“Gold kann man nicht essen”

Ein Lastwagen passiert das Fabriktor der Limonenfabrik am Ortseingang von Tambogrande. Rund dreißig Tonnen Limonen hat der Sattelschlepper geladen und die frische Ware geht über den Hafen von Paita nach Übersee. Limonen, die das ganze Jahr über geerntet werden, und die Mangos bilden die Basis der lokalen Wirtschaft, erklärt der Ökonom Luis Ginocchio Balcazar und fügt hinzu: „Die Region von Tambogrande ist die Obstkammer Perus und die Bevölkerung lebt weitaus besser als die in anderen Regionen.“ Tambogrande liegt im Norden Perus, nahe der Grenze zu Ecuador, und verfügt über rund 60.000 Hektar bewässerte Fläche. Das sind rund 20 Prozent des bewässerten Ackerbodens des gesamten Landes. Balcazar meint, dieses wirtschaftliche Potential könne noch viel effizienter genutzt werden. Er plädiert deshalb für den Ausbau des organischen Anbaus von Obst, Kaffee und Baumwolle. Gerade im ökologischen Landbau und dem Ökotourismus sieht er die wichtigsten ökonomischen Potentiale der Region. Obwohl direkt unter Tambogrande erhebliche Gold- und Edelmetallvorkommen gefunden wurden.
„Es gibt kein Beispiel, wo eine Mine der Region Reichtum gebracht hätte. Warum sollte es in Tambogrande anders laufen?“ fragt Balcazar, der zu jenen Spezialisten zählt, die die lokale Bevölkerung in ihrem Kampf gegen die Aufnahme des offenen Tagebaus durch das kanadisches Bergbauunternehmen Manhattan Minerals unterstützt haben. Gemeinsam mit anderen Spezialisten und Nichtregierungsorganisationen verfasste er Studien, Artikel und Gutachten, um dem Widerstand gegen den Bergbau ein solides Fundament zu geben. Die Arbeit hat sich ausgezahlt, denn seit Dezember letzten Jahres ist klar: In Tambogrande wird nicht geschürft. Das zuständige Bergbauministerium hat die Konzession von Manhattan Minerals kassiert, weil das von dem Unternehmen vorgelegte Umweltgutachten nicht stichhaltig war. Doch der eigentliche Grund für den Rückzug dürfte weitaus eher im anhaltenden Widerstand der Bevölkerung liegen, die national und auch international auf das fragwürdige Projekt und die oftmals kaum zu rechtfertigende Vergabe von Konzessionen aufmerksam machte.

Wasserprobleme und gefährdete Arbeitsplätze
Die verblichene Parole „Ja zur Landwirtschaft, nein zum Bergbau“ findet sich an den Strassen, die in die 20.000 Einwohner zählende Stadt führen. Dort stehen die wichtigsten Mango- und Limonenfabriken, in denen die Früchte für den Export nach Übersee verarbeitet werden. Die Mangoernte ist gerade vorbei, die letzten Container wurden Ende April ausgeliefert, und die Fabriktore sind geschlossen. Nebenan, in einer Limonenfabrik, wird hingegen gearbeitet. Kleine und größere LKWs mit frisch geernteten Früchten passieren hin und wieder das Werktor. 90 Prozent der peruanischen Limonenernte stammt aus dem fruchtbaren Tal von San Lorenzo, das vor den Toren von Tambogrande liegt. Mangos, aber auch Avocados und Papayas werden über die Provinzhauptstadt Piura zum Hafen von Paita gebracht und nach Übersee, vor allem in die USA und Europa, verschifft. Rund 33 Millionen US-Dollar brachte der Export in den letzten Jahren durchschnittlich ein, und 70 Prozent der Erwerbstätigen im Tal, rund 15.000 Menschen, leben von der Landwirtschaft. Das ist auch das wichtigste Argument der Frente de Defensa del Valle de San Lorenzo y Tambogrande, der Front zur Verteidigung des Tales von San Lorenzo und Tambogrande. „Die Arbeitsplätze wären durch den offenen Tagebau von Manhattan Minerals gefährdet gewesen“, urteilt Francisco Ojeda, Bürgermeister von Tambogrande. Ojeda war lange Zeit einer der Wortführer der Frente und ist erst aufgrund seiner klaren Position gegen den Bergbau zum Bürgermeister gewählt worden.
Ojeda stützt sich auf ein Umweltgutachten des US-amerikanischen Hydrogeologen Robert E. Moran. Der von OXFAM America beauftragte Spezialist nahm das Bergbauprojekt 2001 unter die Lupe und warnt vor den Risiken des offenen Tagebaus in der Region. Eine Verseuchung des Grundwassers durch Zyanide und Quecksilber und die Gefährdung des ökologischen Gleichgewichts schließt er nicht aus. Moran bezweifelt zudem, dass der Wasserbedarf des Bergbauunternehmens gedeckt werden kann. So sehen das auch die Bauern, die erst 1998 mit Hilfe der Weltbank die bestehenden Bewässerungssysteme modernisiert haben. Sie befürchten, dass giftige Staubpartikel, verseuchtes Grundwasser und Wassermangel das Tal zugrunde richten könnten.
Den 15.000 Arbeitsplätzen, die auf dem Spiel gestanden hätten, stehen 1850 neue Arbeitsplätze gegenüber, die Manhattan Minerals schaffen will. Davon wären aber nur 350 permanente Arbeitsplätze; die anderen 1500 entfallen auf die Bauphase der Minen. Und selbst die ständigen Arbeitsplätze würde das Minenunternehmen vermutlich überwiegend mit ausländischen Technikern besetzen. „Was hätte die Stadt also davon gehabt?“ fragen sich viele der Bewohner, wie Francisco Ancajima, die den Verantwortlichen von Manhattan nicht glauben wollen. Die prognostizierten der Region gebetsmühlenartig einen Aufschwung durch den Bergbau und begannen mit den Probebohrungen direkt unter der Stadt. Gold, Silber und andere Edelmetalle hatten die kanadischen Ingenieure in unterschiedlichen Konzentrationen an drei verschiedenen Standorten entdeckt – auch direkt unter den Stadtvierteln von Tambogrande.

Keiner will Gold
Wäre es nach dem kanadischen Bergbaukonzern gegangen, hätten rund die Hälfte der 20.000 EinwohnerInnen ihre Häuser räumen und einige Kilometer entfernt in neue einziehen müssen. Gegen die Pläne des kanadischen Konzerns regte sich bereits früh, noch unter dem diktatorischen Fujimori-Regime, Widerstand. Auf Demonstrationen in der Region und in Lima folgte im Juni 2002 ein Referendum. Die Organisatoren der Abstimmung, die Frente von Tambogrande, unterstützt von lokaler Verwaltung und Nichtregierungsorganisationen, konnten ein Traumergebnis verbuchen: 94 Prozent der 27.000 Menschen, die am Referendum teilnahmen, stimmten gegen das Bergbauprojekt. Kaum jemand konnte sich in Tambogrande vorstellen, dass Landwirtschaft und offener Tagebau koexistieren können. Das Referendum, auch wenn es von der Regierung von Alejandro Toledo nicht anerkannt wurde, bildete die Basis für den Erfolg der Gemeinde im Kampf gegen den Bergbau, urteilt rückblickend der Bürgermeister. Francisco Ojeda ist mittlerweile landesweit gefragt, wenn eine Gemeinde sich gegen ein Bergbauunternehmen und deren Abbaupläne wehren will.

Viele Konzessionen, wenig Partizipation und kein Umweltbewusstsein
Alleine in der nördlichen Provinz Piura sind es mindestens 97 Konzessionen, die laut dem Biologen Fidel Torres vergeben wurden, ohne dass die Bevölkerung an der Vergabe beteiligt oder konsultiert wurde. „Die Umweltbehörden wurden bei der Vergabe nicht einbezogen, obwohl hinlänglich bekannt ist, dass das ökologische Gleichgewicht der Region ausgesprochen sensibel ist und mit dem Bergbau gemeinhin extreme Umweltbelastungen einhergehen“, kritisiert der Wissenschaftler, der gerade ein Buch über die Problematik veröffentlicht hat.
Bergbauskandale hat es in den letzten Jahren viele gegeben. So verlor am 2. Juni 2000 ein Lastwagen 150 Kilogramm Quecksilber auf einer Strecke von 40 Kilometern. Ein Gutteil dieser Menge wurde in dem kleinen Dorf Choropampa verloren. Das Transportunternehmen, welches im Auftrag der Mine Yanacocha, der größten Goldmine des Landes, unterwegs war, forderte die Bewohner auf, das Quecksilber gegen Entgelt wieder einzusammeln. Mit bloßen Händen sammelten die Bewohner das hochtoxische Quecksilber wieder ein und vergifteten sich. Die riesige Mine Yanacocha, die größte Goldmine Südamerikas, liegt auf rund 4000 Meter Höhe und ist für die Betreiber ein lohnendes Geschäft. Der derzeit hohe Goldpreis beschert dem Bergbaukonsortium fette Rendite.

Gefährliche Droge Bergbau
Die Region, der vorab ein wirtschaftlicher Aufschwung prognostiziert wurde, hat von der Mine allerdings wenig profitiert. Vom viertletzten ist sie auf den vorletzten Platz im Ranking der peruanischen Departamientos abgesackt. Für den Ökonomen Balcazar keine Überraschung. Er kennt kein Beispiel, wo der Bergbau einer Region in Peru Reichtum beschert hätte. „Gleichwohl setzt die Regierung nach wie vor auf die rücksichtslose Ausbeutung dieser Ressourcen“, kritisiert der Bergbauexperte aus der an der Grenze zu Ecuador gelegenen Stadt Piura. „Peru ist wie ein Drogenabhängiger. Der Staat braucht das Geld aus dem Bergbau wie der Abhängige die Droge“, so Balcazar.
Doch nicht sonderlich viel bleibt von den rund vier Milliarden US-Dollar, die durch den Verkauf von Bergbauprodukten im letzten Jahr erwirtschaftet wurden, in Peru hängen. Laut dem Kongressabgeordneten Javier Diez Canseco sind es nicht mehr als zwei Prozent, die in Form von Steuern im Land bleiben. Korruption und Vetternwirtschaft macht der Mann, der erst kürzlich per Hungerstreik eine adäquate Besteuerung der Unternehmen forderte, dafür verantwortlich. Rund 50 Prozent der peruanischen Exporte entfallen auf den Sektor, der gerade 60.000 Arbeitsplätze generiert und je nach Berechnungsgrundlage zwischen drei und acht Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt. Doch die Folgekosten des Bergbaus sind immens. So ist die Bleikonzentration im Trinkwasser von Lima um 20-30 Prozent höher als in jeder anderen lateinamerikanischen Stadt, eine Folge der Bergbauaktivitäten im Hochland. Dort entspringen die Trinkwasserquellen der Hauptstadt und dort befindet sich auch die vermutlich größte Dreckschleuder des Kontinents: die Blei- und Kupferhütte von La Oroya. Etwa 600.000 Tonnen Gestein brechen die Minenkonzerne Centromin Perú und Doe Run Perú jedes Jahr aus der Mondlandschaft rund um La Oroya. Das Gestein ist durchsetzt mit Blei, Kupfer, Zink und auch Silber.
Jährlich fallen rund 55.000 Tonnen Metalle an, die mit Schwefelsäure aus dem Gestein gewaschen werden. Die Abwässer der Hütten sind mit Schwermetallen belastet, die Schornsteine blasen dicke Wolken schwefelhaltiger, mit Blei, Arsen und Kadmium angereichter Abgase in die Luft. Wenn es regnet, bildet sich saurer Regen, der die potentiellen Anbauflächen rund um die 45.000 Einwohner zählende Stadt genauso wie den Fluss Mantaro verseucht. Weißlich und verätzt sehen die Berge rund um Oroya aus, nicht grün, wie es für das Departamento sonst normal ist. Kein Wunder, denn Felder und Hügel in der näheren Umgebung der Stadt sind genauso wie deren Häuser mit grauem, giftigen Staub überzogen. Die Bleikonzentration im Blut der Einwohner liegt bis zu 45 mal höher als normal. Asthma, Bronchialerkrankungen sowie Nieren- und Nervenleiden sind eher die Regel als die Ausnahme.
Der perverse Umgang mit der Bevölkerung und den natürlichen Ressourcen ist in Peru kein Einzelfall. In Cajamarca fürchten die EinwohnerInnen, dass die Mine Yanacocha auch die letzten beiden Hügel bald abträgt, unter denen sich die Wasserader der Region befinden soll.

Netzwerke für anderen Umgang mit Ressourcen
Umweltkonzepte, wie die Kontaminierung des Wassers verhindert werden soll, liegen bisher nicht vor und Yanacocha gilt landesweit als saubere Mine, erzählt Francisco Ojeda. Der Bürgermeister von Tambogrande war mehrfach in Cajamarca, um dort über die Erfahrungen in Tambogrande zu berichten. Doch auch im Departmento Piura, zu dem Tambogrande gehört, ist Ojeda ein gefragter Mann. In Huancabamba, wie Tambogrande in direkter Nähe zur Grenze gelegen, soll Kupfer abgebaut werden. Mehrere Flüsse, die ins Amazonasdelta fließen, grenzen an die potentiellen Abbaustätten, und obwohl laut der peruanischen Verfassung im Umkreis von fünfzig Kilometer der Grenze keine internationalen Unternehmen Boden erwerben dürfen, wurde die Konzession „im nationalen Interesse“ vergeben, berichtet der Biologe Fidel Torres. Er prognostiziert für den Fall, dass die Bergbautätigkeit aufgenommen wird, extreme Risiken für das fragile ökologische Gleichgewicht der Region.
Doch dazu muss es nicht kommen, denn mit den Netzwerken Muqui und Conacami, die von vielen Nichtregierungsorganisationen unterstützt werden, hat sich eine Gegenbewegung gegen die skrupellose Ausbeutung der natürlichen Ressourcen gebildet. Zu dem unterhält auch die Frente von Tambogrande Kontakt. Deren Erfolg wird von Umweltexperten wie Antonio Brack, peruanischer Berater des UN-Umweltprogramms, als beispielhaft betrachtet, weil sich die Bevölkerung nicht nur gegen etwas entschieden hat, sondern auch für eine ökonomische Alternative, die Arbeit und Perspektive bietet: die Landwirtschaft. Für Brack, der dem Ökolandbau in Peru exzellente Perspektiven bescheinigt, mehr als ein Hoffnungsschimmer.

„Bolivien vertraut heute auf den demokratischen Prozess“

Bis zum Oktober war die MAS einer der wichtigsten Protagonisten der sozialen Bewegungen mit einem radikalen Diskurs des Umsturzes. Seitdem hat sich die MAS sehr zurückgenommen und unterstützt nun die Regierung und den neuen Präsidenten Carlos Mesa, der bislang die Forderungen, die ihm während des Aufstandes im Oktober zur Bedingung gemacht wurden, nicht erfüllte. Warum dieser Wandel?

Die MAS erlangte Stärke vor allem durch ihre Losung, das Land neu zu gründen, alle Staatseigentümer zurück zu gewinnen und für bessere Lebensbedingungen zu kämpfen. Und genau diese Forderungen waren auch fundamental für die Aufstände im Februar und im Oktober. Nachdem aber der ehemalige Präsident Sánchez de Lozada im Oktober das Land verließ und der vormalige Vizepräsident Carlos Mesa das Amt übernahm, veränderte sich die Einstellung vieler reaktionärer, konservativer Kräfte gegenüber der Demokratie, auf die sie jetzt nur noch einen wesentlich geringeren Einfluss haben. Die großen privatwirtschaftlichen Unternehmer des Landes, die transnationalen Firmen und die Mächtigen des Landes hatten die Demokratie gestützt, wie zuvor auch die Diktatur, weil sie mit ihrer Hilfe fortfahren konnten, das Land auszubeuten und sich zu bereichern. Nach dem Erfolg der MAS bei den letzten Wahlen und nach dem Aufstand im Oktober ist das anders. Jetzt sind diese Kräfte nicht mehr so fundamental an der Demokratie interessiert, weil sie genau durch diese Demokratie mehr und mehr Raum verlieren. Sie haben begonnen, die Demokratie zu boykottieren und ein günstiges Szenario für einen möglichen Staatsstreich zu schaffen. Heute arbeiten sie daran, ein Chaos zu erzeugen, in dem dann ein möglicher Staatsstreich durchgeführt werden kann.
Ausgehend von dieser Einschätzung haben wir entschieden: Wir wollen die Demokratie und ihre Institutionen verteidigen. Nicht zuletzt deshalb, weil wir seit den letzten Wahlen gesehen haben, dass es auch für eine nicht-traditionelle Partei möglich ist, innerhalb der Demokratie Ziele zu erreichen.

Für diese Position wird die MAS von den radikalen Kräften heftig angegriffen, insbesondere vom Gewerkschaftsdachverband Central Obrera Boliviana (COB) und der Indigenenorganisation Movimiento Indígena Pachacuti (MIP), die weiterhin auf der Straße mobilisieren.
Ja, die COB und auch die MIP klagen uns an, ein Teil der Regierung zu sein, uns ans System gewöhnt zu haben. Sie werfen uns vor, unsere Ideale und ursprünglichen Werte verloren zu haben. Doch sie irren sich. Die COB hat seit dem ersten Mai einen unbefristeten Generalstreik und eine Blockade aller Straßen des Landes ausgerufen. Sie haben praktisch keine Unterstützung und Mobilisierung in der Bevölkerung erreicht.
Die Mehrheit der Bolivianer vertraut heute auf den demokratischen Prozess und eine graduelle Transformation innerhalb der Demokratie. Im Rückblick auf die letzten Jahrzehnte erkennt man, dass mit Begriffen wie „Diktatur des Proletariats“, „Arbeiter- und Bauernregierung“, „Volksaufstand“ und „bewaffneter Kampf“ niemals ein mehrheitlicher Rückhalt in der Bevölkerung erreicht wurde. Und inzwischen ist die MAS nicht mehr ausschließlich ein politisches Instrument der indigenen Bevölkerung und der Arbeiter und Bauern, auch Teile der Mittelklasse haben sich solidarisiert.

Vor kurzem kam es zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Militär und demonstrierender Bevölkerung im Beni. Dabei gab es auch wieder Tote. Warum schweigt die MAS selbst zu den Toten und stützt damit ein gewaltsames Vorgehen der Regierung gegen die protestierende Bevölkerung?

Die Menschen, die im Beni blockierten, forderten den Rücktritt eines Präfekten, außerdem ging es um die Verteilung von Landtiteln. Natürlich haben sie jedes Recht für bessere Lebensbedingungen auf die Straße zu gehen. Aber angesichts der tiefen ökonomischen Krise, in der das Land sich derzeit befindet, kann keine Regierung, wer auch immer sie stellt, in nur drei Monaten alle Probleme lösen und alle Forderungen der Bevölkerung erfüllen. Es gab in Bolivien schon einmal eine sehr ähnliche Etappe. 1982, nach der Rückgewinnung der Demokratie, hatten wir eine Regierung, die aus einer Koalition von Linksparteien bestand. Sie kamen mit einem populistischen Programm, progressiven Ideen und einer breiten Unterstützung an die Regierung. Die selben Sektoren, die sie an die Regierung gebracht hatten, damals vor allem die Minenarbeiter, übten mit der Forderung nach Berücksichtigung ihrer Partikularinteressen permanenten Druck aus. Solange, bis sie eine totale Instabilität erzeugt hatten und der Präsident zurücktreten musste. Danach wurde es erst richtig schlimm, mit Präsidenten wie Gonzalo Sánchez de Lozada.

Darum beteiligt sich die MAS nicht mehr an den Mobilisierungen?

Ich bin der festen Überzeugung, wenn die MAS in diesem Moment anfinge zu mobilisieren und die Straßen zu blockieren, dann würde die Regierung keine 48 Stunden bestehen bleiben. Und danach, was käme dann? Nach der bolivianischen Verfassung würde der aktuelle Präsident des Senats die Nachfolge des Präsidenten antreten. Der ist ein Vertreter der MIR (Bewegung der Revolutionären Linken), die auch an der vorigen Regierung von Gonzalo Sánchez de Lozada beteiligt war. Damit würde man zum alten System zurückkehren. Es könnte sogar zu einer militärischen Intervention wie in Haiti kommen.

Eine der zentralen Forderungen der Oktoberunruhen war die Verstaatlichung der Erdgasvorkommen. Wie steht es momentan um die Eigentumsverhältnisse des Erdgases?

Nach der bolivianischen Verfassung sind alle fossilen Energiereserven unveräußerlich und gehören dem bolivianischen Staat. Im derzeit gültigen Energiegesetz gibt es aber eine Klausel namens boca de pozo. Die besagt, dass alle Vorkommen dem Staat gehören, solange sie unter der Erde sind. Sobald sie aber an der Oberfläche sind, gehören sie automatisch dem Konzern, der sie gefördert hat. Momentan existieren 78 Verträge über die Förderung und den Vertrieb des Gases, die die vorherige Regierung abgeschlossen hat. Und laut denen gehört das geförderte Gas den Unternehmen.

Dem für Juli geplanten Referendum über die Zukunft der Gasvorkommen wird eine absichtliche Auslassung der essentiellen Fragen vorgeworfen: Aller Voraussicht nach wird Präsident Mesa die Verträge mit den transnationalen Unternehmen nicht in Frage stellen. Wie ist die Position der MAS in Bezug auf eine Verstaatlichung? Wie geht ihr mit den abgeschlossenen Verträgen um?

Zuallererst wollen wir das Eigentum zurückgewinnen. Das bedeutet konkret, dass die gesamten Öl- und Erdgasvorkommen in den Besitz des staatlichen Energieunternehmens YPBF überführt werden müssen. Im Augenblick ist die YPBF praktisch vollkommen zerstört und besteht aus nichts weiter als ihren Buchstaben. Sowohl die Suche nach Energievorkommen als auch die Förderung und der Verkauf wurden an verschiedene ausländische Unternehmen übertragen.
Die MAS fordert die Annullierung des aktuellen Energiegesetzes, das die Grundlage für die Verträge mit den multinationalen Unternehmen und die Ausbeutung unserer natürlichen Ressourcen bildet. Wenn dieses Energiegesetz annulliert wird, sind auch die Verträge nicht mehr rechtskräftig.
Wir setzen uns außerdem für eine Revision der abgeschlossenen Verträge ein. Der Großteil der 78 Verträge wurde unter betrügerischen Bedingungen abgeschlossen. Sie sind das Produkt von Geldschiebereien, dubiosen Treffen und Geschäftsessen, in denen die Vorkommen praktisch verschenkt wurden. Ein großer Teil der Verträge verstößt gegen die Verfassung und zahlreiche Vertragsklauseln wurden einfach nicht eingehalten. Wenn wir jeden Vertrag einer Revision unterziehen, sparen wir uns möglicherweise Entschädigungszahlungen. Wir setzen momentan nicht unbedingt auf eine Verstaatlichung, weil das zugleich Entschädigungen für die Unternehmen bedeuten würde, die sich auf geschätzte zehn Milliarden Dollar belaufen würden – eine Summe, die der bolivianische Staat zu diesem Zeitpunkt unmöglich zahlen könnte. .
Neben den genannten Forderungen werden wir uns nach dem Referendum am 18. Juli im Parlament für eine Industrialisierung des Gases stark machen, damit wir nicht mehr ausschließlich Rohstoffe exportieren, sondern in Bolivien eine verarbeitende Industrie aufgebaut wird. Wir wollen erstmal die Verteilung des Gases an bolivianische Haushalte fördern und erst danach in andere Länder exportieren, und zwar zu fairen Marktpreisen.

Eure Partei heißt MAS – Movimiento al Socialismo, Bewegung zum Sozialismus. Was bedeutet dieser Name für euch? Welche Vorstellung habt ihr von dem Sozialismus, auf den ihr euch zu bewegt?

Nachdem der bolivianische Staat uns bereits zweimal die Anerkennung als politische Gruppe verweigert hatte, wurde auf einem großen Kongress in Cochabamba, zu dem viele Kokabauern aus den Yungas und dem Chaparé gekommen waren, die hinter Morales standen, das „Instrumento Político por la Soberanía de los Pueblos“ (IPSP) ins Leben, gerufen. Endlich gelang es uns, die Bewegung zu festigen und weiter zu entwickeln. Als Verband wurden wir anerkannt, als Partei aber wollte uns der Nationale Wahlrat wieder nicht akzeptieren.
Und genau in dieser Phase unserer Entwicklung ergab es sich, dass die Vereinigte Linke, bestehend aus der Kommunistischen Partei und einer Partei namens MAS, sich zerstritt und schließlich auflöste. Beide Parteien verloren ihre Basis, behielten aber ihren Status als Partei. Und so kam die MAS auf uns zu und bot uns an, den Namen, die Farben und die Papiere zu übernehmen. Also besetzten wir alle Posten, änderten das Statut und waren endlich zu einer Partei geworden.Die Menschen identifizierten sich sehr bald mit den Farben und dem Namen der MAS, und die Wahlen waren ein so großer Erfolg für uns, dass wir es bei der eigentlich als Provisorium gedachten Bezeichnung beließen.
Nun soll man uns aber nicht vorwerfen, wir benützten lediglich das Banner des Sozialismus für unsere Zwecke – wir sind eine Bewegung hin zum Sozialismus. In der andinen Kultur, in der Aymara- wie der Quechuakultur, bestimmen Traditionen wie die Solidarität, die Gegenseitigkeit und das Füreinander die Gemeinschaft. Es gibt nicht das Individuum als Person, sondern die solidarische Gemeinschaft. Das bedeutet: Schon bevor man die Theorie des Sozialismus definiert hat, gab es in den Gemeinschaften die solidarische Praxis. Was wir suchen ist eine neue Form des Sozialismus, der auf unseren Traditionen und den Überlieferungen aufbaut. Noch sind wir nicht sozialistisch – aber wir sind eine Bewegung zum Sozialismus.

Venezuela vor dem Referendum

Hugo Chávez macht Wahlkampf: Denn der Nationale Wahlrat Venezuelas hat grünes Licht für ein Referendum gegen den Präsidenten gegeben. Am 15. August wird sich entscheiden, ob Hugo Chávez seine volle Amtszeit beenden kann, oder ob im September ein neuer Präsident gewählt wird. Die oppositionelle Coordinadora Democrática, ein Zusammenschluss vor allem der Parteien, die das ehemalige politische Establishment vertreten, wittert seit Anfang Juni Morgenluft. Sie hat ein Referendum gegen Chávez erzwungen – ihr erster Erfolg nach einer Reihe von Wahlniederlagen, einem gescheiterten Putschversuch und einem erfolglosen Generalstreik.
Enrique Mendoza, der zur Zeit aussichtsreichste Oppositionspolitiker, scheint fest an einen Durchmarsch der Chávez-Gegner – und vielleicht seinen eigenen – bis ins Präsidentenamt zu glauben: „Wir werden in diesem Referendum erfolgreich sein. Wir wollen diese ganze Logik des Klassenkampfes und des Hasses beenden. Wir werden bis zum Ende kämpfen und ich bin sicher, dass die Bürger diesen Kampf auch gewinnen werden.“ Millionen würden im August gegen den Präsidenten stimmen, prophezeit Mendoza.
Das sehen chavistische Politiker wie der Abgeordnete der Nationalversammlung, Luis Tascón, ganz anders. Vier Millionen Stimmen plus X ist das Ziel. „Wir sind absolut sicher, dass der Präsident aus dem Referendum als Sieger hervorgehen wird und dass sich die Anstrengungen der Opposition als fruchtlos erweisen werden.“
Die Opposition jongliert gegenüber ihrer Klientel und internationalen Gästen gerne mit Zahlen und Schreckensbildern. Arbeitslosigkeit, Korruption und Verbrechen hätten enorme Ausmaße angenommen, rattert die oppositionelle Propaganda. Die Realität steht dem oft entgegen: Die Arbeitslosigkeit erreichte ihren Höhepunkt nach dem Unternehmerstreik und ist seither wieder rückläufig. Die Wirtschaft wächst zweistellig und diversifiziert sich. Das Pfund aber, mit dem Chávez wuchern kann, sind die Bildungs- und Gesundheitsprogramme der Regierung. Diese misiones sind der Grund dafür, dass sich Chávez in Venezuela weiterhin großer Unterstützung erfreut.

„Wir wollen nicht verlieren“
Nach einem Tiefpunkt Mitte letzten Jahres ist die Popularität des Präsidenten wieder auf über vierzig Prozent gestiegen. Damit liegt Chávez vor jedem potenziellen Herausforderer. Die Chávez Partei MVR und der kleinere Partner Podemos sind daher entschlossen, ihre Basis zu mobilisieren, um sich der Opposition im Referendum zu stellen. Die ChavistInnen könnten dem Referendum auch fernbleiben und darauf hoffen, dass die Opposition an der 3,8-Millionen-Hürde scheitert, die sie zur Abwahl Chávez’ mindestens überspringen muss. Für Luís Tascón aber wäre dies ein fatales Signal: „Man stelle sich vor, die Opposition schafft zum Beispiel nur dreieinhalb Millionen. Wir rufen aber nicht zum Referendum auf. Und dann steht es plötzlich 3,5 Millionen für die Opposition zu 500.000 für uns. Damit verlieren wir – zumindest politisch. Aber wir wollen nicht verlieren. Und deswegen müssen wir mehr Stimmen bekommen als die.“

Carters Zähmung der privaten Medien
Da gerade in den Armenvierteln die Unterstützung für Chávez groß ist, sollte die Vier-Millionen Grenze für die chavistas eigentlich leicht zu passieren sein. Jedoch macht die Ausgrenzung großer Bevölkerungsschichten auch vor dem Wahlsystem nicht Halt. Wählen dürfen grundsätzlich alle, die sich im Besitz eines venezolanischen Ausweises befinden. Doch Arme werden diskriminiert. Laut Jorge Rodríguez, Mitglied des Nationalen Wahlausschusses CNE, gibt es hinsichtlich der Dichte von Wahlbüros gewaltige Unterschiede. Während in wohlhabenden Stadtteilen auf Tausend EinwohnerInnen ein Wahlzentrum in der Nähe komme, müssten Arme zum Teil weit reisen, um dann in langen Schlangen zu warten, bevor sie ihre Stimme abgeben könnten. Arme sollten so entmutigt und vom Wählen abgehalten werden. Auch hätten viele Arme keine oder abgelaufene Ausweise, weil auch deren Ausstellung oder Verlängerung für die Armen schwieriger sei, als für die Ober- und Mittelschicht. Beides will die Regierung nun schnell ändern. Warum dies in fast fünf Jahren Regierungszeit noch nicht geschehen ist, erklärte Rodríguez nicht.
Sollte es Chávez gelingen, seine AnhängerInnen zu motivieren, dürfte das Ergebnis des Referendums einer Ohrfeige für die Opposition gleichkommen. Ohne deren Möglichkeit, wie bei der vorangegangenen Unterschriftensammlung massiv zu fälschen, gilt selbst das Erreichen der 3,8 Millionengrenze als unwahrscheinlich. Das mag ein Grund dafür sein, dass sich exponierte Chávez-GegnerInnen plötzlich moderater geben. Die privaten Medien Venezuelas, die seit Chávez’ Amtsantritt nicht nur exklusives Sprachrohr der Opposition sind, sondern bisweilen Anführer putschistischer Bestrebungen waren, zeigen sich derzeit dialogbereit. Nicht nur soll es unter Moderation des Carter Centers regelmäßige Gespräche zwischen der Regierung und Vertretern der privaten Medien geben. Vor einigen Tagen fand nach Presseberichten gar ein Treffen des Medienmoguls Gustavo Cisneros mit Hugo Chávez statt, vermittelt durch den ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter. Die beiden Intimfeinde sollen sich verständigt haben, dass zur Überwindung der Krise ein nationaler Dialog nötig sei und dass sich Regierung und Medien des Landes um ein Klima bemühen sollten, das ihrem Bekenntnis zur Einhaltung verfassungsgemäßer Prozesse gerecht wird. Es bleibt abzuwarten, was aus solchen Vorsätzen wird. Aber dass sich Venezuelas private Medien zur bolivarianischen Verfassung bekennen, ist ein Indiz dafür, dass zumindest Cisneros nicht an einen oppositionellen Sieg im Referendum glaubt.

„Was auch immer nötig ist, um Chávez loszuwerden”

Am 27. Februar 2004 bringt die Opposition Hunderttausende auf die Straße, um ihrer Forderung nach einem Referendum gegen Hugo Chávez zusätzliches Gewicht zu verleihen: „Respektier’ meine Stimme, Diktator“, schnauben die TeilnehmerInnen. Doch die Demonstration eskaliert, Schüsse fallen, es gibt Tote. Der traurige Höhepunkt der aktuellen Oppositionskampagne, die sich auf der Tatsache gründet, dass die venezolanische Verfassung erlaubt, den Präsidenten nach der Hälfte seiner Amtszeit per Volksentscheid abzuwählen. Diese 1999 etablierte, bolivarianische Verfassungsneuerung könnte nun zum ersten Mal angewandt werden, und zwar ausgerechnet gegen den Präsidenten, der sie erst ins Leben rief: Hugo Chávez.
Wie funktioniert ein solcher Abwahlprozess? Die Verfassung schreibt vor, dass, wer ein solches Referendum initiieren will, zunächst eine Menge UnterstützerInnen für diese Idee finden muss, die bereit sind, ihren Willen per Unterschrift kund zu tun. Zehn Prozent der Wahlberechtigten fordert die Verfassung, das entspricht 2,4 Millionen Menschen. Wird diese Marke überschritten, so hat der Nationale Wahlrat unverzüglich ein Referendum vorzubereiten. In einem solchen Volksentscheid haben die GegnerInnen des Präsidenten dann zwei Hürden zu nehmen: Zum einen benötigen sie die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, zum anderen müssen sie mehr Stimmen erhalten, als der Präsident bei den letzten Wahlen bekommen hat. In Chávez Fall wären rund 3,8 Millionen zu überbieten. So weit die Theorie.
Die Praxis sieht in Venezuela um einiges komplizierter aus. Ende November 2003 sammelte das Oppositionsbündnis Coordinadora Democrática vier Tage lang fleißig Unterschriften für ein Referendum, begleitet von einer medialen Schlacht, in der die privaten Fernsehkanäle und Zeitungen bereits Chávez Untergang feierten. Ein sichtlich gut gelaunter Präsident verkündete derweil genüsslich den Misserfolg dieser Sammlung . Eine Woche später tönten die InitiatorInnen, man habe weit über dreieinhalb Millionen Unterschriften zusammen. Jedoch traue man den staatlichen Institutionen nicht über den Weg und wolle die Listen stattdessen der Organisation Amerikanischer Staaten OEA übergeben. Der Beginn eines Gezerres, das bis heute anhält.

Gefälschte Unterschriften
Am 29. Dezember schließlich reichte die Opposition rund 3,2 Millionen Stimmen ein: viel weniger, als zuvor vollmundig erklärt, aber immer noch deutlich mehr als erforderlich – und forderte den Nationalen Wahlrat per Live-Interviews und Schlagzeilen auf, nunmehr zügig das Referendum einzuleiten. Doch der CNE nahm sich zunächst das Recht und die Zeit, die vorliegenden Unterschriften zu prüfen – und schloss 380.000 Stimmen als gefälscht oder „nicht mit dem Wahlregister konform“ aus. Tote und nicht existierende Personen könnten schlecht ihre Stimme abgeben, und Minderjährige sowie AusländerInnen dürften nun einmal nicht. Mehr noch: Der Wahlrat erkannte nur 1,9 Millionen Unterschriften als echt an, die restlichen seien zweifelhaft, vor allem auf Grund vielfach ähnlicher Handschriften.
Womit der Wahlrat beiden Parteien Futter für ihre Argumentation gegeben hatte: Das Chávez-Lager erklärte das Referendum bei weniger als zwei Millionen Unterschriften für gestorben, während die Opposition auf der Gültigkeit ihrer Unterschriften beharrte und den CNE der Komplizenschaft mit der Regierung beschuldigte. Die InitiatorInnen riefen die Wahlkammer des Obersten Gerichtshofes an, in der Hoffnung, eine Mehrheit oppositioneller RichterInnen würde den CNE dazu zwingen, alle fraglichen Unterschriften ohne Prüfung anzuerkennen. Was dann auch geschah. Die Regierung zog postwendend vor die von Chavisten dominierte Verfassungskammer, die die Wahlkammer für nicht zuständig erklärte und deren Urteil wieder aufhob. So müssen inzwischen sich die Parteien gegenseitig nicht mehr lediglich Zahlen um die Ohren hauen, sondern können auch mit widersprüchlichen Urteilen höchster Instanzen winken.

Unter Argusaugen
Der Nationale Wahlrat hatte nach zähem Ringen endlich ein Prozedere für die fast 1,2 Millionen zweifelhaften Unterschriften vorgelegt. Zwischen dem 28. und 30. Mai sollten diese Stimmen überprüft werden. Die angeblichen UnterzeichnerInnen hatten sich erneut in den übers ganze Land verstreuten, etwa 2700 Wahlzentren einzufinden, um noch einmal zu unterschreiben – diesmal unter schärferer Kontrolle durch die Konfliktparteien, den CNE, das Carter Center und die OEA. Damit gilt immer noch: die Opposition braucht mindestens 2,4 Millionen gültige Unterschriften, um ein Referendum zu erzwingen. Unter diesen Bedingungen ist abzusehen, dass auch das verifizierte Ergebnis wenig Aussichten auf Anerkennung beider Seiten hat.

Chávez vor der Opposition
Ein Blick auf die politische Lage in Venezuela verstärkt die Konfusion. Der anti-chavistische Journalist Francisco Torro, der mit den Caracas Chronicles eine englisch sprachige Internetzeitung publiziert, fragte sich, warum die Opposition mit aller Macht ein solches Referendum durchdrücken will, das sie aller Wahrscheinlichkeit nach ohnehin verlieren wird. Und warum Chávez auf der anderen Seite so daran gelegen ist, dass die Opposition mit ihrer Unterschriftensammlung durchfällt, obwohl er sehr gute Chancen hat, ein Referendum gegen ihn zu überstehen. Das untermauert auch eine aktuelle Meinungsumfrage des von vielen als oppositionsfreundlich angesehenen Keller-Institutes: Die Opposition könne bei nur 31 Prozent Zustimmung und 34 Prozent Neutralen kaum auf eine Mehrheit in einem Referendum hoffen. Andere Institute prognostizieren Chávez gar 40 bis 45 Prozent Zustimmung.
Auch ist die Opposition, die Coordinadora Democrática, nicht so koordiniert, wie ihr Name oder ihr öffentliches Erscheinungsbild vermuten ließen. Sie hat bislang keine Kandidatin und keinen Kandidaten, die oder der sowohl offene Chávez-GegnerInnen wie Unentschlossene hinter sich vereinigen könnte. Wie auch, denn in diesem Bündnis tummelten sich bislang von den traditionellen christlichen und sozialdemokratischen Parteien über ultra-rechte Vereinigungen bis zum Movimiento al Socialismo alle möglichen Richtungen. Ein eigenes politisches Programm gibt es nicht, das einzige, was die Opposition eint und was sie nach außen zu tragen vermag ist ihr abgrundtiefer Hass auf Chávez.
Hinzu kommt, dass gerade die traditionellen Parteien lieber bis zu den regulären Wahlen im Jahr 2006 warten würden, befinden sie sich doch, nach dem Bankrott des alten politischen Systems in den neunziger Jahren, in einem Prozess des Neuanfangs und Wiederaufbaus. Das gilt für die christlich-konservative COPEI und vor allem für die Acción Democrática (AD), die alte sozialdemokratische Regierungspartei, die unlängst sogar mit dem Ausstieg aus dem Oppositionsbündnis drohte. Sie hofft auf ein gutes Abschneiden bei den Gouverneurswahlen im September und setzt zunehmend auf die Präsidentschafts- und Kongresswahlen 2006. Ein Sturz Chávez in diesem Jahr würde womöglich Kräften zur Macht verhelfen, die die alten Parteien als Neureiche oder Emporkömmlinge verachten.

Machtkämpfe innerhalb der Opposition
Zu diesen gehören insbesondere Proyecto Venezuela (PV) und Primero Justicia (PJ). Henrique Salas Römer vom PV gilt als möglicher Kandidat im Falle außerordentlicher Präsidentschaftswahlen in diesem Jahr. Doch wirft Acción Democrática dem PV vor, aus dem Referendumsprozess eine Farce zu machen, um einen weiteren Putschversuch zu rechtfertigen, während sie selbst die Verifizierung Ende Mai befürwortet.
„Dem AD käme es nicht ungelegen, entweder beim Verifizierungsprozess oder beim Referendum zu unterliegen“, meint die Geschichtsprofessorin Margarita López Maya. „Dies wäre in erster Linie eine Schwächung der radikalen Kräfte innerhalb der Opposition und gäbe der AD nicht nur Zeit und ein vermeintlich demokratisches Profil, sondern auch Munition gegen die oppositionelle Konkurrenz.“
So ist wohl auch die Erklärung des ambitionierten AD-Generalsekretärs Henry Ramos Mitte April zu verstehen, man werde nicht schweigen, wenn andere Oppositionsparteien einen weiteren Umsturzversuch unternehmen würden.

Der Neue könnte der Alte sein
Der Opposition mag es gelingen, Chávez per Referendum abzuwählen. Aber wer soll bei den dann anstehenden Präsidentschaftswahlen den Kandidaten der Chavisten schlagen, die unumstritten zumindest auf die relative Mehrheit im Lande bauen können? Dieser Kandidat der Chavisten könnte, darüber streiten sich die VerfassungsrechtlerInnen derzeit, möglicherweise einen bekannten Namen haben: Hugo Rafael Chávez Frías.
Die Verfassung schließt den per Referendum gestürzten Präsidenten nicht explizit von den Neuwahlen aus, sondern spricht nur von einem „neuen Präsidenten“. Der, das interpretiert nicht nur Margarita López Maya, könnte durchaus auch der alte sein. Und Chávez würde wohl noch jeden halbherzigen oppositionellen Kompromisskandidaten schlagen.
Also wozu das alles? Um im Gespräch zu bleiben, Chávez zu bremsen, von eigenen Differenzen abzulenken und um hinter einer brüchigen demokratischen Fassade einen neuen Putsch vorzubereiten, so die Analyse von Henry Suárez, Professor an der Universidad Central de Venezuela.
Die Opposition hat viel probiert in den letzten Jahren: Der Putschversuch vor zwei Jahren, der landesweite, dreimonatige UnternehmerInnenstreik ein halbes Jahr später. Seit Monaten nun das Kapitel „Ringen um ein Referendum“.

Trommelfeuer der Opposition
Auch hier stehen die Chancen der Coordinadora Democrática längst nicht so gut, wie sie behauptet. Bislang habe die Opposition noch jede Auseinandersetzung verloren, feixen denn auch die AnhängerInnen des Präsidenten. Doch hat sie das wirklich? Die Opposition hat das Land gelähmt und entzweit. Unter der vor allem von ihr betriebenen Polarisierung leidet die Wirtschaft, die sozialen Programme der Regierung, die Menschenrechte.
Und darum geht es der Opposition: Ein Trommelfeuer aus Medienkampagnen, Streiks und Putschplänen soll das Land mürbe machen und ruft das besorgte Ausland auf den Plan.
Es ist dieselbe Taktik, die schon vor über 30 Jahren in Chile den alten Eliten wieder zur Macht verhalf.

Erdgasdebatte in Bolivien wird hitziger

Am 19. Mai gab Mesa die fünf Fragen bekannt, über die die BolivianerInnen im Juli abstimmen werden. Natürlich will sich der immer noch populäre Staatschef durch das Referendum nicht das Heft aus der Hand nehmen lassen. So gibt es keine direkte Frage über eine Erdgas-Nationalisierung, die einer neuen Umfrage zufolge 81 Prozent der Bevölkerung befürworten.
Stattdessen will Mesa schrittweise die Kontrolle des Staates über das Erdgas erhöhen, ohne ausländische Investoren zu verschrecken. Die „wahre Nationalisierung“, so Mesa, sei in der Frage über die „Rückgewinnung des Eigentums aller Brennstoffe am Förderungsort“ enthalten. „Die Verträge werden eingehalten, die Rechtssicherheit bleibt gewahrt“, versicherte Präsidentenberater Francesco Zaratti. Eine Nationali-sierung, so die Regierungsposition, sei nach Ablauf der bestehenden Verträge möglich – in rund 40 Jahren.
Der sozialistische Oppositionsführer Evo Morales, der in den letzten Monaten zu einer der wichtigsten Stützen Mesas geworden war, sieht in der Formulierung von der „Rückgewinnung“ hingegen einen Freibrief für die Annullierung der Verträge mit den Erdölmultis, sogar ohne Entschädigung. Mit dieser Interpretation steht der mögliche Präsidentschaftskandidat allerdings ziemlich allein da. Besonders konzentriert Morales sich auf die Frage, ob der Präsident das Erdgas „als strategische Ressource“ nutzen könne, um den 1879 verlorenen Zugang Boliviens zum Pazifik zurückzugewinnen: „Wenn Chile uns das Meer zurückgibt, können wir ihnen Gas verkaufen, und das unterstütze ich“.
Als wichtige Zwischenetappe auf dem Weg zu den Präsidentschaftswahlen sieht er außerdem die Kommunalwahlen in einem halben Jahr, doch beim militanteren Flügel der Volksbewegung stößt er damit auf wenig Verständnis.

Stimmungswandel
„Die Regierung zeigt sich als Sachwalterin der Multis, die Fragen sind konfus und eine Falle“, meinte hingegen Jaime Solares vom Gewerkschaftsdachverband COB und forderte den Rücktritt Mesas. Morales, der sich im Vorfeld mit Mesa getroffen hatte, sei ein „Verräter“. Auch Roberto de la Cruz aus El Alto, einer der Anführer des Aufstandes vom vergangenen Jahr, lehnte das Referendum rundherum ab: „Keine der Fragen greift die Oktober-Stimmung auf“. Die hat sich allerdings ebenfalls gedreht: Die Resonanz auf einen Aufruf der COB zum Generalstreik war gering, die Regierung ging auf einige Forderungen von Landlosen, UniversitätsdozentInnen und ehemaligen Bergarbeitern ein.
Auch die Stimmen aus dem Unternehmerlager sind nicht auf einen Nenner zu bringen. Mehr Aufklärungsbedarf sieht Roberto Mustafá vom Unternehmerverband CEPB: „Man darf nicht vergessen, dass in Bolivien mehr als acht Millionen Menschen wohnen, von denen fast die Hälfte kein Spanisch spricht“. Andere lehnen das Referendum als schlicht verfassungswidrig ab. Besonders groß sind die Widerstände in den östlichen Provinzen Tarija und Santa Cruz, wo das Erdgas gefördert wird und das Referendum den starken Autonomiebestrebungen weiteren Aufwind geben könnte.
Von einem Sieg in der Volksabstimmung verspricht sich Carlos Mesa, dessen Legitimität als früherer Vizepräsident begrenzt ist, zumindest innenpolitisch neue Spielräume. Mesa: „Das Risiko für ein Blutbad ist auch nach der Oktoberkrise nicht verschwunden“.

Contra gegen Venezuela

Anfang April eröffnete die kolumbianische Politikerin Gloria Gaitán der venezolanischen Öffentlichkeit in der Interview-Sendung „La Lámpara de Diógenes“ überraschende Informationen. Die linksliberale Politikerin aus Bogotá erklärte erstens, dass der venezolanische Staat über die so genannten Mercal-Läden, in denen Lebensmittel zu Vorzugspreisen verkauft werden, ungewollt die kolumbianischen Paramilitärs mitfinanziere. Die dort angebotene importierte Milchmarke Colanta gehöre nämlich den rechten Todesschwadronen ihres Heimatlandes. Zweitens wies Gaitán darauf hin, dass es konkrete Interventionspläne der Regierung Uribe gegen Venezuela gebe. Die Grenzübertritte kolumbianischer Paramilitärs erfolgten mit Rückendeckung sowohl der kolumbianischen Armee als auch der US-Militärberater. Und drittens schließlich kündigte Gaitán an, nicht in ihr Heimatland zurückkehren, sondern in Venezuela politisches Asyl beantragen zu wollen. Auf Grund ihrer Äußerungen, so Gaitán, müsse sie in Kolumbien mit Verfolgung rechnen.
Nun ist Gloria Gaitán sicherlich nicht die beste Kronzeugin, die man sich vorstellen kann. Die Tochter des charismatischen liberalen Parteiführers Jorge Eliecer Gaitán, dessen Ermordung 1948 zum Ausbruch des kolumbianischen Bürgerkriegs führte, gilt in Oppositionskreisen als schwierig und profilierungssüchtig. Dass die Staatsanwaltschaft gegen sie wegen der Veruntreuung von Geldern ermittelt, kann man wahrscheinlich noch mit politischen Motiven erklären. Das politische Establishment Kolumbiens hat schon öfter Korruptionsvorwürfe gegen KritikerInnen lanciert, um auf diese Weise deren Glaubwürdigkeit zu unterminieren. Doch auch in der Linken wird über die Politikerin wegen ihres selbstverliebten Stils häufig geklagt. So schüttelte man in Bogotá nur den Kopf, als Gloria Gaitán beim „Solidaritätsforum mit der bolivarianischen Revolution“ im vergangenen Jahr in Caracas kurzerhand eine neue gaitanistische Massenbewegung gründete und sich selbst zu ihrer Sprecherin aufschwang.

Grenzübertritte
Dass Gaitáns Erklärungen in den kolumbianischen und internationalen Medien völlig unbeachtet blieben, muss dennoch überraschen. Denn dass sich das Klima zwischen beiden Ländern in letzter Zeit rapide verschlechtert hat, ist offensichtlich. Seit Jahren wirft die regierungsnahe kolumbianische Presse den Streitkräften Venezuelas vor, kolumbianisches Territorium zu verletzen. Die Berichte der Bäuerinnen und Bauern aus der Grenzregion besagen jedoch ziemlich genau das Gegenteil. Ihnen zufolge sei das Verhalten der venezolanischen Armee in der Grenzregion seit dem Amtsantritt von Chávez respektvoller geworden, Grenzübertritte nach Kolumbien fänden nicht mehr statt. Gefahr gehe vielmehr von den paramilitärischen Einheiten aus, die immer wieder Dörfer und Kooperativen im venezolanischen Bundesstaat Zulia überfielen, und BewohnerInnen oder Flüchtlinge ermordeten. So mussten im vergangenen Sommer Dutzende von Familien ihre Ortschaften verlassen, bis die venezolanische Armee die paramilitärischen Gruppen wieder aus dem Land vertrieb.
Mit ihrer Haltung gegen den Plan Colombia hat sich die Regierung Chávez 1999 die kolumbianische Rechte zum Feind gemacht. Seitdem hat sich die Situation an der Grenze grundlegend verändert. Während sich FARC- und ELN-Guerilla verpflichtet haben, die Souveränität Venezuelas zu respektieren und die Grenze nicht mehr mit ihren Einheiten zu überqueren, sind nun rechte kolumbianische Todesschwadrone in vielen Regionen im Westen Venezuelas aktiv. Ihre Aktionen konzentrieren sich bisher auf die Bundesstaaten Zulia und Táchira, wo die Paramilitärs in der Serranía de Perijá die Ausbreitung von Schlafmohnpflanzungen vorangetrieben haben. Zudem forcieren sie offensichtlich in Zusammenarbeit mit rechten venezolanischen Großgrundbesitzern den Aufbau paramilitärischer Gruppen im Nachbarland. Schon im Jahr 2002 hatte der Kommandant der kolumbianischen Paramilitärs, Carlos Castaño, die Unterstützung seiner Organisation beim Aufbau der so genannten Autodefensas Unidas de Venezuela verkündet. Wie weit diese Pläne fortgeschritten sind, lässt sich schwer beurteilen. Fest steht allerdings, dass ein Großteil der politischen Morde der letzten drei Jahre in Venezuela von rechten Todesschwadronen verübt worden sind. An die 100 Kleinbauernführer wurden Opfer der rechten Verbände.
Die Entwicklung, die sich in diesem Zusammenhang abzeichnet, deutet in Richtung einer Contra-Armee, wie sie in Nicaragua in den 1980er Jahren mit Unterstützung der US-Regierung von Honduras aus operierte. Die verstärkten Aktivitäten kolumbianischer Paramilitärs im Grenzgebiet sind nämlich tatsächlich nicht isoliert zu betrachten. Sie gehen einher mit einer zunehmend offen feindlichen Haltung des kolumbianischen Staates und der US-Administration. In Venezuela wird schon länger gemunkelt, der Plan Colombia ziele nicht nur auf die Bekämpfung der kolumbianischen Guerilla ab (und schon gar nicht auf Drogenbekämpfung), sondern diene vielmehr der geostrategischen Kontrolle der Anden- und Amazonasregion. Dass dem Erdölland Venezuela dabei eine besondere Rolle zukommt, liegt auf der Hand.

Militärhilfe aus den USA
So hat sich Kolumbien, das historisch Grenzstreitigkeiten mit Venezuela am Maracaibo-See unterhält, mit Hilfe von mittlerweile zwei Milliarden US-Dollar aus den USA, in die unangefochtene Militärmacht der Andenregion verwandelt. Weiter verschärft hat sich die Lage durch den Kauf von 40 spanischen AMX-30-Panzern durch das Uribe-Regime, die für ihren offiziellen Zweck, die Guerillabekämpfung, gänzlich ungeeignet sind. Und angeheizt wird der Konflikt schließlich auch durch PolitikerInnen beider Länder. Die venezolanische Linke Iris Valera, die im September 2002 einen Anschlag kolumbianischer Paramilitärs überlebte, bezeichnete die Regierung Uribe unlängst als Marionetten-Regime der USA, während der kolumbianische Vizepräsident Francisco Santos den venezolanischen Präsidenten Chávez als „größte Gefahr Lateinamerikas“ beschimpfte. Wie schlecht die Beziehungen sind, zeigte sich Mitte April diesen Jahres, als der kolumbianische Kongress ohne jeden sichtbaren Anlass eine Intervention der Organisation Amerikanischer Staaten im Nachbarland forderte. Gegen das Votum des Mitte-Links-Bündnisses Polo Democrático Independiente richtete das kolumbianische Parlament die Bitte an die Regierung Uribe, sich bei der OAS für die Anwendung der so genannten Carta Democrática einzusetzen. Diese besagt, dass die amerikanischen Staaten mit Hilfe von Sanktionen und Repressalien intervenieren müssen, wenn die Demokratie in einem der Mitgliedsländer in Gefahr ist. Der Beschluss des Parlaments in Bogotá kann nur absurd anmuten, wenn man berücksichtigt, dass das venezolanische Privatfernsehen Präsident Chávez täglich ungestraft als „Schwulen“, „Kommunisten“, „Guerilla-Unterstützer“ oder „Taliban“ bezeichnen kann, während gleichzeitig der kolumbianische Staat seit Anfang der 1980er Jahre eine gnadenlose Repressions- und Vernichtungspolitik gegen linke Oppositionsparteien, Gewerkschaften und soziale Organisationen zu verantworten hat.
Nicht ganz zu Unrecht wies deshalb der linkssozialdemokratische venezolanische Vize-Präsident José Vicente Rangel den Beschluss des kolumbianischen Parlaments als Unverschämtheit zurück. Rangel zufolge könne man die kolumbianische Initiative nur verstehen, wenn man sie im Zusammenhang mit dem wachsenden Druck Washingtons gegen das Reformprojekt in Venezuela betrachte. Tatsächlich wird der Ton der politischen Klasse der USA in den letzten Monaten wieder schärfer, wobei der demokratische Präsidentschaftskandidat John Kerry seinem Widersacher Bush in nichts nachsteht. Kerry warf Bush unlängst sogar vor, Chávez nicht genug zu bekämpfen.

Zerfall der
Anti-Chávez-Koalition
In Venezuela selbst hingegen sieht die Lage für die bürgerliche Opposition im Moment nicht besonders gut aus. Die Wahlaufsichtsbehörde CNE hat unlängst das offizielle Ergebnis des oppositionellen Referendumbegehrens (siehe LN 357) vorgelegt. Demnach kann die Rechte bislang nur auf 1,9 Millionen UnterstützerInnen zählen. Weitere 1,1 Millionen Unterschriften werden wegen Unklarheiten auf den Formularen im Verlauf der nächsten Wochen noch einmal zur Bestätigung ausgelegt. Zwar hat die CNE das Referendum bereits auf den 8. August terminiert, doch ob die fehlenden 560.000 Unterschriften bis dahin zusammenkommen werden, steht in den Sternen. Mehrere Parteien des Oppositionsbündnisses Coordinadora Democrática haben offensichtlich jede Hoffnung aufgegeben und wollen das Verfahren sabotieren. Aus diesem Grund hat die alte oligarchische Partei Acción Democrática, die sich gute Chancen bei den anstehenden Gouverneurswahlen ausrechnet, ihren Austritt aus der Oppositionskoalition verkündet. Damit zerfällt, wie es scheint, die Anti-Chávez-Koalition.

Raul Zelik ist Schriftsteller. Von ihm erschienen zuletzt made in venezuela. Notizen zur „bolivarianischen Revolution“ und der Roman bastard, beide bei Assoziation A

Dehnübungen vor dem Endspurt

Über dieses Thema werde ich nicht sprechen“, antwortet der Vorsitzende des linken Parteienbündnisses Frente Amplio (FA) Tabaré Vázquez während eines Aufenthalts in der Provinzhauptstadt Minas Cecilia Manzione, als sie ihn um ein Gespräch über seine Bildungspolitik bittet. Die Lehrerin und langjährige Aktivistin wollte von ihm wissen, ob er nach einem Wahlsieg bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober bereit sei, eine von der FA abgelehnte Bildungsreform der konservativen Vorgängerregierung rückgängig zu machen. Derart abgewiesen, wendet sie sich an Tabarés Begleiter Pepe Mujica. Der war in den 60er Jahren Mitbegründer der uruguayischen Stadtguerrillabewegung Tupamaros, in den 70ern Gefangener der Militärdiktatur und in den 90ern als erster Ex-Guerrillero der FA Abgeordneter im Parlament. Heute ist er Senator, Liebling der Massen und Medienstar. „Die da oben werden schon wissen, was sie tun“, ist Mujicas Antwort. Cecilia Manzione ist enttäuscht. Seit vielen Jahren wählt sie Mujicas Organisation, die Movimiento de Participación Popular (MPP), die einst als Linksaußen der FA galt und inzwischen zum stärksten Sektor innerhalb des breiten Bündnisses avanciert ist. Der Erfolg der MPP beruht vor allem auf der Popularität Mujicas. Denn der genießt den Ruf, keine Rücksicht auf angebliche Sachzwänge der Politik zu nehmen und immer ein offenes Ohr für die Belange der Basis zu haben. Doch selbst bei der ehemaligen Fundamentalopposition sorgt die greifbar nahe erscheinende Regierungsübernahme für neue Töne.

Ein Land wartet auf den Wechsel
Uruguay hat sich bereits seit einiger Zeit auf einen Wechsel eingestellt. Knapp sechs Monate vor den Präsidentschaftswahlen im Oktober zweifelt niemand mehr ernsthaft daran, dass die Frente Amplio in diesem Jahr die nur durch eine Militärdiktatur (1973-1985) unterbrochene Herrschaft der beiden traditionellen Parteien, Partido Colorado (Colorados, PC) und Partido Nacional (Blancos, PN), beenden wird. Bereits beim letzten Urnengang 1999 hatte die FA mit 40 Prozent die Mehrheit der Stimmen im ersten Wahlgang auf sich vereinen können. Durch eine kurz zuvor beschlossene Verfassungsreform war jedoch ein Stichwahlsystem eingeführt worden, welches es Colorados und Blancos ermöglichte, in der zweiten Runde einen Sieg der Linken zu verhindern, indem sie gemeinsam den Präsidentschaftskandidaten Jorge Batlle (PC) unterstützten. Heute gilt ein Sieg der FA in der ersten Runde der Wahlen nicht mehr als ausgeschlossen: in den Umfragen liegt die Partei zwischen 50 und 60 Prozent. Die Regierung von Batlle ist weitestgehend diskreditiert. Die vergangenen vier Jahre an der Macht waren durch eine verheerende Bankenkrise im Jahr 2002, interne Streitigkeiten, Korruptionsskandale, verschiedene peinliche Auftritte des alternden Präsidenten und zunehmende Isolierung im von Lula und Kirchner dominierten Mercosur geprägt. Auch die Blancos konnten sich troz ihres Ausstiegs aus der Regierungskoalition im Jahr 2002 nicht von ihrem Image als Repräsentanten des alten Systems befreien.
Im Juni stehen in Uruguay die so genannten internas an, in denen alle Parteien in einer offenen landesweiten Abstimmung ihre Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen bestimmen. Bereits jetzt stehen zwei der drei wesentlichen Konkurrenten für die diesjährigen Wahlen so gut wie fest. Nachdem Danilo Astori von der Asamblea Uruguay – dem reformistischsten Sektor innerhalb des breiten politischen Spektrums, das die FA unter ihrem Dach vereint – angekündigt hat, dass er angesichts der zu erwartenden Niederlage nicht antreten wird, steht einer erneuten Kandidatur von Tabaré Vázquez nichts mehr im Wege.

Wer traut sich gegen Tabaré?
Für die Colorados wird nicht wie erwartet der ehemalige Präsident Julio María Sanguinetti (1985-1990 und 1995-2000) antreten. Ende vergangenen Jahres hatte er sich vor einem Referendum über die Zukunft des staatlichen Brennstoffunternehmens ANCAP für dessen Privatisierung stark gemacht, die mit großer Mehrheit abgelehnt wurde. Der Ausgang des Referendums wurde nicht nur als richtungsweisender Triumph der FA, die als einzige der großen Parteien gegen eine Privatisierung war, sondern auch als persönliche Niederlage Sanguinettis gewertet. Die Parteistrategen haben wohl registriert, dass sein polemisierender antikommunistischer Diskurs, der in altbewährter Manier das Schreckgespenst eines drohenden totalitären Regimes bei einer Machtübernahme der FA bedient, nicht mehr der Stimmung in der Bevölkerung entspricht. Aus diesen Gründen wird der Kandidat der Colorados aller Voraussicht nach der jetzige Innenminister Guillermo Stirling sein. Der ist weitaus gemäßigter und integrativer als der Ex-Präsident. Bis jetzt hat kein weiterer Colorado-Politiker Ansprüche angemeldet, die undankbare Aufgabe zu übernehmen.
Bei den Blancos ist das Rennen noch nicht entschieden. Auch in dieser Partei könnte es zu einer Überraschung kommen. Das Vorhaben des Partei-Patriarchen Luis Alberto Lacalle, der zwischen 1990 und 1995 Präsident war, erneut für seine Partei zu kandidieren, ist in Gefahr. Der jüngere, vorteilhafterweise an keiner vorherigen Regierung beteiligte Senator Jorge Larrañaga wird von einem großen Teil der Parteiprominenz unterstützt und hat gute Chancen, die internas für sich zu entscheiden. Larrañaga produziert sich als Erneuerer und pflegt eine oppositionelle Rhetorik, die die Mitverantwortung der Blancos für die gegenwärtige Krise vergessen machen soll. In Bezug auf die Sozialpolitik und die Stärkung der nationalen Produktion ähneln seine Positionen teilweise denen der Linken.
Sollten sich also nach den Colorados auch die Blancos an Stelle eines ehemaligen Präsidenten für einen Kandidaten der Mitte entscheiden, so wird der FA ihre Wahlkampfstrategie ändern müssen, die darauf ausgerichtet war, Tabaré Vázquez als linken Hoffnungsträger zwei verbrauchten Figuren der uruguayischen Rechten gegenüberzustellen. Der Sieg von Tabaré ist jedoch selbst unter diesen Bedingungen nicht wirklich in Gefahr.

Kröten schlucken oder untergehen
Innerhalb der Linken ist aus der Hoffnung, 33 Jahre nach der Gründung der Frente Amplio endlich den Machtwechsel herbeizuführen, bereits eine Gewissheit geworden. Die internen Auseinandersetzungen um Posten und Prinzipien sind bereits in vollem Gange. Selbst Mujica und seine MPP, die in der Vergangenheit als vehementeste Gegner von Zugeständnissen an die herrschende Gesellschaftsordnung galten, ordnen mittlerweile ihre Programmatik dem strategischen Ziel des Regierungswechsels unter. Die Nachfolgeorganisation der Movimiento de Liberación Nacional/Tupamaros (MLN/T) passt sich diesem Trend nicht nur an, sondern übernimmt durch ihre ideologische Öffnung eine Vorreiterrolle, die alte Genossen schlucken lässt. Mujica erklärte kürzlich in einem Interview mit der Wochenzeitung Brecha die neue Strategie seiner Organisation: „Wir haben ein klares Motiv: Wir wollen im Oktober die Wahlen gewinnen. Wenn wir sie verlieren, bricht die Linke auseinander. Deswegen können wir nicht auf unseren revolutionären Positionen beharren und das Bürgertum verschrecken. Wir müssen alle Sektoren der Gesellschaft mit einbeziehen, auch wenn wir dabei die eine oder andere Kröte zu schlucken haben.“ Dieser neuen Orientierung entsprechend hat die MPP zu Beginn des Jahres den so genannten Espacio 609 gegründet – ein ideologisch offenes Auffangbecken für unabhängige Linke und enttäuschte Colorados und Blancos. Diese Organisation erschließt mit zunehmendem Erfolg neue Wählerschichten für die FA.

Der sozialistische Baum
Leicht fällt es den Basismitgliedern der MPP nicht, dem von ihrer Ikone eingeschlagenen Weg in die Mitte und an die Macht zu folgen. Doch die Mehrheit steht weiter hinter Mujica.
Hebert Clavijo, in den 60er und 70er Jahren Führungsmitglied der Tupamaros in Minas und lange Jahre politischer Gefangener, ist heute im Basiskomitee der MPP aktiv. Er wird nachdenklich bei der Frage, ob seine Organisation ihre revolutionäre Identität dem übergeordneten Ziel des Wahlsiegs geopfert habe.
Doch dann greift er zu Papier und Stift und skizziert einen Baum. Die Wurzeln sollen die MLN/T symbolisieren, die Baumkrone steht für den neu gegründeten Espacio 609. Sie besteht aus vielen Blättern, den neu gewonnenen Verbündeten von Colorados und Blancos. Den Baumstamm als verbindendes Element zwischen den beiden Ebenen soll die MPP darstellen.
Clavijo erläutert: „Der gemeinsame Ausgangspunkt ist für alle Teile des Baumes das Ziel der nationalen Befreiung von Ausbeutung und ausländischer Dominaz. Dort holen wir die neu gewonnenen Mitstreiter ab, denen wir in der Zusammenarbeit unser marxistisches Denken nahe bringen. Dann beschreiten wir gemeinsam den Weg zum Sozialismus. Um dieses Projekt zu verwirklichen, müssen wir die Wahlen gewinnen.“ So einfach ist der Weg zu einer Gesellschaft ohne Ausbeuter und Ausgebeutete.
Doch auch Clavijo merkt man sein Unwohlsein über den atemberaubenden Wandel der MPP an, die in Abkehr von basisdemokratischen Prinzipien den Verlautbarungen ihres Vorsitzenden Mujica hinterher galoppiert. Bereits sechs Monate vor der Wahl plagen die Frente Amplio die Probleme aller emanzipatorischen Bewegungen, die innerhalb des vorgegebenen institutionellen Rahmens die herrschenden Verhältnisse grundlegend verändern wollen.
Pepe Mujica und die MPP, Tabaré Vázquez und die FA machen sich schon jetzt daran, den von Lula vorgeführten Spagat zwischen ökonomischen Sachzwängen und ideologischen Überzeugungen einzustudieren. Das Vorbild im Norden zeigt, wie schmerzhaft eine solche Dehnübung werden kann.

Mesa im Spagat

Mehr politische Mitbestim-
mung der Bevölkerung hatte Boliviens Präsident Carlos Mesa im Oktober vergangenen Jahres versprochen. Am 20. Februar 2004 verabschiedete er jetzt eine erweiterte bolivianische Verfassung. 15 Artikel der Magna Carta wurden modifiziert. Die geplante verfassungsgebende Versammlung und der demokratische Mechanismus des Referendums, die bislang verfassungswidrig waren, sind damit legitim.
„Eine größere Partizipation der BürgerInnen ist jetzt möglich,“ erklärte der Präsident des Kongresses Hormando Vaca Díez. Eine neue bürgerliche Gesetzesinitiative erlaubt es den BolivianerInnen von nun an, der Legislative eigene Gesetzesprojekte vorzuschlagen.
Eine weitere Veränderung betrifft das Monopol der politischen Repräsentation: Gesellschaftliche Gruppierungen wie beispielsweise die indigene Bevölkerung oder die Gewerkschaften können jetzt genau wie die Parteien direkte KandidatInnen bei nationalen Wahlen aufstellen. Außerdem wurde die parlamentarische Immunität begrenzt, die doppelte Staatsbürgerschaft eingeführt und der persönliche Datenschutz erhöht.

Mehr Mitbestimmung
für das Volk
Carlos Mesa, der sich selbst in seiner Antrittsrede im Oktober vergangenen Jahres in kurioser Anspielung auf den Preußenkönig zum ersten Diener des Staates ernannte, hatte damals versprochen: „Ich werde auf die Forderungen der Menschen auf der Straße eingehen.“
Die Verfassungsmodifikation ist ein Schritt in diese Richtung. Die verfassungsgebende Versammlung, die voraussichtlich zwischen 2004 und 2005 Zusammentreten soll und ein Referendum über die Zukunft der Erdgasvorkommen des Landes waren und sind wichtige Punkte auf dem Forderungskatalog der Protestgemeinschaft, die während heftiger Unruhen im vergangenen Jahr die Demokratie auf eine schwere Probe stellte. Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada musste damals angesichts heftigster Proteste gegen seine neoliberale Politik und den geplanten Verkauf des Erdgases an die USA und Mexiko von seinem Amt zurücktreten.

Schonfrist abgelaufen
Die Opposition hatte Mesa zu Beginn seiner Präsidentschaft eine Bewährungsfrist eingeräumt, das heißt eine Zeit ohne Mobilisierungen. Spätestens seit Mesas Rede an die Nation im Januar und der Bekanntgabe seines Plans, wie er das Budgetdefizit des bankrotten Staates beseitigen will, ist diese Schonzeit abgelaufen.
Anfang Februar kündigte er an, eine Steuer für finanzielle Transaktionen zu erheben und Abgaben für die BolivianerInnen der Mittel- und Oberschicht, deren Besitz mehr als 50.000 US-Dollar wert ist.
Aber auch die ärmere Bevölkerung bleibt nicht verschont. Insbesondere die geplante Liberalisierung des Preises für Kraftstoffe beträfe alle, weil dadurch die Kosten für Haushaltsgas und Benzin anstiegen. Die Gewerkschaften des Transportwesens riefen sofort zu Streiks und Blockaden auf, einigten sich aber mit der Regierung wiederum auf eine vorläufige „Waffenruhe“.
Mesa brachte auch ein neues Energiegesetz auf den Weg. Laut der digitalen spanischen Zeitschrift América Económica haben transnationale Energiekonzerne, die von dem Geschäft mit dem Gas profitieren würden, wie beispielsweise REPSOL, keine Einbußen zu erwarten.

Radikale Gewerkschaften bilden die Opposition
Mesa beugt sich nicht nur dem Druck des Internationalen Währungsfonds, sondern regiert für die Interessen der Elite resümierte der Vorsitzende der COB, Jaime Solares. In seinen Augen führt der neue Präsident lediglich die Politik der Regierung von Sánchez de Lozada fort und damit das neoliberalen Modell der letzten zwanzig Jahre. Solares hat Mesa bereits den Krieg erklärt.
Die Opposition formiert sich neu: Der Gewerkschaftsdachverband COB mobilisiert erneut für einen unbefristeten Generalstreik und Blockaden. Dabei kann er auf volle Unterstützung des Indigenenführers und Abgeordneten der MIP (Movimiento Indígena Pachacuti) Felipe Quispe zählen.
Seit Oktober haben sich die Gewerkschaften zu radikalen Wortführern der Opposition aufgeschwungen. Die COB und die Gewerkschaft von El Alto fordern eine “Neugründung” Boliviens. Sie wollen das Parlament auflösen, statt dessen eine Volksversammlung mit VertreterInnen aller Interessengruppen einberufen und alle weiteren Verhandlungen und Zahlungen an IWF und Weltbank einstellen.

Ein zahmer Evo
Einer der wichtigsten Oppositionsführer, Evo Morales, Vertreter der Kokabauern, Präsidentschaftskandidat und Vorsitzender der MAS (Movimiento al Socialismo), hat sich bislang abwartend zu den Regierungsvorhaben Mesas geäußert.
Der Verfechter eines sozialistischen Staatsmodells kritisierte zwar, dass Mesa keine konkrete Änderung des Wirtschaftsmodells vorsieht und sich nicht gegen die von USA und IWF geforderte Koka-Ausrottung wendet.
Er kündigte aber weiterhin eine “kritische Unterstützung” an und beteiligte sich nicht an Aufrufen gegen die Regierung. Von Seiten der Gewerkschaften erntet Morales für seinen Kurs heftige Kritik. Gewerkschaftsführer Solares forderte Morales auf, Stellung zu beziehen, „ob er auf der Seite der Bevölkerung steht oder mit der Regierung geht“.
Die MAS nimmt momentan eine Vermittlerrolle zwischen den verhärteten Fronten ein, in der Hoffnung auf ein gutes Ergebnis bei den kommenden Kommunalwahlen und einen eventuellen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2007.

In der Kreditzange
Nach Angaben des Online-Magazins Econoticias Boliva hat die Weltbank inzwischen ganz unverblümt ihre Forderungen an Bolivien auf den Tisch gelegt. Die Kredite in Höhe von 300 Millionen US-Dollar für die kommenden zwei Jahre gebe es nur, wenn das bolivianische Gas exportiert werde.
Neben einem positiven Entscheid beim Referendum über die Zukunft des bolivianischen Gases, fordere die Weltbank noch eine Senkung des Haushaltsdefizits von den geplanten 8,75 Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf 6,8 Prozent und Fortschritte in der Armutsbekämpfung.
Falls diese Bedingungen nicht erfüllt würden, so berichte das Online-Magazin Econoticias Boliva weiter, reduziere sich die finanzielle Unterstützung auf 45 Millionen US-Dollar jährlich.
Boliviens Regierung hat ein großes Interesse daran, der Bevölkerung ein Ja zum Verkauf des Gases abzuringen. Das ist auch die Ursache für den medialen Run auf die Meinungsbildung der BürgerInnen.
Die bolivianische Regierung startete eine Kampagne: Werbesendungen flimmern über die bolivianischen Fernsehschirme, die Tageszeitungen füllen Anzeigen, die den Verkauf der bolivianischen Erdgasvorkommen in die USA und nach Mexiko anpreisen. Dieser Verkauf hätte nur Vorteile für die Entwicklung Boliviens. Nicht geworben wird dagegen für die Übereinkünfte der bolivianischen Regierung mit der Weltbank.

Viele sind die Kämpfe leid
Ob und in welchem Ausmaß die BolivianerInnen den Mobilisierungen gegen Mesa in nächster Zeit folgen werden, ist noch ungewiss. Große Teile der Bevölkerung sind die Kämpfe leid. Die Mittelschicht steht zu großen Teilen hinter Mesa und fürchtet, dass er durch kommende Auseinandersetzungen zu Fall gebracht werden könnte.
Im wohlhabenderen östlichen Tiefland war schon im Oktober wenig von den Protesten zu spüren. Hier herrscht die Tendenz, sich vom entfernt liegenden, viel ärmeren Andenhochland und der dort lebenden aufständischen Bevölkerung zu distanzieren. Von den größtenteils indigenen Hochlandbauern, die eine zentrale Rolle bei den blutigen Unruhen gespielt haben, ist voraussichtlich bis Mitte April keine große Mobilmachung zu erwarten. Denn im landwirtschaftlich geprägten Bolivien bestimmen die Zyklen von Aussaat und Ernte auch den Zeitraum sozialer Proteste.

„Chávez hat ein Referendum nicht zu fürchten”

Wie steht es um das von der Opposition angestrebte Referendum gegen Präsident Hugo Chávez?

Die Überprüfung der gesammelten Stimmen ist noch im Gange. Wir verteidigen die Möglichkeit des Referendums grundsätzlich. Schließlich ist das Referendum ein demokratischer Raum, der durch die neue bolivarianische Verfassung ermöglicht wird, die 1999 durch eine Volksabstimmung angenommen wurde. Die Opposition beabsichtigte, Unterschriften von 20 Prozent der Wahlberechtigten zu sammeln, um ein Abberufungsreferendum gegen Chávez zu ermöglichen. Ende November wurde gesammelt, jetzt wird gezählt und überprüft. Dabei sind viele Unregelmäßigkeiten festgestellt worden, Bedrohungen, mehrfache Unterschriften, Tote auf den Listen.
Dennoch: Sollte es zu einem Referendum kommen, fürchten wir uns nicht davor. Wir gehen davon aus, dass Chávez bestätigt wird. Denn um ihn abzuberufen, müssten mehr gegen ihn stimmen als die 3,7 Millionen, die ihn einst gewählt haben.

Wird sich die Opposition mit einem Referendum zufrieden geben?

Nein. Das Referendum ist für die Opposition nur ein Versuch, die Regierung zu destabilisieren. Sie wird andere Mechanismen zur Destabilisierung suchen. Die Opposition in Venezuela hat in den letzten Jahren mehrfach bewiesen, dass sie sich nicht an Demokratie und Legalität gebunden fühlt – der Putschversuch gegen Hugo Chávez im April 2002, der Streik in der Ölindustrie Ende 2002/Anfang 2003, um nur die zwei markantesten Beispiele zu nennen. Unser Ziel bleibt nach wie vor, die friedliche und demokratische Revolution durch Wahlen zu behaupten. Wir sind an einem friedlichen Referendum interessiert. Selbst oppositionelle Umfragen gehen von 40 Prozent Unterstützung für Chávez aus, wir sehen sie bei 50 Prozent. Welcher Wert auch zutrifft, der Rückhalt in der Bevölkerung ist gerade im lateinamerikanischen Vergleich bemerkenswert. Toledo (Peru), Uribe (Kolumbien) oder Gutiérrez (Ecuador) können nach nur einem oder zwei Jahren Regierungszeit nur weit geringere Unterstützung aufweisen.

Venezuela erscheint äußerst polarisiert. Zu Regierungsantritt von Chávez war dies nicht der Fall. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

Bei der Oberschicht ist der Fall klar. Sie war von Anfang gegen das bolivarianische Projekt. Die Oberschicht hat Angst um ihre Privilegien. Die Großgrundbesitzer fühlen sich beispielsweise durch das Landgesetz bedroht, das für die Besteuerung ungenutzter Flächen sorgt und die Übergabe von Land an Kleinbauern erleichtert. Bisher sind bereits 2,265 Millionen Hektar Fläche an 160.000 Bauern übergeben worden. Damit wurden wichtige Interessen von Großgrundbesitzern und einiger Teile der Agrarbourgeoisie, die zu Beginn das bolivarianische Projekt unterstützt hatten, berührt.
Dasselbe gilt für das Küstengesetz, das die ausschließlich öffentliche Nutzung der Strände festlegt, wodurch private Interessen zur touristischen Nutzung berührt werden, oder für das Fischfanggesetz, das besagt, dass die industriellen Flotten erst sechs Meilen von der Küste entfernt ihre Netze auswerfen dürfen. Damit werden die kleinen Fischer und die Umwelt geschützt, doch die Industriefischer sind davon wenig begeistert.

Aber neben der Oligarchie hat sich doch auch die Mittelklasse abgewendet?

Dass sich ein großer Teil der Mittelklasse abgewandt hat, ist vor allem der Manipulation durch die Medien geschuldet. Es wird behauptet, dass Eigentum nicht mehr geschützt sei. Das ist falsch. Eigentumsrechte und -pflichten sind in der Verfassung geregelt. Die Medien malen das Bild des Castro-Kommunismus an die Wand und stellen Chávez als Diktator dar. Das hinterlässt bei Teilen der Mittelklasse Wirkung. Die Mittelklasse scheint mir sehr empfänglich für Manipulation.

Die Medien selbst standen Chávez 1998 neutral bis positiv gegenüber. Worin liegen die Gründe für den Meinungsumschwung der Medien selbst?

Die Medien sind engstens mit den alten wirtschaftlichen Eliten verbunden, mit den stärksten ökonomischen Gruppen des Landes. Sie sind nicht unabhängig, sondern folgen den Interessen der Oligarchie. Die Opposition hat keine Führungspersönlichkeiten. Diese Rolle übernehmen die Medien ebenso wie sie die Rolle der traditionellen Oppositionsparteien übernommen haben, die von der Bildfläche verschwunden sind.

Die Oligarchie und die Mittelklasse haben Chávez den Kampf angesagt, die Unterschichten scheinen dagegen nach dem Putsch im April 2002 ihre Unterstützung gar noch verstärkt zu haben?

Fraglos hat die Unterstützung nach dem Putsch zugenommen. Auch der Streik in der Ölindustrie, hat die arme Bevölkerung noch stärker dazu bewegt, sich hinter Hugo Chávez zu versammeln. Zudem war 2003 das Jahr, in dem die Politik an der Basis verstärkt wurde. Die Alphabetisierungskampagne wurde begonnen, der freie Zugang zur Bildung im primären, sekundären und tertiären Sektor geschaffen, die Rechte der indigenen Bevölkerung wurden gesetzlich verankert. Zudem hat die Regierung ein Pilotprojekt zur kostenlosen Gesundheitsversorgung in Armenvierteln geschaffen. Die Politisierung der armen Bevölkerung hat deutlich zugenommen. Und sie hat durchaus Geduld und Verständnis für die Schwierigkeiten, denen der revolutionäre Prozess ausgesetzt ist.

Wird der revolutionäre Prozess nicht auch durch den staatlichen Apparat gebremst, in dem viele Angestellte aus den alten Zeiten sitzen, die dem neuen Venezuela nichts abgewinnen können?

Die öffentliche Verwaltung in unserem Land ist seit 40 Jahren vom Klientelismus geprägt. Mit jedem Regierungswechsel wurden die Personen ausgetauscht und durch Funktionäre der jeweiligen Regierungspartei ersetzt. Es gab kaum eine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft. Der Apparat genügte sich selber und agierte nicht für die Bevölkerung. Das Problem ist, dass dieser überkommene Apparat nicht zum neuen bolivarianischen Modell passt. Sicher gibt es auch teilweise Sabotage von einzelnen Individuen. Aber das Hauptproblem ist strukturell: Der Apparat ist durch die alten Modelle verzerrt und funktioniert nicht als Dienstleister für das Volk. Es ist eine große Herausforderung, den Apparat so umzugestalten, dass es eine direkte Verbindung zwischen den Tätigkeiten der staatlichen Behörden und einem direkten Nutzen für das Volk gibt. Das ist unser Ziel.

Die bolivarianische Revolution hat sich einem Modell der solidarischen Ökonomie verschrieben. Was bedeutet das konkret?

Ein solches Modell wird gerade aufgebaut. Im Prinzip handelt es sich darum, die lokalen Strukturen der Ökonomie zu stärken, die Bildung von Kooperativen anzuregen. In den letzten zwei Jahren wurden mehr als 7000 Kooperativen neu gegründet. Weiter geht es darum die individuellen Möglichkeiten zu verbessern. So werden staatliche Kredite zu Vorzugszinsen an die ärmsten Bevölkerungsschichten vergeben. Es gibt auch Kredite, die an Gruppen ausgegeben werden. Die ganze Gruppe ist dann als Solidargemeinschaft für die Rückzahlung verantwortlich.
Insgesamt geht es darum, die endogene Entwicklung des Landes zu verbessern, die Verflechtung zwischen den Sektoren der Ökonomie zu verbessern. Dabei haben wir einen integralen Ansatz, der Umweltschutz berücksichtigt und saubere Energien fördert. Auf der individuellen Ebene soll das Verantwortungsbewusstsein gestärkt werden. Jeder sollte sich quasi als Unternehmer fühlen, Eigenverantwortung übernehmen und nicht mit einer Mentalität eines einflusslosen abhängig Beschäftigten arbeiten. Deswegen stärken wir das Kooperativenwesen, aber auch die kleinen Unternehmen. Arbeit soll als Quelle des Reichtums besser geschützt und gewürdigt werden, während es die Spekulation zu bekämpfen gilt. Denn Spekulation ist eine unsolidarische und unethische Quelle des Reichtums.

Orientiert sich das venezolanische Modell an Kuba, China oder ist es eigenständig?

Das Modell orientiert sich in der Theorie primär am Gedankengut von Simon Bolívar – am Streben nach nationaler Souveränität, sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit. In der Praxis folgen wir nicht dem Weg eines anderen Landes, sondern suchen unseren eigenen, alternativen Weg. Dabei müssen wir viel lernen, denn wir haben kein Modell in der Schublade. Wir suchen nach einem nachhaltigen Modell, nachhaltig für Venezuela und nachhaltig für den Planeten. Wir wollen den Wohlstand eines jeden venezolanischen Bürgers verbessern, ohne dass es zu Lasten der natürlichen Lebensgrundlagen geht.

Das Ziel ist also, Nachhaltigkeit mit dem Kampf gegen die Armut zu kombinieren?

Exakt. Das Ziel für 2004 ist vorrangig der Kampf gegen Arbeitslosigkeit. Wir wollen sie von 20 auf 15 Prozent senken. Der Kampf gegen Armut ist eine Hauptaufgabe. Bis 2021 wollen wir die Armut aus Venezuela verbannt haben. Daran werden wir unsere Politik orientieren.

Bolivien wartet auf den Wandel

Zehn lange Jahre musste die Fußballmannschaft von The Strongest in La Paz warten, um die bolivianische Meisterschaft überraschend im vorletzten Match für sich zu entscheiden und den „Himmel mit den Händen zu fassen“. 2003 – das Jahr der gelb-schwarzen starken Raubkatze aus dem reichen Stadtviertel Achumani.
Tatsächlich haben sich im Jahr 2003 auch noch andere, wichtigere Ereignisse in Bolivien abgespielt. Im so genannten Jahr des Wandels gab es zwei Mal – im Februar und im Oktober – heftige Unruhen mit Toten. Der seit 2002 regierende Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada von der MNR (Movimiento Nacional Revolucionario) trat zurück und machte dem parteilosen Vizepräsidenten Carlos Mesa Platz, der „Krieg um das Gas“, soziale und politische Probleme stürzten das Land zusätzlich zu den anhaltenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten in eine tiefe Krise. Wird der neue Präsident die Geschicke des Landes als starker Tiger lenken? Oder wird die Katze von den anderen „starken Tieren“ auf dem politischen Spielfeld in die Enge getrieben?

Carlos Mesas Zukunftsplan
Am 4. Januar 2004 hielt Präsident Carlos Mesa eine mit Spannung erwartete Rede an die Nation, in der er die wichtigsten Themen und Herausforderungen aus Sicht der aktuellen Regierung – mit überwiegend parteilosen Ministern – darlegte. Neben der Frage des Gas-Exports beziehungsweise des Gas-Referendums schnitt er als wichtiges Thema die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung an, die während der Unruhen gefordert wurde. Diese soll nach dem Willen Mesas ab dem ersten Halbjahr 2005 zusammen eine Verfassungsreform in die Wege leiten.
Mesas ökonomisches Zukunftsmodell baut auf dem neoliberalen Modell der letzten 20 Jahre auf. Allerdings plädierte der Präsident in der Wirtschaftspolitik für eine aktivere Rolle des Staates: Gemeinsam mit Privatunternehmen sollen Arbeitsplätze und Einkommen geschaffen werden. Es soll eine Wachstums- und Produktivitätsstrategie erarbeitet werden, die sich auf wichtige Sektoren wie Produktion von Fertigwaren, Tourismus, Bau und Agroindustrie konzentriert und gleichzeitig eine Erhöhung der Exporte anstrebt.
Was den im vorletzten Jahrhundert verlorenen Meereszugang des Landes angeht, so appellierte Mesa an Chile, Bolivien wieder einen Meerzugang zuzugestehen. In Sachen Koka soll die von den USA geforderte Koka-Vernichtungspolitik nicht aufgegeben werden.
Der Präsident legte in seiner Rede zudem offen, dass Bolivien theoretisch bankrott ist. 15 Milliarden Bolivianos (= circa 1,8 Milliarden US-Dollar) Ausgaben hätten im Jahr 2003 Einnahmen von 9,6 Milliarden. Bolivianos (= circa 1,15 Milliarden US-Dollar) gegenübergestanden. Das hohe Budgetdefizit könne nur zu einem geringen Teil über ausländische Hilfsgelder gedeckt werden. Bis Ende Januar wolle er daher einen Austeritätsplan vorlegen, das Volk müsse in diesem Falle zu Einschränkungen bereit sein.Erörtert werden momentan eine Einkommenssteuer für Besserverdienende, eine Erhöhung des Benzinpreises sowie der Steuern der Erdölfirmen und höhere Abgaben auf Luxusimmobilien. Zudem will Mesa einen Fiskal- und Sozialpakt mit allen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gruppen schaffen. Eine schwierige Aufgabe angesichts zu erwartender Widerstände gegen unbequeme Maßnahmen seitens der Regierung.

Das umstrittene Thema Gas
Mit den Verteilungsspielraum erhöhenden zusätzlichen Einnahmen aus dem Gasexport kann Mesa nicht mehr rechnen. Zwar würden die Gasvorräte Boliviens sowohl für den Export als auch für den Eigenbedarf sowie die Industrialisierung im Land ausreichen. Mangelnde Information darüber hatte neben dem geringen Betrag, der beim Verkauf im Land bleiben sollte, in den letzten Monaten die Konflikte geschürt. Fatal ist momentan, dass sich die potenziellen Abnehmer – USA und Mexiko – zurückgezogen und andere Lieferanten (zum Beispiel Indonesien) gesucht haben, denn dies bedeutet, dass die zusätzlichen Staatseinnahmen, mit denen in den nächsten Jahren kalkuliert wurde, nicht anfallen werden. Ein Dilemma für Carlos Mesa – er steht mit leeren Händen da. Das Referendum, wie nun mit den Gasvorräten verfahren wird – Export oder nicht, über Chile oder Peru – soll am 28.März 2004 stattfinden, hat aber dadurch an Bedeutung verloren. Vor dem Referendum soll (voraussichtlich Mitte Februar) ein neues Gesetz über Bodenschätze verabschiedet werden, in dem die Höhe der Tantiemen, die staatliche Souveränität über die Gasvorkommen sowie die Stärkung der staatlichen Erdgasfirma festgeschrieben werden sollen.

Das Modell Mallku
Über einen Mangel an politische Gegenspieler braucht sich Carlos Mesa nicht zu beklagen. Felipe Quispe, im Volksmund Mallku (Aymara für König, Kondor) genannt, ehemaliger Guerrillero, jetzt Abgeordneter und Führer des MIP (Movimiento Indígena Pachacuti), schwebt ein indigenes Gesellschaftsmodell vor, eine Aymara-Nation etwa in der Art, wie sie die Inka vor 500 Jahren hatten mit einer Grundversorgung für alle und eher Tausch- als Geldwirtschaft als ökonomischem Prinzip. Die jetzige weiße Oberschicht soll ganz aus den Entscheidungsgremien verschwinden. Felipe Quispes Basis ist überwiegend das Hochland zwischen La Paz und dem Titicaca-See. Am von Mesa skizzierten Modell kritisiert Quispe, dass keine klaren Antworten auf die Probleme des Landes gegeben wurden – wenn dies nicht bis zum 20. Januar 2004 geschehe, gäbe es seitens seiner Gruppierung erneut Blockaden.

Der Plan von Evo Morales
Neben Felipe Quispe war Evo Morales, ehemaliger Minenarbeiter und Kokabauer, heute Abgeordneter und Führer des MAS (Movimiento al Socialismo) sichtbarster politischer Führer und Hauptgewinner der Proteste im Oktober 2003. Evo, wie der Vertreter der Kokabauern hier im Allgemeinen genannt wird, strebt ein sozialistisches Staatsmodell an, in dem die jetzige politische Klasse natürlich nichts mehr verloren hätte. Es gäbe unter Evo Morales keine weitere Koka-Ausrottung beziehungsweise das Zugeständnis einer bestimmten Anbaufläche an Kokabauern in allen Regionen Boliviens. Damit stünden vermutlich die internationalen Gelder der Entwicklungszusammenarbeit in Frage, die in Bolivien mit über 700 Millionen US Dollar momentan zehn bis zwölf Prozent des BIP und rund 30 Prozent des Haushalts ausmachen.
Evo Morales lag bei den Wahlen im Jahr 2002 mit über 20 Prozent der Stimmen knapp hinter Sánchez de Lozada auf Platz zwei. Er scheut keinerlei soziale, ethnische und politische Konflikte und gibt deutlich zum Ausdruck, dass Carlos Mesas Zeit beim kleinsten Fehler, den er sich erlaubt, abgelaufen sein würde. Morales trat in der letzten Zeit zunehmend als Moderator zwischen den verhärteten Fronten auf. Er hält die von Mesa in seiner Rede dargelegten Punkte für zu gemäßigt und zurückhaltend und bedauert, dass es keine konkreteren Vorschläge zur Änderung des Wirtschaftsmodells gebe.
Zwei weitere Protagonisten der Opposition, Roberto de la Cruz, Führer der Gewerkschafter von El Alto sowie Jaime Solares, Chef des Gewerkschaftsdachverbands COB (Central de Obreros Boliviana) haben Carlos Mesa nach seiner Rede den Krieg erklärt. Auf die Forderungen der ärmeren Sektoren sei überhaupt nicht eingegangen worden, ebenso wenig hätte es Vorschläge für eine Bekämpfung der Armut, der Korruption und der exzessiven Ausgaben der öffentlichen Verwaltung gegeben, daher würden in Kürze wieder die ArbeiterInnen zu diversen Aktionen mobilisiert werden.

Wie stabil ist das Land?
Gerüchte kursieren, dass es im Falle eines Funktionsverlustes der bisher existierenden politischen Organe und Institutionen zu einem Militärputsch kommen könnte. Die Militärs wären demnach die „letzte Instanz“, um Recht und Ordnung aufrecht zu erhalten. Unklar ist momentan, ob es innerhalb des Militärs potente Führungspersönlichkeiten gibt, die das Machtvakuum füllen würden. Unklar ist auch, in welcher Form eine Militärregierung agieren und ob sie internationale Unterstützung erhalten würde.
Sicher ist, dass das bisherige Entwicklungsmodell in der stark polarisierten Gesellschaft brüchig ist. Große Teile der Bevölkerung identifizieren sich nicht mit der Nation Bolivien, wie sie 1825 gegründet wurde, geschweige denn mit dem daraus entstandenen – in den Augen vieler – ineffizienten, korrupten, zentralisierten Staat. Sie fühlen sich mit ihren Bedürfnissen und Interessen nicht integriert und verlangen nach einem föderalistischen Modell mit mehr Autonomie für einzelne Regionen und deren Interessen. Tief greifende politische und soziale Umbrüche stehen auf alle Fälle noch bevor.
Das „Jahr des Tigers“ hat nur die schwarz-gelben Kicker im siebten Himmel schweben lassen, alle anderen Spieler in Bolivien, allen voran die diversen Regierungsmitglieder, mussten im Jahr 2003 eher frustriert in die Kabinen zurückkehren. Wer sich 2004 die Oberhand verschafft, wird sich in den nächsten Monaten herausstellen.

“Die Agrarreform ist der Schlüssel für eine Lösung des bewaffneten Konflikts“

Herr Mondragón, wie wirkt sich die neoliberale Politik in Kolumbien aus, inbesondere auf den landwirtschaftlichen Sektor, und was sind die Konsequenzen für die bäuerliche Bevölkerung?

Gesamtwirtschaftlich gesehen hat der Neoliberalismus ein kontinuierliches Absinken der Reallöhne und eine höhere Anfälligkeit der Wirtschaft und des Arbeitsmarkts in Krisenzeiten zur Folge. Die Krisen sind länger und mit höheren Arbeitsplatzverlusten sowie mit Unterbeschäftigung verbunden. Außerdem steigen die Auslands- und Inlandsschulden und die Spekulation. Gleichzeitig gehen Investitionen im sozialen Bereich zurück. Das Gesundheitswesen und wichtige staatlichen Unternehmen werden zu Gunsten der transnationalen Konzerne privatisiert.
In Bezug auf den landwirtschaftlichen Sektor hat die neoliberale Politik bewirkt, dass die staatlichen Institutionen zur Förderung der Landwirtschaft und vor allem der Bauernschaft aufgelöst wurden. Gleichzeitig hat die neoliberale Politik dem Handel mit nationalen Produkten geschädigt, indem sie sie dem Wettbewerb mit den hoch subventionierten Gütern der Europäischen Union und der USA unterworfen hat. Die Importe von Lebensmitteln haben sich verfünffacht. Das verursachte einen Rückgang der Anbauflächen und die Zunahme sowohl illegaler Anbauprodukte als auch der Arbeitslosigkeit auf dem Land. Die schwankte bisher zwischen zwei und fünf Prozent. Jetzt liegt sie bei neun bis zwölf Prozent. All das untergräbt die Souveränität des Landes über seine Nahrungsmittelsicherheit.

Gibt es in den Regionen Chocó, Putumayo und Antioqia, in denen der bewaffnete und soziopolitische Konflikt besonders katastrophale Ausmaße annimmt, für das neoliberale Wirtschaftsprojekt in Kolumbien strategisch wichtige Vorhaben?

In Chocó sind verschiedene Straßenbauprojekte geplant, um die pazifische Küste mit Antioquia, dem alten Caldas, der Karibik, Panama und Venezuela zu verbinden. Das größte Projekt ist der interozeanische Kanal, der über Atrato-Cacarica-Truira-San Miguel oder über Atrato-Truandó gehen soll. Außerdem ist die Ausbeutung der Biodiversität geplant. In Putumayo soll in Kürze mit der Erschließung und der Förderung der Erdölvorkommen begonnen werden, auf lange Sicht erhofft man sich, dass diese Region zur Verbindung von Amazonas und Pazifik wird. Das heißt, dass Putumayo in die Pläne der Initiative für die Integration der regionalen Infrastruktur Südamerikas IIRSA einbezogen wird und an überregionale Flussverbindungen angeschlossen werden soll. In der Region Antioquia gibt es von Seiten der Wirtschaft eine Vielzahl von Interessen, aber die schon vorhandenen Wasserkraftwerke und die geplanten Porce 3 und Pescadero-Ituango sind dabei am wichtigsten.

Sie sagen, dass „für die transnationalen Unternehmen Land eine Ware und so Teil ihrer Investionen, für die Bauern Land ihr Leben ist“. Was folgt aus dieser Feststellung?

Das Recht auf Land rührt aus der Existenz der ländlichen Gemeinden selbst. Für sie ist das Land der Raum für ihre physische, soziale und kulturelle Subsistenz. Das Recht auf Land ist nicht dasselbe wie das Recht über Land oder dessen Privatbesitz. Wenn man es aus der Perspektive der bäuerlichen Gemeinschaft betrachtet, ist Land nicht nur eine Parzelle, sondern bezieht die gesamte Umwelt, das genetische Erbe und die politischen und kulturellen Beziehungen ein. Im Gegensatz dazu bezieht sich im Neoliberalismus das Recht auf Land nur auf eine bestimmte Anbaufläche, die allein als Objekt des Marktes fungiert. Die Transnationalen fordern die Veräußerbarkeit des Landes der comunidades, der bäuerlichen Gemeinschaften.

Wie schätzen Sie die Bedeutung der bäuerlichen Bevölkerung für die Agrarproduktion des Landes ein?

Nach einer Untersuchung von Jaime Forero von der Universität Javeriana haben die Bauern zwischen 1997 und 2000 57 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion Kolumbiens erwirtschaftet. Dieses Gewicht der Bauern kommt dadurch zu Stande, dass die Großgrundbesitzer Land vergeuden und vier Millionen Hektar Land, das für die Landwirtschaft geeignet ist, „extrem untergenutzt“ ist.

Die hohe Konzentration von Landbesitz in Kolumbien haben Sie auf der Veranstaltung in Berlin sehr deutlich gemacht: Während die kolumbianischen Kleinbauern über 43 Prozent der Anbaufläche auf gerade 14 Prozent des Bodens verfügen, haben die Latifundistas, die Großgrundbesitzer, nicht mehr als neun Prozent der kultivierten Fläche, besitzen jedoch 45 Prozent der Ländereien. Ist die Bauernbevölkerung stark zurückgegangen?

Obwohl die ländliche Bevölkerung in Bezug auf den Anteil an der Gesamtbevölkerung zurückgegangen ist, stieg ihre absolute Zahl von sechs Millionen 1938 auf 11,6 Millionen 1993. Ähnliches ist mit der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung des Agrarsektors geschehen: während 1938 1,9 Millionen Kolumbianer diesem Sektor zuzurechnen waren, waren es 1993 2,7 Millionen. Diese Zahlen überraschen, denn zwischen 1948 und 1958 gab es zwei Millionen Vertriebene – Land- und Stadtbewohner. Tatsächlich ist die Geschichte Kolumbiens eine Geschichte der wiederholten zwangsweisen Umsiedlung – der Kolonisation.

Wie schätzen Sie mögliche Alternativen für die Bauern in diesen Regionen ein ? Existieren Formen des Widerstandes gegen diese Vorhaben?

Es gibt viele Anstrengungen seitens der Dorfgemeinschaften, Widerstand zu leisten. Die Indígenas und die afro-kolumbianische Bevölkerung verteidigen ihr Recht des nicht veräußerbaren kollektiven Landbesitzes. Die Bauern haben so genannte „reservas campesinas“ begründet, die zwar nicht die gleiche Garantie auf Unverkäuflichkeit haben, aber eine Form des legalen Schutzes darstellen. Allerdings konnten sie gerade einmal sechs dieser Reservationen errichten. Die Regierung Uribe erklärte eine davon für illegal. Außerdem organisieren sich „Gemeinschaften für Frieden und Leben“ (comunidades de paz y vida), die versuchen, auf dem Territorium zu bleiben oder zu diesem zurückzukehren, obwohl sie dauernd angegriffen werden, wie das in Cacarica oder Jiguamiandó in der Atrato-Ebene in Chocó geschehen ist. Diese Dörfer müssen eine Selbstversorgung organisieren, da durch Blockaden versucht wird, ihren Widerstand zu brechen. Um Massakern zu entgehen, versuchen andere Dörfer im Widerstand innerhalb des gleichen Territoriums umzusiedeln, ohne ihr Land verlassen zu müssen. Die Vertriebenen haben eine nationale Koordination der Vertriebenen gegründet und fordern ihre Rückkehr und Entschädigung.

Sie ziehen eine Verbindung zwischen Vertreibung und Agrarreform. Bedeutet das, dass es in Kolumbien eine neue Gruppe von Landeigentümern gibt?

Die Vertreibung hat einen Prozess in Gang gesetzt, der durch eine stark zunehmende Konzentration von Landbesitz und Spekulation gekennzeichnet ist. Der Hauptgrund dem Bauern die Parzelle wegzunehmen, ist die – angesichts der Megaprojekte für Straßen, Kraftwerke, Kanäle sowie den Bergbau und die Erdölförderung – zu erwartende Preissteigerung für das Land. Obwohl es eine neue Konzentration von ländlichem Besitz gibt, sind die Eigentümer nicht immer „neu“. Viele sind alte Landbesitzer, andere kommen aus dem Drogenhandel und dem Paramilitär. Aber der alte Großgrundbesitz ist dominierend.
Die gegenwärtige Regierung möchte diese neue Eigentumskonzentration institutionalisieren, um so die Landreform aufzulösen und bei der Gesetzgebung, hinsichtlich der Vorschriften für den Erwerb von Eigentum, einen Wandel zu begünstigen. Ich spreche hier von den so genannten „strategischen Allianzen“ oder „produktiven Verbänden“ zwischen Großgrundbesitzern, Unternehmern und Bauern, die ihr Land für riesige Palmenplantagen ihren „Mitgliedern“ zur Verfügung stellen. Ich glaube, dass die Vereinbarungen mit den Paramilitärs diese Linie der Regierung unterstützen.

Sollte Ihrer Meinung nach ein effizienter Agrarsektor eine Forderung für die kolumbianische Landwirtschaft sein?

Damit es einen effizienten Agrarsektor in Kolumbien geben kann, muss zunächst die Bedeutung der bäuerlichen Wirtschaft, der kulturellen Vielfalt, der indigenen und afrokolumbianischen Territorien und die Partizipation der comunidades anerkannt werden. Effizienz, im Sinne der Gewinne der Unternehmer, bedeutet normalerweise nicht, die Umweltkosten und noch viel weniger die sozialen, kulturellen und menschlichen Kosten einzubeziehen. Es bedarf deshalb einer Sichtweise von „Effizienz“, die nicht wirtschaftlich ist und eine Vision von Unternehmen, die von der Lebensqualität der Menschen und der Kontrolle der comunidades ausgeht.

Stellt das „Land-Bauern-Programm“ eine Alternative dar, die Agrarreform in Kolumbien zu erreichen; inwiefern kommt dieses Programm zum Tragen und wie ist es entstanden ?

Das mandato agrario ist ein 14-Punkte Programm Es wurde von verschiedenen Organisationen von Bauern, Indigenen und Afrokolumbianern erarbeitet und verabschiedet und wird von Gewerkschaften, Frauenorganisationen, Umweltaktivisten und anderen Teilen der nationalen Öffentlichkeit unterstützt. Es bezieht sich auf den Kampf für das Recht auf ein Leben in Würde, auf Land, Territorialität und Nahrungsmittelsouveränität und lehnt die amerikanische Freihandelszone ALCA und den bilateralen Freihandelsvertrag, den die Regierung Uribe im April mit den USA diskutieren wird, ab. Das mandato agrario fordert, dass den Bauern die 4,7 Millionen Hektar Land übergeben werden, die die Latifundistas vergeuden und den Vertriebenen ihr Land zurückgegeben wird. Von den beteiligten Organisationen haben sich zwölf zu der Convergencia campesina, negra e indígena (CNI) zusammengeschlossen.

In den Wahlen vom Oktober 2003 hat Präsident Alvaro Uribe Vélez eine Niederlage erfahren. Sein Referendum über die Kürzungen im Staatshauhalt wurde nicht angenommen und Kandidaten der Linke haben bedeutende Ämter übernommen, wie das Bürgermeisteramt von Bogotá und das Gouverneursamt im Cauca-Tal (siehe LN 354). Wie viel Gewicht haben diese Ereignisse für die Stärke der Opposition in Kolumbien?

Die Wahlen waren wie das Kind, das in dem Märchen schreit: „der König ist nackt“. Es wurde deutlich, dass Uribe nicht von 70 Prozent der Kolumbianer unterstützt wird, wie das die Medien immer wieder versichert hatten. Weniger als 18 Prozent stimmten für das Referendum. Das Scheitern des Referendums war ein großer Fehltritt für das Projekt Uribes und die Wiedergewinnung von Vertrauen seitens der Bevölkerung und der sozialen Institutionen. Die Umfragen ergaben, dass 64 Prozent der Kolumbianer seine Wirtschaftspolitik ablehnen. Aber die Wahlen stehen auch für die Ablehnung seines politischen Projekts und die Chance auf Verhandlungen für eine Lösung des bewaffneten Konflikts. Wir glauben, dass die Agrarreform der Schlüssel für eine Lösung ist.

Übersetzung: Tanja Rother

„Kämpfen, egal wofür“

Herr Diego Arsuaga, zeigt ihr Film eine wahre Geschichte?

Die Geschichte ist so nicht passiert. Aber die Herren von der Gesellschaft der Eisenbahnfreunde gibt es tatsächlich. Sie sind in Wirklichkeit aber noch viel verrückter, als ich sie im Film dargestellt habe. Als sie die für die Dreharbeiten restaurierte Dampflok besichtigen konnten, ging es zu wie auf einem Kindergartenausflug.

Sie scheinen sehr viel Sympathie für die alten Männer zu haben. Was verbindet Sie als junger Regisseur mit diesen Alten?

Erst einmal bin ich gar nicht mehr so jung! Aber es ist erstaunlich, jedes Mal, wenn ich mir eine Geschichte ausdenke, sind die Hauptfiguren, die dabei herauskommen, alte Menschen. Vielleicht liegt das daran, dass meine Großeltern mich sehr geprägt haben. Und die waren eben schon sehr alt. Montevideo wurde auch einmal von einem dänischen Regisseur als ‘Stadt, an der die Zukunft vorbeigegangen ist’ bezeichnet. Wahrscheinlich gibt es in mir auch irgendwie eine Sehnsucht nach der alten Zeit, in der es allen Menschen in Uruguay wirtschaftlich gut ging, und die ich selbst nicht mehr erlebt habe. Aber vielleicht kann man diese Sympathie auch gar nicht erklären, sie ist einfach da.

Ihr Film lässt sich an vielen Stellen politisch interpretieren. War das Ihre Absicht?

Ich finde es interessant, dass der Film in vielen Ländern sehr unterschiedlich interpretiert wird. Oft werden auch ganz verschiedene politische Aussagen wahrgenommen. In Brasilien beispielsweise hat man El último tren als Symbol für den Kampf des lateinamerikanischen Films gegen Hollywood verstanden. Ich denke, dass das Politische in meinem Film zu sehr an der Oberfläche bleibt, als dass man es als das zentrale Thema ansehen kann. Ich wollte auch gar keinen politischen Film machen. Dafür ist mir Politik oft gar nicht klar genug. Aber es könnte sogar sein, dass der Film am Ende politisch klarer ist, als ich es mir selbst bin.

Stellt der Film aber nicht vielleicht einen Protest gegen den Verkauf von staatlichem Eigentum dar?

Mir fällt es schwer, eine klare Position zum Thema Privatisierungen zu beziehen. Den Menschen in Argentinien zum Beispiel geht es nach der massiven Privatisierungspolitik so schlecht wie nie zuvor. In Brasilien hingegen hat der Verkauf von Staatseigentum nicht nur negative Folgen gehabt. Ich frage mich daher, ob die Privatisierung das Problem ist oder nicht vielmehr die Korruption den wirklichen Schaden anrichtet. Viele Länder haben einfach kein Geld – und das muss irgendwoher kommen: zum Beispiel aus einer Privatisierung. Wichtig ist am Ende vor allem die Frage, was mit diesem Geld geschieht?

Wie stellt sich denn dieses Problem in Uruguay dar?

Erst kürzlich hat in Uruguay ein Referendum stattgefunden, bei dem die Teilprivatisierung der staatlichen Ölgesellschaft abgelehnt wurde. Vor allem die Gewerkschaften und linke Abgeordnete haben bisher jegliche Privatisierung abgelehnt. Im Moment gilt es als nahezu sicher, dass am Jahresende der Kandidat der sozialistischen Partei zum Präsidenten gewählt wird. Und ich bin überzeugt, dass genau er es sein wird, der mit genau den Privatisierungen beginnen wird, die die Rechte bisher nicht durchsetzen konnte.

Hat es einen Zusammenhang gegeben zwischen dem Erscheinen Ihres Films in Uruguay und den Protesten gegen die Teilprivatisierung der Ölgesellschaft?

Nicht beabsichtigt. Es hat mich selbst überrascht, dass der Film für die Protestaktionen genutzt wurde. Eines Tages bekam ich ein Flugblatt in die Hand gedrückt, das El último tren als Protestfilm gegen die Privatisierung ankündigte.

Auch das Motto der Eisenbahnfreunde war dort zu lesen: „El patrimonio no se vende“ (Kulturerbe/Öffentliche Güter/Volkseigentum verkauft man nicht).
Stammt die Aussage von Ihnen?

Na ja, das Transparent mit diesem Spruch hing in meinem Film hinten an der Lokomotive. Die Wortwahl ist ziemlich veraltet. Die älteren Herren sind eben etwas in der Geschichte zurück geblieben. Das merkt man ja auch daran, wie sie im Film ihre Forderungen proklamieren.

Die Hauptdarsteller in Ihrem Film gehören drei Generationen an: Die älteren Herren von den Eisenbahnfreunden, der Unternehmer, der die Lok verkaufen will und der etwa 13-jährige Junge, der gemeinsam mit den Alten auf der gekaperten Lokomotive unterwegs ist. Inwiefern symbolisieren diese Charaktere die heutigen Generationen in Uruguay beziehungsweise in Lateinamerika?

Meiner Meinung nach unterscheiden sich diese drei Generationen in ihren Wertvorstellungen erheblich voneinander. In der Generation meiner Eltern wird man für das geachtet, was man ist. Meine Generation achtet sich für das, was man hat. Und für mich symbolisiert die Generation unserer Kinder, die Hoffnung auf eine Gesellschaft, deren Werte wieder humaner sind.

Werfen Sie der mittleren Generation vor, dass sie zu sehr auf materiellen Profit aus ist?

Ich selber gehöre ja auch dieser Generation an. Der Unternehmer im Film, der die Lokomotive in die USA verkaufen will, handelt nicht aus böser Absicht. Ich habe ihn auch nicht als schlechten Menschen dargestellt. Er steht für viele uruguayische Unternehmer heute, die durch ihre Geschäfte Arbeitsplätze schaffen und Devisen ins Land holen.
Dennoch gibt es auch einige unter uns, die nur an Profit denken. Es erschreckt mich immer wieder, dass in Uruguay Geld oft einen sehr viel höheren Stellenwert hat als Solidarität. Es war mir deshalb auch wichtig zu zeigen, dass sich die Menschen mit den Lok-Entführern solidarisieren.

Geht es tatsächlich um diese alte Lokomotive oder steht sie für etwas anderes?

Die Eisenbahn ist schon ein Symbol für die Verbindung zwischen kleinen verstreuten Dörfern in Uruguay. Aber im Grunde geht es nicht darum, wofür man kämpft. Den alten Männern ist die alte Lok wichtig, auch wenn es verrückt erscheinen mag. Aber eben das ist mir so wichtig: Es lohnt sich immer zu kämpfen – egal wofür. Als mein Film erschien, gab es in Lateinamerika scheinbar nichts, wofür zu kämpfen es sich gelohnt hätte. Ich hingegen glaube, dass es immer etwas gibt, für das man kämpfen kann. Das wollte ich in meinem Film deutlich machen.

Sehen Sie also die älteren Herren und den Jungen als Vertreter der beiden Generationen an, die kämpfen?

Die Generation meiner Eltern hat in ihrem Leben gekämpft, viele Männer waren im Krieg in Spanien. Und die Generation meiner Kinder wird auch wieder kämpfen. Ich bin mir sicher, dass meine Kinder, die heute zehn und sieben Jahre alt sind, in ihrem Leben noch eine Revolution mitmachen werden. Ich weiß nicht, wofür sie kämpfen werden, aber ich bin fest davon überzeugt, dass etwas passieren wird.

Tote Seelen und politisch Bewusste

Am ersten Tage zeigten wir uns die Zähne, am zweiten gaben wir uns die Hand, am dritten waren wir Arbeitskollegen, wenn auch mit unterschiedlichen Auffassungen.“ So urteilte ein Verantwortlicher der Regierungspartei „Bewegung Fünfte Republik“ über seinen Kontakt zum Beobachter der Opposition. Der nickte zustimmend.
Nicht nur Hugo Chávez’ Präsidentschaft soll per Referendum zur Disposition gestellt werden. Vom 20. bis 24. November wurden an über 2000 Punkten („Tischen“) Unterschriften gegen oppositionelle Abgeordnete gesammelt. Die wartenden WählerInnen wussten, warum sie unterschreiben wollten: Der Parlamentarier Carlos Santafe war im Juli 2000 auf der Liste der Regierungspartei und deren Bündnispartner gewählt worden und später zur Opposition übergelaufen. Andere Abgeordnete waren in den gescheiterten Putsch vom 11. April oder den „Generalstreik“ vom Dezember 2002 verwickelt oder engagierten sich öffentlich gegen die von Präsident Chávez eingeleiteten sozialen Maßnahmen. Zu diesen zählen: medizinische Betreuung und Alphabetisierung in den Armenvierteln, 200.000 Studienplätze, 500.000 Freistellen zum Erwerb des Abiturs für Kinder der Armen sowie die Verteilung von fast zwei Millionen Hektar Land.
Die durch Volksentscheid 1999 beschlossene „Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela“ ermöglicht es, jeden gewählten Mandatsträger – vom Gemeindevertreter bis zum Staatspräsidenten – nach der Hälfte seiner Amtsperiode abzuwählen. Dies ist ein wesentliches Element der in der Verfassung verankerten partizipativen Demokratie. Kommen Unterschriften von mindestens 20 Prozent der Wahlberechtigten zusammen, kann die Abberufung durch geheime Wahl beantragt werden. Votieren dann mehr Wahlberechtigte gegen den Abgeordneten als bei seiner ursprünglichen Wahl für ihn, muss er seinen Sitz zu Gunsten eines Nachrückers räumen und darf auch bei der nächsten Wahl nicht kandidieren.

Regierungspartei bleibt sachlich
Jetzt ging es darum, mit der Abwahl von 38 Abgeordneten das parlamentarische Kräfteverhältnis wieder mit dem ursprünglichen Willen der WählerInnen in Übereinstimmung zu bringen. Durch Übertritte war die Regierungsmehrheit auf zwei Sitze geschrumpft. Die Abberufungsreferenden, auf die sich Regierung und Opposition am 29. April 2003 durch internationale Vermittlung einigten, gelten als Chance, die Opposition auf legale und demokratische Wege der politischen Auseinandersetzung festzulegen.
Doch die Polarisierung in der Bevölkerung ist allerorten spürbar. Selbst einfache Menschen besitzen einen erstaunlich hohen Grad politischen Urteilsvermögens. Man hätte etwas zu verlieren, wenn die Politik wieder von den alten Parteien gemacht würde. Während der von der Regierungsseite getragenen ersten Etappe der Unterschriftenaktion (vom 20. bis 24. November) überwog spürbar der sachliche Dialog. Selbst die übermächtigen privaten Medien gaben sich gemäßigt, nachdem sie erstaunt registriert hatten, dass im einzigen staatlichen TV-Kanal auch prominente Oppositionelle zu Wort kamen und der Präsident sich persönlich – telefonisch zugeschaltet – an der Diskussion mit ihnen beteiligte.

Unterschriften gegen den Präsidenten
In der zweiten Etappe der Unterschriftenaktion (28. November bis 1. Dezember) sammelte die Opposition Stimmen gegen Abgeordnete der Regierungspartei und – Kernstück ihrer Aktion – gegen den Präsidenten. In den Villenvierteln im Osten und auf den Anhöhen im Süden von Caracas, von wo aus kein Blick auf die Elendsquartiere fällt, bildeten sich am frühen Morgen des ersten Tages lange Menschenschlangen – lärmend und triumphierend, oft voller Verachtung und Hass auf den politischen Gegner. Scharfe Töne bestimmten wieder das politische Klima. Die Abfertigung der Wahl verlief stockend. Man leistete nicht nur die Unterschrift, mit notwendigen Personaldaten und Fingerabdruck, sondern erhielt auch ein Kärtchen, auf dem die Personalangaben sowie die Nummer und Zeile der Unterschriftenliste eingetragen wurden, „zur Kontrolle und Erinnerung“, wie es hieß.
Die „Kontrolle“, ob man gegen den Präsidenten unterschrieben hatte, fand in der Folge meist durch den Arbeitgeber statt. Entlassungsdrohungen standen im Raum. Zudem hatte sich neben vielen Tischen eine private Computer-Firma aufgebaut, um durch Einloggen in die zentrale WählerInnenliste zu kontrollieren, ob der Unterschreibende dort richtig registriert war – eine bequeme Methode, eine Datenbank „zuverlässiger“ BürgerInnen zu erstellen. Beide Praktiken wurden vom Nationalen Wahlrat, ein vom obersten Gericht gewähltes und aus Vertretern beider Lager zusammengesetztes Gremium, bald untersagt. Dennoch verteilte die Opposition unablässig Sticker mit der Aufschrift „Ich habe unterschrieben“. In den „besseren“ Quartieren heftete man sie sich ans Revers, in den gemischten Vierteln klebte man sie für alle Fälle auf die Rückseite des Personalausweises, in den Armenvierteln wurden sie gar nicht erst angeboten.
Präsident Chávez zählte auf einer Kundgebung am 1. Dezember weitere Beeinflussungs- und Betrugsmanöver auf: gefälschte Personalausweise, „tote Seelen“ in den Listen, Doppelunterschriften, Druck auf Bewohner von Altersheimen und selbst auf Patienten von Nervenkliniken. Spätestens 30 Tage nach Einreichung der letzten Listen soll nun der Nationale Wahlrat alle Unterschriften geprüft haben und das Ergebnis bekannt geben. Nach ersten inoffiziellen Angaben der Regierungsseite sammelte die Opposition 1,95 Millionen Unterschriften gegen den Präsidenten. Die Gegenseite behauptete schon nach drei Tagen, 4 Millionen Stimmen gesammelt zu haben. Am Ende waren es in der oppositionellen Presse dann noch 3,8 Millionen. Um die Abwahl des Präsidenten zu beantragen, wären 2,4 Millionen Unterschriften erforderlich. Doch selbst wenn die Opposition diese Stimmenanzahl erreicht: Gegen Hugo Chávez müssten im Referendum mehr als jene 3,7 Millionen WählerInnen stimmen, die ihn einst wählten. Und eine geheime Wahl ist dann doch noch etwas anderes als eine Unterschriftensammlung in aufgeheizter Atmosphäre.

Der Autor weilte als Mitglied einer internationalen Beobachtergruppe vom 20.11. bis 2.12. in Venezuela.

Schwarzes Wochenende für den Präsidenten

Es war nicht sein Wochenende. Als ob er es geahnt hätte, schleppte sich am späten Sonntag Morgen des 26. Oktober ein zerknirschter und übermüdeter Alvaro Uribe Vélez an die Wahlurne, um das Kreuz für die Bürgermeisterwahl bei seinem Kandidaten Juan Lozano zu machen. Traditionell läutet der Präsident mit seiner Stimmabgabe am frühen Morgen den Wahltag ein. Uribe schien jedoch die Lust an der Symbolik abhanden gekommen zu sein. In den Knochen des Präsidenten steckte noch der Schmerz über das Scheitern des von ihm so gepuschten Referendums am Tag zuvor und die Ahnung, dass nur wenige Stunden später der Linkskandidat Luis Eduardo Garzón das Rennen um das Bürgermeisteramt der Hauptstadt Bogotá gewinnen würde.
Tatsächlich stieg die gemäßigte kolumbianische Linke in einer Konjunktur rechter Kasernenpolitik am letzten Oktober-Wochenende wie Phoenix aus der Asche empor. In der Hauptstadt Bogotá gewann der Kandidat der linken Sammelbewegung „Unabhängiger Demokratischer Pol“ (PDI), Luis Eduardo Garzón – auch bekannt als „Lucho“ –, mit 47 Prozent das Bürgermeisteramt und hat somit die nächsten vier Jahre den zweitwichtigsten Posten in der kolumbianischen Politik. „Man muss vor uns keine Angst haben“, rief Garzón seinen AnhängerInnen entgegen und stellte klar, dass seine Politik „kein Kampf zwischen Armen und Reichen“ werden wird.
Auch in anderen Regionen des Landes verbuchten linke und unabhängige Kandidaten Erfolge. In der Provinz Valle del Cauca gewann der Ex-Arbeitsminister unter Präsident Pastrana und PDI-Angehörige Angelino Garzón den Gouverneursposten, in der Metropole Medellín konnte entgegen allen Umfragen der Mathematik-Professor Sergio Fajardo von der Sozialen Indigenen-Allianz das Bürgermeisteramt erringen.

Chance für den Machtwechsel
Der Erfolg ist laut dem Analysten Ernesto Cortes Fierro ein deutliches Zeichen dafür, dass die gemässigte Linke in Kolumbien nun die Chance hat, an die Macht zu kommen. Ein Novum in der blutigen Geschichte Kolumbiens, nachdem diese in den letzten Jahrzehnten durch Hunderte von Morden seitens rechter Todesschwadrone aufgerieben und in den Untergrund getrieben wurde. Doch auch innere Querelen und ideologische Konflikte machten Fortschritte in den letzten Jahren zunichte. Nach dem Achtungserfolg von „Lucho“ Garzón vor eineinhalb Jahren bei den Präsidentschaftswahlen stellten Zerwürfnisse innerhalb des „Demokratischen Pols“ die Hoffnungen auf eine stabile linke Bewegung in Kolumbien in Frage. Mehrere Abgeordnete des „Demokratischen Pols“ sagten sich von der Linie Garzóns ab, um radikalere Positionen gegenüber Uribe zu vertreten. Der konnte diese im Wahlkampf zum Bürgermeister jedoch wieder auf seine Seite ziehen. Laut dem Analysten Daniel Samper Pinzón kennt keiner besser als der ehemalige Gewerkschafter „Lucho“ die Gründe für die vielfache Selbstzerstörung innerhalb der Linken und wüsste diese zu vermeiden.

Ein kolumbianischer Lula?
Der 52-jährige Garzón könnte als Abbild des brasilianischen Präsidenten „Lula“ da Silva gelten. Aufgewachsen ohne Vater und in bitterer Armut, verdiente sich „Lucho“ während der Schulzeit Geld als Kofferträger, Aushilfe in Tischlereien und kleineren Nebenjobs. Nach dem Abitur stieg er als Bote bei der staatlichen Erdölfirma Ecopetrol ein, bei der er eine 30 Jahre andauernde Karriere als Gewerkschafter begann. „Lucho“ war mehrere Jahre Vizepräsident der Erdölarbeitergewerkschaft USO sowie Präsident des Gewerkschaftsdachverbandes CUT.
Als hoher Gewerkschaftsfunktionär ging auch an ihm die Welle von Mordanschlägen nicht spurlos vorüber. 1986 verlor er seinen besten Freund Leonardo Posada von der Linksbewegung Unión Patriótica, die in den folgenden Jahren Tausende Mitglieder durch Anschläge verlieren sollte. Im Oktober 1998 wurde neben ihm während eines Streiks der Präsident der CUT, Jorge Luis Ortega, erschossen. Morddrohungen nahmen Überhand und Lucho und weitere Gewerkschafter den Weg ins Exil in die Schweiz. Dort hielt er es jedoch nicht lange aus. Im letzten Jahr kandidierte er – als erster Linker seit Jahren – bei den Präsidentschaftswahlen und fuhr mit knapp 700.000 Stimmen einen beachtlichen dritten Platz ein.
Trotz Grabenkämpfen in der eigenen Bewegung und der kolossalen Wahlkampfmaschine Uribe Vélez konnte „Lucho“ 17 Monate später bei der Kommunalwahl triumphieren. „Ab jetzt können wir niemandem mehr die Schuld geben, ab jetzt müssen wir mit absoluter Transparenz regieren“, so Garzón vor seinen AnhängerInnen in der Wahlnacht, in der er ihnen die kommende Verantwortung klar machte, da alle Augen auf ihnen haften würden.
Garzón kündigte statt autofreier Tage, die von seinen Vorgängern gefördert wurden, Tage ohne Hunger an. Alle Kinder in der durch Flüchtlinge rasant anwachsenden Hauptstadt sollen in den Genuss städtischer Ernährungsprogramme kommen. In den weitläufigen Armenviertel will Lucho Garzón bei Amtsantritt den sozialen Notstand ausrufen. Wie und womit er sein Sozialprogramm umsetzen will, liess er im Detail offen. Sicher wird jedoch die Opposition im Stadtrat gegen ihn sein, wenn er die Strategien der Vorgänger, die eine Rückeroberung des öffentlichen Raums und verschärfte Sicherheitspolitik betrieben, antastet.
Ein weiteres Problem könnte ihn zukünftig quälen: zehn Tage vor dem Urnengang zog die traditionelle Liberale Partei ihren Kandidaten zurück und kündigte die Unterstützung von Lucho an. Der nahm dankend an und zog somit eine kriselnde, aber in der Struktur mächtige Traditions-Partei ins Boot, die ihn unter Druck setzen und allzu linke Vorstellungen vom Tisch fegen könnte.
Für den Historiker und Schriftsteller Arturo Alape gehen von den Wahlsiegen wichtige Signale aus. „Bei der FARC-Guerilla sollten jetzt die Alarmsirenen läuten, da ein politisches Projekt mit sozialem Hintergrund offenbar Platz in der Demokratie hat“, so Alape. Tatsächlich stellt der Erfolg linker Kandidaten die Guerilla de facto vor eine schwierige Situation. Sollten die politischen Ziele der gerade Gewählten fruchten, könnte dies die brüchige Existenzgrundlage der linken Rebellenbewegungen überholen.

Schlappe für Uribe
Der Verlierer des Wahl-Wochenendes war zweifelsohne der rechte Präsident Uribe. Mit den neuen Lokalpolitikern, die teils in scharfer Opposition zu seinem militärischen Konfrontationskurs gegen die Rebellen und der Sicherheitspolitik stehen, wird das Regieren für den bisher unangefochtenen Uribe, der noch immer mit einer 75-prozentigen Unterstützung seitens der Bevölkerung rechnen kann, unbequemer.
Doch weit schlimmer entpuppte sich das Scheitern des sicher geglaubten Referendums einen Tag vor den Kommunalwahlen, das tiefe Einschnitte in der Haushaltspolitik und Staatsreformen vorsah. Die Gehälter von knapp einer Million öffentlich Angestellter sollte per Volksentscheid die nächsten zwei Jahre eingefroren sowie der Kongress deutlich verkleinert werden. Das Ziel: Einsparungen von mehr als 2,5 Milliarden Euro in den nächsten Jahren. Uribe pokerte mit seiner hohen Popularität und streifte durch Fernseh- und Radioshows. Auch durch Besuche bei der kolumbianischen TV-Version von „Big Brother“ und zahlreiche Debatten und Interviews erreichte er nicht die notwendige Beteiligung von mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten.
So musste das Kabinett wenige Tage später den so genannten „Plan B“ aus dem Boden stampfen, der die Finanzpolitik des Landes stabilisieren soll. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 17 Prozent, neue Steuern auf Renten und Eigentum sollen den Schuldendienst und die erhöhten Militärausgaben nicht ins Stocken geraten lassen.
Auch wenn Uribe bei dem Haushalt die Niederlage im Referendum durch andere Maßnahmen wettmachen kann, wird er die bisher verlässliche Geschlossenheit im Kongress nicht wieder erlangen können. Die Verletzlichkeit Uribes hat einige Abgeordnete seiner Linie zur Kritik ermutigt, die der Präsident mit harschen Worten abbügelte. Das Ergebnis sollte folgen: Zunächst wurde der bereits im Referendum existierende, aber vom Verfassungsgericht entfernte Punkt einer möglichen Wiederwahl von Präsidenten und Gouverneuren im Parlament abgelehnt, wenige Tage später geschah das Gleiche mit dem so genannten Antiterror-Statut, das dem Militär erweiterte Rechte bei Festnahmen und Durchsuchungen erlauben soll. Nur der skandalöse Abbruch der Abstimmung im Abgeordnetenhaus konnte zunächst eine sofortige Niederlage hinausschieben.

Innenminister nimmt den Hut
Das Fass zum Überlaufen brachte jedoch der polemische und umstrittene Innenminister Fernando Londoño Hoyos, der am 5. September einen möglichen Rücktritt des Präsidenten Uribe als Druckmittel in die Diskussion brachte. Um der Regierung den Rückhalt der Konservativen Partei, die enorm an Einfluss eingebüßt hat, zu sichern, sprach Londoño gegenüber deren Vertetern von einem möglichen Rücktritt Uribes, sollten ihm zukünftig die Hände wegen mangelnder Unterstützung gebunden sein. Die Ankündigung wurde von jemandem aufgenommen, machte in den Medien die Runde und besiegelte das politische Ende Londoños. Dieser hatte bereits in der Vergangenheit mehrfach Abgeordnete als „kiffende Politiker“ beschimpft, die Opposition gegen Uribe in die Nähe der Guerilla gestellt und in der Vergangenheit krumme Geschäfte mit Aktien gemacht.

Uribe als Workingclass Hero?
“Mir bleiben weitere sechs Jahre”, versicherte Uribe auf einer Veranstaltung nach Bekanntwerden des Eklats, nachdem Abgeordnete mutmassten, dass Londoño die wahren Gedanken Uribes widerspiegelte. „Drei Jahre tagsüber, und weitere drei Jahre, wenn man die Nächte an Arbeit zusammenzählt“, so Uribe. „Arbeiten, arbeiten und arbeiten“, heißt das ewige Motto des Präsidenten, das er laut der Kolumnistin María Jimena Duzán nach der Niederlage lieber in „Nachdenken, nachdenken und nachdenken“ ändern sollte, um sich wieder der Realität des Landes anzunähern.
Eine Niederlage, die laut der Politikwissenschaftlerin Adriana Delgado das Ende der „Einstimmigkeit“ zugunsten Uribes bedeutet und „im kontinentalen Kontext“ steht. „Der Sieg von Garzón in Bogotá ist das Ergebnis der Neuorientierung der lateinamerikanischen Linken, einer moderaten Linken, die versteht, dass sie eine Machtalternative mit einem neu konzipierten Sozial- und Wirtschaftsmodell ist.“

Nach der Schlacht ist vor der Schlacht

Nach wochenlangen Protesten übernahm der bisherige Vizepräsident Carlos Mesa am 17. Oktober 2003 die Regierung. Er trat mit dem Versprechen an, die wichtigsten Forderungen der DemonstrantInnen erfüllen zu wollen, die Anfang Oktober gegen die Vorgängerregierung auf die Straße gegangen waren. Seinen Plan, so schnell wie möglich Neuwahlen zu organisieren, hat er inzwischen zurückgenommen und will voraussichtlich bis 2007 regieren, wie von der Verfassung vorgesehen.
Die Anführer der Proteste haben ihm 90 Tage eingeräumt, um die 72 Punkte ihres Forderungskatalogs umzusetzen. Sie fordern unter anderem die Verstaatlichung der Bodenschätze und die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung (VV), die einen neuen Gesellschaftsvertrag aushandeln soll. Der Einberufung der VV und einer Volksabstimmung über die Zukunft der Gasvorkommen hat Mesa bereits zugestimmt. Damit hat er den Boden der Verfassung verlassen, die weder eine VV noch die Möglichkeit eines Referendums vorsieht. Die traditionellen Parteien verbannte er aus seiner neugebildeten Regierung; er berief ausschließlich Parteilose als Mi-nisterInnen. Jetzt steht er ohne institutionelle Basis da und es ist fraglich, ob er die Probleme und Fragen, die die Regierung von Sánchez de Lozada zum Scheitern brachten, unter diesen Umständen bewältigen kann.
Die Herausforderung für Mesa, genauso wie für die anderen Akteure und Akteurinnen, ist die Suche nach einer friedlichen Lösung aus der Hegemonie-Krise in der bolivianischen Gesellschaft. Zwei politische Blöcke mit völlig entgegengesetzten Vorstellungen von Bolivien und dem, wie es in Zukunft sein soll, stehen sich gegenüber.

Zwei Blöcke im Parlament
Bis zum Oktober diesen Jahres und noch darüber hinaus verlief eine Front durch das Parlament. Auf der einen Seite gab es die von Sánchez de Lozada geführte Koalition der drei traditionellen Parteien, bestehend aus der MNR (Nationalistische Revolutionäre Bewegung), der MIR (Linksrevolutionäre Bewegung) und der NFR (Neue Republikanische Front). Zusammen repräsentierten sie über 60 Prozent der Stimmen und verkörperten den politischen Status quo Boliviens. Auf der anderen Seite stand die Opposition, geführt von Evo Morales (MAS – Bewegung zum Sozialismus), mit einem Rückhalt von etwas mehr als einem Fünftel der WählerInnenstimmen und Felipe Quispe mit seiner Partei Indigene Bewegung Pachakutik (MIP), die etwa sechs Prozent erreicht hatte.
Die beiden Blöcke waren intern zerstritten, Einigkeit bestand nur in der gegenseitigen Abneigung. Während die Regierung für eine Fortsetzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik und die Beibehaltung des heutigen politischen Rahmens – also der Repräsentativen Demokratie – stand, kämpften Evo Morales und Felipe Quispe für eine Neugründung des bolivianischen Staates. Diese solle „das Ende des Kapitalismus auf bolivianischem Boden“ mit sich bringen und die Verwandlung „der so genannten Demokratie“ in eine „wahrhaftige Demokratie“ sein.
Was das im Detail bedeutet, liest sich im Parteiprogramm der MIP so: „Wir müssen zu den glorreichen Zeiten der Inkas zurückkehren (…). Alle westlichen Institutionen gehören abgeschafft“, denn Quispe ist sich sicher: „Der Aymara ist besser als das System.“ Im Programm der MAS heißt es: „In unseren Ländereien und Territorien waren Armut und Hunger unbekannt, alles war Leben. (…) Wir lebten in Gemeinschaften des Überflusses, wo das Leben vollkommene Harmonie, Brüderlichkeit und gegenseitiger Respekt mit der Mutter Erde war.“ Die MAS hingegen fordert keine Neueinrichtung des Inkareiches, sondern, dass sich „die Wirtschaft auf die Produktion von nachhaltigen Produkten stützen“ solle, womit hauptsächlich die Kokapflanze gemeint ist. Wirtschaftspolitisch zielt die MAS auf die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die Abschaffung des Marktes als zentrale Regulationsinstanz der Ökonomie.
Aufgrund der Unvereinbarkeit der Positionen von Opposition und Regierung schloss die Koalition die MAS und die MIP aus dem Gesetzgebungsprozess aus. Im Parlament nutzte die Regierung ihre Mehrheit, um ihre Projekte durchzubringen und die Opposition verlagerte ihre Proteste auf die Straße.
Die Regierung brillierte durch ihre Unfähigkeit sich in Sachfragen zu einigen und insbesondere durch die Pflege des Klientelismus. Hauptproblem zwischen den drei Koalitionspartnern war stets die Postenverteilung in Justiz und Verwaltung. Damit nährten sie das Vorurteil der Bevölkerung und der Medien gegenüber der Politik und trugen neben der fatalen wirtschaftlichen Lage zu einer rapiden Verschlechterung der Stimmung im Land bei. Immer mehr Menschen im Land begannen, das politischen System in Frage zu stellen.

Eine gespaltene Gesellschaft
Auf der gesellschaftlichen Ebene standen sich zahlreiche Gruppen gegenüber. Es lassen sich aber zwei größere Einheiten identifizieren. Die Cocaleros, die Gewerkschaften, die mobilisierten Aymaras aus der Gegend um den Titikakasee, die Landlosen-Bewegung und viele VerliererInnen der Reformen der letzten 20 Jahre – hauptsächlich Menschen indigener Abstammung, die in den Armenvierteln der großen Städten leben – bilden die eine Seite. Die andere formieren die Mittelklasse in den Städten, die Comites Cívicos (eine Art lokalpatriotische Bürgerkomitees aus dem Osten des Landes), eine von weißen BewohnerInnen aus Santa Cruz dominierte Organisation namens Nación Camba, die Unternehmerverbände und die traditionellen Parteien (MNR, MIR, NFR, ADN, UCS).
Auch auf der gesellschaftlichen Ebene dreht sich der Streit um das Selbstverständnis Boliviens und um die Frage, wie dieses Land in der nächsten Zukunft aussehen kann. Anders als auf der parlamentarischen Ebene gibt es hier allerdings vielfältigere Interessen als Neoliberalismus plus repräsentative Demokratie versus Ethnosozialismus. Den Cocaleros geht es hauptsächlich um die Bekämpfung der Drogenpolitik der USA und der Regierung, den Gewerkschaften geht es um eine Neubelebung ihrer Rolle im Land und um Sozialismus. Die Aymaras um Felipe Quispe sind für ein „ethnisch sauberes“ Hochland und die Wiedererrichtung des Inkareiches, die Landlosenbewegung kämpft für eine Umverteilung von Land. Die einkommensarmen Menschen in den Städten wollen eine Verbesserung ihrer katastrophalen Lage erreichen. Allen ist gemeinsam, dass sie den Versprechen der repräsentativen Demokratie und des Neoliberalismus auf eine bessere Zukunft keinen Glauben mehr schenken.
In Opposition dazu stehen Menschen und Gruppierungen, die auf keinen Fall bereit sind, einen ungewissen Weg zu gehen und den Status quo nur teilweise in Frage stellen. Der Mittelklasse geht es hauptsächlich um die Erhaltung ihres Besitzes. Die Comites Cívicos und die Nación Camba setzen sich für eine stärkere Dezentralisierung ein. Die UnternehmerInnen verfolgen ihre klassischen Interessen, und die traditionellen Parteien zielen auf die Erhaltung der repräsentativen Demokratie in ihrer derzeitigen Form.

Der Gas-„Krieg“ oder nur eine Schlacht?
Während sich die Unzufriedenen im „schwarzen Februar“ (vgl. LN 345) der eigenen Stärke bewusst wurden, fanden die AnhängerInnen der Stabilität keinen gemeinsamen Nenner. Die Regierung mit ihrem katastrophalen Image war außerstande, die einzelnen Interessengruppierungen hinter sich zu vereinen. Sie war durchgängig mit internen Streitereien und der Verwaltung der desaströsen wirtschaftlichen Lage ausgelastet.
Die SystemgegnerInnen hatten sich bei einem Treffen im Februar 2003 für das Ende des Jahres den Sturz Sánchez de Lozadas zum Ziel gesetzt. Unter den TeilnehmerInnen waren RepräsentantenInnen von MAS, MIP, den Gewerkschaften, den Landlosen und anderer Bewegungen. Über die Frage des Gasexportes sollten die BolivianerInnen mobilisiert werden, um „den Staat zurück in die Hände des Volkes zu holen.“ Laut eines bei diesem Treffen entstandenen Dokuments solle „die Judikative (…) durch Volksgerichte, die Legislative durch eine Verfassungsgebende Volksversammlung der indigenen Bevölkerung und die Exekutive durch eine Arbeiterregierung“ ersetzt werden. „Wenn es so weit ist,“ kündigte Felipe Quispe an, „machen wir eine bewaffnete Blockade (…), einen bewaffneten Aufstand, um die Regierung zu übernehmen.“

Die Mobilisierung
Offiziell hatte es von Seiten der Regierung nie Verhandlungen zum Thema Gas gegeben. Bis heute existiert kein zugängliches Dokument, das Kontakte mit Chile oder anderen Ländern bestätigt. Auch wurde nicht behauptet, der Export sei beschlossene Sache. Tatsächlich gab es Interessenten in den USA und Mexiko und einen Investor, der sich vorstellen konnte, den Export mit zu finanzieren. Fest stand, dass die multinationalen Konzerne nur 18 Prozent an Steuern hätten bezahlen sollen.
Das Thema eignete sich ideal, um eine breite Front von Protesten zu bündeln. Die Bezeichnung „Gaskrieg“ wurde geprägt und aus vielen verschiedenen Konflikten entstand eine geschlossene Mobilisierung, in der Nationalismus in verschiedenen Prägungen wie zum Beispiel Antichilenismus, Antiamerikanismus und die ethnische Zugehörigkeit eine zentrale Rolle spielte. Die Regierung unterschätzte die Kraft dieser Argumentation. Am Ende blieb ihr als einziges Mittel an der Macht zu bleiben nur die Anwendung von Gewalt. Es spielte keine Rolle mehr, dass sie nach wochenlangen Protesten in allen Fragen nachgab, denn es ging um den Sturz des Präsidenten. Dass dieser auch erfolgte, hatte weniger mit der Brutalität des Militärs zu tun als mit der Tatsache, dass sich der Vizepräsident des Landes, der konservative Journalist Carlos Mesa, von Sánchez de Lozada distanziert hatte. Damit bot er der Fraktion der Stabilitätsbefürworter eine Möglichkeit, sich zu mobilisieren, um das zu retten was zu retten war. Die Mittelklasse, die ausländischen Interessensgruppen, die Unternehmer und andere hätten wahrscheinlich, wenn auch nicht unbedingt aus Überzeugung, weiter die Regierung von Sánchez de Lozada unterstützt, wenn sie nicht die Möglichkeit einer „institutionellen Lösung“ gesehen hätten. Auch die weit verbreitete Idee eines nationalen oder eines Volks-Aufstandes ist problematisch. Außerhalb des Regierungsbezirkes La Paz hatte es kaum Zusammenstöße zwischen DemonstrantInnen und Polizei oder Armee und im Osten des Landes nur vereinzelte Proteste gegeben.

Die Aussichten
Schon jetzt hat die Regierung damit zu kämpfen, dass sie keinen Einfluss auf die parlamentarische Agenda hat. So wurde von einer Allianz aus der MAS und NFR die Steuergesetzgebung gekippt und Straffreiheit für SteuerhinterzieherInnen ermöglicht. Aufgrund des entstehenden finanziellen Schadens kann der Staat die Gehälter des Monats Dezember und das Weihnachtsgeld nicht auszahlen. Der Wirtschaftsminister Mesas spricht bereits offen über Hyperinflation und geht auf Betteltour bei den Geberländern. Land wird besetzt, obwohl eine Woche nach Antritt der neuen Regierung mit VertreterInnen der Landlosenbewegung ein Kompromiss unterschrieben wurde. Für Felipe Quispe und Evo Morales verkörpert Mesa die Fortsetzung der Politik von Sánchez de Lozada. Beide bekunden täglich, dass sie Mesa jeder Zeit stürzen könnten, wenn er sich einen Fehler erlaube. Mesa sei ein Produkt ihrer Proteste, sei also ihren Positionen verpflichtet. Schon jetzt merken alle, wie schwierig es sein wird, ein Referendum zum Thema Gas durchzuführen, ganz zu schweigen von der Komplexität einer neuen Verfassung durch eine Verfassungsgebende Versammlung.
Keiner der Konflikte, um die es in den letzten Wochen ging, wurde annähernd gelöst. Die beschriebenen Blöcke stehen sich weiterhin gegenüber und die Entscheidung, welcher davon das Land in den nächsten Jahren prägen wird, ist noch nicht gefallen. Wenn die Gesellschaft keinen politischen Weg findet, diese Fragen in nächster Zukunft zu beantworten, könnte es zu dem kommen, was DemonstrantInnen in La Paz tagelang forderten: „Bürgerkrieg!“

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