses Elends. Als größtes Hindernis auf dem Weg zur Rehabilitierung nennt die Autorin das Fehlen jeglicher Behandlungs-und Beratungsstellen, insbesondere für die Gefolterten und den fortbestehenden inneren und ihnen von außen auferlegten Zwang zum Schweigen. Frozen grief heißt die Bezeichnung für diesen Zustand des gelähmten Schreckens, in dem sich die Opfer des Bürgerkriegs befinden.
Angst vor Repressionen, die soziale Isolierung der Opfer, ihre Schuldgefühle und Sprachlosigkeit, sowie das permanente Abstreiten des angetanen Leids von Seiten staatlicher Institutionen verhindern das Aufbrechen dieser Eisschicht und damit einen effektiven nationalen Dialog. In einem größeren Rahmen bezieht sich dies nicht nur auf die Vertriebenen und Opfer, sondern auch auf die Täter, die oftmals durch systematische Indoktrinierung zum Dienst in den berüchtigten PACs (Zivile Einheiten zur Aufstandsbekämpfung) gezwungen wurden, sowie Angehörige des Militärs. Auch hier beschränkt sich die Autorin nicht auf bloße Fakten, sondern stellt das unmenschliche Ausmaß an Gewalt in den Kontext einer psychologisch-ideologischen Manipulierung, mit Hilfe derer grundlegende Veränderungen in der Persönlichkeitsstruktur der Täter vollzogen wurden.

Perspektiven

Denkmuster und Bewußtseinsformen lassen sich nicht einfach ablegen. Aus dieser grundsätzlichen Einsicht zieht Angela Delli Sante im Hinblick auf den guatemaltekischen Friedensprozeß die Konsequenz, daß moralischer Druck allein nicht ausreicht, um ein Aufbrechen der repressiven Strukturen zu erzwingen. Stattdessen fordert die Autorin die Einstellung jeglicher direkter und indirekter Unterstützung der guatemaltekischen Ordnungs- und Sicherheitskräfte und die Verhängung von Sanktionen im Falle einer Rebellion des Militärs. Ohne ausländische Unterstützung, so ihre feste Überzeugung, könne sich das repressive Regime nicht lange halten. Ein Einlenken der Weltwirtschaftspolitik auf here Prinzipien erhofft sie jedoch kaum. Optimismus schöpft sie vielmehr aus dem sichtbaren Erstarken der Zivilgesellschaft, in Guatemala selbst und auf internationaler Ebene.

Umfassende und differenzierte Darstellung

Insgesamt hält sich Angela Delli Sante jedoch sehr mit Spekulationen und Thesen zurück. Sie nimmt Partei, versteht es aber, ihre Wissenschaftlichkeit zu wahren. Es ist wohl ihre größte Leistung, trotz persönlicher Betroffenheit und Hingabe, Opfer und Täterrollen zu durchleuchten und polemische oder gefühlsgeladene Aussagen zu vermeiden. Zehnjährige aufwendige Forschung, die Auswertung von Statistiken, Kongressen und selbstgeführten Interviews machen das Buch zur wohl umfangreichsten Quelle dokumentarischen Materials über die politische Situation Guatemalas in den 80er- und frühen 90er-Jahren. Nicht zuletzt das ausführliche Quellenverzeichnis, Fundstelle für die oft mehrfachen Belege der Aussagen der Autorin, ist für Guatemala-Interessierte eine Leistung von unüberschätzbarem Wert. Es ist der Autorin auf diese Weise gelungen, in ihrer Monographie das Leid eines großen Teiles der guatemaltekischen Bevölkerung umfassend darzustellen, die von staatlicher Seite lang geleugnete Realität der alptraumartigen Flüchtlingsberichte hieb und stichfest zu belegen und eindeutige Verantwortlichkeiten aufzuweisen. Darüber hinaus gewinnt das Buch durch die interdisziplinäre Verflechtung von historischen, politischen, soziologischen, ethnologischen und psychologischen Erkenntnissen nicht nur an Breite, sondern auch an Tiefe. Wünschenswert, um den umfassenden Einblick in die Problematik abzurunden, wäre noch ein Kommentar dazu gewesen, wie die Autorin die Auswirkung der von ihr analysierten psychischen Folgen auf die von der Zivilbevölkerung in den letzten Jahren gebildeten Organisationen einschätzt, die ihr Grund zu einem gewissen Zukunftsoptimismus geben. Eine interessante Frage wäre in dieser Hinsicht, welche Bevölkerungsgruppen sich aufgrund erlittenen Unrechts und eines gestörten Gesellschaftslebens von solchen Mobilisierungstendenzen in der Zivilbevölkerung ausschließen, und welche Personen dagegen aus der gemeinsamen Erfahrung der Vergangenheit Mut zur Solidarität und politischer Aktivität schöpfen.

Überunterschriftenchaos

Negative Kritik ist jedoch bezüglich der Gestaltung angebracht. So wird den LeserInnen in der Fülle dokumentarischen Materials oft der rote Faden fehlen. Die Monographie gleicht an manchen Stellen einem etwas überstürzt veröffentlichten Forschungsbericht, in dem selbst vom Text gefangene LeserInnen über orthographische Behinderungen des Leseflusses stolpern. Direkt aus der Forschungsarbeit übernommen wurde wohl auch die grobe Einteilung der Hauptkapitel in die Phasen direkter militärischer Kontrolle, indirekter militärischer Kontrolle und ein Update zum Aufbruch der 90er Jahre. Angesichts der Tatsache, daß weitaus mehr die Kontinuität alter Repressionsmuster und Verantwortlichkeiten demonstriert wird als die Gegenüberstellung unterschiedlicher historischer Abschnitte, erscheint diese chronologische Einteilung seltsam und führt zu einer gewissen Frustration der LeserInnen, die sich nach über hundert Seiten wieder in alte Zusammenhänge einarbeiten müssen. Unzählige Unter- und Unterunterüberschriften , die zudem optisch schlecht hervorgehoben sind, tragen zu weiterer Verwirrung bei.
Wenn diese kosmetischen Aspekte jedoch letztendlich zugunsten der Aktualität geopfert werden mußten, so sei dieses Kavaliersdelikt verziehen – denn kommt das Buch in mancher Hinsicht auch zu spät, so doch zumindest nicht in jeder. Gerade in Hinblick auf den vollzogenen Friedensschluß und das umstrittene Amnestiegesetz, sowie die Pläne für einen nationalen Wiederaufbau haben Bücher wie Nightmare or Reality ihren Stellenwert. Stetig neue gewaltsame Zusammenstöße zwischen Militär und Bevölkerung, insbesondere den Repatriierten, führen vor Augen, daß sich hinter auch noch so automatisierten Repressionsapparaten Menschen verbergen, die ihre Mentalität und Überzeugung nicht durch bloße Veränderung verfassungsmäßiger Machtkonstellationen ändern. Das Buch zeigt sehr deutlich, daß die überlebenden Opfer der Repressionen nicht allein durch Gesetze in die Normalität zu integrieren sind. Ein (inter-)nationaler Dialog muß deshalb auch das Schweigen über vergangenes Unrecht brechen, sonst werden für viele dieser Menschen ihre Alpträume weiterhin die Realität bestimmen.

Friede, Freude, Strukturanpassung

Am Anfang stand der Friedensprozeß von Esquipulas in den 80er Jahren. Dort wurden die Grundlagen gelegt für den Integrationsprozeß in Mittelamerika, der, so die Hoffnung der Beteiligten, den kleinen mittelamerikanischen Ländern ein Stückchen vom Wohlstandskuchen verschaffen sollte. Dann kamen die WirtschaftsberaterInnen aus dem In- und Ausland: Zuerst müssen die mittelamerikanischen Volkswirtschaften ihre traditionelle landwirtschaftliche Exportproduktion steigern, so ihre Ratschläge. Danach soll mit den erwirtschafteten Devisenerlösen die Exportdiversifizierung und die Modernisierung der Agrarproduktion vorangetrieben werden. Landreformen sowie die Befriedigung sozialer Bedürnisse werden ebenfalls anvisiert. Dennoch wird allein der Rückgang der Exporterlöse seit Anfang der siebziger Jahre als Erklärung für den Ausbruch der bewaffneten Konflikte in den siebziger und achtziger Jahren angesehen – die ungleichen Bodenbesitzverhältnisse bleiben außen vor.
Entsprechend dieser Strategie wurden die Strukturanpassungsprogramme in Zentralamerika konzipiert und umgesetzt. Die Erfahrungen unterscheiden sich kaum von denen anderer Länder Lateinamerikas. Das Besondere in Mittelamerika liegt vielleicht darin, daß die neoliberalen Reformen parallel zu den Friedensprozessen stattfinden. In allen Ländern, in denen es bewaffnete Konflikte gab, wurden erfolgreiche Friedensverhandlungen durchgeführt: In Nicaragua, El Salvador und zum Teil auch in Guatemala konnten sich die Regierungen und die bewaffnete Opposition über die Modalitäten für die Beilegung der Konflikte einigen. Die Friedensabkommen sind nichts anderes als die gegenseitige Verpflichtung, die bestehenden Gegensätze allein auf der politischen Ebene zu lösen.
Die neoliberalen Reformen werden aufgrund der politischen Instabilität von sozialen Ausgleichsmaßnahmen begleitet. So wurden in sämtlichen Ländern Zentralmerikas mit Hilfe internationaler Geldgeber die sogenannten Fondos de Inversion Social errichtet, Sonderfonds, die die sozialen Auswirkungen der Strukturanpassung abfedern sollten. Da solche Instrumente nur für einen begrenzten Zeitraum und nur für die schwächsten sozialen Gruppen gedacht sind, ist es für die Regierungen außerdem notwendig, den Ausgleich mit den anderen Interessensgruppen der Gesellschaft zu suchen. In Guatemala und El Salvador wurde mit dem Foro de Concertación Social und der Asamblea de la Sociedad Civil Dialogforen geschaffen. Beteiligt sind daran drei Gruppen: Regierung, Unternehmen und Gewerkschaften beziehungsweise Bauernorganisationen. In Honduras und Costa Rica gewannen die politischen Parteien die letzten Wahlen, die die Strukturanpassungsmaßnahmen kritisierten. Allerdings haben sie kaum Spielraum ihre programmatischen Alternativen umzusetzen. Die neoliberale Variante in Nicaragua erhält mit dem Wahlerfolg der Liberalen Allianz unter Arnoldo Alemán die politische Legitimation, makroökonomische und politische Reformen zugunsten der mächtigen Wirschaftselite durchzuführen.

Traditionelle Abhängigkeiten

Die Volkswirtschaften der fünf zentralamerikanischen Länder (Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras und Nicaragua) sind von vier traditonellen Exportprodukten abhängig: Bananen, Kaffee, Baumwolle und Zucker. Der Anteil dieser Produkte an den Gesamtexporten liegt weiterhin durchschnittlich bei über fünfzig Prozent. Und dies, obwohl seit Anfang der achtziger Jahre starke Anstrengungen unternommen wurden, die Exportpalette um sogenannte nicht-traditionelle Güter (zum Beispiel Krabben, Schnittblumen, Kardamom) anzureichern.
Die Investitionen sowohl des öffentlichen als auch des privaten Sektors sind im Zeitraum 1978-1995 mit Ausnahme Costa Ricas zurückgegangen. Der Rückgang der öffentlichen Investitionen läßt sich unschwer als Folge der Sparmaßnahmen im Rahmen der Strukturanpassungsprogramme ausmachen. Demgegenüber kann der Rückgang der Privatinvestionen trotz verbesserter Investitionsförderung nur durch das fehlende Vertrauen des Privatkapitals in die politische Stabilität der Region begründet werden. Für das Auslandskapital hatten die mittelamerikanischen Länder schon in der Vergangenheit eine im lateinamerikanischen Kontext vergleichsweise liberale Investitionspolitik. Dabei bestand zwischen den Ländern im Grunde schon immer ein Konkurrenzverhältnis um die Gunst der Auslandsinvestitionen. So sind heute noch nationale Unterschiede bei der Behandlung des Auslandskapitals festzustellen: Guatemala ist beispielsweise das einzige Land, das eine gleiche Behandlung für inländisches und ausländisches Kapital gesetzlich verankert hat. In El Salvador und Honduras sind Auslandsinvestitionen bei Kleinunternehmen verboten. Costa Rica, El Salvador und Honduras fördern die Auslandsinvestitionen, indem sie sie durch ihre Wechselkurspolitik begünstigen. Gleichzeitig wird in El Salvador und Honduras aber die einheimische Kleinindustrie geschützt. Aufgrund der schärfer werdenden Standortkonkurrenz ist für die nahe Zukunft bei allen Ländern mit einer weiteren Liberalisierung der Investitionspolitik zu rechnen. Damit werden die einheimischen KleinproduzentInnen verstärkt der übermächtigen ausländischen Konkurrenz ausgesetzt.

Instabilität durch Liberalisierung

Mit dem Abbau von Zöllen und anderen Schutzinstrumenten sind die Volkswirtschaften Mittelamerikas anfälliger gegenüber der Weltmarktkonkurrenz geworden. Für kleinere Volkswirtschaften wie die mittelamerikanischen, spielt der Schutzzoll auf ausländische Importe eine wichtige Rolle für die einheimische Industrie, denn die einheimische Produktion könnte sonst nicht mit den Preisen der Importgüter konkurrieren. Die Öffnung Zentralamerikas gegenüber dem Weltmarkt findet in einer Zeit statt, in der auf internationaler Ebene zahlreiche Gewichtsverschiebungen und Schwankungen zu verzeichnen sind. Das Wirtschaftswachstum in den Industrieländern verläuft ungleichmäßig. Trotz dem erfolgreichen Abschluß der Uruguay-Runde des GATT (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen) vor zwei Jahren, ist bei vielen Produkten aus der Region ein verstärkter Protektionismus seitens der Industrieländer zu konstatieren. Zudem sind die Preise für die vier traditionellen Exportgüter weiterhin instabil. Die Tendenzen zur Bildung regionaler Wirtschaftsblöcke gehen oft mit handelsumlenkenden statt mit handelsschaffenden Effekten einher. Kein Wunder also, daß in Zeiten höherer internationaler Schwankung die kleinen Volkswirtschaften Mittelamerikas mit einer ständigen makroökonomischen Instabilität konfrontiert sind.

Die Auslandsverschuldung

Die Gesamtschulden der fünf zentralamerikanischen Länder sind von 17,5 Milliarden US-Dollar 1985 auf knapp 24,5 Milliarden US-Dollar 1994 gestiegen. Aussagekräftiger ist indes der Anteil der Exporterlöse, die für den Schuldendienst aufgewandt werden müssen. Für die Region lag er 1994 bei 31,5 Prozent. Bei den einzelnen Ländern fällt er höchst unterschiedlich aus: Während Guatemala (11 Prozent), El Salvador (14,5 Prozent) und Costa Rica (14,6 Prozent) eine erhebliche Entspannung ihrer Schuldendienstsituation im Vergleich zum Jahr 1985 erzielten, liegen Honduras (34,9 Prozent) und Nicaragua (38,2 Prozent) weit über der von der Weltbank als akzeptabel eingestuften Obergrenze von 20-25 Prozent.
Ungeachtet der nationalen Unterschiede ist die Belastung der Auslandsverschuldung für lateinamerikanische Verhältnisse überdurchschnittlich groß. Die Länder Zentralamerikas haben eine Auslandsverschuldung, die im Verhältnis zu ihrem Wirtschaftspotential um einiges höher ist, als die der anderen lateinamerikanischen Länder. Ein besonderes Problem stellt heute der auffällig hohe Anteil an multilateralen Schulden dar. Dieser ist insbesondere für El Salvador (57,2 Prozent), Honduras (46,7 Prozent) und Costa Rica (33,6 Prozent) sehr hoch. Ein hoher Anteil an multilateraler Auslandsverschuldung wirkt sich auf die Kreditwürdigkeit gegenüber anderen Gläubigern negativ aus und schafft zusätzliche Schwierigkeiten bei Umschuldungsverhandlungen.
Angesichts der zunehmenden Zahlungsschwierigkeiten mußten die Regierungen schon Anfang der achtziger Jahre Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) aufnehmen und die berühmt-berüchtigten letter of intents (Absichtserklärungen) unterzeichnen. Mit jenen verpflichteten sie sich, Anpassungsmaßnahmen durchzuführen, um die finanzielle Unterstützung für den Zahlungsbilanzausgleich zu erhalten. Die durchgeführten Maßnahmen (Liberalisierung der Wechselkurse, restriktive Geldpolitik, Senkung der Staatsausgaben undsoweiter) stehen aber zumindest kurzfristig im Widerspruch zu den wachstumspolitischen Zielen, die sich die Regierungen gesetzt haben. Die Schuldenverhandlungen mit dem IWF haben bislang kaum Handlungsspielraum für die erwünschte Wachstumsstrategie gelassen. Besser sieht es nur in El Salvador und Costa Rica aus. El Salvador profitierte von im Zusammenhang mit dem Krieg gewährten finanziellen Hilfen in Form von nicht rückzahlbaren Zuschüssen und von den Geldüberweisungen der in den USA arbeitenden salvadorianischen BürgerInnen. Costa Rica konnte seine Exporterlöse bei traditionellen und nicht-traditionellen Gütern steigern. Ansonsten haben die Schuldenverhandlungen keine Entlastung der Verschuldungssituation erbracht. Sowohl Honduras als auch Nicaragua stehen heute auf der Weltbank-Liste der vierzig ärmsten Länder mit einer nicht zu bewältigenden Verschuldungssituation.

Die regionale Wirtschaftsintegration

Der gemeinsame zentralamerikanische Markt (MCCA) ist mit seinen 35 Jahren das älteste Integrationsprojekt in Lateinamerika und der Karibik. Seitdem vor etwa dreißig Jahren die ersten Zollvereinbarungen getroffen wurden, kommt die mittelamerikanische Integration nur im Schneckentempo voran. Die guten Absichten können nicht geleugnet werden. Davon zeugen der achtzehnte Präsidentengipfel, das Treffen mit der mexikanischen Regierung, das Treffen der Wirtschaftsminister und der Beauftragten für die regionale Integration und zahlreiche andere Zusammenkünfte von VertreterInnen aus Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft. Doch das Hindernis, das die reale sozio-ökonomische Lage dieser Länder darstellt, kann nicht ignoriert werden. Die zentralamerikanische Region durchlebt seit 1978 eine wirtschaftliche Krise, die sich in einem Rückgang des Pro-Kopf-Einkommens widerspiegelt. Die sporadisch auftretenden Exporterfolge waren nur ein kleiner Kontrapunkt in dieser Entwicklung.
Neben den vielen Absichtserklärungen wurden auch Maßnahmen für eine Liberalisierung des Handels getroffen: Die zentralamerikanische Zollunion hat den gemeinsamen Außenzoll auf maximal zwanzig Prozent gesenkt, eine weitere Absenkung auf fünfzehn Prozent ist geplant. Bis auf wenige Ausnahmen ist der Warenverkehr innerhalb der Zollunion frei. So hat sich das Volumen des Außenhandels von 1988 bis 1993 auf 1,13 Milliarden US-Dollar verdoppelt. Doch Zollfreiheit hat nur eine begrenzte Wirkung, wenn es keine Eisenbahnlinien, Straßen oder Häfen gibt, um die Güter zu transportieren. In diesen Zusammenhang fällt auch das Urteil von Michael Porter, Professor an der Harvard University. Das Fazit seiner Studie über die Wirtschaftsintegration, die er den Präsidenten Mittelamerikas Mitte des Jahres vorlegte, ist ernüchternd: Kein einziges mittelamerikanisches Land verfügt über ein System, das den Frachttransporterfordernissen des Weltmarktes entspricht – ein ernstzunehmendes Hindernis für die Wirtschaftsintegration Mittelamerikas.
Dieses Defizit ist den Regierungen bewußt. Bei ihren Treffen wurden Gemeinschaftsprojekte in den Bereichen Stromerzeugung, Telekommunikation, Eisenbahn- und Straßenbau verabredet, die mit voller Kraft vorangetrieben werden sollen. Doch das Kardinalproblem bleibt bestehen: Woher soll das Geld kommen? Allein für ein Projekt zur Elektrifizierung der ganzen Region müßten 400 Millionen Dollar herbeigeschafft werden. Nicht einmal die Hälfte davon können die Regierungen über weiche Kredite bei der Interamerikanischen Entwicklungsbank erhalten. Eigenmittel sind bei der herrschenden Finanzlage nicht vorhanden. Die Folgen für die anvisierte Integration wiegen schwer: Dem Vernehmen nach haben in Guatemala eine Reihe von Betrieben der Maquilaindustrie, der Werke US-amerikanischer Firmen, in denen lediglich Vorgefertigtes für den US-Markt zusammengesetzt wird, wegen Stromknappheit eine Verlagerung nach Mexiko beschlossen. So können sie einerseits auf eine effizientere Energieversorgung zurückgreifen und andererseits die Vorteile des NAFTA-Marktes ausnutzen.

Die Verhandlungen mit NAFTA

Obwohl der regionale Handel in den letzten fünf Jahren stark angestiegen ist, bleibt der US-Markt für Zentralamerikas Außenhandel von herausragender Bedeutung. Dementsprechend wird eine schnelle Anbindung an das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) angestrebt. Die Verhandlungen gestalten sich aber schwierig. So kann dem Acht-Punkte-Anforderungskatalog, der 1991 von der US-Handelsbeauftragten Carla Hills als Grundlage für ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und Mittelamerika vorgelegt wurde, nicht ohne grundlegende Zugeständnisse entsprochen werden. Insbesondere Fragen des Marktzugangs, Investitionsregelungen, Umweltnormen, Streitschlichtung und Eigentumsrechte bedürfen einer Klärung.
Für die Nicht-Mitgliedsländer hat das NAFTA nicht zu unterschätzende Folgen. Im Falle Zentralamerikas kommt der größte Nachteil dadurch zustande, daß der seit 1983 gegenüber Mexiko durch die Initiative des Karibischen Beckens (CBI) erlangte Vorteil wegfällt. Dadurch wurde unter anderem den Ländern des MCCA, aber eben nicht Mexiko, der präferentielle Zugang zum US-Markt für diverse Produkte gewährt. Mexiko hat nun im Konkurrenzkampf mit Zentralamerika um Handel und Investitionen mit den USA seine Position wesentlich verbessert. Die Mindestlöhne in Mexikos Fabriken sind normalerweise niedriger als die in den beiden wettbewerbsfähigsten Ländern Mittelamerikas Guatemala und Costa Rica. Gleiches trifft auf die Transportkosten zu. Zudem sind die Investitionsbestimmungen in Mexiko viel liberaler und trotz zunehmendem Widerstand der mexikanischen Bevölkerung gegenüber der neoliberalen Politik werden die anderen zentralamerikanischen Länder immer noch als politsch instabiler eingestuft.
Insbesondere zwei Kategorien von Exportgütern sind vom NAFTA besonders betroffen und geraten gegen mexikanische Konkurrenzprodukte in Nachteil: erstens jene Exportgüter, die nicht auf der Präferenzliste der CBI stehen (zum Beispiel Textilien und Kleidung) und zweitens jene Exportgüter, die aufgrund der CBI-Präferenzen eine gewisse Wettbewerbsfähigkeit auf dem US-Markt erreicht hatten. Durch das NAFTA werden auch andere Vorteile aufgehoben. Für bestimmte nicht-traditionelle Exportgüter wie Honigmelonen, die aus den CBI-Ländern zollfrei in die USA eingeführt werden, fallen die Zollschranken auch für die anderen Länder schrittweise. Da Mexiko bei fast allen Exportgütern in offener Konkurrenz zu Zentralamerika steht, kommt es durch NAFTA automatisch zu einer Verschlechterung der Handelsposition der MCCA-Länder auf dem US-Markt.
Bislang haben die Verhandlungen als MCCA-Block mit dem NAFTA zu keinem nennenswerten Ergebnis geführt. Auch die getrennten Verhandlungen mit Mexiko oder mit Kanada haben außer 20 Millionen Entwicklungshilfe nicht die Flanken des NAFTA geöffnet. Daraufhin wurde parallel zu dem Integrationsprozeß von einzelnen Ländern (Costa Rica) oder Ländergruppen versucht, bilaterale Freihandelsabkommen mit den Mitgliedsländern von NAFTA zu erreichen. So besteht seit 1995 ein bilaterales Freihandelsabkommen zwischen Costa Rica und Mexiko.

Gescheiterte Strategie

Die Diversifizierung der Exporte hat trotz starker Exportsubventionen nicht die erwarteten Erfolge gebracht. Der Tourismus wuchs außer in Costa Rica und Guatemala nur mäßig. Auch für die nächste Zukunft bleibt Zentralamerika von seinen traditionellen Exportprodukten abhängig: Bananen, Kaffe, Zucker und mit abnehmender Bedeutung Baumwolle. Mit Ausnahme Costa Ricas liegen die Exportanteile dieser Güter in den restlichen Ländern bei über 50 Prozent der Gesamtexporte. Baumwolle erlitt seit Anfang der achtziger Jahre einen dramatischen Produktionsrückgang von jährlich 13 Prozent. Vor allem Nicaragua sah sich dadurch mit erheblichen Einkommensverlusten konfrontiert.
Gerade das Angebot dieser Exportprodukte reagiert aber relativ unelastisch auf Preisentwicklungen, das heißt produziert wird relativ unabhängig von den Preisentwicklungen auf den internationalen Märkten. Ein nennenswertes Potential zur Exportexpansion ist so auch bei Preissteigerungen nicht vorhanden. Folglich sind von diesen Branchen keine signifikanten Entwicklungsimpulse zu erwarten. Aber gerade eine auf diesen Produkten basierende Exportexpansionsstrategie steht im Mittelpunkt der Strukturanpassungsprogramme, die erfolglos in allen Länder Mittelamerikas seit Mitte der achtziger Jahre durchgeführt werden.
Die Friedensprozesse werden in einer Zeit abgeschlossen, in der die Ausgaben des Staates für die Befriedigung sozialer Bedürfnisse stark gekürzt werden. In vielen Fällen könnte der soziale Friede gerade eben mit Hilfe von sozialen Abfederungsprogrammen gerettet werden. Die Folgen des NAFTA überfordern die Volkswirtschaften Mittelamerikas, die nun weniger Vorteile auf dem US-Markt genießen, während gleichzeitig die Verschärfung der Schuldensituation engere Handlungspielräume für den Binnenmarkt setzt. Es gibt aber kaum Grund zur Annahme, daß mit dem bisher gebildeten gesellschaftlichen Konsens die Herausforderungen bewältigt werden können, die durch die Verengung des Handlungsspielraums des Staates, die neoliberale Transformation und die Verschärfung sozialer Ungleichheiten entstanden sind. Für ein anhaltendes Wirtschaftswachstum ist eine kontinuierliche politische Stabilität notwendig, diese ist aber ohne soziale Gerechtigkeit nicht zu erreichen.

Sprinter Kohl in Lateinamerika

Die erste Station: Argentinien
Zwölf Jahre nach seinem ersten Argentinien-Besuch traf Bundeskanzler Kohl am 14. September in Buenos Aires ein. In Argentinien wurde dieser Besuch als der bedeutendste seit der Visite des damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten, George Bush, im Jahr 1990 gehandelt.
Seit 1989 richtete sich der Blick der deutschen Wirtschaft hauptsächlich gen Osten. An den ersten großen Privatisierungswellen in Argentinien wurde nur beobachtend teilgenommen. Telefon-, Flug-, und Erdölgesellschaft wie auch die Wasser-, Gas-, Stromversorgungsunternehmen sind nun in spanischer, französischer oder nordamerikanischer Hand, die sich daran eine goldene Nase verdienen. Die bevorstehende Privatisierung der argentinischen Flughäfen soll nun nicht ohne deutsche Beteiligung geschehen. Der Prozeß der Wiedervereinigung und die Ostorientierung der deutschen Wirtschaft soll einem Engagement in Argentinien nicht mehr im Wege stehen. Rechtssicherheit, die Investitionen auch mittel- und langfristig sichern, wirtschaftlich stabile Rahmenbedingungen und politische Kontinuität werden nun seitens der Wirtschaft besser eingeschätzt als noch vor Jahren, müssen aber nichtsdestotrotz weiterhin ausgebaut werden. Fragen der Verteilungsgerechtigkeit sind nur indirekt von Belang, der soziale Frieden und damit die politische Stabilität darf durch eine allzu ungleiche Verteilung nicht aufs Spiel gesetzt werden.

Internationale Unterstützung

Nur eine Woche nachdem der Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) Camdessus und der Präsident der Welthandelsorganisation (WTO) Ruggero in Buenos Aires die jüngste wirtschaftliche Entwicklung Argentiniens lobten, ordnete sich Kohl in diese illustre Reihe ein. Er bezeichnete den seit Anfang der neunziger Jahre verfolgten neoliberalen Wirtschaftskurs als sehr mutig und empfahl Menem ihn beizubehalten. Die Argentinier sollten sich in “Sturmzeiten” in Geduld üben, da letztendlich die Reformen ihre Wirkung zeigen und sich die Opfer auszahlen würden.
Die Parallelen zu der deutschen Wirtschaftssituation liegen für Kohl auf der Hand. Aus diesem Grund vertrat er die Meinung, daß in der heutigen Zeit, in der Globalisierung und die Standortkonkurrenz die Realität beherrschen, es keine Alternative – weder für Argentinien noch für Deutschland – zu einer Politik der Kostenreduktion, der Arbeitsflexibilisierung und der Neudefinition des Sozialstaates gäbe.
Nur mit gleichwertigen Partnern wie Argentinien, mit denen mensch viel gemeinsam habe, unter anderem die Vorliebe für die Marktwirtschaft, könnten die globalen Herausforderungen – Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Armut – gemeinsam gemeistert werden.
Menem kann die Unterstützung durch Kohl derzeit gut gebrauchen: Seine Popularität und damit auch die seiner Politik hat einen Tiefpunkt erreicht. Die Geduld der Bevölkerung, auf deren Rücken die Anpassungsmaßnahmen durchgeführt werden, geht zu Ende. Bisher war es Menem gelungen, dank des “Inflationsbekämpfungsbonus” die Menschen immer wieder zu vertrösten. Die Zeiten der Hyperinflation Ende der achtziger sind noch sehr gut im Gedächtnis. Um die gewonnene Stabilität nicht aufs Spiel zu setzen wurden viele Opfer in Kauf genommen. Das letzte Sparpaket aber (siehe LN 266/267) brachte das Faß zum überlaufen. Der Generalstreik am 8. August legte das Land fast vollständig lahm – die OrganisatorInnen sprachen von einer neunzigprozentigen Streikbeteiligung. Damit nicht genug. Am 26. und 27. September erfolgte der nächste Generalstreik. 36 Stunden wurde gegen die Austeritätspolitik der Regierung protestiert. Auf der Plaza de Mayo, vor dem Regierungsgebäude, versammelten sich 70.000 DemonstrantInnen, die größte Demonstration seit 1989. Bemerkenswert ist, daß zu dem Streik der regierungsnahe Dachverband der Gewerkschaften aufrief und sowohl von dem Oppositionsdachverband als auch den Oppositionsparteien unterstützt wurde.

Allgegenwärtige Wirtschaft

So wie die wirtschaftlichen Probleme die Alltagssorgen der ArgentinierInnen dominieren, beherrschten wirtschaftliche Interessen den Kanzler-Aufenthalt. Und zwar auch dann, wenn der öffentliche Auftritt gar nicht im Zeichen der Wirtschaft stand. So geschehen beim Empfang der deutsch-argentinischen Gemeinschaft in der 1897 gegründeten Goethe-Schule. In der mit etwa 2000 Gästen überfüllten Turnhalle genoß Kohl ein Bad in der Menge. In Deutschland wäre ein solches Unterfangen an jenem Wochenende – nachdem die Kanzlermehrheit das Kürzungspaket im Bundestag endgültig verabschiedet hatte – wohl nicht sehr ratsam gewesen. Doch hier, in geschlossener Gesellschaft, etwa 30 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt in einem wohlhabenden Wohnbezirk und abgeschottet von jeglichen sozialen Spannungen, war dieses gefahrlos möglich. Seine zum Ärger mancher Presseleute nicht ins Spanisch übersetzte Rede stand im Zeichen des deutsch-argentinischen Kulturaustausches, an dem die deutschen Schulen einen großen Anteil hatten. Ganz in seinem Sinne wurde die deutsch-argentische Freundschaft kulinarisch besiegelt. Dabei war es sicher kein Zufall, daß er sich zum Abschluß medienwirksam mit einem Becher Warsteiner erfrischte, hat doch Warsteiner kürzlich in ihre argentinische Tochtergesellschaft Isenbeck 80 Millionen Dollar investiert. Diese avancierte so zu einer der größten Brauereien des Landes. Die Rückfahrt erfolgte in einem von Mercedes Benz an die argentinische Regierung gestifteten Bus. Es war zwar kein Sprinter, aber der gute Stern auf allen Wegen war dabei nicht zu übersehen.
Claudia Martínez/Martin Spahr

Zweite Station: Kohl in Brasilien

Dreißig Stunden Staatsbesuch sind nicht viel Zeit, aber es reicht allemal, um sich ein wenig als Regenwaldbewahrer ins Rampenlicht zu rücken. Deutschland ist in dieser Disziplin nämlich führend unter den G-7-Nationen, wie die Brasilianer im September aus berufenem Munde erfuhren: “Alle reden, während wir zahlen”, brüstete sich Helmut Kohl bei einem Frühstück mit Industrievertretern in Brasilia. Gemeint hat er damit unter anderem die 187 Millionen US-Dollar, die Deutschland für ein kürzlich bewilligtes EU-Pilotprojekt in Amazonien ausgeben will. Mit dem Geld sollen nachhaltige Entwicklungsmodelle im größten Regenwaldgebiet der Erde finanziert werden. Brasilien probt derweil den schlanken Staat. Nachdem im Juni eine Studie ergab, daß der Regenwald im Moment schneller abgeholzt wird als noch zur Zeit des Erdgipfels in Rio 1992, wurde als Gegenmaßnahme das Abholzen einiger Edelholzarten verboten – eine überaus schlanke und kostengünstige Maßnahme. Dabei sollten die Beamten in Brasilia doch wissen, daß in Amazonien das Gesetz nicht viel wert ist. Immerhin mußte die Sicherheit der Gemeindewahlen Mitte Oktober dort mit Hilfe der Bundesarmee sichergestellt werden, weil sonst Großgrundbesitzer und kleine Industrielle mit bewaffneten Milizen für einen genehmen Wahlausgang sorgen. Die Soldaten ziehen nach dem Urnengang wieder ab, und mit ihnen vermutlich die staatliche Indianerstiftung FUNAI (Fundacao Nacional do Indígena), die im Zuge der Verminderung des Staatsdefizits aufgelöst werden soll. Ihre Aufgabe war es bislang, die Indianer vor der Gier der Goldsucher und Holzfäller und vor dem nackten Überlebenswillen von landlosen Siedlern zu schützen. Man braucht gar nicht darauf zu warten, daß das EU-Pilotprojekt in dieser Hinsicht etwas bewirkt.
Aber sicherlich hat Helmut Kohl recht, wenn er sagt, daß es Industriestaaten gibt, die weniger für Umweltschutz in Brasilien bezahlen als Deutschland. Brasilien selbst zum Beispiel, das in weiten Teilen ein Industriestaat ist und im Moment andere Probleme als den Raubbau im Dschungel meistern muß. Einige sind ganz ähnlich gelagert wie bei uns: Brasilien wie Deutschland wollen unbedingt einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, ein hohes außenpolitisches Ziel, für das sich die Diplomaten Staatsbesuch um Staatsbesuch gegenseitige Unterstützung zusichern. Das brasilianische Staatsdefizit (3,72 Prozent des BIP) ist wie das deutsche zu hoch, und hier wie dort will die notwendige Reform des Sozialversicherungssystems nicht so recht gelingen. Wenn Brasiliens Staatsoberhaupt Fernando Henrique Cardoso in seiner Begrüßungsrede für Kohl dessen Erfolg bei der Reform des Renten- und Krankenversicherungssystems lobt, so nur, um seinem Kongreß ein wenig Beine zu machen. Denn für eine Reform des Staates braucht es jedesmal eine Verfassungsänderung, also eine Drei-fünftel-Mehrheit in beiden Kammern. Und diese Reformen sind nach Meinung von vielen WirtschaftsanalytikerInnen der einzige Weg, um Präsident Cardosos bislang erfolgreiche Antiinflationspolitik – die einer Regierungsstudie zufolge seit der Währungsreform im Juli 1994 die Zahl der Armen in den Ballungsgebieten um zwanzig Prozent vermindert hat – in einen nachhaltigen wirtschaftlichen Boom umzuwandeln. Ein wenig boomt es jetzt schon. 5 Prozent Wachstum für 1996 sind nicht umwerfend viel, auch wenn einige ganz zufrieden sein können: etwa der deutsche Elektrokonzern Siemens, der Telefonanlagen und Kraftwerkturbinen verkauft, und dessen Gewinn in Brasilien im Vergleich zum Vorjahr um satte 400 Prozent gestiegen ist. In den nächsten fünf Jahren, so weissagt die deutsch-brasilianische IHK, werden jährlich Direktinvestitionen in der Höhe von einer Milliarde US-Dollar nach Brasilien fließen. Ganz vorne mit dabei: die Automobilhersteller Volkswagen und Mercedes, die in Europa keine wachsenden Märkte mehr sehen und den Anschluß an den Mercosur nicht verpassen wollen. Brasilien wird in Zukunft das einzige Land außer Deutschland sein, in dem Mercedes die legendären Luxusautos mit dem Stern anfertigen läßt. “Die Qualität der Produktion”, so ein Sprecher von Mercedes Benz do Brasil selbstbewußt, “ist in Brasilien so gut wie in Deutschland.” Den Reichen, die sich auch im Mercosur angemessen fortbewegen möchten, bietet Brasilien noch zwei weitere Chancen für deutsches Geld: eine Reihe von Staatsunternehmen stehen zur Privatisierung an, aus so lukrativen Sektoren wie Rohstoffabbau, Telekommunikation und Häfen. Und schließlich ist da noch die “Industrie der Zukunft”, wie Helmut Kohl betonte: Umweltschutz-Technik aus Deutschland, nicht im Regenwald, sondern dort, wo die Industrialisierung bereits mit Wucht zugeschlagen hat. Gewinn für Deutschland verspicht nicht der Regenwald, sondern die riesigen Müllhalden der Großstädte und die ungeklärten Abwässer der Industrie.
Martin Virtel

Lateinamerika-Konzept der Bundesregierung

Das Bundeskabinett beschloß am 17. Mai 95 das Lateinamerika-Konzept. Dieser Maßnahmenkatalog, der nicht nur das Engagement der deutschen Wirtschaft in Lateinamerika, sondern auch die technische und politische Zusammenarbeit fördern soll, wurde vom Auswärtigen Amt, dem Wirtschaftsministerium und dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit gemeinsam mit dem Bund der Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen Industrie- und Handelstag (DIHT) und dem Ibero-Amerika-Verein (IAV) erarbeitet. Diese Art der Zusammenarbeit zwischen Bundesregierung und Industrie ist nicht neu: Eine ähnliche Initiative war schon 1993 ins Leben gerufen worden, als die Asien-Strategie in Zusammenarbeit mit dem Asien-Pazifik-Ausschuß der deutschen Wirtschaft entstand. Im Gegensatz zu Asien kann im Fall Lateinamerika auf eine jahrzehntelange Präsenz aufgebaut werden.
Als Anlaß für die konzertierte Aktion wird ein Brief der deutschen Wirtschaftsverbände an Kanzler Kohl gesehen, in dem davor gewarnt wurde, daß die Deutschen den wirtschaftlichen Anschluß in Lateinamerika verpassen würden. Dabei sei das verlorene Jahrzehnt in Lateinamerika doch vorbei und der Subkontinent auf dem besten Wege zu einer politisch und ökonomisch stabilen, wachstumstarken Region. Obwohl es noch Nachholbedarf bei der sozialen Lage und der Menschenrechtssituation der indianischen Völker gebe, seien Fortschritte im Demokratisierungsprozeß, beim Aufbau von rechtstaatlichen Systemen und der Wahrung der Menschenrechte zu verzeichnen. Zusätzlich bemühten sich die Regierungen der jungen Demokratien – mit freundlicher und tatkräftiger Unterstützung der Wirtschaftsexperten des Internationalen Währungsfonds (IWF) – wirtschaftspolitische Veränderungen in Richtung Marktwirtschaft nach neoliberalem Vorbild durchzuziehen: Stabilisierungsmaßnahmen zur Bekämpfung der Inflation, Deregulierung der Märkte, Liberalisierung der Handel- und Kapitalströme. Zudem werden durch die Privatisierung der maroden Staatsbetriebe Anstrengungen unternommen, die Staatshaushalte zu konsolideren. Klare Zeichen dafür, daß die Reformen ernst gemeint sind und die jahrzehntelange Binnenorientierung vorbei ist. Hinzu kommt der offene Integrationsprozeß (NAFTA, Mercosur, Andenpakt), der zu einer Ausweitung des intraregionalen Handels geführt und damit einen Beitrag zum Erfolg der Wirtschaftsentwicklung geleistet hat.
Die deutsche Wirtschaft hat diesen Prozeß beobachtet, ohne sich aber stark an ihm zu engagieren: an den Privatisierungen waren überwiegend die Nordamerikaner, Franzosen, Spanier und Italiener beteiligt. Marktanteile gegenüber den Japanern, dessen Engagement in Lateinamerika schon vor einigen Jahren stieg, ging verloren. Zwar leisteten im Jahr 1995 die deutschen Tochtergesellschaften in Brasilien und Mexiko fast 15 Prozent der nationalen Industrieproduktion, die Exporte in die Region sind aber nur unterproportional gegenüber den Exporten in Richtung Süd-Ost-Asien und Osteuropa gewachsen. Die deutsche Wirtschaft befürchtet nun, daß durch den Wandel neue Wirtschaftsbeziehungen entstehen, die mittel- und langfristig auf Kosten der deutschen Lieferanten gehen. Um diesem Trend entgegenzuwirken soll nun Vater Staat der deutschen exportorientierten Wirtschaft unter die Arme greifen. Kräfte sollen gebündelt werden und politischen Rückhalt für die Rückgewinnung verlorenen Terrains erhalten: Durch Regionalkonferenzen mit Beteiligung deutscher Regierungsvertreter, Entsendung von Wirtschaftsdelegationen und einer aktiven Messepolitik sollen den Latinos die Produkte “Made in Germany” wieder schmackhaft gemacht werden. Gute Chancen werden in den Bereichen der Umwelt- und Verkehrstechnologie, Kraftwerkbau, Stromverteilung und Telekommunikation gesehen. Besondere Unterstützung bei der Vermarktung ihrer Produkte soll der deutsche Mittelstand erfahren, dessen Angst vor wirtschaftspolitischen Rückschlägen noch nicht ganz genommen werden konnte. Er soll in besonderem Maß durch einen verbesserten Informationsservice über potentielle Wirtschaftpartner von dem engen Netz bilateraler Handelskammern profitieren.

Mogelpackung Lateinamerika-Konzept

Die vorangigen Bemühungen der Bundesregierung beschränken sich derweil aber nur auf die Erweiterung bestehender, beziehungsweise der Erschließung neuer Märkte auf dem Subkontinent, der 450 Millionen Menschen beherbergt und ein Bruttosozialprodukt von über 1 Billion Dollar aufweist: Ein riesiger Absatzmarkt, der nicht allein den anderen Industrienationen überlassen werden soll. Laut Angaben der Vereinten Nationen sind aber vierzig Prozent der Bevölkerung an dem jetzigen wirtschaftlichen Aufschwung nicht beteiligt. In einem Interview mit der argentinischen Tageszeitung La Nación anläßlich der Konferenz in Buenos Aires im Juni 1995 bekannte Rexrodt Farbe: im Mittelpunkt der Analyse seien die ökonomischen Aspekte. Damit werden andere wie politische Kooperation, Entwicklungshilfe und Umweltschutz mal wieder diesem Ziel untergeordnet. Bei der Lektüre des dritten Kapitels des Lateinamerika-Konzeptes über Entwicklung und Umwelt stechen hochgesteckte Ziele hervor, die zur Zeit anscheinend in Vergessenheit geraten sind: die Länder Lateinamerikas sollen “auf ihrem Weg zu einer friedlichen und nachhaltigen Entwicklung” unterstützt werden. Dieses sei nur in einem “entwicklungsfördernden Umfeld”, mit einer marktwirtschaftlichen und sozialen Wirtschaftsordnung in ökologischer Verantwortung möglich. Entwicklungsorientiertes staatliches Handeln, die Achtung der Menschenrechte, die Beteiligung der Bevölkerung am politischen Entscheidungsprozeß und Rechtssicherheit müsse ebenfalls gewährleistet werden. Schwerpunkte seien dabei unter anderem die Bekämpfung der Armut und die Entwicklung des Ressourcen- und Umweltschutzes. Wenngleich Kohl während seiner Reise auch immer wieder auf die sozialen Aspekte hinwies, die im Wachstumsprozeß nicht außer acht gelassen werden dürften, war sein Schwerpunkt ein anderer. Er lobte die mutigen Stabilisierungs- und Anpassungsprogramme. Die hohen sozialen Kosten blieben nachgeordnet, die weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich ebenso. Die tendenziell kapitalintensiven deutschen Investitionen, insbesondere aus der Autobranche, haben relativ geringe Beschäftigungseffekte. Der Beitrag zur Verbesserung der Beschäftigungssituation und damit der soziale Situation bleibt schwach. Somit verkommt das Lateinamerika-Konzept zu einem simplen Exportförderungspaket.
Martin Spahr

Dritte Station: Mexiko

Mariachi-Musik, jede Menge wohlklingender Reden und begeisternd kreischende Schulkinder – vom Kanzler Besuch in Mexiko bleibt vor allem Stimmung. Ansonsten fällt die Bilanz von insgesamt 10 öffentlichen Kohl-Auftritten in nur zwei Tagen mager aus: konkret vereinbart wurde nichts. Der Bundeskanzler versicherte seinen Gastgebern, daß die deutsche Fixierung auf die Einheit nun vorbei sei. Die Bundesregierung werde nun auch in Richtung Lateinamerika wieder aktiver – mit Mexiko als einem Schwerpunktland. Mexikos Präsident Ernesto Zedillo empfing den Kanzler als den Architekten der deutschen Vereinigung und größten Europäer. Er lobte die Rolle der deutschen Investoren, die 1995 mehr Geld in Mexikos Wirtschaft pumpten (eine Milliarde DM) als in jedes andere Schwellenland der Welt. In so gut wie allen Nachrichtensendungen des nationalen Fernsehens war die Kohl-Visite der Aufmacher. Die völlig überfüllte Pressekonferenz des Kanzlers wurde in einem Kanal sogar live übertragen. Dem deutschen Regierungschef, schon 14 Jahre an der Macht, schlug offene Bewunderung entgegen. Viele Mexikaner sahen den mächtigen Mann, der ihren eigenen Präsidenten um mehr als Haupteslange überragte, als Repräsentanten von Europas größter Wirtschaftsmacht und als eine Möglichkeit, sich von der erdrückenden Abhängigkeit von den USA zu befreien. Mexiko drängt seit langem schon auf ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union (EU) und hofft dabei auf deutsche Unterstützung. Diese hatte Außenminister Kinkel bei seinem Besuch im April auch zugesagt, sich jedoch anschließend bei der Agrarlobby in Brüssel eine blutige Nase geholt. So gab es denn die absehbare herbe Enttäuschung. “Wir verhandeln nicht mehr über ein Freihandelsabkommen”, hieß es während der Kanzler-Visite von deutscher Seite. Für die nun im Oktober beginnenden Verhandlungen zwischen EU und Mexiko wurde hastig ein neuer Begriff erfunden: Progressive Handelsliberalisierung. Im Klartext: Die Zölle sollen runter, aber nur für Waren, die keinem weh tun. Heikle Produktgruppen wie mexikanischer Honig, Bananen oder gerösteter Kaffee werden ausgeklammert und weiterhin an den Zollhürden der EU scheitern. Dennoch versicherte der Kanzler: “Wir wollen ein europäisches Haus errichten, keine Festung.”
Ein weiterer Mißerfolg: wie zuvor schon Klaus Kinkel konnte auch Helmut Kohl das lange schon avisierte Investionsschutzabkommen nicht mit nach Hause bringen. Denn Bonn beharrt auf der Änderung einer Enteignungsklausel in der mexikanischen Verfassung und damit ist vor den Parlamentswahlen nächstes Jahr nicht zu rechnen.
Kohls erster Mexiko-Besuch seit dem Endspiel um die Fußball-Weltmeisterschaft 1986 blieb im wesentlichen eine Werbetour für die Lateinamerika-Initiative der Bundesregierung und ihre Beteuerungen, zukünftig nicht mehr nur nach Osteuropa und Asien zu schielen, wenn es um wirtschaftliche Wachstrumsregionen geht. Die Chemie bei diesem Besuch jedoch stimmte. Bei der Grundsteinlegung für den Neubau der deutschen Schule in Puebla bereiteten hunderte Jungs und Mädels dem Kanzler einen euphorischen Empfang, führten folkloristische Tänze auf und sangen auf deutsch das Lied: Die Gedanken sind frei. Und Präsident Zedillo, ein ernster Mann, nahm sich ungewöhnlich viel Zeit für seinen Gast, traf sich insgesamt dreimal mit ihm. Im Volkswagen-Werk in Puebla zwängte er sich schließlich sogar gemeinsam mit ihm in einen handgearbeiteten Prototypen des Käfer-Nachfolgers New Beetle hinein. VW (mit 12 000 Beschäftigten größter deutscher Arbeitgeber in Mexiko) und Zulieferer wollen sich den Aufbau dieser Produktion insgesamt rund 1,5 Millarden DM kosten lassen. Das neue Auto soll nur in Mexiko gebaut und von hier aus in die ganze Welt exportiert werden. Bundeskanzler Kohl bezeichnete Mexikos Präsidenten bei einer Tischrede als ungewöhnlich offen und sympathisch, äußerte Bewunderung für die von ihm eingeschlagene Politik in den ersten 20 Monaten seiner Amtszeit. Zedillo hat Mexikos Wirtschaft in der schwersten Krisensituation seit über 60 Jahren übernommen und fährt seither einen harten Anpassungskurs mit hohen sozialen Kosten. Tags darauf, beim Frühstück mit deutschen und mexikanischen Unternehmern, mahnte Kohl, mehr auf den inneren Frieden im Lande zu achten. Der Abstand zwischen Arm und Reich im Land der Azteken ist so groß wie fast nirgendwo sonst. In der Forbes-Weltrangliste der US-Dollar-Milliardäre steht Mexiko auf Platz 5 – gleichzeitig aber leben hier 50 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze.
Luten Peer Leinhos

Joint Implementation

Auch wenn das Vertragswerk eine müh­sam ausgehandelte Kompromißlösung darstellt, so hat sich die internationale Staatengemeinschaft dennoch auf einen anspruchsvollen Pflichtenkatalog geeinigt:
* Die Vertragsstaaten ver­pflichten sich, die Klimagase, allen voran Kohlendioxid, auf einem Niveau zu stabi­lisieren, das einen gefährlichen, men­schenverursachten Eingriff in das Klima­system verhindert.
* Die bereits unabwendbare Erhöhung der globalen Durchschnittstem­peratur darf nur in einem Umfang erfol­gen, in dem die Ökosysteme und die glo­bale Ernährungssituation nicht gefährdet werden.
* Die Industrieländer als Hauptverursacher des Treibhausproblems verpflichten sich, beim Kampf gegen den Treibhauseffekt die Führung zu überneh­men.
* Die Industrieländer müs­sen auf jährlich stattfindenden Konferen­zen über ihre Erfolge beim Klimaschutz Bericht erstatten.
* Die OECD-Staaten stellen den Entwicklungsländern zusätzlich zur bisherigen Entwicklungshilfe Finanzmittel und Technologien zur Reduktion von Treibhausgasen und zur Anpassung an die möglichen Folgen der Klimaveränderun­gen bereit.
Das Vertragswerk von Rio legt jedoch weder konkrete Reduktionsschritte fest – sie sollen in späteren Zusatzprotokollen verabschiedet werden – noch gibt die Konvention eine Antwort auf die heikelste Frage im globalen Klimaschutz: wie näm­lich die nötigen Klimagas-Reduktionen international aufgeteilt und durch welche Maßnahmen sie erreicht werden sollen.
Eine Möglichkeit, das dringend notwen­dige Zusatz-Protokoll zu verabschieden, bietet sich auf der ersten Vertragsstaaten­konferenz zur Klimakonvention, dem Klimagipfel 1995 in Berlin. Bei den inter­nationalen Vorverhandlungen in Genf zeichnet sich bereits ab, daß man auf dem Berliner Gipfel noch keine konkreten Re­duktionsverpflichtungen festschreiben wird. Stattdessen schiebt sich die Diskus­sion um ein einzelnes umweltpolitisches Instrument immer weiter in den Vorder­grund: Auf dem Gipfel in Berlin sollen Kriterien für die Durchführung von Joint Implementation beschlossen werden.
Hinter dem Konzept steht ein ökonomi­sches Kalkül: Da Treibhausgase unabhän­gig von ihrem Emissionsort, also nicht re­gional, sondern global wirken, ist es gleichgültig, an welchem Ort die Treib­hausgas-Reduktionen durchgeführt wer­den. Deshalb kann, zumindest aus techni­scher Sicht, mit den billigsten Redukti­onsmöglichkeiten begonnen werden, egal, wo diese sich befinden.
Die Befürworter von Joint Implementation gehen davon aus, das Treibhausgas-Re­duktionen in den Entwicklungsländern oder den Transformationsstaaten Osteuro­pas zu geringeren Kosten möglich sind, als in den westlichen Industrieländern. Als Beispiel nennen sie die niedrigeren Wär­menutzungsgrade von Kraftwerken in Entwicklungs- und Transformationslän­dern im Vergleich zu entsprechenden Anlagen in Industrieländern. So schätzt der Bundesverband der Deutschen Indu­strie die Vermeidungskosten einer Tonne CO2 in einem deutschen Kohlekraftwerk auf 1000 DM, in einem chinesischen Kraftwerk hingegen auf 200 – 400 DM. Da der Nutzen der Emissionsreduktionen global ist und die für Umweltschutz zur Verfügung stehenden Mittel begrenzt sind, sei es ökonomisch rational, sie dort durchzuführen, wo sie am billigsten sind. Zusätzlich erhielten die Entwicklungslän­der auf diese Weise Zugang zu Kapital und Technologie.
Noch handelt es sich hierbei um umwelt­politische Sandkastenspiele, die bislang vor allem von der einschlägigen Fachöf­fentlichkeit beobachtet werden. Doch schnell könnte aus einem umweltökono­mischen Zauberstückchen international und in großem Umfang Realität werden. Sollte beispielsweise die Europäische Union ihre seit langem geplante Ener­gie/CO2-Steuer einführen, so steht die In­dustrie bereits in den Startlöchern, um ihre Steuerschuld mit CO2-Reduktionen in osteuropäischen Ländern und Entwick­lungsstaaten verrechnen zu lassen.
Als erste Versuchsballons wurden breits Joint Implementation-Projekte zwischen niederländischen und US-amerikanischen Kraftwerksbetreibern auf der einen Seite und malayischen Holzproduzenten auf der anderen aufgenommen. Für die Auf­forstung beziehungsweise für den “schonenden Holzeinschlag” (reduced im­pact logging) erhalten die ausländischen Kraftwerksbetreiber eine CO2-Gutschrift. Die Holzproduzenten bekommen für den Umwelt-Deal bare Münze augezahlt.
Weitere JI-Projekte in Vorbereitung sind die Einführung energiesparender Lampen in Mexiko, Wiederaufforstung in der Re­publik Tschechien und die Reperatur un­dichter Gaspipelines in Rußland.
Entwicklungsländer und umwelt- und entwicklungspolitische NRO hingegen formulieren scharfe Kritik am Konzept der Joint Implementation. Sie sehen darin ein ungeeignetes und zudem schädliches In­strument zur Bekämpfung des Treibhaus­effektes: Joint Implementation sei ein “Ablaßhandel” für den verschwenderi­schen Lebensstil des Nordens. Während der Klimaschutz im industrialisierten Norden weiterhin auf der Stelle tritt, müßten die Länder des Südens bei der Reduktion von Treibhausgasen schon einmal vorangehen.
Sie befürchten, daß sich durch Joint Im­plementation der Innovationsdruck im Norden verringert, und dadurch die Ent­stehung treibhausgas-armer Lebenstile und Technologien erhindert wird. Bei der Anrechenbarkeit auf die CO2/Energiesteuer verringert Joint Im­plementation zudem die erwünschte Len­kungswirkung der Steuer und zögert den notwendigen Strukturwandel in den Indu­strieländern hinaus.
Ein großes Problem beim Einsatz von Joint Implementation stellt die Möglich­keit von “Scheinreduktionen” dar. Es müßte die hypothetische Frage beantwor­tet werden, welche Emissionen sich in Abwesenheit des vorgeschlagenen Pro­jektes einstellen wurden, bzw. eingestellt hatten. Ein Joint Implementation-Investor könnte beispielsweise ein Projekt mit ei­nem jährlichen CO2-Ausstoß von 10 Mio. Tonnen durchführen und argumentieren, ohne seine Kooperation wäre ein Projekt mit einem Ausstoß von 11 Mio. Tonnen entstanden. Die Differenz von 1 Mio. Tonnen konnte er dann auf sein eigenes Reduktionskonto gutschreiben, obwohl es tatsächlich zu einer Nettoerhöhung der globalen CO2-Emissionen gekommen ist. Das Problem wird darüber hinaus dadurch verschärft, daß sowohl der Investor als auch das Gastland ein Interesse daran ha­ben, von einem möglichst hohen Emissi­onsszenario auszugehen: je drastischer das Emissionsszenario, desto umfassender die Ausgleichszahlungen und Investitionen für das Gastland und desto höher die Emissionsgutschrift für den Investor. So könnten schlimmstenfalls als Konsequenz zusätzliche Treibhausgas-Emissionen ent­stehen.
Die notwendigen hohen Verhandlungs- und Kontrollkosten führen dazu, daß Joint Implementation-Projekte von großem Um­fang sein müssen, um für den Investor rentabel zu bleiben. Der Hang zu Großprojekten hat sich bereits in den In­dustrieländern als ökologisch nicht tragfä­hig erwiesen. Dezentrale Formen der En­ergieversorgung wie Kraftwärmekopp­lung, Solarenergie oder Biomasse hätten dann auch in den Entwicklungsländern keine Chance, während emissionsinten­sive Großkraftwerke im Rahmen von Joint Implementation möglich blieben.
Doch selbst die Hoffnung auf Technolo­gietransfer durch Joint Implementation kann sich als trügerisch herausstellen. Wenn Aufforstungsprojekte wie in Malay­sia tatsächlich als Joint Implementation zugelassen werden, könnten Entwick­lungsländer aus dem Handel keinerlei technologischen Nutzen ziehen. NROs aus Entwicklungsländern wehren sich deshalb heftig gegen Wälder als CO2-Speicher des industrialisierten Nordens und greifen die Idee als Ausdruck von “carbon colonia­lism” an.
Noch ist sich die Gruppe der Entwick­lungsländer weitgehend einig in ihrer Ablehnung von Joint Implementation. Mit dem Versprechen von zukünftigen Finanz- und Technologietransfers können die In­dustrieländer jedoch einen mächtigen He­bel ansetzen. In den Vorverhandlungen für den Klimagipfel Berlin’ 95 zeichnet sich ab, daß die Industrieländer sich mit einer Pilotphase für Joint Implementation wer­den durchsetzen können.

Debatten jenseits der Wirklichkeit

Pragmatische Frauenlobby
Drei Wochen lang tagten auf der letzten Vorbereitungskonferenz für Kairo (Prepcom) Regierungsdelegationen und insgesamt 1200 VertreterInnen von ge­ladenen NGOs in New York. Sie korri­gierten an einem rund 100-seitigen Papier herum, dem sogenannten “Weltaktions­plan”, der nicht weniger als eine Richtlinie für die nächsten 20 Jahre internationaler Bevölkerungspolitik dar­stellen soll. Er wird in Kairo zur Unter­zeichnung vor­liegen.
Anfangs wurde auf der Konferenz daran gearbeitet, den Spagat zwischen weiterhin formulierten demographischen Zielset­zungen und der allgemein bezeugten Ab­leh­nung von Zwangsmaßnahmen gegen Frauen zu kaschieren. Die Kritik von Frauen­gesundheitsorganisationen an der Pra­xis von Familienplanungsprogrammen hat inzwischen Eingang in die Diskurse bevölkerungspolitischer Institutionen und Regierungen gefunden. Freiwilligkeit, Wahl­freiheit der Verhütungsmethoden, Beachtung der sozialen und kulturellen Hintergründe und die Achtung der repro­duktiven Gesundheit von Frauen sind all­gemeinbenutzte Floskeln. Den Vertrete­rinnen von Frauenorganisa­tionen, die einen Großteil der NGO-Dele­gierten aus­machten, gelang es in profes­sioneller Lobbyarbeit, weitere Formulie­rungen über ethische Normen und Quali­tät von Familienplanungsprogrammen im Akti­onsplan durchzusetzen. Damit ließen sie sich jedoch auf den ideologischen Rah­men des Planes ein: die Verknüpfung von Bevölke­rungswachstum als Ursachefaktor mit ver­schiedensten gesellschaftlichen Problemen wie Verarmung, Flucht und Umweltzer­störung. Die internationale Kontro­verse innerhalb der Frauenbewe­gungen, ob Bevölkerungspolitik an sich notwendig und feministisch reformierbar ist oder als Herrschaftsstrategie und bio­logistische Ideologie grundsätzlich be­kämpft werden muß, wurde unter den Tisch gekehrt. Und dies, obwohl demo­graphische Zielsetzun­gen weiterhin Teil des Aktionsplanes sind.
Der offizielle Machbarkeitswahn sieht keine Widersprüche zwischen Freiwillig­keit der Geburtenkontrolle und demogra­phischen Zielen. Die Weltbevölkerung soll ohne Zwangsmaßnahmen bis zum Jahr 2015 auf 7,3 Milliarden Menschen “stabilisiert” werden. Familienplanungs­programme sollen lediglich die statistisch genau ermittelte Anzahl von Frauen errei­chen, die an einem “ungedeckten Bedarf” an Verhütungsangeboten leiden. Wie dies geschehen soll, drücken die bevölke­rungspolitischen Planer auch hauptpsäch­lich in Zahlen aus. Bis zum Jahr 2000 soll der Etat für bevölkerungspolitische Pro­gramme international auf insgesamt 13 Milliarden US-Dollar steigen. Dazu wer­den die Re­gierungsbudgets für Familien­planung offi­ziell von 1,4 auf 4 Prozent der Entwick­lungshilfegelder erweitert, also zu Lasten anderer entwicklungspolitischer Etats. Die von der pragmatischen Frauen­position unterstützte Strategie, sozialpoli­tische Progamme zur Voraussetzung von mehr Entscheidungsmöglichkeiten für Frauen zu erklären, erweist sich damit als Farce.
Massive päpstliche Intervention verdeckt Konflikte
Erfolg oder Vereinnahmung: So oder so wurden die Korrekturen der Frauenlobby durch die Intervention des Vatikans im zweiten Teil der Konferenz wieder zu­nichte gemacht. Der durch das Konsens­prinzip und als Vollmitglied mit Macht ausgestattete “Heilige Stuhl” erreichte es mit Unterstützung der Delegationen aus Nicaragua, Honduras, Guatemala, Malta und Kroatien, daß die wichtigsten Formu­lierungen zu reproduktiver Gesundheit wieder in Klammern gesetzt wurden und damit in Kairo neu verhandelt werden müssen. Die päpstliche Lobby stellte nicht nur den Zugang zu sicheren Abtreibungs­möglichkeiten und zu “künstlichen” Ver­hütungsmitteln in Frage. Auch die Passa­gen über ein Individualrecht an Geburten­kontrolle, die dem traditionellen katholi­schen Familienbild widersprechen, waren Angriffspunkte. Diese Polarisierungsstra­tegie des Papstes, der inzwischen in der argentinischen Regierung einen weiteren Bündnispartner gefunden hat, führt dazu, daß nicht nur die Widersprüche innerhalb der Frauenbewegungen, sondern auch zwischen bevölkerungspolitischen Institu­tionen und Frauenbewegung öffentlich unsichtbar werden. Damit verringert sich auch der politische Spielraum der Frau­enlobby weiter.
Kanther-Bericht verärgert NGOs
Unter diesen Bedingungen bemüht sich die Bundesregierung noch nachträglich, ihre dem Bundesinnenministerium unter­stehende Nationale Kommission durch eine Frauenrepräsentantin aus dem Deut­schen Frauenrat aufzupeppen und warb Mitte Juni auf einem NGO-Hearing um dessen Teilnahme. Die deutsche Regie­rungsdelegation wird international beson­ders beobachtet, weil sie wegen der deut­schen EU-Präsidentschaft als Sprecherin des europäischen Blocks auf der Welt­bevölkerungskonferenz auftreten wird. Sie besteht bisher als eine der wenigen Dele­gationen ausschließlich aus Männern: Vertreten sind Bundes- und Ländermini­sterien, die Kirche, das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung sowie verschie­dene etablierte NGOs, unter anderem die 1991 von Unternehmern gegründete Deut­sche Stiftung Weltbevölkerung (DSW).
Aber selbst in dieser Herrenrunde gelang es der Kanther-Behörde nicht, ihren bei der Prepcom vorgelegten Regierungs­bericht als Dokument der “Zivilgesell­schaft” darzustellen. Die DSW sah den Bericht anscheinend als kon­traproduktiv für ihr liberales Image an. Sie kritisierte, daß er Deutschland nicht zum Einwande­rungsland erkläre und verwei­gerte die Zu­stimmung. Die DSW hat es innerhalb kürzester Zeit mit Fernsehauf­tritten, Hochglanzbroschüren und renom­mierten Mit­gliedern aus ARD, GTZ und der Be­völkerungswissenschaft erreicht, als Re­präsentantin einer seriösen um das “Weltbevölkerungsproblem” besorgten Öffentlichkeit zu gelten.
Der Regierungsbericht bedient die apo­kalyptischen Visionen von uns überflu­tenden Menschenmassen, wie sie seit ei­niger Zeit in Medien wie SÜDDEUT­SCHE, SPIEGEL oder ZEIT zum Thema Bevölkerungswachstum verbreitet wer­den. So lobt der Bericht das neue Asyl­recht und die Ausländergesetzgebung als geeignete Mittel, dem “Wanderungsdruck auf Westeuropa” entgegenzuwirken: “Die angestrebte Integration (von Ausländern) ist aber nur möglich, wenn der weitere Zuzug aus den Staaten außerhalb der Eu­ropäischen Union begrenzt und gesteuert wird.” Dem in dem Bericht ausführlich beklagten “Bevölkerungsrückgang” und der “Alterung” der deutschen Bevölkerung könne deswegen nicht durch Einwande­rung entgegengewirkt werden. Unterstri­chen wird dies durch Anwendung des deutschen Lex Sanguinis in den beige­fügten demographischen Prognosen: Bis in das Jahr 2030 wird das Wachstum der Kategorie ausländische Bevölkerung ge­trennt von der Kategorie deutsche Bevöl­kerung hochgerechnet. Eine implizit durch diese Betrachtungen nahegelegte pronata­listische Politik für letztere will die Regie­rungskommission allerdings nicht dekla­rieren. Der Bericht sieht von einer “Zielvorstellung für die künftige Gebur­tenentwicklung” in der BRD ab. Famili­enpolitik habe eine eigenständige Bedeu­tung.
Anders sieht es dagegen bei Bevölke­rungspolitik im Rahmen internationaler Entwicklungspolitik aus. Die Ursachen des “Wanderungsdrucks” werden zwar als “komplex” beschrieben. Die angepriesene Lösung ist aber einfach die Bekämpfung der Ursache “Überbevölkerung” durch die Erhöhung des Etats des Bundesministe­riums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) für Familienplanungsprogramme. Das BMZ hat seit 1991 Bevölkerungs­politik zu einem Schwerpunkt internatio­naler Entwicklungshilfe erklärt und die Gelder dafür von 74 Millionen DM 1990 auf 160 Millionen DM 1993 erhöht. Dar­über hinaus schlägt der Bericht für die Zukunft eine Art bevölkerungspolitische Konditionie­rung von Entwicklungspolitik, eine “Überprüfung von Projektansätzen auf eine mögliche Einbindung be­völ­ke­rungs­politisch wirksamer Maßnahmen” vor.
Liberaler Mainstream
Mit diesem zweiten, entwicklungspoliti­schen Teil des Regierungsberichts hat die liberale Öffentlichkeit keine Probleme. Die in den 70er Jahren noch in breiteren Kreisen umstrittene Verknüpfung von Be­völkerungswachstum und Um­weltzer­störung/Verarmung gilt heute als objek­tive Tatsache. Dabei gehen die in Öko­lo­gie und Entwicklungspolitik enga­gierten Lobbyisten nicht mehr so platt von Be­völ­ke­rungswachstum als alleiniger Ur­sache von Armut und Umweltzerstörung aus, son­dern präsentieren komplizierte Mo­del­le von Wechselwirkungen ver­schiedener sich gegenseitig beeinflussen­der Faktoren. Die Menschenzahl sei nur eine der zu re­du­zierenden Größen, auf die man sich aber gerade spezialisiert habe. Der Öko­Marshallplan etwa, der von Franz Alt zu­sammen mit vier Umweltpolitikern aus CDU, SPD, FDP und GRÜNEN im letz­ten Jahr proklamiert wurde, fordert von Ent­wicklungsländern eine Bekämp­fung der “Bevölkerungsexplosion” und stellt dies als gleichwertige Aufgabe zu einer Po­litik der CO-2-Reduzierung in den In­du­striestaaten dar. Menschen und Schad­stoffemissionen werden dabei zu kompa­ti­blen, als politische Verhand­lungsmasse einsetzbaren Größen.
Auch die von verschiedenen Entwick­lungshilfeagenturen (Brot für die Welt, Misereor, Terre des Hommes, GEPA, DED u.a.) getragene Kampagne “Eine Welt” hat sich dieses Jahr das “Welt­bevöl­kerungsproblem” auf ihre Fah­nen ge­schrieben. Dazu hat “Eine Welt” mit Sub­ventionen des BMZ preisgünstige Unter­richtsmaterialien in einer Auflage von 50.000 Exemplaren produziert. Die Titel­frage “Ein überbevölkerter Planet?” wird im Text folgendermaßen beantwortet (Sug­gestiv wird die Antwort schon auf dem Deckblatt nahegelegt. Ein Foto zeigt eine hinter einem Stacheldrahtzaun wartende Menge schwarzer Menschen): “Überbevölkerung ist auch im Zusam­menhang mit den ökologischen Zerstö­rungen nur ein Faktor der Erklärung, der allerdings vor allem lokal für die konkrete Umwelt in der Dritten Welt eine erhebli­che Bedeutung hat”. Auch hier wird Be­völkerung zur Variable für die Lösung von sich in Entwicklungsländern zuspit­zenden sozialen Problemen. Und auch ein weiterer Trend zeigt sich in dieser angeb­lich zum Fragen und Lernen anregenden Broschüre. Die realen Auswirkungen der bereits seit dem Zweiten Weltkrieg beste­henden Programme bevölkerungspoliti­scher Agenturen auf das Alltagsleben von Frauen werden ausgeblendet. An deren Stelle treten allgemeine Empfehlungsflos­keln: “Das ‘generative Verhalten’ der Menschen ist von einer Vielzahl sozialer und kultureller Faktoren abhängig; das bedeutet auch, daß Bevölkerungspolitik, die auf dieses Verhalten Einfluß nehmen will, die Vieldimensionalität dieses Be­reichs anerkennen muß”.
Wirklichkeit in die Debatte einbringen
Die Frauenorganisationen UBINIG aus Bangladesh und AWHCR von den Philip­pinen wollen solchen Plastiksätzen mit ei­nem Internationalen Hearing “Crimes Against Women Related to Population Policies” auf der Konferenz in Kairo ent­gegenwirken und damit “die Wirklichkeit von Frauen in die Debatten über Bevölke­rung und Entwicklung einbringen. Denn viele dieser Diskussionen sind ihres Kon­textes beraubt worden.”
In der BRD ist die BUKO-Pharmakampa­gne gegen die schon weit entwickelten Forschungen an einem Antischwanger­schaftsimpfstoff ein Beispiel der Kritik an den tatsächlichen Entwicklungen in den Methoden von Bevölkerungspolitik. Auch die Bundesregierung finanziert über die Weltgesundheitsorganisation die Ent­wicklung eines Impfstoffes, der darauf ausgerichtet ist, das Immunsystem von Frauen auf eine Abwehrreaktion gegen die als Epidemie konstruierte Schwanger­schaft umzupolen. Einziger Zweck eines solchen in seinen Konsequenzen für die Gesundheit von Frauen nicht abschätzba­ren Eingriffs in das Immunsystem kann nur sein, einen Schritt weiterzugehen in der Entwicklung möglichst massenhaft und billig einsetzbarer, der Kontrolle und Motivation von Frauen entzogenen lang­fristig wirksamen Verhütungsmethoden.

Der Artikel speist sich im we­sent­lichen aus den in den blät­tern des iz3w Nr. 198 Juni/Juli (Schwer­punkt: Be­völ­kerungs­politik) er­schie­nenen Ar­ti­keln von Ingrid Schneider über die in­ter­na­tio­nale Vor­be­rei­tungs­kon­ferenz und von Ute Sprenger über die Vor­be­reitungen der Bundes­regierung (blät­ter Nr 196).
Die LN hatten in der Nummer 231/232 einen Schwer­punkt zum Thema Be­völ­kerungs­politik, in dem auch ein längerer Artikel von Susanne Schultz ab­ge­druckt ist. Die ge­naue Über­sicht ist im bei­ge­hef­teten In­dex zu finden.

Newsletter abonnieren