Besuch beim Zahnarzt

Es scheint merkwürdig, immer wenn Präsident Luis González Macchi außer Landes ist, kommt es zu einschneidenden Ereignissen, vielleicht auch gerade deshalb. Im Dezember ging es um den Ex-General Lino Oviedo. Dieser hatte nach den Ereignissen um die Ermordung des Vizepräsidenten Luis María Argaña und den nachfolgenden Protesten der Bevölkerung im Februar/März vergangenen Jahres (siehe LN 297/305) zusammen mit dem damaligen Präsidenten Cubas Grau fluchtartig das Land verlassen und bekam von seinen guten Bekannten Menem politisches Asyl in Argentinien. Oviedo wird die geistige Urheberschaft am Attentat auf den Vizepräsidenten nachgesagt. Außerdem wurde die umstrittene Begnadigung seiner zehnjährigen Haftstrafe für einen Putschversuch von 1996 wieder aufgehoben. Das monatelange Tauziehen um seine Auslieferung hatte zu einer diplomatischen Verschnupfung zwischen beiden Nachbarstaaten geführt. Ohnmächtig über die erfolglosen Auslieferungsversuche trat sogar der damalige Außenminister Paraguays zurück. Argentinien sah sich dann wenigstens doch noch genötigt, Oviedo ins Abseits zu schieben und seinen Exilort von Buenos Aires nach Feuerland zu verlegen. Selbst seinem Freund Menem war Oviedo politisch doch etwas zu aktiv gewesen. Bereits während des argentinischen Präsidentschaftswahlkampfes hatte der Kandidat de la Rua seine Auslieferung nach Paraguay im Falle eines Wahlsieges angekündigt. Dann erfolgte ein Szenarium wie in einem schlechten Agentenfilm.

Oviedo hat Zahnschmerzen

Oviedo bat die Regierung Menem seinen Zahnarzt in Buenos Aires besuchen zu dürfen, die Erlaubnis erhielt er auch promt, obwohl es auch in Feuerland nicht gerade wenige Zahnärzte gibt. In Buenos Aires entkam er seinen Bewachern wie es die zuständigen Behörden formulierten. Zuletzt wurde er auf dem Flughafen Don Torcuato gesehen. Über sein Reiseziel wurde viel spekuliert, Brasilien, Uruguay – seine Anhänger bevorzugten schon immer die Variante, dass er heimlich nach Paraguay zurückgekehrt sei und es sich im Departament San Pedro gemütlich gemacht habe. Dies bestätigte auch der Grundbesitzer Miguel Angel Zelada gegenüber der argentinischen Zeitschrift Clarín und gab an, dass Oviedo auf einer seiner Besitzungen lebe und auf Garantieerklärungen des Obersten Gerichtshofes warte. Die Ehefrau Oviedos stützte diese Version.

Oviedo meldet sich aus Paraguay

Von offizieller argentinischer Seite hieß es jedoch, Oviedo halte sich im argentinischen Corrientes auf, der genaue Aufenthaltsort sei aber nicht zu ermitteln. Schließlich meldete sich Oviedo selbst beim Sender CBS in Miami und erklärte, dass er sich in Paraguay aufhalte. Er werde der nächste Präsident Paraguays sein, weil die gegenwärtige Regierung nicht die Verfassung einhalte und keine Wahlen ausrufe, verkündete er weiter. Da Präsident González Macchi im Ausland weilte, kasernierte sein Vertreter vorsichtshalber die Streitkräfte, weil er einen Putschversuch der Oviedoanhänger befürchtete.

Unsicheres Militär

Die Positionen der Streitkräfte sind unklar. Während der Amtszeit von Cubas Grau, der nur als Strohmann von Oviedo galt, waren Anhänger Oviedos in alle Schlüsselpositionen gesetzt worden. Mit der Flucht der beiden ins Ausland, setzte eine erneute Säuberungswelle ein, wie schon nach dem Putschversuch von Oviedo 1996. Doch dies genügte dem Präsidenten González Macchi nicht. Mehrfach nahm er als Oberkommandierender der Streitkräfte Umstrukturierungen und Zwangsversetzungen in den Ruhestand vor. Doch nach wie vor wird vermutet, dass der charismatische Ex-General zahlreiche Sympathisanten unter den Streitkräften besitzt, die den Zeiten der Diktatur nachtrauern. Viele Militärs kommen noch nicht mit ihrer Rolle in einer Demokratie zurecht. Andererseits gab es auch Gerüchte um einen Putschversuch von jüngeren Militärs, die González Macchi absetzen wollen um Neuwahlen auszurufen.

Zweifelhafte Rechtsgrundlage der Regierung

Präsident González Macchi begründet sein Amt in der Tat auf einer umstrittenen Rechtsgrundlage. Mit der Ermordung des Vizepräsidenten und der Flucht des damaligen Präsidenten Cubas Grau nach Brasilien wurde laut Verfassung der Senatspräsident zum Staatsoberhaupt. Bis dahin ist die Verfassung klar. Es sollen zwar Neuwahlen erfolgen, unklar bleibt jedoch ob für alle Ämter oder nur für das des Vizepräsidenten oder ob gar der dann gewählte Vizepräsident als Staatsoberhaupt nachrücken soll. Über solch ungewöhnliche Konstellationen hatte die damalige Verfassungsgebende Versammlung nicht nachgedacht. González Macchi denkt jedoch nicht daran sein Amt vor Ablauf der regulären Amtszeit aufzugeben. Der Termin für die Wahl eines Vizepräsidenten wurde mehrfach verschoben. Diese soll nun am 13. August stattfinden.

Maß voll bei den Liberalen

Der Anspruch auf Legitimität der Regierung González Macchi hat sich mit dem Ausscheiden der Liberalen (Partido Liberal Radical Auténtico) aus der Regierung weiter verringert. Nach der Flucht von Oviedo und Cubas Grau hatte sich eine Regierung der Nationalen Einheit gebildet, der neben den eigentlich regierenden Colorados auch die beiden stärksten Oppositionsparteien, die Liberalen und der Partido Encuentro Nacional, angehörten. Die Liberalen waren bereits seit längerem unzufrieden mit dem Regierungsstil des Präsidenten. Ihre beiden Minister hatten wenig erreicht. Sie hatten selbst die Partei in zwei Flügel gespalten, die der Präsident fleißig gegeneinander ausspielte. Als der Präsident dann noch sein beim Amtsantritt gemachtes Versprechen, das Vizepräsidentenamt den Liberalen zu überlassen, zurückzog, war das Maß voll. Die Liberalen traten aus der Regierung aus.
Der sozialdemokratisch orientierte Encuentro Nacional hält noch an der Koalition fest, aber auch Parteigründer, Unternehmer und derzeitiger Industrieminister Caballero Vargas zeigt sich zunehmend enttäuscht von der Erfolglosigkeit und Schwäche der Regierung González Macchi.
Neuste Umfragen der paraguayischen Tageszeitung ABC-Color von Ende Februar zeigen, dass 51 Prozent der Bevölkerung mittlerweile den Präsidenten González Macchi als Usurpatoren ansehen und über 58 Prozent unzufrieden oder sehr unzufrieden mit seiner Art der Amtsführung sind. Mit einem gewählten Vizepräsidenten wird sein Rücktritt immer wahrscheinlicher.

Coloradopartei mit Stroessnernostalgie

In der Coloradopartei bestehen weiterhin die drei großen Fraktionen. Die oviedistas haben politisch überlebt und betreiben einen Psychokrieg gegen den derzeitigen Präsidenten. Ihre Erzfeinde sind die argañistas, benannt nach dem ermordeten Vizepräsidenten. Dessen Söhne führen jetzt die Fraktion an. Nelson Argaña als Verteidigungsminister und Félix Argaña als aussichtsreichster Kandidat auf das Vizepräsidentenamt (er führt bei parteiinternen Umfragen mit 33 Prozent vor Enrique Riera mit 27 Prozent) sind hier die Wortführer. Die Brüder Argaña waren es auch, die auf die Ergreifung von Oviedo ein Kopfgeld von 100.000 US-Dollar ausgesetzt haben. Die dritte Fraktion die wasmosistas, eine Fraktion des ehemaligen Präsidenten Juan Carlos Wasmosy, spielt derzeit keine herausragende Rolle mehr. Als beunruhigend wird vor allem angesehen, dass die argañistas offen Positionen wie zu Zeiten der Stroessnerdiktatur vertreten und Vetternwirtschaft, Korruption sowie den Schmuggel im Lande eher fördern als bekämpfen. Der 86-jährige Altdiktator Stroessner hat sich kürzlich im brasilianischen Exil in einem Interview selbst zu Wort gemeldet, zeigte sich sehr gut informiert über die Lage im Lande und kündigte seine baldige Rückkehr an, ohne freilich einen genauen Termin zu nennen. Ähnlich wie in Chile könnte dieses Thema auch in Paraguay nochmals zu einer großen politischen Zerreißprobe werden.

Wirtschaftliche Talfahrt ungebremst

Neben den politischen Problemen steht Paraguay wirtschaftlich am Rande des Ruins, alle Wirtschaftsdaten sind rückläufig, die Exporte sind allein im letzten Jahr um ein Drittel gesunken. Die letzten Arbeitslosenzahlen liegen zwischen 50 und 55 Prozent. Massive Landbesetzungen von landlosen Bauern stehen an der Tagesordnung, um deren nacktes Überleben zu sichern. Nach anfänglichen Repressalien lenkte die Regierung hier zumindest ein und nahm die gesetzlich vorgeschriebenen Enteignungen von ungenutztem Land vor. Aber bisher war alles nur ein bescheidenes Reagieren, Konzepte und Lösungsansätze fehlen völlig. Der IWF hat für Paraguay einen Krisenplan vorgelegt, die Härten für die Bevölkerung dürften damit noch eher zunehmen.

Zum Rendezvous mit Garzón

Es ist Frühling im Cono Sur. Und mit ihm sprießen auch einzelne Blüten der Zivilcourage, nachdem der spanische Richter Baltasar Garzón am 2. November Haftbefehl gegen 98 Verantwortliche der argentinischen Militärdiktatur erlassen hat. Zum Beispiel in einer Bar im argentinischen Rosario, Ecke Paraguay und Mendoza: Statt dem bestellten café cortado erhält José Rubén Lofiego, Nummer 66 der Angeklagten, die höfliche, aber bestimmte Aufforderung, das Lokal zu verlassen: „Mein Herr, ich denke, Sie sollten besser gehen. Erstens, weil sich die Kunden beschweren. Zweitens, weil auch ich finde, daß jemand wie Sie nicht ungestraft durch argentinische Straßen laufen darf.“ Eine schöne Geschichte. Doch herrscht wirklich Tauwetter in der Menschenrechtsfrage?

Drei lateinamerikanische Länder haben gewählt. In Guatemala ist einer der beiden wichtigsten Kandidaten selbst ein Mörder, und der andere trägt zumindest Mitverantwortung für deren Straflosigkeit. Und Argentiniens designierter Präsident Fernando de la Rúa hat auf Garzóns Haftbefehl nicht so reagiert, wie man es sich von einem erwartet, in dessen Reihen ehemalige Menschenrechtsaktivisten sitzen. Doch gibt es da nicht noch diesen kleinen Fleck auf der Landkarte, der nicht aufhört, dem Vergessen Widerstand zu leisten? Nach dem ersten Urnengang in Uruguay und zehn Jahre nach dem Mauerfall glaubt Eduardo Galeano die „winds of change“ in seinem Land zu spüren. Tatsächlich verlief die erste Runde dort vielversprechend und macht Lust auf mehr.

Doch sollte man keine voreiligen Schlüsse ziehen. Wenn sich nicht auf einmal ganz viele wie unser Kneipenwirt in Rosario finden, werden die Henker Lateinamerikas zunächst weiter frei herumlaufen und in jeder anderen Bar ihren Kaffee bekommen. In Argentinien liegt das unter anderem daran, daß die wichtigsten zwar amnestiert, aber formal bereits verurteilt sind. Was auch bedeutet, daß es hier eben nicht wie bei Pinochet darum geht, die Verantwortlichen öffentlich als Verbrecher hinzustellen. Garzóns Aktivitäten haben dennoch ihren Sinn. Erstens tragen sie dazu bei, daß insgesamt mehr Einzelheiten und damit auch Besonderheiten der lateinamerikanischen Diktaturen bekannt werden. Daß Antisemitismus ein wichtiges Merkmal der argentinischen Militärregierung war, wissen manche vielleicht schon länger. Zum ersten Mal jedoch ist jetzt auch in der bürgerlichen argentinischen Presse die Rede davon.

Zweitens ist der Haftbefehl ein Ansporn für die Justiz in Lateinamerika, endlich selbst aktiv zu werden. Während in Europa der Fall Pinochet über die Bühne lief, konnte man beobachten, wie in Chile eine Klage nach der anderen eingereicht wurde. Und wahrscheinlich sind die derzeit laufenden Prozesse wegen Kindesentführung in Argentinien ebenfalls eine Folge von Garzóns Eifer. Ohne diese zaghaften Fortschritte könnte schließlich kein Präsident vollmundig Justizsouveränität für sein Land einfordern.

Drittens ist es zu begrüßen, daß überhaupt über die Menschenrechtsverletzungen gesprochen wird. Das ist nicht selbverständlich. Betrachtet man die Wahlergebnisse, scheint es, als wollten viele nichts wissen von den Schatten der Vergangenheit. Der Mörder Alfonso Portillo hat bei den guatemaltekischen Präsidentschaftswahlen am 7. November einen deutlichen Vorsprung gegenüber seinen Kontrahenten errungen. Keine tausend Kilometer nordwestlich von Rosario wurde mit Antonio Bussi ein argentinischer Abgeordneter gewählt, der den Blutrausch der siebziger Jahre mitorganisiert hat. Und noch ein bißchen weiter im Norden regiert – vom Volk gewählt – seit über zwei Jahren Hugo Bánzer, Boliviens Diktator von 1971–78. Vielleicht knöpft sich Garzón ihn als nächsten vor.

Populismus am Ende des Jahrtausends

Der Brasilianer Fernando Collor setzte sich hinter den Schaltknüppel eines Düsenjägers, der Argentinier Carlos Menem versuchte sich als Mittelstürmer auf dem Fußballplatz, und in Ecuador rockte Abdalá „El Loco“ Bucaram solange über sämtliche Bühnen des Landes, bis es die Bürger satt hatten und ihren Präsidenten davonjagten. Der Venezolaner Hugo Chávez als bisher letzter in der Reihe konnte sich also an zahlreichen Vorbildern orientieren, als er jüngst die halbe Flugzeug-Flotille der Regierung für wohltätige Zwecke versteigern ließ und bei dieser Gelegenheit höchstselbst auf den Tragflächen der Maschinen herumturnte. Immer mehr Staatsoberhäupter zwischen Río Bravo und Feuerland entwickeln einen ausgeprägten Sinn für Show-Effekte, scheint es. Ein Gespenst geht wieder einmal um in Lateinamerika: das Gespenst des Populismus.
Diverse Politiker auf dem Kontinent haben sich in diesem zu Ende gehenden Jahrhundert vorhalten lassen müssen, ihre WählerInnen mit wunderbaren, perfiderweise aber völlig unrealistischen Versprechen geködert zu haben. Gelegentlich richtete sich der Vorwurf freilich auch gegen bedeutende Reformer wie Juan Domingo Perón oder Omar Torrijos und wurde am lautesten von jenen vorgetragen, denen die in der Tat populären Politikmuster der neuen Machthaber als unzulässiger Eingriff in ihre angestammten Privilegien erschienen. Vorsicht ist also geboten, wenn man sich auf das (Tot-) Schlagwort vom Populismus einläßt – schon gar in einer Zeit, in der andere Regierungen jede Kritik an unpopulären Entscheidungen unisono mit einem kräftigen „Weiter so!“ zu beantworten pflegen und die Frage nach Alternativen an Hochverrat grenzt.
Hört man jedoch über den denunziatorischen Beiklang des Wortes hinweg, werden durchaus Parallelen zwischen dem Populismus der 40er und 50er und jenem der 90er Jahre sichtbar, die zu verfolgen sich lohnt. Perón, schon damals „Idealtyp“ eines lateinamerikanischen Populisten, hätte seinem Land kaum einen so enormen Modernisierungsschub verleihen können, hätte nicht die vorausgegangene Weltwirtschaftskrise das soziale Gefüge Argentiniens vollends durcheinander gebracht und neue Akteure auf die politische Bühne gespült, die von den Parteien, Gewerkschaften und Verbänden des Ancien régime nicht mehr integriert werden konnten. Sie waren es, die nun zum Fußvolk des Peronismus wurden.
Annähernd gleiches wiederholt sich derzeit in Lateinamerika, wo die 80er Jahre als „verlorenes Jahrzehnt“ empfunden wurden. Wieder sind für Abermillionen von Menschen die gewohnten Lebenszusammenhänge weggebrochen, ehemals wohlhabende Mittelschichten verelendeten, frühere Bauernfamilien strömten in die Slums der Großstädte. Sie begegnen den alten Institutionen im besten Fall mit Desinteresse, nicht selten aber auch mit offener Ablehnung. Für die Heilsversprechungen eines Lino Oviedo in Paraguay hingegen oder eine autoritäre Politik à la Alberto Fujimori in Peru sind sie durchaus empfänglich. Auf der anderen Seite haben sich neureiche Eliten herausgebildet, die ebenfalls nach neuen Führern verlangen und sie in Gestalten wie Carlos Menem auch finden.
Hugo Chávez mit seinem national-revolutionären Anspruch ragt aus dieser Gilde zwar heraus, doch ob er den Vorschußlorbeer wirklich verdient, muß er erst noch nachweisen. Charisma, Entschlußkraft und eine gewisse Dosis an demagogischem Talent sind zwar notwendige, aber noch lange nicht hinreichende Bedingungen für den Erfolg. Nachdenklich stimmt auch, daß die früheren „populistischen“ Regimes – vom Sonderfall Kuba einmal abgesehen – in der Regel nicht lange vorhielten; schnell schlug das Pendel wieder zurück. Zur Erinnerung: Perón wurde 1955 nach neunjähriger Herrschaft von seinen eigenen Waffengefährten gestürzt und ins Exil abgeschoben. Für den bolivianischen General und Reformer-Präsidenten Juan José Torres war 1969 schon nach zehn Monaten die Zeit abgelaufen. Was jeweils folgte, ist bekannt.

Diplomatische Krise im Cono Sur

Und wieder war Ex-General Lino Oviedo der Anlaß für die Krise. Der Marionettenspieler, der die Regierung Cubas Grau nach seiner Pfeife hatte tanzen lassen und als Drahtzieher des Attentats auf Vizepräsident Argaña vom 23. März 1999 gilt, setzte sich damals sofort nach Argentinien ab und erhielt dort prompt politisches Asyl (vgl. LN 299). Er versteht sich nicht nur gut mit Noch-Präsident Carlos Menem, sondern ist auch in obskure Geschäfte mit ihm verbandelt.
Oviedo traf sich in seinem Luxusanwesen in Buenos Aires mit seinen Gefolgsleuten und beriet Strategien eines politischen Come-backs. Bereitwillig äußerte er sich vor allem auch gegenüber jedem Journalisten, der ihn sprechen wollte – und eckte damit hart an: Politische Betätigung ist nach einer lateinamerikanischen Abmachung für politische Asylanten verboten. Die paraguayische Regierung unter Luis Angel González Macchi reagierte entsprechend energisch und verlangte die Auslieferung Oviedos. Als Menem dies verweigerte, begann ein Schlagabtausch von Beschuldigungen und Beleidigungen auf höchster Ebene, der mit dem zeitweiligen Abzug der paraguayischen Botschafter aus Argentinien und Uruguay auch handfeste Konsequenzen hatte. Der argentinische Außenminister Di Tello wiederum zweifelte an, daß die vierjährige Amtszeit des paraguayischen Präsidenten nach der Frühjahrskrise überhaupt legal ist.

Diplomatische Eiszeit

Die diplomatische Eiszeit dürfte nicht enden, bevor nicht das Problem Oviedo bewältigt ist. Eine Lösung ist da allerdings nicht in Sicht. Die paraguayische Regierung will Oviedo im eigenen Land hinter Gitter bringen. Argentinien und die USA fürchten jedoch, daß bei einer Rückkehr Oviedos die gesamte Region destabilisiert werden könnte. Die beiden aussichtsreichsten Kandidaten für die argentinische Präsidentschaft am 24. Oktober, Duhalde von den regierenden Peronisten und De la Rúa von der oppositionellen Alianza, wollen die Menemsche Politik nicht weiterverfolgen, sondern Oviedo so schnell wie möglich außer Landes bringen.
Wenn sich keine Drittländer bereiterklären, Oviedo aufzunehmen – Panama, Venezuela und sogar Deutschland waren hypothetisch im Gespräch –, könnte es spätestens nach dem Amtsantritt des neugewählten argentinischen Präsidenten am 10. Dezember doch zu einer Auslieferung Oviedos nach Paraguay kommen. Zunächst hat Menem die Situation zu entschärfen versucht, indem er Oviedo Anfang Oktober zum Umzug von Buenos Aires ins 3 000 Kilometer südlich gelegene Feuerland zwang.

Ein Strohmann für Feuerland

Im verbalen Schlagabtausch ist von argentinischer Seite gelegentlich das Argument vorgebracht worden, die Regierung des Nachbarlandes wolle mit dem Wirbel um Oviedo in erster Linie von den hauseigenen politischen Problemen ablenken. Das ist nicht aus der Luft gegriffen, zumal bei den paraguayischen Bemühungen um Oviedo offenbar die politische Symbolik eine wichtige Rolle spielt. So ist es um den nach Brasilien geflohenen Ex-Präsidenten Cubas Grau bemerkenswert still, obwohl dieser als Strohmann Oviedos keine geringe Verantwortung für die Frühjahrsunruhen trägt. Oviedo, der nach wie vor damit droht, nach Paraguay zurückzukehren und dann einen „Staatsstreich mit Wahlstimmen“ zu führen, taugt jedoch viel besser als Feindbild, gegen das die politischen Kräfte in Paraguay mobilisiert werden können. Dabei darf allerdings der nach wie vor beträchtliche Einfluß vom charismatischen General Oviedo auf seine Anhänger nicht unterschätzt werden.

Personalkarussell und Flügelkämpfe

Die Krise scheint so schlimm, daß eine von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin für den 13. Oktober anberaumte Tagung über die deutsch-paraguayische Zusammenarbeit kurzfristig abgesagt werden mußte – immerhin waren zwei Minister der ehemaligen Oppositionsparteien und verschiedene Parlamentarier geladen. Schließlich könnte der eigene Posten bei der Rückkehr ja andersweitig vergeben sein. Trotz der Gründung einer Regierung der nationalen Einheit nach der Staatskrise im Frühjahr sieht es mit der Einheit schlechter denn je aus. Noch wird der vereinbarte Status quo gehalten und sind die Ministerposten entsprechend verteilt, sechs für die Colorados, je zwei für die Liberalen und den Encuentro Nacional. Aber das Personalkarussell dreht sich, schon mehrere Minister mußten – mitunter auch auf Drängen aus den eigenen Reihen – ihren Posten räumen, unter ihnen Anfang September auch Außenminister Miguel Saguier von den Liberalen.
Nicht nur die seit 1940 ununterbrochen regierende Colorado-Partei ist in sich zerstritten, auch der Partido Liberal Radical Auténtico besteht zumindest aus zwei miteinander zerstrittenen Fraktionen. Ein Parteitag der Liberalen wurde unlängst zum Kampfschauplatz, als die Delegierten mit allen möglichen Einrichtungsgegenständen gegeneinander vorgingen. Setzt sich dieser Trend fort, könnten durchaus wieder mehrere selbständige liberale Parteien entstehen – unter dem Stroessner-Regime waren es zu Spitzenzeiten acht. Der sozialdemokratisch orientierte Encuentro Nacional scheint noch nicht in diesem Maße betroffen, obwohl sich auch dort mehrere innerparteiliche Strömungen mit eigenen Namen und eigenen Programmen gebildet haben.

Ex-Präsident Wasmosy unter Druck

Geschickt hat es der Parteiflügel des ermordeten Vizepräsidenten Luis María Argaña geschafft, seine Machtposition innerhalb der Colorado-Partei auszubauen: Die beiden Söhne von Argaña scheinen die Fraktion fest im Griff zu haben. Obwohl die Fraktion UNACE des flüchtigen Generals Oviedo noch immer existert, laufen immer mehr ihrer AnhängerInnen zu den Argañisten über. Oder aber die Betroffenen werden aus der Partei ausgeschlossen – ein Schicksal, das Oviedo und 60 seiner Gefolgsleute ereilte. Gegenwärtig wird unter anderem versucht, den gewählten Bürgermeister von Ciudad del Este an der brasilianischen Grenze abzusetzen, weil er sich noch immer zu Oviedo und seiner Bewegung bekennt. Aber auch die dritte große Colorado-Fraktion des ehemaligen Präsidenten Wasmosy steht seitens des Argaña-Flügels unter Druck. Die Immunität von Wasmosy als Senator auf Lebenszeit wurde aufgehoben, und damit ist der Weg bereitet, ihm wegen Korruption den Prozeß zu machen. Unter diesen Bedingungen dürfte die Regierung der nationalen Einheit das Jahresende nicht überstehen.

Der Mercosur im Visier der Europäischen Union

Es waren vor allem der spanische Ministerpräsident Aznar und der französische Präsident Chirac, die sich in der Europäischen Union (EU) für einen europäisch-lateinamerikanisch/karibischen Gipfel stark machten. Ein spanisch-französisches Papier bildete die Diskussionsgrundlage für die festzulegenden Inhalte. Demgemäß sollten der politische Dialog, die wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie die kulturelle Dimension der Beziehungen gleichgewichtig Gegenstand des Treffens sein. Diese Inhalte finden sich sodann auch in der „Erklärung von Rio“ wieder, die vor dem Gipfel ausgearbeitet wurde, um dann von den versammelten 48 Staats- und Regierungschefs verabschiedet zu werden. Darin wird sowohl die gegenseitige Bedeutung der Kontinente als Wirtschaftsräume als auch als politische Partner betont. Die Unterzeichner verpflichten sich zu gemeinsamen Anstrengungen für freien Handel, aber auch zur Bekämpfung des Drogenhandels, von Armut, Arbeitslosigkeit, Menschenrechtsverletzungen, Militarismus und Massenvernichtungswaffen. So weit, so gut, so unverbindlich. Denn konkrete Vorgaben gibt es für diese Beschlüsse ebensowenig wie irgendwelche Finanzzusagen.

Mercosur im Mittelpunkt

Überraschend konkret festgelegt wurde hingegen der künftige Fahrplan in Sachen Integration zwischen der EU und dem Gemeinsamen Markt des Cono Sur (Mercosur), der Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay umfaßt. Überraschend deswegen, weil die Kommission der EU überhaupt erst eine Woche vor dem Gipfel ein Mandat zur Aufnahme von Freihandelsverhandlungen erhalten hatte, nachdem die EU-Agrarlobby um Frankreich ein solches bis dato total blockierte. Frankreich gab nun nach, aber nicht bedingungslos. Verhandlungen ja, aber erst einmal nicht über Zölle, lautet die Kompromißformel. Ab Herbst wollen die beiden Blöcke einschließlich Chile über nicht-tarifäre Handelshemmnisse (zum Beispiel Qualitätsstandards) verhandeln, um dann im November einen detaillierten Zeitplan über die weiteren Verhandlungen zur gemeinsamen Freihandelszone auszuarbeiten. Allerdings gibt es schon jetzt Dissens darüber, wann die Verhandlungen über den Hauptstreitpunkt, die Zölle, beginnen sollen. Spätestens Anfang 2001 meint stellvertretend für den Mercosur der brasilianische Präsident Cardoso, frühestens ab Juli 2001 lautet dagegen das EU-Verhandlungsmandat.
Die Zölle entscheiden in erster Linie über den Marktzugang von Waren und Dienstleistungen und somit über die Exportmöglichkeiten. Während der Mercosur sich durch eine möglichst schnelle Liberalisierung des EU-Agrarmarktes einen kräftigen Exportschub erhofft, versucht die EU-Agrarlobby die Marktöffnung solange wie möglich hinauszuzögern. Getreide, Rindfleisch, Milcherzeugnisse, Wein, Gemüse und nichttropische Früchte sind in der EU mit Zöllen belegt, die den Import aus Nicht-EU-Ländern wie den Staaten des Mercosur begrenzen. Der Zankapfel bei den anstehenden Verhandlungen ist somit klar, der Ausgang ungewiß.

Brasilien als Absatzmarkt

Nicht erst seit dem Rio-Gipfel steht der Mercosur im Blickpunkt der EU. Im Zeitraum von 1990-94 konnte die EU ihre Exporte in die Mercosur-Staaten mehr als verdoppeln, während die Einfuhren nur leicht stiegen. Die einseitige Liberalisierung seitens der Mercosur-Staaten zeigte Wirkung. Vor allem Brasilien, das zwischen 1990 und 1995 seine Außenzölle von durchschnittlich 52 Prozent auf 14 Prozent senkte, avancierte zum begehrten Absatzmarkt. Während in bezug auf ganz Lateinamerika die USA vor allem wegen des intensiven Handelsaustausches mit Mexiko immer noch der führende Handelspartner ist, hat die EU hinsichtlich des Mercosur die Nase vorn.
Über die Hälfte des Handelsvolumens der EU mit Lateinamerika entfällt inzwischen mit steigender Tendenz auf den Mercosur. Seit dem Entstehen des Mercosur verfolgt die EU das Ziel, diesen Absatzmarkt vertraglich abzusichern. So wurde am 15.12.1995 auf dem EU-Gipfel in Madrid ein Rahmenabkommen abgeschlossen, das die Voraussetzungen für die Gründung einer gemeinsamen Freihandelszone schaffen sollte und den Weg für die jetztige Vereinbarung ebnete. Mit Chile, das dem Mercosur assoziiert ist, wurde 1996 ein ähnliches Abkommen abgeschlossen.
Letzter Baustein der Lateinamerika-Strategie der EU ist Mexiko, das als Produktionsstandort aufgrund des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) den weitgehend unbeschränkten Zugang zum US-amerikanischen Markt gewährleistet. Das mit Mexiko im Dezember 1997 unterzeichnete Abkommen über wirtschaftliche Partnerschaft, politische Koordination und Zusammenarbeit ist noch nicht ratifiziert. Dieses Freihandelsabkommen enthält unter anderem eine Demokratie- und Menschenrechtsklausel, die in den letzten Monaten zu heftigen Diskussionen unter MenschenrechtlerInnen in Europa und Mexiko geführt hat. Ist es angesichts einer sich dramatisch verschlechternden Menschenrechtslage mit einer Standardklausel getan, oder bedarf es eines Überwachungsinstrumentariums zur Kontrolle der Einhaltung der Menschenrechte? Die EU-PolitikerInnen sehen diese Frage weniger verkrampft als die MenschenrechtlerInnen und hoffen auf eine Ratifizierung des Freihandelsabkommens noch in diesem Jahr, zumal es in bezug auf den Agrarsektor mit Mexiko weit weniger Streitpunkte als im Falle des Mercosur gibt. Hinsichtlich der Menschenrechtslage in Mexiko teilte der finnische Präsident Martii Ahtisaari im Februar auf einer Pressekonferenz mit, daß der Europäische Rat die Kontroverse über die vermeintliche Verletzung der Menschenrechte gegenüber den indigenen Völkern in Mexiko überwunden habe, nachdem auf diesem Gebiet deutliche Fortschritte zu verzeichnen seien. Ahtisaari amtiert seit 1. Juli als EU-Ratspräsident und ist somit Nachfolger von Kanzler Schröder.

EU gewinnt an Boden

Freie Fahrt also für den Freihandel, zumal die Gelegenheit günstig scheint, den USA im Rennen um den lateinamerikanischen Markt den Rang abzulaufen. Schließlich verließ Clinton den letzten interamerikanischen „Gipfel“ am 18. und 19. April 1998 in Santiago de Chile mit leeren Händen. Mehr als die Bekundung, daß am Ziel der gemeinsamen Freihandelszone festgehalten werde, gab es nicht zu verzeichnen. Der Grund ist der US-Kongreß, der Clinton hartnäckig die sogenannte Fast-Track-Autorität verwehrt, die ihm ein autonomes Verhandlungsmandat sichern würde – der Kongreß könnte dem Verhandlungsergebnis dann nur noch als Ganzem zustimmen oder es ablehnen. Ohne Fast-Track wollen sich die lateinamerikanischen Staaten aber nicht weiter an den Verhandlungstisch setzen. Die Freihandelsbestrebungen der USA hinsichtlich Lateinamerikas sind deswegen erst einmal ins Stocken geraten, während diejenigen der EU an Fahrt gewinnen. Dabei sind sie nicht zuletzt eine Reaktion auf die Versuche der USA, die lateinamerikanischen Ökonomien stärker an sich zu binden.
Nachdem der Hinterhof aufgrund der Verschuldungskrise und der damit einhergehenden wirtschaftlichen Stagnation als Produktionsstandort von den US-amerikanischen Unternehmen in den achtziger Jahren weitgehend gemieden wurde und selbst der Warenabsatz zurückging, änderte sich das Bild in der ersten Hälfte der neunziger Jahre schlagartig. Mit den ersten Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung und vor dem Hintergrund der entstehenden Wirtschaftsblöcke in Europa und Asien wurde die USA aktiv und wandte sich den lateinamerikanischen Ländern zu. Bereits am 27. Juni 1990 kündigte der damalige Präsident George Bush seine Initiative „Enterprise for the Americas“ an. Ziel: eine Freihandelszone von Alaska bis Feuerland. Als ersten Schritt in diese Richtung leitete Bush mit Kanada und Mexiko Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen ein.
Sein Nachfolger Bill Clinton blieb der eingeschlagenen Linie treu. So ratifizierte der anfangs widerwillige Kongreß, der den Verlust von Arbeitsplätzen befürchtete, im November 1993 nicht zuletzt aufgrund Clintons massiven Einsatzes schließlich den Vertag zum North American Free Trade Agreement (NAFTA) zwischen den USA, Kanada und Mexiko. Auch das Ziel der gesamthemisphärischen Freihandelszone verlor Clinton nicht aus den Augen. Auf dem „Gipfel der Amerikas“ in Miami vom 9. bis 11. Dezember 1994 bot er den anwesenden 33 Staats- und Regierungschefs nord- und lateinamerikanischer sowie karibischer Staaten eine „Partnerschaft für den Wohlstand“ an. Der Gipfel endete mit der Unterzeichnung einer Erklärung und eines Aktionsplans. Bis zum Jahr 2005 sollen die Verhandlungen über eine die gesamte Hemisphäre umfassende Freihandelszone, die Free Trade of the Americas (FTAA), abgeschlossen werden. Seitdem tritt Clinton mangels Fast-Track auf der Stelle. Dessen ungeachtet bleibt das Hauptziel der Außenpolitik der Clinton-Administration ungebrochen: Absatzmärkte für US-amerikanische Waren zu suchen. Der Staatssekretär im Handelsministerium, Stuart Eizenstat, brachte es auf den Punkt: Es gehe darum, Jobs für Amerikaner im Inland zu schaffen, indem man die Märkte im Ausland öffne. Dementsprechend komme der Aufrechterhaltung der amerikanischen Führungsrolle in Sachen Marktöffnung und freier Welthandelsordnung außenpolitisch Priorität zu.
Die EU verfolgt dieselben Ziele. Die Vereinbarung von Rio ist ein Schritt in diese Richtung, nicht mehr und nicht weniger. Potential ist ohne Zweifel vorhanden, denn noch beträgt das Handelsvolumen mit den 480 Millionen LateinamerikanerInnen weniger als das mit den sieben Millionen SchweizerInnen. Ohne eine zumindest partielle Öffnung ihres Agrarmarktes wird die EU allerdings bei den Freihandelsverhandlungen mit Lateinamerika auf Granit beißen. So forderte der uruguayische Präsident, Julio María Sanguinetti, Ende Mai beim Treffen der sogenannten Rio-Gruppe, eines losen Zusammenschlusses von 14 lateinamerikanischen Ländern, die Europäer auf, ihre „protektionistischen Reflexe“ auszumerzen, und „im Prozeß der Liberalisierung fortzuschreiten.“ Diese Forderung ist mehr als berechtigt, denn wohin eine einseitige Marktöffnung führt, erfahren die Mercosur-Staaten um ihre Lokomotive Brasilien derzeit: in die Krise.

Integrationsmodell auf dem Prüfstand

Im Kern verfolgten die Mercosur-Staaten Argentinien, Uruguay und Brasilien in den letzten Jahren dieselbe Wirtschaftspolitik: Bindung der eigenen Währung an den US-Dollar, Überbewertung der heimischen Währung, Finanzierung der Leistungsbilanzdefizite über Kapitalimporte. In den Nuancen und in der Dauer unterscheiden sich die Wirtschaftspolitiken etwas. In Argentinien wurde der Peso mit einer Parität von eins zu eins an den Dollar gekoppelt, während die Handhabung in Brasilien und Uruguay etwas flexibler war. In Argentinien und Uruguay geht diese Form der Politik bereits auf den Anfang der 90er Jahre zurück, während sie in Brasilien erst 1994/95 durchgesetzt wurde.
Die amtliche Begründung der neuen Politik war uniform: eine überbewertete Währung sollte für niedrige Importpreise und eine verschärfte Importkonkurrenz sorgen, diese wiederum sollten den Preisauftrieb dämpfen. Tatsächlich ging die Inflation mehr oder weniger dramatisch zurück, in Argentinien inzwischen bis zur Deflation. Entscheidender noch für die Dämpfung des Preisauftriebs war jedoch, daß der Verteilungskonflikt eindeutig zugunsten der Kapitalseite gelöst wurde. Damit entfiel der Anreiz für die in einem oligopolistischen Umfeld agierenden Unternehmer, auf Lohnerhöhungen prompt mit noch stärkeren Preiserhöhungen zu reagieren. Signifikanterweise war die Inflation in Uruguay am höchsten. Es war das Land, in dem die Gewerkschaften noch am konfliktfähigsten blieben. Die Interessen der (Groß-)Anleger wurden begünstigt und die Kapitalkonzentration nahm zu. In Argentinien verschärfte sich die Einkommenskonzentration. Diese war dort in gewisser Weise auch Wachstumsmotor. Die Industriebranchen, die hochwertige Konsumgüter für die wohlhabenden Bevölkerungsschichten produzierten, verzeichneten hohe Wachstumsraten, während ein Großteil der restlichen importsubstituierenden Industrien stagnierten oder ganz von der Bildfläche verschwanden. Auch in Brasilien und Uruguay belebte die Preisstabilisierung vorübergehend den Konsum. In Brasilien vermochten anfangs sogar die Armen mehr zu konsumieren. Ihr Einkommen war während der Hyperinflation am wenigsten indexiert gewesen, und so konnten sie zunächst von der Preisstabilisierung profitieren. Im allgemeinen wurde der Konsumboom jedoch vom Bürgertum und dem oberen Teil der Mittelklasse getragen, die auf Pump kauften. So ist die Kreditkarte die Eintrittskarte zum vollwertigen Konsumenten.
Neue Anlagefelder erschlossen die Regierungen dem aus- und inländischen Kapital zeitgleich durch eine Privatisierung der Sozialversicherung bzw. der Infrastruktur. In Argentinien ist dieser Privatisierungsprozeß fast abgeschlossen, während er in Uruguay auf erhebliche, allerdings nachlassende Widerstände stieß.

Die Kehrseite der Medaille

Die Politik überbewerteter Wechselkurse bei gleichzeitiger Außenöffnung trieb ganze Branchen in den Ruin. Damit hat die Branchenstruktur an Diversität verloren. Am deutlichsten ist die Reprimitivisierung der Industriestruktur in Uruguay, wo vornehmlich die nach Brasilien exportierenden Agrarindustrien wuchsen. Der überbewertete Wechselkurs und der florierende Oberschichtenkonsum ließen die Importe hochschnellen. Den entstehenden Devisenengpaß suchten die Regierungen über die Anziehung ausländischen Kapitals, beispielsweise mittels hoher Zinsen, auszugleichen. Der hieraus resultierende Abfluß von Zinsen und Dividenden verschlechterte seinerseits die Leistungsbilanz, so daß der Bedarf an Auslandskapital eher noch dringlicher wurde. Und so weiter und so fort. Besonders dramatisch war die Entwicklung in Brasilien. Hier weitete sich das Leistungsbilanzdefizit von 1,7 Milliarden im Jahr 1994 auf satte 33,4 Milliarden US-Dollar im Jahr 1997 aus. Die Auslandsschuld stieg im selben Zeitraum von 148,3 Milliarden auf 193,1 Milliarden, 1998 dann nochmals auf 235 Milliarden US-Dollar. Ähnlich war die Entwicklung in Argentinien und Uruguay. Die argentinische Auslandsschuld stieg von 1991 bis 1997 von 58,5 auf 109,3 Milliarden US-Dollar, in Uruguay stieg sie von 7,2 auf 12,5 Milliarden US-Dollar. Zwar nahmen auch die Devisenreserven zu, doch diese können in einer Krise so dahinschmelzen wie ein Speiseeis in der Äquatorsonne.

Brasilianische Krisendynamik

In Brasilien stieß das Modell am schnellsten an seine Grenzen. Brasilien verfügte über die komplexeste Ökonomie, in der auch am deutlichsten wurde, daß die US-amerikanische Wechselkurspolitik nur zufällig einmal in die für die brasilianische Ökonomie richtige Richtung geht. Zudem war der durch die Hochwährungs- und Zinspolitik zunehmend belastete Industriesektor in Brasilien unter den Mercosur-Ländern politisch immer noch am stärksten und damit am ehesten in der Lage, wenigstens partielle Veränderungen der Wirtschaftspolitik durchzusetzen.
Der Anstoß zur offenen Krise kam allerdings von außen. Nach den Finanzkrisen in Ostasien und Rußland entzogen die Anleger Brasilien ab dem August 1998 massiv das Vertrauen und das Kapital. Um den Wechselkurs bis zu den Wahlen zu halten, warf die Zentralbank 30 Milliarden US-Dollar auf den Markt. Auf diese Höhe können auch die direkten Kosten des Wahlsiegs Cardosos im Oktober taxiert werden. Der IWF half im November 1998 mit einem Finanzpaket von 41 Milliarden US-Dollar nach. Doch im Inneren schmolz die Machtbasis Cardosos. „Industriellenvereinigungen und Gewerkschaftszentralen reichten sich die Hände,“ so der brasilianische Ökonom Paul Singer in seinem jüngsten Buch O Brasil na crise, „um die Gesellschaft für die Verteidigung der Produktion zu mobilisieren, was ein erster entscheidender Schritt zur Anerkennung der Tatsache ist, daß sich die gültige Wirtschaftspolitik erschöpfte“. Auch die neugewählten Gouverneure wollten sich nicht mehr mit der gravierenden Einschränkung ihrer Handlungsspielräume durch die Budgetkrise zufrieden geben. Das Fanal war die Verhängung eines Zahlungsmoratoriums durch den Gouverneur von Minas Gerais, Itamar Franco, am 6. Januar 1999. Danach war bei der Kapitalflucht kein Halten mehr, und die Regierung mußte den Wechselkurs freigeben. Der Kurs des Real fiel wie ein Stein. Damit gab die Regierung einer zentralen Forderung der Produzentenkoalition nach. Anders sieht es bei der inneren Geldpolitik aus. Nach wie vor versucht die Regierung über extrem hohe Zinsen und eine deflationär angelegte Wirtschaftspolitik das Kapital im Lande zu halten und eine Verbindung von Zinssenkungen und Kapitalverkehrskontrollen zu umgehen. Die Hochzinspolitik läuft auf den allmählichen fiskalischen Selbstmord des Staates hinaus. Sie gehorcht jedoch durchaus einer machtpolitischen Rationalität. Bundesstaaten wie Rio Grande do Sul, das jetzt von der Arbeiterpartei (PT) regiert wird, oder Minas Gerais könnten zum Kern eines Gegenblocks im heterogenen brasilianischen Staat werden. Einen Präzendenzfall gab es bereits mit der Formierung eines neuen Machtblocks in der letzten „großen Krise“ im Jahr 1930. Dem will Cardoso durch geldpolitische Erdrosselung vorbeugen. Die Geldpolitik ist der zentrale politische Konfliktpunkt.

Folgewirkungen bei den Nachbarn

Die Exporteure in Argentinien und Uruguay hatten sich auf den Wechselkurs in Brasilien eingestellt. Für verschiedene Branchen beider Staaten war Brasilien in den letzten Jahren das einzige Land, in das sie noch exportieren konnten. Die Geschäftsgrundlage allseitig überbewerteter Währungen im Mercosur ist nun entzogen. Damit fallen die Integrationsvorteile nun anders aus.
An Daten über die Wirkungen der Abwertung auf den Außenhandel fehlt es noch. Einen Eindruck über das Ausmaß des Einbruchs vermitteln jedoch die brasilianischen Außenhandelsdaten für die ersten beiden Monate dieses Jahres. Danach nahm der Handel mit den anderen drei Mercosur-Staaten im Januar um 15,8 Prozent und im Februar um 32,6 Prozent ab. Der Warenversand Uruguays in den großen Nachbarn im Norden halbierte sich. Die unmittelbare Wirkung des erschwerten Exportes nach Brasilien ist jedoch begrenzter als man zunächst annehmen könnte. Die Exporte machten in Argentinien 1997 nur 7,9 Prozent und selbst im Kleinstaat Uruguay nur 13,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) aus. Es gingen in beiden Staaten zuletzt etwa ein Drittel der Exporte zum großen Nachbarn im Norden. Es sind also nur etwa drei bis 4,5 Prozent des BIP unmittelbar durch die verschlechterten Exportmöglichkeiten betroffen. In einigen Branchen, vor allem der Landwirtschaft und Agrarindustrie (in beiden Ländern Reis und Malz, in Uruguay auch Milch) sowie der Autoindustrie in Argentinien, ergibt sich hingegen ein dramatisches Bild. Die Landwirte sind zudem noch mit einem rapiden Verfall der internationalen Agrarpreise konfrontiert. Wie der argentinische Regionalwissenschaftler Alejandro Rofman gegenüber LN erklärte, sind beispielsweise die Preise für Äpfel in der argentinischen Provinz Mendoza um zirka 80 Prozent gesunken. Bei einjährigen Kulturen wurde die Aussaat daher stark verringert. In Corrientes betrug die Reduzierung bei Reis sogar ca. 40 Prozent. Durch die weitgehende Komplementarität der Außenhandelsstrukturen ist die Importkonkurrenz durch die auf einen Schlag verbilligten brasilianischen Produkte hingegen nicht so fühlbar.
Jene Regionen, die durch regionale Integration besonders begünstigt worden waren, trifft der erschwerte Export nach Brasilien nun am stärksten, daneben auch das argentinische Autozentrum Córdoba, sowie einige eher ländliche Gebiete in Argentinien und Uruguay. Da es sich dort vielfach um kleinere und mittlere Betriebe handelt, fehlt es den betroffenen Produzenten an Mitteln, um die Krise durchzustehen.
Die Hauptwirkung der Finanzkrise und Währungabwertung Brasiliens ist nicht direkter, sondern indirekter Natur. Der brasilianische Crash stellt die demselben Strickmuster folgenden wirtschaftspolitischen Modelle Argentiniens und Uruguays in Frage.
Die große Sorge der dominanten Sektoren beider Länder ist nun, daß ein Mißtrauensvotum des internationalen Finanzkapitals ihrem Modell die Grundlage entzieht. Daher setzen sie auf eine deflationäre Politik, welche noch größere Löcher in der Zahlungsbilanz durch eine (Er-)Drosselung der Binnennachfrage vermeiden soll. Eine IWF-Delegation empfahl der argentinischen Regierung (Nominal-)Lohnsenkungen. Die Kreditzinsen bleiben hoch, in Uruguay beliefen sie sich im Juli 1998 für Peso-Kredite real auf 45 Prozent, für Dollar-Kredite auf 8,6 Prozent. Die restriktive Politik bleibt nicht ohne Folgen. Die Produktion geht deutlich zurück, in Argentiniens Automobilindustrie zum Beispiel in den ersten beiden Monaten des Jahres um 48,7 Prozent. Die Arbeitslosigkeit steigt.
Die Regierungsparteien beider Länder wollen sich zumindest noch bis zu den anstehenden Wahlen ohne Abwertung über die Runden retten. Diesem Zweck diente auch das Gerede von einer völligen Dollarisierung der argentinischen Ökonomie.

Zersplitterter Protest

Die restriktiv angelegte Wirtschaftspolitik stößt in Argentinien und Uruguay auf Proteste. Speerspitze des Protestes ist vielfach der Agrarsektor. In Argentinien gingen nun erstmals auch die Großgrundbesitzer auf die Straße. Ihre Vertretung, die Sociedad Rural, legte zusammen mit anderen Agrarverbänden Mitte April den Landwirtschaftshandel lahm. Industriellenvereinigungen und die deutlich geschwächten Gewerkschaften sind in ihrem Protest weniger sichtbar. Die Regierungen suchen durch kleinere Steuererleichterungen und andere Zugeständnisse dem Protest die Spitze zu nehmen, der meist von spezifischen Gesellschaftssektoren organisiert wird. Dies ermöglicht es den Regierenden, zumindest potentiell, einzelne Interessengruppen gegeneinander auszuspielen. An den grundlegenden Tabus – überbewerteter Wechselkurs und Außenöffnung – wird in der Regel ohnehin nicht gerüttelt. Umfassende Alternativen präsentieren die oppositionellen Gruppen kaum.
Tatsächlich hätte eine Abwertung in Argentinien und Uruguay dramatischere Folgen als in Brasilien. Der Grund ist die hohe Dollarisierung. Unternehmen und Konsumenten sind fast ausschließlich in Dollar verschuldet. Zum Teil müssen laufende Ausgaben, wie Mieten, in Dollar beglichen werden. Damit gerät die soziale Basis der regierenden Parteien in die Finanzklemme. Auch der Bankensektor geriete in eine schwere Schieflage. Für Uruguay wäre dies ein Déjà-vu. Bereits Anfang der 80er Jahre endete derselbe Politikstil in Bankenkrach und Abwertung.
Gleichzeitig ist nicht zu erkennen, wie eine Abwertung umgangen werden kann. Eine Orientierung am Geld eines Staates mit einer völlig anderen sozio-ökonomischen Struktur und einem deutlich höheren Produktivitätsniveau ist auf die Dauer kaum durchhaltbar. Nur zufällig kann die Wechselkursentwicklung des US-Dollar für den Produktionssektor in Argentinien oder Uruguay in die richtige Richtung gehen. Es ist sicher kein Zufall, daß der Mercosur-Staat mit der komplexesten und gewichtigsten Produktionsstruktur als erster von der Dollarparität abging.

Bruchlinien im Mercosur

Der Streit um die Geld- und Währungspolitik ist der potentielle Bruchpunkt im Mercosur. Die Wechselkurse sind eine zentrale Determinante für Höhe und Richtung der Handels- und Kapitalflüsse wie für die Verteilung der Integrationsvor- und ¤nachteile. Zudem sind die Interessenkonstellation und Kräfteverhältnisse in der Geld- und Währungspolitik innerhalb des Mercosur unterschiedlich ausgeprägt.
Als dominante Macht scherte sich Brasilien nicht um seine Partner und wertete einseitig ab. Signifikanerweise redete Brasiliens Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso dann auch nicht als erstes mit dem ausgewiesenen Paritätsfetischisten Carlos Menem, sondern mit Uruguays Staatschef Julio Sanguinetti. Verhandelt wurde bilateral über die Krisenfolgen für die Mitgliedsländer, eine gemeinsame, hochrangig, besetzte Diskussion schoben die Mercosur-Staaten vor sich her. Mit erweiterten Kreditmöglichkeiten für die Mercosur-Exporteure bei Brasiliengeschäften kam Cardoso seinen Partnern etwas entgegen. Doch dann führte die Krise zu einem Hauen und Stechen im Mercosur. Brasilia düpierte seine Partner durch einseitige zollpolitische Maßnahmen und die Aufnahme von Verhandlungen über ein Handelsabkommen mit der Comunidad Andina, ohne seine Partner zu konsultieren. Als Begründung gab der zuständige brasilianische Staatssekretär, José Alfredo Graça Lima, an, ein Abkommen zwischen dem Mercosur und den Andenstaaten würde sich durch die divergenten Interessen Brasiliens und Argentiniens schwierig gestalten. Brasilien will für seine Industriegüter in der Andenregion freien Zugang schaffen, während es Argentinien und Uruguay eher um ihre Agrarprodukte geht. Für den obersten Verhandlungsführer Uruguays im Mercosur, Elbio Roselli, ist eine solche Politik der Alleingänge „unmöglich“.
Verschärft wurden die Konflikte im Mercosur durch die Involvierung von Spitzenpolitikern der anderen Mercosur-Staaten in die Fraktionskämpfe in Paraguays regierender Colorado-Partei. Das Umfeld Menems ist geschäftlich stark mit dem Putschisten-Militär Oviedo verbunden, ein enger Sanguinetti-Vertrauter ebenfalls mit der im jüngsten Machtkampf unterlegenen Colorado-Fraktion verbandelt. Dies blieb für die bilateralen Beziehungen zwischen Paraguay und diesen beiden Staaten nicht ohne Folgen. Menem gewährte seinem Geschäftsfreund Asyl, Uruguay erkannte die neue Regierung in Asunción zunächst nicht an. Der neue paraguayische Staatspräsident Luis González Macchi forderte seinerseits eine grundlegende Revision der Mercosur-Verträge.
Konstruktiver war der Umgang von Interessenverbänden mit der Krise. Um Schadensbegrenzung bemühten sich die Industriellenvereinigungen Argentiniens und Brasiliens. Grundsätzlicher wurden die Gewerkschaften im Mercosur. Sie suchen die Krise produktiv zu wenden und forderten in einem Gespräch mit Brasiliens Präsident Cardoso eine Demokratisierung des Mercosur. Doch scheinen die oppositionellen Kräfte derzeit zu schwach, um eine Abkehr vom liberalen Integrationsmodell durchzusetzen.

KASTEN:
In Sachen Bild:

Auf Wirtschaftsseiten spielen Fotos in aller Regel eine Nebenrolle. Oft genug liegt es daran, daß sich Redaktionen auf die Bebilderung ihrer Textbeiträge oder auf Standardmotive beschränken. In dem folgenden Wirtschaftsschwerpunkt wollen wir unsere Leserinnen und Leser nicht mit Fotos von Börsen, Bonzen und Bankern langweilen. Statt der üblichen optischen Ergänzung zum vorgegebenen Thema haben wir Bilder ausgesucht, von denen wir hoffen, daß sie für sich sprechen. Es geht nicht um eine getreue Zuordnung der Fotos zu bestimmten Ländern oder Themenbereichen. Eins ist ihnen allerdings gemein: Sie zeigen Menschen in Lateinamerika, auf dem Markt, bei der Arbeit, in alltäglichen Situationen. Die eigentlichen Subjekte jeder wirtschaftlichen Entwicklung, auch wenn sie meistens zu Objekten von Wachstums- und Profitinteressen gemacht werden.
Möglich war dieses Konzept dank der Unterstützung der Fotoagentur version. Seit längerem zeichnet sich diese in Köln und in Neukölln (für Nicht-BerlinerInnen: ein Hauptstadtbezirk) beheimatete Agentur durch sozial und politisch engagierte Fotografie aus. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf den Entwicklungsländern, vornehmlich Lateinamerika. So vermittelt der Kölner Fotograf Herby Sachs auf den ersten Seiten einen visuellen Eindruck vom Leben in Mexiko, in Oaxaca und Juchitán. Jens Holst aus Berlin zeigt im Anschluß Arbeits- und Alltagssituationen in Chile sowie einen Einblick in die Lebensbedingungen von Haitianern in der Dominikanischen Republik. Last, not least, stellt uns der ebenfalls bei Köln beheimatete Fotograf Klaus Görgen einige Motive aus Kuba vor, die sich von vielen Standards der Kuba-Berichterstattung lösen und Alltagssituationen der dort lebenden Menschen zeigen.

Mord, Exil und Neubeginn

Mit der Ermordung des Vizepräsidenten Luis María Argaña am Morgen des 23. März auf offener Straße, erreichte eine politische Auseinandersetzung ihren traurigen Höhepunkt, die mit ihrer Mischung aus Korruption, Palastintrigen, Demagogie und am Ende mit Morden eher ins 19. Jahrhundert oder ein Hollywood-Script paßt. Das Attentat ereignete sich, als Argaña mit seinem Jeep auf dem Weg in sein Dienstgebäude war. Ein militärisch gekleidetes, gut organisiertes Killerkommando stoppte durch einen erzwungenen Unfall den Wagen des Vizepräsidenten, und drei maskierte Personen eröffneten aus Maschinenpistolen und anderen Handfeuerwaffen gezielt das Feuer auf Argaña. Auch ein Leibwächter wurde getötet und der Fahrer schwer verletzt. Das Tatfahrzeug wurde kurz darauf nur einige Straßen weiter brennend und von einer Handgranate zerrissen gefunden. Von den Tätern fehlt jede Spur.
Der 66jährige Vizepräsident Luis María Argaña galt als aussichtsreichster Kandidat beim Ringen um die nächste Präsidentschaft Paraguays. Die Hintergründe seines Todes sind mit Sicherheit in den politischen Verwicklungen, in die er gemeinsam mit anderen prominenten Politikern, so etwa den Ex-Präsidenten Wasmosy und Cubas Grau sowie dem ehemaligen Heereschef General Oviedo verstrickt war, zu suchen (siehe LN 297).

Die Ermordung des “guten Freundes”

Die politischen Umstände, die kaltschnäuzige Art der Anteilnahme von dem zu diesem Zeitpunkt noch amtierenden Präsidenten Cubas Grau und dem General Oviedo an dem Tod ihres „guten Freund“ Argaña ließen die Schuldfrage über die Verantwortlichkeit des Attentats in der Öffentlichkeit sehr schnell als geklärt erscheinen. Vermutlich wird man die genaue Täterschaft nie völlig aufklären, aber die Frage, wem die Ermordung Argañas am meisten nützte, läßt sich recht eindeutig beantworten.
Argaña hatte seit seiner Zeit als Vorsitzender des Obersten Gerichtshofes unter Stroessner sowie seiner politischen Karriere in der Zeit nach Stroessner viele Feinde. Auch Wasmosy könnte zu diesen zählen; als Senator allerdings genießt dieser völlige Immunität. Für die Präsidentschaft kann er laut Gesetz auch nicht zur Wiederwahl kandidieren: Er hätte also kein politisches Motiv.
Anders dagegen Cubas Grau und Oviedo, die sich zum Zeitpunkt des Mordes aufgrund eines drohenden Amtsenthebungsverfahrens in derart aussichtsloser Lage befanden, daß es für sie nichts mehr zu verlieren gab. Ein extremer politischer Befreiungsschlag in Form eines Mordes hätte für sie vielleicht noch die Rettung bringen können. Oviedo hatte bereits mehrfach gedroht, daß Ströme von Blut fließen würden, wenn sein Wille unerfüllt bliebe. Auch die nachfolgenden Ereignisse sprechen für eine Verstrickung von Cubas Grau und Oviedo in den Mord. Während das Parlament unverzüglich die Untersuchungen zum Amtsenthebungsverfahren vorantrieb, kam es auf den Straßen um den Präsidentenpalast und das Parlamentsgebäude zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern Oviedos und für mehr Demokratie demonstrierenden Jugendlichen. Daß sich ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt auch über 10.000 Bauern in der Stadt befanden, war Zufall. Sie hatten Demonstrationen für gerechtere Agrarpreise geplant. Waren die Sympathien für Oviedo bereits im Februar in der Bevölkerung drastisch gesunken, erreichten sie zu diesem Zeitpunkt den Gefrierpunkt. Die Bauern, lange Zeit die treuste Anhängerschaft Oviedos, bildeten einen menschlichen Schutzwall zur Erhaltung der Demokratie um das Parlamentsgebäude. Es folgten brutale Angriffe von Oviedoanhängern auf die DemonstrantInnen, die von der Polizei nicht unterbunden wurden. Im Gegenteil, die AngreiferInnen erhielten noch Unterstützung von den Sicherheitskräften. Die vom Präsidenten herbeizitierte Armee, die mit Panzern anrückte, hielt sich zurück. Spätestens als auf ein Lichtsignal die Oviedoanhänger den Platz verließen und Heckenschützen das Feuer auf die Demonstranten eröffneten, war die politische, moralische und tatsächliche Verantwortlichkeit klar. Auch Fernsehaufnahmen identifizieren die Mörder mit den Schußwaffen in den Händen als Oviedoanhänger; die Schüsse fielen aus Büroräumen eines Oviedo nahestehenden Senators.
Die Bevölkerung reagierte mit absoluter Empörung. Das Parlament tagte inzwischen in einer Dauersitzung, die Absetzung des Präsidenten Cubas schien so gut wie sicher, unklar war jedoch noch die Haltung der Streitkräfte, deren oberste Ränge von wieder oviedotreuen Militärs besetzt sind. Nach einigen unklaren Stunden gab jedoch nach der Luftwaffe auch die strategisch wichtige, in Asunción stationierte 1. Kavalleriedivision (Panzertruppen) bekannt, loyal zum verfassungskonformen Präsidenten und damit zu einem Nachfolger von Cubas zu stehen. Damit verlor der Präsident seinen letzten Rückhalt. Cubas Grau kam mit seiner Rücktrittserklärung der nunmehr sicheren Amtsenthebung zuvor.
Auf den Straßen der Hauptstadt feierten über 150.000 Menschen den Rücktritt ihres Präsidenten als „Sieg der Demokratie“, wie auf vielen Transparenten zu lesen war. Während Cubas sich bereits unter Aufsicht der Präsidentengarde befand, ermöglichte er seinem Freund Oviedo jedoch noch die Flucht. Oviedo setzte sich unverzüglich mit 360.000 US-Dollar in den Taschen und falschem Paß per Flugzeug eines befreundeten Großgrundbesitzers nach Argentinien ab. Aufgrund des falschen Passes wurde er in Argentinien kurzzeitig festgesetzt, aber sein Bekannter, der argentinische Präsident Menem, gewährte ihm umgehend politisches Asyl.
Auch Cubas Grau sah sich zur Flucht in die brasilianische Botschaft genötigt, nachdem Haftbefehle gegen ihn ergangen waren. Die Brasilianer gewährtem auch ihm, wie schon 1989 dem Diktator Stroessner, Asyl. Obwohl beiden Exilanten von ihren Aufnahmeländern jegliche politische Betätigung untersagt ist, scheint Oviedo nur wenige Wochen nach den Ereignissen wieder politische Fühler nach Paraguay auszustrecken. Von der neuen Regierung, sowohl vom neuen Außenminister Miguel Abdón Saguier von der PLRA, als auch vom neuen Verteidigungsminister Nelson Argaña, Sohn des ermordeten Vizepräsidenten und Vertreter der Colorados, wird die Auslieferung des Exgenerals durch Argentinien, wo er nicht als politisch Verfolgter eingestuft wird, betrieben. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Paraguay und Argentinien könnten durch die Frage der Auslieferung in Zukunft beträchtlich belastet werden.

Politische Opposition in der Regierung

Unmittelbar nach dem Rücktritt von Cubas Grau wurde verfassungskonform der 53jährige Senatspräsident Luis Angel González Macchi zum neuen Staatsoberhaupt vereidigt. Er gehört ebenfalls der Coloradopartei an. Die ParaguayerInnen haben den Rücktritt von Cubas Grau und die Ernennung von González Macchi mit Freudenfesten und Feuerwerk gefeiert. Allerdings begrüßten sie so bisher jeden neuen Präsidenten.
Doch bisher steigerten sich bloß die Enttäuschungen: Während das Land sich wirtschaftlich am Boden befindet, ändert dies nichts an der Tatsache, daß sich sämtliche Präsidenten bisher als korrupt erwiesen. In seiner Antrittsrede versprach González Macchi den ParaguayerInnen ein Ende der Gewalt, kündigte aber auch an, daß die Zeit der Straflosigkeit beendet sei – eine klare Botschaft an Oviedo sowie an die Expräsidenten Cubas Grau und Wasmosy, gegen die sich die Verdachtsmomente wegen Korruption immer mehr erhärten.
Einerseits ist González Macchi ebenso wie einige der neu ernannten Coloradominister durch die Vergangenheit belastet: Er bekleidete bereits Ämter während der Stroessnerzeit. Andererseits geben erste Zeichen Anlaß zu verhaltenem Optimismus: Erstmals seit 1947 gibt es wieder vier Ministerposten, die durch die Oppositionsparteien besetzt werden, wie zum Beispiel das Amt des Außenministers. Eine Entlassungswelle in Armee und Polizei stärkten auch dort die demokratischen Kräfte. Die Oviedomilitärs, die nach dem Putschversuch 1996 entlassen und durch Cubas Grau wieder eingestellt worden waren, mußten erneut unverzüglich ihre Posten räumen. Hart ging man auch mit den Verantwortlichen in der Polizei um, die die Übergriffe der Oviedoanhänger und der eigenen Beamten auf die für Demokratie eintretenden Demonstranten ermöglicht hatten.
Zielstrebig soll mit der alle gewählten Parteien umfassenden Koalitionsregierung an die Lösung der drängenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme herangegangen werden, die während der politischen Krise fast unberücksichtigt blieben. Neue Konflikte scheinen jedoch vorprogrammiert: Weitere Privatisierungen etwa werden von den Colorados abgelehnt, während die Opposition für die Weiterführung der Privatisierungspolitik zur Konsolidierung der Staatsfinanzen ist. Im Gespräch sind neue Auslandskredite in Höhe von über zwei Milliarden Dollar, um die Wirtschaft anzukurbeln und aus der Krise zu führen. Eine einhergehende Auslandsverschuldung will man als Risiko tragen.
Gestärkt werden soll vor allem auch der Agrarexportsektor, um neben der Schaffung von Beschäftigung auch schnell Devisen ins Land zu holen. Mit einer EU-Kommission hat man bereits über eine neue wirtschaftliche Zusammenarbeit verhandelt.
Allerdings zeigte sich, daß der Ämterschacher der neuen Regierungskoalition erst einmal auch die neu geweckte Euphorie schnell zum Erlahmen bringen kann. Dies gilt nicht nur für die oberste Ebene der „Koalitionsregierung der Nationalen Einheit“, sondern vor allem auch für die Jobs in den Ministerien und Staatsbetrieben. Schon gab es massive Proteste und Streikdrohungen von Coloradomitgliedern, die bei der Verteilung der Posten leer ausgegangen sind. Mit vier Ministerien an die ehemaligen Oppositionsparteien Encuentro Nacional und Partido Liberal Radical Auténtico sehen viele der Mitglieder der Colorados ihre Felle davonschwimmen. Der öffentliche Dienst war bisher ihre alleinige Domäne.
Doch die Personalstellen, derzeit von Oviedoanhängern belegt, lassen sich aufgrund der schlechten Finanzsituation nicht von heute auf morgen umbesetzen. Im Finanzministerium drohen bereits Streiks, um die vorzeitige Entlassung der OviedosympathisantInnen zu erzwingen. Bisher haben nur die Oppositionsparteien erklärt, daß es ihnen nicht primär um Ämter, sondern um die Inhalte der Regierungsarbeit geht. So wollen die Liberalen des PLRA in einem Parteitag am 11. Juli darüber entscheiden, ob sie der Koalitionsregierung weiter angehören wollen oder nicht. Die Entscheidung des Encuentro Nacional dazu steht ebenfalls noch aus.

Gewählt wird – nur was?

Sicher scheint gegenwärtig, daß am 21. November diesen Jahres Neuwahlen durchgeführt werden. Unklar ist jedoch noch, ob nur der Vizepräsident neu gewählt wird oder auch der Präsidentenposten selbst zur Disposition steht. Die Verfassung ist in diesem Punkt nicht eindeutig. Sie sieht im Artikel 234 vor, daß der Präsident vom Vizepräsidenten, vom Vorsitzenden des Senats, des Abgeordnetenhauses und des Obersten Gerichts in genau dieser Reihenfolge vertreten wird. Eine Nachwahl für den Vizepräsidentenposten ist auch nur während der ersten drei Jahre einer Legislaturperiode vorgesehen. Nach strenger Auslegung der Verfassung braucht nur der Vizepräsident neu gewählt werden. González Macchi würde danach bis 2003 Präsident Paraguays bleiben können. Die Koalitionsvereinbarung sieht übrigens vor, daß ein Politiker der Oppositionsparteien das Amt des Vize bekleiden soll. Noch haben weder VerfassungsrechtlerInnen und schon gar nicht die WählerInnen das letzte Wort gesprochen.

Politische Alternativen

Die Coloradopartei, bisher äußerst autoritär von Führern im Stile von Caudillos gelenkt, wird in der nächsten Zeit die stärksten Veränderungen durchmachen. Mit Oviedo und Cubas haben zwei der drei wichtigsten Flügel der Partei ihre Führer verloren. Wahrscheinlich wird Oviedos Bewegung UNACE in der Bedeutungslosigkeit versinken. Wie angedeutet setzt der Verdrängungsprozeß aus öffentlichen Ämtern und damit potentiellen Machtpositionen bereits im vollen Umfang ein. Zwar besitzt die UNACE noch einige Parlamentsabgeordnete, aber auch diese werden in die Isolation gedrängt. Bei der Vereidigung eines Oviedoanhängers als Nachfolgekandidat verlassen regelmäßig alle Abgeordneten ihre Plätze und das Parlament ist nicht beschlußfähig, der Eid kann nicht abgenommen werden. Ein kleiner, aber wirksamer Trick.
Der Argañaflügel der Coloradopartei wird bestehen bleiben, wer jedoch die Führung übernehmen wird, ist noch ungewiß. Im Gespräch ist Nestor Argañas, der bereits einen Ministerposten erhielt. Ebenfalls möglich wäre der Präsident der Coloradopartei, Bader Rachid Lichi. Auch im Flügel von Wasmosy brodelt es, die Korruptionsvorwürfe gegen den Expräsidenten werden immer lauter. Eigentlich besteht die Frage, was diese Partei außer Traditionsgefühl wirklich noch zusammenhält.
Falls es den beiden großen Oppositionsparteien, dem Partido Liberal Radical Auténtico und dem Partido Encuentro Nacional gelingen sollte, wieder gemeinsame Kandidaten für die Präsidentschaft zu nominieren, dürften sie dieses Mal die besten Chancen auf einen Sieg haben, obwohl das über Generationen geprägte Zugehörigkeitsgefühl zur Coloradopartei noch immer sehr stark ist: Die Partei zählte unter Stroessner weit über eine Million Mitglieder, was immerhin ein Drittel der EinwohnerInnen Paraguays entspricht.
Eine nennenswerte Partei aus dem links neben dem sozialdemokratisch ausgerichteten Partido Encuentro Nacional liegenden Spektrum ist nicht in Sicht. Paraguay wurde in den 35 Jahren unter Stroessner mit einem absoluten Antikommunismus indoktriniert, der alle links orientierten Bewegungen rücksichtslos verfolgte. Die kleineren Parteien wie der Partido Comunista Paraguayo oder der Partido Democrático Popular sind defacto bedeutungslos. Die Partei der Arbeit ist in der Gewerkschaftsbewegung aufgegangen. Konsequentester Hoffnungsträger für eine dauerhafte demokratische Entwicklung ist nur der Partido Encuentro Nacional und, abgesehen von einigen personalistischen Tendenzen auch noch der traditionelle Partido Liberal Radical Auténtico.
Neuste Umfragen im Auftrag der Zeitung ABC Color von Mitte des Monats haben gezeigt, daß die neue Regierung von Luis Angel González Macchi eine breite Unterstützung in der Bevölkerung genießt. Landesweit sind 73,2 Prozent mit der Arbeit der Exekutive einverstanden. Noch mehr, 74,2 Prozent der WählerInnen, zeigen sich mit der Art der Amtsübernahme durch González Macchi sowie der Kabinettszusammensetzung zufrieden und sehen darin eine starke Verbesserung der Situation des Landes. Würden heute Wahlen stattfinden, würde der Präsident mit 31,8 Prozent der Stimmen sein Amt behalten, abgeschlagen mit 13,4 Prozent würde der Politiker Guillermo Caballero Vargas vom Partido Encuentro Nacional folgen.
Auch die Arbeit des Parlaments wird überwiegend positiv bewertet: Immerhin 62,3 Prozent sehen die Tätigkeit der Abgeordneten als positiv an, nur 16,6 Prozent kritisieren das Parlament.
Allerdings kann sich die Gunst der WählerInnen jederzeit ändern und bis zum 21. November ist es noch lang.

KASTEN:
Wer ist wer in Paraguay

Asociación Nacional Republicana (Partido Colorado)
Gegründet: 1887
Ideologie: Konservativ, nationalistisch, personalistisch
Eingetragene Wähler: 943.759
Seit 1940 Regierungspartei

Partido Liberal Radical Auténtico
Gegründet: 1977 (geht auf den Partido Liberal von 1887 zurück)
Ideologie: liberal (als traditionelle Partei kaum Unterschiede zu den Colorados)
Eingetragene Wähler: 575.305

Partido Encuentro Nacional (Partei der Nationalen Zusammenkunft)
Gegründet: 1991
Ideologie: sozialdemokratisch, basisdemokratisch, sozial marktwirtschaftlich
Eingetragene Wähler: 130.468

Partido Revolucionario Febrerista
Gegründet: 1936
Ideologie: sozialdemokratisch
Eingetragene Wähler: 35.702

Partido Democrata Cristiano
Gegründet: 1960
Ideologie: Christlich-sozial
Eingetragene Wähler: 12.300

Partido Comunista Paraguayo
Gegründet: 1928
Ideologie: marxistisch
Eingetragene Mitglieder: unbekannt

Partido Humanista
Gegründet: 1989
Ideologie: ökologisch
Eingetragene Mitglieder: unbekannt

Partido Democrático Popular
Gegründet: 1990 (ging aus gleichlautender Bürgerbewegung unter Stroessner hervor)
Ideologie: antiimperialistisch, links, sozialistisch
Eingetragene Mitglieder: unbekannt

Die Gewalt rückt ins Zentrum

Es ist Mittagszeit im Zentrum von Buenos Aires. Ohrenbetäubender Lärm dringt durch die Straßenschluchten der argentinischen Metropole. Die spätsommerliche Hitze treibt den in ihre Mittagspause strömenden Menschen den Schweiß auf die Stirn. Taxis haben die breiten Avenidas zur Rennstrecke auserkoren. An der Kreuzung langweilt sich ein dunkelblau gekleideter Polizist, die Mütze tief ins Gesicht gezogen. Schlagstock, Handschellen, Pistole, eine Unmenge von Taschen am Gürtel.
Marta Palma Echeverría hat gerade die Tür ihrer kleinen Bar in der Avenida Corrientes aufgesperrt. Schon seit Jahren führt sie gemeinsam mit vier anderen die Kneipe, eine Mischung aus Café und Restaurant. Bis der Koch kommt, möchte sie die Stühle von den Tischen gestellt haben, die Kasse überprüfen, einige Dinge vorbereiten. Wenige Minuten später erscheint Carolina, die nachmittags die wenigen Gäste bedient. Der größte Teil der Kundschaft kommt erst gegen Abend, wenn die porteños, wie die Bewohner der argentinischen Hauptstadt genannt werden, die zahlreichen Theater und Kinos auf dem Broadway von Buenos Aires aufsuchen und in das gegenüberliegende Kulturzentrum La Plaza, ins benachbarte Teatro Astral oder ins unweit entfernt liegende Teatro General San Martín gehen.

Überfall mit Angstschweiß

Beide Frauen stehen gerade an der Theke, als plötzlich zwei Jungen durch die Glastür in die Kneipe stürmen. Die beiden 15- bis 16jährigen fackeln nicht lange, einer von ihnen zieht eine Pistole unter seinem T-Shirt hervor, hält sie an Carolinas Stirn, schreit, Marta solle alles Geld herausrücken, das in der Kasse ist. Die Wirtin öffnet die Kasse, doch der andere der beiden, etwas kleiner, stößt sie beiseite, zieht die wenigen Geldscheine aus den Fächern. Er sagt nichts, über sein Gesicht rinnen Schweißperlen. Er hat Angst. Der andere brüllt, schubst Carolina weg, wartet auf seinen Kumpanen, der über die Theke springt. Beide rennen nach draußen. In wenigen Augenblicken ist alles vorbei, wie ein Film in Zeitraffer, und unversehens sind die zwei Halbwüchsigen in der Menge verschwunden.
Marta und Carolina haben Glück gehabt. Nicht immer kommen die Opfer der Überfälle, die in Buenos Aires in letzter Zeit stetig zugenommen haben, ungeschoren davon. Die zumeist jugendlichen Täter sind nicht nur fast immer bewaffnet, sie sind oft nervös oder stehen unter Drogen. Und viel schlimmer: Sie haben nichts zu verlieren. Die chorros, wie in Lateinamerika die Diebe genannt werden, kommen aus den Vorstädten, dort, wo in den villas miserias die Armut grassiert, viele Menschen arbeitslos sind und die Kinder keine Perspektive haben. Ihre Eltern können ihnen keine anbieten. Viele Frauen sind alleinerziehend, da sich der Mann aus dem Staub gemacht hat, weil er die Familie nicht ernähren kann. Oft kommen sie aus der Provinz, aus dem Nordwesten, aus Tucumán, Santiago del Estero, Salta oder San Salvador de Jujuy, wo die Arbeitslosigkeit noch höher liegt als in der Bundeshauptstadt und in der Provinz Buenos Aires. Oder sie sind Immigranten aus den noch ärmeren Nachbarländern Bolivien oder Paraguay, oder solche, die den weiten Weg aus Kolumbien oder Peru an den Río de la Plata gemacht haben, um sich am Stadtrand der 15-Millionen-Megalopolis niederzulassen, zwischen streunenden Hunden und Wellblechsiedlungen.
Die brasilianische Wirtschaftskrise hat Argentinien, das mit dem großen Nachbarn im Norden über den Mercosur, den gemeinsamen Markt, verbunden ist, schwer getroffen. Die Arbeitslosigkeit erlebte einen neuen Schub. Offiziell soll sie bei 14 Prozent liegen, in Wirklichkeit sind eher doppelt so viele Menschen ohne feste Arbeit. Und wer einen Job hat, bekommt wenig, 300 oder 500 Pesos im Monat – Peso und Dollar stehen immer noch im Verhältnis 1:1. In einer Stadt wie Buenos Aires, wo die Preise auf europäischem Niveau liegen, ist dies zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig. „Feste Arbeit ist rar, dagegen blüht der informelle Sektor. Die Leute schlagen sich mit Gelegenheitsjobs oder als Straßenhändler durch“, sagt Natalia, die Jura an der Universität Buenos Aires studiert hat und jetzt Ledergürtel und -taschen im Centenario-Park vekauft. Davon kann sie einigermaßen leben, für große Sprünge reicht es nicht. Eine kleine Wohnung im Viertel Villa Crespo, Miete 300 Pesos ohne Nebenkosten, ein Fernseher auf Raten, Futter für die zwei Katzen, einmal Ausgehen im Monat, mehr nicht.
„Früher war die Stadt relativ sicher“, erzählt Natalia. Aber die Armut ist immer schlimmer geworden.“ Nicht nur die Unterschicht ist davon betroffen, mehr und mehr Leute aus der einst für südamerikanische Verhältnisse breiten Mittelschicht fallen durch das soziale Sieb und leben in Armut und Unsicherheit. „Unsere Politiker sind schuld“, sagt Natalias Freundin Graciela, die Räucherstäbchen verkauft. „Die belügen uns nur. Präsident Menem hat das Land in die Hände der Mafia gegeben, die staatlichen Unternehmen an das Ausland verscherbelt.“ Die neoliberale Wirtschaftspolitik von Carlos Menem und seiner Wirtschaftsminister Domingo Cavallo und Roque Fernández war erfolgreich – für die Reichen. Für die Armen und die Mittelschicht hieß das: Rückgang des Realeinkommens, Arbeitslosigkeit, steigende Kriminalität.

Argentinien lateinamerikanisiert sich

„Argentinien hat sich lateinamerikanisiert. Der Mittelstand verschwindet. War Buenos Aires einst eine der sichersten Millionenstädte Lateinamerikas, war die Straßenkriminalität eine Angelegenheit der kleinen Taschendiebe und Trickbetrüger, so sind die Räuber heute schwer bewaffnet“, weiß der Rechtsanwalt Ricardo Rosental. „Dazu kommt die ansteigende Drogenkriminalität.“
Cristian, der aus der nordöstlichen Provinz Missiones stammt, hat eine Arbeit als Kellner gefunden: „In der Provinz gab es keine Arbeit. Meine fünf Brüder und ich lungerten nur herum oder drehten krumme Dinger, kleine Diebstähle oder Drogendeals. Wir waren richtige kleine chorros. „Eduardo Duhalde ist oberster Chef der Provinzpolizei und gleichzeitig einer der wichtigsten Leute im Drogenhandel“, sagt Cristian. Er meint den Gouverneur der Provinz Buenos Aires, der sich für die Präsidentschaftswahlen am 24. Oktober bewirbt. Bis dahin muß Duhalde noch die internen Wahlen der peronistischen Regierungspartei, der Partido Justicialista (PJ), überstehen und gegen Menems Favoriten Ramón Ortega antreten – auch der Ex-Formel-1-Fahrer Carlos Reutemann war zeitweise im Gespräch. Und Menem setzt alle Hebel in Bewegung, um durch einen Beschluß des obersten Gerichts zum dritten Mal antreten zu dürfen. Dann kann sich der Kandidat der PJ erst mit dem Gegenkandidaten messen, dem Bürgermeister von Buenos Aires, Fernando De la Rua, von der eher sozialdemokratisch orientierten Unión Cívica Radical, der ältesten Partei Argentiniens. De la Rua setzte sich in den Vorwahlen des Oppositionsbündnisses Alianza gegen Graciela Fernández Meijide von der Bürgerrechtsbewegung FREPASO durch, Mutter eines während der Militärdiktatur Verschwundenen.

Kein Vertrauen in Politik und Polizei

Natalia, Graciela, Marta, Carolina, Ricardo und Cristian: Sie alle sind für Meijide oder De la Rua. Duhalde schenken sie kein Vertrauen. „Er gibt sich jetzt sozial, eröffnet Schulen und zeigt sich bei jeder Gelegenheit. Aber er ist ein Wolf im Schafspelz“, sagt Natalia. Graciela pflichtet ihr bei: „Die Provinzpolizei ist eine der größten Verbrecherbanden des Landes.“ Die Polizei der Provinz Buenos Aires ist berüchtigt für ihre Korruption und für ihre Skandale: Die Polizei war verwickelt in die Attentate auf die israelische Botschaft 1992 und auf das jüdische Kulturzentrum 1994 mit über hundert Toten, wenn nicht gar selbst Täter und Auftraggeber.
„Wie können wir der Polizei vertrauen, wenn sie selbst kriminell oder zumindest unfähig ist“, mein Natalia. Die Polizei ist zudem hilflos gegen die geballte Explosion der Kriminalität. Eine Hilflosigkeit, die sich in Schießwut ausdrück: Täglich liest man, daß einer der chorros, der Diebe, erschossen worden ist von einem Polizeibeamten. Und das löst Gegengewalt aus: Einem Autofahrer wurde in den Kopf geschossen, als er an einer Kreuzung hielt und sich weigerte, seine Armbanduhr einer Gruppe von Jugendlichen zu geben; dem Gast in einem Café wurde eine tödliche Kugel verpaßt, als er bei einem Überfall selbst zur Waffe greifen wollte.
Nach einer Untersuchung des argentinischen Justizministeriums sind 40 Prozent der Einwohner von Buenos Aires im vergangenen Jahr Opfer von Einbrüchen oder Überfällen geworden. Folge sind Ohnmacht und Resignation. Die Wut vieler Menschen richtet sich nicht nur auf die Regierenden, sondern auf die noch Schwächeren: Die Ausländerfeindlichkeit gegenüber den Einwanderern aus den Nachbarstaaten hat zugenommen – was die Regierung gerne aufgreift. Sie legte kürzlich ein neues Gesetz gegen illegale Immigranten vor. Und die Polizei macht Jagd auf die Illegalisierten. Kriterien sind: dunkle Haut, schwarze Haare und indianisches Aussehen. Die politische Opposition im Parlament hüllt sich in Schweigen. Und Menem sammelte mit seiner harten Linie Pluspunkte im Kampf um eine Verfassungsreform, die vor allem ein Ziel hat: ihm eine erneute Kandidatur zu ermöglichen.
Derweil befassen sich die Medien ausführlich mit dem Thema Kriminalität. Andrea Rodríguez von der neuen kritischen Wochenzeitschrift veintiuno (einundzwanzig), die von dem von Página 12 kommenden Jorge Lanata gegründet wurde, sprach mit dem ehemaligen Chef der New Yorker Polizei, William Bratton, der am Río de la Plata zu Gast war. Sowohl Menem als auch De la Rua liebäugeln mit dem New Yorker Modell der „Nulltoleranz“, das in Nordamerikas Big Apple mitverantwortlich für den Rückgang der Kriminalität war – eine Politik, deren Kehrseite auch eine weit ausufernde polizeiliche Brutalität war.
Bratton antwortete auf die Frage der Übertragbarkeit der „Nulltoleranz“ auf Buenos Aires mit dem Hinweis, daß seine Vorgehensweise nicht umzusetzen sei: „Die Kriminalität sinkt nicht, solange es Korruption bei der Polizei gibt. In New York gibt es keine Gratis-Pizza als Schutzgeld für Polizisten.“ Die Löhne und Gehälter der Polizisten müßten angemessen sein. Bratton vergaß zu sagen, daß der Rückgang der Kriminalität in New York auch am wirtschaftlichen Wiederaufschwung und der verbesserten Arbeitsmarktsituation lag, eine Perspektive, die für argentinische Verhältnisse momentan utopisch scheint.
Marta steht noch unter dem Schock des Überfalls. Zwei Polizisten, die mit heulende Sirene angekommen waren, nehmen desinteressiert die Personalien auf und registrieren den Tathergang. Eine Chance auf Aufklärung besteht nicht. Marta zittert. Nur langsam schöpft sie wieder Kraft, um weiterzuarbeiten. Die ersten Gäste kommen. Sie sagt: „Wir müssen weitermachen. In unserem Land gibt es so viele arme Menschen, denen es an Geld, Bildung und an einer guten Regierung fehlt. Hoffentlich wird es irgendwann mal anders. Am schlimmsten ist die fehlende Aussicht auf Verbesserung.“

Die Bevölkerung schließt sich ein

Ricardo, der Rechtsanwalt, hat den Eingang zu seiner Dachterrasse im Stadtviertel Palermo Viejo mit einem Gitter versehen. Er meint: „Jeder muß damit rechnen, daß er überfallen wird. Wir schließen uns allmählich ein in unseren Wohnungen, leben in einem goldenen Käfig, wie es in brasilianischen Städten schon lange üblich ist. Buenos Aires ist dabei, Rio als gefährlichste Stadt im Mercosur zu überholen.“ Selbstkritisch fügt Ricardo hinzu: „Wir glaubten immer, wir seien eine europäische Exklave auf einem anderen Kontinent. Nun steht Lateinamerika mit all einen Problemen vor der Tür: Willkommen, Lateinamerika.“

Schuld haben immer die Anderen

Drei Damen besteigen mit einiger Mühe den Bus Nummer 92. Sie unterhalten sich laut. Plötzlich verkündet die eine mit schriller Stimme: „Die muß man alle töten, bevor sie geboren werden.“. Ihre Freundinnen nicken zustimmend. Dreimal noch wiederholt die Dame diese Forderung. Keiner im Bus zeigt auch nur die leisteste Regung. Eine Szene, beobachtet vor wenigen Wochen in Buenos Aires, Argentinien. „Die“ waren in diesem Fall Peruaner.
Es ist Wahlkampf in Argentinien. Es geht um den Präsidentenstuhl, den Carlos Menem im Oktober räumen muß. Und da wird schon mal zu schmutzigen, auch in Europa bewährten Mitteln gegriffen: die Angst vor dem Fremden, die Suche nach Schuldigen für Arbeitslosigkeit und Kriminalität und das Anbieten einfacher Lösungen. Argentinien überschwemmt eine Welle der Ausländerfeindlichkeit. Eigentlich ein Paradox in einem Land, in dem ein großer Bevölkerungsanteil, wenn nicht der größte, Nachfahren von spanischen und portugiesischen Eroberern und italienischen, türkischen, russischen, polnischen, englischen, deutschen…. Einwanderern ist. „Die Ausländerfeindlichkeit in einem Land von Immigranten ist eine Verrücktheit“, erklärt Héctor Recalde, Doktor der Soziologie und Geschichte. „Man läßt jetzt andere erleiden, was unsere Großeltern erleiden mußten.“
Anfang Januar brach Carlos Menem die Polemik vom Zaun, als er im Kongreß einen Vorschlag zur Änderung des Immigrationsgesetzes vorlegte. Nach seiner Ansicht sind neue Kontrollen an den Grenzen nötig, „um skrupellosen Schmugglern das Handwerk zu legen“. So sieht der Vorschlag bis zu sechs Jahre Gefängnis für all jene vor, die bei illegaler Einwanderung helfen. Die Strafe erhöht sich auf bis zu acht Jahre für „Gewohnheitstäter“. Und sollte ein öffentlicher Funktionär die Hände mit im Spiel haben, so droht sogar lebenslänglich. Diejenigen, die Einwanderern ohne amtliche Aufenthaltsgenehmigungen Arbeit geben, müssen mit Geldbußen von 500 bis 50.000 US-Dollar rechnen.
Aber auch die „Legalen“ müssen sich nach dem neuen Gesetz verschärften Auswahlkriterien für die Einreise nach Argentinien unterziehen. Und wer straffällig geworden ist, wird bei einer Strafe von mehr als zwei Jahren Gefängnis abgeschoben.
Auch wenn sich die Mehrzahl der Vorschläge für die Gesetzesänderung auf die Helfer der illegalisierten Einwanderer und weniger auf diese selbst bezieht, so richten doch Medien und Politiker, Menem eingeschlossen, ihr Hauptaugenmerk auf die „Invasion“ aus den Nachbarstaaten. Denn im Blickpunkt der Kampagne stehen vorallem die bolitas – die Bolivianer, die peruches – die Peruaner und die paraguas (Regenschirme) – die Paraguayer. Solche Umgangssprache erinnert fatal an Polacken und Kanacken. Den Nachbarn wird von höchster Stelle die Schuld für Unsicherheit in den Straßen und Arbeitslosigkeit in die Schuhe geschoben. Nach Angaben des Sekretärs für Einwanderung, Hugo Franco, werden 60 Prozent der Delikte von Ausländern begangen. Er meint außerdem, eine Einwanderungswelle beobachten zu können. Seine Äußerungen waren der Anlaß für den Vorschlag Menems.
Andere Zahlen, zum gleichen Zeitpunkt veröffentlicht, belegen allerdings das Gegenteil. Bei einem Durchschnitt von 5 Prozent Ausländern in ganz Argentinien während der letzten Jahre kann von einer Einwanderungswelle wahrlich keine Rede sein. (Zum Vergleich: 1914 waren 30 Prozent der Argentinier Ausländer). Von diesen 5 Prozent werden außerdem laut dem Gerichtshof von Buenos Aires nur ganze 10 Prozent straffällig.
Der Aufschrei in Argentinien war angesichts der Zahlendrehereien der Regierung groß. Opposition, Kirche und Menschenrechtsorganisationen warfen Menem, seinen Ministern und der Polizei Ausländerfeindlichkeit vor. Der Gesetzesvorschlag ist für sie zudem nicht mit der Verfassung in Einklang zu bringen, die in der Präambel „allen, die argentinischen Boden besiedeln wollen“ ihre Rechte garantiert.

Daily Crime

Doch auf subtile Weise bestätigen Fernsehen und Zeitungen die Version der Regierung. Polizeiaktionen gegen illegale Straßenhändler werden täglich live übertragen. Schießereien und Raubüberfälle sind in Argentinien sowieso Lieblingsthema – jetzt haben sie als Hauptaktoren die Nachbarn aus Peru und Bolivien. Und selbst gut gemeinte Artikel schlagen ins Gegenteil um. So veröffentlichte die Tageszeitung „Página/12“ eine Reportage über die unmöglichen Lebensbedingungen peruanischer Familien, die ein leerstehendes Haus besetzten, weil ihnen nichts anderes übrigblieb. Die Zeitung merkte nicht, daß sie genau die Klischées bediente: Armut, Kinderreichtum, Aneignung „argentinischen“ Eigentums und Heimlichtuerei in dunklen Ecken.

Die Vorurteile zeigen auch die Idiotie der Kampagne

Geurteilt wird nach dem Äußeren. Selbst der Chef der Polizei gab das zu. Es wird verhaftet, wer dunkle Haut, ein breites Gesicht und glattes schwarzes Haar hat und von kleiner untersetzter Statur ist. Verwechslungen mit „ehrwürdigen“ Argentiniern des gleichen Aussehens enthüllen in ihrer ganzen Idiotie die Kampagne.
Peru und Bolivien, für die Argentinien wichtiger Handelspartner ist und die auf eine Aufnahme in den Mercosur, den gemeinsamen Markt von Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay, hoffen, standen dem Vorstoß Menems ersteinmal sprachlos gegenüber. Dann entschlossen sie sich, die genauere Kontrolle der Grenze zu begrüßen. Meterlange Schlangen bildeten sich vor ihren Konsulaten in Buenos Aires. Peruaner und Bolivianer versuchten, in Anbetracht der Situation alle Papiere in Ordnung zu bringen. Und beschwerten sich über den Umgang mit ihnen auf der Straße, wo sie alle wie potentielle Täter schief angesehen werden und jederzeit von der Polizei kontrolliert werden können.
Mittlerweile werden nicht nur in den Medien der Andenländer, sondern auch innerhalb ihrer Regierungen Stimmen laut, die solche diskriminierenden Methoden verurteilten. Aber ihre Empörung ist gedämpft. Zu viel stände auf dem Spiel, würde man sich mit einem der wirtschaftlich entwickeltsten und einflußreichsten Länder im Süden Lateinamerikas anlegen.
Die Welle, die Klischees heraufbeschwört und bis zur Unkenntlichkeit vereinfacht, wird sich nur noch schwer aufhalten lassen. Von oberster Stelle, aus dem Munde des Innenministers Carlos Corach beispielsweise hört man die Forderung nach Arbeit für Argentinier. Und die Bevölkerung klatscht Beifall. Laut einer Umfrage der politischen Zeitschrift „Siglo XXI“, einer der kritischsten im Land, halten acht von zehn Argentiniern die Maßnahmen von Regierung und Polizei für richtig. Und die Popularität der Partei Menems steigt langsam, aber sicher, von der Talsohle, auf die sie gesunken war, wieder in die Höhe. Das Wahlkonzept scheint aufzugehen. Trotz Brasilienkrise –oder vielleicht auch deshalb.
Noch brennen in Argentinien keine Häuser. Noch ziehen Skinheads, die es auch gibt, nicht mit Baseballschlägern gegen Ausländer los. Und Argentinien ist nicht Deutschland. Doch der Samen ist gesät. In einem Land, in dem europäische, „weiße“ Einwanderung nicht abgelehnt worden war, wird den indigenen Nachbarn jetzt die Tür vor der Nase zugeschlagen.

Akteneinsicht gefordert

Wolfgang Kaleck, sie sind im Vorstand des republikanischen Anwältinnen- und Anwaltsvereins, der wiederum der „Koalition gegen Straflosigkeit – Wahrheit und Gerechtigkeit für die deutschen Verschwundenen in Argentinien“ angehört. Wie sehen sie den Stand der Dinge?

In den letzten zwei Jahren ist bei den Ermittlungen in Spanien eine Menge passiert. Praktisch jeder Gesprächspartner, den ich bei meinem Besuch in Argentinien getroffen habe, hat sich in den letzten Monaten in Spanien aufgehalten und dort eine Zeugenaussage gemacht oder wird in den nächsten Monaten eine machen. Im Zuge der Ermittlungen bei Verschwundenen spanischer Staatsangehörigkeit tauchten mehr und mehr Dokumente auf [Siehe LN 293]. Die „Operation Condor“ wird aufgeklärt, und in Paraguay wurden die sogenannten „Archivos del Terror“ ausfindig gemacht, in denen umfangreiche Dokumente lagern [siehe folgenden Artikel]. Wir werden in Deutschland vielleicht nicht soviel erreichen wie es in Spanien der Fall ist. Wir können aber das Ganze insoweit unterstützen, daß auch in den deutschen Fällen ermittelt wird und die Bundesregierung dazu gebracht wird, diese Strafverfahren im europäischen und internationalen Zusammenhang zu unterstützen.

Sie meinen die Fälle, die letztes Jahr hier in Deutschland eingereicht wurden?

Ja, wir haben im letzten Jahr vier Fälle von Verschwundenen deutscher Staatsangehörigen hier in Deutschland zur Anzeige gebracht. Seit Juni 1998 ermittelt die Staatsanwaltschaft am Landgericht Nürnberg-Fürth [Siehe LN 288]. Ich sehe die Einreichung solcher Strafanzeigen auch als den Beginn einer Dynamik, die nur dann zu Ergebnissen führt, wenn sie nicht nur juristisch angegangen, sondern auch durch eine politische und publizistische Kampagne begleitet wird. Nochmal zu Spanien: Dort hat man es geschafft, innerhalb von zweieinhalb Jahren die Öffentlichkeit und Teile der Justiz für die Sache einzunehmen.

Gibt es eine ungefähre Zahl der während der Militärdiktatur in Argentinien verschwundenen Deutschstämmigen?

Es gibt eine Liste mit über 70 deutschen und deutschstämmigen Verschwundenen. Diese Liste wird aber weiter fortgeschrieben, nicht zuletzt, weil durch die Strafanzeigen in Deutschland weitere Angehörige von Verschwundenen neue Hoffnung auf eine mögliche Aufklärung schöpfen und sich melden. Wir wollen in diesem Jahr weitere zehn bis zwölf Fälle zur Anzeige bringen. Konkret werden wir zunächst Ende April, Anfang Mai vier Fälle von Verschwundenen deutschstämmiger Juden einreichen, so beispielweise den Fall der Tochter von Ellen Marx. Frau Marx mußte 1939 aus Berlin emigrieren und ging nach Argentinien. Später wurde sie von den Nazis ausgebürgert, ließ sich aber in der Bundesrepublik wieder einbürgern. Sie versteht sich als eine in Argentinien lebende Deutsche. Am 21. August 1978 wurde ihre damals 28jährige Tochter Leonora Marx von argentinischen Militärs verschleppt und gilt seitdem als verschwunden.

Gegen wen richten sich die Anzeigen?

Gegen die argentinischen Militärs, die Mitglieder der Junta, die Oberbefehlshaber der einzelnen Zonen und, soweit sie namhaft gemacht werden können, gegen die Verantwortlichen der Gefangenenlager. Bei den Nürnberger Fällen wurden 41 Militärs angezeigt. In den zehn, zwölf Fällen, die ich gerade angesprochen habe, haben wir nur ansatzweise herausgefunden, wo ein Teil der Verschwundenen hingekommen ist und, können jetzt nachforschen, welche Militärs für die Lager verantwortlich waren.

Die Militärjunta ist damals verurteilt worden, aber die einzelnen Lagerkommandanten fielen unter die argentinischen Amnestiegesetze. Woher schöpfen Sie die Hoffnung, daß ein Prozeß, der in Argentinien von Rechts wegen ausgeschlossen ist, in Deutschland nachgeholt werden kann?

Zunächst einmal besteht das juristische Ziel darin, die deutsche Strafjustiz einzuschalten, das heißt alle verfügbaren Informationen über die Einzelfälle zu sammeln und damit das System des Verschwindenlassens aufzuarbeiten. Ohne dieses System zu verstehen, kann niemand begreifen, warum die einzelnen Menschen verschwunden sind. Ein weiteres Ziel ist der Erlaß von internationalen Haftbefehlen gegen die Täter. Pinochet sitzt seit vier Monaten in London in Auslieferungshaft. Lassen Sie einen dieser Lagerkommandanten im uruguayischen Punta del Este Badeurlaub machen und lassen Sie das jemanden mitbekommen. Pinochet ist sicher ein Glücksfall, aber es ist schon viel gewonnen, wenn keiner dieser Typen sich mehr außer Landes traut.

Haben Sie außer den Zeugenaussagen von Eltern weiteres belastendes Material?

Es gibt zum Glück einige Zeugenaussagen von Nachbarn oder Arbeitskollegen, da das Verschwindenlassen zum Teil auch sehr öffentlich abgelaufen ist. Die Verhaftungstrupps haben die Menschen aus ihren Wohnungen geholt oder am Arbeitsplatz verhaftet. Und es gibt viele Ex-Gefangene, die sehr gut organisiert sind und ein gutes Informationsnetz haben. Von diesen ehemaligen Gefangenen erfahren wir dann teilweise etwas über den Verbleib der Verschwundenen, wenn sie nicht gleich in den ersten Tagen nach der Verhaftung umgebracht wurden. Oft war es aber einfach so, daß Eltern gemerkt haben, daß ihr Sohn oder ihre Tochter auf dem Weg von A nach B verschwunden ist, und nichts in Erfahrung bringen konnten.

Sie wollen mit den Strafanzeigen auch eine politische und publizistische Kampagne anstoßen. Glauben Sie, daß die Schröder-Regierung ein Interesse daran hat, bei der damaligen SPD-FDP-Koalition unter Helmut Schmidt genauer nachzuforschen?

Die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen in Argentinien fielen voll und ganz in diese Periode der Schmidt/Genscher-Regierung. Außenminister Genscher prägte im Umgang mit der Militärdiktatur den verklärenden Begriff der ‘Stillen Diplomatie’. Letztlich wurde aber eine Politik betrieben, bei der die wirtschaftlichen und militärischen Interessen den Vorrang vor Menschenrechten besaßen. Wir gehen davon aus, daß die Bundesregierung und die deutsche Diplomatie in den Jahren der Diktatur nicht alles getan haben, um das Leben deutscher Staatsbürger, aber auch das anderer Nationalitäten, aus den Fängen der Militärs zu retten. Wir fordern von einer rot-grünen Bundesregierung, daß die Rolle der Regierung unter Helmut Schmidt und der deutschen Diplomatie während der Militärdiktaturen in Chile, Uruguay und Argentinien aufgearbeitet wird. Der erste Schritt dazu wäre eine Öffnung der Archive des Außenministeriums und der entsprechenden Botschaften. Wenn eine US-Regierung zumindest in Ansätzen einräumt, in den 70er Jahren bei ihrer Lateinamerikapolitik Fehler gemacht zu haben, dann sollte der kleinere Bündnispartner Deutschland dazu auch in der Lage sein. Wir fordern die Bundesregierung auf, daß sie sich dafür einsetzt, endlich alle Informationen, die es zweifelsohne über den Verbleib der Verschwundenen gibt, auf den Tisch kommen zu lassen. Wie jede gute Bürokratie hat auch die argentinische Militärbürokratie mit der Wiedereinführung der Demokratie 1983 nicht alle Akten vernichtet. Außerdem leben die Täter zum Großteil noch und können Auskunft geben. Sie mögen zwar nach argentinischem Recht nicht mehr bestraft werden können, aber niemand hindert die argentinische Regierung daran, diese Menschen vorzuladen und zu befragen.

Pressegespräch im FDCL vom 1. März 1999

Der tödliche Duft der DINA

Pinochet will mich ermorden lassen!” – mit diesem Schrei platzt im November 1992 ein hysterischer Mann in die Polizeiwache von Parque del Plata, einer Kleinstadt in der Nähe von Montevideo. Was sich anschließt, scheint die Materialisierung eines Agententhrillers zu sein, die den beschaulichen Badeort für einen kurzen Moment aus seiner frühsommerlichen Beschaulichkeit reißt. Innerhalb kürzester Zeit werden vor dem perplexen diensthabenden Kommissar ein Offizier des uruguayischen Militärgeheimdienstes sowie ein pensionierter Marinekapitän vorstellig, mit durchaus unterschiedlichen Versionen dessen, was geschehen ist. Letzterer nimmt den Unbekannten, einen Chilenen, in Schutz: Dieser sei vom uruguayischen Militär entführt worden, seinen Bewachern nun entkommen, und habe ihn um Hilfe gebeten. Der Geheimdienstler bedrängt den Polizisten, dieser möge den Kollegen von den Streitkräften seine Zusammenarbeit nicht verweigern und ihm den vermeintlichen Entführten, einen geisteskranken Kriminellen unter seiner Obhut, wieder überlassen. Der Polizeikommissar weiß nicht, wem er Glauben schenken soll, nimmt den völlig aufgelösten Chilenen aber erst einmal mit ins örtliche Krankenhaus, wo ihm der diensthabende Arzt ein Beruhigungsmittel verabreicht und dessen wirre Aussagen im Stationsbuch festhält. Bei der Rückkehr wartet auf der Wache jedoch bereits eine ganze Militäreinheit. Der Polizeichef, in Begleitung einiger Militäroffiziere in Zivil, ist ebenfalls anwesend und befiehlt dem Kommissar, ihm den Chilenen anzuvertrauen. So geschieht es, und bevor der Spuk ein Ende hat, werden auch noch das polizeiliche und das ärztliche Protokoll vernichtet, in denen die Zeugenaussagen dieses seltsamen Falls festgehalten waren.

Autobomben und Giftgas

Was der uruguayische Journalist Samuel Blixen auf den ersten Seiten seines im Dezember 1998 erschienenen Buches Operación Cóndor ausbreitet, ist eine Episode des „Fall Berríos“, ein Beispiel für die institutionalisierte Kooperation der militärischen Geheimdienste des Cono Sur, die eben als Operation Cóndor bekannt geworden ist. Der zu Tode geängstigte Chilene, Eugenio Berríos, dessen Leiche in der Tat einige Jahre später am Ufer des Río de la Plata auf den Sand gespült werden wird, ist dabei kein typisches Opfer der südamerikanischen Diktaturen, sondern eine skurrile Kreatur der DINA, des berüchtigten chilenischen Geheimdienstes, der in den ersten Jahren nach dem Putsch Tausende von Oppositionellen folterte und verschwinden ließ. Blixen schildert den Werdegang Berríos’, der innerhalb der perfiden Maschinerie der DINA als Chemiker und Ingenieur für die Installierung einer wahren Hexenküche zuständig war. In einem geheimen Labor entwickelte er nach direkten Anweisungen von DINA-Chef Manuel Contreras eine Spielart des Giftgases Sarin, das – so mutmaßt Blixen – nicht nur zum raschen Exitus von Verhörten führen, sondern ambitionierteren Zwecken dienen sollte. Berríos arbeitete eng mit Michael Townley zusammen, einem US-Amerikaner im Dienste der DINA, der in Contreras’ Auftrag den einstigen Außenminister Allendes, Orlando Letelier, im Washingtoner Exil in die Luft sprengte.
Darf man Blixen Glauben schenken, war ursprünglich ein weniger geräuschvolles Vorgehen geplant gewesen: Berríos hatte einen Flakon „Chanel No. 5“ mit Sarin gefüllt. Das Gift sollte Letelier von einer Agentin auf die Haut appliziert werden; als Todesursache wäre wahrscheinlich ein Herzinfarkt diagnostiziert worden.

Ein Mitwisser zuviel

Warum Letelier schließlich nicht mit vermeintlichem Pariser Parfum sondern per Autobombe beseitigt wurde, bleibt unklar. Sicher ist jedoch, daß die Detonation unweit des Weißen Hauses die US-amerikanische Justiz und die Sicherheitsbehörden auf den Plan rief, was letztendlich zur Festnahme Townleys und – viel später und nur durch erheblichen diplomatischen Druck – zur Verurteilung von Manuel Contreras in Chile führte. Berríos, dem das chilenische Militär als zivilem Kollaborateur wenig Vertrauen entgegenbrachte, stellte nun als Mitwisser eine Gefahrenquelle im Contreras-Prozeß dar und wurde kurzerhand außer Landes gebracht. Hier reaktivierte man alte institutionelle Bande mit den Streitkräften Uruguays. Und als Augusto Pinochet im Februar 1993, wenige Monate nach den Vorfällen von Parque del Plata, in Montevideo weilte, war er möglicherweise nicht nur wieder einmal als Waffenverkäufer unterwegs: Als Verbindungsoffizier wurde ihm für seinen Aufenthalt ein gewisser Tomás Cassella zugeteilt. Eben jener war für die Verwahrung von Eugenio Berríos zuständig. Nach dem Fund des Leichnams von Berríos im Jahr 1995 datierten die Gerichtsmediziner dessen Tod auf den Zeitraum kurz nach der Visite des chilenischen Ex-Diktators.

„Interpol gegen die Subversion“

Der „Fall Berríos“ ist freilich nicht viel mehr als das makabre Nachspiel einer länderübergreifenden Verfolgungsmaschinerie, die sich schließlich einer Selbstreinigung unterzog, indem sie einen zum Risikofaktor gewordenen Mitarbeiter eliminierte.
Blixen, der damit auch dokumentieren will, daß die unsichtbaren Kanäle der “Operation Cóndor” weiterhin existieren, hat versucht, die Ursprünge dieses Gemeinschaftsprojektes offenzulegen. Eine zentrale Rolle bei der Entstehung der unheilvollen Vernetzung spielte DINA-Chef Contreras. Als er sich 1975 in einem Schreiben an seinen Kollegen Pastor Coronel vom paraguayischen Geheimdienst für dessen freundliche Unterstützung bedankte – es ging um paraguayische Pässe, die Michael Townley und einem chilenischen DINA-Mitarbeiter für deren verdeckte Operationen in den USA vom Stroessner-Regime zur Verfügung gestellt worden waren –, schlug er gleichzeitig eine stabile Kooperation der militärischen Geheimdienste des Cono Sur vor. Nachdem sich zu den Diktaturen in Chile, Paraguay, Uruguay und Brasilien auch Argentinien gesellt hatte, konnte dieses Vorhaben Realität werden. „Die Subversion hat interkontinentale, kontinentale und regionale Führungsebenen entwickelt”, zitiert Blixen die Analyse eines anderen DINA-Offiziers, „und diese multiplizieren ihre Aktivitäten in Form von Solidaritätskomitees, Kongressen, Konferenzen oder Festivals. Wir dagegen werden innerhalb und außerhalb unserer Grenzen attackiert. Dagegen kämpfen wir bislang alleine oder bestenfalls mit punktuellen bilateralen Übereinkünften.“ Um dies zu ändern, fand im November 1975 ein streng geheimes Treffen in Santiago de Chile statt, wo – laut Blixen – Delegationen aller beteiligten Staaten „gemeinsame Arbeitsgruppen“ und eine Datenbank etablierten, die einen raschen Aufschluß über Aufenthaltsort und Aktivitäten von „subversiven Gruppen“ geben sollte, welche jenseits der jeweiligen nationalen Grenzen operierten. Wie sich dieses System in der Realität bewährte, beschreibt Blixen anhand diverser Fälle: Eines der ersten Opfer dieser „Interpol gegen die Subversion“, wie Contreras sein neuestes Kind nannte, war Jorge Fuentes, ein Mitglied der chilenischen Revolutionären Linken, MIR. Fuentes, der sich in Paraguay versteckt hielt, wurde dort nach offiziellen Angaben im Januar 1976 festgenommen und „abgeschoben“. Tatsächlich wurde er, so Blixen, in Asunción an Agenten der DINA übergeben. Fuentes ist seitdem verschwunden. Nach diesem Muster wurden in den Folgejahren offensichtlich eine beträchtliche Zahl verfolgter Oppositioneller in den jeweiligen Nachbarländern aufgespürt, ausgeliefert und eliminiert.

Ein Archiv des Terrors

Blixen beruft sich bei seinen Recherchen auf einen Dokumentenfund, der im Dezember 1992 die Öffentlichkeit Paraguays erschütterte. Dank den zähen Bemühungen eines Opfers der Stroessner-Diktatur, der konsequenten Haltung eines Richters und einer Indiskretion seitens der Polizei konnte ein „Archiv des Terrors“ sichergestellt werden, eine tonnenschwere Dokumentensammlung des militärischen Geheimdienstes, die Aufschluß über eine Vielzahl von Folteropfern, Verschwundenen und Ermordeten gab.
In diesem Archiv fanden sich aber auch etliche Hinweise auf die transnationalen Aktivitäten der Geheimdienste. Die eigentliche „Datenbank“ des Terrors vermutet Blixen allerdings in Chile, wo sie – sollte sie nicht zwischenzeitlich von umsichtigen Kräften vernichtet worden sein – weiterhin gut vor der Öffentlichkeit geschützt ist.
Samuel Blixens Buch hinterläßt trotz all seiner Bemühungen, ein Licht auf die dunklen Machenschaften der „Operation Cóndor“ zu werfen, einen faden Nachgeschmack. Bei dem Versuch, in zwölf Kapiteln immer neue Aspekte der transnationalen Antisubversion im spannungsgeladenen Stil einer Enthüllungsreportage zu präsentieren, werden Leserin und Leser mit einer Unzahl von Namen, Pseudonymen, vermuteten Vernetzungen, geheimdienstlichen Winkelzügen und Konspirationen überhäuft. Ein „antisubversives“ Pandämonium, das letztlich Verwirrung stiftet und mit wenig harten Fakten untermauert wird. Daß die Sachlage bisweilen undurchdringlich bleibt, liegt dabei wohl in der Natur der Dinge. Geheimdienste von Diktaturen arbeiten nun einmal gerne unter Ausschluß der Öffentlichkeit und sind kaum daran interessiert, Rechenschaft über ihre Aktivitäten abzulegen.

Verschwörungen allerorten

Unter diesen Umständen kann Blixens Reportage zumindest Eindrücke von der Perfidie eines Contreras und seiner internationalen Kumpanei vermitteln. Er schießt aber über sein Ziel hinaus, wenn er abschließend ein verschwörungstheoretisches Feuerwerk abbrennt. Den Mord an Letelier reiht er ein in ein Terrorszenario, in dem irgendwie alles miteinander zusammenhängt: Die Waffen- und Drogengeschäfte des Oliver North, Attentate von Exilkubanern auf Fidel Castro, die Ermordung von Che Guevara und – nicht zuletzt – von John F. Kennedy. Viel zu viele Zutaten mischt Blixen zusammen, und in Ermangelung stichhaltiger Beweise (für Zusammenhänge, die ja vielleicht gar nicht von der Hand zu weisen sind) müssen immer wieder neue Namen herhalten, die die mutmaßliche Verbindung herstellen sollen. Auch Henry Kissinger sollte übrigens – irgendwie gehört das auch in diesen Kontext – ermordet werden. Es verwundert beinahe, daß es nicht Berríos’ Giftgasfläschchen gewesen ist, das später bei dem Sarin-Anschlag auf die Tokioter U-Bahn Verwendung fand.
Problematisch ist insbesondere Blixens Methode eines scheinbar investigativen Journalismus, die ihm zwar bisweilen äußerst spannungsreiche Passagen erlaubt, deren Realitätsgehalt aber zugleich fragwürdig erscheint. In einem Anhang listet der Autor seine Quellen auf: Neben einigen Originaltexten, die dem „Archiv des Terrors“ entstammen oder Auszüge aus gerichtlichen Ermittlungen darstellen, stützt Blixen sich hauptsächlich auf bereits vorliegendes journalistisches Material, auf Artikel, Reportagen oder Bücher, in welche die zitierten KollegInnen möglicherweise bereits eine gute Portion Spekulation haben einfließen lassen. Das ist zuviel Information aus zweiter oder dritter Hand, um wirklich glaubwürdig zu sein. Im Vorwort heißt es, Blixens Buch erscheine zu einem Zeitpunkt (Dezember 1998), an dem bereits Klarheit über das Schicksal des in London inhaftierten Augusto Pinochet herrschen werde. Das ist immer noch nicht der Fall. Sollte Pinochet allerdings nun an Spanien ausgeliefert werden, könnten durchaus weitere Mosaiksteinchen das Bild der unheiligen Allianz im Zeichen des „Cóndor“ ergänzen.

Blixen, Samuel: Operación Cóndor.
Del archivo del Terror y el asesinato de Letelier al caso Berríos,
Vorwort von Roberto Bergalli,
VIRUS editorial, Barcelona 1998.

General Oviedo und kein Ende

Gehört der Exgeneral ins Gefängnis oder nicht? Das dürfte derzeit die meistdiskutierte Frage in Paraguay sein, und beide Antworten auf diese Frage bedeuten stets eine Verhärtung der Fronten. Nur für Oviedo scheint es bereits festzustehen. Lautstark verkündet er jedem, der es hören will, er gehe auf keinen Fall ins Militärgefängnis zurück, wohin er nach Meinung des Obersten Gerichts und der Mehrheit der beiden Parlamentskammern für die nächsten zehn Jahre gehört.

Der General mit Charisma

Oviedo wurde spätestens durch seine aktive Rolle beim Sturz der Stroessnerdiktatur im Februar 1989 im gesamten Land bekannt, als er mit entsicherter Handgranate den letzten Widerstand der Verteidiger des Diktators brach. Er stieg in den folgenden Jahren bis zum Oberbefehlshaber der Streitkräfte auf und entwickelte darüber hinaus schnell politische Ambitionen. Und damit begannen die Schwierigkeiten.
Aus den schmerzlichen Erfahrungen langer Jahrzehnte der Diktatur hatten die Paraguayer in ihrer neuen Verfassung ein Verbot jeglicher politischer Betätigung für aktive Militärs festgeschrieben. Jedoch: Was für alle gelten soll, gilt nicht für Oviedo, so meint er zumindest selbst. Sein poltriges und lautstarkes Auftreten nach Wildwestmanier fand immer seine Anhänger und bildete ein herzerfrischendes Gegenstück zur etwas steifen paraguayischen Politik. Die Inhalte waren dabei weniger wichtig als die wirkungsvollen Parolen. Die politischen Ambitionen stießen schnell auf den Widerstand des damaligen Präsidenten Juan Carlos Wasmosy und mündeten 1996 in einen offenen Putschversuch von Oviedo gegen die Regierung. Oviedo wurde in den Ruhestand gezwungen von wo aus er verstärkt an einer politischen Laufbahn bastelte mit keinem geringeren Ziel, als der nächste Präsident zu werden. Und tatsächlich wurde er als Chef der Coloradofraktion Unace im vergangenen Jahr zum Präsidentschaftskandidaten nominiert. Allerdings hatten seine Gegner noch ein Ass im Ärmel. Drei Wochen vor den Wahlen im Mai wurde Lino Oviedo von einem Militärgericht wegen des Putschversuchs zu zehn Jahren Militärhaft verurteilt. Das Urteil wurde vom Obersten Gericht Paraguays bestätigt.

Ein Freund steht zu seinem Wort

Raúl Cubas Grau, ein langjähriger Freund Oviedos – beide besuchten 1958 gemeinsam das Colegio Militar –, wurde von Oviedo überredet, als Vizepräsidentschaftskandidat die Wahlen anzugehen. Nach der Verurteilung Oviedos befand sich der reiche Unternehmer Cubas Grau jedoch unversehens in der Position, selbst Präsident zu werden. Nach den Richtlinien der Colorados wurde Luis María Argaña als Zweitplazierter in den parteiinternen Vorwahlen automatisch zum neuen Vizepräsidentschaftskandidaten, auch wenn Cuba Grau und Argaña erbitterte Gegner sind.
Cubas Grau führte seinen Wahlkampf hauptsächlich mit dem Slogan, seine Wahl bedeute eine Amnestierung von Exgeneral Oviedo. Und überraschend klar gewann Cubas die Präsidentschaft. Bereits drei Tage nach seiner Amtsübernahme am 15. August 1998 erließ Cubas Grau ein Dekret, das seinen alten Freund in die Freiheit entließ. Mit dieser Entscheidung hielt er zwar sein während des Wahlkampfes gegebenes Wort, handelte sich jedoch auch massiven politischen Ärger ein, denn die scheidende Regierung Wasmosy hatte gemeinsam mit den Oppositionsparteien noch ein Gesetz verabschiedet, das eine Begnadigung durch den Präsidenten erst nach Verbüßung der Hälfte der regulären Haftzeit ermöglicht. Mit seinem Dekret verstieß Präsident Cubas Grau nun genau gegen dieses Gesetz.

Politische Manöver

Sowohl Befürworter als auch Gegner Oviedos begannen alle Hebel in Bewegung zu setzen, um die jeweils eigene Position abzusichern. Zunächst war der Präsident am Drücker. Durch Umstrukturierungen in der Militärhierachie – der Präsident ist gleichzeitig der Oberkommandierende der Streitkräfte – wurde das alte Militärtribunal, das Oviedo verurteilt hatte, abgelöst und durch ein neues ersetzt. Dieses sprach Oviedo auch prompt von allen Anschuldigungen frei.
Das Parlament fühlte sich durch das Präsidentendekret brüskiert, weil durch das Parlament beschlossene Gesetze einfach nicht beachtet wurden. Jedoch ist das Parlament relativ blockiert. Die Oppositionsparteien sind in beiden Kammern in der Minderheit. Allerdings ist auch die regierende Coloradopartei selbst in drei Blöcke gespalten, die sich untereinander mehr bekämpfen als die eigentliche Opposition. Der Flügel um Vizepräsident Argaña und die Fraktion des Expräsidenten Wasmosy stehen mit der politischen Opposition gegen Präsident Cubas Grau.
Sie arbeiten gegenwärtig an einem Impeachmentverfahren, um Cubas Grau aus dem Amt zu jagen. Für eine Amtsenthebung ist in beiden Kammern eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Die letzten Abstimmungen in der zweiten Februarwoche über eine Amtsenthebung brachten jedoch nur 58 Prozent im Abgeordnetenhaus und 60 Prozent bei den Senatoren – knapp aber nicht ausreichend. Abgesehen davon weiß in Paraguay keiner so richtig, wie man in der Praxis mit Artikel 225 der Verfassung über eine Amtsenthebung umgehen soll, denn die Prozeduren sind nicht genau festgeschrieben. Wird der Vize neuer Präsident, oder gibt es Neuwahlen?
Das Amtsenthebungsverfahren ist nicht der einzige Unruheherd, auch Oviedo persönlich ist wieder im Spiel. Bereits im Dezember wurde er aus der regierenden Coloradopartei ausgeschlossen, in der Parteispitze hat der Argañaflügel die Macht und nutzte diese konsequent. Es gilt bereits jetzt, einen potentiellen Kandidaten für die in diesem Jahr stattfindende Wahl des Parteivorsitzenden aus dem Rennen zu werfen. Traditionell wird der Parteichef der Colorados auch der nächste Präsidentschaftskandidat. Deshalb hat Oviedo sämtliche juristischen Register gezogen, um diesen Parteiausschluß rückgängig zu machen: Ohne politische Basis hätte er keine Chance, und mit einer Parteineugründung wäre er der Spalter der Colorados, eine Option, die ein Eigentor werden kann.

Oberstes Gericht oder Präsident

Das Parlament rief den Obersten Gerichtshof an. Dessen Entscheidung hieß: Oviedo muß wieder ins Gefängnis. Am 4. Februar stellte das Oberste Gericht dem Präsidenten eine 72stündige Frist, innerhalb derer Oviedo wieder zu inhaftieren sei. Gleichzeitig erging die Anweisung an das oberste Wahlkomitee, Oviedo aus dem Wahlregister zu streichen. Er wäre damit seiner politischen Bürgerrechte beraubt und nicht mehr selbst wählbar. Der Präsident des Landes spielt indes auf Zeit und hat alle Unterlagen dem Generalstaatsanwalt übergeben. Noch ist Oviedo auf freien Fuß. Es stellt sich vor allem die verfassungsrechtliche Frage, ob der Oberste Gerichtshof dem Präsidenten gegenüber weisungsberechtigt ist. Welche ist in einer Demokratie die letzte Instanz?
Die Töne in Paraguay werden immer rauher. Oviedo drohte mit bewaffnetem Widerstand, Putschgerüchte gingen um, das Parlament erhielt mehrere Bombendrohungen, und dem obersten Richter Wildo Rienzi wurde mehrmals telefonisch der Tod angedroht. Die politischen und staatlichen Instanzen Paraguays sind heillos zerstritten, ein Weg aus dieser politischen Krise dürfte sehr schwer werden. Auch der Glanz von Oviedo selbst beginnt zu bröckeln, nach einer Umfrage der Tageszeitung Noticias vom 7. Februar sind 62,3 Prozent der Bevölkerung für eine Inhaftierung von Oviedo, und nur noch 23,9 Prozent sind der Meinung, eine Haftstrafe sei ungerecht. Auch das Verhältnis Oviedos zum Präsidenten ist nicht mehr ganz so ungetrübt, nachdem Oviedo erklärt hat, Präsident Cubas Grau würde ohne seine Zustimmung nicht einmal einen Unteroffizier in der Armee ernennen und auch sonst keine Entscheidung ohne vorhergehende Konsultation treffen. Die Degradierung zur bloßen Marionette in aller Öffentlichkeit gefiel dem Präsidenten gar nicht.
Trotz aller Unstimmigkeiten in der paraguayischen Gesellschaft scheint nur eine politische Lösung denkbar. Ein Militärputsch würde das Land isolieren und das Risiko einer Wirtschaftskrise, in die Paraguay durch den Haupthandelspartner Brasilien hineingezogen zu werden droht, nur noch vergrößern. Der Weg zur demokratischen Überzeugung und Praxis ist für Paraguay und die Paraguayer doch viel länger, als alle glaubten.

Zwischen Diktatur und Demokratie

Unter denen, die sich im Be-
reich der Sozialwissenschaften mit Lateinamerika beschäftigen, gehört Dieter Boris zu den eher wenigen, die sich den Blick für das Ganze bewahrt haben, weil sie mit Recht meinen, nur so könne die Dimension und Bedeutung einzelner Erscheinungen sinnvoll eingeschätzt werden. Dieser Blick des Generalisten bewahrt ihn auch vor der Gefahr, den wechselnden wissenschaftlichen Modetrends hinterherzulaufen. Das geschieht zunächst in der sehr lesenswerten Einleitung. Hier wird deutlich gemacht, daß die sozialen Bewegungen in Lateinamerika nicht allesamt neu sind, denn Aufstände der indigenen Bevölkerung, Rebellion der Bauern und Bäuerinnen, später die ArbeiterInnenbewegung und regionale StudentInnenbewegungen hat es schon lange vor der „Hochkonjunktur“ der „neuen sozialen Bewegungen“ in den achtziger Jahren gegeben. Auch stellen nicht alle Bewegungen eine lateinamerikanische Besonderheit dar, denn die Frauenbewegung und die Umweltbewegung beispielsweise nahmen in Lateinamerika etwa zur gleichen Zeit an Bedeutung und Stärke zu wie in Europa oder Nordamerika. Die während der siebziger und achtziger Jahre in den meisten Ländern Lateinamerikas etablierten Militärdiktaturen haben allerdings mit der Unterdrückung der normalen Möglichkeiten politischer Artikulation durch Parteien einerseits und der Schaffung von dramatischen Notsituationen durch politische Verfolgung und soziale Gefühllosigkeit andererseits den Boden für eine Reihe von Bewegungen bereitet, die unter „normalen“ Umständen wahrscheinlich nie entstanden wären. Dazu gehören vor allem die Menschenrechtsbewegungen, die sich um die verschwundenen politischen Gefangenen gekümmert haben und noch kümmern, die solidarischen Organisationen einer Art Volksökonomie, die Stadtteilbewegungen und andere mehr.
Lesenswert ist die Einleitung auch besonders, weil Dieter Boris hier die seither unternommenen Versuche zur Bildung von Theorien über soziale Bewegungen einer kritischen Revision unterzieht und sich gegen die Ansicht zur Wehr setzt, die „veraltete“ Klassenanalyse sei in Zukunft durch die Analyse sozialer Bewegungen zu ersetzen (statt zu ergänzen). Natürlich könnten, so argumentiert er, die sozialen Bewegungen nicht auf ein Klassenphänomen reduziert werden. Das schließe aber nicht aus, daß sie in der Klassengesellschaft „verortet“ seien. Fast nebenbei vermittelt Dieter Boris an dieser Stelle auch, daß der modische und sehr unscharfe Begriff der „Zivilgesellschaft“ in Lateinamerika eher vernebelnde als aufklärerisch-erkenntniserweiternde Funktionen gehabt hat.

Analyse im Vergleich
und am Beispiel
Nach einem kurzen Ausblick auf neuere Tendenzen der Entwicklung der Sozialstruktur in den Ländern Lateinamerikas unternimmt Dieter Boris den Versuch, die Konsequenzen der Demokratisierungsprozesse für die Weiterentwicklung der sozialen Bewegungen zu kennzeichnen. Nach seinem Urteil sind diese Bewegungen in Ländern wie Chile und Uruguay mit dem Wiederaufkommen der politischen Parteien sehr geschwächt worden, während sie ihren Einfluß etwa in Bolivien und Paraguay halten und in Brasilien oder Ecuador sogar ausbauen konnten. Diese Typenbildung ist nicht ganz unproblematisch; richtig ist aber sicherlich, daß die Veränderungen in den Ländern unterschiedlich waren und sind. Dabei erstaunt, daß Dieter Boris eine ganze Reihe von Faktoren anführt, die diese Unterschiede bewirkt haben könnten, aber nicht auf das Ausmaß eingeht, in dem eine neoliberale Gesellschaftspolitik es geschafft hat, mit „Modernisierungsreformen“ entsolidarisierende Wirkungen zu entfalten. Das war eben in Chile und Uruguay weitaus mehr der Fall als etwa in Brasilien.
Der größte Teil des Buches ist der Analyse der einzelnen Bewegungen gewidmet. Dabei geht Dieter Boris jeweils von einer Schilderung der Strukturprobleme aus, die die Entstehung oder das Wiederaufblühen einer sozialen Bewegung bewirkt haben, also: der Mangel an Land für die Bewegung der Bauern und Bäuerinnen, die kulturelle Benachteiligung für die indigenen Bewegungen, die Wirkungen der Öffnung zum Weltmarkt für die ArbeiterInnenbewegung, Mord, Folter und Unterdrückung für die Menschenrechtsbewegungen, Machismus und männliche Vorherrschaft für die Frauenbewegung, die steigende Belastung der Umwelt für die Umweltbewegung usw. Daran knüpft jeweils eine sehr nützliche differenzierende Übersicht über die Entwicklung der jeweiligen Bewegungen in ganz Lateinamerika an, die schließlich in eine detailreiche Darstellung am Beispiel eines einzelnen Landes mündet.
Daß Brasilien im Unterschied zu allen anderen Ländern gleich dreimal erscheint, hat nicht nur mit der Größe dieses Landes zu tun, welches – nach geographischer Größe und Bevölkerung – fast die Hälfte Lateinamerikas ausmacht, sondern auch mit der größeren Bedeutung, die die sozialen Bewegungen hier eingenommen haben. Die neue Gewerkschaftsbewegung mit ihrer engen Beziehung zur Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores), die Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) und die kirchlichen Basisbewegungen innerhalb des größten katholischen Landes der Welt konnten in solch einem Buch einfach nicht fehlen.

Soziale Bewegungen
und Neoliberalismus?
Daß Dieter Boris im allgemeinen die eher erfolgreicheren nationalen Bewegungen als Beispiele für seine Einzeldarstellungen ausgesucht hat, wird man kaum kritisieren können, zumal ja die Einschätzung der Situation in ganz Lateinamerika diesen immer vorausgeht. Das einzige Kapitel, bei dem eine andere Auswahl sicher besser gewesen wäre, ist das Kapitel über die Guerilla, in dem Nicaragua im Mittelpunkt steht. Selbst wenn man zugesteht, daß es sich bei den Guerillas um soziale Bewegungen handeln kann – und in Nicaragua wurden sie 1979 zum Kristallisationspunkt sehr breiter Bewegungen –, läßt sich fragen, ob der Sieg der Sandinisten damals nicht eine untypische Ausnahme darstellt, die ganz besonderen Bedingungen zu verdanken war und ob nicht etwa Kolumbien besser als Beispiel gedient hätte, um die Vielfalt der Probleme zu beleuchten. Wichtig wäre in diesem Kapitel auch gewesen, etwas stärker zu differenzieren. Jedenfalls kann die bündnisunfähige und auch gegenüber der übrigen Linken zum Terror entschlossene peruanische Guerilla Leuchtender Pfad (Sendero Luminoso) ebenso wenig mit den anderen (maoistischen, trotzkistischen, castristischen) Guerillas in einem Atemzug genannt werden wie die zapatistische Guerilla in Chiapas (Mexiko), die sich vom Kampf um die politische Macht offiziell verabschiedet hat und mit den modernsten Methoden weltweiter Kommunikation arbeitet.
Die Menschenrechtsbewegungen in Argentinien um die „Mütter der Plaza de Mayo“, die Avantgarde der lateinamerikanischen Frauenbewegung in Chile, die Bewegungen von ElendsviertelbewohnerInnen in Lima, die erfolgreich agierende indigene Bewegung in Ecuador und die ökologische Bewegung in Mexiko-Stadt, der größten Metropole der Welt mit entsprechend großen Umweltproblemen bieten dagegen gute Gelegenheit, die allgemeinen Probleme der jeweiligen Bewegungen vertiefend zu analysieren.
Wer sich in der deutschsprachigen Welt mit zentralen gesellschaftlichen und politischen Problemen Lateinamerikas beschäftigen will, wird auf die Lektüre dieses wichtigen Buches – auch wegen seines sehr ausführlichen Literaturverzeichnisses – kaum verzichten können.

Dieter Boris: Soziale Bewegungen in Lateinamerika. VSA-Verlag, Hamburg 1998, 254 Seiten.

“Die spanischen Kollegen sind in einer guten Lage”

Sie stehen von Berlin aus in ständigem Kontakt mit den zuständigen juristischen Stellen in Madrid und setzen sich für die Auslieferung Pinochets nach Spanien ein. Auch persönlich sind Sie in die Geschehnisse seit 1973 involviert. Können Sie uns Ihre Bindungen, persönlich wie beruflich, schildern?

Ich war 1972, damals noch unter der Regierung Allende, im Schüleraustausch in Chile und ging dort viereinhalb Monate zur Schule. Zu dem Programm gehörte auch, daß man in einer chilenischen Austauschfamilie wohnte. Von dieser Familie ist der Onkel meiner Austauschschwester, ein führender Kommunist, am 11. September 1973 (Tag des Putsches, Anm. d. Red.) in der Moneda, dem Regierungspalast, verhaftet worden. Wir wir später durch Zeugen erfuhren, wurde er umgebracht. Die Leiche wurde der Familie nie übergeben. Viele Familienmitglieder sind damals vertrieben worden, mußten ins Exil gehen. Die Familie ist zum Teil auseinandergerissen worden, meine Austauschschwester selbst lebt bis heute im Ausland. Soviel zu den persönlichen Erlebnissen.
Nachdem ich später in Berlin mit dem Jurastudium angefangen hatte, engagierte ich mich zusammen mit Exilchilenen zunächst vor allem für das Schicksal inhaftierter chilenischer Frauen. Später habe ich Chile oft besucht, habe dort auch an Treffen von Menschenrechtsgruppen teilgenommen, wo es um politische Gefangene und die Straflosigkeit der Militärs ging. Dabei fand auch ein Austausch mit Argentiniern statt, die unter der dortigen Diktatur ganz ähnliche Erfahrungen gemacht hatten.

Diese Treffen fanden noch während der Pinochet-Diktatur statt?

Zum ersten Mal habe ich 1988 an einem solchen Treffen teilgenommen. Das war also in der Übergangszeit. Ich habe mich dort juristisch wie auch persönlich mit der jüngeren chilenischen Geschichte beschäftigt, vor allem mit den Problemen der Übergangszeit.

Wann kam dann Ihr Kontakt mit den spanischen Prozeßführern zustande?

Ich bin im Sommer letzen Jahres mit dem spanischen Anwalt Juan Garcés in Verbindung getreten, der die Exilchilenen vertrat, die von Europa aus um ihr Recht kämpften. Auch er ist in die Vorfälle während der Militärdiktatur involviert. Er ist Katalane und hat als Berater Salvador Allendes gearbeitet. Über seine Erlebnisse von 1973 hat er ein Buch geschrieben. Garcés hat in Madrid jahrelang daran gearbeitet, der Straflosigkeit in Chile juristisch beizukommen, und er ist einer der Hauptakteure im Prozeß gegen Pinochet. Er unterrichtet mich laufend über das Verfahren. Durch diese Bekanntschaft kam ich in Kontakt mit dem Anwalt Carlos Slepoy, der sich mit den Verbrechen während der argentinischen Militärdiktatur beschäftigt. Über ihn wiederum lernte ich den Richter Baltasar Garzón aus Madrid kennen, der ja nun als Ermittlungsrichter im Fall Pinochet agiert. Garzón war schon damals als extrem ambitionierter Mann bekannt, der beispielsweise den hochrangigen argentinischen Militärangehörigen Adolfo Scilingo, den er ursprünglich als Zeugen vorgeladen hatte, im Gerichtssaal verhaften ließ. Dieser Fall schlug damals hohe Wellen, da Scilingo in einem Interview die vermuteten „Todesflüge“ zugegeben hat, bei denen Dissidenten über dem Río de la Plata aus dem Flugzeug geworfen wurden. Scilingo bestätigte damals, was Oppositionelle schon von jeher der Militärdiktatur vorgeworfen hatten, und wurde so zu einem der wichtigsten Zeugen des ganzen Prozesses. Garzón hatte damals schon erreicht, gegen einige der argentinischen Verantwortlichen Haftbefehle zu erlassen und ihre ausländischen Konten zu beschlagnahmen. Später wurden auch Kontakte nach Deutschland geknüpft, von wo aus Exilargentinier im Mai dieses Jahres Strafanzeige gegen Angehörige des argentinischen Militärs stellten. Im Laufe der Ermittlungen wurde auch im „Plan Cóndor“ ermittelt. Das war die Zusammenarbeit zwischen den chilenischen und den argentinischen Militärs.

Und uruguayischen Militärangehörigen …

Ja, auch Uruguay und Paraguay waren in diese Zusammenarbeit verwickelt, die auf ein Verschwindenlassen und Ermorden politischer Gegner hinauslief. Jedenfalls hatte Richter Garzón schon damals besonderes Interesse an Pinochet als Beschuldigtem bekundet. Rechtsanwalt Garcés sagte mir schon im Mai dieses Jahres, daß seiner Einschätzung nach Garzón irgendwann einen Haftbefehl gegen Pinochet erlassen wird. Das Problem würde dann bloß sein, Pinochet außer Landes zu bekommen, um den Haftbefehl auch zu vollstrecken. Daß Pinochet einige Monate später nach Großbritannien reisen würde, damit hatten wir natürlich nicht gerechnet.

Wie gestaltet sich Ihre juristische und politische Zusammenarbeit mit den spanischen Juristen von Berlin aus?

Ich bin im wesentlichen daran beteiligt, daß hier politische Aktionen organisiert und koordiniert werden. Wir, das FDCL, haben kürzlich eine Demonstration vor der britischen Botschaft für die Auslieferung Pinochets nach Spanien organisiert. Zur Zeit planen wir eine weitere Demonstration, die sich auf ein breites Bündnis stützt. Auf Wunsch meiner spanischen Kollegen habe ich eine Kampagne in Deutschland angestoßen, bei der es darum ging, Faxe an die Audiencia Nacional (nationaler Gerichtshof Spaniens, Anm. d. Red.) zu schicken, um so, unmittelbar vor der endgültigen Entscheidung über die Zuständigkeit der spanischen Gerichtsbarkeit, Druck auszuüben. Eine ähnliche Kampage haben wir jetzt vor der Entscheidung des britischen Oberhauses über das spanische Auslieferungsgesuch in Richtung London gestartet.
Es ist auch an mich herangetragen worden, eine Sammelklage hier lebender Betroffener zu organisieren. Es existiert zwar tatsächlich die Möglicheit nach deutschem Recht, eine solche Klage einzureichen. Allerdings denke ich, daß der spanische Prozeß mehr Aussicht auf Erfolg hat, und daß man sich auf ihn konzentrieren sollte, da in den letzten zweieinhalb Jahren unheimlich viel Material zusammengetragen worden ist. Durch die gute Dokumentation sind die Kollegen in Madrid einfach in der besten Lage, solch ein Verfahren real, konsequent und erfolgreich durchzuführen.

Wie beurteilen Sie rein juristisch die Entscheidung des britischen „High Court“, Pinochet genieße als ehemaliges Staatsoberhaupt Immunität?

Diese Entscheidung verstößt gegen geltendes Völkerrecht. Zwar sind Staatsoberhäupter grundsätzlich vor Strafverfolgung wegen ihrer Amtshandlungen geschützt – dies entspringt dem gegenseitigen Respekt und der Anerkennung der Souveränität der Staaten. Seit den Nürnberger Prozessen 1945/46 ist jedoch längst anerkannt, daß diese Immunität nicht für schwerwiegende Verbrechen wie Völkermord, Verschwindenlassen und Folter gelten kann. Wie es treffend gesagt wurde: Nach der Rechtsauffassung des Londoner Gerichts hätte selbst Hitler nicht zur Rechenschaft gezogen werden können.

Wie schätzen denn die spanischen Anwälte nun, nach dieser ersten negativen britischen Entscheidung, die Chancen im Prozeß gegen Pinochet ein?

Sie sind nach wie vor sehr davon überzeugt, Erfolg zu haben. Die Audiencia Nacional, ein nicht gerade linkslastiges Gericht, hätte auch niemals das Auslieferungsgesuch des Richters Garzón bestätigt, wenn dem Prozeß nicht eine derart überwältigende Dokumentation der Verbrechen zugrunde liegen würde.

Zu dieser so deutlichen Beweislage trugen sicher nicht zuletzt die zahlreichen Zeugenaussagen bei?

Genau, es sind sehr viele Zeugen – auch aus Chile – gehört worden. Ich selbst habe übrigens für den Anwalt Garcés hier in Deutschland Helmut Frenz als Zeugen ausgemacht. Frenz war Lutheraner und evangelischer Bischof in Chile, und ihm wurde nach dem Putsch 1973 von Pinochet die Einreise ins Land verboten. Er hatte sich damals für einen katholischen Priester eingesetzt und zusammen mit einem katholischen Bischof bei Pinochet vorgesprochen, um diesen Menschen irgendwie zu retten. Während dieses Gespräches sagte Pinochet einige Sätze, die ihn eindeutig als Mitwisser der Verbrechen entlarvten, was ja bis heute immer wieder bestritten wird. Frenz wurde also im Januar dieses Jahres von den spanischen Richtern als Zeuge gehört und es ging danach überall durch die Presse, daß die Mitwisserschaft Pinochets mit dieser Aussage belegt werden kann.

Wie stark war in den letzten zweieinhalb Jahren, die der Prozeß bereits andauert, der Widerstand der rechten Kräfte in Chile?

Die Bestrebungen in Spanien, Pinochet habhaft zu werden, lösten bei seinen Anhängern massive Proteste aus. Es ist sogar so, daß versucht wurde, auf das Verfahren direkten Einfluß zu nehmen -sowohl von chilenischer als auch von argentinischer Seite. So reiste der chilenische Ex-Militärstaatsanwalt Torres nach Madrid – angeblich, um dort Urlaub zu machen – und besuchte „zufällig“ die beiden spanischen Untersuchungsrichter Garzón und García-Castellón. Dort gab er Material ab, das angeblich beweisen sollte, daß alles eine wüste Lügenkampagne sei. Der chilenische Widerstand führte in der Folge auch zu einer Stärkung der Rechten innerhalb der spanischen Justiz. Das ging soweit, daß seitens der spanischen Staatsanwaltschaft argumentiert wurde, daß die Militärregierungen in Chile und Argentinien nur einen „Übergang“ zu einer zivilen, demokratischen Regierung dargestellt hätten. Diese Äußerungen lösten in Spanien einen Skandal aus. Die Presse fiel über die Staatsanwaltschaft her, die dann sofort einen Rückzieher machen mußte.

Wie ist die Stimmung in Chile nach der Festnahme Pinochets in London einzuschätzen?

Die Situation in Chile ist sehr angespannt. Ich denke, daß hier in Europa anfangs nur das angekommen ist, was die Rechte dort an Protesten veranstaltete. Diese nahmen bald extreme Formen an. So ist zum Beispiel auf Initiative eines rechten Bürgermeisters der Müll von der britischen und der spanischen Botschaft nicht mehr abgeholt worden. Allerdings wurden sogleich Müllabfuhren aus links regierten Stadtbezirken geschickt, deren Wagen – eine wirklich sehr nette Anekdote – mit Transparenten bespannt waren, auf denen es hieß: „Wenn ihr unseren Müll beseitigt, holen wir euren ab!“
Aber es ist schon so, daß die Rechte heftig reagiert hat, zum Teil auch wieder mit Morddrohungen, etwa mit den Worten:“Wenn Pinochet etwas passiert, dann bringen wir dich um.“ Die Betroffenen solcher Drohungen sind Rüchkehrer aus dem Exil, Oppositionelle und ehemalige politische Gefangene. Es hat zudem auch einen xenophoben Schub in Chile gegeben. Das bedeutet, daß ein Brite oder Spanier, der heute nach Chile fährt, durchaus unangenehme Erfahrungen machen kann.
Es ist im Grunde herausgekommen, daß die ganze Übergangssituation, die ganze Versöhnung eine einzige Lüge ist und daß sich die Lager immer noch verfeindet gegenüberstehen. Die wahren Machtverhältnisse treten jetzt wieder zutage. Es zeigt sich, wie gespalten dieses Land nach wie vor ist.

Wie würden Sie – auch wenn dies schwerfällt – diese Spaltung prozentual beurteilen?

Nun, ich würde schon von einem Kräfteverhältnis 60:40 zugunsten der Gegner Pinochets ausgehen. Beim Referendum 1988 hat Pinochet einen Stimmenanteil von rund 40 Prozent auf sich verbuchen können. Obwohl er den heute so nicht mehr bekommen würde, kann man doch mit 30 Prozent Pinochetismus rechnen. Dazu kommt der Mittelstand, der auch eher zu dieser Seite neigt. Es gibt die „klassische“ Aufteilung in ein Drittel Rechte, ein Drittel Christdemokraten, ein Drittel Linke. Letztere sind in den siebzehn Jahren Gewaltherrschaft unter Pinochet zerschlagen worden. Den Leuten sitzt heute noch die Angst im Nacken. Chile ist ein Land, in dem man sich über fünfzehn Jahre lang nicht getraut hat, den Mund aufzumachen. Ich bin mir sicher, daß zumindest 60 Prozent der Chilenen am Tag, als die Nachricht der Festnahme kam, zu Hause saßen und gefeiert haben, sich aber nicht getraut haben, damit sofort auf die Straße zu gehen. Die psychologische Einschüchterung ist sehr, sehr verheerend gewesen.
So ist die Situation im Moment. Es steht alles sehr auf der Kippe, obwohl die Stimmung gegen Pinochet zu siegen scheint. Selbst aus den konservativen Kreisen wurden jüngst Stimmen laut, die sich zu der Festnahme positiv äußern. Auch der oberste Gerichtshof ist allmählich nicht mehr ausschließlich von Pinochetisten besetzt, so daß dort das Amnestiegesetz, 1978 von der Junta selbst verfaßt, künftig sogar zur Debatte stehen könnte. Und die Stimmen gegen Pinochets Senatorenamt mehren sich, auch von konservativer Seite.

Die Freude des Torhüters auf den Elfmeter

Ich will Präsident werden und der Korruption in meinem Land ein Ende setzen,” sagte Südamerikas Fußballer des Jahres 1996. Bevor es vielleicht einmal soweit sein könnte, wird er für sein Land nach Frankreich fahren und dort zumindest versuchen das eigene Tor sauber zu halten.
José Luis Felix Chilavert González, 32 Jahre alt, Torwart und paraguayischer Staatsbürger, hat einen großen Anteil daran, daß Paraguay nach zwölf Jahren Wartezeit wieder zur Endrunde einer Fußballweltmeisterschaft fahren wird. Dabei verhinderte Chilavert nicht nur jede Menge Tore gegnerischer Stürmer, er schoß und schießt selber welche: Als der Schiedsrichter kurz vor Ende des Qualifikationsspiels gegen Argentinien Freistoß gepfiffen hatte, schnappte er sich den Ball, legte ihn sich zurecht und zirkelt ihn aus 20 Metern zum 1:1 Endstand ins Tor des argentinischen Gastgebers. Für Chilavert nichts Ungewöhnliches, hat er doch während seiner bisherigen Karriere als Torhüter schon über dreißig Mal ins gegenerische Netz getroffen. Die Mehrzahl davon als sicherer Elfmeterschütze vom ominösen Punkt.
Als Gruppenzweiter hinter Argentinien schaffte Paraguay den Sprung zur WM. Und die Argentinier wurmt es heute noch, daß sie dabei im eigenen Land ausgerechnet gegen Paraguay unentschieden spielten. Der Schütze zum Ausgleich bekommt das fast an jedem Spieltag der Liga zu spüren, denn als Vereinsspieler hütet José Luis Chilavert das Tor des argentinischen Spitzenclubs Vélez Sarsfield. Und auch das mit Erfolg: Beim Abbruch der laufenden Rückrundensaison steht er mit seinem Verein an der Tabellenspitze, hat von sechzehn Spielen nur eines verloren und mit zwölf Gegentreffern die wenigsten Tore von allen kassiert. Zwar fehlen noch drei Spieltage, aber alles spricht für Vélez als Meister, wenn, ja wenn die Runde zu Ende gespielt wird.
Daß die Saison in Argentinien wegen der Gewalt auf den Rängen vorerst abgebrochen wurde, liegt nicht an Chilavert. Aber ein Vorbild im Sinne von ‘Keine Macht den Doofen’ ist Chilavert beileibe nicht. Er gilt als undiszipliniert, arrogant, exzentrisch, cholerisch und als guter Schauspieler. Außerhalb des Spielfeldes wurde er im September 1996, pikanterweise kurz nach seinem 1:1-Ausgleich, von einem argentinischen Zivilgericht zu drei Monaten Gefängnis und einer dreizehnmonatigen Spielsperre verurteilt, weil er zwei Jahre zuvor einen Platzwart verprügelt hatte. Ins Gefängnis ging er allerdings nicht und auch die Spielsperre wurde vom argentinischen Verband ausgesetzt. Während der Qualifikationsrunde wurde er nach einer Faustkampfeinlage gegen den kolumbianischen Spitzenspieler Faustino Asprilla für fünf Spiele gesperrt und auch in der nun ausgesetzten Rückrundensaison stand er wegen unsportlichem Verhaltens nicht alle sechzehn Begegnungen im Tor.

Prügelknabe Chilavert

Trotz Negativschlagzeilen nach Prügelszenen ist Chilavert der unumstrittene Star der paraguayischen Nationalelf. Ein überragender Keeper, reaktionsschnell auf der Linie, mit gutem Stellungsspiel, und er kann Fußball spielen. Eine Eigenschaft, die nicht jeder Torwart besitzt. Seine Laufbahn begann bei seinem Heimatverein Sportivo Luqueño. Bereits mit fünfzehn Jahren stand er im Tor der ersten Mannschaft. Mit achtzehn wechselte er 1984 zu Guariní Asunción in die erste Liga. Und, logisch, das Ausland kaufte ihn weg: Ein Jahr später stand er im Tor des argentinischen Erstligisten San Lorenzo. Vier Jahre später zog es ihn zu Real Zaragoza in die spanische Liga, aus der er 1992 noch immer ohne irgendeinen bedeutenden Titel nach Argentinien zum Renommierverein Vélez Sarsfield zurückkehrte. Hier begann das Titelsammeln: Dreimal hat er die argentinische Meisterschaft, 1994 die Copa Libertadores (südamerikanischer Vereinsmeisterpokal), danach gegen den AC Mailand den Weltpokal für Vereinsmannschaften und 1996 die Supercopa gewonnen. Auch als Einzelspieler heimste er einige Titel ein: 1995 Argentiniens Fußballer des Jahres, 1996 Südamerikas Fußballer des Jahres und 1997 wurde er gar zum Welttorhüter des Jahres gewählt.
Seine Laufbahn im Tor der Nationalmannschaft begann während seiner Zeit in Spanien mit einem 2:1 Sieg gegen Kolumbien. Einer der Torschützen: José Chilavert. Sein erstes Turnier als die Nummer Eins für Paraguay spielte er 1991 in Chile bei der Copa América. Nach der Vorrunde war aber schon Schluß. Zwei Jahre später schaffte es Paraguay immerhin ins Viertelfinale. Richtig große Erfolge feierte Chilavert mit der Nationalelf bislang jedoch nicht. So ist allein die Qualifikation für die WM in Frankreich als Zweitplazierter vor Kolumbien und Chile ein Triumph, der die paraguayischen Fußballfans in Euphorie versetzte. Aber auch ein Verdienst des brasilianischen Trainers Paulo Cesar Carpegiani. Er brachte Chilavert 1995 nach einem zweijährigen Dauerstreit des Keepers mit den Funktionären des Fußballverbandes ins Nationalteam zurück und machte aus einer Ansammlung von Arbeitsmigranten ein Team: Von den 22 für Frankreich vorgesehenen Spielern stehen gerademal drei bei paraguayischen Vereinen unter Vertrag. Die Mehrzahl spielt in den Nachbarländern Brasilien und Argentinien. Und was die WM-Teilnahme für die nationale Befindlichkeit bedeutet, bringt Abwehrspieler Carlos Gamarra auf den Punkt: “Wir werden der Welt beweisen, daß wir gute Fußballspieler haben. Viele denken doch, bei uns wohnen nur Indios, Analphabeten und Bauern.”
Sollte Paraguays Nationalelf in Frankreich gut abschneiden, die eine oder andere Überraschung an den Tag legen und vor allem Chilavert hinten den Kasten sauber halten und vorne einen rein machen, dann könnte der ohnehin schon als Nationalheld geltende Torhüter eines Tages wirklich das Präsidentenamt hüten, sauber halten und das Land nach vorne bringen. Bleibt also nur zu hoffen, daß er nicht die Sportart wechselt und mit General Oviedo in den Ring steigt.

Newsletter abonnieren