Gesundheit hat ein Geschlecht

Von einem gleichen Recht auf Gesundheit für Frauen und Männer und gleichem Zugang zu Gesundheitsversorgung kann in den meisten lateinamerikanischen Ländern keine Rede sein. Vielmehr spiegeln sich ungleiche Machtverhältnisse und die ungleiche Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern auch im Bereich der Gesundheit wider. Zwar ist auch in Lateinamerika die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen höher als die von Männern: In Argentinien beträgt der Unterschied knapp sieben Jahre, in Mexiko sechs und in Kolumbien sogar fast neun Jahre.
Eine längere Lebenserwartung ist aber nicht mit besserer Gesundheit gleichzusetzen. Im Gegenteil: Frauen leben länger, sind aber häufiger krank. Auf ihr gesamtes Leben gerechnet leiden Frauen eher als Männer an chronischen Krankheiten wie Diabetes, Osteoporose, Krebs und Depressionen sowie den Folgen von Mangelernährung.

Die AIDS-Infektionsraten von Frauen steigen in Lateinamerika derzeit weitaus schneller als die von Männern. Männer hingegen erkranken oder sterben eher durch Unfälle, Gewalt, Selbstmord, bewaffnete Auseinandersetzungen oder auch durch Lungenkrebs, Leberzirrhose und AIDS.

Armut verursacht frühen Tod

Die Lebenserwartung ist außerdem vom Einkommen abhängig. Neuere Studien zeigen, dass Armut einen schlimmeren Effekt auf die Lebenserwartung von Frauen als von Männern hat: Nur in höheren Einkommensgruppen sterben Männer deutlich früher als Frauen vor ihrem sechzigsten Geburtstag, bei den Armen verringert sich dieser Unterschied erheblich. In Brasilien zum Beispiel stirbt ein nicht-armer Mann mit einer Wahrscheinlichkeit von circa 22 Prozent, eine Frau sogar nur mit einer Wahrscheinlichkeit von knapp sechs Prozent bevor sie 60 Jahre alt ist. Dieselben Zahlen sehen für die arme Bevölkerung aber schon ganz anders aus. Hier beträgt sie für Männer 55 und für Frauen 48 Prozent. In der Dominikanischen Republik kehrt sich die Situation sogar um: Nicht-arme Männer sterben nur mit einer Wahrscheinlichkeit von knapp über zehn Prozent, nicht-arme Frauen sogar nur mit einer Wahrscheinlichkeit von knapp unter fünf Prozent. Arme Männer allerdings sterben mit einer Wahrscheinlichkeit von 40, Frauen sogar von 49 Prozent bis zu einem Alter von 59 Jahren.

Risiko: Schwangerschaft

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben jährlich etwa 23.000 Frauen in Lateinamerika und der Karibik im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt. Auf 100.000 Geburten kommt es, je nach Land und Provinz, zu um die 100 Todesfällen. In Uruguay beträgt die Ziffer nur 21, in Brasilien hingegen 68 im Landesdurchschnitt. Unrühmliche Ausnahmen am Ende der letzten Dekade waren Bolivien (390), die Dominikanische Republik (230), Honduras (220) und Peru (270). (Zum Vergleich: In den meisten westeuropäischen Ländern liegt die Quote bei acht oder weniger) Und trotz eines Programmes zur kostenlosen Schwangerschafts-, Geburts- und nachgeburtlichen Kontrolle (siehe Artikel von Jens Holst in dieser Ausgabe) wurden zum Beispiel in Peru in den letzten Jahren nur knapp über die Hälfte aller Geburten professionell betreut.

Seltenes Recht auf Abtreibung

Insbesondere die mangelnde Verfügbarkeit und Selbstbestimmung über Verhütungsmittel sowie der fehlende Zugang zu sicherer Abtreibung stellen in vielen lateinamerikanischen Ländern ein erhebliches Gesundheitsrisiko für Frauen dar. In Haiti, Sao Tome & Principe, der Dominikanischen Republik, Surinam, Chile, Honduras und El Salvador ist Abtreibung unter allen Umständen, sogar zum Schutz des Lebens der Frau, verboten. Ausnahmen vom Abtreibungsverbot allein zum Schutz des Lebens der Frau sind in Guatemala, Nicaragua, Dominica, Antigua & Barbuda, Paraguay und Venezuela erlaubt. Nur nach einer Vergewaltigung darf eine Frau in Brasilien, Mexiko, Panama und Kolumbien abtreiben. Als einzige lateinamerikanische Länder erlauben Kuba und Guyana ein bedingungsloses Recht auf Abtreibung.
Jedoch werden nicht nur das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und oft ihre Gesundheit durch restriktive Abtreibungsgesetze mit Füßen getreten. Illegale Abtreibungen, direkte Folge eines Verbotes, sind mitverantwortlich für die hohe Sterblichkeit von Frauen. Sie verursachen aber auch erhebliche Kosten für die Gesundheitssysteme. Allein in Chile haben Komplikationen als Folge illegaler Schwangerschaftsabbrüche im Jahr 1997 Kosten von ungefähr 15 Millionen US-Dollar verursacht. In ganz Lateinamerika wurden im Jahr 2000 schätzungsweise 800.000 Frauen wegen Komplikationen als Folge von Abtreibungen in Krankenhäuser eingeliefert.

Im Durchschnitt sind Frauen häufigere Nutzerinnen der Gesundheitssysteme, insbesondere aufgrund von Schwangerschaftsvorsorge und Geburt, oder als Konsequenz von Gewalt. Doch auch hier sagt ein Durchschnittswert nicht allzuviel aus. Denn Arme haben weniger Zugang zu Gesundheitssystemen und nutzen sie seltener. Paradoxerweise nutzen insbesondere Frauen, die in Armut leben, Gesundheitsdienste seltener als Männer, obwohl sie sie häufiger bräuchten. Das chilenische Gesundheitsministerium hat ermittelt, dass 14 Prozent der Frauen, aber nur acht Prozent der Männer überhaupt keine Versorgung, weder institutionell noch privat, bekommen, wenn sie krank werden.

Geschlechtergerechtigkeit im Gesundheitswesen, so Elsa Gomez von der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (OPS), bedeute unter diesen Bedingungen nicht, für genau gleiche Anteile am Gesundheitsbudget und bei der Bereitstellung von Leistungen zu sorgen. Vielmehr gelte es, die Gelder und Leistungen unter Rücksicht auf die besonderen Bedürfnisse und die sozioökonomische Ausgangssituation von Männern und Frauen gerecht zu verteilen.

Frauen sind die „schlechten Risiken“

Gerade ein solcher Ausgleich fehlt aber in privaten Versicherungssystemen, die durch Gesundheitsreformen wie der chilenischen zum Schauplatz des Handels mit Gesundheit geworden sind. Aufgrund der „Risiken“, lies: Kosten, die Frauen dem Gesundheitssystem wegen Schwangerschaften und ihrer längeren Lebenserwartung verursachen, sind sie bei privaten Krankenversicherungen unbeliebt.
In den chilenischen privaten Versicherungen stellen Frauen im Durchschnitt nur 34,4 Prozent der Versicherten, ihr Anteil an den LeistungsempfängerInnen ist noch geringer und sank sogar im Laufe der letzten Jahre. Viele attraktive individuelle Versicherungspläne decken solche Leistungen, die hauptsächlich oder ausschließlich von Frauen genutzt werden, wie zum Beispiel eine Entbindung, gar nicht ab. Dieser Ausschluss widerspricht nicht einmal dem rechtlichen Rahmen. Trotzdem zahlen Frauen im reproduktiven Alter eine bis zu 2,5 mal höhere Prämie als Männer an die privaten Versicherungsgesellschaften.
„Gute Risiken“ hingegen, die von privaten Versicherungen umworben werden, zeichnen sich durch ein hohes Einkommen aus, sind vorzugsweise jung und gesund, haben keine mit zu versichernden Familienangehörigen und sind, aus den oben genannten Gründen, vorzugsweise männlich.
Auch in anderen lateinamerikanischen Ländern geben Frauen zwischen 16 und 40 Prozent mehr als Männer für Gesundheitsleistungen aus. Zum Beispiel zahlten Frauen in Paraguay 1996 ungefähr 370 US-Dollar im Jahr für Gesundheit, während Männer weniger als 300 US-Dollar ausgaben. Auch in Peru galt dieser Unterschied, allerdings auf einem weitaus geringeren Niveau: Während Frauen 1997 fast 100 US-Dollar aufbringen mussten, lag die Summe für Männer nur bei knapp über 50.

Geringere Einkommen – höhere Ausgaben

Gleichzeitig haben Frauen weniger Geld zur Verfügung, das sie für Gesundheitsleistungen oder Versicherungen ausgeben könnten. Auf die gesamte Region gerechnet liegt das Durchschnittseinkommen von Frauen bei ungefähr 70 Prozent von dem der Männer. Durchweg ist die Erwerbsbeteiligung von Frauen geringer als die der Männer und ihre Arbeitslosigkeit höher. Frauen sind auch eher als Männer in Sektoren oder mit Arbeitsverträgen beschäftigt, die keine oder nur eine geringere Absicherung in sozialen Sicherungssystemen bieten, zum Beispiel in Teilzeit oder in informeller Beschäftigung.
An der geschlechtsspezifischen Rollenverteilung zu Hause hat sich über die Jahre nicht viel verändert. Frauen sind, auch wenn sie erwerbstätig sind, weiterhin für Kinder und Küche zuständig. Aufgrund der traditionellen Rollenverteilung haben sie deshalb häufig kein kontinuierliches Erwerbsleben, sondern eine Karriere, die von Kindererziehungszeiten und anderen Auszeiten unterbrochen ist. Das ist ein Nachteil in Sozialversicherungssystemen, die auf einer kontinuierlichen Beitragszahlung beruhen und die eine direktere Verbindung zwischen Beiträgen und Leistungen herstellen. In solchen Systemen, wie sie im Zuge der Reformen der letzten Jahre immer verbreiteter werden, bleiben Frauen, genau wie Männer, die kein „klassisches“ Erwerbsleben haben, auf staatliche Systeme angewiesen, die universellen Zugang, aber oft nur eine Minimalversorgung, gewährleisten.

Die WHO schätzt, dass mehr als 85 Prozent der Gesundheitsleistungen in Lateinamerika außerhalb der institutionellen und geldmäßig erfassten Versorgung erbracht werden – mehrheitlich von Frauen. Reformen des Gesundheitssystems geben vor, Kosten zu reduzieren und die Effizienz der Versorgung zu steigern. In Wirklichkeit „verschwinden“ aber häufig einfach Kosten, die vorher der Staat übernommen hat, indem sie auf Familien, sprich Frauen, übertragen werden. Wenn zum Beispiel die Aufenthaltsdauer in Krankenhäusern verkürzt wird, heißt das oftmals, dass die Kranken unentgeltlich – von Frauen – zu Hause weiterversorgt werden.

Gleichzeitig sind ungefähr 80 Prozent der Beschäftigten im Gesundheitsbereich Frauen und deshalb von Kürzungen besonders betroffen. Im uruguayischen Gesundheitswesen beispielsweise arbeiten nach Angaben der Gesundheitsgewerkschaft fast neun Prozent aller wirtschaftlich aktiven Frauen, jedoch nur 2,5 Prozent aller Männer. Doch hier wie anderswo sind sie in den Bereichen hoher Bezahlung und hohen Prestiges sowie in den Bereichen, in denen gesundheitspolitische Entscheidungen getroffen werden, unterrepräsentiert.

Gesundheit ist ein Recht, keine Ware

Seit den 1980er Jahren haben eine Vielzahl von lateinamerikanischen Frauenorganisationen auf die Diskriminierung und die unterschiedlichen Bedürfnisse von Frauen und Männern hingewiesen. Viele sind im “Lateinamerikanischen und Karibischen Frauengesundheitsnetzwerk” (Red de Salud de las Mujeres Latinoamericanas y del Caribe, RSMLAC) zusammengeschlossen. Insbesondere seit der UN-Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 ist auch in der offiziellen Gesundheitspolitik der Begriff gender mainstreaming KURSIV eingekehrt. Um bestehende Ungerechtigkeiten zu beseitigen haben sich die Regierungen in der Pekinger Aktionsplattform verpflichtet, alle Maßnahmen und Planungen daraufhin zu untersuchen, ob sie den Interessen und Bedürfnissen von Frauen und Männern gleichermaßen entsprechen. Verschiedene nationale Regierungen haben danach endlich auf den Druck der Frauengesundheitsbewegung reagiert und, allerdings in sehr unterschiedlichem Ausmaß, das Thema Geschlecht und Gesundheit in nationale Politik und Institutionen aufgenommen.
Auch die OPS hat sich in diese Richtung bewegt und ein mehrjähriges Projekt zum Thema gender mainstreaming in Gesundheitsreformen entwickelt, was aber bisher nur in zwei Ländern, Chile und Peru, neben einigen regionalen Aktivitäten, durchgeführt wird.

In vielen Kritikpunkten sind sich die Akteurinnen relativ einig, ob sie nun regierungsnah oder innerhalb des weiten Spektrums von Nichtregierungsorgqnsietion operieren: Der Analyse der bestehenden Situation und den erarbeiteten Alternativen muss ein umfassendes Verständnis von Gesundheit zugrunde liegen, so fordern alle. Gesundheit muss als Menschenrecht gesehen und darf nicht auf die Abwesenheit von Krankheit reduziert werden. Strukturanpassungsprogramme und die aktuellen Gesundheitsreformen, die eine zunehmende Vermarktwirtschaftlichung von Gesundheit propagieren, sind ungerecht in ihren Auswirkungen, und wirken sich für Frauen besonders negativ aus.

Beispiel Bevölkerungspolitik

Auch Kritik am verbreiteten instrumentellen Herangehen an das Thema Frauen und Gesundheit wird von vielen geteilt. So werden Frauen in der Gesundheitspolitik immer noch häufig als Mittel zur Gesundheit anderer gesehen, zum Beispiel in Still-, oder Impfkampagnen, ihre Bedürfnisse und Rechte aber nicht um ihrer selbst Willen respektiert.

Die genaue Form und das Ausmaß der Kritik an anderen Aspekten von Gesundheitspolitik ist allerdings unter den verschiedenen Organisationen umstritten. Ein Beispiel dafür ist die Bevölkerungspolitik, die Frauen zu politischen Zielobjekten degradiert, ohne ihr Selbstbestimmungsrecht anzuerkennen. Auch die Verbindung von Gesundheitspolitik und dem Recht auf Abtreibung, die für einige Organisationen ganz klar ist (siehe Kasten auf Seite 36), taucht in den Stellungnahmen anderer, zum Beispiel der WHO/OPS, gar nicht auf. Und auch in den Bemühungen die Kategorie Geschlecht in ihrem Zusammenhang mit anderen Kategorien wie zum Beispiel Einkommen, Herkunft, Rasse/Ethnizität oder Alter zu sehen, steckt die Frauengesundheitsbewegung bisher erst in den Kinderschuhen.

Respekt statt Mitleid!

Wie ist die Situation der AfrouruguayerInnen heute und wie war sie in der Vergangenheit?

Wir glauben, dass zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit keine klare Trennlinie gezogen werden kann. Der Anspruch Uruguays, eine egalitäre Gesellschaft zu sein, wird von uns in Frage gestellt. Heute ist durch unsere Arbeit allgemein bekannt, dass es in Uruguay Rassismus gibt. Dies äußert sich vor allem in der mangelnden Beteiligung der schwarzen Gemeinde an politischen Entscheidungsprozessen. Es gibt jedoch gegenwärtig politische Strömungen, die die afrouruguayische Gemeinde unterstützen und im sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich andere Impulse setzen. Das ist ein Ergebnis unserer Anstrengungen für eine neue Wahrnehmung in der uruguayischen Gesellschaft.
Mundo Afro hat inzwischen zahlreiche Anzeigen eingereicht, in denen rassistische Vorfälle denunziert wurden. Ausgehend von diesen Anzeigen werden Studien, Forschungen und Berichte für internationale Organisationen erarbeitet. Das Internationale Komitee der UNO gegen Diskriminierung, das im August 1999 unseren Bericht erhielt, bestätigte kurz darauf, dass in Uruguay eine eindeutige Situation des Rassismus und der Diskriminierung im Hinblick auf die afrikanischen und indigenen Gemeinden herrscht. Dabei wurde dem uruguayischen Staat empfohlen, geeignete Mittel für die Beseitigung dieses Zustandes in Angriff zu nehmen. In dem Bericht werden besonders Verbesserungen im Bildungsbereich und bezüglich der doppelten Diskriminierung der Frauen angemahnt

Wie entstand die Organisation Mundo Afro?

1988 gründeten wir eine Zeitschrift mit dem Namen Mundo Afro. Bald darauf entstand eine Nichtregierungsorganisation mit dem selben Namen. Mundo Afro ist die erste Organisation von AfroamerikanerInnen in Uruguay. Wir wollten nicht das Mitleid, sondern den Respekt der uruguayischen Gesellschaft. Wir haben ein Entwicklungsprogramm entworfen, dessen verschiedene Bereiche bis heute miteinander verknüpft werden. Vor allem beschäftigen wir uns mit den Themen Gender, Jugendliche, Ausbildung und Forschung, erarbeiten Publikationen und Berichte, und nehmen an nationalen, regionalen und internationalen Konferenzen und Aktionen teil. Durch diese Aktivitäten möchten wir die Gemeinde von Menschen afrikanischer Herkunft in der Gesellschaft sichtbar machen. Außerdem findet ein Austausch mit den verschiedenen schwarzen Organisationen Lateinamerikas und der Karibik statt.

Worin besteht die Arbeit der Organisation ?

Eigentlich wird in verschiedenen Bereichen gearbeitet, die sich gegenseitig stützen. Das dringendste Problem ist natürlich der Rassismus, der in Uruguay genauso wie in anderen sogenannten „multirassischen Gesellschaften“ existiert. Rassistische Diskriminierung findet unter anderem im öffentlichen Raum und am Arbeitsplatz statt. Der brutalste Rassismus besteht aber unserer Ansicht nach darin, in einer Gesellschaft aufgewachsen zu sein, die immer so tat, als wären wir alle gleich und als gäbe es keine Unterschiede zwischen den Ethnien. Die schwierigste Aufgabe war, das Gegenteil zu beweisen und ein Problembewusstsein zu schaffen.
Momentan ist das Projekt SOS RACISMO für uns von großer Bedeutung. Diese Arbeit hat zum Ziel, antidiskriminatorische und antirassistische Gesetze zu erarbeiten, um sie in die Gesetzgebung einzubringen oder im Fall, dass sie schon existieren, auf ihre richtige Anwendung zu prüfen. Wir koordinieren uns auch mit den verschiedenen Gruppen von SOS RACISMO der Region (Brasilien, Paraguay, Argentinien). Ein weiteres wichtiges Ziel ist die Annahme von Anzeigen wegen rassistischer und diskriminierender Handlungen. Heute trauen sich viel mehr Menschen Anzeige zu erstatten, da sie wissen, dass es einen Ort gibt, wo sie beraten werden und von dem aus rechtliche Schritte eingeleitet werden. Es gab Anzeigen wegen rassistischer Erfahrungen in öffentlichen Transportmitteln, auf öffentlichen Plätzen, am Arbeitsplatz und anderswo. Dieser Dienst wurde auch damit beauftragt, AfrikanerInnen, die in letzter Zeit verstärkt nach Uruguay kommen, Schutz und Unterstützung zu bieten, da diese unter schlimmen Bedingungen leiden.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Arbeit ist der Dialog mit staatlichen Institutionen, wie zum Beispiel mit dem Nationalen Institut für Statistik. Mit großem Aufwand haben wir erreicht, dass die Kategorie ‘Ethnie’ in die regelmäßig stattfindenden Haushaltsbefragungen mit einbezogen wurde, was sehr aufschlussreiche Zahlen für die Erarbeitung unserer Forderungen im Bereich Bildung, Arbeit, Wohnen und Gesundheit ergab. In all diesen Bereichen ist klar eine Benachteiligung unserer Gemeinde gegenüber der weißen Bevölkerung zu konstatieren. Die Zahlen bestätigten unsere Untersuchungen, nach denen die AfrouruguayerInnen knapp sechs Prozent (184.000 Personen) der Gesamtbevölkerung ausmachen. 50 Prozent der schwarzen Frauen arbeiten in häuslichen Diensten. 1977 wurde auf Initiative der Grupo de Apoyo a la Mujer Afro – eine Gruppe, die inzwischen Teil von Mundo Afro ist – eine Untersuchung der sozioökonomischen Situation der Frauen gemacht. Die Veröffentlichung der Ergebnisse stellte einen weitereren Durchbruch für einen Dialog mit den staatlichen Behörden dar. Darüber hinaus gehört das Thema Ausbildung zu einem wichtigen Bestandteil der Organisation in der afrouruguayischen Gemeinde. Seit März 2000 arbeitet in diesem Sinne das Instituto Superior de Formación Afro und bringt einmal im Jahr mehr als 60 schwarze Jugendliche aus ganz Lateinamerika zusammen, um neue Führungskräfte zu formen und Beiträge für die lateinamerikanischen und karibischen Organisationen zu leisten.

Worin besteht die Arbeit des Projektes UFAMA AL SUR?

Neben unserem Abkommen mit der Stadtverwaltung von Montevideo, durch das wir aktiv die Kulturpolitik mitgestalten können, ist das Projekt UFAMA AL SUR einer unser großen Erfolge. Die Organisation Grupo de Apoyo a la Mujer Afro kritisierte öffentlich die prekäre Wohnsituation vieler schwarzer UruguayerInnen, um ein entsprechendes Programm zur Verbesserung der Lage in Gang zu bringen. So begannen 1997 die Verhandlungen mit dem Ministerium für Wohnungsbau, Infrastruktur und Umwelt. Nach der Zusage des Ministeriums für eine Unterstützung des Projektes, begannen die Verhandlungen mit der Stadtverwaltung von Montevideo. Es ging darum, ein Grundstück im Barrio Sur zu finden, dem Viertel der Hauptstadt, in dem ein Großteil der AfrouruguayerInnen lebt. Nach vielen Verhandlungen kam mit der Unterstützung des Ministers für Wohnungsbau ein Programm zustande, welches die Sanierung und Finanzierung von 36 Wohnungen für weibliche Familienoberhäupter vorsieht. Die Stadtverwaltung übergab das vorgesehene Grundstück zu einem symbolischen Kaufpreis.
Abgesehen vom sozialen Wohnungsbau hat das Projekt die Förderung der sozialen Entwicklung im Barrio Sur zum Ziel. Dabei geht es auch darum, einen Raum zurück zu erobern, in dem traditionell viele AfrouruguayerInnen lebten und aus dem während der Militärdiktatur ein bedeutender Teil von uns vertrieben wurde.

Wie war die Situation der AfrouruguayerInnen unter der Militärdiktatur ?

Die ohnehin prekäre Situation der AfrouruguayerInnen verschlimmerte sich während der Diktatur. Viele Mitglieder der schwarzen Gemeinde emigrierten nach Argentinien, wo sie ähnlich schwierige Umstände vorfanden. Die bereits erwähnte massive Vertreibung aus dem Ansina-Viertel war einer der schwersten Schläge gegen die afrouruguayische Kultur und das kommunale Leben, denn damit begann die Umsiedlung der BewohnerInnen in sehr unwirtliche Orte, in denen unmenschliche Bedingungen herrschten. Der Widerstand gegen die Vertreibung in Ansina, der zwei Tage anhielt und an dem sich das ganze Viertel beteiligte, war ein wichtiger Wegweiser für den Kampf der AfrouruguayerInnen. Leider wurden die Ereignisse in Ansina vom Rest der Gesellschaft überhaupt nicht wahrgenommen. Mundo Afro engagiert sich übrigens auch in den Initiativen zur Aufarbeitung der Militärdiktatur.

Besteht eine besondere Nähe zur linken Partei Frente Amplio?

Es gibt im Zusammenhang mit der Unterbreitung unserer Vorschläge einen Dialog mit der Frente Amplio, der aber auch mit den anderen Parteien existiert. So hat sich in der Vorphase zu der internationalen Konferenz gegen Rassismus in Durban eine ad hoc-Kommission gebildet, in der Parlamentsabgeordnete und Repräsentanten von Mundo Afro vertreten waren. Dort brachten wir Vorschläge ein, durch die der Versuch unternommen wurde, alle vier Parteien zum Handeln zu verpflichten. Mundo Afro als Organisation greift zwar generell nicht aktiv in den Parteienwettstreit ein, aber die meisten unserer Mitglieder sind aktive Unterstützer des Frente Amplio.

Was kannst du mir zum Netzwerk der afroamerikanischen Organisationen und zum Austausch mit den anderen lateinamerikanischen Ländern im allgemeinen sagen?

Das Organisationsnetzwerk ist Ergebnis des ersten Treffens zu Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung – ein Entwicklungsprogramm für Menschen afrikanischer Herkunft. Zu diesem Treffen kamen im Dezember 1994 mehr als 80 Delegierte Lateinamerikas und der Karibik in Uruguay zusammen. Der Aufbau des Netzwerkes bedeutete einen großen Fortschritt für den Informationsaustausch der verschiedenen Organisationen. Der Aufbau des Instituto Superior de Formación Afro war eine der Errungenschaften dieses Treffens.
Seit Oktober 2000 wurde als Teil des Netzwerkes die so genannte Alianza Estratégica de las Organizaciones Afrodescendientes de las Américas y el Caribe gegründet, die die Arbeit vor und nach der Konferenz von Durban koordinieren sollte. Die Allianz konnte sich auf der amerikanischen Vorkonferenz zu Durban in Chile im Jahr 2000 artikulieren. Dort brachte sie Anträge ein, die im Aktionsplan enthalten sind und in die abschließende Deklaration aufgenommen wurden. Außerdem fand eine Koordination mit den verschiedenen Organisationen der Zivilgesellschaft in den einzelnen Ländern statt. Nun geht es darum, für die Umsetzung einer Politik zu kämpfen, die die afroamerikanische Gemeinschaft fördert.

Bestehen Kontakte nach Afrika ?

Mit dem Programm SUR-SUR sollte der Austausch von Informationen, Erfahrungen und im kulturellen Bereich verbessert werden. Auf Grund mangelnder Mittel konnte das aber leider nicht intensiviert werden. In der Vorkonferenz zu Durban, die im Mai 2001 in Genf stattfand und in Durban selbst konnten jedoch neue Kontakte geknüpft werden.

Interview: Matti Steinitz
Übersetzung: Tanja Rother

Eine amerikanische Dreiecksbeziehung

Im April fand in Genf die alljährliche Konferenz der UN-Menschenrechtskommission statt. Die spannendste Frage war wie immer, ob es zu einer offiziellen Anprangerung Kubas wegen Menschenrechtsverletzungen kommen würde. Da die USA auf Grund mangelnder internationaler Unterstützung nicht mehr in dem Gremium vertreten sind, mussten sie sich bereits im letzen Jahr nach einem Land umschauen, welches den entsprechenden Antrag zur Verurteilung Kubas einbringen würde. Diese Aufgabe wurde damals von der Tschechischen Republik übernommen, die aber dieses Jahr signalisiert hatte, dass sie dafür nicht noch einmal zur Verfügung stehen würde. Die Bemühungen der USA konzentrierten sich daher voll und ganz auf die lateinamerikanischen Vertreter in der Menschenrechtskommission, da man sich der ideologischen Tragweite einer Verurteilung auf Initiative eines der “Bruderländer” vollkommen bewusst war.

Uruguay springt ein

Peru hatte sich, nachdem ein bilaterales Wirtschaftsabkommen mit den USA in Aussicht gestellt worden war, bereit erklärt, den Job zu übernehmen. Ein Tag vor Ablauf der Frist zur Antragannahme sah sich der peruanische Präsident Toledo jedoch gezwungen der eingegangenen Verpflichtung eine Absage zu erteilen, da das Parlament für eine “souveräne und autonome” Entscheidung in der Kuba-Frage gestimmt hatte. 15 Minuten vor Ablauf der Frist am 10. April reichte dann schließlich Uruguay den kontroversen Antrag ein und löste damit die schwerste Krise zwischen den beiden Ländern seit Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen im Jahr 1985 aus. Am 19. April kam es daraufhin zur Abstimmung, bei der der Antrag Uruguays zur internationalen Ächtung der sozialistischen Insel mit 23 Stimmen dafür, 21 Stimmen dagegen und acht Enthaltungen knapp angenommen wurde. Bis auf Kuba und Venezuela, die erwartungsgemäß gegen den Antrag stimmten, sowie Brasilien und Ecuador die sich enthielten, wurde er von den sieben anderen vertretenen lateinamerikanischen Ländern unterstützt. In dem verabschiedeten Text werden einerseits “die kubanischen Bemühungen im Bereich der sozialen Rechte angesichts der unvorteilhaften internationalen Lage” honoriert, andererseits wird aber eine einjährige Untersuchung der Menschenrechtslage durch einen Vertreter der UNO empfohlen. Dabei handelt es sich um eine alte Forderung der USA, die, da sie die Annahme schwerer Menschenrechtsverletzungen beinhaltet, von Kuba als “Einmischung in nationale Angelegenheiten” zurückgewiesen wird.

Markt oder Ehre?

Die kubanischen Reaktionen auf das Verhalten Uruguays in Genf waren äußerst heftig. Der Außenminister Kubas, Felipe Pérez Roque, bezeichnete die Bereiterklärung Uruguays, den Antrag zur Verurteilung Kubas zu stellen, als einen “unterwürfigen Kniefall vor den Interessen des US-Imperialismus”. Er beschuldigte den Präsidenten Jorge Batlle, dass ihm die Märkte wichtiger als die Ehre seien. Bei ihrem letzten Zusammentreffen auf dem Gipfel der amerikanischen Staaten in Mexiko hatte US-Präsident Bush ein Freihandelsabkommen und vorteilhafte Einfuhrbedingungen für uruguayisches Fleisch versprochen, falls Batlle bei einer Verurteilung Kubas behilflich sein würde. Gleichzeitig stellte Pérez Roque die moralische Autorität des Landes in Frage, indem er auf das Amnestiegesetz verwies, welches im Jahr 1989 per Referendum ratifiziert wurde und jegliche Strafverfolgung von Verbrechen, die während der Militärdiktatur begangen wurden, verbietet. “Ein Land, in dem kein einziger Folterer und Mörder verurteilt wurde, und das sich jetzt als der große Richter aufspielen will, das erscheint mir wie ein schlechter Witz.” Die Antwort aus Montevideo ließ nicht lange auf sich warten. Der uruguayische Außenminister Didier Opertti nannte die Äußerungen seines kubanischen Kollegen falsch und beleidigend. Der strittige Antrag sei nicht auf Betreiben der USA zu Stande gekommen, außerdem setze man sich seit Jahren für eine Beendigung des US-Embargos ein. Wenn Kuba die Beschuldigungen nicht zurücknehme, so müsse man über weit reichende Konsequenzen nachdenken.

”Cuba sí, yanquis no!”

Die US-amerikanischen Versuche, Einfluss auf die politischen Beziehungen zwischen Kuba und anderen lateinamerikanischen Staaten zu nehmen, sind so alt wie die kubanische Revolution. Auch das Verhältnis von Uruguay zu Kuba ist geprägt von massivem Druck aus Washington, dem aber von Anfang an eine mächtige Solidaritätsbewegung entgegenstand. Der Erfolg der kubanischen Revolution beeinflusste auch die uruguayische Linke nachhaltig. 1961 besuchte Che Guevara in seiner damaligen Funktion als kubanischer Industrieminister den uruguayischen Badeort Punta del Este, wo er auf einer Konferenz amerikanischer Staaten eine seiner berühmten Reden hielt und anschließend vom damaligen uruguayischen Ministerpräsidenten zum gemeinsamen Mate-Trinken eingeladen wurde. Während einem Besuch der Universität von Montevideo gab es ein Attentat, bei dem ein kommunistischer Student erschossen wurde, der direkt neben Guevara lief. Dass die Kugel nicht ihm galt, ist so gut wie sicher. 1964 beendete Uruguay erstmals die diplomatischen Beziehungen mit Kuba, eine Entscheidung, die, wie der ehemalige CIA-Agent Philipp Agee in einem seiner neueren Bücher schildert, von den USA forciert wurde. Die größte Unterstützung fand Kuba naturgemäß in der Kommunistischen Partei Uruguays, während die Guerilla der Tupamaros immer eine kritische Distanz bewahrte und großen Wert auf politische Unabhängigkeit legte. 1995, zehn Jahre nach Ende der Militärdiktatur, besuchte Fidel Castro das Land und wurde in der traditionell linken Hauptstadt empfangen wie ein Popstar: 500.000 Uruguayer, das heißt jeder Sechste, säumten seinen Weg vom Flughafen zum Rathaus, wo ihn der Bürgermeister des Linksbündnisses Frente Amplio (FA), Mariano Arana, erwartete. Die Solidarität mit Kuba zählt seit der Gründung im Jahr 1971 zu den unerschütterlichen Prinzipien des FA, die bis jetzt noch jede “ideologische Erneuerung” des Parteienbündnisses überstanden hat.

Nationale Schande

“Das Verhalten Uruguays in der Menschenrechtskommission ist eine Schande für das ganze Land und stellt einen Pyrrhus-Sieg für die Vereinigten Staaten dar.” So äußerte sich der sozialistische Senator Reinaldo Gargano in einer Parlamentsdebatte und gab damit den Tenor, der in der gesamten Linken des Landes vorherrschte, wieder. Während die meisten Vertreter der rechts-liberalen Regierungskoalition aus Colorados und Blancos in seltener Übereinstimmung das Vorgehen Uruguays als Beweis für die große demokratische Tradition des Landes im Dienste der Menschenrechte wertete, gab es auch dort Missstimmungen. Ein Beraterteam des Außenministers Oppertti hatte im Vorfeld eine Enthaltung Uruguays in der Kuba-Frage empfohlen, so wie dies bereits im Jahr 1998 geschehen war. Daraufhin wurde die Menschenrechtsbeauftragte der Regierung, Silvia Izquierdo, die an der Empfehlung maßgeblich beteiligt war, auf Grund von angeblicher Illoyalität zu Gunsten Kubas entlassen. “Ein einzigartiger Akt ideologischer Verfolgung”, so Senator Gargano.

Flucht nach Norden

Die überraschende Demission Izquierdos ist symptomatisch für die Irritationen, die seit dem Amtsantritt Batlles im Jahr 2000 die Beziehungen zwischen dem Außenminister Opertti, der bereits unter dem vorherigen Präsidenten Sanguinetti diese Funktion innehatte, und dem Chef der Exekutive beherrschen. Wiederholt hat sich Batlle in den letzten zwei Jahren durch Alleingänge in der Außenpolitik hervorgetan, die weder mit seinem Außenminister, noch mit den Partnern in der Regierungskoalition, geschweige denn mit der Opposition abgestimmt waren. Jorge Batlle, der in den USA studierte, gilt als bedingungsloser Bewunderer des “Großen Bruders” und seines Wirtschaftssystems. Die daraus resultierende Politik, die auch schon als “Flucht nach Norden” charakterisiert wurde, äußert sich besonders in der Vernachlässigung der Beziehungen zu den anderen Mitgliedstaaten des Mercosur, Argentinien, Brasilien und Paraguay. Anstatt auf eine Politik der regionalen Integration setzt Batlle auf bilaterale Abkommen mit den USA, um so die Exportmöglichkeiten Uruguays zu verbessern. Die enge Bindung an die Vereinigten Staaten kommt nun auch in den Beziehungen zu Kuba voll zum Tragen. Bereits auf dem amerikanischen Gipfel im mexikanischen Monterrey kam es zu Verstimmungen als Batlle die vorzeitige Abreise Castros als “Show eines alten Mannes” bezeichnete und eine ältere Aussage des ehemaligen Präsidenten von El Salvador, Flores, bekräftigte, in der dieser Castro als Mörder bezeichnet hatte.

Solidarität und Meningitis

Drei Tage nach der von Uruguay initiierten Verurteilung Kubas in Genf folgte dann das verbale Donnerwetter vom comandante en jefe auf das viele gewartet hatten und das in seiner Schärfe nichts zu wünschen übrig ließ. Castro bezeichnete Batlle als “veralteten niederträchtigen Judas” und beschuldigte ihn des Verrats an der lateinamerikanischen Einheit. Gleichzeitig betonte er, dass die kubanische Regierung sehr wohl zwischen der uruguayischen Regierung und dem uruguayischen Volk zu unterscheiden wisse, welches eine über vier Jahrzehnte währende Beziehung der Brüderlichkeit und Solidarität mit der kubanischen Revolution verbinde. Er verwies auf eine vor Ausbruch der Krise gemachte Zusage, nach der Kuba sich verpflichtet hatte, eine Spende von 1,2 Millionen Impfspritzen gegen Meningitis B, die kürzlich in der Provinz Uruguays ausgebrochen war, zu senden. “Am selben Tag wie in Genf mit Hilfe von Uruguay die internationale Stigmatisierung Kubas aufrecht erhalten wurde, die nur zur weiteren Rechtfertigung des Embargos dient, flog das erste Flugzeug mit 200.000 Spritzen nach Uruguay, und auch der Rest wird folgen, es sei denn man lässt uns nicht landen.” Auch über diese Hifsleistung hatte es bereits im Vorfeld Auseinandersetzungen gegeben, da die uruguayische Regierung keine kubanische Spende akzeptieren wollte, sondern darauf beharrte den Wert der Spritzen mit den 30 Millionen US-Dollar Schulden, die Kuba bei Uruguay hat, zu verrechnen. Die Kubaner waren empört, da es sich um eine Hilfe aus Solidarität handele, die nichts mit den Schulden zu tun habe, die man natürlich begleichen werde.
Ein Sprecher der uruguayischen Regierung wertete die harschen Attacken aus Havanna als “ungerechtfertigten Angriff auf die nationale Würde durch ein totalitäres System”. Am 24. April war es dann soweit: Der kubanische Botschafter in Montevideo, José Alvarez Portela, wurde zur persona non grata erklärt und aufgefordert schnellstmöglich das Land zu verlassen. Batlle begründete den endgültigen Bruch mit Kuba mit den Beleidigungen Castros und kündigte eine Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen an, “sobald es Freiheit auf dieser Insel gibt.”

Persona grata!

Gleichzeitig wurde das Ergebnis einer Umfrage bekannt, nach der nur acht Prozent der Bevölkerung das Ende der diplomatischen Beziehungen mit Kuba unterstützen, 65 Prozent sprechen sich gegen eine Verurteilung der Insel durch die UN-Menschenrechtskommission aus. Am 4. Mai kam es dann zu einer Wiederholung der Geschichte. Genau wie im Jahr 1964 versammelten sich um sieben Uhr morgens hunderte Montevideaner vor den Toren der kubanischen Botschaft, um den des Landes verwiesenen Diplomaten Alvarez Portela zum Flughafen Carrasco zu begleiten. Während der Fahrt durch die Stadt wuchs die Karawane aus Autos, Mopeds, Lastwagen, Bussen und Fahrrädern auf mehrere Kilometer an. Auf dem Flughafen wandte sich der Botschafter mit Tränen in den Augen zu einem letzten Gruß an die Uruguayer und bedankte sich für den überwältigenden Abschied. Die Antwort schallte ihm aus Tausenden Kehlen entgegen:“Persona grata!”. Der Botschafter rief: “Hasta siempre, compañeros!” und stieg in sein Flugzeug.

Neue Helden braucht das Land

1998 war ein gutes Jahr für Paraguay. Neun Jahre nach dem Ende der Stroessner-Diktatur gab es endlich wieder einen Grund zum Feiern. Ob auf dem Land oder in der Stadt: die ParaguayerInnen erinnern sich heute noch gern daran wie es damals war, bei der Fußball-WM in Frankreich, als es der paraguayischen Elf gelang, den großen Favoriten Spanien aus dem Wettbewerb zu werfen und ins Achtelfinale einzuziehen. Oder als das paraguayische Abwehrbollwerk den von Zinedine Zidane dirigierten Sturm des Fußballriesen Frankreich zur Verzweiflung brachte.

Helden, Ehre, Tod

Wie so oft in der paraguayischen Geschichte endete allerdings auch dieses Unternehmen tragisch. Die Elf mit den blauen Hosen und den rot-weiß gestreiften Hemden ereilte der plötzliche Tod, la muerte súbita. Das ist in Lateinamerika das Synonym für das golden goal, jenes erste Tor, das während der Verlängerung eines bis dahin unentschiedenen Spiels fällt und nach FIFA-Reglement über den Einzug in die nächste Runde des Wettbewerbs oder über das vorzeitige Aus einer Mannschaft entscheidet. Der Tod in Frankreich war allerdings ehrenvoll, denn die Mannschaft schied sehr unglücklich mit 0:1 gegen den späteren Weltmeister aus. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn es ein Elfmeterschießen gegeben und Paraguay als Sieger den Platz verlassen hätte. Das ganze Land träumte damals, in der Verlängerung des Spiels gegen Frankreich, einen Traum, der möglicherweise nie in Erfüllung gehen wird. Die Spieler wären fast zu nationalen Helden aufgestiegen.
Helden, Ehre, Tod: In einem Land wie Paraguay, das von der Unabhängigkeit bis 1989 fast ausschließlich von Diktatoren und Militärs regiert wurde, sind dies keine Fremdworte. In jeder Stadt, in jedem Dorf tragen wichtige Straßen und Plätze den Namen des größenwahnsinnigen Marschalls Francisco Solano López, der Mitte des 19. Jahrhunderts als Präsident sein Land in einen sinnlosen Krieg mit den Nachbarn Brasilien, Argentinien und Uruguay stürzte, in dem über 80 Prozent der paraguayischen Bevölkerung umkam. Die offizielle Geschichtsschreibung feiert den Mann bis heute als Helden, weil er im Kampf gegen den übermächtigen Feind angeblich ehrenhaft fiel.
Überhaupt dürften in kaum einem anderen Land der Welt so viele Straßen nach Militärs benannt sein wie in Paraguay. Ein Blick auf die Landkarte zeigt: Sogar ganze Städte und fast alle Siedlungen im paraguayischen Chaco tragen Namen von Offizieren, die sich 1932 im siegreichen Krieg gegen das stärker eingeschätzte Bolivien einen Namen machten.
Zum Glück werden die Duelle mit den Nachbarländern heute friedlich ausgetragen. Bei der eliminatoria, der südamerikanischen Qualifikationsrunde zur Fußballweltmeisterschaft, konnte Paraguay die Nachbarn Bolivien, Uruguay und sogar den viermaligen Weltmeister Brasilien auf die Plätze verweisen. Die Mannschaft landete hinter Argentinien und Ecuador auf dem dritten Tabellenplatz. Das Prunkstück der Elf ist die Abwehr, die vom Torsteher und Kapitän José Luis Chilavert dirigiert wird, der überdies als Freistoßspezialist und als Elfmeterschütze schon mehr als 50 Mal in den gegnerischen Kasten traf. Oder die Schlussminuten einer schon verloren geglaubten Partie, wenn es ihn nach vorne zieht und er nicht widerstehen kann.

Das Prunkstück ist die Abwehr

Neben Chilavert ragen die Verteidiger Arce, Ayala und Gamarra aus der Abwehr heraus. Allerdings gilt das paraguayische Spiel in Lateinamerika als nicht so attraktiv, denn die Mannschaft praktiziert mitunter sogar auf eigenem Platz Konterfußball. Es fehlen die Dribbelkünstler und die großen Zauberer im Mittelfeld, auch wenn mit dem bei Bayern München spielenden Stürmer Roque Santa Cruz gegenüber der letzten WM ein neuer Star dazu gekommen ist.
Bei aller Kritik – der paraguayische Fußball ist erfolgreich, und die Erwartungen sind entsprechend groß. Der aus Uruguay stammende Trainer Sergio Markarian, mit dem die Mannschaft die Qualifikation schaffte, musste gehen, nachdem die Elf zum Abschluss der eliminatoria ausgerechnet gegen den Tabellenletzten Venezuela und dann noch zu Hause 0:4 gegen Kolumbien verloren hatte. Absurderweise wurde Markarian vorgeworfen, mehr um die Qualifikation seines Heimatlandes Uruguay besorgt gewesen zu sein, als um die Paraguays. Dabei hatte sich die paraguayische Elf bereits vorzeitig qualifiziert und Uruguay wäre gescheitert, wenn Kolumbien gegen Paraguay nur ein einziges Tor erzielt hätte. Nachfolger Markarians wurde der ehemalige italienische Nationaltrainer Cesare Maldini. Doch auch der wäre fast wieder geflogen, als er in einem Freundschaftsspiel gegen den Erzrivalen Bolivien über ein mageres 0:0 nicht hinauskam. Plötzlich gab es Schwierigkeiten mit Maldinis Aufenthaltsgenehmigung; dem Italiener wurde angedeutet, er könnte bei der nächsten Rückkehr von einer seiner häufigen Auslandsreisen möglicherweise keine Einreisegenehmigung mehr erhalten.
Schließlich war es José Luis Chilavert, der sich für Maldini stark machte und vielleicht auch den paraguayischen Fußballverband dazu bewegte sich geschlossen hinter den Trainer zu stellen. Maldini durfte die WM-Elf nominieren, aber prompt meldeten sich zwei von ihm nicht berücksichtigte Spieler bei der Zeitung ABC Color zu Wort und beschuldigten Chilavert sie aussortiert zu haben. Chilavert hätte mindestens genau so viel zu sagen wie Maldini, behaupteten sie. Und in Oscar Harrison, den Präsidenten des paraguayischen Fußballverbandes, sahen sie lediglich einen „Sekretär von Chilavert“. Aber letztendlich sind das Kleinigkeiten. Ob Maldini oder Chilavert die Mannschaft aufstellt, die Zuversicht ist nach dem Ende der Streitigkeiten um das Traineramt wieder gewachsen. Sogar ein vorübergehender Rückschlag, die verheerende 0:4-Schlappe in einem Testspiel Mitte April gegen England, konnte wieder ausgebügelt werden. Im letzten Spiel vor der Abreise nach Japan und Südkorea bezwangen die Paraguayer Schweden auf gegnerischem Platz verdient mit 2:1.
Die Chancen stehen also nicht schlechter als 1998. Die Mannschaft des knapp 5 Millionen Einwohner zählenden Landes steht mittlerweile sogar auf Platz 18 der FIFA-Weltrangliste. Sollte die paraguayische Elf erstmals in ihrer Geschichte den Einzug ins Viertelfinale schaffen, hätte das Land wirklich neue Helden. Dann wäre die Zeit endlich reif, Städte mit den Namen Mariscal Estegarribia oder Coronel Oviedo sowie die unzähligen Avenidas Mariscal López umzubenennen: In Capitán Chilavert, Defensor Gamarra oder Avenida Atacante Santa Cruz. Damit hätte der Fußball einen wichtigen Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung geleistet.

Der Fußballzwerg Ecuador im Freudentaumel

Am 7.11. 2001 stand die erste Teilnahme Ecuadors an einer Fußballweltmeisterschaft fest. Das Team qualifizierte sich glücklich in der Südamerikagruppe und ließ dabei international renommierte Nationalmannschaften wie Brasilien oder Uruguay hinter sich. Der viermalige Weltmeister Brasilien konnte sogar mit 1:0 bezwungen werden. In der Gruppe G trifft Ecuador dann in Japan auf Italien, Kroatien und Mexiko. Gegen den schwersten Brocken, den Titelanwärter Italien, wird zuerst gespielt (03.06. in Saporro). Es folgen die Partien gegen Mexiko (09.06. in Miyagi) und gegen Kroatien (13.06. in Yokohama).

Vater des Erfolgs ist der Trainer

Der bisher größte Erfolg für die ecuadorianische Mannschaft war ein 4. Platz bei der Copa America, der Amerikameisterschaft. Aber auch in mehreren Freundschaftsspielen war die Mannschaft erfolgreich. So wurde zum Beispiel Bulgarien in New York mit 3:0 abgefertigt, Jugoslawien 1:0 besiegt und erst kürzlich der AC Mailand mit 2:1 bezwungen. Lediglich das letzte Freundschaftsspiel gegen den Senegal hat man verloren. Vater des Erfolgs ist Trainer Hernán Darío Gómez. Der 46-jährige Kolumbianer, in den 70er Jahren selbst erfolgreicher Spieler, war von 1987 bis 1994 Assistenztrainer und weitere 4 Jahre Cheftrainer Kolumbiens. Er war also bereits bei drei Weltmeisterschaften für sein Heimatland dabei (1990 in Italien im Achtelfinale, 1994 in den USA und 1998 in Frankreich jeweils in der Vorrunde ausgeschieden) und könnte Ecuador mit seiner Erfahrung und etwas Glück ins Achtelfinale führen. Dort träfe die Mannschaft in den gelb-blau-roten Trikots auf den Ersten oder Zweiten der Gruppe D. Da in dieser Gruppe mit Portugal, Südkorea, den USA und Polen keine Top-Favoriten spielen, wäre das Erreichen des Viertelfinales keine unlösbare Aufgabe. Aber das ist noch ferne Zukunftsmusik. Der Trainer selbst sagt dazu bescheiden, dass man lediglich gut mitspielen möchte und erwähnt das Weiterkommen nicht einmal.

Tín schießt die Tore

Das Team verfügt über viele erfahrene Spieler. Wichtige Aufgaben in der Defensive sollen von Ulises de La Cruz übernommen werden, der bei Hibernian in Schottland spielt. Das Toreschießen wird meistens dem erfahrenen Alex Darío Aguinaga oder Agustín Javier Delgado Chalá, genannt „Tín“, überlassen. Während der zentrale Mittelfeldspieler Aguinaga in der ersten mexikanischen Liga spielt und für seine 20 Länderspieltore 88 Einsätze brauchte, erzielte Delgado das gleiche Ergebnis in der Hälfte der Einsätze. Der Stürmer und sein Nationalspielerkollege und Cousin Cléber Manuel Chalá wirken zurzeit beim Premier League Club FC Southampton – kommen dort allerdings nicht häufig zum Einsatz.
Tín schießt nicht nur viele, sondern auch wichtige Tore. So zum Beispiel das 1:0 gegen Brasilien und das 2:1 gegen Paraguay oder mit seinem früheren mexikanischen Club Nexaca gleich zwei Tore gegen Real Madrid. Große Hoffnungen setzt man auch in den jungen Neu-Nationalstürmer Edwin Tenorio, der sein Geld (noch) in Quito verdient. Fazit: Mit einem WM-erfahrenen Trainer, einem exil-schottischen Abräumer in der Abwehr, einem Tore schießenden Mittelfeldregisseur und einem Premier League Torjäger im Sturm kann die Mannschaft Ecuadors noch für einige Überraschungen bei der WM sorgen.

Brasilien vor der WM

Auch im Freundschaftsspiel gegen Portugal konnte Brasilien wieder mal nicht überzeugen. Ein 1:1 – und nur per Elfmeter gelang dem vierfachen Weltmeister ein Tor. Vorher in Brasilien hatte es nur zu einem mageren 1:0 gegen Jugoslawien gereicht, hier musste ein Jugoslawe die Vorlage zum einzigen Tor geben. Bueno Galvão, der unvermeidliche Fußballreporter von TV Globo, versucht vergeblich Euphorie zu verbreiten. Sein nationalistisches Geschrei bringt den brasilianischen Fußball auch nicht nach vorne. Für Globo steht viel auf dem Spiel: als einziger brasilianischer Sender hat er bei dem Millionenpoker um die Übertragungsrechte mithalten können. Nun aber kommen die Werbeeinnahmen nicht wie erhofft. Unmögliche Spielzeiten (7.00 morgens!) und die schwache Vorstellung der Nationalmannschaft lassen nicht die landesübliche Voreuphorie aufkommen. Was ist los im Land des Fußballs?
Für Optimisten sind die wenig überzeugenden Ergebnisse und Leistungen des brasilianischen Teams in den letzten Freundschaftsspielen Grund zu vorläufigem Aufatmen. Immerhin geht es etwas besser als bei den Qualifikationsspielen. Tatsächlich musste Brasilien nach blamablen Vorstellungen bis zum letzten Spiel um seine Qualifikation bangen. Die Liste der Niederlagen ist lang und beeindruckend: Brasilien verlor seine Qualifikationsspiele gegen Argentinien, Uruguay, Bolivien, Ecuador, Chile und Paraguay. Auswärts wurde Brasilien sogar für mittelmäßige Teams eine leichte Beute. Lediglich die Heimstärke und ein mühseliger Sieg im letzten Spiel gegen Venezuela sicherten die WM – Teilnahme. Eine derartig qualvolle Qualifikation ist einmalig in der Geschichte des brasilianischen Fußballs.
Nun ist allgemein bekannt, dass es dem Land nicht an exzellenten Fußballern fehlt – ein Blick auf die europäischen Clubs genügt. Aber keinem der häufig wechselnden Trainer ist es gelungen, aus dem über den Globus verstreut spielenden Stars ein funktionierendes Ensemble zu formieren. Auch ist deutlich, dass Brasilien zwar einen Überschuss an hervorragenden Stürmern produziert – welches Land lässt Spieler wie Elber oder Amoroso zu Hause? – aber keinen zuverlässigen Mittelfeldspieler, der in der Lage ist, das Spiel zu ordnen. Neben einer leichten Abwehrschwäche (auch hier sind die Außenverteidiger besser in der Offensive als in der Defensive) ist das Mittelfeld wohl die Achillesferse der brasilianischen Mannschaft.

Ronaldinho und Co

Fußball lebt – nicht nur – in Brasilien von der Hoffnung auf große Stars. Wer der Retter der Nation sein soll, ist klar: Ronaldinho, der von Inter Mailand oder einfach o phenómeno („Das Phänomen“). Der Versuch, ihn in Ronaldo umzutaufen funktioniert zumindest in Brasilien nicht. Nur war Ronaldinho fast zwei Jahre dauerverletzt und kommt erst seit kurzem in der Nationalmannschaft und bei Inter wieder zum Einsatz. Aber die Nation hofft auf die triumphale Rückkehr des „Phänomens“ in Korea.
Die zweite große Hoffnung trägt denselben Namen, Ronaldinho, der von Paris Saint Germaint, in Brasilien allgemein als Ronaldinho Gaucho bekannt. Tatsächlich ein junger, brillanter Spieler (Sturm oder offensives Mittelfeld), aber in der Nationalelf mit schwankender Leistung. Die dritte entscheidende Stütze soll Rivaldo sein, aber auch er kämpft mit Verletzungsproblemen.
Zwei der drei großen Hoffnungen Brasiliens gehen also angeschlagen in die WM – eine riskante Option zu der es aber anscheinend keine Alternative gibt.

Alle wollen Romário

Das Trio Rivaldo, Ronaldinho (2X) ist sicherlich ein nationaler Konsens, trotz einiger Animositäten gegen Rivaldo, der den Ruf hat, etwas zu pomadig zu spielen. Der Trainer ist auch ein weitgehender Konsens. Nach verschiedenen Wechseln hat Felipe Scolari – Felipão – das Amt angetreten. Damit hat der brasilianische Fußballverband zweifelsohne dem Volkswillen Rechnung getragen. Intellektuelle Kritiker wenden zwar ein, dass die von ihm trainierten Vereinsmannschaften eher defensiv und überhart spielten, aber er hat es immer verstanden, die Spieler dazu zu bringen, bis zum Umfallen zu kämpfen. Zudem wirkt er volksnah und zeigt seine Emotionen – kein cooler Funktionärstyp. Politisch ist er eher eine unerfreuliche Erscheinung, hat er sich doch als Bewunderer Pinochets geoutet. Das stört in Brasilien weniger als etwas anderes: störrisch beharrt Felipão darauf, Romário nicht ins Team zu berufen.
Romário, der Star der WM von 1994, ist inzwischen 35 Jahre alt, aber schießt in der brasilianischen Meisterschaft Tore wie am Fließband. Gäbe es Direktwahlen zur Mannschaftsaufstellung, könnte Romário schon seinen Flug nach Korea buchen. Die Frage Romário oder nicht ist Gesprächsthema Nr.1, und fast alle wollen Romário. Sogar Präsident Cardoso – der nicht gerade wie ein Fußballkenner wirkt – hat sich für Romário eingestzt. Der als undiszipliniert bekannte Altstar hat öffentlich Abbitte für alle Sünden gebeten, die Unterwerfung unter Felipão geschworen und vor den Augen der Nation geweint – aber nicht das Herz des Trainers erweichen können. Nur Tore der Ronaldinhos werden den Ruf nach Romário verstummen lassen können. Für Gesprächsstoff ist also gesorgt.

Der geschundene Fußball

Die Schwierigkeiten der Nationalmannschaft hängen wohl mit einer Dauerkrise des organisierten brasilianischen Fußballs zusammen. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss hat im letzten Jahr haarsträubende Machenschaften des nationalen Fußballverbands und der Vereine aufgedeckt – freilich ohne drastische Konsequenzen. Die Organisation der nationalen Meisterschaft ist chaotisch, ständig werden die Regeln geändert. Alle großen Vereine sind hoch verschuldet und zahlen ihre Gehälter nicht mehr regelmäßig. Der populärste (und verhassteste) Club, Flamengo aus Rio, ist pleite, wichtige Spieler haben den Verein verlassen. Der Präsident Vascos, eines anderen Traditionsteams aus Rio, war einer der Hauptangeklagten des Untersuchungssauschuss. Er hat offensichtlich Gelder auf Konten in Steueroasen umgeleitet. Er ist auch Bundesabgeordenter, um – wie er sagt – nicht die Interessen des Volkes, sondern die von Vasco zu vertreten.
Die Mehrzahl der wichtigsten brasilianischen Vereine werden von solchen populistischen Gestalten geführt und ruiniert. Die Quittung kam bei der letzten Meisterschaft. Wer bestritt das Endspiel? Keiner der Traditionsclubs, sondern São Caetano gegen Atlético Paraense. São Caetano ist ein neuer Verein aus dem Großraum São Paulo, Atlético kommt aus dem Staat Curitiba, der Hauptstadt Paranás. Mit dem Gewinn der Meisterschaft durch Atlético hat zum ersten Mal seit vielen Jahren ein Club aus der Fußballprovinz die Oberhand behalten. Aber dies reicht im Jahre 2002 noch nicht aus, um tief greifende Änderungen im organisierten Fußball einzuleiten. Opfer sind auch wichtige Spieler. Luizão, der mit seinen Toren in den letzten Qualifikationsspielen zum Retter der Nation avanciert war, ist nach einem Streit um nicht gezahlte Gehälter mit Corinthians ohne Verein, womit seine WM-Teilnahme in den Sternen steht.

Sich selbst ausgespielt

Da ist noch was zu holen“, sagten sich die Kolumbianer im Juli 2001. Vor ihnen lagen vier Monate weiterer Qualifikationsspiele für die WM in Asien, hinter ihnen ein triumphaler Sieg im Amerika-Cup, den man mit Müh und Not im eigenen Land halten konnte. Zunächst hieß es, Kolumbien als Austragungsort wäre passé. Zu gefährlich wegen der politischen Situation. Kurz vor Anpfiff des ersten Spiels wurde ein hoher kolumbianischer Verbandssekretär von der Guerilla entführt. Als mehrere Länder von einer Teilnahme am Cup absahen und bereits Brasilien als Ausweichort ins Gespräch kam, traten selbst den Rebellen die Schweißperlen auf die Stirn. Sich tausendfach entschuldigend, wurde Hernán Mejía nach wenigen Stunden frei gelassen.
Was folgte, war ein triumphaler Durchmarsch der kolumbianischen Mannschaft bis zum Finale. Ohne Gegentor im ganzen Cup gewannen sie gegen Mexiko den Pokal, nichts schien sie mehr aufhalten zu können. Dass Argentinien nicht an der Meisterschaft teilnahm, ließ den Erfolg in einem gleißenden Licht erscheinen, hätte man gegen die wohl derzeit beste Mannschaft des Kontinents gnadenlos verloren. Schmähungen gegen die arroganten „Gauchos” konnte man sich mit dem Pokal im Rücken leisten, war man doch nun auf der Siegerstraße.

Vom Erfolg geblendet

Doch schon wenige Tage später wurden die Kolumbianer in die Realität zurück geholt. Im heimischen Stadion in Bogotá versetzte die Kellermannschaft Peru ihnen ein 0:1, plötzlich war man nur noch Fünfter in der WM-Qualifikationstabelle.
Die Ursachen lagen auf der Hand. Innerhalb von vier Jahren wurde drei mal der Trainer gewechselt. Francisco Maturana, der das vielleicht beste kolumbianische Team aller Zeiten 1994 in die WM führte, sollte noch eine Kehrtwende in der drohenden Ausscheidung bringen. Nie sollte es jedoch zu einer festen Aufstellung kommen, in der sich die Spieler aufeinander abstimmen konnten. Selbst Stars wie Torjäger Juan Pablo Ángel, der derzeit beim englischen Verein Aston Villa unter Vertrag steht, blieb genauso glanzlos wie die Boca Junior-Stars Mauricio Serna und Jorge Bermúdez. Einzelaktionen und fehlender Teamgeist bestimmten die Spiele.
Dass die meisten Heimspiele in Bogotá auf einer Höhe von 2.600 Meter ausgetragen wurden, brach den Kolumbianern das Genick. Das Training der Mannschaft wurde im tiefländischen Cali oder Medellín geführt, auf dem Hochplateau ging den Spielern die Puste aus.
Dazu kamen undurchsichtige Geschäfte innerhalb des kolumbianischen Fußballverbands Fedefútbol. Alvaro Fina, bis dato Präsident des Verbandes, wurden nach dem Amerika-Cup Schmiergeldaffären angehangen. Er soll 20 Millionen US-Dollar durch undurchsichtige Sponsorenverträge veruntreut haben. Der Verband war während der letzten Qualifikationsspiele damit beschäftigt, sich selbst zu retten, statt die Mannschaft auf dem Spielfeld.

Stinkefinger aus Argentinien

Nachdem man vor dem letzten Qualifikationsspiel am 14. November 2001 auf dem sechsten Platz stand und somit das endgültige Aus drohte, konnte nur noch ein Torregen in Paraguay und die Hoffnung auf einen argentinischen Sieg gegen Uruguay die letzte Chance erhalten. Wie entfesselt spielten die Kolumbianer die Manschaft Paraguays in den Boden, in der 80. Minute stand es 4:0, während es in Montevideo zur gleichen Zeit 1:1 stand. Fehlte nur noch ein Tor, um sich gegen Uruguay dank eines besseren Torverhältnisses auf den rettenden Platz Fünf vorzuschieben, der einen leichten Gegner Australien für die indirekte Qualifizierung versprach.
Was dann folgte, war pure Unfähigkeit im Kopf-Rechnen. Während der entscheidenden zehn Minuten gaben die kolumbianischen Kommentatoren aus, die Mannschaft benötige ein 6:0, um weiter zu kommen. Offenbar gingen ihre Rechenkünste auf dem Spielrasen nieder. Die kolumbianische Mannschaft spielte plötzlich in aller Ruhe defensiv, von der Suche eines entscheidenden Treffer war nichts zu spüren. Als dann endlich auch die Kommentatoren merkten, dass sie falsch lagen, ertönte der Schlusspfiff. Der gekrönte Abschluss einer vermasselten WM-Qualifikation, den die Spieler erst unter der kalten Dusche verstanden.
Die folgenden sieben Minuten sollten die Quittung für die kolumbianische Mannschaft werden. Argentinien und Uruguay schoben sich wie im Training den Ball gegenseitig zu oder übten Doppelpässe mit ihrem Torwart. Ein unsichtbarer, argentinischer Stinkefinger flimmerte den Kolumbianern auf dem Bildschirm entgegen.

Übersetzung: Tommy Ramm

Das Massaker, das nicht vergehen will

In prallster Mittagshitze ziehen rund 2.000 Landlose mit Spruchbändern und roten Fahnen durch die Altstadt der Amazonasmetropole Belém. Ganze Familien sind seit acht Tagen zur Schlusskundgebung vor dem Gebäude des Landesgerichtshofs unterwegs, um gegen die anhaltende Straflosigkeit zu protestieren. Die Kinder sind in einem provisorischen Zeltlager in der Innenstadt untergebracht.
Dutzende von Militärpolizisten, darunter viele mit Schlagstöcken und Schildern, haben bereits auf den Stufen vor dem Haupteingang Position bezogen. Einige von ihnen zeigen demonstrativ ihre Gewehre mit Gummigeschossen, ganz hinten fletschen zwei Kampfhunde die Zähne. Die geballte Einsatzbereitschaft der Militärpolizei wirkt überzogen: Keine Sekunde lang machen die DemonstrantInnen Anstalten, in das Gerichtsgebäude eindringen zu wollen. Nach ein paar Reden, die wie Pflichtübungen wirken, rollen sie erschöpft ihre Transparente ein und werden von Bussen abgeholt.
Dabei ist der Anlass der Kundgebung eines der traumatischsten Ereignisse der jüngeren brasilianischen Geschichte: Am 17. April 1996 hatten 1500 Landlose eine Landstraße bei Eldorado dos Carajás im Bundesstaat Pará im Amazonasgebiet blockiert, um auf ihre verzweifelte Lage aufmerksam zu machen. Der Gouverneur Almir Gabriel, ein Parteifreund von Präsident Fernando Henrique Cardoso, ordnete die Räumung an. Zwei Einheiten der Militärpolizei nahmen die Landlosen in die Zange und eröffneten das Feuer. 19 Menschen wurden erschossen, 69 teils schwer verletzt. Die Aufnahmen eines Fernsehteams schockierten die Nation.
Vielen Überlebenden wie José Sebastião de Oliveira, der in den rechten Unterschenkel getroffen wurde, machen die Folgen der Schusswunden noch heute zu schaffen – ganz abgesehen von den psychischen Folgen. Der 53-Jährige ist arbeitsunfähig. Im Gegensatz zu anderen Opfern erhält er immerhin eine Rente von umgerechnet 150 Euro. Doch die Landesregierung sei bis heute nicht dazu bereit, eine angemessene medizinische Begleitung zu garantieren. „Wir möchten einfach nur menschenwürdig behandelt werden,“ sagt Oliveira, der sich auch in diesem Jahr dem friedlichen Protest in Belém angeschlossen hat, um Wiedergutmachung und einen fairen Prozess zu fordern. Zwei der damals Verletzten sind bereits tot, die 56, die noch in der Region leben, wurden gestern erneut von der Präsidentin des Landesgerichtshofs empfangen.

Seit Jahren eine Farce vor Gericht

Doch das Massaker ist bis heute ungesühnt geblieben. Im August 1999 sprach ein Geschworenengericht in Belém die befehlshabenden Offiziere frei. Zwar wurde dieser Prozess auf Grund eklatanter Verfahrensfehler annulliert. Die Wiederaufnahme des Verfahrens lässt allerdings auf sich warten. Vor zwei Wochen gab der Oberste Gerichtshof in Brasília dem Einspruch eines Angehörigen statt, der die bisherige Richterin im Verfahren für befangen hält.

Geschworenen sind Angestellte der Landesregierung

Die Richterin Eva do Amaral sträubte sich ein Jahr lang, das wichtigste Beweismittel der Anklage zuzulassen – ein minuziöses Gutachten der Fernsehaufnahmen, aus dem hervorgeht, dass die Gewalt von Seiten der Militärpolizisten ausgegangen war. Die Presse sollte keinen Zugang zum Gerichtssaal erhalten. Und fast alle der nominierten Geschworenen sind Angestellte der Landesregierung.
Anfang April erreichten die Anwälte der Landlosen, die Eva do Amaral für befangen halten, beim Obersten Gerichtshof in Brasília einen weiteren Aufschub. Doch die Justizbehörden von Pará stärkten ihrer Kollegin sofort den Rücken und drängen nun auf eine rasche Wiederaufnahme.

Der Druck von außen fehlt

Für den jungen Anwalt Carlos Guedes, der die diversen Verfahren von Beginn an als Berater begleitet hat, liegt die Erkärung für die plötzliche Eile auf der Hand: Gouverneur Gabriels Amtzeit endet mit dem Jahr 2002. Im kommenden Jahr hätte er keine Immunität mehr, ebenso wenig wie der damals zuständige Sicherheitsminister. Er ist fest davon überzeugt, dass Exekutive und Judikative in dieser Frage Hand in Hand arbeiten. In Pará sei ein rechtsstaatliches Verfahren gegen die 146 angeklagten Militärs unmöglich, meint Guedes. Seit zehn Jahren wird ein Gesetzesantrag der Opposition im Kongress von Brasília ignoriert, nach dem Menschenrechtsprozesse in die Zuständigkeit der Bundesjustiz überführt werden sollten. Die Regierung Cardoso halte sich bedeckt, gerade im Wahljahr, wo man mit den verbündeten regionalen Oligarchien besonders behutsam umgeht. „Der Druck von außen ist ganz entscheidend,“ meint Guedes. „Die Regierung war selbst überrascht, wie schnell die internationale Empörung nachgelassen hat.“
Meitor Geminiano, der zum Zeitpunkt des Massakers 18 war und ebenfalls von den Schüssen der Militärpolizisten getroffen wurde, hat resigniert. Seine Großfamilie, die nach dem Massaker vier Grundstücke in einer MST-Siedlung zugewiesen bekam, möchte bald verkaufen und nach Paraguay auswandern.

Landreform: zu wenig, zu langsam

Zu Resignation gibt es allerdings mehr als genug Anlass: Neben der fortwährenden Straflosigkeit, die den offenbar Schuldigen des Massakers von Eldorado dos Carajás zuteil wird, gibt es auch weiterhin wenig Hoffnung auf eine umfassende zukunftsweisende Landreform. Gewinn bringende Machenschaften zwischen Großgrundbesitzern und politisch Verantwortlichen einerseits und Kriminalisierung der Landbesetzungen andererseits stellen den weiter bestehenden Hintergrund dar, vor dem sich das Massaker 1996 ereignen konnte.
Die Folgen sieht man zu beiden Seiten der Hauptverkehrsstraßen um Marabá (Südwest-Pará). Dort ist der noch vor 30 Jahren dichte Regenwald verschwunden. Nur einzelne vertrocknete Baumreste ragen bizarr in den wolkenverhangenen Himmel. Vereinzelt grasen Rinder auf den grünen Flächen.
Neben florierenden Fazendas liegen riesige Landstriche brach. Etliche Großgrundbesitzer verkaufen ihr Land weit über Wert an den Zentralstaat, der darauf in langwierigen bürokratischen Prozessen einen kleinen Teil der landlosen Bauern ansiedelt. Doch sobald diese mit Landbesetzungen nachhelfen, müssen sie damit rechnen, ins Visier privater Pistoleiros oder von Polizisten zu geraten, die sich ihr karges Gehalt gerne durch Auftragsarbeiten aufbessern.
„Es ist lebensgefährlich, jemanden bei der Polizei oder vor Gericht anzuzeigen,“ sagt Antônio de Souza Carvalho, der Vorsitzende der Landarbeitergewerkschaft Fetagri. Es zirkulierten Todeslisten, doch ebenso bekannt wie die Bedrohten seien die Killer, die bis vor kurzem ganz offiziell über eine Agentur vermittelt worden seien. Für den selbst mehrfach bedrohten Gewerkschafter besteht eine Komplizenschaft zwischen staatlichen Stellen und den Machthabern vor Ort.
Besonders seit dem Erstarken der radikalen Landlosenbewegung MST seit 1992 sei die Repression angewachsen, berichtet CPT-Anwalt Gonçalves. Während die Großgrundbesitzer durch die „totale Straflosigkeit“ zu weiterer Gewalt geradezu animiert würden, würden Landbesetzer verhaftet und oft wochenlang festgehalten.

Symbolisches Engagement im Wahljahr

Für Gonçalves muss das „organisierte Verbrechen auf dem Lande“ durch den Einsatz einer Spezialeinheit unter Bundesaufsicht bekämpft werden. Genauso wichtig sei eine Beschleunigung der Landreform. Doch ebenso wie im Prozess des Massakers an den 19 Landlosen ist das Engagement der Regierung Cardoso weitgehend symbolischer Natur. Im Wahljahr 2002 scheint es noch weniger opportun als sonst, die verbündeten Oligarchien aus der Provinz vor den Kopf zu stoßen.

KASTEN:
Staatlich organisierte Gewalt gegen Kleinbauern

Nirgendwo leidet die brasilianische Landbevölkerung so sehr unter der Verfolgung durch Großgrundbesitzer und ihre Komplizen im Staatsapparat wie im Amazonas-Bundesstaat Pará. Allein 2001 wurden sieben Menschen ermordet und 131 verhaftet. In den letzten 30 Jahren kamen bei Landkonflikten über 700 Menschen um.
Diese Zahlen stammen von der katholischen Landpastoral CPT, die maßgeblich vom Hilfswerk Misereor unterstützt wird. Für den engagierten Theologen und CPT-Anwalt José Batista Gonçalves liegen die Ursachen für diese extreme „Kultur der Gewalt“ in der jüngeren Geschichte.
Das Militärregime (1964-1985) schanzte Unternehmern Staatsland in Ostamazonien zu und subventionierte zusätzlich die Umwandlung des Regenwaldes in Weideland für die devisenbringende Rinderzucht. Kaum Unterstützung erhielten dagegen die Siedler aus dem armen Nordosten, die durch den Bau von Großprojekten wie Straßen oder dem Bergbaukomplex Carajás angelockt wurden.
Bald übernahm diese neue Oberschicht von Großgrundbesitzern und Holzhändlern die politische Macht in Pará. Polizei und Justiz wurden zu ihren willfährigen Handlangern. Die 1975 gegründete Landpastoral steht dagegen den Siedlern bei.

Die ohne Land bauen mit dem Land

Pedro Baecker spricht kaum Brasilianisch und nur ein holpriges Spanisch. Am besten kann er sich noch in Deutsch verständigen, allerdings spricht er einen Dialekt, der vor mehr als 100 Jahren im Südwesten Deutschlands gesprochen wurde. Seine Vorfahren emigrierten Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Hunsrück nach Paraguay und seitdem hat niemand aus seiner Familie das Land mehr verlassen. Bis Pedro vor über einem Jahr mit AktivistInnen der MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) aus Brasilien in Kontakt kam und sich entschloss, in der Bewegung der Landlosen mitzumachen und nach Brasilien zu gehen. Später will er Hof und Land verkaufen, seine Familie, die jetzt noch in Alto Paraná in Paraguay lebt, nachholen und sich einem acampamento, einer Landbesetzung, anschließen.
Aus Paraguay möchte Peter Baecker weg, weil sich die wirtschaftliche Situation auf dem Land immer mehr verschlechtert, er von den Erlösen seiner Arbeit nicht mehr leben kann und vor allem, weil es keine sozialen politischen Bewegungen, keine gemeinsame Vision gibt. Diese Gemeinschaft hat er bei der Landlosenbewegung gefunden und so arbeitet er jetzt als Freiwilliger für drei Monate in einer Brigade von rund 60 Männern aus allen Teilen Brasiliens untentgeltlich daran mit, das neue nationale Schulungszentrum Florestan Fernandes bei Guarulhos im Bundesstaat São Paulo aufzubauen.
Das Ausbildungszentrum, mit dessen Bau vor zwei Jahren begonnen wurde, ist ein ehrgeiziges, großes Projekt, das circa zwei Millionen Euro kosten wird. Im Juni 2002 soll die Schule eingeweiht werden, Hauptgebäude und Schlafsäle sollen dann fertig gestellt sein und der Lehrbetrieb wird beginnen.
Alle Arbeiter der Brigade leben in acampamentos oder asentamentos der MST. Die meisten stammen aus dem Nordosten und lebten die letzten Jahre in den Metropolen des Südens. Der Urbanisierungsprozess der letzten Jahrzehnte in Lateinamerika ist auch am riesigen Flächenstaat Brasilien nicht vorbeigegangen. 82 Prozent der BrasilianerInnen leben heute in Städten, 1960 waren es noch 45 Prozent. Viele derjenigen, die sich in den Städten eine Verbesserung ihrer Lebenssituation erwartet hatten, wurden bitter enttäuscht. Einerseits versucht die MST diese Menschen für das Land zurückzugewinnen, andererseits will die Bewegung so auch die Städte erobern.

Keine Landreform unter Cardoso…

Die MST bewegt sich mit ihren Landbesetzungen sowohl politisch als auch rechtlich auf einem extrem schwierigen und auch gefährlichen Terrain. Seit der Gründung der Bewegung im Jahre 1981 wurden, ausgehend von den südlichen Bundesstaaten Rio Grande do Sul, Santa Catarina und Paraná, im ganzen Land nach eigenen Angaben mehr als 3.000 Besetzungen durchgeführt. Indem insgesamt über vier Millionen Hektar Land besetzt wurden, konnte über 200.000 Familien zu einer eigenen Anbaufläche verholfen werden. Aber solange es keine wirkliche Landreform gibt, werden zu den auf fünf Millionen geschätzten Landlosen immer mehr dazukommen. Von einer Lösung des Landproblems ist Brasilien aber weit entfernt. Denn trotz gegenteiliger Versprechen hat es während der Präsidentschaft von Fernando Henrique Cardoso, die im Oktober 2002 zu Ende geht, keine wirkliche Reform gegeben.

… ein einziges Desaster

„Brasiliens großer Fehlschlag: Die Landreform in Lateinamerikas größtem Staat war von Beginn bis zum Ende ein Desaster“, so titelte das US-Magazin Newsweek im Januar 2002. Die Regierung in Brasília fördert die Exportlandwirtschaft und damit die großen Latifundien, um durch die Deviseneinnahmen den Real, die Landeswährung, zu stabilisieren. Auf der anderen Seite mussten in den letzten vier Jahren 400.000 kleine und mittlere Betriebe aufgeben. Nach wie vor haben über zehn Millionen Bauernfamilien nicht ausreichend viel Land, 53 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe verfügen über drei Prozent der bebaubaren Fläche, während einem Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe 44 Prozent der Betriebsfläche gehört.
Landbesitz allein bedeutet allerdings noch keine ausreichende Verbesserung für die Familien. Nachdem die AktivistInnen das Land in Besitz genommen haben, müssen sie sich beraten und die Vermarktung der landwirtschaftlichen Produkte organisieren. Dazu braucht es neben den notwendigen Strukturen – die MST hat landesweit schon über 80 eigene Produktions- und Vermarktungskooperativen – vor allem entsprechendes Know-how.
Rund zehn Prozent der Familien, die sich mit Hilfe der MST ein eigenes Stück Land erkämpft haben, geben dieses Land nach Informationen der staatlichen Landwirtschaftsbehörde wieder auf. Die Dunkelziffer wird mit 30 Prozent noch höher geschätzt. Obwohl diese Zahlen sicher mit Vorsicht zu genießen sind, weil auch eine politische Absicht hinter ihrer Veröffentlichung steht, wird das Problem auch innerhalb der MST nicht bestritten. Die meisten Familien kommen nicht direkt vom Land, sondern werden von der MST in den großen Städten „rekrutiert“. Sie erkämpfen sich ein Stück Land und wissen oftmals nicht, wie es zu bearbeiten ist, wie sie ihre Produkte vermarkten können. Und gerade für dieses (Wieder)Erlernen von landwirtschaftlichen Kenntnissen ist eine fundierte Ausbildung elementar. Dieses Ziel soll in Guarulhos erreicht werden. Neben einer Grundausbildung sollen unter anderem Fächer wie Agrartechnik und Agrarökologie, Betriebswirtschaft, Administration, Genossenschaftswesen und Kooperativenleitung sowie Recht gelehrt werden, EDV-Kenntnisse sollen vermittelt werden.
Seit Jahren schon verfolgt die MST das Konzept, eigene Ausbildungsgänge zu entwickeln und staatlich anerkennen zu lassen, so zum Beispiel zum Agrartechniker. Mit der Nationalen Schule will sie das bereits bestehende Ausbildungssystem innerhalb der Bewegung effektiver machen und erweitern, ein eigenständiges und anerkanntes Schul- und Ausbildungssystem soll durchgesetzt werden. Als Initiator einer eigenen Ausbildung innerhalb der MST wird Florestan Fernandes, ein 1995 verstorbener Soziologieprofessor aus São Paulo, angesehen. Nur folgerichtig, dass die Schule seinen Namen trägt. Der Aktivist und Politiker, ein international bekannter Wissenschaftler der Dependenztheorie, setzte sich schon früh für das Recht auf Bildung ein, ein Engagement, wegen dem er während der Militärdiktatur die Universität verlassen musste.

Die Regierung bleibt draußen

Finanziert wird das Projekt, dessen Träger ITERRA, ein von der MST gegründetes Ausbildungsinstitut sein wird, durch Mittel internationaler Organisationen wie Caritas International, durch Zuschüsse von nationalen Nichtregierungsorganisationen und durch den Verkauf der Bücher des brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado, der die Rechte an seinen Katalogen und Veröffentlichungen der MST gestiftet hat. Ebenso durch Spenden, die von StudentInnen in Brasilien auf der Straße gesammelt werden sowie durch Spenden von europäischen Solidaritätsgruppen. So spendeten etwa italienische Gruppen mehrere 10.000 Real. Auch der Bundesstaat São Paulo wollte sich an der Finanzierung beteiligen, allerdings forderte die Regierung als Gegenleistung ein Mitspracherecht. Ein Angebot, das die MST ablehnte.
Lilian A. Lubochinski, eine in São Paulo lehrende und arbeitende Architektin hat bei ihrem Entwurf versucht, das Motto „Die ohne Land bauen mit dem Land“ auf dem insgesamt fünf Hektar großen Gelände konsequent umzusetzen. „In Brasilien haben wir die Architektur der Ungerechtigkeit als Tradition. Also große Gebäude aus Stahl und Beton und dann Hütten für die Arbeiter. Es gibt in Brasilien für öffentliche Gebäude keine eigene architektonische Sprache des Volkes. Die Herausforderung war hier, die MST als politische Bewegung auch nach außen hin sichtbar werden zu lassen, ihr politisches Konzept zu bauen.“ Dieses Konzept wird bei der Escola Nacional Florestan Fernandes in zweifacher Hinsicht realisiert.
Erstens werden die Materialien für fast alle elementaren Bauteile „aus dem Boden geholt“. So werden die tijoles genannten Lehmziegel, der Hauptbaustoff, direkt vor Ort hergestellt. Die Technologie, mit der Erde zu bauen, ist dabei auch die Verbindung zum politischen Konzept der MST. Und es ist der Versuch, eine Einfacharchitektur zu begründen. Eine Tradition, die es in Brasilien bisher kaum gibt. „Die einzige autonome Tradition in Brasilien Häuser, also keine provisorischen Hütten zu konstruieren, war eine indianische. Die industrielle Produktion und die billige Kopien vor allem der US-amerikanischen Bauweise haben bisher verhindert, dass eine eigene Bauweise von Einfacharchitektur entstehen konnte“, so die Architektin.
Zweitens soll durch die Beteiligung der Aktivisten aus den einzelnen Camps, die für jeweils drei Monate am Bauprozess mitarbeiten, den MST-Mitgliedern Kenntnisse verschafft werden, damit sie später ihre Häuser nach erfolgreichen Besetzungen ohne großen finanziellen Aufwand selbst bauen können. „Wir müssen weg von den schwarzen Plastikplanen“, so die Hoffnung von Lilian Lubochinski. Und das Konzept des Learning-by-Doing wird auch schon während der Bauphase durch Unterricht für die Brigaden ergänzt. Nach dem Arbeitstag, der um 5.30 Uhr beginnt und um 18.00 Uhr endet, stehen Kurse in Bautechnik und Geschichte auf dem Programm. Auch hier arbeiten Freiwillige, wie Roberta, eine Universitätsdozentin für Geschichte aus São Paulo. Für sie ist es ihr Beitrag im Kampf gegen die ungerechte Landverteilung in ihrem Land.
Bis die ganze Anlage, deren Energieversorgung durch Solarzellen und Gas gewährleistet wird, fertig ist, wird es noch drei bis vier Jahre dauern. Neben dem Haupthaus, in dem sich Schulungsräume, eine Bibliothek, die Lehrerräume, aber auch ein Tanzsaal befindet und den acht Wohnhäusern (davon ist eines behindertengerecht und mit Einzelzimmern ausgestaltet), sollen weitere Nebengebäude entstehen. Auch ein Schwimmbad und ein Freilufttheater für 500 Personen ist geplant. Zum Gesamtareal gehören auch Flächen für den Anbau zur Selbstversorgung und als Lehrflächen. Bislang sind dafür fünf Hektar erworben worden, weitere sieben sollen dazu kommen.

“Der Peronismus war immer eine Mafia“

Wie stabil ist die peronistische Regierung von Eduardo Duhalde?

Die ist überhaupt nicht stabil. Die haben die zwei Parteien, die radikale und die peronistische, ausgekungelt, weil sie Angst haben, dass eine neue Kraft entsteht. Da die Peronisten im Kongress die Mehrheit haben, haben sie diesen Präsidenten gewählt. Gegen die Verfassung, denn eigentlich kann der Kongress den Präsidenten nur für drei Monate bestimmen, dann muss neu gewählt werden. Aber Duhalde will bis 2003 bleiben. Außerdem hat er die letzten Wahlen verloren, das heißt: er ist kein echter Repräsentant.

Wieso ist ein Militärputsch unwahrscheinlich?

Ein Militärputsch ist nicht möglich. Die Armee hat die Schlacht verloren. Die Bevölkerung würde das nicht akzeptieren. Die Niederlage war so groß, dass sie Angst haben, an die Macht zu kommen, und sie wollen auch nicht. Aber was passieren kann, ist, dass die Generäle der Diktatur, die nach der Amnestie in die Politik gegangen sind und neue Parteien – und zwar rechte Parteien – geschaffen haben, nun Ordnung und Disziplin schaffen wollen. Aus dieser Ecke könnte Gefahr drohen, wenn die Lage in dieser Unordnung weitergeht. Vielleicht ist es auf der nationalen Ebene nicht möglich, aber zum Beispiel hat Ex-General Bussi, einer der schlimmsten Verbrecher der Diktatur, zweimal die Gouverneurswahlen in Tucúman gewonnen. Auch im Chaco hat ein General der Diktatur die Wahlen gewonnen, ebenso in Salta, und einige sind Bürgermeister in bekannten Städten in der Provinz Buenos Aires.

Was verhindert eine starke Partei auf der Linken, wenn rechte Parteien es schaffen, und die beiden herkömmlichen Parteien abgewirtschaftet haben?

Die Linken waren immer ideologisch zerstritten. Die Trotzkisten mit den Kommunisten, mit den Sozialisten usw. Sie sind immer mit eigenen Kandidaten in die Wahlen gegangen und deswegen haben sie nichts gewonnen. Bei den letzten Wahlen im Oktober 2001 hat Luis Zamora, ein Trotzkist, 10 Prozent der Stimmen in der Hauptstadt Buenos Aires gewonnen. Das ist ein großer Erfolg, und man denkt, er kann vielleicht die Einheit der Linken herbeiführen. Aber das kann allenfalls in der Haupstadt und der Provinz Buenos Aires passieren. Im Landesinnern dominieren nach wie vor die Radikalen und die Peronisten. In den Provinzen herrschen die Caudillos, und das sind Peronisten oder Radikale. Da ist die Gesellschaft immer autoritär geblieben. Die Linken sind fast unbekannt. Deswegen sollte man sich keine großen Illusionen machen.

Rund zehn Prozent der Argentinier organisieren sich außerhalb von politischen Parteien. Wie könnte daraus ein politischer Faktor entstehen?

Das ist ein Traum, aber das ist die einzige Möglichkeit. Da sind zum Beispiel die Piqueteros, als eine sehr wichtige Kraft in Argentinein. Das sind Leute ohne Arbeit, die die großen Straßen dichtmachen. Aber es sind Gruppen, die unabhängig voneinander agieren, und es ist sehr schwierig, diese Gruppierungen zu einer großen, zu einer politischen Bewegung zu machen. Beispielsweise die Leute aus La Matanza, diesem großen Distrikt in der Provinz Buenos Aires, sie diskutieren mit den Arbeitern, den Leuten aus den anderen Stadtteilen, die ganz anders sind. Aber wenn sie in die Hauptstadt marschieren, machen sie alles zusammen. Dann existiert die Spontanität der Massen.

Welche Rolle spielt die revolutionäre Linke? Welche Rolle spielen die Caceroleros und ihre Topfschlagkonzerte?

Die Leute, die auf die Straße gehen und diese so genannte Revolution gemacht haben, waren ohne Zweifel von den Piqueteros und den Caceroleros. Die Caceroleros, das ist die Mittelklasse, die aber schon immer reaktonär war. Die sind auf die Straße gegangen, weil sie um ihre kleinen Renten Angst hatten, weil sie Angst hatten, sie würden ihre kleinen Ersparnisse verlieren. Deswegen sind sie zum ersten Mal in der Geschichte Argentiniens auf die Straße gegangen mit den Piqueteros, die etwas ganz anderes wollten. Die wollen Arbeit und ein ganz anderes soziales Regime. Die Argentinier sind nicht links. Seit 1945, seit Perón, haben die Argentinier Angst vor der linken Ideologie. Warum sind sie mit argentinischen Fahnen auf die Straße gegangen? Sie wollten keine rote Fahne. Nicht, weil sie nationalistisch sind, sondern weil wir nur eine Fahne haben und das ist die argentinische, und kommt eine rote Fahne, haben alle Angst. Alles was links ist, wurde verfolgt. Die Diktatur hatte einen absoluten Erfolg, alles was links war, zu eliminieren, und sie hat eine schreckliche Propaganda gegen die Linke gemacht. Diese Angst ist geblieben.

Bei soviel Armut und Elend könnte man erwarten, dass Parteien, die eine Alternative anbieten, Zulauf bekommen?

Das ist ein großes Problem. Wir haben den Peronismus, und der hat die ganze Linke ausgerottet, und dieser Peronismus ist jetzt an der Regierung. Die Peronisten sind die besten Repräsentanten des Kapitalismus. Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Gewerkschaften anarchistisch, sozialistisch und kommunistisch und eine sehr große Kraft für die Arbeiter. Als der Peronismus kam, verschwand alles, wurde verboten oder wurde peronistisch. Und heute wissen die Menschen nicht mehr davon. Sie haben ihr ganzes Leben nur vom Peronismus gehört. Und was ist Peronismus? Peronismus ist ‘Viva Perón’. Peronismus ist Gerechtigkeit für die Argentinier, eine große nationale Industrie. Und die Peronisten haben die große nationale Industrie zerstört. Das ist das Schicksal eines jeden Populismus. Er fängt ganz links an, wenn das Land reich ist, wird verteilt. Der Peronismus hat sehr viel verteilt. Argentinien war nach dem zweiten Weltkrieg ein reiches Land. Ich kann mich erinnern, dass die Metallarbeiter plötzlich Hotels an der Atlantikküste hatten. Mit Perón haben wir das Meer gesehen, die Kinder aus dem Landesinnnern in den neuen Hotels, die er für die Gewerkschaften gemacht hatte. Solche Sachen hat er gemacht, aber nicht den Sozialismus. Aber als das Land arm wurde, wurde eine reaktionäre Politik gemacht.

Wenn der Peronismius eine faschistische Bewegung mit einer sozialen Unterfütterung ist, warum hat die Linke, statt diesen Peronismus zu bekämpfen, ihn teilweise unterstützt?

Ich bin im selben Jahr wie der Schriftsteller Rodolfo Walsh geboren, er war Peronist, ich nicht. Wir haben die ganze Geschichte des Peronismus erlebt. Wir waren 18 Jahre alt, als Perón an die Regierung kam, wir haben erlebt, wie die erste Regierung Perón war. Wir haben Eva Perón erlebt. Wir haben mit viel Wut erlebt wie der Peronismus den Francismus unterstützt hat. Eva ging 1948 nach Madrid, als Franco schon am Ende war. Zusammen mit Franco hat sie zu den spanischen Arbeitern gesprochen und hat ihnen gesagt: so wie die argentinischen Arbeiter immer ja sagen zu General Perón, so sollt ihr Arbeiter Spaniens immer tun, was der Generallissimo Franco sagt. Das ist auch der Peronismus, eine Mischung aus Faschismus und Opportunismus. Und als die Militärs 1955 Perón stürzten, wohin ging Perón? Zuerst in das Paraguay von Strössner, dann nach Venezuela von Perez Jimenez, ein Repräsentant der USA, ein Militär und Diktator, dann in die Kanalzone von Pamana, von dort in die Dominikanische Republik von Diktator Trujillio und schließlich nach Franco-Spanien, wo er blieb, bis er nach Argentinien zurückkehrte. Allein schon an dieser Route kann man sehen, welche Ideologie Perón hatte.
Ich kann mich erinnern, wie wir als Studenten gelitten hatten unter der Juventud Peronista, der peronistischen Jugend. Sie war durch und durch faschistisch. Aber diese Studenten, die in den 60er Jahren so gelitten hatten, gingen später zum Peronismus. Ich hatte Rodolfo Walsh gefragt, wie kannst du sowas machen? Oder den Dichter Juan Gelmann, der vom ganz linken Kommunismus zum Peronismus ging. Und die Antwort war: Donde está el pueblo? Wo ist das Volk? Und das Volk war peronistisch, also mussten wir mit dem Volk sein. Aber das Volk war weder sozialistisch noch revolutionär. Und deswegen war es ein großer Irrtum der Montoneros, der linksnationalistischen Stadtguerilla in Argentinien, zu glauben, der Peronismus sei revolutionär und lateinamerikanisch. Wir waren Europäer, die Ideen kamen aus Europa und nicht aus Lateinamerika. Die Montoneros waren eine so genannte nationale Bewegung und hatten sehr wenig mit Lateinamerika zu tun oder mit den Guerillabewegungen Lateinamerikas. Aber die Montoneros sagten immer, dass Perón ein Revolutionär sei. Wir haben viel diskutiert: was hat Perón von einem Revolutionär? Als er 18 Jahre später aus Spanien zurückkam – und dies nur durch den Kampf der Montoneros – und wieder Präsident wurde, verjagte er die Montoneros bei einer großen Kundgebung von der Plaza de Mayo. Sie haben dann weiter gegen die Bürokratie des Peronismus gekämpft. Das waren sehr tragische Zeiten. Viele wurden vom Geheimdienst oder der Polizei ermordet. Die Besten wurden getötet oder verschwanden. Dann triumphierte die Diktatur Videlas und von den Linken und den Guerillabewegungen blieb nichts. Als ich nach acht Jahren Exil 1983 zurückkam, war ich erstaunt. Es war ein absolut anderes Land. Es blieb nichts von der linken Kultur. Ich war ein sehr bekannter Schriftsteller. Mein Buch „Aufstand in Patagonien“ wurde 200.000 mal verkauft, und als ich zurückkam kannte niemand meinen Namen. Die kannten keinen Linken mehr.

Liegen die Wurzeln des Problems nicht auch außerhalb Argentiniens, beispielweise beim Internationalen Währungsfonds?

Ich glaube es ist beides. Die Lösungen, die der IWF vorgibt, sind immer gegen die Nation und gegen die Freiheit gerichtet. Das sind nicht meine Worte. Das sagen die großen Denker der Ersten Welt. Aber es wäre zu einfach, wenn wir Argentinier die Schuld nur auf den IWF schieben würden. Es sind wir, es ist unsere Gesellschaft, die die Demokratie nie respektiert hat. Das hat zu tun mit der ganzen Bürokratie und der Unmoral des Peronismus. Zuerst Perón – dann Menem, der Schlimmste unter den Korrupten. Aber es ist eine nationale Partei, es ist argentinisch, peronistisch zu sein. Und peronistisch zu sein, heißt, korrupt zu sein. Die ganzen Minister von heute sind Mafiatypen. Der Peronismus war immer eine Mafia, auch unter Perón. Dafür kann man dem IWF nicht die Schuld geben.

Pressegespräch im FDCL vom 6. Februar 2002
Zusammenstellung: Jürgen Vogt

KASTEN:
Zur Person

Osvaldo Bayer ist 1927 in Santa Fe, Argentinien, geboren. Er studierte Philosophie und Geschichte in Buenos Aires und an der Universität Hamburg. Bis vor einem Jahr war er ordentlicher Professor für das Fach Menschenrechte an der Philosophischen Fakultät der Universität Buenos Aires. Er ist Autor folgender Bücher: La Patagonia rebelde, (vier Bände), Severino Di Giovanni, el idealista de la violencia, Exilio, (in Zusammenarbeit mit dem Dichter Juan Gelman), Los anarquistas expropiadores y otros ensayos históricos, Rebeldía y esperanza und El camino hacia el paraíso. Bayer ist Drehbuchautor folgender Filme: „La Patagonia rebelde“ (silberner Bär bei der Berlinale 1974). In Argentinien war er Redaktionssekretär der Zeitung Clarín (1958-1973) und Herausgeber der Zeitschrift Imagen. Während der Militärdiktatur Videlas, lebte er von 1976 bis 1983 im Exil in der Bundesrepublik Deutschland. Z. Zt. schreibt er Leitartikel für die argentinische Zeitung Página12. 2001 erschien sein Roman Rainer und Minou, eine Liebestragödie zwischen Berlin und Buenos Aires in den 60er und 70er Jahren.

Wenn es keine Gerechtigkeit gibt, dann gibt es die Funa

Wann und aus welchen Gründen wurde die Funa gegründet?

Die Funa wurde 1998, kurz nach der Verhaftung Pinochets, in London ins Leben gerufen. Eine Gruppe von jungen Leuten, darunter Kinder von Verhaftet- Verschwundenen, fanden sich zu einer Demonstration gegen die Verbrecher der Militärdiktatur in einer der wichtigsten Fußgängerzonen Santiagos zusammen. Pinochet ist nicht der Alleinverantwortliche für die Menschenrechtsverbrechen. Es gibt noch viel mehr Schuldige, die heute in Straflosigkeit ruhig leben. Unsere Idee ist es, diese Leute in ihren Häusern oder an ihren Arbeitsplätzen aufzusuchen, sie öffentlich zu outen und der Gesellschaft zu zeigen, wer sie wirklich sind und was sie getan haben. Das Ziel dieser Aktionen ist, sie daran zu hindern, ihr bisheriges Leben wie gewohnt in Ruhe weiterzuleben. Wir sind eine autonome Gruppe, die keiner politischen Partei angehört und kämpfen gegen die Straflosigkeit dieses Systems.

Wen habt ihr als Erstes geoutet und wie ging es weiter?

Die erste funa (Outing) fand in einer Privatklinik in einem der reichen Viertel Santiagos statt. Dort arbeitet ein Kardiologe, der in die Verbrechen während der Militärdiktatur verwickelt war. Dies war am 02.10.1999. Wir haben verschiedene Menschenrechtsorganisationen zu dieser funa eingeladen. So waren wir eine Gruppe von ungefähr 60 Leuten. Seitdem funktioniert Funa als eine Komission. Heute sind in dieser Komission 20 verschiedenene soziale Organisationen vertreten. Die meisten Mitglieder sind junge Leute. Zu unserem einmal in der Woche stattfindenden Treffen, kommen immer um die 40 Personen. Wir haben verschiedene Arbeitsgruppen, die einzelne Bereiche zur Organisation unserer Aktivitäten abdecken.
18 Schweine haben wir jetzt schon geoutet. Die letzte funa richtete sich gegen einen Zivilisten, derwährend der Diktatur Komplize des Militärs war und danach für die Präsidentschaftswahlen kandidierte. Die Atmosphäre bei den funas ist lebendig, fröhlich. Wir machen Musik auf der Straße, sind laut und machen uns bemerkbar.

Worin unterscheidet ihr euch von anderen Menschenrechtsorganisationen?

Wir sind nicht wie die traditionellen Menschenrechtsgruppen. Diese sprechen immer von den Opfern der Diktatur. Dagegen wehren wir uns. Viele der Menschen, die ermordet wurden, waren Revolutionäre. Sie verloren ihr Leben im Kampf für ein Ideal, für neue Hoffnung, für ihr Volk und für ein alternatives Projekt. Wir als Kinder dieser Kämpfer denken, dass es ihr Wille gewesen wäre, dass wir das Gleiche tun und nicht weinend durch die Straßen gehen. Die Funa ist eine Organisation von lebensfrohen jungen Leuten. Wir geben dem Leben und dem Tod der Revolutionären ihren Sinn zurück.

Wie sehen die Konsequenzen für die von der Funa geouteten Personen aus?

Es gibt verschiedene Konsequenzen. Eine unserer Arbeitsgruppen ist die Archivgruppe, die in Erfahrung bringt, was mit den betreffenden Personen nach den funas passiert. Manche gaben ihre Arbeit auf, weil sie sich schämten. Andere tauchten einfach nie wieder an ihrem Arbeitsplatz auf. Diejenigen, die wir in ihren Häusern aufgesucht haben, sind umgezogen. Andere, wie zum Beispiel einer der Manager des größten Telefonkonzerns CTC, sind für uns unerreichbar. Dieser sitzt immer noch an seinem Arbeitsplatz und das ist kein Einzelfall. Aber wir werden diese Schweine immer und immer wieder aufsuchen, bis wir sie kriegen.

Was für Konsequenzen ergeben sich für euch aus diesen Aktionen?

Das kommt ganz darauf an, wen wir outen. Ricardo Claro zum Beipiel , ein reicher Unternehmer und Besitzer von Megavisión, einem der großen Fernesehsender Chiles, war Komplize des Militärs. Während der Diktatur ermöglichte er dem Regime den Transport von politischen Gefangenen auf Schiffen der Sudamericana. Diese Gefangenen wurden auf abgelegene Inseln gebracht und wir vermuten, dass von diesen Schiffen Gefangene ins Meer geworfen wurden. Ricardo Claro ist heute einer der Wirtschaftsberater von Lagos. Zweimal haben wir ihn schon geoutet. Das erste mal ging alles gut, doch beim zweiten Mal gab es einen politischen Befehl die funa zu verhindern. Die Polizei kam, ging mit Schlagstöcken und Tränengas auf uns los und nahm53 Leute fest. Uns allen wurde eine Geldstrafe von 40 US-Dollar auferlegt. Unsere Arbeit wird seitdem unterdrückt. Offiziell dürfen wir nichts mehr machen. Sie lassen uns nicht mehr in Ruhe.

Wie sieht es mit der Gewaltbereitschaft unter euren Leuten aus?

Grundsätzlich sind wir friedlich. Allerdings haben wir uns darauf geeinigt einzugreifen, wenn einer von uns von der Polizei festgenommen wird. Das heißt, dass wir aktiv versuchen, die betreffende Person aus der Polizeigewalt zu befreien. Wir nehmen keine Steine, Stöcke oder Molotovcocktails mit auf unsere Aktionen. Das passt einfach nicht zu uns. Zu unseren funas kommen viele Frauen mit ihren Kindern und wir wollen nicht, dass sie Angst haben müssen.

Wie sieht es aus mit der Öffentlichkeit? Wie reagiert sie auf euch?

Anfangs gab es in den Medien einige Berichte über uns. Sie stellten uns als einen Haufen verrückter Antidemokraten dar. Nur ein Fernsehsender bezeichnete die Funa als eine neue Art zu demonstrieren. Doch sehr bald berichtete niemand mehr über uns, die Funa wurde zensiert. Natürlich gibt es einige kleine alternative Zeitungen, die ab und zu über uns berichten. Wir selber haben ein Mitteilungsblatt, das alle zwei Monate erscheint

Habt ihr auch Kontakt zu anderen sozialen Organisationen in Lateinamerika?

Wir stehen in Kontakt mit der Organisation H.I.J.O.S in Argentinien, Uruguay, Paraguay und Menschenrechtsorganisationen in Brasilien. Mit diesen Gruppen haben wir eine länderübergreifende funa organisiert. In jedem dieser Länder wurde am selben Tag eine Person geoutet. In Chile outeten wir Krasnoff Marchenko, der in die Menschenrechtsverbrechen der Todeskarawane verwickelt war und eine wichtige Rolle während der Militärdikatur spielte. Es ist wichtig, dass wir Kontakte außerhalb Chiles knüpfen, um mehr Unterstützung zu erhalten.

Interview: Nisha Anders, Anja Witte

Die „andere Welt“ muss sich einigen

Vom 19. bis 21. Oktober 2001 fand in Berlin der ATTAC-Kongress statt. Unter dem Motto „Eine andere Welt ist möglich“ diskutierten an diesem Wochenende KritikerInnen der neoliberalen Globalisierung. Welchen Eindruck hinterließ diese Veranstaltung bei Ihnen?

Ich konnte selber leider nicht an dem Kongress teilnehmen, aber ich war beeindruckt von der hohen Zahl der Teilnehmer. Außerdem halte ich es für wichtig, dass ATTAC Deutschland Personen wie Oskar Lafontaine in den Dialog einbezieht, um eine breite Bevölkerungsschicht zu erreichen. Auf Grund der wirtschaftlichen und politischen Bedeutung Deutschlands ist hier die globalisierungskritische Bewegung sehr wichtig. Auch um mehr Unabhängigkeit gegenüber den USA zu gewinnen, sind soziale Bewegungen wie ATTAC entscheidend. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass es heute mehr Kritik gegen den Krieg in Afghanistan gibt als damals gegen den Krieg im Kosovo.

Das Motto wie des ATTAC Kongress hat sich gegenüber dem Weltsozialforum 2001 in Porto Alegre nicht verändert. Im nächsten Jahr findet dort erneut ein Weltsozialforum statt. Wird diese dem gleichen Leitgedanken folgen?

Das Motto: „Eine andere Welt ist möglich“ können wir 2002 nicht wiederholen. Um Glaubwürdigkeit zu bewahren, müssen wir zeigen, wie diese „andere Welt“ möglich ist. Wegen der großen Unterschiede zwischen den einzelnen Organisationen, die an dem Weltsozialforum teilnehmen, ist es schwer, sich auf ein Programm zu einigen. Im Jahre 2001 fehlte die Einheit unter den TeilnehmerInnen, daher haben wir keine gemeinsame Resolution angestrebt. Das Weltsozialforum 2002 soll kein politisches Happening werden, vielmehr steht es am Ende eines Prozesses. In diesem Prozess, der 2001 begann, lernten sich die unterschiedlichen sozialen Bewegungen kennen, erläuterten ihre Ideen und äußerten Kritik. Dramatisch am Neoliberalismus ist, dass die Gesellschaft nicht mehr an der politischen Debatte teilnimmt, sondern zum Zuschauer des politischen Lebens zu wird. Politische Ereignisse werden wie Naturphänomene präsentiert und nicht wie Entscheidungen, die einer bestimmten Gruppe der Gesellschaft dienen. In Brasilien gibt es beispielsweise weder eine öffentliche Diskussion über die Auslandsschulden noch über die Mitgliedschaft in der ALCA (gesamtamerikanische Freihandelszone). Auf Grund der weltweiten Krise müssen wir die Menschen mit Argumenten bewaffnen.

Was ändert sich sonst bei dem Weltsozialforum im Jahre 2002 und was bleibt?

Porto Alegre im Jahre 2001 wurde in nur sechs Monaten organisiert, und alle waren über den großen Zuspruch überrascht. Doch die Mehrzahl der TeilnehmerInnen kam aus Lateinamerika und den europäischen Ländern des Mittelmeerraums. Dies wollen wir 2002 ändern. Daher gibt es ein internationales Komitee mit über 70 Netzwerken aus aller Welt, das sich vom 30.Oktober bis 1.November in Dakar (Senegal) traf. In Dakar wurden den Netzwerken die Themen zugewiesen. Damit die brasilianische Perspektive nicht überwiegt, kümmert sich um jedes der 24 Themen ein Netzwerk. Im Vorfeld des Forums erarbeiten diese Netzwerke zu dem jeweiligen Thema Thesen, die auch im Internet zur Diskussion stehen. Das Forum diskutiert darüber und integriert die Kritik, um neue Thesen zu entwickeln. Somit werden die unterschiedlichen Standpunkte in einem abschließenden Papier vereint, über das nicht im klassischen Sinne abzustimmen ist. Dadurch lösen wir mit dem internationalen Komitee ein zweites Problem: Das Forum wird nicht nur zu einem Festival der Linken, wir fassen auch gemeinsame Beschlüsse. Auch 2002 kann jede teilnehmende Organisation die offiziellen Konferenzen mit eigenen Workshops ergänzen. Um die große „Fauna“, der Menschen zu erfassen, die gegen die neoliberale Globalisierung kämpfen, sind diese Veranstaltungen gleich bedeutend. In den Workshops trafen sich im Jahre 2001 Organisationen, die die gleichen Ziele verfolgen. Da man Themen in Porto Alegre vorschlagen kann, ist man nicht nur ZuschauerIn, sondern auch aktive TeilnehmerIn der Konferenz.

Warum fand das Weltsozialforum in Brasilien statt?

Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens existieren in Brasilien starke soziale Bewegungen, welche in den 80er Jahren eine wichtige Rolle spielten. Und zweitens ist Porto Alegre die Antwort auf Davos. Um die symbolische Kraft zu wahren, musste der Ort des Weltsozialforums im Süden sein.

Die Tatsache, dass es in Brasilien starke soziale Bewegungen gibt, hängt mit der wirtschaftlichen Situation des Landes zusammen. Wie sieht derzeit die wirtschaftliche Lage Brasiliens aus?

Die brasilianische Wirtschaft steckt seit 1999 in einer tiefen Krise. Damals wurde der Wechselkurs des Real freigegeben, und massive Abwertungen folgten. Die nach 1999 folgende starke Entnationalisierung der Wirtschaft löste drei grundlegende Probleme aus. Erstens stieg die Anzahl der Arbeitslosen auf über 15 Prozent, und in einem Land wie Brasilien gibt es keine soziale Absicherung für diese Personen. Zweitens brachen der Staat und die öffentlichen Dienste zusammen, da sie die Zinsen ihrer Schulden nicht mehr begleichen konnten. Und drittens kehrten Epidemien, wie das Dengue-Fieber oder Gelbfieber zurück, weil der Staat die Kosten der Basisversorgung wie Strom und Wasser nicht mehr tragen konnte. So werden wir beispielsweise in Brasilien gezwungen, den Strom abzuschalten, da die Elektrizität rationiert ist. Im Nordosten des Landes gibt es an manchen Tagen nicht genügend Wasser, so dass zwangsweise Feiertage eingeführt wurden. Da der Präsident seit zehn Jahren nicht in die der öffentlichen Dienste investiert hat, verlor er an Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung. Die Opposition hat heute reale Chancen.

Hatte der 11. September auch Einfluss auf die brasilianische Gesellschaft?

Die Länder der Peripherie reagierten anders auf die Ereignisse am 11. September. Erstens fühlt die brasilianische Bevölkerung die Bedrohung des Terrorismus nicht. In Brasilien und in anderen Ländern der Peripherie ist die Unsicherheit ein chronisches Problem. Die Menschen haben viel mehr Angst, auf der Straße überfallen zu werden, als einem terroristischen Anschlag zum Opfer zu fallen. Zweitens wissen wir, was die Herrschaft der USA bedeutet, denn wir erleben sie täglich. Natürlich lehnen die Brasilianer Anschläge auf die zivile Bevölkerung ab. Sie sehen in den USA jedoch kein Opfer. Es gibt in der Peripherie eine stärkere Kritik an den USA; die Position der arabischen Länder wird eher verstanden. Meinungsumfragen belegen, dass 80 Prozent der BrasilianerInnen die Rachefeldzüge der USA ablehnen. Und die Mehrheit spricht sich gegen eine Beteiligung Brasiliens an Kampfeinsätzen aus. Daher befindet sich die brasilianische Regierung zurzeit in einer Zwickmühle. Zwischen dem Drängen der USA für Unterstützung und der ablehnenden Haltung der Bevölkerung.

Porto Alegre wird von der Partido de Trabalhadores (PT) regiert. Somit drängt sich die Frage auf, ob der Ort nicht nur auf Grund der politischen Koordinaten gewählt wurde.

Das Weltsozialforum in Porto Alegre war so unabhängig wie möglich, jedoch wurde es durch das Bürgermeisteramt finanziert. Für die PT war das Forum etwas ganz Neues. An der Organisation nahm keine politische Partei teil. Weder das Amt des Bürgermeisters noch die bundesstaatliche Regierung nahm Einfluss auf die Auswahl der Themen. Jedoch stehen die teilnehmenden sozialen Bewegungen teilweise der PT nahe. Das ist die Realität in Brasilien. Durch das internationale Komitee wird 2002 der politische Einfluss verringert, denn die Wahl der Themen liegt nicht mehr ausschließlich in brasilianischer Hand. Da das Forum jährlich stattfinden soll und nicht nur in Porto Alegre, wird dieser Einfluss sich in Zukunft weiter verringern. Für das dritte Forum steht eine Stadt in Indien oder in Ländern des Amazonas zur Debatte. Außerdem gibt es die Idee, das Weltsozialforum in mehreren Städten der Welt gleichzeitig stattfinden zu lassen.

In Brasilien existiert ATTAC seit 1999. Welche Funktion übernimmt diese Organisation im Land und wie arbeitet sie mit anderen sozialen Bewegungen zusammen?

ATTAC entstand im März 1999, als es noch keine umfassende Antiglobalisierungsbewegung gab. Im Gegensatz zu beispielsweise Frankreich oder Deutschland, entwickelte ATTAC sich hier nicht als autonome Bewegung, sondern vielmehr als Sprachrohr sozialer Bewegungen zum Thema der Globalisierung. Durch das Weltsozialforum gewann ATTAC an Zuspruch in Brasilien, jedoch ist hier die Jugend noch in Gewerkschaften und politischen Parteien organisiert. Da die Linke in den Ländern der Ersten Welt bei der Jugend ihren Kredit verspielt hat, organisieren die Menschen sich dort verstärkt in globalisierungskritischen Bewegungen. In Brasilien besteht noch Hoffnung auf einen Sieg der Linken im nächsten Jahr. Daher ist das Weltsozialforum im Jahr 2002 bedeutend, denn im gleichen Jahr finden Parlamentswahlen statt. Wir wollen zusammen mit anderen ein Programm schreiben, das den Kandidaten für die nächsten Wahlen als Grundlage dienen kann. Damit soll die Debatte über die Globalisierung auch in die öffentliche politische Diskussion einziehen.

Und wie sieht das Verhältnis zu anderen globalisierungskritischen Bewegungen aus?

In Lateinamerika gibt es eigentlich nur in Argentinien eine größere Bewegung unter dem Namen ATTAC, obwohl auch in Uruguay, Mexiko, Kolumbien und Paraguay Gruppen existieren. Mit diesen tauschen wir uns stärker aus, als mit anderen globalisierungskritischen Bewegungen auf der Welt. Meine Reise nach Deutschland dient der Förderung des Austauschs und soll die Zusammenarbeit voran bringen. So schlugen wir ATTAC Deutschland beispielsweise vor, bei der Ausgestaltung der Internetseite für das Forum 2002 mitzuwirken.

Die Internetseite des Weltsozialforums 2002 kann unter www.portoalegre2002.net eingesehen werden.

Die Ein-China-Politik spaltet Lateinamerika

Ohne die zentralamerikanischen Verbündeten hätte Taiwans Präsident Chen Shui-bian keinen Vorwand für zwei öffentlichkeitswirksame Zwischenstopps in den USA gehabt.“ So kommentierte die angesehene Hongkonger Zeitschrift Far Eastern Economic Review die Lateinamerikareise des taiwanischen Präsidenten im vergangenen Mai. Im international weitgehend isolierten Taiwan galten Chens Zwischenstopps in New York auf dem Hin- und in Houston auf dem Rückweg als größte Erfolge seiner erst zweiten Auslandsreise. Noch im August 2000 genehmigte die damalige Clinton-Regierung Chen bei seiner ersten Reise einen Zwischenstopp nur mit der Auflage, sein Hotel in Los Angeles nicht zu verlassen und keine PolitikerInnen zu treffen. Die Regierung von George W. Bush, die gerade mit Peking um das in Hainan notgelandete US-Spionageflugzeug stritt, gönnte dem um internationale Anerkennung buhlenden Chen mehr Spielraum. Sie hatte nichts dagegen, dass er sich mit zahlreichen Kongressabgeordneten und New Yorks Bürgermeister traf.

Zwischenstopp in USA

Dass die Zwischenstopps in den USA gleich die ganze Reise nach Zentralamerika in den Schatten stellten, ist bezeichnend für Taiwans Verhältnis zu seinen lateinamerikanischen Verbündeten. Dabei besuchte Chen neben Guatemala, Honduras, Nicaragua, Panama und Paraguay immerhin den dritten zentralamerikanisch-taiwanischen Gipfel in San Salvador. Dort erwarteten die zentralamerikanischen Staats- und Regierungschefs von Taiwan mal wieder vor allem Geld. Denn alle sieben zentralamerikanischen Staaten erkennen statt der Volksrepublik China die Republik China an, so Taiwans offizieller Name. Das lassen sie sich von der Regierung in Taipeh mit Geldgeschenken und günstigen Krediten bezahlen. So baute Taiwan seinem verbündeten nicaraguanischen Präsidenten Arnoldo Alemán nicht nur einen neuen Präsidentenpalast in Managua, sondern auch gleich noch ein neues Außenministerium.
Taiwanische Firmen gehören zu den größten Investoren in Zentralamerika, wo das ostasiatische Land Exportproduktionszonen und Industrieparks finanzierte. Taiwan liefert seinen lateinamerikanischen Verbündeten vor allem Maschinen, Autoteile, Plastik, Schuhe und Fahrräder, während es von dort Leder, Fisch, Kaffee, Aluminium und Holz bezieht. Zentralamerika ist vor allem ein preiswertes Sprungbrett auf den nordamerikanischen Markt. So lässt in Nicaragua der taiwanische Textilkonzern Nien Hsing, dessen Firma Chentex wegen miserabler Arbeitsbedingungen und der Entlassung von GewerkschafterInnen für Schlagzeilen sorgte, Jeans und T-Shirts von 13.000 lokalen MitarbeiterInnen für Nordamerika nähen (siehe folgenden Artikel). Auch in El Salvador beschäftigen 32 taiwanische Firmen über 15.000 Menschen vor allem in Exportbetrieben. In dem von Erdbeben gebeutelten Land ist die Buddhist Compassionate Relief Tzu Chi Foundation, Taiwans größte Hilfsorganisation, zugleich eine der aktivsten ihrer Art.

Dollardiplomatie

Die lateinamerikanischen Beziehungen zu Taiwan datieren aus der Zeit des Kalten Kriegs. Schon damals wurden Taiwans Verbündete von autoritären antikommunistischen Regimen regiert, während auf der ostasiatischen Insel die Kuomintang diktatorisch herrschte. Die hatte bis 1949 auf dem chinesischen Festland die „Republik China“ regiert, mit der sie vor Maos KommunistInnen nach Taiwan floh. Bis 1971 vertrat Taiwan ganz China im UN-Sicherheitsrat. Doch nach dem Wechsel der UN-Mitgliedschaft zur Volksrepublik begann die Zahl der internationalen Verbündeten Taiwans kontinuierlich zu schrumpfen. Heute sitzt die Hälfte von Taiwans verbliebenen Freund in Zentralamerika, der Karibik sowie in Paraguay, dem einzigen Land Südamerikas, das noch keine Beziehungen zu Peking hat. Da die kommunistische Regierung in Peking Taiwan als abtrünnige Provinz betrachtet, wertet sie dessen diplomatische Anerkennung als Einmischung in innere Angelegenheiten, was als „Ein-China-Politik“ bezeichnet wird. Und weil Peking mit Vergeltungsmaßnahmen droht, erkennen heute nur noch 28 vor allem kleine Staaten Taiwan an. Die Anerkennung lassen sich Taiwans Freunde mit „Dollar-Diplomatie“ bezahlen.
Taiwan versucht seine Verbündeten auch militärisch zu unterstützen. So übergab Taiwan laut einem Bericht der Taipei Times kürzlich fünf ausgemusterte Transporthubschrauber an Paraguays Luftwaffe. Weitere Hubschrauber sollen folgen, wenn Taiwan selbst neue Helikopter aus den USA erhält. Taiwans hochgerüstetes Militär trainiert bei seinen lateinamerikanischen Verbündeten Sondertruppen oder bildet selbst lateinamerikanische Militärs in Taiwan aus. So schickt Taipeh jährlich zwei Militärpolizisten von einer Sondereinheit zur Terrorismusbekämpfung nach El Salvador, um dort die Leibwache des Präsidenten auszubilden. Und am taiwanischen Fuhsingkang Militärkolleg gibt es eine ganze Klasse von Rekruten aus Lateinamerika, über deren Größe in Taiwan offiziell Stillschweigen herrscht.
Im inzwischen demokratischen Taiwan regiert seit Mai 2000 mit Präsident Chen ein ehemaliger Menschenrechtsanwalt aus der früheren antidiktatorischen Opposition. Er hat verkündet, die „Dollar-Diplomatie“ durch „qualitätsvolle Beziehungen“ zu ersetzen, zumal Taiwan heute wirtschaftlich nicht mehr so glänzend dasteht wie noch vor wenigen Jahren. Doch mit dem dezenten Hinweis, wenn Taipeh nicht genug zahle, werde man die Anerkennung der Volksrepublik China erwägen, gelingt es den zur Korruption neigenden zentralamerikanischen Verbündeten immer wieder, Taiwans Abkehr von der Scheckbuchdiplomatie zu verhindern.

Peking hofiert Taiwans Verbündete

Schließlich sucht Peking auch die Zusammenarbeit mit den PartnerInnen Taiwans. So war eine Delegation der in Paraguay regierenden Colorado-Partei gerade in Peking eingeladen, als Taiwans Präsident Chen zum Staatsbesuch in Asunción weilte. Peking wirbt um Taiwans Verbündete mal freundlich wie zurzeit im Fall des strategisch wichtigen Panama, wo mit 120.000 ChinesInnen die größte chinesische Gemeinschaft Zentralamerikas lebt, oder mit massivem diplomatischen Druck wie vor einigen Jahren im Falle Guatemalas. Dort stimmte das UN-Sicherheitsratsmitglied China im Januar 1997 einer UN-Beobachtungsmission für Guatemalas Friedensprozess erst zu, als die Regierung in Guatemala-Stadt ein distanzierteres Verhältnis zu Taiwan versprach. Ähnlich war die Situation ein Jahr zuvor im Falle einer UN-Mission nach Haiti gewesen.
Auch lockt Festland-China mit Geld und Investitionen und vor allem einem wachsenden Handelsaustausch mit seinem riesigen Markt. Das Reich der Mitte bezieht Kupfer aus Chile, Getreide aus Argentinien, Eisenerz aus Brasilien und Wolle aus Uruguay. Im Gegenzug liefert die Volksrepublik vor allem preiswerte industrielle Produkte. Allein im vergangenen Jahr stieg der wirtschaftliche Austausch der Volksrepublik China mit Lateinamerika von 8,5 auf 12,6 Milliarden US-Dollar. China wird als Handelspartner für einzelne lateinamerikanische Länder wie zum Beispiel für Chile immer wichtiger – dort ist die Volksrepublik bereits der fünftgrößte Handelspartner und Präsident Ricardo Lagos empfahl sein Land als Chinas Tor nach Lateinamerika. Für die Wirtschaftsmacht China mit ihren über 1,2 Milliarden EinwohnerInnen macht der lateinamerikanische Handel aber nur drei Prozent ihres gesamten Außenhandels aus. Lateinamerika ist für Peking vor allem politisch wichtig, nicht zuletzt lässt sich hier der Status der wachsenden Großmacht ablesen.
Dies zeigte sich auch bei der zweiwöchigen Lateinamerikareise des chinesischen Staats- und Parteichefs Jiang Zemin im April, die sechs Wochen vor der Reise seines taiwanischen Rivalen stattfand. Jiang flog unbeirrt aus Peking ab, als sich das Verhältnis zu den USA wegen des kurz zuvor notgelandeten Spionageflugzeugs drastisch verschlechterte. Mit seiner Reise in eine Region, die von den USA traditionell als Hinterhof gesehen wird, demonstrierte Jiang Chinas gewachsenes Selbstbewusstsein. Fünf der sechs Länder, die Jiang besuchte, waren zudem Mitglieder der UN-Menschenrechtskommission. Die stimmte unmittelbar nach seiner Reise über einen chinakritischen Antrag der USA ab, wobei sich Pekings Position der Nichtbefassung klar durchsetzte.
Bei seiner Reise bot Jiang die Volksrepublik als Partnerin an, um den LateinamerikanerInnen zu helfen, ihre wirtschaftliche und politische Abhängigkeit von den USA zu mindern. Eins von Jiangs Lieblingsthemen war die von Peking favorisierte „multipolare Weltordnung“, in der Washingtons Hegemonie zu Gunsten Pekings reduziert werden soll. In Brasilia sprach Jiang denn auch ausdrücklich von einer „strategischen Partnerschaft“ mit Lateinamerikas größtem Land, die er mit seinem bereits zweiten Besuch dort unterstreichen wollte.

Hugo „Mao“ Chávez

Auf besonders offene Ohren stieß Jiang in Venezuela. In Caracas bezeichnte sich der populistische Präsident Hugo Chávez gegenüber Jiang gar als „Maoist“ und sprach von der chinesischen Revolution als der „älteren Schwester der venezolanischen Revolution“. Chávez schlug vor davon, dass chinesische BäuernInnen nach Venezuela kommen sollten, um die Agrarproduktion zu erhöhen. Dafür spendete ihm Jiang bereits einen 20-Millionen-Dollar-Kredit. Zudem liebäugelte der Ex-Fallschirmspringer Chávez, der ausdrücklich Chinas Position bei der Genfer Menschenrechtskommission sowie Pekings Olympiabewerbung unterstützte, mit dem Erwerb chinesischer Militärflugzeuge. Jiang vereinbarte den gemeinsamen Bau einer Anlage zur Herstellung des Schwerstöls und Kohleersatzes „Orimulision“. Die gesamte Produktion der ersten drei Jahre soll vom immer rohstoffhungrigeren China gekauft werden. Außerdem soll mit Hilfe chinesischer Firmen eine venezolanische Goldmine wiedereröffnet werden. Allein im Jahr 2000 hatten chinesische Firmen in Venezuela 530 Millionen US-Dollar investiert, und Chinas Handel mit dem Ölstaat stieg von 26,8 Millionen US-Dollar 1998 auf 218,8 Millionen im vergangenen Jahr.
Jiang zeigte seinen Gastgebern, dass er Lateinamerika auch persönlich ernst nahm. So hatte der 74-Jährige vor der Reise noch in einem Crashkurs Spanisch gelernt, um etwa im chilenischen Santiago einheimische Geschäftsleute mit einer 40-minütigen Rede in ihrer Sprache beeindrucken zu können. Demonstrativ äußerte sich Jiang während seiner Reise nur selten zum aktuellen Konflikt um das US-Spionageflugzeug, deren Besatzung China erst während seines Kuba-Aufenthaltes freiließ. Stattdessen genoss Jiang eine Kutschfahrt in Argentinien, ließ sich chilenische Weinbautechniken erklären und sang mit dem gleichaltrigen Fidel Castro Revolutionslieder.

Annäherung an Kuba

Kuba und China sind sich völlig einig in der Ablehnung der westlichen Menschenrechtspolitik. Jiang war im sozialistischen Bruderland Kuba ganz in der Gönnerrolle. Es war bereits sein zweiter Aufenthalt auf der Insel, und auch Fidel Castro und sein Bruder und möglicher Nachfolger Raúl waren selbst schon Gäste in China. Kuba hatte bereits vor 41 Jahren als erstes lateinamerikanisches Land Beziehungen zur Volksrepublik aufgenommen. Die entwickelten sich allerdings nicht so prächtig, da Kuba während der Zeit der chinesisch-sowjetischen Rivalität auf Seiten Moskaus stand, von dem es politisch, wirtschaftlich und militärisch abhängig war. Erst nach der Auflösung der Sowjetunion erhielten die Beziehungen zwischen Havanna und Peking neuen Schwung.
Heute zeugen in Kuba die allgegenwärtigen Fahrräder aus chinesischer Produktion davon, dass Peking ein Stück weit den alten Verbündeten Moskau ersetzt hat. Chinas Präsenz ist für Kuba vor allem wichtig in den Sektoren Landwirtschaft, Fischerei, Lebensmittel und Textilindustrie. Der bilaterale Handel stieg von 270 Millionen US-Dollar 1993 auf fast 500 Millionen im Jahr 1999. China gewährt Kuba Kredite von umgerechnet 820 Millionen Mark. 450 Millionen davon sind für die Modernisierung der Telekommunikation durch die chinesische Julong-Gruppe bestimmt. Für einen Kredit von 330 Millionen Mark kauft Kuba Fernsehgeräte der Panda-Gruppe. 50 Millionen Mark will Wanghai in ein Hotelprojekt an Havannas Malecón investieren.

USA: Kuba wird chinesischer Horchposten

Die USA unterstellen China, Kuba auch mit Waffen zu unterstützen. Wie die rechte Washington Times im Juni unter Berufung auf ihr nahe stehende Geheimdienstkreise meldete, hätten im vergangenen Jahr drei Schiffe der staatlichen chinesischen Cosco-Reederei Waffen in den kubanischen Hafen Mariel gebracht. Der Zeitung zufolge bestünden Pläne, Kuba zu einem chinesischen Horchposten auszubauen. James Kelly, der Direktor für ostasiatische und pazifische Angelegenheiten im US-Außenministerium, sagte bei einer Anhörung, die US-Regierung sei „sehr besorgt über die Zusammenarbeit der chinesischen Volksbefreiungsarmee mit Kuba und die Bewegung militärischer Ausrüstung nach Kuba.“
Bekannt war bisher, dass China technische Hilfe für kubanische Radaranlagen und Flugabwehreinrichtungen leistet. Ob eine militärische Unterstützung Kubas aber eine chinesische Retourkutsche für Washingtongs Waffenlieferungen an Taiwan sind, bleibt offen. Havanna und Peking dementierten umgehend die Berichte über Waffenlieferungen. Laut Fidel Castro hätten die drei Schiffe neben Uniformstoffen, Militärstiefeln und etwas industriellem Sprengstoff vor allem Reis und Bohnen geliefert – „Waffen gegen Hunger“, wie Castro süffisant feststellte.

KASTEN:
Nicaraguas Präsidentenpalast sponsored by Taiwan

Wenn Nicaraguas Präsident Staatsgäste empfängt, dann schüttelt er ihnen im „Raum der Republik China“ die Hände. Diesen Namen trägt die Empfangshalle des neuen Präsidentenpalastes in Managua. Das lachs- und gelbfarbene Gebäude wurde vergangenes Jahr eingeweiht. Republik China ist der offizielle Name Taiwans. Eine angebrachte Tafel verweist auf eine „großzügige Spende“ des taiwanischen Volkes. Nach Angaben des taiwanischen Botschafters in Managua belief sich die Spende auf weniger als 10 Millionen US-Dollar. Das war aber nicht alles. Eine Dankestafel mit Verweis auf Taiwan schmückt auch das neue Gebäude des nicaraguanischen Außenministeriums.

Ein-China-Politik in der Karibik

In der Karibik sind die Dominikanische Republik und Haiti sowie die Zwergstaaten Grenada, Dominica, St. Kitts und Nevis sowie St. Vincent und die Grenadinen die diplomatischen Verbündeten Taiwans. Die karibischen Offshore-Finanzzentren wie die Jungfern-Inseln und die Bermudas spielen die Rolle eines Kanals für politisch delikate Geldgeschäfte zwischen China und Taiwan. Die 18.000 EinwohnerInnen zählenden britischen Jungfern-Inseln haben im vergangenen Jahr nach Angaben des Pekinger Außenhandelsministeriums Moftec gar Taiwan und Singapur als externe Kapitalquelle für die Volksrepublik überholt und liegen nun an dritter Position hinter Hongkong und den USA. Der karibische Archipel steigerte seine Investitionen im Reich der Mitte um satte 106 Prozent auf knapp 7,6 Milliarden US-Dollar. Damit kletterte der Anteil an den ausländischen Direktinvestitionen in China von 0,8 Prozent 1995 auf knapp 10 Prozent in 2000. Aus den winzigen Jungfern-Inseln wurden somit in China bis Ende Februar halb so viele genehmigte Auslandsfirmen registriert wie aus der gesamten EU. Hinter der statistischen Finanzmacht der Jungferninseln stehen vor allem taiwanische Firmen, die unter Umgehung der strengen Kontrollen für Geschäfte mit dem Festland auf dem Umweg über die Karibik in der Volksrepublik investieren. Doch auch (Staats-)Firmen von dort nutzen die karibischen Finanzoasen, in dem sie durch Briefkastenfirmen Kapital über die Karibik wieder nach China zurückleiten. Dort gilt es dann als Auslandskapital und genießt Privilegien, die einheimschen Firmen in China nicht zustehen.

Schneller als ein Hahn kräht

Mitte Juni legte der venezolanische Staatspräsident Hugo Chávez auf seiner Reise nach Paraguay einen kurzen Stopp in Lima ein. Dort musste er sich immer wieder Fragen zum Aufenthaltsort des steckbrieflich gesuchten, ehemaligen peruanischen Geheimdienstchefs Vladimiro Montesinos stellen lassen. Zu eindeutig waren die Hinweise darauf, dass dieser sich in Venezuela versteckt hielt. Da machte Chávez, der bis dahin immer ausgeschlossen hatte, dass Montesinos in Venezuela sei, plötzlich eine überraschende Ankündigung: „Montesinos wird schneller nach Peru zurückkommen als ein Hahn kräht.“
Ganz so schnell ging es dann zwar nicht, doch immerhin wurde Montesinos kurz nach Chávez Ankündigung in Venezuela verhaftet. Zugeschlagen hatte die venezolanische Geheimpolizei DIM, aber erst als Montesinos mit seinen Leibwächtern schon auf dem Weg in die peruanische Botschaft war. Gerüchten zufolge sollen Montesinos Wachleute vom FBI und der schon lange vor Ort recherchierenden peruanischen Polizei überredet worden sein, sich die fünf Millionen US-Dollar Belohnung zu verdienen, die von der peruanischen Regierung auf Montesinos Kopf ausgesetzt waren. Wie dem auch sei – zwei Tage später war Vladimiro Montesinos zurück in Peru. Dort landete er in dem von ihm selbst entworfenen Marinegefängnis Callao. Seine Zellennachbarn heißen Abimaél Guzmán und Victor Polay, die Gründer des Sendero Luminoso und des MRTA (Movimiento Revolucionario Tupac Amaru).
Das Strafregister des Ausgelieferten ist lang: Illegale Bereicherung, Plünderung der Staatskasse, Erpressung, Bestechung, Geldwäsche, Drogen- und Waffenhandel, Folter, Entführung, Verschwindenlassen von Personen, Anstiftung zum Mord, Aufbau einer Todesschwadron. Aber selbst das ist nur eine kleine Auswahl von Delikten, derentwegen er angeklagt wird. Niemand konnte im Jahre 1990 ahnen, wen sich der frisch gebackene Präsident Alberto Fujimori als Berater verpflichtet hatte. Dabei war Montesinos offenbar schon in den 80er Jahren einer der größten Drogenhändler Perus, ein Beruf, für den er die besten Voraussetzungen mitbrachte. Denn er unterhielt erstens exzellente Verbindungen zur Armee, aus der er einst im Range eines Hauptmanns unehrenhaft entlassen worden war, und zweitens kannte er durch seine jahrelange Arbeit als Strafverteidiger für Drogenhändler hervorragend den Justizapparat.

Montesinos kaufte fast alle(s)

Dass Montesinos in den 90er Jahren systematisch Schutzgelder von allen peruanischen Drogenhändlern erpresste, ist schon länger bekannt. Wer zahlte, konnte sich bei ihm einen Armeehubschrauber zum Transport der Ware mieten und wurde vor Razzien gewarnt. Drogenexporteure, die sich hingegen weigerten zu zahlen, wurden mitunter in ihrem Transportflugzeug abgeschossen. Nun fand die parlamentarische Untersuchungskommission zum Fall Montesinos heraus, dass der Präsidentenberater auch ein eigenes Kokain-Laboratorium in der Nähe der südperuanischen Stadt Pisco besaß und nicht nur mit kolumbianischen Banden, sondern auch mit dem mexikanischen Tijuana-Kartell zusammenarbeitete. Montesinos galt offenbar als Boss der peruanischen Mafia und soll in entsprechenden Kreisen unter den Pseudonymen Fayed und Rubén bekannt gewesen sein.
Aus dem Präsidentenberater und Drogenhändler wurde ein Mann, der die Richtlinien der peruanischen Politik ein Jahrzehnt lang bestimmte. Er baute einen Regierungsapparat auf, der nach dem Vorbild der Drogenmafia organisiert war. Seine Kontrolle reichte auf dem Höhepunkt seiner Macht von der Armee über Polizei und Justiz bis hin zu Steuer-, Zoll oder Wahlbehörden. Wer nicht mit Montesinos zusammenarbeitete konnte in diesen Institutionen und Behörden keine Karriere machen. Seine Methoden: Bestechung, Drohung und Erpressung. Er kaufte Presse und Fernsehsender ebenso wie Oppositionsabgeordnete. Es war Ende der 90er Jahre so, als wäre Vladimiro Montesinos der Besitzer des Landes Peru gewesen.
Mitte letzten Jahres überzog Montesinos seine Geschäftemacherei, als er sich auf Waffengeschäfte mit den kolumbianischen FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) einließ. Vermutlich fiel er durch diesen Deal bei den USA in Ungnade. Es spricht einiges dafür, dass es die CIA war, die anschließend ein Video an die Öffentlichkeit lancierte, das Montesinos bei der Bestechung eines Oppositionsabgeordneten zeigt. Die Empörung der peruanischen Bevölkerung wuchs, das Regime begann zu wanken, Montesinos musste flüchten. Der zunächst zurückgebliebene Fujimori konnte anschließend den Zusammenbruch des von Montesinos konstruierten Machtgefüges nicht mehr aufhalten.
Der ehemalige CIA-Agent Montesinos wird nun womöglich erzählen, wie er Peru zur Narco-Republik ausbaute. Doch ein Detail wird er mit Sicherheit nicht öffentlich ausplaudern: was die US-Regierung im Verein mit DEA und CIA dazu veranlasst hat, seinem Treiben zehn Jahre lang in Ruhe zuzusehen. Nicht nur das: die CIA zahlte laut Los Angeles Times zwischen 1990 und 2000 sogar zehn Millionen US-Dollar direkt auf eines von Montesinos Konten. Für den Kampf gegen den Drogenhandel.

Gewerkschaften im Sog des Neoliberalismus

Lateinamerika ist ein gefährliches Pflaster für Gewerkschaftsaktivitäten, darauf weist der Jahresreport 2000 des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften hin. Gewalt kennzeichnet in hohem Maße die meisten der 23 beobachteten Staaten. Mit 90 Hinrichtungen hält Lateinamerika den grausamen Rekord bei der Ermordung von Gewerkschaftsmitgliedern in deren Kampf für Gerechtigkeit. Mehr als zwei Drittel aller weltweit inhaftierten GewerkschaftsaktivistInnen sitzen in Lateinamerika hinter Gittern. Eine Vielzahl wird von Todesschwadronen bedroht, viele werden verschleppt und ermordet. Und während sich die jeweiligen Regierungen gegenüber Korruption, allgemeiner Kriminalität und florierendem Drogenhandel oft hilflos zeigen, wird demgegenüber die Repression gegen jede Form der Gewerkschaftsarbeit umsichtig organisiert.
In der Vergangenheit spielten Gewerkschaften in der politischen Arena der meisten lateinamerikanischen Staaten eine bedeutende Rolle. Unter der Ägide einer nationalen binnenmarktorientierten Industrieentwicklung konnten sie bedeutende Mitgliederzugewinne verzeichnen. Mit dem Übergang zu diktatorischen Regimes in den 70er Jahren wurden jedoch auch die Gewerkschaften, sofern sie sich nicht vom Staatsapparat kooptieren ließen, einer scharfen Repression unterworfen. In dieser Zeit wurden Zehntausende von GewerkschafterInnen in Chile, Brasilien, Argentinien und Uruguay inhaftiert, gefoltert und ermordet. Der Beitrag von Boris Kanzleiter über die verschwundenen GewerkschafterInnen von Mercedes Benz in Buenos Aires erinnert an diese düstere Zeit und beleuchtet die aktuellen Auseinandersetzungen um eine Wiedergutmachung.
Mit dem Übergang zu Demokratieregimen ab Mitte der 80er Jahre waren auch die Gewerkschaften mit einer erheblich veränderten Industriepolitik konfrontiert, die im Zeichen des Neoliberalismus weltmarktoffen durchgeführt wurde und zum großen Teil die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Industriestrukturen zerstörte. Der Beitrag von Martin Ling skizziert diese Entwicklung hin zur geplanten amerikanischen Freihandelszone FTAA. Silvia Portella untersucht in ihrem Bericht „Mercosur“ die Wirkungen der angestrebten Wirtschaftsunion zwischen Brasilien, Paraguay, Uruguay und Argentinien auf Formen der gewerkschaftlichen Organisation.
In einem gewerkschaftlichen Organisierungsprozess ist jedoch nicht nur die in der jeweiligen Industriestruktur angelegte objektive Notwendigkeit des Zusammenschlusses von lohnabhängig Beschäftigten angelegt. In diesem Sinne kann auch der Bericht von Doris Meißner über die erfolgreich begonnene Zusammenarbeit zwischen der deutschen und der brasilianischen ChemiearbeiterInnengewerkschaft gelesen werden. Der Beitrag von Tina Frank und Nina Kleiber zeigt die vielfältigen Handlungsbarrieren, die Beschäftigte überwinden müssen, die sich als nicht-klassische Gewerkschaftsgruppe organisieren wollen: Die Landarbeiterinnen und Hausangestellten in Brasilien. Sie arbeiten darin die Bedeutung des strukturellen Ausschlusses von Frauen aus einer patriarchal dominierten Gesellschaft heraus.
Der Bericht von Rudi Pfeifer über die heutige Situation von BananenplantagenarbeiterInnen führt uns jedoch vor Augen, dass in bestimmten Regionen Lateinamerikas sehr direkte und bedrohliche Formen von Brutalität der Unternehmen nach wie vor zum gewerkschaftlichen Existenzkampf gehören. Thomas Greven beleuchtet in seinem Beitrag das widersprüchliche Verhältnis zwischen US-amerikanischen und lateinamerikanischen Gewerkschaften. Der in den 90er Jahren gewählte Gewerkschaftschef Sweney verdankt sein Amt nicht zuletzt den Organisierungserfolgen der Dienstleistungsgewerkschaft Service Employees International Union (SEIU) bei den lateinamerikanischen MigrantInnen. Dennoch macht Greven deutlich, daß Solidarität selten und oft nur sehr schwer von oben organisiert werden kann, sondern eher von unten wachsen muss.
In dem letzten Beitrag des vorliegenden Schwerpunktteils setzt sich Dieter Boris in einer Rezension mit der jüngst erschienen instruktiven Studie von Rainer Dombois und Ludger Pries auseinander. Mit skeptischem Unterton bewertet er die von den Autoren in den „Neuen Arbeitsregimes im Transformationsprozess Lateinamerikas“ auch positiv betrachteten politischen Gestaltungsspielräume.
Diese Schwerpunktausgabe ist in Zusammenarbeit mit dem Nord-Süd-Netz des DGB-Bildungswerks e.V. entstanden. Die LN-Redaktion bedankt sich für die gute Zusammenarbeit. Die Fotos stammen von David Bacon.

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