Einfluss der Gewerkschaften im Mercosur

Anders als andere vergleichbare Handelsabkommen konnte der Mercosur immer mit der Unterstützung wichtiger sozialer und wirtschaftlicher Akteure rechnen, die trotz Kritik – wie im Fall der Gewerkschaften – im Rahmen ihrer Möglichkeiten direkt an seiner Entwicklung mitwirkten. Obwohl es zu einer Verschlechterung der sozialen Situation in den Mitgliedsländern gekommen ist, hat dies dazu beigetragen, die Mitwirkung der Zivilgesellschaft bei den Verhandlungen im Mercosur zu vergrößern.

Erben einer Militärherrschaft

In Argentinien, Chile und Uruguay (Länder des Cono Sur) kam es zu einer verstärkten Präsenz der Gewerkschaften auf der politischen Bühne, vor allem vor dem Hintergrund der Redemokratisierung der jeweiligen Regierungen. Sie übernahmen als Erben einer Militärherrschaft ökonomische Modelle, die sich an neoliberalen Regierungsprogrammen orientierten. Die damit einhergehende Reduzierung der öffentlichen Ausgaben, die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen und die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes machte die Gewerkschaften mobil. Sie standen vor einer wirtschaftlichen Entwicklung, die sowohl eine stärkere Unterordnung der Region in das globale Gefüge bedeutete, als auch einen Weg zur Stärkung ihrer Position bei den Verhandlungen über die Auslandsschulden markierte. Deswegen entschieden sich die Gewerkschaften der Länder des Mercosur, vereinigt m Dachverband Coordenadora de Centrais Sindicais do Cono Sur (CCSCS), den Prozess von Anfang an zu begleiten und sich einzumischen.

Erste Schritte auf offiziellem Parkett

Aufgrund des Drucks der Gewerkschaften wurden im März 1992 mit der Gründung der „Arbeitsgruppe Arbeitsbedingungen, Beschäftigung und Soziale Sicherheit“ arbeitnehmerrelevante Themen in den internationalen Handelsvertrag aufgenommen. Aber die Mitwirkung der Gewerkschaften ging weit über Arbeitnehmerthemen hinaus.
Wenn auch nur als offizieller Beobachter, fing die CCSCS 1993 in offiziellen Verhandlungen an, auch andere makroökonomische politische Vorschläge zu unterbreiten, die beispielsweise den Außenhandel, Herkunftsvorschriften und Förderpolitik betrafen. Diese Entwicklung erweiterte den Spielraum der Debatten der CCSCS ganz entscheidend und zeigte die Notwendigkeit, ein globales Projekt der Integration und Aufnahme in den Weltmarkt auf den Weg zu bringen.
Doch wie kamen die Gewerkschaften zu einem einheitlichen Vorgehen? Vielleicht dadurch, dass sie gegen ein konkretes Programm mobilisierten, das von den Regierungen verhandelt wurde. Ein gemeinsames Vorgehen war die grundlegende Waffe, um den gewerkschaftlichen Einfluss zu verbessern.
Als im Dezember 1994 mit der Unterzeichnung das Protokoll von Ouro Preto unterzeichnet wurde, hatten die Gewerkschaften noch kein Instrument zum Schutz der Sozial- und Arbeitsrechte durchsetzen können. Aber sie erreichten eine stärkere Demokratisierung des Verhandlungsprozesses. Sie setzten die Gründung des Foro Consultivo Econômico-Social do Mercosur (FCES) durch, eines Beratungsorgans, das soziale und ökonomische Akteure mit dem wichtigsten Verhandlungsgremium des Mercosur an einen Tisch bringt.
Da es bezeichnenderweise nur wenige Verhandlungen in gewerkschaftsrelevanten Bereichen gab, war die Präsenz der Gewerkschaften dementsprechend schwach. Zudem nahm das Gewicht der Gewerkschaften durch die Restrukturierung der Produktion, stärkere Flexibilisierung und zunehmende Arbeitslosigkeit stark ab. In den Jahren 1996 und 1997 gewann der gewerkschaftliche Kampf auf nationaler Ebene wieder an Fahrt, und auch auf der Ebene des Mercosur kam es zu einigen interessanten Ergebnissen. Nach einem Treffen der Gewerkschaftspräsidenten Ende 1997 wurde Arbeits- und Sozialrechten und der Demokratisierung im Mercosur mehr Nachdruck verliehen.
Mit der erneuten Stärkung der Gewerkschaften sah es auch nach Fortschritten in der „Arbeitsgruppe Arbeitsbedingungen, Beschäftigung und Soziale Sicherheit“ aus. Die CCSCS präsentierte dort als zwei zentrale Forderungen die Verabschiedung einer Declaração Sociolaboral (Erklärung über Sozial- und Arbeitsrechte) und die Schaffung einer Aufsichtsinstanz auf dem Arbeitsmarkt, die 1998 auch angenommen wurden. Außerdem verschlechterten sich die Beschäftigungssituation und die sozialen Verhältnisse zusehends, was der CCSCS neuen Zuspruch brachte.
Zwei große Ereignisse fanden statt: der Aufzug am 1. Mai, an der Grenze zwischen Uruguay und Brasilien mit mehr als zehntausend Menschen und der erste Gewerkschafts-Gipfel des Mercosur in Montevideo im Dezember 1998, an dem etwa 400 GewerkschaftsvertreterInnen aus 16 verschiedenen Wirtschaftszweigen teilnahmen.
Auch im letzten Jahr kam es zu neuen Mobilmachungen und zum zweiten Gewerkschafts-Gipfel im Dezember in Florianópolis, an dem beinahe doppelt so viele Gewerkschaftsvertreter mitwirkten. Die TeilnehmerInnen übten übereinstimmend Kritik an den ökonomischen Modellen, die von den vier Ländern des Mercosur übernommen wurden und ihren sozialen Folgen. Außerdem verurteilten sie das Freihandelsabkommen FTAA (Free Trade Area of the Americas) und unterstützten die Vertiefung des Integrationsprozesses, um so die Beziehung zu anderen Handelsblöcken zu stärken.
Eine der grundlegenden Forderungen des Kongresses an den derzeitigen Koordinator des Mer-cosur, Botschafter Botafogo, war es, vor dem Beitritt zu FTAA alle Regierungen zur Organisation einer Volksabstimmung zu verpflichten. Dieser Vorschlag ist bereits in den Parlamenten der vier Mercosur-Staaten vorgestellt worden, und seine Unterstützung dehnt sich auch auf die übrigen Staaten der americas aus.
Durch die öffentliche Verkündung des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez auf dem Treffen von Quebec, vor dem Beitritt zur FTAA solch ein Referendum zu organisieren, gewinnt diese Forderung immens an Kraft.

Gibt es wirklich Fortschritte?

Für eine(n) außenstehende(n) BeobachterIn stellt sich nach den hier gegebenen Eindrücken unmittelbar die Frage: Gibt es Erfolge? Erkennt der Mercosur den Arbeitsschutz und die Verbesserung der Sozialnormen an?
Bei Themen der Arbeitsplatzschaffung, Lohnverbesserung und Verbesserung der Arbeitskonditionen ist die Antwort Nein. Die soziale Situation der vier Länder hat sich wahrnehmbar verschlechtert, und bis heute fördern die Maßnahmen, die der Mercosur zustande gebracht hat, im Grunde nur die großen Firmen und das internationale Finanzkapital. Jedoch haben die Gewerkschaften im Mercosur – abgesehen von ihrer derzeitigen Schwäche – wichtige Bereiche erobert. Wenn diese weiterhin ausgebaut werden, können sie den Weg zu einem größeren Organisations- und Mobilisierungsgrad ebnen und zu realen sozialen und ökonomischen Errungenschaften führen.

Soziale Themen an höchster Stelle

Die Declaração Sociolaboral ist inhaltlich zurückhaltender als die nationalen Gesetzgebungen formuliert und darüber hinaus nicht bindend. Aber sie wurde von den Gewerkschaften angenommen, weil sie die Schaffung des ersten dreigeteilten Kontrollorgans für ihre Umsetzung vorsieht – die Comissão Sociolaboral. Dies wurde nur möglich, weil sie im Vertrag von Asunción noch nicht vorgesehen war und eine direkte Verbindung zur obersten Verhandlungsinstanz des Mercosur hat, also nicht den Arbeitsministerien untergeordnet ist. So können soziale Themen an höchster Stelle eingebracht werden.

Hintertür Tarifverträge

Außerdem gibt es gute Möglichkeiten, mit Tarifverhandlungen auf bi- oder trinationaler Ebene weiterzukommen. Es gibt bereits einen Tarifvertrag zwischen den Volkswagenniederlassungen in Argentinien und Brasilien und ihren Gewerkschaften. Trotz der rechtlichen Unterschiede zwischen den Tarifverträgen sind durch die Erklärung Anfänge geschaffen, die die Wirksamkeit von ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen in den Verhandlungen auf supranationaler Ebene stärkt. Die Tarifverhandlungen könnten auch Fakten schaffen, die mittelfristig eine rechtliche Gestalt annehmen, welche in die Deklaration oder das juristische Grundgerüst des Mercosur übernommen werden kann. Damit das umgesetzt wird, müssen die Gewerkschaften offensichtlich ihre organisatorischen Pläne weiterverfolgen und auch weiterhin Druck ausüben.

Gewerkschaftliche Mitwirkung ausschlaggebend

Ein weiterer wichtiger Erfolg ist die Einrichtung einer Aufsichtsinstanz im Arbeitsmarkt des Mercosur – ein eher technisches Organ, das den Arbeitsministerien untergeordnet ist, aber dreiteilig geleitet wird. Diese Aufsicht könnte neben ihrer Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt bei Themen der Beschäftigung, Qualität der Beschäftigung, Migration etc. Möglichkeiten zu Debatten und politischen Verhandlungen eröffnen und Richtlinien zu staatlicher Förderpolitik erstellen. Auch hier ist die gewerkschaftliche Mitwirkung ausschlaggebend.
Zu guter Letzt gibt es die Einflussmöglichkeit im Foro Consultivo Econômico Social do Mercosur (FCES), in dem derzeit zwar beinahe nur gewerkschaftliche und unternehmerische Organisationen sitzen, das aber Raum zum Austausch gewerkschaftlicher Organisationen mit anderen Institutionen der Zivilgesellschaft liefern könnte. Auf diese Weise können die Gewerkschaften an Bedeutung gewinnen, wenn das FCES im Mercosur auf dem Gebiet demokratischer Fortschritte Gewicht bekommt.

Übersetzung: Laurissa Mühlich

KASTEN

Einige Erläuterungen zum Mercosur

Der Mercado Común del Sur (Gemeinsamer Markt des Südens) ist ein geschützter Handelsblock, mit dem Ziel, einen gemeinsamen Markt zwischen Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay aufzubauen. Er wurde mit dem Vertrag von Asunción im März 1991 gegründet.
Im Mercosur leben über 200 Millionen Menschen, von denen 80 Millionen ökonomisch aktiv sind. Das Pro-Kopf-Einkommen ist dort höher als im Rest des lateinamerikanischen Kontinents. Der Mercosur ist international der viertgrößte Handelsblock; in ihm werden 54 Prozent des lateinamerikanischen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet. Brasilien und Argentinien sind von den Mitgliedsstaaten, zusammen mit Mexiko, die Länder, die in Lateinamerika die meisten ausländischen Investitionen anziehen.
1994 wurde mit dem Protokoll von Ouro Preto die Freihandelszone beschlossen. Die Entwicklung der Zollunion wurde in Gang gesetzt, doch sie hat sich bis heute nicht über einen gemeinsamen Außenzoll hinaus weiterentwickelt. Aufgrund interner wirtschaftlicher Krisen in Argentinien und Brasilien ist dieser bereits mehrfach punktuell erhöht worden.
Im ökonomischen Blickwinkel ist der Mercosur zweifellos ein erfolgreiches Unternehmen. In den letzten 10 Jahren ist der Handel innerhalb des Wirtschaftsblocks um das Vierfache gestiegen: Von 5,1 Milliarden US-Dollar 1991 auf 20,7 Milliarden US-Dollar 1997. In den Jahren 1998 und 1999 brach der wirtschaftliche Austausch aufgrund der internationalen Finanzkrise, die insbesondere Argentinien und Brasilien traf, stark ein. Er erholte sich allerdings im letzten Jahr etwa auf das Niveau von 1997. Brasilien ist der größte Importeur im Wirtschaftsraum Mercosur – zudem betrugen die Ausfuhren an den Mercosur 1999 bereits 14,1 Prozent der gesamten brasilianischen Exporte. Für die anderen Mitgliedsstaaten ist die Bedeutung des Mercosur noch größer. 1999 machte der intraregionale Handel 30,3 Prozent der Ausfuhren Argentiniens aus. Für Paraguay waren es 41,4 Prozent und für Uruguay sogar 45 Prozent.
Zur Zeit durchlebt der Mercosur seine härteste Bewährungsprobe, die durch den Druck bei den FTAA-Verhandlungen (Free Trade Area of the Americas) und die argentinische Wirtschaftskrise ausgelöst wurde.

Zurück ins Land der Großväter

Aus meiner Familie muss irgendjemand Italiener gewesen sein“, erzählt Julio Gómez aus Buenos Aires. „Meine Mutter heißt Santucho mit Nachnamen. Das kommt eigentlich vom italienischen Santucchi. Aber das reicht noch nicht für einen Pass.“ Der 25-Jährige zuckt resigniert die Achseln. Julio ist einer der vielen Argentinier, denen plötzlich die Herkunft ihrer Groß- und Urgroßeltern am Herzen liegt. War sie bisher nur Anekdote und Familiengeschichte, der keine Bedeutung beigemessen wurde, ist sie heute eine Hoffnung. Glücklich schätzt sich, wer nachweisen kann, dass der Opa oder die Oma damals um die Jahrhundertwende aus Europa nach Argentinien kam. Sie flohen vor wirtschaftlicher Misere in dieses viel versprechende südamerikanische Land. Heute erhoffen sich die Enkel ihrerseits wirtschaftlicher Misere zu entrinnen, argentinischer Misere. Denn mit europäischen Vorfahren kommt man an europäische Pässe. „Rückauswanderung“ nennt sich das Phänomen. Laut Umfragen tragen sich dreissig Prozent der ArgentinierInnen mit Auswanderungsgedanken.
Das Land stagniert politisch und wirtschaftlich. Verpufft ist der Elan und Enthusiasmus des Aufbruchs der achtziger Jahre nach dem Ende einer der grausamsten Diktaturen Lateinamerikas. Hoffnungslosigkeit und Resignation machen sich breit. Die Korruption im Land lässt sich scheinbar nicht ausrotten. Auch die neue Regierung von Fernando de la Rúa verstrickte sich im Oktober 2000 derart in einen Bestechungsskandal, dass die Regierungsallianz nach nicht einmal einem Jahr Amtszeit zu scheitern drohte. Die Kriminalität, hat sich in den letzten zehn Jahren verdreifacht. Und die Arbeitslosigkeit erreicht fast 16 Prozent, nicht eingerechnet die Dunkelziffer derer, die sich mit Strassenhandel und kleinen Geschäften irgendwie über Wasser halten. „An meinen Umsätzen sehe ich, wie schlecht es uns Argentiniern geht“, erzählt Alejandro Carrizo, einer der vierzigtausend Taxifahrer der Hauptstadt, die täglich ums Überleben kämpfen. „Habe ich vor vier Jahren im Schnitt 100 Pesos in zwölf Stunden verdient, komme ich jetzt mit Glück gerade mal auf 70.“ Alejandros Beobachtung wird vom Meinungsforschungsinstitut Gallup Argentina bestätigt. Ihrer Statistik zufolge finden 72 Prozent der ArgentinierInnen, dass sich Ihre wirtschaftliche Situation im letzten Jahr verschlechtert hat, und 65 Prozent der Befragten beurteilen das erste Amtsjahr der Regierung von Fernando de la Rúa als negativ. Jugendliche suchen deshalb ihr Glück ausserhalb Argentiniens. Egal, auf welchem Weg.

Lieber illegal als arbeitslos

Julio Gómez kam lediglich über die Weihnachtsfeiertage zurück nach Buenos Aires. Ursprünglich hatte er vor anderthalb Jahren nur durch Europa reisen wollen. Jetzt ist Spanien seine zweite Heimat geworden, auch ohne Pass. „Ich ziehe die Illegalität dort allemal der Aussichtslosigkeit Argentiniens vor. Hier habe ich trotz Studium keine Chancen, und dort geht es mir selbst als Kellner besser.“ Wie viele ArgentinierInnen ohne Aufenthaltsgenehmigung in Europa leben, ist unbekannt.
Lange Schlangen bilden sich täglich vor allem vor der spanischen und der italienischen Botschaft in Buenos Aires. Ab drei Uhr früh stehen ganze Familien an, um Pässe zu beantragen oder Fragen nach Ausreisemöglichkeiten zu stellen. Die grösste Vertretung Spaniens in der Welt steht kurz vor dem Kollaps. Mehr als 1000 Personen kommen jeden Tag in der Hoffnung auf Hilfe, Hunderte senden ihre Anliegen per E-Mail. In nur zwei Jahren hat sich die Zahl der ausgestellten Pässe auf 20 000 im Jahr nahezu verdoppelt. 253 000 ArgentinierInnen konnten ihre spanische Abstammung mittlerweile nachweisen und besitzen das begehrte Dokument. Schätzungsweise 250 000 hätten nach Angaben des Konsulats noch ein Anrecht darauf. Ähnliches ist aus der italienischen Botschaft zu hören. Auch hier wurden in der letzten Zeit deutlich mehr Pässe ausgegeben als noch Mitte der neunziger Jahre. Tendenz weiter steigend. Schon das erste Halbjahr 2000 übertraf mit insgesamt 6835 Pässen fast das gesamte Jahr 1999. Die Einreisevisa in die USA stiegen ebenfalls um 42 Prozent, auch wenn das Land längst nicht mehr als Wunschland Nummer Eins gilt. Europa hat ihm den Rang abgelaufen, nicht zuletzt weil der Pass eines europäischen Landes Schlüssel zur Europäische Union ist.

Geschäft mit der Hoffnung

Der sehnliche Wunsch, der Tristesse Argentiniens zu entkommen, hat bereits auch diejenigen auf den Plan gerufen, die mit Hoffnungen ihr Geschäft machen. Im Oktober wurde eine eigenartige Fluchtwelle aus der Provinz Mendoza nach Kanada bekannt. Nach Angaben der argentinischen Tageszeitung „Página/12“ suchten in nur drei Monaten 2500 Argentinier in Kanada Asyl. Sie katapultierten damit Argentinien noch vor Sri Lanka auf Platz eins in der kanadischen Liste der politischen Asylantragsteller. Die Ursache für dieses Phänomen liegt in der kanadischen Verfassung. Sie gewährt jedem Flüchtling ein Jahr Aufenthalt zur Prüfung des Asylantrags. Zudem hatte Kanada in den letzten Jahren einigen Argentiniern als Opfer polizeilicher Übergriffe und Willkür politisches Asyl zugesprochen. Diese Umstände machten sich jetzt Menschenschmuggler zu Nutze, um verzweifelten ArgentinierInnen das Blaue vom Himmel zu versprechen. Bis zu 5000 US-Dollar Vermittlungsgebühr zahlten die Ausreisewilligen und verkauften zumeist alles, was sie besaßen. Doch ist es sehr unwahrscheinlich, dass ihre Asylanträge durchkommen. Zu offensichtlich ist, dass sie nicht vor politischer Verfolgung aus Argentinien flohen.

Spanisch-argentinische Dörfer

Andere hatten mehr Glück. Sie wurden sogar gezielt angeworben. So suchte der Bürgermeister des spanischen Dörfchens Aguaviva in Aragón im Sommer 2000 dringend Einwanderer aus Argentinien, um seine völlig überalterte Gemeinde vor dem Aussterben zu bewahren. Wie die Madrider Tageszeitung „El País“ berichtete, wandte sich Luis Bricio mit einem Aufruf an einen argentinischen Radiosender. Er versprach Arbeit in der Landwirtschaft, dem Baugewerbe, in einer Schinkenräucherei und einer Textilfabrik. Interessierte sollten zunächst einen Dreimonatsvertrag erhalten, um sich im Ort umsehen zu können. Wer dann bleiben wolle, könne seine Familie nachholen und mit verbilligten Krediten ein Haus kaufen. Die Bedingungen: Die Bewerber müssen Nachkommen von Spaniern und jünger als vierzig Jahre alt sein sowie zwei Kinder im Schulalter und eine Berufsausbildung haben. Sie müssen sich zu dem verpflichten, mindestens fünf Jahre in Aguaviva zu leben. Das Dorf schiesst die Reisekosten vor, die dann vom Gehalt zurückgezahlt werden können. Aus ganz Argentinien bewarben sich mehr als 5000 Personen, vierundzwanzig Familien wurden ausgewählt.
Die Ausreisewelle ist inzwischen in ganz Argentinien zu spüren. „Jeder hat jemanden in der Familie oder im Bekanntenkreis oder weiß von Leuten, die weggegangen sind“, sagt Oscar Suárez, ein Studienkollege von Julio Gómez und einer der wenigen aus seinem Jahrgang, der Arbeit gefunden hat. Und Julio selbst wird von all seinen Freunden über seine Erfahrungen in Europa befragt. Denn es sind vor allem die Jüngeren mit einem Universitätsabschluss, die gehen. „Ich habe nicht studiert, um als Taxifahrer zu enden“, erklärt Gabriel Walerko, der sich gerade nach einem Aufbaustudium in Spanien umsieht – mit spanischem Pass, dem Grossvater sei Dank. Claudia Lucca, die zusammen mit Julio, Oscar und Gabriel Tourismus studiert hat, lebt mehr schlecht als recht von ihrem Job in einem Reisebüro. An sechs Tagen in der Woche arbeitet sie zehn Stunden täglich. Aber die Kaufkraft der Kunden lässt immer mehr nach. Damit schwinden die Provisionen, die ihr mageres Gehalt von 500 Pesos ein wenig aufbesserten. Sie möchte nicht fort aus Argentinien, sie hängt am Land und an ihrer Familie. „Doch wenn mein Chef, der selbst italienische Vorfahren hat, es sich anders überlegt und das Reisebüro zumacht, um nach Europa zu gehen, dann werde wohl auch ich darüber nachdenken müssen“, sagt sie. Denn in der Tourismusbranche eine Arbeit zu finden, ist wie in fast jedem Bereich nahezu aussichtlos. „Wer hier arbeitslos wird“, erklärt Claudia, „wird nur in Ausnahmefällen noch einmal einen ähnlich guten Job finden. Meist beginnt dann der Abstieg.“
Fernando de la Rúa beklagt, nicht ganz zu Unrecht, die Rezession sei ein Resultat der Politik seines Vorgängers Carlos Menem. Die „Wanderungsbewegung“ aber, so De la Rúa, sei nichts anderes als ein Ausdruck der Bewegungsfreiheit in der Welt, normal im Zeitalter der Globalisierung und Flexibilität.

Einwanderung nach Argentinien

Trotz Rückwanderung hat Argentinien seinen Reiz als Einwandererland auch heute noch nicht verloren. Allerdings zieht es schon lange nicht mehr die EuropäerInnen nach Südamerika. Dafür kommen die NachbarInnen aus Peru, Bolivien, Paraguay und Ecuador. Oder sie kommen aus Korea, Russland und der Ukraine. Im Vergleich zur Armut und Hoffnungslosigkeit in diesen Ländern weckt Argentinien trotz Rezession Hoffnung. Die Pesos, die sie hier zu verdienen hoffen, sind dem Dollar gleichgestellt. Aber die neu Einwandernden sind nicht gerne gesehen. Viele ArgentinierInnen, suchen bei den ImmigrantInnen die „Schuldigen“ für ihre eigene Misere. Eine erste Welle des Fremdenhasses überzog das Land Anfang 1999, als die damalige Regierung von Carlos Menem, der selbst aus einer syrischen Einwandererfamilie stammt, mitten im Wahlkampf um den Präsidentenstuhl einen Vorschlag zur Änderung des Immigrationsgesetzes vorlegte. Neue Kontrollen an den Grenzen sollten vor illegalen Einwanderern schützen, denen 60 Prozent aller in Argentinien begangenen Delikte zugeschoben wurden. Die Medien griffen diese Polemik sofort auf und untermalten sie mit täglichen Bildern von Schiessereien, Raubüberfällen und Razzien. Die Polizei kontrollierte mit Vorliebe indigen aussehende Passanten. An dieser Situation hat sich nicht allzu viel geändert. Immer mehr in Argentinien lebende AusländerInnen suchen inzwischen einen Weg, ihrerseits wieder dem Land zu entrinnen. Vor allem in der mexikanischen Botschaft in Buenos Aires gehen verstärkt Visaanträge von KoreanerInnen, BolivianerInnen oder PeruanerInnen ein, die hoffen, über Mexiko in die USA zu gelangen.

Beruf Grenzgänger

Als kleiner Junge hat Cristian sich immer gefragt, was das für ein Land sei, dort auf der anderen Seite des Flusses. Mit seiner Großmutter überquerte er zum ersten Mal den Río Paraná, den Grenzfluss zwischen Argentinien und Paraguay, der die beiden Städte Posadas und Encarnación trennt. Seit mehr als 40 Jahren arbeitet Cristians Großmutter als pasera, als Grenzgängerin. Die Familie teilt sich die Arbeit auf: Die Einen holen die Ware in Encarnación, die Anderen verkaufen sie in Posadas. „Beim Grenzübergang zahlst du dem Zollbeamten ein paar Pesos, damit er dich passieren lässt. Wenn du Pech hast, nimmt er dir alles ab. Das hängt ganz davon ab, mit wem du es zu tun hast“, erzählt die alte Frau und zischt verächtlich durch die wenigen, ihr noch verbliebenen Zähne: „Die sind alle korrupt“. Gabi, Cristians älterer Bruder, ruft dazwischen: „Einem Freund nahmen sie das Auto ab, weil er keine Papiere hatte. Um es zurückzukriegen, hätte er den Wert des Autos zahlen müssen“.
Mit 18 hatte Cristian seine Familie verlassen, um sein Glück in Buenos Aires zu versuchen. Er heiratete und ist nun stolzer Familienvater. Der heute 21-Jährige arbeitet als Kellner in einem Restaurant, von morgens neun Uhr bis Mitternacht, sechs Tage in der Woche. Er bekommt dafür rund 500 US-Dollar monatlich. Das ist fast das Vierfache des durchschnittlichen Monatseinkommens in seiner Heimatprovinz Misiones.
Wie eine Umfrage des Sozialforschungsinstituts Equis kürzlich ergab, leben mindestens 7,4 Millionen ArgentinierInnen, rund 20 Prozent der Bevölkerung, von etwa 65 US-Dollar monatlich. Die Kluft zwischen Arm und Reich hat weiter zugenommen: Unter den zehn Prozent der ärmsten ArgentinierInnen sank das durchschnittliche Einkommen laut Equis-Untersuchung in den vergangenen drei Jahrzehnten um 55 Prozent, das Einkommen des reichsten Zehntels der Bevölkerung stieg hingegen um fast 60 Prozent.
Zu dieser Polarisierung trug die neoliberale Privatisierungspolitik unter Ex-Präsident Carlos Menem (1989–1999) erheblich bei. Umso mehr verband die Mehrheit der ArgentinierInnen den Amtsantritt seines Nachfolgers Fernando de la Rúa im vergangenen Dezember mit neuen Hoffnungen. Doch der Optimismus ist verflogen. De la Rúas Sparpolitik, Lohnsenkungen bei den öffentlichen Angestellten, Steuererhöhungen und öffentliche Ausgabenkürzungen haben die nun schon zwei Jahre anhaltende Rezession verschärft und die Arbeitslosigkeit erneut steigen lassen. Die Arbeitslosenquote ist offiziell wieder auf mehr als 15 Prozent geklettert, die Wachstumsprognosen der Wirtschaft für das Jahr 2000 wurden inzwischen auf 0,6 Prozent nach unten korrigiert. Damit verzeichnet Argentinien in diesem Jahr die schwächste Wirtschaftsentwicklung unter den sieben größten Volkswirtschaften Lateinamerikas.
Besonders von Arbeitslosigkeit und Rezession betroffen sind die Provinzen im argentinischen Norden: In Salta, im Nordwesten des Landes, leben 56 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, die Ärmsten leben von wenig mehr als einem US-Dollar pro Tag, während die Abgeordneten im Regionalparlament mehr als 500.000 US-Dollar jährlich einstreichen. Im Frühjahr war es in acht Provinzen zu gewaltsamen Massenprotesten gekommen, unter anderem in Salta, Formosa und im Chaco (vgl. LN 312). Laut Artemio López von Equis fanden die Proteste vor allem in jenen Provinzen mit der größten Kluft zwischen gut verdienenden Abgeordneten und verarmten Massen statt.

Zwischen Posadas und Encarnación

Dass es in der nordöstlichen Grenzregion um Posadas noch nicht zu größeren Ausschreitungen gekommen ist, könnte daran liegen, dass ein Großteil der Bevölkerung im informellen Sektor, das heißt in diesem konkreten Fall im halblegalen bis illegalen Grenzhandel, tätig ist. So auch Cristians Familie, die noch am Ufer des Río Paraná lebt.
Für Cristians Eltern, seine fünf Brüder und die zahlreichen Verwandten hat der Paraná immer noch große Bedeutung. Zwei bis drei Mal täglich überqueren die Frauen den Fluss in das paraguayische Encarnación und kommen voll beladen zurück. In ihren Taschen bringen sie Zigaretten, Kleider und Haushaltswaren aus Paraguay mit, die sie dann auf dem Mercado La Placita, dem Markt von Posadas, verkaufen. Auf dem Markt gibt es alles von der Unterhose bis zum Büstenhalter, vom Spielzeug bis zu Armbanduhren und CDs.
Rund 11.000 Menschen überqueren täglich die Brücke Roque González de Santa Cruz. Drüben in Paraguay ist die Stange Zigaretten um die Hälfte billiger. Das Geschäft lohnt sich also. Doch richtig rentabel wird es erst, wenn man ein Auto hat: Für einen Kofferraum voll geschmuggelter Videokassetten springen schon einmal 100 bis 150 US-Dollar heraus.
Trotz Mercosur, dem gemeinsamen Markt von Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay, hat sich in der Provinz Misiones wenig geändert. Geschmuggelt wird weiterhin. Böse Zungen behaupten, dass die 32.000 EinwohnerInnen Encarnacións nur davon leben. Die „Perle des Südens“, wie die Stadt euphemistisch genannt wird, steckt tief in der Krise. In den vergangenen Jahren mussten zahlreiche Firmen, Geschäfte und Restaurants schließen. „Die Leute haben kein Geld. Nicht einmal für ein Huhn für den heimischen Kochtopf“, sagt Vicente, der seit seiner Geburt in Encarción lebt. Seine Frau habe ihn verlassen, nachdem hier alles den Bach runterging, erzählt er. „Nach Buenos Aires ist sie, wie viele Paraguayos“, vermutet der Mittvierziger. Doch in der argentinischen Hauptstadt erwartet die Zugezogenen wenig anderes als erneutes Elend. Für viele Menschen aus dem Norden, die die Illusion hatten, einen Job zu finden, endet die Reise in der Sackgasse aus Arbeitslosigkeit, Armutskriminalität und einem Leben in den Elendsvierteln der Megalopolis am Río de la Plata.
Cristian hat Glück gehabt: Mit seinem Verdienst und dem seiner Frau lässt es sich einigermaßen leben in der Hauptstadt. Wenn am Monatsende etwas Geld übrig bleibt, schickt er es seinen Verwandten nach Posadas. Oft muss er an sie denken.
Verändert hat sich in seiner Heimat nur wenig: Den Menschen an der Grenze bleibt nichts anderes übrig, als zu schmuggeln. Arbeitsplätze gibt es kaum und die wenigen sind zudem miserabel bezahlt. Wer nicht schmuggelt, ernennt sich selbst zum Zöllner: Hat ein pasero die Grenze einmal überquert, ist längst nicht alles überstanden. Dann kommen Diebesbanden, bewaffnete Wegelagerer, einige von ihnen sogar in falschen Uniformen, und fordern ihren Zoll. Besonders auf Lastwagen haben es die Grenzpiraten abgesehen. Dabei verschwinden mitunter ganze Ladungen. Die Diebe nehmen, was ihnen zwischen die Finger kommt: Handys, Hifi-Anlagen oder Fotoapparate, und auch schon mal eine Lieferung tiefgekühlter Hähnchen.
Die meisten Jugendlichen in Posadas sind arbeitslos, so auch Cristians Brüder. Wenn sie nicht gerade „organisieren“ gehen, hängen sie herum, trinken, vergnügen sich bei Cumbia-Musik mit Mädchen, oder gehen zum familieneigenen Schießstand, um ein bisschen auf leere Bierflaschen oder selbst gebastelte Zielscheiben zu ballern. Eine Waffe sei leicht zu bekommen, sagt Carolina, Cristians Frau. Sie weiß auch, dass die Männer der Familie einen Großteil ihres Geldes damit verdienen, Fernfahrern Wegegeld abzukassieren.
Rund 25 Kilometer von Posadas entfernt liegt Candelaria, ein Ort, der wie ausgestorben wirkt. Auf der Straße trifft man nur ein paar Rudel streunender Hunde und eine handvoll Polizisten. Vor allem nachts gehen sie auf Patrouille, denn hier ist der Río Paraná schmal und lädt zu nächtlichen Schmuggelfahrten ein. Jeder weiß, dass die Polizei kräftig am „Geschäft“ mitverdient. „Ganz Candelaria lebt vom Schwarzhandel“, gesteht ein vor sich hin dösender Kioskbesitzer.
Es sei gefährlicher geworden, sagt der Alte, der von seinen 50 US-Dollar Rente allein nicht leben kann. „Wenn es dunkel wird, traut sich niemand mehr auf die Straße. Eine Bande aus Paraguay treibt ihr Unwesen, angeführt von einer Frau. Kaum jemand hat sie jemals zu Gesicht bekommen. Aber wer ihr nicht passt, mit dem macht sie kurzen Prozess.“

Regenschirme und Schweineleder

Das Misstrauen zwischen ArgentinierInnen und ParaguayerInnen sitzt tief. Die paraguas (Regenschirme), wie Letztere genannt werden, seien alles Diebe, klagt der Mann am Kiosk: „Wenn du nicht Acht gibst, fallen sie über dich her.“ Und für die „Regenschirme“ sind die Argentinier curepís, das heißt in der Indianersprache Guaraní so etwas wie „Schweineleder“. Manche sagen auch schlicht „weiße Schweine“.
Zurück in der „geteilten Stadt“: Eine endlose Schlange von Autos bewegt sich zäh Richtung Argentinien. Die Hitze lähmt. Der Asphalt scheint zu kochen. Die argentinische Regierung hat die Kontrollen verschärfen lassen, nicht erst seit kürzlich ein Gendarm erschossen wurde. Immer mehr Schmuggler seien bewaffnet, heißt es. Die Polizei sucht nun verstärkt nach Rauschgift. In der oberen Liga der Schmuggler und Diebe wird mit gestohlenen Autos, Kleinkindern und Drogen gehandelt. Erst vor kurzem hatte die Polizei Marihuana im Wert von einer halben Million Dollar sicher gestellt. Auch einige ihrer Kollegen waren in den Deal verwickelt.
Argentinien hat sich in den vergangenen Jahren nicht nur zum Umschlagplatz für Drogengelder entwickelt. Es ist auch zum Transitland für Kokain in Richtung Europa geworden. Unter den Sitzen der Autos vermuten die Polizeibeamten das „weiße Gold“. Doch mit den schärferen Kontrollen gehen der argentinischen Polizei vor allem mehr paseros ins Netz, kleine Fische, die sie schröpfen können, während die großen ungeschoren bleiben und ihre Yachten irgendwo in einem sicheren Hafen liegen haben.

Die Korruption macht Politik

Nach den Protesten in den Provinzen sah sich die argentinische Regierung zum Handeln gezwungen. De la Rúa kündigte einen Fonds zur Bekämpfung der Armut an. Doch soziale Hilfsmaßnahmen scheiterten bisher stets an einem ungeschriebenen Gesetz der armen Regionen: der Korruption. Die Ressourcen teilten die LokalpolitikerInnen unter sich selbst auf, die Gelder landeten entweder in ihren eigenen Taschen oder in denen der SympathisantInnen.
Die Offensive der argentinischen Regierung, den Schmuggel an der argentinisch-paraguayischen Grenze zu stoppen, hat zudem nur dazu geführt, vielen GrenzgängerInnen am Río Paraná die Lebensgrundlage zu rauben. Denn eine Alternative für die tägliche Reise über den Fluss haben die Menschen dort noch nicht gefunden.

Ein Institut sucht nach seinem Profil

Vor wenigen Jahren ging noch eine Meldung durch die Presse, dass das Iberoamerikanische Institut wahrscheinlich geschlossen oder ohne eigenen Forschungs- und Bibliotheksbereich der Staatsbibliothek Berlin angegliedert werden müsste. Mittlerweile kann das Ibero seinen 70. Geburtstag feiern, und es geht ihm wohl besser als je zuvor, soweit man das von außen erkennen kann. Was ist passiert in der Zwischenzeit?

Die Gefahr ist nicht überstanden. Wir befinden uns jetzt in einer Moratoriumsphase. Der Stiftungsrat der Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat entschieden, dem Iberoamerikanischen Institut einen Zeitraum von fünf Jahren einzuräumen, um seine Aufgaben und Funktionen sowie seine inneren Strukturen neu zu definieren. Der formale Grund dafür war die Übernahme von Hauptstadtfunktionen in Berlin. In diesen fünf Jahren befinden wir uns jetzt. Mein Vertrag ist auch auf diese Phase beschränkt, und ich gehe davon aus, dass wir irgendwann im Jahre 2004 zu einer definitiven Entscheidung über die Zukunft dieses Hauses kommen werden.

Wie sind die Aussichten?

Ich bin Berufsoptimist. Wir unternehmen alles, um ein Profil anzubieten, das dem Niveau des Hauses und seinem internationalen Ruf entspricht. Als außeruniversitäre Einrichtung wollen wir zeigen, dass wir im Forschungsbereich einen konzeptionellen Ansatz haben, der geeignet ist, sich selbst zu tragen – und dass das auch hinreichend interessant ist für ganz Deutschland, für West- wie Osteuropa sowie für Lateinamerika, Spanien und Portugal.

Welche Schwerpunkte beinhaltet dieser Ansatz?

Es hat hier eine interdisziplinäre Expertenkommission gearbeitet, die gemeinsam mit den Mitarbeitern des Institutes ein Forschungsprofil definiert hat. Sie hat auch eine Empfehlung zur Gestaltung des Veröffentlichungsprofils vorgelegt, das Erwerbungs- und Erschließungskonzept des Hauses überprüft, das heißt, uns auf Herz und Nieren abgetastet. Innerhalb des Forschungskonzeptes ist festgelegt, dass wir an zwei Forschungsdächern arbeiten. Das eine sind die Beziehungen zwischen Europa und Lateinamerika in Vergangenheit und Gegenwart, das zweite geht über kulturelle Globalisierungstendenzen und Identitäten in Lateinamerika. Unter diesen Forschungsdächern befinden sich jeweils einzelne Forschungsprojekte. Beim ersten geht es zum Beispiel um das Verhältnis einzelner europäischer Staaten zu Lateinamerika, das ja oft stark von den klassischen Bindungen der Migration und der revolutionären Solidarität geprägt ist. Unter dem anderen Forschungsdach versuchen wir einzugehen auf die Rolle der Medien in Lateinamerika, die Rolle von Technokraten in Entwicklungsprozessen, auf die Frage, wie sich territoriale Globalisierungsprozesse zum Beispiel im Bereich der mexikanischen Nordgrenze, im Bereich der Karibik niederschlagen … Eine Fülle von Themen ist da angedacht, so dass das Institut für die nächsten Jahre gut zu tun hat.

Das Verhältnis zwischen Europa und Lateinamerika betrifft ja das Iberoamerikanische Institut selbst, derzeit beschäftigt man sich intensiv mit der Vergangenheit des Ibero im Nationalsozialismus. Was sind die Ergebnisse, worauf ist man gestoßen, was lässt sich als Generallinie erkennen?

Es gibt ja eine Fülle von Veröffentlichungen, die sich auf die Rolle des Institutes bezogen haben, die letzte von Víctor Farías über Chile und den Nationalsozialismus, wo dem Institut eine starke Koordinationsrolle für die Beziehungen mit Lateinamerika über die Person des damaligen Direktors Faupel zugewiesen wird. In der Tat hat ein breites Netzwerk von Beziehungen bestanden, oftmals stellte es sich aber nach außen als mehr dar, als eigentlich da war. Es wurden eine Fülle von Vereinigungen der deutsch-lateinamerikanischen Ärzte oder sonstwas gegründet, die haben sich gegenseitig irgendwelche Orden um den Hals gehängt, irgendwelche Titel verliehen.
Aber es hat in der Tat eine Fülle von Versuchen gegeben, die Realitäten Lateinamerikas in den Dienst des Nationalsozialismus zu stellen; typisches Beispiel sind die Feiern zum “Día de la Raza”. Dabei wird allerdings auch erkennbar, dass der Faupel oft dynamischer war, als es den Machthabern des Nationalsozialismus recht war, und er dann teilweise wieder zurückgepfiffen wurde. Für uns ist diese Auseinandersetzung noch nicht abgeschlossen.

Die Forschungsergebnisse sind im Oktober mit einer kleinen Ausstellung im Lesesaal des Instituts präsentiert worden, die aber nicht allzu viele Interessierte erreicht haben dürfte. Wie kann man sich in der Folge darüber informieren?

Wir haben vor, die drei laufenden Studien zur Nazivergangenheit im Rahmen einer Veranstaltung offen zu legen und mit Interessierten zu diskutieren. Die Auseinandersetzung mit der Rolle des Institutes ist darüber hinaus Ausgangspunkt für ein eigenes Forschungsprojekt, nämlich über Lateinamerika im Nationalsozialismus und über den Nationalsozialismus in Lateinamerika. Das ist auch in Lateinamerika kein abgeschlossenes Kapitel. Es enthält eine Fülle von Dimensionen, die wir demnächst angehen wollen.
Dem Kapitel Spanien kommt noch eine besondere Bedeutung zu, da ja Faupel eine Zeit lang Botschafter des Nationalsozialismus in Spanien war, von Franco aber wegen zu großer Einmischung in innere Angelegenheiten nach Hause geschickt wurde, um hier als Direktor weiterzumachen. Es ist ein sehr komplexes Themenfeld, aber ich halte es auch deshalb für sehr spannend, weil es in Lateinamerika bisher öffentlich noch nicht ausgetragen worden ist, wenn man sich so einige Länder wie Chile, Uruguay, Paraguay, Argentinien ansieht.

Wie hat sich das Iberoamerikanische Institut zur Solidaritätsbewegung in den siebziger und achtziger Jahren verhalten?

Das Institut hat, nicht zuletzt infolge dieser nationalsozialistischen Erfahrung, sich durch eine relativ starke politische Abstinenz ausgezeichnet. Das hat auch institutionelle Gründe, weil nach 1945 das Institut ja erst einmal wieder nur als Bibliothek existierte, da die Alliierten unsere gesamten Akten abtransportiert haben und in die National Archives nach Washington verlegt haben. Insofern war man zunächst – weil man der Auffassung war, dass es sich hier um eine Zentralstelle der nationalsozialistischen Propaganda handelte – darauf aus, sich nicht in politische Sachen einzumischen, sondern das Institut eher im akademisch-kulturellen Bereich anzusiedeln.
Das Institut hat wohl von der Konjunktur der revolutionären Utopien und Solidaritäten gelebt, aber sich nicht in einer sehr dynamischen Weise da mit hineinziehen lassen. Andererseits findet man diese Zeit in den Beständen des Hauses doch in vielfacher Weise ausgeprägt. Wer in die Phonothek geht und unter Guatemala, Nicaragua und El Salvador nachsucht, findet eine Fülle von Revolutions-, Protest- und sonstigen Liedern, die quasi das gesamte Angebot dieser Länder enthalten. Erst heute streben wir wieder eine stärkere politische Funktion des Hauses an, indem wir auf die Hauptstadtfunktionen in Berlin verweisen. Heute muss es eine Aufgabe des Hauses sein, mit Entscheidungsträgern, die sich mit Lateinamerika befassen, einen Dialog zu führen über das, was dort passiert – und wie es einzuschätzen ist.

Gab es denn von der anderen Seite her Versuche – gerade zur Zeit der Diktaturen, etwa von Pinochet-freundlichen Kreisen aus –, das Ibero politisch zu instrumentalisieren?

Berlin war immer eingebettet in ein eher linksorientiertes Umfeld. Aber Versuche, das Institut auf die eine oder andere Weise – auch von rechts – für eine bestimmte Position einzunehmen, hat es immer wieder gegeben. Mir ist das selber aus dem zentralamerikanischen Fall bekannt, wo hier im Institut in der Abgrenzung von den Sandinisten über die Rolle der Kirche stärkere Positionen durchgesetzt werden sollten. Das Institut hat sich da stets sehr reserviert und distanziert verhalten.

Das Image des Iberoamerikanischen Instituts hat sich in den vergangenen Jahren stark verbessert, die Bibliothek ist benutzerfreundlicher geworden, das Auftreten nach außen wirkt moderner und, was die Veranstaltungen anbelangt, von der Programmatik her auch interessanter. Welche Impulse gab es dafür, und welches inhaltliche Interesse steckt dahinter?

Ich habe bei meiner Bewerbung dem Präsidenten und dem Stiftungsrat ein gewisses Konzept vorgetragen, wie ich einschätzen würde und wie ich meine, dass das Institut zu agieren hätte. Im Rahmen des Auswahlverfahrens ist dieses Konzept in meiner Person so gebilligt worden. Auf dieser Grundlage haben wir jetzt zu arbeiten begonnen. Das bedarf in vielfacher Hinsicht noch erheblich der konzeptionellen Konturen und auch einer Vernetzung mit den verschiedenen Institutionen, die in ähnlichen Bereichen arbeiten, europäisch und auch international. Für meinen Geschmack ist das Institut immer noch zu sehr ein Stand-Alone-Akteur. Es muss sich stärker in internationale Vernetzungen einbringen.
Das war die Arbeitsgrundlage. Ich habe entsprechend dem Präsidenten und dem Stiftungsrat im vergangenen Jahr ein Konzept vorgelegt, das auch in die Beratungen der Expertenkommission eingegangen ist, die ich schon erwähnte. Ich glaube, dass das, was die Expertenkommission den Gremien der Stiftung vorgelegt hat, ein Konzept ist, was diesen Weg im Wesentlichen so nachzeichnet. Damit haben wir da eine ganz gute Arbeitsgrundlage.

Wo liegen zurzeit die größten Schwierigkeiten des Instituts?

Die größten Schwierigkeiten des Instituts liegen in der deutschen Öffentlichkeit, darin, dass Lateinamerika einfach kein Thema auf der Agenda ist! Wir tun uns, und das wird Ihnen [den LN] nicht anders gehen, ungemein schwer, über die oberflächliche kulturelle Identifikation mit Buena Vista Social Club und Son hinaus die alten Identifikationen, die wir jedenfalls in den sechziger und siebziger Jahren kannten, wo man sich einmal tiefer auf ein Land oder eine Region eingelassen hat, wieder herzustellen. Wir müssen uns heute Terraingewinne in dem Bereich sehr viel härter erarbeiten.
Nach meiner Auffassung besitzt das Institut dafür eine hervorragende Konstellation durch diesen Hybridcharakter, Kulturelles, Akademisches und Wissenschaftlich-Politisches miteinander verbinden zu können. Da kann man in der Bibliothek Bücher, Zeitschriften, Landkarten, Musik und Videos anbieten und im Veranstaltungsbereich dies entsprechend nachvollziehen. Aber die Bedeutung Lateinamerikas für Deutschland und Europa herauszuarbeiten, ist eine der wichtigsten Herausforderungen auf der Makroebene.
Auf der Mikroebene der eigenen Institution ist für uns ganz wichtig, dass es uns gelingt, die Koordinaion zwischen Bibliothek, Veranstaltungen und Forschung stärker zu entwickeln. Wir haben da schon ein paar Schritte nach vorne gemacht, aber es gilt deutlich zu machen, dass wir nur so arbeiten können, weil wir die Bibliothek im Kreuz haben, und dass auch die Bibliothek versteht, dass die Tatsache, dass wir Forschungskontakte knüpfen und dass wir internationale Symposien und Kulturaustausch betreiben, für sie ein wichtiges Projektionsfeld darstellt. Das muss im Hause noch erheblich weiter gedeihen, damit wir zu einer homogenen Einheit kommen.

Auch mit dem Neuen bleibt das meiste beim Alten

Mit dem überraschenden und denkbar knappen Sieg des Oppositionskandidaten Julio César „Yoyito“ Franco bei den Nachwahlen zum Vizepräsidentenamt hatten viele auf schnelle Veränderungen gehofft, jedoch ist bisher Grundlegendes kaum geschehen.
Die spannendste Frage war mit Sicherheit, wie sich Franco gegenüber dem Präsidenten verhalten wird. González Macchi, der als Senatspräsident auf den höchsten Posten nachgerückt war, nachdem im März 1999 Vizepräsident Argaña ermordet wurde und Präsident Cubas Grau ins Exil ging, ist durch keine Wahl legimitiert. Da die Verfassung in diesem Punkt unklar war, entschied das Oberste Gericht, dass González Macchi die reguläre Amtszeit als Staatsoberhaupt beenden kann.
Einer der Hauptwahlkampfpunkte von Franco war jedoch, genau diese Entscheidung anzufechten, um selbst das höchste Amt des Landes zu übernehmen. Zwei der obersten Richter signalisierten bereits ihre Bereitschaft, die Entscheidung zu revidieren, falls Franco klagen sollte. Hier zeigt sich erneut die Schwäche der paraguayischen Justiz. Viele Entscheidungen sind politisch und nicht juristisch begründet, denn normalerweise sollte eine Gerichtsentscheidung immer das gleiche Ergebnis haben, egal wer klagt.
Franco hat zur allgemeinen Verwunderung erst einmal von seinem Vorhaben, die Präsidentschaft sofort zu übernehmen, Abstand genommen. Es deutet alles darauf hin, dass er sich bereits jetzt lieber auf den Präsidentschaftswahlkampf 2003 vorbereiten möchte. Er macht keinen Hehl daraus, dass er von seinem Chef und der Regierungsmannschaft nicht sehr viel hält: „Es ist eine unsensible und unpopuläre Regierung, die nicht das Geringste unternimmt, um das Land von Rückständigkeit, Armut, Unsicherheit, Arbeitslosigkeit und Korruption zu befreien“.

González Macchis Ansehen auf dem Tiefpunkt

In der Tat, das Ansehen von González Macchi in der Bevölkerung ist so gering wie noch nie, nur noch 11 Prozent sehen in ihm einen guten Regierungschef. Ob es jedoch Franco gelingen wird, in der nächsten Zeit wirklich Veränderungen zu bewirken, scheint fraglich. Das erklärte Ziel, dass 40 Prozent der Kabinettsmitglieder jetzt von seiner Partei, dem Partido Liberal Radical Auténtico gestellt werden, konnte er zumindest im ersten Anlauf der Regierungsumbildung nicht erreichen. Die Veränderungen betrafen nur die Berufungen von Colorados innerhalb der Regierung. Federico Zayas wurde als Finanzminister ersetzt durch Francisco Oviedo, Walter Bower ersetzte José Alberto Planás als Minister für Öffentliche Arbeiten und Julio César Fanego übernahm von Bower das Innenministerium. Bereits vor der Amtsübernahme von Franco hatte der damalige Verteidigungsminister Nelson Argaña, der Bruder des in der Wahl unterlegenen Coloradokandidaten Félix Argaña, sein Amt niedergelegt. Zum ersten Mal seit vielen Jahren wurde daraufhin wieder ein Militär, Admiral José Ramón Ocampos Alfaro, zum Verteidigungsminister ernannt.
Die Kabinettsumbildung sowie die bevorstehenden parteiinternen Wahlen der Coloradopartei verweisen auf das Dilemma, in dem González Macchi steckt. Er muss versuchen, aus den drei zutiefst zerstrittenen Parteifraktionen so etwas wie eine Minimalplattform zu schaffen. Augenscheinlich ist die Fraktion des in brasilianischer Haft befindlichen Exgenerals Lino Oviedo, die UNACE (Unión Nacional de Colorados Éticos) genannt wird, auch weiterhin ein politischer Faktor. Der derzeitige Chef der Coloradopartei hat öffentlich verkündet, dass es unvermeidlich sei, mit der Wiedereingliederung der oviedistas zu beginnen. Doch der Argañaflügel widersetzt sich diesem Vorhaben mit allen Mitteln, denn er beschuldigt Oviedo und seine Anhänger, für den Mord des Vizepräsidenten verantwortlich zu sein.
Obwohl González Macchi öffentlich für einen innerparteilichen Versöhnungsprozess eintritt, bedeutete die Kabinettsumbildung quasi das Gegenteil, da beispielsweise Julio César Fanego, der gleichzeitig der Gouverneur der Provinz Paraguarí ist, als ausgesprochener Argaña-Hardliner gilt. Die Herstellung der inneren Einheit der Colorados dürfte die wichtigste Aufgabe darstellen, wenn die Partei auch in Zukunft an der Macht bleiben will. Die Vizepräsidentschaftswahlen haben recht klar gezeigt, dass das Land zu etwa gleichen Teilen in Colorados und Opposition gespalten ist. Eine uneinige Coloradopartei würde die Chancen der Opposition, auch das ersehnte Präsidentenamt zu übernehmen, deutlich erhöhen.

Oviedo war das Zünglein an der Waage

Mit dem Sieg Francos im Rennen um die Vizepräsidentschaft hat sich auch Oviedo wieder ins Spiel gebracht. Aus der Haft heraus hatte er die Parole ausgegeben, Franco und nicht den Erzfeind Félix Argaña aus den eigenen Reihen zu wählen. Mit dem knappen Sieg Francos verbucht Oviedo den Erfolg für sich. Einerseits musste die Argañafraktion eine Niederlage hinnehmen: Der Partei wurde gezeigt, dass es ohne oviedistas nicht geht. Andererseits muss Franco damit zurechtkommen, die Wahl möglicherweise durch die Politintrigen des ehemaligen starken Mannes und Putschistenführers Oviedo gewonnen zu haben. Überprüfen kann dies keiner. Vielleicht ist dies ein Grund dafür, warum Franco jetzt noch zögert, das Präsidentschaftsamt zu übernehmen.
Derweil kümmert er sich stärker um soziale Belange. In das Regierungsprogramm von González Macchi kann er sich nicht einbringen, denn der hat keins. Es besteht die Gefahr, dass die Amtszeit von González Macchi für Paraguay verlorene Jahre werden.
Also bleibt Franco nichts anderes, als sich an konkreten sozialen Themen zu profilieren. Beispielsweise brachte ihm viele Sympathien ein, sich für das Hospital de Clínicas einzusetzen, das als das Krankenhaus für arme Bevölkerungsschichten gilt und von dem die Demokratiebewegung unter dem Stroessnerregime starke Impulse erhielt. Derzeit ist es wegen fehlender Mittel von der Schließung bedroht.
Auf jeden Fall muss es Franco gelingen, die Opposition auf sich zu vereinen, wenn er der nächste Präsident werden will. Aber auch die ist gespalten, obwohl sie in den letzten Wahlen immer wieder bereit war, gemeinsam anzutreten. Doch auch das dürfte in Zukunft schwieriger werden. Carlos Filizzola, ein ehemaliger Arzt aus dem erwähnten Hospital de Clínicas und als erster oppositioneller Bürgermeister von Asunción eine Leitfigur der Demokratiebewegung, ist vom Vorsitz des Encuentro Nacional, der drittgrößten Partei des Landes, zurückgetreten. Er zeigte sich enttäuscht über die Zusammenarbeit des Encuentro mit den Colorados in der Regierung González Macchi und kündigte die Gründung einer neuen politischen Organisation an, die er als „fortschrittlich, alternativ und demokratisch“ definierte. Das politische Spektrum wird damit sicher breiter, aber auch zersplitterter.

nos-otros – wir anderen

Die mexikanische Identität ist geklärt. Wir wissen, wer wir sind, woher wir kommen, was wir getan haben“ – so der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes in einem Interview mit den Lateinamerika Nachrichten, das in der vorliegenden Ausgabe zu finden ist. Carlos Fuentes gehört zu denen, die noch vor fünfzehn, zwanzig Jahren intensiv danach gesucht haben, was denn das Besondere Lateinamerikas ist, worin es sich unterscheidet vom großen Nachbarn USA und von Europa.
Dabei standen immer auch Identitätsfragen der einzelnen Staaten und Nationen zur Debatte, von denen sich manche vehementer voneinander abgrenzen, als es Normalsterblichen begreiflich ist – man denke etwa an den Konflikt zwischen Ecuador und Peru, der erst kürzlich nach einem Kleinkrieg beigelegt worden ist, oder an die Animositäten zwischen den einzelnen Staaten Zentralamerikas. Schließlich spielt Identität in den Ländern selbst eine große Rolle, etwa wenn es um das Selbstverständnis als quasi-europäische (Argentinien), mestizische (Mexiko) oder afrokaribische Nation (Haiti) geht und auf diesem Wege Machtpositionen abgesteckt und Nicht-Identische ausgegrenzt werden.

Diese Fragen sollen geklärt sein ? Carlos Fuentes geht noch einen Schritt weiter und meint: „Die derzeitige Herausforderung besteht in der Diversität. Das Problem ist, worin wir uns unterscheiden, und wie wir die Diversität respektieren – die religiöse, die der Rasse, die politische, die ideologische.“ In der Tat: In einigen Ländern sind in den vergangenen Jahren die Rechtslagen für Indígenas, Schwarze, Frauen, Homosexuelle verbessert worden, hier und dort haben sich die Partizipationsmöglichkeiten erweitert. Aber ist das Problem der Identität damit geklärt? Wird nicht nach wie vor mit Abgrenzungsargumenten Politik betrieben, haben es nicht nach wie vor viele gesellschaftliche Gruppen nötig, sich durch ein einigendes Selbstbewusstsein von der Dominanz der Mächtigen zu befreien? Und stellt nicht die permanente kulturelle Konfrontation – durch das Fernsehen, die Musik oder den Sprachkontakt – immer neu die Frage: Wer bin ich, wer sind wir?
Im Schwerpunkt dieser LN-Ausgabe beschäftigen wir uns mit dem derzeitigen Stand der Identitäten. In einigen Artikeln wird die Identitätsbildung von „unten“, den Marginalisierten aus beschrieben: Während in Brasilien die „schwarze“ Bevölkerung unter der Behauptung leidet, es gebe keinen Rassismus, sondern statt dessen eine „Rassendemokratie“, kämpfen indigene Gruppen in Mexiko, Guatemala und Chile – jeweils unter ganz eigenen Umständen – um ihre Anerkennung als gleichberechtigte und eigenständige Teile der Gesellschaft;.
In anderen Texten geht es darum, wie die Identität eines Landes von „oben“, von seiten der Mächtigen aus bestimmt wird. So ist Paraguay ein durch und durch vom Militär geprägtes Land, in dem es fast unmöglich ist, die zivilen Terrains von militärisch beherrschten zu trennen. In El Salvador ist nach zwölf Jahren Bürgerkrieg die Wiedervereinigung der Gesellschaft ein zentrales Anliegen der Regierung. In Bolivien dient ein bereits über hundert Jahre alter Streit um den Zugang zum Pazifik als Argumentationsboden für die Legitimität von Politikern. Wer den Pazifikhafen nicht will, ist kein guter Bolivianer.

Schließlich beschreiben einige Artikel „auf Augenhöhe“, wie es um die Selbst- und Fremdbeschreibung steht: In Surinam, einem Land zwischen allen Weltregionen, stellt sich die Frage „Wer sind wir eigentlich, wer ist Surinamer?“ auf etwas kompliziertere Weise als in Argentinien, wo genau das wohl schon immer klar war. In Filmen und Fernsehserien werden Denkmuster und Lebensweisen gezeigt, die enorme Auswirkungen auf die der ZuschauerInnen haben können. Und was LateinamerikanerInnen denken, die gar nicht mehr in ihren Heimatländern leben, sondern in Deutschland, haben wir in einem Gespräch mit drei von ihnen zu klären versucht. Abgerundet wird der Schwerpunkt mit einem historischen Überblick über zweihundert Jahre Identitätspolitik.

In „nosotros”, auf Spanisch “wir”, steckt immer auch ein Akt der Abgrenzung. “Wir” sind eben nicht “ihr”, sondern “nos otros” – wir anderen.

¡Vamos a la playa!

Chilenen sind nicht hoch an-
gesehen in Bolivien. Denn Chile ist schuld. Im so genannten Pazifikkrieg verlor Bolivien 1879 das Departement Litoral um die Hafenstadt Antofagasta an Chile. Peru musste im Laufe des Krieges den heutigen chilenischen Norden um die Städte Arica und Iquique abgeben. Wirtschaftliche Interessen ferner Mächte, namentlich Englands und der USA, an den Bodenschätzen der Atacamawüste spielten in dem Konflikt eine nicht unerhebliche Rolle, aber wen interessiert das heute noch?
Die Bilder von den militärischen Auseinandersetzungen an der peruanisch-ecuatorianischen Grenze vor wenigen Jahren sind noch in Erinnerung, und die Reden so mancher bolivianischer Politiker klingen nicht weniger martialisch als seinerzeit in Peru und Ecuador. Droht von daher ein weiterer Konfliktherd? Für Bolivien allerdings verbietet sich ein Waffengang schon aus militärischen Gründen: Gegen die chilenische
Armee haben die Bolivianer keine Chance.
Bolivianische Landkarten zeigen in aller Regel das heutige Territorium des Landes, während in Ecuador ausnahmslos jede Karte das Amazonastiefland bis zum peruanischen Iquitos mit einbezieht. Der Verlust des „Litoral“ an Chile ist letztlich als historischer Fakt akzeptiert, genauso wie die anderen territorialen Verluste im Lauf der Geschichte Boliviens: Urwaldprovinz Acre an Brasilien, der Chaco an Paraguay.

Die Historie ist kaum
mehr als ein Symbol
Bleibt die Frage, wozu die nationalistischen Reden von den uralten bolivianischen Rechten am Zugang zum Meer dienen. Zum einen ist das Thema immer tauglich, um von innenpolitischen Problemen abzulenken.
Zum anderen könnte im Hintergrund das Bestreben stehen, durch das Aufrechterhalten der Maximalposition „Rückkehr zur Küste“ in Verhandlungen um Häfen und Handelskorridore eine bessere Ausgangsposition zu haben. Ein legitimes Anliegen, da doch die Bildung einer südamerikanischen Freihandelszone auf dem politischen Programm steht. Aber eines ist sicher: Chile wird Bolivien kein Territorium abtreten, einen Pazifikhafen unter voller bolivianischer Souveränität wird es nicht geben.
Ohnehin lässt sich mehr erreichen, wenn Bolivien mit einer Alternative droht. Als Anfang der 90er Jahre die Präsidenten Fujimori und Paz Zamora das peruanische Ilo als zukünftigen bolivianischen Freihafen präsentierten, da sorgte man sich in Arica und Iquique um das Geschäft mit den Bolivianern.
Das politische Ritual um die „historischen Rechte Boliviens“ hat eine Eigendynamik. Fast jeder bolivianische Politiker dürfte genau wissen – und akzeptiert haben, dass in Antofagasta heute Chilenen leben und dass die Stadt chilenisch bleiben wird. Gleichzeitig kann dies aber keiner von ihnen offen aussprechen, ohne dass sofort folgte der Schrei der Opposition: „Verrat!“ folgt. So wird es wohl weitergehen wie bisher. Die Fiktion lebt fort, die großen Reden von den bolivianischen Rechten auf seine Küste werden gehalten, von manchen mehr, von manchen weniger.
Währenddessen freut man sich hier wie dort, dass es endlich eine asphaltierte Straße von La Paz an die chilenische Küste gibt. Wer das nötige Kleingeld hat, fährt aus La Paz für ein Wochenende an den Strand, wer das Kleingeld erst noch erwirtschaften muss, handelt mit allem, was sich aus den Häfen nach La Paz transportieren lässt: ein ganz normaler kleiner Grenzverkehr, mit dem es sich leben lässt.
Ulrich Goedeking

Der Monolith hat Risse

In Paraguay entwickelte sich seit
der Unabhängigkeit 1811 nie eine demokratische Tradition. Es gab zwar zu fast allen Zeiten Wahlen, diese dienten jedoch meist der Legitimation eines Militärputsches mit voraussehbarem Ergebnis. Oft stand ein Militär selbst an der Spitze des Staates.
Getreu diesem Schema ließ sich auch der damalige Oberbefehlshaber der Streitkräfte Alfredo Stroessner nach seinem erfolgreichen Militärputsch 1954 als alleiniger Präsidentschaftskandidat aufstellen, nachdem er kurzzeitig einen Zivilisten als Interrimspräsidenten eingesetzt hatte. Seine Wahl zu diesem Zeitpunkt wurde von der Bevölkerung getragen, da er nach einem Jahrzehnt politischer Instabilität und Lähmung Stabilität versprach. Für fast 35 Jahre brachte Stroessner dem Land eine Stabilität – die Stabilität einer totalitären Diktatur, die sich auf eine politische Massenpartei, die Asociación Nacional Republicana ANR (besser bekannt als Coloradopartei) sowie natürlich auf die Militärs stützte.
Die Ideologie der Diktatur war einfach: Wer nicht für Stroessner war, war gegen ihn und wurde rücksichtslos verfolgt. Meist gingen die Betroffenen ‘freiwillig’ ins Exil. Stroessner hatte als Oberkommandierender eine Machtbasis unter den Militärs, er behielt diesen Posten auch, bis er im Februar 1989 durch einen anderen Militär, General Andrés Rodríguez, gestürzt wurde.

Deckmantel
Antikommunismus
Die Zeit der Diktatur Stroessners war eine Blütezeit für die Militärs. Unter dem Deckmantel des Antikommunismus floss während des Kalten Krieges reichlich Militärhilfe aus dem Ausland, obwohl die Streitkräfte Paraguays gegenüber denen der Nachbarländer Brasilien und Argentinien eher lächerlich wirkten. Die Ausrichtung der paraguayischen Militärs war während der Zeit der Diktatur stets mehr nach innen als nach außen gerichtet. Intensiv wurde an einem eigenen Geschichtsbild gearbeitet. Einerseits wurde die Opferbereitschaft und Leidensfähigkeit der Paraguayer – sprich: seiner Streitkräfte – aus der Zeit des Triple-Allianz-Krieges herausgestrichen, wobei die Tatsache, dass die Sieger und die politische wie militärische Elite nach diesem verheerenden Krieg vorrangig aus den auf der Seite der Nachbarländer kämpfenden Paraguayer hervorging, geflissentlich verschwiegen wurde. Andererseits wurde der Sieg im Chaco-Krieg als herausragende Leistung der Militärs und Vorbild für die gesamte Nation hervorgehoben. Eine breite Vielfalt an militärischer Memoirenliteratur entstand, über alle beteiligten Truppenteile und Kämpfe gibt es Darstellungen durch beteiligte Militärs. Die “Liga der Veteranen des Chaco-Krieges” spielte lange Zeit eine große innenpolitische Rolle und sorgte für ein gutes Image für das Militär.
Ideologisch brauchten die Militärs durch Stroessner kaum noch auf Kurs gebracht zu werden, da bereits nach dem Bürgerkrieg 1947 eine Säuberungswelle durch die Armee ging. Die Mitgliedschaft in der Coloradopartei war überhaupt eine der wichtigsten Voraussetzungen, um eine Offizierslaufbahn einschlagen zu können.
Die Ideologie war durch den Kalten Krieg streng konservativ geprägt. Der gepredigte Antikommunismus diente vor allem zur Verunglimpfung aller Andersdenkenden. Dabei spielten tatsächliche ideologische Ausrichtungen kaum eine Rolle. Eine Definition für Kommunismus hätten wahrscheinlich nur die wenigsten geben können. Die aktive Teilnahme und militärische Präsenz im öffentlichen politischen Leben wurde während der Stroessnerdiktatur stark gefördert, wobei Stroessner selbst peinlich genau darauf achtete, dass ihm keine Konkurrenz aus den militärischen Reihen erwuchs.

Einkommen durch
Schmuggel
Um sich der Loyalität der Militärs zu versichern, war Stroessner gern bereit, den “Preis für den Frieden” zu zahlen, wie er es nannte. Die offiziellen Gehälter der Militärelite waren eher bescheiden, andere Finanzquellen mussten also für diese Kreise erschlossen werden. Der Preis war systematischer Schmuggel und Korruption auf allen Ebenen. Die Streitkräfte hatten sich ganze Produktpaletten untereinander aufgeteilt. Ein Teil der Streitkräfte war für den Schmuggel von Zigaretten, ein weiterer für Alkohol oder Autos zuständig. Am Ende des Stroessnerregimes wurde geschätzt, dass der Schmuggel etwa das Fünffache des offiziellen Außenhandelsumsatzes von rund einer Milliarde US-Dollar ausmachte. Diese Summe genügte augenscheinlich lange genug, um das Militär bei der Stange zu halten.
Sagenhafte Karrieren wurden möglich. Der Mann, der Stroessner schließlich stürzte, der General und spätere Präsident Paraguays Andrés Rodríguez, stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Pikanterweise war ein Sohn Stroessners mit der Tochter von Rodríguez verheiratet. Im Jahre 1989 wurde die Villa von Rodríguez in Asunción als “Klein Versailles” bezeichnet, sie galt als schönste der Stadt. Auf die Frage eines Journalisten, woher dieses Vermögen stamme, antwortete Rodríguez, er hätte beim Rauchen gespart. Seine Verwicklungen in den Drogenhandel wurden zwar nie bewiesen, doch gilt es heute als sicher, dass die paraguayischen Militärs am Drogenhandel und -transit mitverdienten und ihn teilweise mitorganisierten. Auch das unglaubliche Vermögen von dem heute so oft in der Presse auftauchenden Ex-General Lino Oviedo soll aus diesen Quellen stammen.
In keinem anderen Teil der paraguayischen Gesellschaft konnte jemand so schnell Karriere machen und ein Vermögen erzielen wie im Militär. Selbst die Führer der politischen Elite der Coloradopartei konnten davon nur träumen, lediglich der Bau des Itaipú-Staudammes schuf eine reiche Wirtschaftselite außerhalb der militärischen Kreise. Am Ende der Stroessnerdiktatur hatte Paraguay mehr Offiziere im aktiven Generalsrang als die Streitkräfte der US-Army. Selbst ein Kommandeur der relativ kleinen und bescheidenen Flusskriegsschiffe der paraguayischen Marine mit nur wenigen Mann Besatzung besaß einen Admiralsrang. Auch dies war ein Preis für den Frieden, da natürlich die jüngeren Dienstränge murrten, wenn sie nicht aufsteigen konnten, da die oberen und lukrativeren Posten bereits besetzt waren. Deshalb waren auch maßgeblich hochrangige Offiziere am Sturz Stroessners beteiligt, die natürlich nach dem Machtwechsel in die Generalsränge aufstiegen.
Es spielte in der Identität der Militärs während der Diktatur kaum eine größere Rolle, dass sie mehr als innenpolitisches Druckmittel denn als Schutz vor äußeren Angriffen wie in der Verfassung festgestellt dienten. Die allgegenwärtige Präsenz der Militärs reichte als Einschüchterung bereits aus. Ihr Einsatz gegen die eigene Bevölkerung war, abgesehen vom Kampf gegen die eher bescheidenen Guerillabewegungen Ende der 50er Jahre und von Aktionen gegen Landbesetzungen im Landesinneren, kaum nötig. Es gab schließlich auch keine wirklich ernsthafte innere Opposition gegen das Regime. Das Konzept der Abschreckung ging auf.

Kindersoldaten
im Straßenbild
Im Selbstwertgefühl gehörte man mit einem Offiziersrang bereits zur paraguayischen Elite. Dass die Streitkräfte intern auch ein anderes Gesicht hatten, zeigte sich vor allem erst nach dem Sturz Stroessners. Obwohl die allgemeine Wehrpflicht erst ab 18 Jahre gilt, findet man im Straßenbild fast nur Soldaten im Kindesalter. Misshandlungen mit Todesfolgen waren und sind keine Seltenheit. Heute werden diese Fälle jedoch fast immer bekannt. Zu Zeiten der Diktatur herrschte darüber Schweigen. Das Bild der Militärs wurde durch solche Skandale nicht “beschmutzt”. Gegen Dissidenten in den eigenen Reihen wurde mit aller Härte vorgegangen, wie beispielsweise Hauptmann Napoléon Ortigoza feststellen musste. Unter falschen Anschuldigungen wurde er zum längsten politischen Gefangenen Lateinamerikas.
Letztlich kann die militärische Elite als Prototyp auch für andere Militärs Lateinamerika während der Zeit der Militärdiktaturen dienen. Ihr Identitätsgefühl und die Darstellung in der Öffentlichkeit war fast immer gleich, obwohl sich die paraguayischen Militärs nie so exponierten wie in anderen Diktaturen. Eine Diskussion über begangenen Menschenrechtsverletzungen wurde deshalb nach dem Sturz Stroessners auch nie geführt. Die Militärs hatten ihn ja schließlich gestürzt und erhielten dafür den Beifall der Gesellschaft und die Absolution.

Ein neuer Platz
in der Gesellschaft
Nach dem Sturz Stroessners und der zunehmenden Demokratisierung der Gesellschaft wurden den paraguayischen Militärs neue Rahmenbedingungen aufgezwungen, die die militärische Elite nur schwer und viele einzelne Militärs gar nicht hinnehmen wollten. Mit der neuen Verfassung von 1991 ist allen Militärs die Mitgliedschaft in politischen Parteien verboten und öffentliche politische Meinungsbekundungen und Betätigungen für aktive Militärs sind untersagt. Die Streitkräfte sollen entpolitisiert und den verfassungsmäßigen Organen unterworfen werden. die häufigen Putschgerüchte und mehrere Putschversuche in den letzten zehn Jahren zeigen, dass dieses Ziel bei weitem noch nicht erreicht wurde. Die Zahl der Offiziere, die seit dem Sturz Stroessners vorzeitig aus dem aktiven Dienst entlassen wurden, dürfte mittlerweile in die Tausende gehen, wobei darunter auch viele Gefolgsleute des Putschgenerals Oviedo sind. Noch immer gibt es Korruption und zahlreiche illegale Machenschaften zur eigenen Bereicherung in der militärischen Elite. Doch demokratische Verhältnisse und eine weitestgehend freie Presse haben Zustände wie zu Zeiten der Diktatur sehr erschwert. Der Block der Militärs ist bei weitem nicht mehr so monolithisch wie vor einem Jahrzehnt. Jeder Verstoss gegen die Gesetze und die Verfassung werden von der Gesellschaft wahrgenommen und führten zu einem stärkeren Gesichtsverlust in der Bevölkerung und damit auch zum Verlust des Elitestatus. Allerdings ist auch erkennbar, dass die augenscheinliche Mehrheit gewillt ist, Verfassungstreue zu halten und ihren Platz in der demokratischen Gesellschaft akzeptieren. Der schnelle Zusammenbruch des letzten Putschversuches im Frühjahr diesen Jahres kann dafür als Indiz dienen.
Peter Altekrüger

„Das Urteil ist eine gerechte Entschädigung“

In seiner Klageschrift machte der Anwalt der CODEPU (Corporación de Promoción y Defensa de los Derechos del Pueblo) Pinochet erstmals als Anstifter verantwortlich. Auf Grund der vergleichsweise guten Beweislage im Fall der Todeskarawane beantragten die später insgesamt sieben Klägeranwälte in diesem Fall die Aufhebung der parlamentarischen Immunität Pinochets, die nunmehr endgültig vom Obersten Gerichtshof Chiles bestätigt wurde. Gutiérrez wurde damit zu einem der Anwaltsprotagonisten im „Fall Pinochet”.

Wie fühlten Sie sich persönlich nach der öffentlichen Bekanntgabe der unanfechtbaren Aufhebung der parlamentarischen Immunität Pinochets durch den Obersten Gerichtshof Chiles?

Ich habe das Urteil des Obersten Gerichtshofs nicht als Sieg für uns bzw. als Niederlage Pinochets empfunden, sondern vielmehr als eine gerechte Entschädigung für die tausenden von Chilenen, die unter der Militärdiktatur Menschenrechtsverletzungen erlitten haben. Das chilenische Volk, das im Ganzen unter der Diktatur gelitten hat, brauchte diese Entschädigung, um die unter der Diktatur zerstörten Gleichgewichte wiederherzustellen.

Die internationale Presse feierte das Urteil des Obersten Gerichtshofes als einen „Sieg der Gerechtigkeit über die Straflosigkeit“ und ein „Ende einer Ära der Straflosigkeit”. Sie hingegen sagten einstmals, dass der Fall der Todeskarawane nur ein wunderbares Vorspiel sein würde, um Pinochet endlich den Prozess zu machen. Glauben Sie tatsächlich an die Möglichkeit, dass Pinochet durch die chilenische Justiz verurteilt wird?

So wie ich vorausgesehen hatte, dass Pinochet die Immunität aberkannt würde, vertraue ich nun darauf, dass die chilenische Justiz ihm den Prozess macht. Nur glaube ich, dass Pinochet auf Grund des langwierigen Strafprozesses in Chile und in Anbetracht seines Alters und seines Gesundheitszustands bedauerlicherweise nicht verurteilt werden wird.

In den Verhandlungen vor dem Urteil des Obersten Gerichtshofes gab es zwei Schlüsselthemen: zum einen die juristisch sehr umstrittene Anwendung der Figur der qualifizierten Entführung auf die Fälle der Verschwundenen, zum anderen die Frage der medizinischen Untersuchungen. Können Sie die so genannte Entführungsthese und ihre Bedeutung im Prozess erläutern?

Als Vertreter der Familienangehörigen der Verhaftet-Verschwundenen vor Gericht sahen wir Menschenrechtsanwälte uns vor der Aufgabe, der Anwendung des Amnestiegesetzes in den Fällen der Verhaftet-Verschwundenen ein Ende zu bereiten. Die chilenischen Gerichte kamen uns zur Hilfe, als sie begannen auf diese Fälle eine sowohl aus der Rechtsvergleichung als auch aus der rein internen chilenischen Strafgesetzgebung gewonnene Doktrin anzuwenden: Das Delikt der Entführung als ein Dauerdelikt, das erst dann beendet ist, wenn das Opfer die Freiheit wiedererlangt. Die nach dem Militärputsch Pinochets 1973 Verschwundenen, deren Leichen nie gefunden wurden, gelten nach dieser Doktrin bis heute als Entführte. Auf diese Weise entwichen die Fälle der Verhaftet-Verschwundenen dem Anwendungsbereich des Amnestiegesetzes, der den Zeitraum von 1973 bis 1978 umfasst und es bestand endlich die Möglichkeit, die Verantwortlichen zu verurteilen.

Besteht aber nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofes nach wie vor die Notwendigkeit, die „Entführungsthese“ auf diese Fälle – niemand bezweifelt ernsthaft den Tod der Opfer – anzuwenden? Das Urteil wurde doch von einem Großteil der chilenischen Juristen dahingehend ausgelegt, dass es dem zuständigen Ermittlungsrichter Juan Guzmán grünes Licht gibt, nun auch wegen der Delikte Mord, Verbot der terroristischen Vereinigung und illegaler Bestattung zu ermitteln.

Ganz richtig. Ich bin mir sicher, dass diese drei Delikte in die Ermittlungen des Richters Guzmán eingehen werden. Nach den Urteilen zur Immunitätsaufhebung Pinochets gibt es meiner Meinung nach in der chilenischen Justiz die gefestigte Ansicht, dass auf alle während des Kriegszustands in Chile zwischen 1973 und 1978 begangenen Delikte die Genfer Konventionen anzuwenden sind. Der Nächste und nur folgerichtige Schritt unserer Justiz wird sein, diese Delikte – eben auf Grund ihres internationalen Charakters – als nicht amnestiefähig und unverjährbar anzusehen.

Dies würde dann letzlich die Nichtigkeit des Amnestiegesetzes wegen des Verstoßes gegen übergeordnete völkerrechtlicher Normen bedeuten – ein juristischer Befund, den Völkerrechtler seit langem proklamieren.

Oder sagen wir es so: das Amnestiegesetz wird in seinen richtigen Rahmen gerückt. Nach wie vor unterfallen ihm — nennen wir sie — gewöhnliche nationale Delikte. Alle internationalen Delikte, also insbesondere die Verbrechen gegen die Menschheit wie das Verschwindenlassen von Personen und die Kriegsverbrechen, verlassen indes den Rahmen des nationalen Gesetzgebers und können damit auch nicht dem chilenischen Amnestiegesetz unterfallen.

Die Verteidigung Pinochets berief sich im Laufe der Verhandlungen vor dem Obersten Gerichtshof wiederholt auf die Implikationen des Runden Tisches. Entsprechend der Übereinkunft des Runden Tisches vom 13. Juni 2000 sei den Militärs die exklusive Aufgabe übertragen worden, das Schicksal der Verschwundenen zu ermitteln. Damit bliebe schlicht kein Raum mehr für richterliche Ermittlungen. Was wurde auf diese – rein politische – Argumentation von Seiten der Klägeranwälte erwidert?

Wir Klägeranwälte haben im Rahmen der gerichtlichen Verhandlungen ganz bewusst jede Bezugnahme auf den Runden Tisch vermieden, auch wenn die Verteidigung Pinochets sich auf dessen Ergebnisse berief. Vor den Verhandlungen hatten wir, mehr oder weniger als geschlossene Gruppe der Menschenrechtsanwälte Chiles, unsere Meinung zum Runden Tisch öffentlich bekannt gegeben. Es treffen hier zwei konträre Ansätze aufeinander: der Runde Tisch will das Thema der Verhaftet-Verschwundenen auf politisch-administrative Weise lösen und führt letztlich zu nichts anderem als Straflosigkeit. Wir hingegen akzeptieren einzig und allein die juristische Lösung durch die chilenische Justiz. Die Immunitätsaufhebung Pinochets durch den Obersten Gerichtshof stärkt uns natürlich den Rücken.

Das Urteil des Obersten Gerichtshofes spricht keinerlei Empfehlung an den Ermittlungsrichter Guzmán bezüglich der Durchführung medizinischer Untersuchungen Pinochets aus. Handelt es sich bei den in der chilenischen Strafprozessordnung vorgesehenen Untersuchungen um solche der rein geistigen oder – wie oft behauptet wurde – auch der physischen Gesundheit?

Art. 349 der chilenischen Strafprozessordnung spricht allein von Untersuchungen der geistigen Gesundheit, denen jeder Angeklagte über 70 Jahre zu unterziehen ist. Es gibt keinerlei gesetzlichen Hinweis auf körperliche Untersuchungen, d.h. die physische Gesundheit des Angeklagten wirkt sich nicht auf seine Prozessfähigkeit aus.

Marco Antonio Pinochet, der Sohn Augusto Pinochets, verkündete kurz nach der endgültigen Immunitätsaufhebung, dass sich sein Vater womöglich der Durchführung medizinischer Untersuchungen verweigern wird. Könnte Pinochet in diesem Fall zu den Untersuchungen gezwungen werden, würde er in Beugehaft genommen?

Ich denke, dass im Rahmen des Strafprozesses kein Angeklagter zu etwas gezwungen werden kann. Dies gilt umso mehr für medizinisch-geistige Untersuchungen, die eine gewisse Kooperation des Angeklagten verlangen. Folglich ist es zwar eine Pflicht des Richters anzuordnen, dass medizinische Untersuchungen durchgeführt werden, jedoch ist es keine Pflicht des Angeklagten, diese über sich ergehen zu lassen. Es ist ja ganz klar: wenn Pinochet die Untersuchungen verweigert, dann ja nur deshalb, weil es tatsächlich keinerlei Anhaltspunkte für eine etwaige Demenz gäbe. Pinochet ist – wie seine Verteidigung selbst mehrfach bestätigte – bei guter geistiger Gesundheit und davon wäre dann auch im Strafprozess auszugehen. Jedenfalls kann Richter Guzmán auch im Fall der Verweigerung der Untersuchungen ein Verhör Pinochets anordnen.

Verlassen wir den nationalen Rahmen Chiles. Vielleicht ist dies das freundschaftliche Gesicht der Globalisierung: die internationale Völkergemeinschaft – angeführt von Richtern wie Baltasar Garzón – entwickelt sich zum neuen Garanten der Einhaltung der Menschenrechte. Welche Erwartungen und Hoffnungen verbinden Sie als Anwalt für Menschenrechte mit der Internationalisierung des Strafrechts und insbesondere mit der Verabschiedung des Statuts des neuen Internationalen Strafgerichtshofs?

Ich denke, dass die jüngst vor der chilenischen Justiz erreichten Erfolge auf einem Fundament der universellen Justiz gründen. Ohne die Intervention Báltasar Garzóns, die Festnahme Pinochets durch die englischen Behörden sowie die juristischen Aktivitäten der anderen europäischen Staaten wären diese Erfolge in Chile nicht zu feiern gewesen. Das sehe ich ganz klar. Tatsächlich fehlt dem universellen Rechtsraum ein internationales Strafgericht, wie es jetzt in Rom gegründet wurde, das schwere internationale Verbrechen wie jene gegen die Menschheit verfolgt und bestraft. Insbesondere fehlt dieser Strafgerichtshof auch im Hinblick darauf, dass die nationalen Gerichte sich oftmals, etwa auf Grund der nationalen Gesetzeslage, nicht in der Lage sehen, Gerechtigkeit in ihrem Land zu schaffen: Früher flohen einstmalige Diktatoren aus ihrem Land, heutzutage schaffen sie sich vor der Machtübergabe eine Gesetzeslage, die sie vor einer nationalen strafrechtlichen Verfolgung bewahrt – so auch im Fall Pinochet. Insofern ist der – wohl in ein paar Jahren in Kraft tretende – neue Internationale Strafgerichtshof ein grosßer Schritt in Richtung eines globalen Menschenrechtsschutzes bzw. einer Beendigung der Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen.

Sie sprachen von den „neuen“ Diktatoren – wie sehen denn die Bemühungen in den übrigen lateinamerikanischen Ländern aus, diese für ihre Menschenrechtsverletzungen strafrechtlich zu belangen, etwa den noch amtierenden bolivianischen Präsidenten Hugo Bánzer?

Ich weiß von Bemühungen der Menschenrechtsorganisatione in Bolivien, Hugo Bánzer anzuklagen, in Perú, eines Tages Fujimori juristisch zu belangen und in Paraguay, Alfredo Stroessner den Prozess zu machen. Ich denke, dass all diese Anstrengungen sehr bald Erfolg haben werden: wenn beharrlich darum gekämpft wird, werden diese Verantwortlichen unzähliger Menschenrechtsverletzungen von der Justiz verurteilt werden.

Interview: Niels Müllensiefen

Naht das Ende von General Oviedo?

Mit dem gescheiterten neuerlichen Putschversuch vom 18. Mai wurden zwei Dinge deutlich. Zum einen ist die Position des Präsidenten Luis González Macchi noch immer sehr schwach, besonders angesichts der Bedrohung, die ein freier Oviedo vom Ausland aus noch immer ausüben kann. Andererseits wurde an dem sehr schnell zusammengebrochenen Putschversuch deutlich, dass der Einfluss von Oviedo lange nicht so stark ist, wie er selbst immer wieder gern behauptet hat. In seinen berühmten Telefon-Interviews hat Oviedo immer wieder betont, dass die Regierung noch in diesem Jahr stürzen werde. Dabei nutzte er auch die stark gewachsenen sozialen und wirtschaftlichen Unruhen und Proteste insbesondere der Bauern aus und spielte sich als deren Führer auf. Fast alle Bauernorganisationen haben sich inzwischen klar von ihm losgesagt beziehungsweise negierten jegliche Verbindungen zu Oviedo.

Ein letztes Aufbäumen der Oviedo-Fraktion

Der Putschversuch im Mai ging von verschiedenen ehemaligen Militärs und Zivilisten der politischen Bewegung Oviedos UNACE (Unión Nacional de Colorados Éticos – eine Fraktion der regierenden Coloradopartei) aus. Dieser Personenkreis besetzte das Hauptquartier der 1. Kavalleriedivision, der stärksten Militäreinheit Paraguays, sowie das Polizeihauptquartier. Eigentlich war es weniger eine Besetzung, sondern eher ein freudiges Willkommen seitens verschiedener aktiver Offiziere. Mehrere Panzer feuerten auch auf den Regierungspalast, aber letztlich blieben doch fast alle Truppen loyal zur Regierung, insbesondere Luftwaffe und Marine sowie die entlegenen Teile des Heeres.

Säuberungsaktion des Präsidenten

Der Präsident González Macchi nutzte die Gunst der Stunde zum letzten Großreinemachen. Obwohl die prominentesten Oviedo-Anhänger im Militär bereits nach dessen Flucht im März vergangenen Jahres aus dem aktiven Dienst entlassen wurden, haben sich jetzt dessen letzte Sympathisanten offenbart. Durch die Verhängung des Ausnahmezustandes für 30 Tage und als Oberbefehlshaber der Streitkräfte ließ der Präsident 17 aktive und drei ehemalige Offiziere wie auch 18 Polizeioffiziere noch in der Putschnacht festnehmen. Dutzende weitere Verhaftungen folgten, darunter viele Mitglieder der UNACE-Fraktion der Colorados. Doch diesmal ging González Macchi noch weiter. Nachdem bereits der Putsch gegen Stroessner 1989 sowie die Putschversuche von 1996 und auch der vom Mai von der erwähnten und nahe der Hauptstadt stationierten 1. Kavalleriedivision (eigentlich einer Panzerbrigade) ausging, ordnete der Präsident deren Verlegung in einen 700 Kilometer entfernten Außenposten im Chaco an.
Es scheint sich die Idee durchzusetzen, dass nahe des Regierungszentrums stationierte Militäreinheiten nicht unbedingt ein Stabilitätsfaktor sind. Die verlegte Einheit wurde zudem noch dem absolut loyalen General José Key Kanasawa des dritten Armeekorps unterstellt. Auch das am Putschversuch beteiligte zweite Kavallerieregiment wurde von Cerrito nahe Asunción nach San Juan Bautista in Misiones verlegt, 200 Kilometer südlich von Asunción. Das Pikante ist, dass beide Militäreinheiten ihre Panzer zurücklassen mussten. Auch die jeweiligen Hauptquartiere der Armeekorps zogen um. Verschiedene Offiziere murrten zwar über diese „Demütigungen“, trugen sie letztlich jedoch mit Fassung.

General Oviedo verhaftet

Ein erneuter Putschversuch durch das Heer dürfte damit in Paraguay wesentlich schwieriger und die Karte „Militär“ wohl aus dem Spiel sein.
Augenscheinlich hielt sich General Oviedo bereits seit Monaten im brasilianischen Grenzort Foz de Iguaçu, wo er nun verhaftet wurde, auf, und reiste des Öfteren über die mehr oder weniger grüne Grenze in sein Heimatland. Mit einem beträchtlichen Arsenal an Mobiltelefonen versuchte der Ex-General, an den Strippen der Macht zu ziehen. Mit Sicherheit war den brasilianischen Behörden der Aufenthalt Oviedos seit längerem bekannt. Aber erst der gescheiterte Putschversuch dürfte die Brasilianer überzeugt haben, dass ein festgesetzter Oviedo besser zu kontrollieren ist.
Verschiedene Gerüchte besagen, Oviedo hätte seine Verhaftung selbst inszeniert, um danach politisches Asyl in Brasilien zu beantragen. Schließlich ist das größte lateinamerikanische Land damit bisher immer recht großzügig gewesen. Ganze Heerscharen von Juristen sollen angeblich bereits an einem Asylantrag Oviedos arbeiten. Aber diesmal könnte er sich verrechnet haben. Dass die Brasilianer es ernst meinen, zeigt auch, dass er von 120 Mann bewacht wird. Um ganz sicher zu gehen, arbeiten die besten Juristen Paraguays an einem juristisch einwandfreien Auslieferungsantrag, der sich auf den vom 18. Mai formulierten internationalen Haftbefehl stützt. Formfehler sollen auf jeden Fall vermieden werden. Sicher erschien die Auslieferung anfangs nicht, jetzt tauchen jedoch Anschuldigungen auf, die ein politisches Asyl unmöglich machen.
Die brasilianischen Kongressabgeordneten Magno Malta und Moroni Torgan beschuldigten den General des Drogenhandels, der Geldwäsche und des Waffenhandels. Am 15. August soll ein 500-seitiger Bericht vorgelegt werden, aber täglich kommt mehr ans Licht. Oviedo wird beschuldigt, durch die Organisation eines Drogenverteilerrings auf beiden Seiten der Grenze seit Beginn der 90er Jahre, als er bereits Oberkommandierender des Heeres war, über eine Milliarde US Dollar verdient zu haben.
Damit soll er zum sechstreichsten Mann Paraguays geworden sein. Teile der Erkenntnisse des Berichts sollen aus Quellen des CIA und der US-amerikanischen Antidrogenbehörde DEA stammen. Es heißt, dass Oviedo eine Organisation aufbaute, die das Vakuum nach dem Zusammenbruch des kolumbianischen Cali- bzw. Medellínkartelle ausfüllte.

Ein General und die Drogen

Seit 1993 soll Oviedo für brasilianische Banden, insbesondere im Raum Rio de Janeiro, der Hauptversorger mit Marihuana, Kokain und Waffen gewesen sein. Seine Verbindung zum Drogenboss Luiz Fernando da Costa alias Fernandinho Beira Mar gilt als erwiesen. Außerdem soll er ein Netzwerk für die Verschiffung von bolivianischem und kolumbianischem Kokain in die USA und nach Europa organisiert haben. Mit diesen Vorwürfen wird die Gewährung eines politischen Asyls unmöglich. Diese Beschuldigungen würden auch schlüssig erklären, woher Oviedo während seines Wahlkampfes in den Vorjahren die ungeheuren Geldmengen nahm.
Der paraguayische Auslieferungsantrag für Oviedo könnte damit allerdings ein neues Problem bekommen. Es ist gut möglich, dass die Brasilianer Oviedo für diese Verbrechen selbst verurteilen wollen. Paraguay würde damit für lange Zeit leer ausgehen. Für Präsident González Macchi wäre dies jedoch ein weiterer Gesichtsverlust. Allerdings dürfte die mögliche politische Einflussnahme Oviedos einem brasilianischen Gefängnis wesentlich geringer sein als aus einem paraguayischen.

Vizepräsidentschaftswahlen im August

Innenpolitisch wird sich in den nächsten Wochen das Geschehen auf die bevorstehenden Vizepräsidentschaftswahlen am 13. August konzentrieren. Nachdem die „Regierung der nationalen Einheit“ zusammengebrochen ist, weil die mehrheitlich regierenden Colorados ihr Versprechen, den Vizepräsidentenposten den Liberalen zu überlassen, zurückgezogen haben, steht eine interessante Auseinandersetzung bevor. Die jeweiligen internen Vorwahlen haben der Colorado Félix Argaña, der Sohn des im vergangenen Jahr ermordeten Vizepräsidenten Luis María Argaña, und der Liberale Julio César „Yoyito“ Franco sehr klar gewonnen. Erste Umfragen sehen überraschenderweise den Liberalen Franco vorn. Argaña, der für die konservativsten Kreise der Colorados steht – zu denen auch die erstarkenden Stroessneranhänger zählen – sollte aber auf keinen Fall unterschätzt werden.

Ich, der allmächtige Autor

Brüche bleiben Brüche. Auf diesen Nenner lässt sich wohl das Konzept der Übersetzerin Elke Wehr in ihrer neuen Fassung von Ich der Allmächtige bringen. Roa Bastos hatte im Original seines großen Romans eine recht herbe, abrupte Sprache gepflegt, hatte bisweilen unvollständige Sätze und scheinbar unpassende Wörter benutzt. José A. Friedl Zapata entschied sich in seiner 1977 publizierten Erstübersetzung, vieles davon zu glätten. Was bei ihm ein Satz ist, waren bei Roa Bastos zwei oder gar drei. Er leitet über, wo Roa Bastos etwas unvermittelt nebeneinander hatte stehen lassen. Das geht zum Beispiel so: „Doch nicht als freies Wesen, sondern als Besiegter, Gefangener, an meinen Stuhl Gefesselter“ (Friedl Zapata). Bei Wehr heißt das, dem Original viel näher: „Nicht kraft eigenen Rechts. Besiegt, gefangen, an meinen Stuhl gekettet.“ Und so weiter. Der allmächtige Diktator, der auch bestimmt, wie die Sätze gehen, zeigt sich im zweiten Fall direkter. Diktatorischer.
Der 1917 in der paraguayischen Hauptstadt Asunción geborene Augusto Roa Bastos hatte Yo el Supremo 1974 veröffentlicht, fast zur gleichen Zeit wie zwei andere Romane, die ebenfalls das Phänomen des lateinamerikanischen Diktators zum Thema haben: García Márquez’ Der Herbst des Patriarchen und Alejo Carpentiers Die Methode der Macht. Roa Bastos griff die historische Figur des Rodríguez de Francia (1814-1840) auf, der Paraguay nach der Unabhängigkeit davor bewahrt hatte, argentinische Provinz zu werden. Francia war hochgebildet, wenn auch deswegen nicht weniger rigoros in seiner Machtausübung. Er lieferte Roa Bastos das Material für seine spezifische Version des Diktatorenromans, die sich von anderen dieses Genres unterscheidet: Er macht sich die doppelte Bedeutung von „diktieren“ zu Nutze. Francia ist politischer Diktator, er ist zugleich aber auch jemand, der Worte diktiert – ein Autor. Ich der Allmächtige ist kein darstellungs- und handlungsorientierter Roman, sondern ein fortwährender Monolog eines Menschen, der „ich“ sagt, und eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Schreiben.
Francia ist allmächtig auf Grund seiner Macht im Lande, aber auch deswegen, weil nur er spricht. Wohl ist das Buch randvoll mit Dialogen, vor allem zwischen dem Diktator und seinem Sekretär Patiño. Aber diese Dialoge sind nicht als solche gekennzeichnet, sie stehen da wie laufender Text, wie ein einziges Selbstgespräch: „Was siehst du in diesem Spiegel? Nichts Besonderes, Exzellenz. Schau gut hin. Nun ja, Señor, wenn ich Ihnen sagen soll, was ich sehe, dasselbe wie immer. … Siehst du nicht mein Gesicht? Nein, Señor…“
Manchmal erreichen diese Passagen die Qualität mitreißender Slapsticks, etwa wenn sich der Diktator mit seinem Leibarzt herumärgert. Insgesamt ist das halbe Tausend Seiten wundervoll anregend und alles andere als ein dröge-philosophischer Pflichtklassiker. Die verlegerische Entscheidung, diesem Roman besser gerecht zu werden, ist rundum erfreulich.

Augusto Roa Bastos: Ich der Allmächtige. Aus dem Spanischen von Elke Wehr, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000, 560 S., 58,- DM.

Editorial Ausgabe 313/314 – Juli/August 2000

Die Geschichte der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ist wenig ruhmreich. In den knapp 52 Jahren ihres Bestehens war die OAS stets eine Marionette der USA. Während sie eng mit Despoten wie Batista, Somoza, Stroessner oder Pinochet zusammenarbeitete, schloss sie Kuba 1962 als Mitglied aus. Die US-Interventionen auf der Dominikanischen Republik oder Grenada wurden als Gemeinschaftseinsätze zur „Rettung der Demokratie“ verkauft.Vor wenigen Jahren wurde in die Charta der OAS ein neues Ziel aufgenommen – die „Förderung der repräsentativen Demokratie“. Doch die Nagelprobe ging Anfang Juni beim Treffen der OAS-Außenminister im kanadischen Windsor daneben, als die Versammlung sich nicht dazu durchringen konnte, den offensichtlichen Wahlschwindel in Peru zu verurteilen, entgegen den Schlussfolgerungen einer eigens nach Lima entsandten Beobachterdelegation der OAS. Bei der Entscheidung fiel auch nicht ins Gewicht, dass die peruanische Regierungsmafia um Fujimori und den als Geheimdienstchef amtierenden Mörder und Drogenhändler Vladimiro Montesinos bereits lange vor den Wahlen die Weichen zum Betrug gestellt hatte. Durch Bestechung und Erpressung war es ihr gelungen, die größten Medien, die Legislative und die Justiz unter ihre Kontrolle zu bringen.
Allerdings waren die Karten dieses Mal bei der Abstimmung anders gemischt als früher. Ausgerechnet die USA – mit Kanada, Argentinien und Costa Rica im Schlepptau – wollten die peruanische Diktatur an den Pranger stellen. Jene Macht, die sich bislang in Lateinamerika eher als Totengräber demokratischer Grundwerte einen Namen gemacht hatte. Die übrigen dreißig Mitgliedsstaaten der OAS empfanden eine Verurteilung der peruanischen Regierung als Einmischung in deren innere Angelegenheiten.
Die Zeiten haben sich verändert und sind doch gleich geblieben. Die mittlerweile konkurrenzlos gebliebene Weltmacht USA kann es sich leisten, weniger plump zu agieren. Und die sogenannten „jungen lateinamerikanischen Demokratien“ stimmen ab wie damals, als sie noch von der Armee regiert wurden. Das ist in einigen Fällen wenig erstaunlich. Während in Bolivien niemand anders als der ehemalige Diktator Hugo Banzer auf dem Präsidentenstuhl sitzt, ist im Nachbarland Paraguay immer noch die Colorado-Partei Alfredo Stroessners an der Macht. In Ecuador setzte das Militär direkt den Präsidenten ein. Der Präsident El Salvadors gehört der Arena-Partei an, die einst mit den Todesschwadronen in enger Verbindung stand, und sein guatemaltekischer Kollege versucht sich gerade erst von seinem Ziehvater freizumachen: dem Massenmörder und Putschisten Rios Montt.
Von Ländern wie Venezuela oder Mexiko war erst recht nicht zu erwarten, dass sie sich einer Verurteilung der peruanischen Regierung anschließen würden. Der machtorientierte Präsident Chávez fuhr kurz nach der peruanischen Wahlfarce sogar zusammen mit seinen Kollegen Banzer, Noboa und Pastrana zum Gipfel der Andenstaaten nach Lima und umarmte Fujimori öffentlich. Die mexikanische PRI ist selbst ein gebranntes Kind. Schon 1988 konnte sie nur durch massiven Wahlbetrug den Machtverlust abwenden.
Überraschend ist aber, dass Brasilien, Chile und Uruguay sich den USA nicht anschließen mochten. Die Begründung des brasilianischen Präsidenten Cardoso für seine Politik der Nichteinmischung lässt sich dahingehend interpretieren, dass es ihm um eine von den USA unabhängige Politik und um den Führungsanspruch in der Region geht.
Dabei gibt es wahrlich genügend Gelegenheiten, sich gegen die US-Politik in der Region zu wenden. Zum Beispiel könnte Brasilien die milliardenschwere Militärhilfe für Kolumbien ablehnen, die soeben bewilligt wurde und den Bürgerkrieg weiter schüren wird. Oder den Schuldenerlass auf die Tagesordnung setzen. Aber dass Wahlmanipulationen einer diktatorischen Regierung zu deren inneren Angelegenheiten gerechnet werden, darf nicht hingenommen werden. Selbst dann nicht, wenn sich mit den USA ein zweifelhafter Bündnispartner anbietet.

„Die Regierung ist unfähig den Landkonflikt zu lösen“

Die Regierung Cardoso hat mit großem Aufwand versucht, die 500-Jahr-Feiern als brasilianische Erfolgsgeschichte zu verkaufen. Doch die Medien berichteten vor allem über die Proteste der Landlosenbewegung Movimento dos Trabalhadores Sem Terra (MST). Steht nun eine weitere Eskalation der Landkonflikte bevor?

Das Verhalten der brasilianischen Regierung lässt dies zumindest befürchten. Seit Anfang Mai hat es bereits zwei Fälle gegeben, in denen das Gesetz über die „Nationale Sicherheit“ wieder zur Geltung kam. In beiden Fällen handelt es sich um Verfahren gegen die Landlosenbewegung in Paraná. Das Gesetz ist ein Relikt aus den Zeiten der Militärdiktatur, es wurde jedoch in den vergangenen Jahren nicht mehr angewendet.
Ein anderes Beispiel: Die Bundespolizei hat kürzlich eine Sondereinheit speziell für Landkonflikte eingerichtet. Der Name ist ein Euphemismus, denn jeder weiß, dass es sich dabei um eine Einheit gegen den MST handelt. Die Bundespolizei erhält in diesem Zusammenhang das Recht, in jedes öffentliche Gebäude einzudringen, um Besetzungen oder Demonstrationen des MST beenden zu können.

Wieso wird dieses schon fast vergessene Gesetz plötzlich wieder aktiviert?

Diese Maßnahmen sind eine Reaktion der Regierung auf landesweite Proteste, die das MST während der 500-Jahr-Feiern organisiert hat. Eine absurde Reaktion. Denn beim MST handelt es sich schließlich nicht um eine Gruppe von Terroristen, sondern um eine soziale Bewegung, die demokratische Rechte in Anspruch nimmt, die durch die brasilianische Verfassung garantiert sind. Hier wird ein soziales Problem als eine polizeiliche Aufgabe betrachtet.

Wieso reagiert der Staat ausgerechnet auf die Landlosenbewegung, die im Gegensatz etwa zu den Gewerkschaften nur über spärliche Machtmittel verfügt, jetzt so aggressiv?

Die Regierung hat in den vergangenen Jahren immer wieder kleinere Zugeständnisse gemacht, die nichts Wesentliches änderten, aber die Landlosen ruhig halten sollten. Die Proteste gegen die 500-Jahr-Feiern haben nun zu einer Polarisierung geführt. Die Regierung musste einsehen, dass sie mit ihrer Taktik die Landlosenbewegung nicht befrieden kann. Nun versucht sie es mit einer verstärkten Repression.
Hinzu kommt, dass die regierungsnahen Medien, wie der Fernsehsender TV Globo, derzeit eine Schmutzkampagne gegen den MST betreiben: Die Bewegungen unterschlage Gelder und sei gewaltätig. Es gibt zwar keine Beweise, dass die Regierung bei dieser Kampagne ihre Hände mit im Spiel hat, aber sie kommt ihren Interessen doch in einer sehr auffälligen Weise entgegen.
Die Landlosenbewegung stellt für die Regierung – mehr noch als die Gewerkschaften – eine ernsthafte Bedrohung dar. Der MST thematisiert einen Konflikt, den die Regierung nicht lösen kann. Nirgendwo auf der Welt ist der Landbesitz derart konzentriert wie in Brasilien. Ein Prozent der Bevölkerung kontrolliert ungefähr die Hälfte der nutzbaren Fläche. Es wäre einfach, dieses Problem durch eine Agrarreform zu lösen. Doch in der Mitte-Rechts-Koalition von Präsident Fernando Henrique Cardoso sitzen die Großgrundbesitzer und die Anteilseigner der großen Latifundien. Die Regierung braucht die Unterstützung dieser mächtigen Lobby, um ihre Projekte durchzusetzen. Sie kann daher keine strukturellen Änderungen an den Eigentumsverhältnissen auf dem Land vornehmen und ist damit unfähig, dieses Problem zu lösen.

Welche Rolle spielen dabei die Bundesstaaten und die jeweiligen lokalen Autoritäten?

Nach dem Ende der Militärdiktatur zog sich der Staat zunächst zurück. Die Landkonflikte wurden sozusagen privatisiert und spielten sich vornehmlich zwischen Großgrundbesitzern und Landlosenbewegung ab. Die Polizei griff meistens nur ein, wenn die Auseinandersetzungen eskalierten. Doch mittlerweile tritt der Staat wieder verstärkt als Akteur in Erscheinung – und meistens gegen die Landlosenbewegung. Man muss dabei aber unterscheiden zwischen den Reaktionen der Bundesbehörden und den einzelnen Bundesstaaten. Rio Grande do Sul hat beispielsweise eine progressive Regierung, die mit den Agrarkonflikten verhältnismäßig vernünftig umgeht. In Paraná hingegen ist die Landesregierung reaktionär und eng mit den Großgrundbesitzern verbunden. Gleichzeitig gibt es dort eine ausgeprägte nicht-staatliche Repression durch die Milizen und privaten Sicherheitskräfte der Großgrundbesitzer.
Die Regierung Cardoso zeigt sich auf internationaler Ebene sehr bemüht, wenn es um die Durchsetzung zivilgesellschaftlicher Standards geht. Vergangenes Jahr hat sie beispielsweise einen offiziellen Bericht über Menschenrechtsverletzungen in Brasilien vorgelegt, der viel Beachtung fand.
Bei dem Thema Menschenrechte lässt sich die Politik der Regierung Cardoso in zwei Bereiche unterteilen: Die zivilen und politischen Rechte haben erste Priorität, während die sozialen und ökonomischen Rechte als untergeordnete Kategorien angesehen werden. In der ersten Kategorie gibt es sicherlich einige Fortschritte. Wie beispielsweise der bereits erwähnte Bericht: Die Regierung hat damit die Existenz von systematischer Folter durch die Polizei in Brasilien anerkannt. Nur, sie muss auch die Konsequenzen aus diesem Bericht ziehen. Bisher ist es Aufgabe der Polizei, gegen Beamte zu ermitteln, die der Folter verdächtigt werden. Jeder weiß, dass dabei nichts herauskommt.
Bisher haben die offiziellen Berichte über Menschenrechtsverletzungen in Brasilien vor allem einen diplomatischen Effekt. Die Berichte finden im Ausland und vor der UNO großen Beifall. Anerkennend wird bemerkt, dass sich die Verantwortlichen in Brasilia mit diesem Problem auseinandersetzen. Währenddessen werden in Brasilien weiterhin Menschen mit Elektroschocks oder der Papageienschaukel gefoltert.
Alle namhaften Menschenrechtsgruppen in Brasilien wie im Ausland fordern seit langem, dass die Zuständigkeit für Verbrechen gegen die Menschenrechte auf die Bundesbehörde übertragen wird. Seit 1991 liegt ein entsprechender Gesetzesentwurf vor. Aber nichts ist bisher geschehen. Im Gegensatz dazu ist die Regierung in der Lage, innerhalb von wenigen Wochen ein ganzes Gesetzespaket durchzusetzen, dass sich gegen die Landlosenbewegung richtet.

Welche Rolle spielen die sozialen Grundrechte in diesen Berichten?

Im Nationalen Programm für die Menschenrechte, einem wichtigen Dokument, kommen die sozialen, ökonomischen und kulturellen Rechte so gut wie gar nicht vor. Diese Rechte werden von der Regierung erst gar nicht anerkannt. Der einfachste Beweis besteht darin, dass der Mindestlohn bei ungefähr 100 Dollar liegt. Niemand kann mit diesem Lohn ein menschenwürdiges Leben führen. Für die Regierung liegt dieses Problem außerhalb ihrer Zuständigkeit.

Hat sich die Situation der Menschenrechte seit dem Ende der Militärdiktatur verbessert?

Ich sehe einen deutlichen Fortschritt bei der Durchsetzung der Menschenrechte seit dem Ende der Militärdiktatur. Es gibt keine Todeslisten mehr, die Pressefreiheit ist einigermaßen gewährleistet. Es gibt freie Wahlen, auch wenn sie oft durch die Korruption beeinträchtigt werden. Doch eines unserer großen Probleme besteht darin, dass sich die Opfer geändert haben. Vor zwanzig, dreißig Jahren waren es vor allem die Kinder aus der Mittel- und Oberschicht, die zu den Opfern der Militärdiktatur gehörten. Doch die Mitglieder der Studentenbewegung und der politischen Organisationen hatten immerhin die Fähigkeit und die Mittel, mit der Elite zu kommunizieren und die Sympathien eines großen Teils der Bevölkerung zu erzielen.
Heute sind die Opfer vor allem die Kriminellen, Favela-Bewohner, die Ausgeschlossenen aus der Gesellschaft. Wer sich für diese Marginalisierten einsetzt, wird schnell als Verteidiger und Komplize von Banditen denunziert. Das ist ein großer Unterschied zu früher. Während der Militärdiktatur wurden etwa 500 Personen ermordert. Allein im Jahr 1998 wurden von der Polizei des Bundesstaates Rio de Janeiro über 7oo Personen getötet. Und oft handelt es sich bei den so genannten Schusswechseln um schlichte Hinrichtungen. Damit will ich nicht sagen, dass es um die Menschenrechte heute schlechter bestellt ist als vor dreißig Jahren. Aber diese Zahlen sollten zumindest zu denken geben.

Die Menschenrechtsgruppen haben bisher ebenfalls auf die Trennung zwischen den so genannten zivilen und den sozialen Rechten geachtet.

In der Öffentlichkeit ist es einfach, für zivile und politische Rechte einzutreten und sich gegen Folter und Polizeiübergriffe auszusprechen. Diese Fälle sind auch verhältnismäßig einfach zu dokumentieren. Im Gegensatz dazu fällt es natürlich schwer, gegen so allgemeine Probleme wie die Globalisierung oder die Verelendung zu kämpfen. Damit macht man sich auch leichter angreifbar. Doch die Unterteilung in Menschenrechte erster und zweiter Kategorie lässt sich auf Dauer nicht aufrechterhalten. In Brasilien existiert eine klare Beziehung zwischen der ungleichen Verteilung des Reichtums und der zunehmenden Gewalt. Die Ursache dafür ist nicht so sehr die absolute Armut, sondern die relative Ungleichheit. Länder wie Bolivien oder Ecuador, die ebenfalls ein sehr niedriges Pro-Kopf-Einkommen haben, weisen eine wesentlich niedrigere Gewaltquote auf als Brasilien. Die brasilianischen Menschenrechtsgruppen erkennen daher zunehmend die Bedeutung der sozialen und ökonomischen Rechte an. Die nationale Menschenrechts-Konferenz vom vergangenen Jahr hat zum ersten Mal auch einen Bericht über diese Rechte in Auftrag gegeben, der anschließend der UNO übergeben werden soll. Diese Annäherung zwischen den Menschenrechtsgruppen und den Bewegungen, die sich für soziale und ökonomische Rechte einsetzen, ist eine sehr wichtige Entwicklung in Brasilien.

Die Zeitung O Globo berichtete kürzlich über eine Art Neuauflage der „Operation Condor“. Demzufolge sollen die Geheimdienste von Argentinien, Brasilien, Chile und Paraguay Absprachen treffen, um gemeinsam auf die vermeintliche Bedrohung durch die sozialen Bewegungen zu reagieren.

Es ist natürlich schwierig, solche Informationen mit Sicherheit zu bestätigen. Aber eine große Überraschung stellen sie nicht dar. In Lateinamerika hat nie eine kritische Aufarbeitung der Geheimdienst-Aktivitäten während der Zeit der Militärdiktaturen stattgefunden – vergleichbar etwa mit der Auseinandersetzung in Deutschland mit der Stasi-Vergangenheit. In Lateinamerika herrscht Kontinuität: Das Personal wurde nicht ausgetauscht, die Dienste konnten einfach weiter machen.

Interview: Anton Landgraf

Das ewige „Land der Zukunft“

Im ewigen „Land der Zukunft“ Brasilien wurde bis zur Demokratisierung in den 80er Jahren kein großer Wert auf eine ökologisch und sozial verträgliche Entwicklung gelegt. Seither hat die Regierung zwar Maßnahmen zum nachhaltigeren Umgang mit natürlichen Ressourcen und zum Schutz der UreinwohnerInnen sowie der armen Bevölkerung ergriffen. Oftmals handelt es sich dabei jedoch lediglich um punktuelle Prestigeprogramme oder unverbindliche bzw. nicht einklagbare Absichtserklärungen. Die Regierung hält an ihrer gewohnten Praxis fest. Auf dem Reißbrett und oft ohne hinreichende Beteiligung der Betroffenen entstehen immer neue Projekte und Pläne, die entweder als wegweisende Maßnahmen für ein wettbewerbsfähiges Brasilien (Bsp.: Ausbau der Wasserstraße Araguaia-Tocantins) oder als innovative Projekte zur Reduktion von sozialer Ungleichheit und Armut (Bsp.: Agrarreform auf Kreditbasis) gefeiert werden. An großen Worten mangelt es nicht, in der Praxis warten die Betroffenen hingegen oftmals vergeblich auf die angekündigten positiven Ergebnisse.
Zwei willkürlich ausgewählte Beispiele sollen die sozialen und ökologischen Auswirkungen dieser Projekte illustrieren.

Avança Brasil – Voran Brasilien

1996 lancierte die brasilianische Regierung einen ersten Mehrjahresplan, der die Basis für ein international wettbewerbsfähiges Brasilien legen sollte. Der Plan beinhaltet Investitionen in Milliardenhöhe in die technische und soziale Infrastruktur des Landes. Es fanden sich jedoch längst nicht für alle der als prioritär erachteten Vorhaben Investoren, so dass der erste Mehrjahresplan sich als ein eher fiktives Strategiepapier erwies. Dem von der Regierung unter Fernando Henrique Condoso im August 1999 vorgestellten Mehrjahresplan mit dem Namen Avança Brasil wird es angesichts des chronisch hohen Haushaltsdefizites kaum anders ergehen. Damit bleibt die brasilianische Regierung hinter ihren ambitionierten Zielen, das Land innerhalb kürzester Zeit zu modernisieren und weltmarktfähig zu machen, zurück. Gelder stehen nur für einzelne, teilweise höchst umstrittene, Infrastrukturmaßnahmen zur Verfügung.
Besonders kontrovers gestaltet sich die Debatte um den Ausbau der heimischen Flüsse zu Handelswegen. Mehrere Flüsse wurden in den letzten Jahren ausgebaut.
Umfangreiche Ausbaumaßnahmen an den Flüssen Araguaia, Tocantins und Das Mortes stehen derzeit auf der Tagesordnung. Alle drei Projekte verfolgen primär das Ziel, die Bedingungen für den großflächigen Sojaanbau im Amazonas und den angrenzenden Gebieten zu verbessern und einen kosteneffizienten Transport der „Wunderbohne“ gen Europa zu garantieren. Die bei einem Ausbau entstehenden ökologischen und sozialen Schäden haben bisher keinen Eingang in die ökonomischen Kosten-Nutzen-Analysen gefunden.
Um eine ganzjährige und ökonomisch rentable Navigierbarkeit zu garantieren, sind umfangreiche Flußregulierungsmaßnahmen wie z.B. Ausbaggerungen oder Sprengungen von Felsformationen notwendig. Von diesen Projekten sind 35 Indigenengebiete mit einer EinwohnerInnenzahl von etwa 10.000 Menschen betroffen. Es droht eine Schädigung von zehn Naturreservaten und das alles nur, so klagen Betroffene, „damit die europäischen Hühner und Schweine gemästet werden können“. Ihnen steht die Vertreibung von ihren Ländereien oder zumindest die irreversible Zerstörung ihrer Lebensgrundlage, dem Fischfang bevor. Seit drei Jahren kämpft der Großteil von ihnen gegen dieses Infrastrukturprojekt und erzielte vor Gericht bereits erste kleinere Erfolge, die allerdings nur zeitlich aufschiebende Wirkung hatten. Die ProjektgegnerInnen können bei ihren Protesten auf die Unterstützung durch Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen aus anderen Teilen des Landes zählen. Denn nur wenige Jahre zuvor spielte sich an einem anderen Ort, entlang der Flüsse Paraná und Paraguay im Herzen des südamerikanischen Kontinentes ein sehr ähnliches Szenario ab: Regierungsstellen schätzten auch damals die zu erwartenden ökonomischen Vorteile eines Flussausbaus vor allem für die Ausdehnung des Sojaanbaus höher ein als die zu erwartenden sozialen und ökologischen Risiken. Nach jahrelangen Debatten und Protesten sowie zahlreichen Studien, die nicht nur die ökologischen Gefahren des Projektes skizzierten, sondern zudem seine ökonomische Rentabilität infrage stellten, konnten Menschenrechts- und Umweltorganisationen zumindest einen Teilerfolg erzielen: die Regierung nahm davon Abstand, den Fluss im ökologisch sensibelsten Teilstück, im brasilianischen Pantanal, auszubauen.
Das letzte Wort im Streit um den Ausbau der Wasserstraße Araguaia-Tocantins ist noch nicht gesprochen. Es zeigt sich jedoch, dass Regierungsstellen teilweise nur widerwillig bereit sind, soziale und ökologische Risiken in ihre Planungen einzubeziehen.

Cédula da Terra – Agrarreform auf Kreditbasis

Seit Jahrzehnten gehören Konflikte um Landrechte zwischen GroßgrundbesitzerInnen und landlosen Familien zum brasilianischen Alltag. Trotz zahlreicher Versprechungen und einer relativ fortschrittlichen Agrargesetzgebung hat sich an der ungleichen Landverteilung bisher wenig geändert: 56,4 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe verfügen über nur 5,5 Prozent der Gesamtbetriebsfläche Brasiliens, während 1,4 Prozent der größten Betriebe mehr als 50 Prozent der Landfläche ihr Eigen nennen.
Im Rahmen der Agrarreform wurden während der Regierungszeit von Fernando Henrique Cardoso inzwischen fast 400.000 Familien mit Land bzw. mit einem gültigen Landtitel versorgt. Damit übertrumpft FHC all seine Vorgänger im Präsidentenamt, die zusammen gerade einmal 218.000 Familien neu ansiedelten. Es muss jedoch angemerkt werden, dass es sich nur teilweise um kahlgeschlagene bzw. verlassene Flächen handelt, die ausreichend vorhanden wären.
1997 läutete die brasilianische Regierung gemeinsam mit der Weltbank eine neue marktkonforme Agrarpolitik ein: über Cédula da Terra erhielten inzwischen ca. 8000 landlose Bauern und ihre Familien Zugang zu Krediten, um sich ein eigenes Stück Land kaufen zu können, gleichzeitig wurde ihnen technische Hilfe bei der Bewirtschaftung angeboten. Seit Beginn der Pilotphase in fünf Bundesstaaten im Nordosten des Landes hat die Regierung den Agrarreform-Etatposten für soziale Enteignungen deutlich zusammengestrichen. Diese Praxis der Agrarreform auf Kreditbasis erfreut sich in Regierungskreisen zunehmender Beliebtheit – sehr zur Besorgnis der zahlreichen Landlosenorganisationen, die sich im Nationalen Forum für eine Agrarreform und soziale Gerechtigkeit auf dem Land zusammengeschlossen haben. Sie sehen in dem sukzessiven Rückgang der Finanzmittel für Enteignungen ein deutliches Signal dafür, dass Land bald nicht mehr enteignet, sondern nur noch verkauft und gekauft werden soll. Und zwar nur jenes Land, das GroßgrundbesitzerInnen auch zum Verkauf freigeben.

Fragliche Umsetzung

Neben prinzipiellen Bedenken gegen Cédula da Terra zeigen sich ferner einige gravierende Umsetzungsschwächen. In einer ersten Bestandsaufnahme hebt ein unabhängiges Evaluierungsteam, das sich aus Mitgliedern der beiden angesehenen Universitäten UNICAMP und USP zusammensetzte, vor allem fehlende Transparenz und Desinformation, Korruption und Klientelismus hervor: Die landlosen Familien sind nur unzureichend über die Konditionen des Landkaufes informiert oder kennen die Kreditmodalitäten nicht, da sie in den ersten drei Programmjahren von Rückzahlungen befreit sind.
Die Qualität der zum Verkauf stehenden Ländereien ist oft nur zweitklassig – trotzdem erzielen die LandbesitzerInnen meist erstklassige Preise. Der Grund: Die Vorsitzenden der Landloseninitiativen lassen sich teilweise bereitwillig in klientelistische Tauschgeschäfte mit LandbesitzerInnen und lokalen Regierungsstellen einbinden. Sie akzeptieren überhöhte Verkaufspreise im Austausch mit persönlichen Vergünstigungen. Ein derartiger „Kuhhandel“ droht das eigentliche Ziel dieses Programms, die Reduktion von ländlicher Armut, zu konterkarieren.
Noch ist es zu früh, abschließende Evaluierungen des Programms vorzunehmen. Es muss sich erst noch herausstellen, ob die neuen LandbesitzerInnen tatsächlich in der Lage sein werden, die aufgenommenen Kredite zu bedienen (Start: ab 2001) und gleichzeitig ihren Lebensstandard zu heben.
Trotz offensichtlicher Implementationsschwächen und wiederholt vorgebrachter prinzipieller Kritiken gegen das Programm feiern brasilianische Regierung und Weltbank Cédula da Terra bereits als „vollen Erfolg“ und halten an ihren Plänen fest, das Programm landesweit auszudehnen und in den nächsten zehn Jahren bis zu zwei Mrd. US Dollar für diese Zwecke zur Verfügung zu stellen.

Preiswerte Versöhnung

Cédula da Terra stellt somit den pragmatischen Versuch dar, die gegensätzlichen Positionen von Landlosen und GroßgrundbesitzerInnen kostengünstig miteinander zu versöhnen. Im Rahmen ein- und desselben Projektes und ohne grundlegende Reformen sollen zugleich die Eigentumsrechte von LandbesitzerInnen gewahrt und ländliche Armut effektiv bekämpft werden. Diese Politik kann jedoch nur dann bei den Betroffenen auf Akzeptanz stoßen, wenn sie als eine Ergänzung, nicht aber als eine Alternative zu einer Agrarreform via Enteignung begriffen und behandelt wird. Außerdem muss den Betroffenen und ihren Interessenvertretungen in Zukunft die Möglichkeit eingeräumt werden, auf das Projektdesign gestaltend Einfluss zu nehmen. Ansonsten wird einmal mehr die Absicht der Geber, ein wirkungsvolles Programm zur Reduktion von ländlicher Armut schaffen zu wollen, als Farce enttarnt.
Auch im neuen Jahrtausend hält die brasilianische Regierung an der Propagierung ökologisch und sozial höchst umstrittener Großprojekte fest. Trotzdem gibt es noch Anlass zur Hoffnung, weil sich die Regierung einerseits gezwungen sieht, als Reaktion auf öffentliche Proteste die Interessen der Menschen ernstzunehmen und zumindest vereinzelt zu befriedigen. Andererseits lassen einzelne Regierungsstellen die Bereitschaft erkennen, aus vergangenen Fehlern zu lernen und bereitwilliger als früher ökologische und soziale Aspekte in ihre Evaluierungsstudien zu integrieren.
So kündigten beispielsweise das Umwelt- und das Planungsministerium an, eine Evaluierung der sozio-ökonomischen und ökologischen Folgen der großen nationalen Infrastrukturmaßnahmen, die in Avança Brasil vorgesehen sind, durchzuführen.
Das ist nicht viel, aber mehr als zu früheren Zeiten. Dieser Hoffnungsschimmer wird die von den Projekten betroffenen Menschen nicht zufriedenstellen. Er soll sie aber ermutigen, ihre Interessen kontinuierlich und konsequent zu artikulieren, um ihre Handlungs- und Einflussspielräume weiter auszudehnen.

KASTEN:
Das assentamento California war damals bereits zweieinhalb Jahre alt. Die 660 Familien sind in zwei landwirtschaftlichen Kooperativen organisiert. Es gibt 230 Hektar Land, die gemeinschaftlich genutzt werden. Weitere 25 Hektar stehen jedem Mitglied zur individuellen Nutzung zur Verfügung. Auf dem Gelände selbst gibt es eine Mehlfabrik und einen Brunnen. Eine Schule war gerade im Aufbau.

Nazi-Treffen mit schnellem Ende

Kurz vor Beginn des Nazi-Treffens hatten in der Hauptstadt Santiago 4.000 Chilenen gegen diese nationalsozialistische Initiative demonstriert. Sonst stieß die Zusammenkunft bei den meisten Chilenen auf wenig Interesse. Verschiedene Juristen erinnerten an das Recht auf Meinungsfreiheit, während sich die neue Regierung unter Ricardo Lagos bemühte, das Treffen zu verhindern. Auf konkrete Gesetze konnte sie sich dabei allerdings nicht berufen und so konnte sie im Vorfeld nicht mehr tun, als eine Liste mit 50 international bekannten Nazi-Vertretern zu erstellen, denen die Einreise verweigert wurde.
So wurden andere Wege gesucht, um die Realisierung dieses Kongresses zu verhindern: Zwei Tage vor dem offiziellen Beginn wurde „zufällig“ der Organisator Alexis López von der chilenischen nationalsozialistischen Patria Nueva Sociedad auf der Strasse wegen ungedeckter Schecks verhaftet. Jeglicher Zusammenhang wurde von Regierungsvertretern jedoch dementiert: „An dieser Verhaftung war die Regierung in keiner Weise beteiligt.“ Claudio Huepe, Generalsekretär der Regierung, besteht darauf, dass es sich um eine „Routinemassnahme der Polizei“ gehandelt habe und es „nicht mehr als ein Zufall“ sei, dass der Kopf der Nazi-Organisation so kurz vor Beginn des Treffens verhaftet worden sei. Arnel Epulef, ebenfalls Mitglied von Patria Nueva Sociedad, besteht hingegen darauf, dass Alexis López der „erste politische Gefangene“ der neuen Regierung ist, da er wegen seiner Ideen verhaftet worden sei.
López war gegen 23 Uhr auf der Strasse im Zentrum von Santiago verhaftet worden. Ihm wird vorgeworfen, seit 1998 seine Schulden nicht bezahlt und mit ungedeckten Schecks gezahlt zu haben. Insgesamt geht es um umgerechnet etwa 20.000 Mark.

Pünktlich zum Führergeburtstag

Das für 17. bis 22. April geplante Primer Encuentro de Nacionalidad y Socialismo wurde am Montag trotzdem in einem privaten Strandhäuschen in der Nähe von Valparaiso, in dem kleinen Ort Concon, eröffnet. Von den angekündigten 30 Teilnehmern waren schließlich sieben ausländische Vertreter aus Bolivien, Peru, Argentinien, Uruguay und Ecuador angereist, pünktlich zu „Führers Geburtstag“. Dieses Datum habe für die ausländischen Gäste, die Hitler und seine Politik im Dritten Reich verteidigen, eine besondere Bedeutung, erklärten die Veranstalter. Patria Nueva Sociedad bestehen hingegen darauf, keine Nazis zu sein: „Wir sind nicht rassistisch, wir sind nicht fremdenfeindlich, wir glauben nicht an eine Herrenrasse und respektieren die Grundrechte der Menschen.“
Dem Geist der Zeit folgend haben die chilenischen Nationalsozialisten im vergangenen Jahr ihr Image geändert, weg vom „typischen Nazi“ hin zum „aufgeklärten Patrioten“. Im Rahmen dieser Kosmetik wurde das Hakenkreuz durch das vom Ku-Klux-Klan verwendete Sonnenrad (ein Kreuz im Innern eines Kreises) ersetzt. Auch Hitlers Idee von einer einzigen Herrenrasse machte wenig Sinn innerhalb einer internationalen Bewegung. Patria Nueva Sociedad besteht deshalb darauf, dass jede Rasse für sich wertvoll ist, aber es komme eben darauf an, sie möglichst rein zu halten, also die Rassen zu trennen. Innerhalb dieser Logik ist es dann auch möglich, dass sich nationalsozialistische Vertreter beispielsweise auf den Demonstrationen der Mapuche-Indianer wiederfinden und deren Rechte verteidigen.

Austausch im Strandhaus

Viel weiter als bis zu einem allgemeinen Austausch über ihre Situation sind die Teilnehmer bei ihrem Treffen in Chile allerdings nicht gekommen, da nach 24 Stunden die Polizei auftauchte und den Versammlungsort umstellte. Die Ermittler hatten die Grenzübergänge und die Mitglieder von Patria Nueva Sociedad überwacht und so nach verschiedenen vergeblichen Polizeiaktionen im Süden Chiles schließlich das Strandhäuschen als Versammlungsort ausgemacht.
Mit der Aktion folgten die Ermittler einer Regierungsanweisung. Dort war man schließlich auf das Abkommen von San José in Costa Rica gestoßen, in dem sich unter anderem auch Chile zur Bekämpfung der Verbreitung von jeglicher Ideologie, die Gewalt oder Rassenhass fördert, verpflichtet. Zu Hausdurchsuchungen oder Verhaftungen kam es dabei nicht. Noch in der Nacht verliessen die Kongressteilnehmer freiwillig das Gebäude und wurden unter Polizeibegleitung nach Viña del Mar gebracht, von wo aus sie umgehend in ihre Heimatländer zurückkehrten.
Warum dieses Treffen ausgerechnet in Chile stattfand, haben die Veranstalter offengelassen. Für Yoram Rovner, Herausgeber der jüdischen Zeitschrift Der Ruf eignet sich Chile für ein solches Treffen wegen der „Duldsamkeit der chilenischen Gesellschaft gegenüber solchen Phänomenen, der Apathie gegenüber der öffentlichen Debatte um nationalsozialistische Ideen, ohne dass es jemand stört und der Apathie der Chilenen im allgemeinen, wenn es um Menschenrechte geht.“
Für Rovner hat dieses Nazi-Treffen wegen seiner strategischen Bedeutung für die Zukunft Gewicht. „Es geht nicht um die Anzahl der Teilnehmer, es geht um die Organisationen, die hinter ihnen stehen.“ Und er erinnert daran, dass 1962 in England ein Treffen von Vertretern nationalsozialistischer Ideen unter ähnlichen Bedingungen stattfand, aus dem die „Weltweite Union der Nationalsozialisten“ entstand, in der sich schliesslich 80 nationalsozialistische Organisationen aus 40 Ländern zusammengeschlossen hatten.
Ein erstes Ergebnis des Treffens, das hinter verschlossenen Türen stattfand, wurde inzwischen bekannt. Patria Nueva Sociedad wollen sich als Partei einschreiben, um an Wahlen teilnehmen zu können.

KASTEN:
Zum Nazi-Treffen eingeladene Organisationen:
Partido Nuevo Triunfo (Argentinien), Juventud Nacionalista Socialista (Argentinien), Frente Nacionalsocialista (Ecuador), Proyecto Colombia 88 (P.88, Kolumbien), Partido Nueva Sociedad Venezolana (Venezuela), Movimiento Nueva Guardia Española (Spanien), Frente Nacionalista Socialista (Peru), Movimiento Nacional Socialista (Bolivia), Movimiento Zapatista Chiapaneco (Mexico), Movimiento Socialista Nacional (Paraguay), Movimiento Integralista Brasileño (Brasilien), Partido por la Libertad (Österreich)… und weitere Organisationen, die bisher noch keine politische Kraft in ihren Ländern darstellen und nun eine gemeinsame Strategie suchen wollen.

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