Neustart für Mesa oder neue Chance für Bolivien?

In seiner unangekündigten Fernsehansprache an das Land vom 6. März hat Präsident Carlos Mesa überraschend seinen Rücktritt für den folgenden Tag angekündigt und mit diesem „Medien-Coup“ Kritiker und Sympathisanten erheblich aus dem Gleichgewicht gebracht. In der ausführlich dargelegten Begründung erörterte ein sichtlich erregter und verärgerter Mesa, warum er unter den gegebenen Umständen nicht mehr in der Lage sei, das Land weiter zu regieren: Angesichts der anhaltenden Straßenblockaden in El Alto, im Chapare und diversen weiteren Orten Boliviens sei das Land als solches komplett lahmgelegt, was einen Einsatz von Polizei und Militär nötig machen würde, wofür er aber als Pazifist nicht zur Verfügung stehe.
In seiner Rücktrittsrede hat Mesa schwere Vorwürfe gegen Evo Morales, den Führer der MAS („Bewegung zum Sozialismus“) und Abel Mamani, den Führer der Fejuve (Zusammenschluß der Nachbarschaftsorganisationen) von El Alto, sowie gegen die Eliten von Santa Cruz und die Unternehmerschaft des Landes erhoben und diese für die Unregierbarkeit des Landes verantwortlich gemacht:
„Evo Morales tut sich leicht darin, Bolivien zu blockieren, weil das sehr bequem geht; Abgeordneter Evo Morales, es ist leicht, Bolivien zu blockieren, kommen Sie und regieren Sie und sie werden sehen, was die Verwaltung des Landes bedeutet, die Verantwortung eines Staatsmannes“. Und weiter: „Sie, verehrter Herr Morales, sind der Führer der Opposition, Sie können sich nicht mehr den Luxus erlauben, auf die Straße zu gehen wie ein Gewerkschaftsführer“.
Abel Mamani und der Fejuve warf Mesa realitätsferne und absurde Forderungen vor. Die Beendigung des Vertrages mit dem privaten Wasserversorger „Aguas del Illimani“ sei per Präsidialdekret vom Januar auf den Weg gebracht, eine sofortige Kündigung käme einem zusätzlichen „Tritt in den Hintern“ gleich, für den er nicht zur Verfügung stünde, und würde außerdem Ausgleichs- und Schadenersatzforderungen in Millionenhöhe nach sich ziehen.
Der Vorwurf an die politischen Führer von Santa Cruz und die Unternehmerschaft des Landes bezog sich auf deren latenten Separatismus und Egoismus, ihren insgesamt fehlenden Beitrag zur Entwicklung des gesamten Landes und die mangelnde Unterstützung der demokratisch legitimierten Regierung.
Die Anschuldigungen waren wirkungsvoll. Damit hatte Mesa die Vertreter der beiden extremen Pole des Landes aufgefordert, sich zu seiner Regierung zu positionieren. Lediglich die politischen Parteien und der Kongress blieben verbal verschont, doch diese mussten über das Rücktrittsgesuch befinden und waren insofern bereits stark in die Verantwortung für das Land genommen.

Die „Übereinkunft“

Nach Tagen und Stunden der Ungewissheit, wie es mit dem Land weitergehen würde, kristallisierte sich im Laufe des Montags, 7. März, eine Mehrheit für den Verbleib von Präsident Mesa heraus, die am folgenden Tag in einer „nationalen Übereinkunft“ und einer einmütigen Ablehnung des Rücktrittsgesuchs durch den Kongress ihre deutliche Bestätigung fand. Selbst die MAS stimmte für den Verbleib des Präsidenten, weniger aus Überzeugung, denn aus Sorge vor dem, was danach kommen würde: Bei einer Annahme des Rücktritts wäre der Senatspräsident Hormando Vaca Diez automatisch neuer Präsident des Landes geworden. Dies hätte nach Einschätzung der Opposition möglicherweise zu einem Bürgerkrieg und/oder Staatsstreich geführt.
In den Verhandlungen zwischen Exekutive und Legislative am Tag nach dem Rücktrittsgesuch waren alle bedeutenden, im Parlament vertretenen Parteien involviert, MNR, MIR, ADN, NFR und MAS. Als man sich dann mühsam auf ein Vier-Punkte-Programm als Grundlage für die Fortsetzung der Amtszeit von Präsident Mesa geeinigt hatte, verweigerte die MAS ihre Unterschrift und bezeichnete das Abkommen als „Pakt der Oligarchie“. Geeinigt hatte man sich auf eine minimale Agenda, welche folgende Punkte umfasst: Verabschiedung eines „rationalen“ (d.h. moderaten) Erdöl- und Erdgasgesetzes, die Wahl der Präfekten der Departamente, die Durchführung eines Referendums über die Autonomie der Departamente und die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung. Unannehmbar war für die MAS der erste Punkt, da Evo Morales darauf besteht, dass die Höhe der Konzessionsabgaben für die Erdöl- und Erdgasförderung 50 Prozent betragen müsse. Die moderatere Position vertritt ein Gesetz, welches 18 Prozent Konzessionsabgaben plus 32 Prozent Sondersteuern vorsieht. Dies macht insgesamt auch 50 Prozent aus, wie im Referendum von 2004 vorgesehen, hat aber den Nachteil, dass bei Steuern eigene Ausgaben und Investionen gegengerechnet werden können und somit nur ein Teil des Betrages in der Staatskasse ankommt.
Immerhin, auch ohne die Unterschrift der MAS-Abgeordneten war damit die Staatskrise erst einmal abgewendet und ein Aufatmen ging durch große Teile der Bevölkerung. Ein entscheidendes Detail wird bei der Übereinkunft von Präsident Mesa und der Mehrheit der großen im Kongress vertretenen Parteien von der Presse und den politischen Beobachtern gemeinhin geflissentlich übersehen: Nach den Ergebnissen der Kommunalwahlen vom Dezember 2004 vereinen diese Parteien (MNR, MIR, NFR, ADN) landesweit knapp 20 Prozent der Stimmen und damit etwa genauso viele wie die MAS alleine. Hier stellt sich also die Frage nach der gesellschaftlichen und politischen Repräsentativität der Parteien der „Übereinkunft“, welche von erheblicher Bedeutung für deren längerfristige Tragfähigkeit sein dürfte.

Neuer alter Präsident

Es darf über die tieferliegenden Motive Mesas für die Präsentation seines Rücktrittsgesuchs spekuliert werden. Waren es tatsächlich die landesweiten Blockaden und die Angst vor einer Wiederholung des Oktober 2003 ? War es die Verabschiedung eines moderaten Erdöl- und Erdgasgesetzes, welches Mesa für Unabdingbar für das Land hält ? Oder war es lediglich ein gut inszeniertes politisches Manöver, um die eigene Position zu stärken ?
Von vielen wird die Rücktrittsdrohung Mesas als kluger Schachzug mit kalkuliertem Risiko gesehen, der Evo Morales ins Abseits befördert und in Zugzwang bringt. Auf der anderen Seite hat Mesa den alten politischen Eliten und Parteien ein klares Bekenntnis zu seiner Präsidentschaft abgefordert und sie damit – zumindest für eine gewisse Zeit – erst einmal an sich gebunden. Nachdem es Mesa in den 17 Monaten seiner Regierung mit Vehemenz vermieden hat, den traditionellen Parteien zu dienen, hat er nun in einem gewagten politischen Manöver deren Unterstützung eingefordert.
Interessant ist, dass dies die poltische Führung von Santa Cruz mit ihrem Autonomie-Anspruch einschließt. Die alten Eliten mussten öffentlich eingestehen, dass Mesa trotz allem ihre beste Unterstützung gegen die Volksmassen ist, und sie auf ihn angewiesen sind. Im Gegenzug fordert Mesa nun deren öffentlich geäußerte Bereitschaft zur Hilfe.

Kampf um die Mittelschicht

Doch Mesa setzt auf die Rückendeckung beider Seiten: Mit seinem Aufruf an die Bevölkerung, am folgenden Donnerstagmittag friedlich gegen Blockaden und Blo-ckierer die Plätze des Landes zu füllen, setzt er nunmehr auf eine aktivere Beteiligung der Bevölkerung, als er es bisher getan hatte. Gleichzeitig hofft er auf einen „Sieg der Strasse“ gegenüber Evo Morales, der bisher mit seinen Blockaden die Hoheit über die Verkehrswege des Landes reklamiert und damit breite Volksunterstützung unterstellt. Auf der symbolischen Ebene ist dies der Versuch, Evo Morales auf seinem ureigenen Terrain der Massenmobilisierung zu schlagen, frei nach dem Motto „Auch wir sind das Volk!“.
Die Mittelschichten sind als stille Mehrheitsbeschaffer in der Demokratie wichtig – das gilt gleichermaßen für die traditionellen als auch für linke Parteien. Evo Morales‘ MAS hatte das nicht nur verstanden, sondern auch sehr erfolgreich in die Praxis umgesetzt, wie die Kommunalwahlen vom vergangenen Dezember gezeigt haben. Die MAS war mit großem Abstand als landesweit stärkste Partei daraus hervorgegangen und hat Dank linker bürgerlicher Kandidaten auch in den meisten Großstädten gute Ergebnisse erzielt. Damit scheint es nun vorbei.

„Politischer Selbstmord“ von Evo Morales?

Letztlich hat die Initiative von Mesa und das Ausscheren von Evo Morales aus der Übereinkunft zwischen Kongress und Präsident zu einer starken Polarisierung des politischen Panoramas geführt und es darf spekuliert werden, ob dies von Mesa intendiert oder aus seiner Sicht eine negative Nebenerscheinung ist. Klar zu sehen ist trotz der Beschwörung des nationalen „Sozialpakts“ eine scharfe Trennung zwischen altem Establishment und der Mittelschicht auf der einen und allen Unzufriedenen auf der anderen Seite.
In seiner Rücktrittsrede vom Sonntag hatte der Präsident schwere Anschuldigungen gegen Evo Morales und dessen MAS erhoben, mit denen er über viele Monate eine Art Ko-Regierung gegen den alten Apparat praktiziert hatte. Allerdings hat sich Evo Morales aus Sicht des Präsidenten als nicht politikfähig erwiesen, indem er einerseits stur auf einer Maximalforderung beharrt und andererseits nach einer Abstimmungsniederlage im Parlament zu Blockaden aufgerufen hatte, um die Entscheidung des Kongresses durch den Druck der Straße zu revidieren.
Das von Evo Morales hiermit zum Ausdruck gebrachte Verständnis von Demokratie hat mit Sicherheit einen Grossteil der Unterstützung der Mittelschicht, die er strategisch geschickt für die Kommunalwahlen im Dezember mobilisiert hatte, wieder verspielt. Die Vision „Evo Presidente 2007“ ist damit in weite Ferne gerückt.
Ziemlich überrascht und sprachlos zeigte sich Evo Morales. Als erste Reaktion auf die Übereinkunft von der Kongressmehrheit und dem Präsidenten hat der Führer des MAS zunächst den „Antioligarchischen Pakt“ mit den abgewirtschafteten oder teilweise diskreditierten Führern von Gewerkschaftsverbänden und sozialen Bewegungen geschmiedet. So hat bei der parteipolitisch und gewerkschaftlich organisierten Linken die Vereinbarung Mesas mit den traditionellen Parteien bisher zweierlei bewirkt. Zum Einen ein Zusammenrücken aller Kräfte jenseits der alten persönlichen Animositäten und Grabenkämpfe, manifest in dem Versuch, den ominösen „Generalstab des Volkes“ vom Oktober 2003 wiederzubeleben. Auf der anderen Seite treten aber auch die inhaltlichen Differenzen bei dem Versuch einer öffentlichen Positionierung stärker in den Vordergrund.
An erster Stelle der neuen Verbündeten von Evo Morales steht Jaime Solares, Vorsitzender des einst mächtigen und heute fast bedeutungslosen Gewerkschaftsdachverbandes COB (Central Obrera Boliviana). Es folgen Roberto de la Cruz, Stadtverordneter wider Willen und ehemaliger radikaler Gewerkschaftsführer von El Alto, der sich noch immer nicht zwischen beiden Rollen entscheiden kann; Abel Mamani, Präsident der Fejuve und selbsternannter Vorkämpfer der Rechte des Volkes von El Alto, mit zweifelhafter demokratischer Legitimation und begrenzter Unterstützung selbst in El Alto, wie der wenig erfolgreiche Streik für den sofortigen Abzug von Aguas de Illimani kürzlich gezeigt hat; Oscar Oliveira, ehemals Anführer der „Koordination für Wasser und für Leben“ in Cochabamba, zwischenzeitlich „Koordination für Gas“, momentan ohne nachvollziehbares Mandat; Román Loayza, einer der beiden Führer der gespaltenen Landarbeitergewerkschaft CSUTCB; Felipe Quispe, radikaler Aymara-„Mallku“ und Führer des zweiten Flügels der gespaltenen CSUTCB; Alejo Véliz, weiterer Bauernführer und ehemaliger Kampfgefährte von Evo Morales, derzeit Abgeordneter der einstigen Mitregierungspartei NFR.
Die Frage der Representativität, also im Namen des Volkes oder zumindest doch eines relevanten Segments zu sprechen, stellt sich hier ganz ähnlich wie bei den traditionellen politischen Parteien. Weiterhin ist fraglich, ob der „halbe Rücktritt“ von Mesa, wie er gelegentlich in den Medien genannt wurde, die linken und radikalen Bewegungen und Organisationen nicht überhaupt erst wieder zu neuem Leben erweckt hat.
Mesa hat öffentlich ein klares Bekenntnis zur gemischten Ökonomie abgelegt, „mit einer starken Rolle des Staates“. Eine Abkehr von Kapitalismus und Neoliberalismus ist das nicht, aber eben auch nicht deren Verteidigung um jeden Preis. Die Linke tut sich angesichts dieser Haltung schwer mit einer eigenen Positionsfindung. Problematisch ist auch, dass von den oppositionellen und radikalen Parteien im Parlament, MIP und MAS, viel zu wenig praktische Politik ausging. Hier wurde und wird eine grosse Chance vertan.
Hinzu kommt, dass die anti-neoliberalen Kräfte wenig geeint sind und über praktisch keine Vorschläge oder Alternativen verfügen. Jenseits des Slogans „die neoliberalen Ausbeuter müssen raus“ gibt es kaum Vorstellungen oder Perspektiven von einem anderen, gerechteren, besseren Staat. Lediglich der ganze radikale Flügel hat keine Schwierigkeiten: alles nationalisieren, entschädigungslos und sofort, lautet dort die Lösung.
Der Gewerkschaftsdachverband COB hat für diese Woche einen 48-stündigen Generalstreik angekündigt, den dann aber kurz danach auf Schulen und Krankenhäuser begrenzt – und somit wohl angesichts fehlender Unterstützung auf das große Kräftemessen mit der Regierung und ihren neuen Verbündeten verzichtet.
Einzig im Chapare gehen die Straßenblockaden mit unverminderter Härte weiter. Rund 1.500 LKWs sitzen fest und der Bevölkerung gehen allmählich Trinkwasser und Lebensmittel aus. Geht es einerseits um die Verabschiedung des Erdöl- und Erdgasgesetzes des MAS, so scheint eine andere Interpretation noch geeigneter, die Vehemenz der Blo-ckierer angesichts der eigenen Entbehrungen zu erklären: Hier werden die politischen und gewerkschaftlichen Strukturen zur Verteidigung des illegalen Koka-Anbaus, welcher die einzige tragfähige Lebensgrundlage der Bauern und ihrer Familien darstellt, mit äußerster Verzweiflung und Entschlossenheit verteidigt.
An der Spitze dieser Strukturen steht eine Person, Gewerkschafts- und Parteiführer Evo Morales. Noch vor kurzem als hoffnungsvoller Oppositionsführer und Staatsmann in halb Südamerika unterwegs (u.a. in Venezuela zu Gast bei Präsident Chávez und in Uruguay als Gast von Präsident Tabaré Vázquez), ist der MAS-Chef nun scheinbar wieder dort, wo er vor einigen Jahren angefangen hat: Als kämpferischer Vorsitzender eines regionalen Gewerkschaftszusammenschlusses im Chapare, der mit regelmäßigen Straßenblockaden die Hauptverkehrsachse des Landes blockiert, um die Vernichtung der Koka-Pflanzungen seiner Mitglieder zu verhindern.

EPILOG

Dienstag, 15.3.: Mesa fordert vorgezogene Neuwahlen

Kaum war der Präsident vom Kongress im Amt bestätigt worden und etwas Ruhe im Land eingekehrt, trat Mesa am Dienstagabend, den 15. März, erneut vor die TV-Kameras. Mitten in die Debatten des Parlaments über den umstrittenen Artikel 53 des Erdöl- und Erdgasgesetzes platzte Carlos Mesa mit der Aufforderung an den Kongress, seinen Gesetzesentwurf über vorgezogene Neuwahlen zu verabschieden, um so dem gesamten politischen System wieder die nötige Legitimität zu geben. Aus seiner Umgebung verlautete, anderfalls würde der Präsident „unwiderruflich zurücktreten“, womit der Vorstoss den Charakter eines Ultimatums erhielt. Und das Land hielt abermals den Atem an.

Mittwoch, 16.3.: „Mesa gibt auf“

„Mesa gibt auf“, titelte die Presse am nächsten Morgen und verkündete gleichzeitig die Verabschiedung des Artikel 53. Mit einer Mehrheit von 58 zu 47 Abgeordneten hatte man sich auf die Formel 18/32 geeinigt, d. h. Konzessionsabgaben in Höhe von 18 Prozent und eine Sondersteuer in Höhe von 32 Prozent. Allerdings wurde die Sondersteuer nach einem Vorschlag des Parlamentspräsidenten Mario Cossío nun derart definiert, dass sie praktisch der Konzessionsabgabe gleichkommt. Für Mesa eine klare Verletzung des „Übereinkommens“ durch den Kongress, welches ja ein „rationales“ Gesetz vorsehe, und wohl der Auslöser für den erneuten Vorstoss des Präsidenten.
Mit der Begründung, der Gesetzesentwurf würde erst nach Ostern im Senat behandelt werden, verfügt Evo Morales mit seinen Verbündeten die Aufhebung der Blockaden „bis auf weiteres“. Der von der COB ausgerufene Generalstreik wird nirgends im Land befolgt.

Donnerstag, 17.3.: Mesa macht weiter

Nachdem der Kongress am Vormittag des 17. März nach emotional geführter Debatte und heftigen Anschuldigungen an den Präsidenten die Verfügung von vorgezogenen Neuwahlen abgelehnt hatte, verblieb das Land in Erwartung des Rücktritts des Präsidenten und dessen, was danach wohl kommen würde. Für Spekulationen sorgte ein Treffen Mesas mit den Spitzen von Militär und Polizei am Nachmittag im Präsidentenpalast und es kursierte für kurze Zeit das Gerücht, das Militär würde die Macht übernehmen. Nach einer anschließenden langen Kabinettssitzung trat dann um 23 Uhr Präsident Mesa vor die Mikrophone der Presse, um seinen Verbleib an der Spitze des Landes zu verkünden. In einer kurzen Rede begründete er seine Entscheidung damit, dass er die Macht nicht an jemanden abgeben könne, „der keine Legitimation der heutigen Wahlstimmen“ hätte.
Damit hat Mesa zwar eine Entscheidung getroffen, doch es bleibt die erhebliche Unsicherheit bestehen, wie es mit dem Land weitergeht. Weit entfernt von der „Übereinkunft“ der vorigen Woche hat Mesa nun dem Parlament schwere Vorwürfe gemacht. Die Zustimmung zu Neuwahlen sei nicht gegeben worden, weil die Abgeordneten an ihren Sitzen und Diäten festhalten wollten. Diese Argumentation vergißt jedoch, dass ein Gesetz über vorgezogene Neuwahlen eindeutig gegen die bolivianische Verfassung verstossen hätte. Tatsache aber bleibt, dass aus politischem Kalkül derzeit keine der im Parlament vertretenen Parteien an Neuwahlen interessiert sind, denn es gäbe für sie nichts zu gewinnen.

„Der Druck aus der Gesellschaft für Veränderungen nimmt zu“

Zur Person: Raúl Rivero
Raúl Rivero wurde am 23. November 1945 in Morón, in der Nähe von Camagüey, der drittgrößten Stadt Kubas, geboren. Er gehört zum ersten Absolventenjahrgang der 1959 nach dem Sieg der kubanischen Revolution gegründeten Fakultät für Journalismus in Havanna. Danach arbeitete er für die Nachrichtenagentur „Prensa Latina“, unter anderem als Korrespondent in Moskau. Ende der siebziger Jahre wurde er Direktor für Öffentlichkeitsarbeit bei der kubanischen Schriftsteller- und Künstlerunion (UNEAC). 1991 brach er mit dem offiziellen Kuba, 1995 gründete er mit einer Gruppe von Journalisten die unabhängige Nachrichtenagentur „Cuba Press“, die ihre Artikel per Telefon in die USA, aber auch nach Spanien übermittelt. Am 20. März 2003 wurde Raúl Rivero in seiner Wohnung in Havanna verhaftet, am 7. April wegen „Vaterlandsverrat“ zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Nach zwanzig Monaten Haft erfolgte seine Freilassung aus gesundheitlichen Gründen am 30. November 2004.

Herr Rivero, wie fühlen Sie sich nach ihrer Freilassung?

Mir geht es gut, ich habe nur einige Probleme mit der Atmung und bin überaus motiviert, wieder zu arbeiten. Natürlich bin ich noch ein wenig durcheinander nach zwei Jahren Haft, der überraschenden Freilassung und dem Trubel der vergangenen Wochen.

Was hat zu Ihrer Freilassung geführt?

Ein Grund ist sicher die Erkrankung vieler Häftlinge aus der Gruppe der 75 (der Häftlinge, die im März 2003 verhaftet und zu Haftstrafen zwischen sechs und achtundzwanzig Jahren verurteilt wurden; Anm. der Red.). Ein anderer ist die internationale Reaktion nach unserer Verhaftung und Verurteilung. Vor allem in Europa hat die Presse, haben Schriftsteller, Künstler und Politiker dagegen protestiert und Druck ausgeübt. Mit dieser Reaktion und der permanenten Aufmerksamkeit hat die kubanische Regierung nicht gerechnet.

Denken Sie, dass weitere Häftlinge aus der Gruppe der 75 in den nächsten Wochen freigelassen werden?

Ja, ich denke, dass weitere Häftlinge freikommen werden, deren Gesundheitszustand zu wünschen übrig lässt. Die Regierung weiß, dass sich deren Zustand im Gefängnis verschlimmern wird und sie will nicht deren Leben aufs Spiel setzen. Ich vermute, dass nach und nach alle freikommen werden. Man wird nach Lösungen suchen, um auch die jüngeren Häftlinge ohne Gesichtsverlust auf freien Fuß zu setzen.

Wie waren Ihre Haftbedingungen?

Während der ersten elf Monate waren sie sehr schlecht. Ich war in einer sechs Quadratmeter großen Einzelzelle eingesperrt. Ein Loch im Boden diente als Toilette und 15 Minuten am Tag gab es Wasser aus dem Hahn. Die Zelle war verdreckt und dunkel. Die Fenster waren mit einer Metallplatte verschlossen. Nur eine halbe Stunde am Tag wurden wir in den Hof geführt. Im Winter war es bitterkalt und im Sommer brütend heiß. Ratten, Frösche, Moskitos und Spinnen machten uns zu schaffen. Ich bekam gesundheitliche Probleme. Diese Monate waren die schlimmsten der Haftzeit. Ich war total isoliert. Mithäftlinge bekam ich nur durch Zufall zu sehen. Über Klopfzeichen hatten wir manchmal Kontakt. Insgesamt saßen acht politische Häftlinge in der Haftanstalt „Canaleta“, nahe der Provinzstadt Ciego de Avila ein. Zwischen deren Zellen lagen immer drei oder vier andere, damit sie keinen Kontakt zueinander aufnehmen konnten.

Was haben Sie den ganzen Tag in der Zelle gemacht? Durften Sie Bücher lesen?

Ja, und ich durfte auch schreiben. Meine Frau brachte mir Papier und Stifte. Ich habe Gedichte geschrieben, ein Band davon wird demnächst in Spanien erscheinen. Zudem habe ich ein Tagebuch geführt, eine Art Chronik der Ereignisse.

Laut den kubanischen Untersuchungsbehörden haben Sie für die USA gearbeitet, wurden dafür bezahlt und deswegen zu der zwanzigjährigen Haftstrafe verurteilt. Wie denken Sie darüber?

Für die kubanische Regierung sind alle, die ihr nicht applaudieren, gegen sie. Sie werden nahezu automatisch als Agenten der CIA oder als Handlanger der US-Regierung angesehen. Ich bin Journalist und schreibe seit Jahren für internationale Zeitungen. Ich habe nie Geld von irgendeiner Regierung akzeptiert. Ich bin hier geboren, stamme aus einer patriotischen Familie und liebe mein Land. Ich bin davon überzeugt, dass wir Kubaner unsere Probleme selbst lösen müssen. Das ist nicht einfach, denn wir leben in einem System der Ausgrenzung und Diffamierung. Natürlich gibt es Enttäuschungen; so haben auch einige Künstler und Schriftsteller, teilweise gute Freunde von mir, die Anschuldigungen gegen mich öffentlich wiederholt. Aber ich bin, im Gegensatz zu anderen, ohne Hass aus dem Gefängnis entlassen worden. ich will eine konstruktive Position einnehmen. Ich kann vieles verstehen, weil ich weiß, wie das System in Kuba funktioniert und wie es die Angst schürt.

Was halten Sie von der Initiative des „Proyecto Varela“, ein Referendum über die politische Zukunft Kubas durchzuführen?

Die Idee, die hinter dem „Proyecto Varela“ steht, ist exzellent. Die Oppositionsgruppen in Kuba müssen sehr kreativ sein, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Das Proyecto Varela hat das geschafft. Die kubanische Regierung führt immer an, dass die Oppositionsgruppen winzig, zerstritten und kaum wahrnehmbar seien. Aber die kleine Gruppe von Oswaldo Payá hat es geschafft, die laut Verfassung für ein Referendum nötigen 10.000 Unterschriften zusammenzubringen.

Sie haben mehrere Einladungen nach Spanien vorliegen und es kursieren Gerüchte, dass sie nach Madrid ins Exil gehen werden. Wo wollen Sie zukünftig leben?

Ich möchte in meinem Land ungestört leben und arbeiten. Ich bin aufgrund meines Gesundheitszustandes aus dem Gefängnis entlassen worden. Ich bin nicht begnadigt worden, aber ich bin auch nicht unter Auflagen entlassen worden. Man hat mir bei meiner Haftentlassung gesagt, dass ich mein normales Leben wieder aufnehmen könne. Was das genau heißt, weiß ich nicht. Deshalb bin ich gespannt, was passiert, wenn ich im Januar die Erlaubnis zur Ausreise nach Spanien beantrage. Ich möchte gerne persönlich in Madrid einen Preis entgegennehmen und würde gerne nach Paris reisen, um den UNESCO-Journalistenpreis „Guillermo Cano“ entgegenzunehmen. Zudem habe ich eine Einladung des Bürgermeisters von Granada. Die Stadt bietet mir für ein Jahr ein Stipendium an, um dort in Ruhe zu arbeiten.
Vorausetzung für meine Ausreise ist, dass ich mit meiner Familie reisen und zurückkehren kann. Aber ich habe mich noch nicht entschieden und für mich ist nur eines klar: Ich werde meine Arbeit wieder aufnehmen. Ich werde wieder professionell, ehrlich und so objektiv wie möglich aus Kuba berichten. Doch ob das möglich ist, hängt nicht allein von mir ab.

Die kubanische Gesellschaft hat sich in den letzten fünfzehn Jahren sehr verändert. Wie beurteilen Sie diesen Wandel?

Die ökonomischen Probleme und die materiellen Nöte der Bevölkerung lassen sich durch Investitionen lösen, der moralische Verfall allerdings nicht. Es wird dauern, bis sich die Wunden schließen, der Hass, die Zerrissenheit vieler Familien, das Misstrauen sich legt. Viele Kubaner haben Konzessionen gemacht, der Opportunismus ist weit verbreitet und die eigene Meinung wird nur im engsten Kreis und manchmal nicht einmal da kundgetan. Das ethisch-moralische Wertesystem ist pervertiert worden und das ist meiner Meinung nach das Schlimmste am heutigen Kuba.
Aber es gibt noch etwas anderes: die blinde Begeisterung für die US-amerikanische Gesellschaft. Die Kubaner haben keine Ahnung, wie das Leben dort ist, trotz abertausender Telefongespräche, die zwischen den USA und Kuba täglich geführt werden. Die permanenten propagandistischen Angriffe der kubanischen Medien haben den Blick auf die Realität verstellt und daran hat der zunehmende Fernsehempfang genauso wie das Internet, zu dem sich immer mehr Kubaner heimlich Zutritt verschaffen, nichts geändert. Als ich Kind war, hätte kein Kubaner Kopftücher, Shorts oder andere Kleidungsstücke im Design der US-amerikanischen Flagge angezogen. Heute wird so etwas getragen. Ausländer werden in Kuba wie Elvis oder wie Außerirdische hofiert. Dem eigenen Selbstwertgefühl und der eigenen Identität ist das nicht sonderlich förderlich.

Wie sieht denn die kubanische Zukunft aus Ihrer Sicht aus?

Es wird, wenn auch in sehr kleinen Schritten, eine Modernisierung der Gesellschaft geben, die einen Wandel nach sich zieht. Dieser Prozess hat bereits begonnen: Die Freilassung von Mitgliedern der „Gruppe der 75“ ist dafür ein Beispiel. Ein neues Phänomen sind die Demonstrationen der „Damas de Blanco“ (Die Frauen der Inhaftierten gingen, ganz in Weiß gekleidet, auf die Straße und demonstrierten regelmäßig für deren Freilassung; Anm. der Red.). Früher haben sich die Angehörigen von politischen Gefangenen immer ruhig verhalten, um deren Situation nicht zu erschweren. Die „Damas de Blanco“ hingegen sorgten kontinuierlich für Aufmerksamkeit und ließen sich nicht einschüchtern.
Dies ist ein Beispiel dafür, dass der Druck aus der Gesellschaft für Veränderungen zunimmt. Man wird jedoch Geduld und Durchhaltevermögen haben müssen, um in kleinen Schritten zu Veränderungen zu kommen. Am Ende sollte eine plurale Gesellschaft stehen, in der man die unterschiedlichen Ideen und Meinungen toleriert. Ich bin überzeugt, das alle Kubaner das Recht auf eine eigene Meinung haben, das Recht sie offen zu artikulieren, für sie einzutreten genauso wie das Land zu verlassen und auch wieder zurückzukehren.

Welche Rolle könnte die Europäische Union in einem derartigen Prozess des graduellen Wechsels spielen?

Die Europäische Union hat schon eine wichtige Rolle gespielt, indem sie den Protest gegen die Verurteilung der 75 aufrechterhalten hat. Die Europäer haben vielfältige Erfahrungen mit dem gesellschaftlichen Umbau. Sie haben gelernt, für ihre Meinung einzutreten, und leben die Pluralität. Wir Kubaner können aus dem pluralen System Europas viel lernen: wie der Wahlkampf, die Regierungswechsel dort funktionieren. Natürlich gibt es Polemik, Diskussionen, Auseinandersetzungen, aber grundsätzlich gibt es Raum für die unterschiedlichen Meinungen. Europa könnte eine didaktische Rolle spielen – uns als Beispiel dienen, um eine neue plurale Gesellschaft aufzubauen. Eine Gesellschaft, die ihre eigene Kultur, ihre Sprache und Identität verteidigt und nach echten demokratischen Regeln funktioniert.

Neun neue Minister für ein bisschen Ruhe

Die Lage in Bolivien bleibt spannend. Neun der insgesamt 16 Minister des Kabinetts von Präsident Carlos Mesa mussten kurz vor dem Karneval ihren Hut nehmen. Der Grund dafür war nicht, dass der Präsident eine Neubesetzung wollte, sondern dass verschiedene Akteure der Zivilgesellschaft den Wechsel vehement gefordert hatten. Bereits 24 Stunden nach Vereidigung des neuen Kabinetts musste Mesa ein erneute personelle Änderung vornehmen. Die von ihm zuerst ernannte Gesundheitsministerin María Teresa Paz, konnte zwar Erfahrung in der Gesundheitspolitik aufweisen, gehörte aber der diskreditierten Partei MNR (Nationalistisch-Revolutionäre Bewegung) des ehemaligen Präsidenten Sánchez de Lozada an. Die Gewerkschaft des Gesundheitswesens mobilisierte zu einem Streik, um ihren Amtsantritt zu verhindern. Die Ministerin sei nicht im Konsens mit den Beschäftigten aus dem Gesundheitswesen ausgewählt worden, und außerdem als Mitglied der MNR eine Mörderin, lautete die Begründung der Gewerkschaft. Bei der Vereidigung der Nachfolgerin machte Mesa seinem Ärger Luft. Er beschwerte sich darüber, dass jede Gruppe partout die eigenen Interessen durchsetzen wolle und ihm dadurch keine Möglichkeit bliebe, irgendetwas zu entscheiden.

Die Personaldecke

Die Tatsache, dass der Präsident nicht einmal mehr in der Lage ist, das eigene Kabinett zu bestimmen, ist Ausdruck seiner schwierigen Lage. Ziel der Umbildung des Kabinetts – der größten seit dem Regierungsantritt im Oktober 2003 – war, die verschiedenen Bündnispartner der Regierung stärker einzubinden und gleichzeitig die Gegner zu besänftigen. Das ist allerdings keine leichte Aufgabe, angesichts der sehr dünnen Personaldecke, auf die Mesa zurückgreifen kann. Der parteilose Mesa will mit keiner der Parteien zusammenarbeiten, da er ihnen jegliche Repräsentativität abspricht. So ist es sehr schwierig, Menschen mit Erfahrung in der Politik für sein Projekt zu gewinnen. Dutzende haben das Angebot abgelehnt. Etliche weigern sich, in einer Gruppe zu arbeiten, die „keinen Plan besitze und wenn überhaupt, die Aufgabe einer politischen Feuerwehr übernommen habe“, wie aus Regierungskreisen zu hören war. Es ist daher nicht überraschend, dass die meisten Minister des alten und neuen Kabinetts sich aus dem Freundes- und Bekanntenkreis des Staatsoberhaupts rekrutieren. Einer der Minister stammt aus dem weiteren Beraterkreis des inoffiziellen Koalitionspartners und MAS-Vorsitzenden Evo Morales (Bewegung zum Sozialismus). Eine andere Quelle für die Berufung von MinisterInnen sind die Überreste der MBL (Bewegung Freies Bolivien). Die linksintellektuelle Partei regierte zusammen mit Sánchez de Lozada in den 90er Jahren und trat bei der letzten Wahl in gemeinsamen Listen mit der MNR an. Die MBL stellt zur Zeit vier Minister und verdankt ihre Macht zwei Faktoren: der persönlichen Freundschaft vieler ParteigenossInnen mit Mesa und der wichtigen Rolle einiger ihrer Führungspersönlichkeiten bei dem Sturz ihres ehemaligen Bündnispartners Sánchez de Lozada.
Gleich mehrere der zurückgetretenen MinisterInnen werden zukünftig als BeraterInnen an Mesas Seite weiterarbeiten. Der Präsident musste in einigen Fällen AnwärterInnen aus der zweiten Reihe ins Ministeramt heben, wollte jedoch auf ihm nahestehende MitstreiterInnen nicht verzichten. In Hinblick auf die kommende Politik der Regierung wird dadurch vor allem eines deutlich: der Wechsel ist voraussichtlich nicht inhaltlicher Natur.

Autonomie oder Constituyente

Zurzeit sind die Diskussionen um die geplante Verfassungsgebende Versammlung und die Autonomiebestrebungen hauptsächlich im Osten des Landes die Hauptthemen auf der Regierungsagenda. Noch zum Jahreswechsel war das nicht vorauszusehen. Bis dahin war die Frage der Autonomie für Regierung und Öffentlichkeit eher zweitrangig und die Diskussion um die Verfassungsgebende Versammlung erhitzte die Gemüter. Am 28. Januar, als sich je nach Quelle zwischen 150.000 und 350.000 Menschen in Santa Cruz versammelten, um Autonomie für ihr Departement zu fordern, änderte sich das rasch. Plötzlich trauten sich öffentliche Persönlichkeiten, die Notwendigkeit einer Verfassungsgebenden Versammlung vor 2007 in Frage zu stellen, andere sogar, das ganze Unterfangen für unnötig zu erklären.
Das Departement Santa Cruz ist die reichste Region des Landes. Hier wird 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukt erwirtschaftet. Zahlreiche Cruceños fordern nun einen Dezentralisierungsprozess nach dem spanischen Modell der autonomías. Die Region will also in Santa Cruz die Steuern zum Teil selbst erheben und verwalten.
Obwohl Mesa nach seinem Amtsantritt versprochen hatte, sich der Sache anzunehmen, vernachlässigte er sie angesichts anderer Themen, die ihm dringlicher erschienen. Besonders pikant ist das Ganze, weil außer Santa Cruz auch Tarija nach Autonomie streben könnte, wenn Santa Cruz Erfolg haben sollte. Damit wären die beiden Departements, die über die meisten Erdgasvorkommen verfügen, wichtige Entscheidungsträgerinnen in der Steuergesetzgebung und in der Zukunft des wichtigsten Industriezweigs. Darüber, wie mit dem Erdgas politisch zu verfahren sei, würde nicht mehr die Zentralregierung und das Parlament in La Paz alleine befinden. Die Fragen bezüglich der Konditionen des Exports und die Verstaatlichung oder höhere Besteuerung der Erdgasförderung waren zentrale Punkte im Streit, der 2003 zum Sturz von Sánchez de Lozada geführt hatte. Für die Hauptakteure der Revolte von Oktober 2003 würde dies eine herbe Niederlage bedeuten. Deshalb organisieren sie sich, um die Autonomie von Santa Cruz zu verhindern.

Neuer Akteur…

Santa Cruz wartete lange Zeit ab und beobachtete, wie die Forderungen anderer Sektoren erfüllt wurden. Die Cruceños identifizieren sich traditionell sehr stark mit ihrer Region. Dabei spielt die Ablehnung des Zentralismus eine wichtige Rolle. Diese Identität konnte aufgrund mangelnder Angebote der Regierung politisch genutzt werden und führte so zur Bildung einer neuen Front gegen die Regierung Mesa. Anfänglich drohte die Führung von Santa Cruz mit einer einseitigen und verfassungswidrigen Autonomieerklärung. Dies wurde verhindert, indem der Präsident einlenkte, nur einen Tag nachdem er seinem Kabinett versichert hatte, dass er in dieser Frage auf keinen Fall nachgeben würde. Er versprach ein Referendum zur Frage der Autonomie und rief zu direkten Wahlen der Departmentsregierungen auf. Die Führung von Santa Cruz verlangte aber weitere Opfer, darunter den Rücktritt einiger Minister. So wurde Mesa zur Entlassung seiner MitarbeiterInnen gezwungen.

…oder neues Gesicht?

In vielen politischen Analysen wird in diesem Prozess ein Wiedererstarken der Kräfte gesehen, die im Oktober 2003 die Macht verloren haben. Die traditionellen politischen Parteien büßten mit dem Sturz der Regierung Sánchez de Lozada stark an Legitimation und Ansehen ein. Gemeinsam mit weiten Teilen der Unternehmerschaft und den gesellschaftlichen Kräften, die die überwiegend neoliberalen Reformen der letzten 20 Jahre unterstützt haben, beginnen sie sich jetzt anscheinend wieder zu artikulieren. Immerhin hatten zuvor über 75 Prozent der WählerInnen kontinuierlich für Parteien gestimmt, die diese Reformen mit trugen. Die Initiative zur Diskussion über die Zukunft des Landes liegt nicht mehr allein bei denjenigen, die in La Paz und El Alto Sánchez de Lozada stürzten. Es sollte nicht vergessen werden, dass die MNR in den meisten Departements im Ostens des Landes bei den letzten Wahlen die Mehrheit stellte oder wie in Tarifa zweitstärkste Partei wurde. Im Oktober 2003 ging in diesen Regionen das Leben ganz normal weiter, während in El Alto und La Paz gekämpft wurde.
Während Felipe Quispe die Ausweisung „aller Juden, Kroaten und Libanesen“ fordert – in Anspielung auf die Herkunft vieler Führungspersönlichkeiten aus Santa Cruz – will Evo Morales hinter der Bewegung im Osten „oligarchische Machenschaften“ erkannt haben. „Wir sind 300.000 Oligarchen“ antworteten die selbstbewussten autonomistas. In dieser Diskussion spielt die Regierung Mesa eher eine Zuschauerrolle. Sie versucht, wie eine Trapezkünstlerin die Zeit zu überbrücken, bis eine dieser Seiten das Machtspiel für sich entscheiden kann. Alle hoffen, dass die Entscheidung mit der Verfassungsgebenden Versammlung kommen wird, wann immer diese auch stattfindet. Spätestens 2007 wird es soweit sein, dass beide Blöcke sich zur Wahl stellen. Bis dahin wird Mesa noch öfters nachgeben müssen. Denn er hat bewusst darauf verzichtet, eigene Entscheidungen mit Gewalt durchzusetzen. Das wissen beide Seiten und versuchen so, die jeweils eigene Position so weit wie möglich zu stärken, um am Ende als Sieger dazustehen. Es gibt keine Agenda der Regierung, sondern lediglich Forderungskataloge der KontrahentInnen. Mesa steht dazwischen, muss beide Seiten bedienen und kann nur abwarten.

Ein demokratischer Prozess

In drei unüberlegten Sätzen sprach die bolivianische Schönheitskönigin Gabriela Oviedo das fundamentale Problem ihres Landes aus. Während eines Fernsehinterviews am Rande der Wahl zur Miss Universum 2004 in Ecuador sagte sie: „Leider denken viele Leute, die nicht viel über Bolivien wissen, dass wir alle Indios sind. Dieses Bild ist von La Paz geprägt, von diesen armen Leuten, diesen Leuten von kleiner Statur – indianischen Leuten. Ich bin von der anderen Seite des Landes, dort ist es nicht kalt, wir sind groß und weiß und können Englisch.“
Man sollte Oviedo dankbar sein. Weil sie ungehemmt aussprach, was täglich um sie herum erzählt und praktiziert wird. Sie zeigte den Leuten, die „nicht viel über Bolivien wissen“, was in ihren Kreisen gedacht wird. Sie ist eine ganz normale wohlhabende Jugendliche aus Santa Cruz, die auf die Privatschule geht und gerne Telenovelas anschaut. Das Interview mit Oviedo ist ein seltenes Beweisstück für die Existenz starker, antidemokratischer und rassistischer Kräfte in Bolivien. Von dieser „Elite“, die bislang das postkoloniale Bolivien dominierte, kann man keine Demokratie erwarten. Der Status Quo – eine weiße Minderheit regiert über eine Indígena-Mehrheit – ist in ihrem Sinne. Sie versammelt sich hinter den Autonomieforderungen für Santa Cruz, dem wirtschaftlichen Zentrum des Landes. Es sind gewichtige Gruppen der Oligarchie: aus Wirtschaft, den traditionellen Parteien und den Medien. Ihre Interessen sind denen der Sozialen Bewegungen, dank derer der besagte Status Quo gerade aufbricht, in vieler Hinsicht entgegengesetzt. Autonomie für Santa Cruz fordert ein Teil Boliviens, der von der neoliberalen Politik und der alten Machtkonstellation profitierte – die weiße, besitzende Oberschicht. Sie will die Kontrolle über den Cruzenischen Staatsapparat erlangen und das heißt: die Exportpolitik bestimmen, internationale Kredite und Steuern der wirtschaftlich stärksten Region Boliviens kontrollieren, die Landverteilung regeln und die Landlosenbewegung zurückdrängen.
Eine Zeitlang war der Präsident Carlos Mesa eine wichtige, integrierende Figur. In dem Moment, in dem quasi aus dem Präsidentenpalast auf die nicht mehr zu bremsenden Mengen vor seinen Pforten geschossen wurde, konnte nur der besonnene Mesa – der sich deutlich von dem als Mörder und Gesetzesbrecher geltenden Gonzalo Sánchez de Lozada distanzierte – das Land zusammenhalten. Er ließ ein Referendum über den Export des Erdgases abhalten, schaffte das Monopol der Parteien auf politische Repräsentation ab und kündigte den Privatisierungsvertrag für Wasser in El Alto. Allerdings ist auch er inzwischen schwach geworden, kann dem stärker werdenden Druck der Oligarchie in Santa Cruz kaum noch standhalten. Jüngstes Beipiel ist die Umbildung des Kabinetts, in dem nun Santa Cruz besser repräsentiert ist. Dass er kürzlich die Steuer auf Benzin anhob, entlarvte ihn als neoliberalen Demokraten, dessen oberstes Ziel ist, alle Bolivianer und Bolivianerinnen in Marktsubjekte zu verwandeln. Demokratie heißt in dieser Lesart in erster Linie den Einzelnen als Steuerzahler und Konsument zu sehen. Er folgt damit dem alten neoliberalen Dogma, alles – selbst die grundlegenden Versorgungsgüter – in die monetären Kreisläufe zu integrieren, sie dem freien Spiel des Marktes zu überlassen und die Kosten für den Unterhalt des Staates auf die Masse abzuwälzen. Seine Politik des Verständnisses für die Forderungen der Marginalisierten erscheint nun als reines Taktieren – solange, bis wieder die alten Rezepte verschrieben werden können. Damit hat er viel Sympathie, die er in den Sozialen Bewegungen genoss, verspielt.
Es gibt also zwei Gründe für die verhinderte Demokratie in Bolivien, die miteinander verschränkt sind: Erstens der postkoloniale Staat, in dem der größte Teil der Gesellschaft rassistisch ausgegrenzt ist. Zweitens das neoliberale, reduzierte Demokratiemodell, in dem aktive soziale und politische Teilhabe keine Rolle spielt. Wirkliche Demokratie kann es nur mit den Sozialen Bewegungen geben, die beides fundamental hinterfragen. Genauer: es kann sie nur durch sie geben. Sie bestehen aus einem pluralen Netzwerk von Akteuren mit unterschiedlichen Interessen – Kokabauern, Landlose, Nachbarschaftsgruppen in El Alto, Hochlandbauern rund um den Titicacasee und viele andere mehr. Ihnen gemeinsam ist, dass sie in den vergangenen fünf Jahren mit Wucht in das politische Terrain eingedrungen sind. In anderen Worten: Der größere Teil der Bolivianer und Bolivianerinnen, der im postkolonial-rassistischen System ausgeschlossen war, kämpft um Repräsentation. Dieser Prozess läuft nicht einheitlich ab, sondern die verschiedenen Positionen der Sozialen Bewegungen werden – zum Großteil vermittelt über die Medien – permanent verhandelt. Allein dadurch – durch die öffentliche und verbindliche Verhandlungskultur – sind sie demokratischer als es das alte politische System je war. In das politische Terrain einzudringen heißt Bürgerrechte einzufordern – heißt: Teil eines Kollektivs von Gleichen sein zu wollen. Etwas, was die weiße Oligarchie der Unterschicht und den Indígenas bis auf den heutigen Tag verwehren will. Der in Gang gesetzte Prozess der öffentlichen Verhandlung, an der die bisher Ausgeschlossenen Teil haben, ist der Keim des neuen, demokratischen Boliviens. Anstelle von Sozialen Bewegungen wäre es deshalb konsequent, von einer Demokratiebewegung zu sprechen.
Freilich wäre es fatal, wenn die Demokratiebewegung das Ringen um Repräsentation und Partizipation als Kampf der Ethnien verstehen würde. Die Strömung um Felipe Quispe ist in dieser Hinsicht radikal und führt in die nationalistisch-ethnizistische Sackgasse. Aber: Die Frage „was ist und welche Rechte hat ein Indigena?“ ist in Bolivien noch nicht entschieden und ebenfalls stets Gegenstand der öffentlichen Verhandlung. Sie muss von der Demokratiebewegung beantwortet werden. Sie sollte den Ethnizismus, der ihr vom Rassismus der weißen Oligarchie und der Ethnisierung des bolivianischen politischen Systems aufgezwungen wird, überwinden – intelligenter sein, als die sie konstituierenden Strukturen.
Die Strömung um Evo Morales ist derzeit die einzige, die diese Integration leisten kann. Eine gemäßigte Position, die den Repräsentationsanspruch der Indígenas als Indígenas anerkennt und in demokratische Reformen überleiten möchte, eröffnet einen Weg. Wenn die rassistische Spaltung künftig in den staatlichen Institutionen nicht thematisiert und bekämpft wird, droht sie, sich zu zementieren. Deshalb ist es richtig, in der bevorstehenden Verfassungsgebenden Versammlung – notfalls mit Quoten – für Ausgewogenheit zu sorgen. Auch in der neuen Verfassung muss die Pluralität der sozialen Organisationsformen – Indígenagemeinden, Nachbarschaftsräte, Gewerkschaften, Parteien – stärker berücksichtigt werden. Ob dabei auch der antidemokratische Neoliberalismus überwunden werden kann, steht auf einem anderen Blatt.

Chávez verspricht eine „Agrarrevolution“

Dies ist ein historischer Tag: Das Land soll denen gehören, die es bearbeiten“, sagte Hugo Chávez Anfang Januar vor 10.000 KleinbäuerInnen in Caracas. Dort unterzeichnete der venezolanische Präsident ein Dekret zur Gründung einer Kommission für eine Landreform, die die Besitzverhältnisse und den brachliegenden Anteil großer Landgüter überprüfen soll. Aus Anlass des 145. Todestages des venezolanischen Bauernführers Ezequiel Zamora erklärte Chávez, der Kampf gegen den Großgrundbesitz sei vordringlich, da in Venezuela fünf Prozent aller LandeigentümerInnen über 80 Prozent des Agrarlandes verfügten, während 75 Prozent der ProduzentInnen lediglich sechs Prozent des Landes in ihren Händen hielten. Eine „Revolution auf dem Land“ solle erfolgen, denn werde die Landfrage nicht gelöst, verdiene der venezolanische Transformationsprozess den Namen Revolution nicht, so der Präsident.
Die verschiedenen Landarbeiter- und Kleinbauernorganisationen Venezuelas begrüßten die landwirtschaftliche Offensive. Denn seit Verabschiedung des Landgesetzes im Dezember 2001, das die in der Verfassung festgeschriebene Abschaffung des Großgrundbesitzes juristisch umsetzen sollte, war kein Land enteignet worden. Zwar verteilte das Nationale Landinstitut INTI (Instituto Nacional de Tierras) in den Jahren 2003 und 2004 insgesamt 2,3 Millionen Hektar Land an Kooperativen, doch dabei handelte es sich vorwiegend um brachliegendes Staatsland. Nun sollen innerhalb von sechs Monaten 100.000 landlose Familien enteignetes Agrarland zugeteilt bekommen. Laut Verfassung kann der Staat Agrarland, das nicht zu mindestens 80 Prozent produktiv genutzt wird, enteignen.
Chávez wies auch darauf hin, dass es nicht bei einer Umverteilung bleiben könne. Die Maßnahmen müssten von „integralen produktiven, wissenschaftlichen und technologischen Projekten sowie der Bereitstellung von Maschinen, Fortbildungen und Häusern“ begleitet werden. Er kündigte diesbezüglich an, dass die – in Kooperation mit dem Iran – anlaufende Produktion von 5.000 Traktoren jährlich für kleine AgrarproduzentInnen gedacht sei.
Mit der beschleunigten Umverteilung soll auch die Abhängigkeit Venezuelas von Nahrungsmittelimporten reduziert werden. Aktuell importiert der Erdölstaat über 70 Prozent seiner Lebensmittel.

Illegale LandbesitzerInnen enteignen

Nur wenige Tage vor den Ankündigungen des Präsidenten war Landwirtschaftsminister Arnoldo Márquez abgesetzt worden. Laut Chávez hatte die Maßnahme zwar keinen politischen Hintergrund, doch Márquez war von Bauernverbänden wiederholt dafür kritisiert worden, dass das Landwirtschaftsministerium unter seiner Führung finanzielle Mittel weiterhin an die traditionelle Klientel der großen Produzenten leiten würde. Kurz vor dem Referendum um die Abberufung Chávez’ im August war die gesamte Führungsriege des Landinstituts INTI mit der Begründung zurückgetreten, die vorgesehene Politik bezüglich der Landverteilung und der Unterstützung kleiner BäuerInnen und Kooperativen sei aufgrund des Vorgehens des Landwirtschaftsministeriums nicht umzusetzen.
Die von Basisorganisationen lang erwartete Landoffensive war von Chávez bereits im September 2004 angekündigt worden. In den vergangenen Wochen hatte INTI bereits angekündigt, über Beweise dafür zu verfügen, dass viele der GroßgrundbesitzerInnen, die behaupteten rechtmäßige BesitzerInnen von ausgedehnten Ländereien zu sein, sich diese illegal angeeignet hätten. Das INTI, so der Direktor Eliécer Otaiza, habe bisher 57 Latifundien und 600 brachliegende Landgüter ausgemacht. Im Falle von 20 Latifundien seien bereits Verwaltungsmaßnahmen in die Wege geleitet worden.
Ende Dezember 2004 verabschiedeten die Gouverneure der Bundesstaaten Cojedes, Monagas und Yaracuys Dekrete gegen den Großgrundbesitz. In den meisten Fällen handelt es sich allerdings um Staatsland, das sich Private widerrechtlich angeeignet haben. In den anderen Fällen sollen Entschädigungen bezahlt werden. Der Bürgermeister von Maracaibo kündigte die Enteignung brachliegender Ländereien der Venezolanischen Industriebank (BIV) an. Im Bundesstaat Cojedes wurde mit der Inspektion der 13.000 Hektar großen Rinderfarm „El Charcote“ der britischen Vestey-Gruppe begonnen. Staatsbeamte wurden bei der Inspektion des 200 Kilometer südwestlich von Caracas gelegenen Gutes von 200 SoldatInnen und PolizistInnen begleitet. Laut Angaben des INTI und des Landwirtschaftsministeriums könne das Unternehmen keine legalen Besitztitel vorweisen und nutze Staatsland. 80 Prozent des Landgutes sind bereits seit etwa vier Jahren von mehreren Hundert Familien besetzt. Die BesetzerInnen allerdings beschimpften die anwesenden Politiker des chavistisch regierten Bundesstaates als „Verräter“. Sie befürchten bei der Verteilung der Ländereien leer auszugehen und geräumt zu werden, da sich die Regierung des Bundesstaates noch nicht eindeutig zu dem Fall geäußert hat.

„Sofortige Agrarrevolution“ gegen „Agrarreformismus“

Die venezolanischen Landarbeiterorganisationen rufen die Regierung zu einem energischeren Vorgehen auf. In einem Kommuniqué der Nationalen Bauernfront Ezequiel Zamora (FNCEZ), einer der größten und aktivsten Bauernverbände, wird die „sofortige Agrarrevolution“ gefordert. Die FNCEZ wendet sich gegen den „Agrarreformismus“ und weist darauf hin, zur Überwindung des kapitalistischen Modells abhängiger Entwicklung sei es notwendig gegen Ineffizienz, Bürokratie, Korruption, Boykott der Kooperativen und die geringe Bereitschaft der Institutionen vorzugehen. Ansonsten könne „die Revolution auf dem Land, wie Chávez sie vorschlägt, nicht vollzogen werden“. Dafür fordert die FNCEZ die Anerkennung der besetzten Ländereien, eine direkte Beteiligung der Bauernorganisationen an den Maßnahmen, das Vorgehen gegen die Morde an Bauern und den Aufbau von bäuerlichen Verteidigungsbrigaden. Weiterhin verlangt die Organisation die Umwandlung der „Agrartitel“, die die Bauern und Bäuerinnen augenblicklich erhalten und die wenig legale Sicherheit bieten, in kollektive Besitztitel und einen direkten Dialog mit dem Präsidenten.
Die FNCEZ kritisiert außerdem das Programm des Landwirtschaftsministeriums und des Unternehmens Agroisleña zur Verteilung von Maissaatgut in Guarico, im Rahmen dessen genmanipuliertes und verdorbenes Saatgut an Kleinbauern und -bäuerinnen sowie Kooperativen verteilt worden sei und fordert, das Programm zu stoppen. Es war unter der Leitung von Ex-Landwirtschaftsminister Arnoldo Márquez in die Wege geleitet worden, dem daher die gezielte Sabotage kleinerer und mittlerer ProduzentInnen vorgeworfen wird. Ebenso wird die Klärung bezüglich des Vorgehens der Streitkräfte in Guasdalito im Bundesstaat Apure gegen die LandarbeiterInnenbewegung verlangt. Dort wurden in den vergangenen Monaten sieben Bauern verhaftet, einige gefoltert und einer von Armeeangehörigen ermordet. Venezuela steht vor dem Problem, dass viele Institutionen auf lokaler Ebene, auch Teile der Armee und Nationalgarde, nach wie vor im Dienste der GroßgrundbesitzerInnen stehen.
Die radikalen Teile der Opposition machen nun mobil gegen die anstehende Landreform. Der oppositionelle Viehzüchterverband Fedenagas erklärte, die Dekrete zur Landreform würden das verfassungsmäßige Recht auf Eigentum verletzen. Fedenagas werden Verbindungen zu Paramilitärs und Killertrupps nachgesagt, die in den vergangenen Jahren über 100 LandaktivistInnen, zuletzt Ende Dezember Alejandro Márquez im Bundesstaat Barinas, ermordeten. Einige Fedenagas-Mitglieder erklärten in der Vergangenheit offen, eine „bewaffnete Verteidigung“ sei ihr gutes Recht.
Auch die katholische Kirchenhierarchie, die den Putsch im April 2002 unterstützt hatte, stellte sich gegen die Dekrete zur Landreform. Doch andernorts stoßen die Maßnahmen zur „Abschaffung des Großgrundbesitzes“ auf breite Zustimmung. Selbst die Gouverneure der einzigen beiden oppositionell regierten Bundesstaaten Zulia und Nueva Esparta (Isla Margherita) befürworten die Landreform.

Uribe 2010?

Für die KolumbianerInnen, die sich an der Verfassung von 1991 und nicht am Medienspektakel orientieren, ist ein candidato-presidente ein verfassungsrechtliches Paradox, das undemokratische politische Praktiken verstärkt. Wie kann die Chancengleichheit der KandidatInnen gewährleistet werden? Wie kann verhindert werden, dass der Wahlkampf des amtierenden Präsidenten nicht aus der Staatskasse bezahlt wird? Letzteres ist mit der Wiederwahldebatte bereits geschehen.
Abgesehen von der Position, dass man die Institutionen zu respektieren habe, ist das Hauptargument der GegnerInnen des Wiederwahlprojekts, man dürfe die Regeln „nicht auf halbem Wege“ ändern. Die BefürworterInnen der Initiative des Präsidenten hingegen rechtfertigen unter Verweis auf die notwendige „Kontinuität“ eines politischen Projekts die Änderung der Verfassung. Das geplante Reformprojekt zur Wiederwahl beruht allerdings auch auf einer alten Tradition, nämlich der Bestechung. Ihre Bekämpfung war eigentlich einer der Punkte, mit dem Uribe bei den Wahlen 2002 53 Prozent (5,8 Millionen) der Stimmen auf sich vereinigte. Das könnte nun zum Problem werden. Trotz des zweifachen Nachweises von Stimmenkauf im Vorfeld des Beschlusses, scheint nun allenfalls noch zur Diskussion zu stehen, in wie vielen weiteren Fällen man sich nach allen Regeln des clientelismo der Zustimmung einzelner Abgeordneter versichert hat. Die öffentliche Meinung stellt dafür hauptsächlich die ParlamentarierInnen an den Pranger.

Justiz als letzte Hürde
Seit mehr als einem Jahr sind Debatten über Verfassungsänderungen praktisch an der Tagesordnung. Darüber scheint, zumindest im Spiegel der Mainstream-Presse, eine Spaltung oder Zersetzung innerhalb der beiden großen traditionellen Parteien vor sich zu gehen. Ausschlussdrohungen bei den Liberalen oder Identitätszweifel, die das „programmatische Abkommen“ der Konservativen mit dem parteilosen Präsidenten hervorbringt, sind bestenfalls noch kleine Hindernisse für das uribistische Projekt. Darüber hinaus beweist das „Phänomen Uribe“ einmal mehr den administrativen Filz, der seit dem 1957 geschlossenen Frieden zwischen Liberalen und Konservativen im exklusiven Herrschaftsprojekt existiert..
Was nun die Entscheidung des Gerichts betrifft, so geht es darum, zu beurteilen, ob das Verfahren der Abänderung „dem Geist der Verfassung“ entspreche. Dazu haben die RichterInnen sechs Monate Zeit und nach der Ratifizierung der Entscheidung im Parlament noch einmal drei Monate zu deren Überprüfung. Eigentlich schien sich das Verfassungsgericht bisher nicht völlig dem uribismo verschrieben zu haben. Die umstrittenen Anti-Terror-Statuten wurden Ende August auf Grund der in ihnen vorgesehenen erheblichen Befugniserweiterungen der Exekutive für antikonstitutionell erklärt. Doch inzwischen geht nicht nur der Präsident von einer Legitimierung seiner Kandidatur für die Wahlen 2006 aus. Er hatte zuvor versucht, sie den WählerInnen in einem Reformenpaket unterzujubeln, das eigentlich als umfangreiche Antikorruptionsinitiative konzipiert war.
Sie selbst sollten über die Kernpunkt in einem Referendum abstimmen können. Die Mehrheit der 15 schwer verständlichen Fragen, über die die BürgerInnen entscheiden sollten, zielte dann allerdings vor allem auf die Unterminierung öffentlicher Einrichtungen und weitere Privatisierungen ab. Das Referendum scheiterte Ende 2003 an der 25-Prozent-Hürde, als Uribe außerdem den historischen Erfolg einer vereinten politischen Linken bei den gleichzeitig stattfindenden Gouverneurs- und Bürgermeisterwahlen in den drei größten Städten des Landes hinnehmen musste.
Die aktuelle Reforminitiative Uribes beinhaltet auch, dass die großen Gewinner dieser Wahlen, Luis Eduardo Garzón als Bürgermeister von Bogotá und Angelino Garzón als Gouverneur der Provinz Valle del Cauca, jetzt schon de facto nicht mehr als Kandidaten für die nächste Präsidentschaft in Frage kommen. Zwar ist eine Regelung, die verbietet amtierende Bürgermeister oder Gouverneure für die nächsten Präsidentschaftswahlen aufzustellen, für ein lateinamerikanisches Land nichts Ungewöhnliches. Allerdings ist deren Einführung genau die „Änderung der Regeln auf halbem Wege“, die die GegnerInnen der neuen Verfassungsänderung kritisieren. Solche Bedenken bezüglich des allgemeinen Vorgehens des Präsidenten können die BefürworterInnen von Uribes Politik allerdings kaum beeindrucken.

Uribe gilt als
Garant für Stabilität
Ein Großteil der Medien befindet sich in den Händen von Uribes UnterstützerInnen – oder wie im Falle des Vizepräsidenten Santos, von Familienangehörigen. Mit dem Versprechen sowohl die Drogenökonomie als auch die bewaffnete Opposition „zu beseitigen“, sicherte er sich die Zustimmung des Establishments. Dieses hält sich an ein in erster Linie durch das Fernsehen vermitteltes Bild starker Entschlossenheit und ein neu gewonnenes Gefühl von Sicherheit.
Zufrieden mit dem Erfolg der Wiederwahlinitiative dürften die nordamerikanischen Freunde der Regierung sein, für die Uribe ein Garant der Kontinuität sicherheitspolitischer Kooperation und laufender Freihandelsgespräche ist. „Die US-Verfassung erlaubt die Wiederwahl eines Präsidenten“, erläuterte der US-amerikanische Botschafter in Kolumbien William Wood den Standpunkt seiner Regierung,„deswegen betrachten wir den Vorschlag nicht als anti-demokratisch.“ Auch eine große deutsche Tageszeitung titelte drei Tage später in ihrer Anleihen-Rubrik für Investoren „Kolumbien-Anleihen profitieren von Uribe als Stabilitätsgarant“. Dort wird dann auch auf die Würdigung des Landes durch den Entwicklungsbericht der Weltbank für 2005 „A Better Investment Climate for Everyone“ hingewiesen, wonach Kolumbien 2004 weltweit die zweitgrößten Fortschritte bei der Verbesserung des Investitionsklimas erzielt habe. Der damalige IWF-Vorsitzende Horst Köhler war bei seinem letzten Besuch in Kolumbien vor zwei Jahren dann auch voll des Lobes für Uribes Politik.

Auf neoliberalem Kurs
Und auch heute dürfte Köhler mit Uribe zufrieden sein – verschärft dieser doch zurzeit die Strukturanpassungsmaßnahmen nach dem neoliberalen Credo. Privatisierungen, Haushaltskürzungen und Steuerreform verstärken eine Umverteilung von unten nach oben. Trotz des konjunkturellen Aufschwungs steigen weiterhin die Schuldendienstquote und die absolute Armut, in der inzwischen fast zwei Drittel der Bevölkerung lebt. Die Ungleichverteilung der Einkommen und Vermögen wird auf dem Kontinent dabei nur noch von Brasilien übertroffen.
Uribe befindet sich im Wahlkampf, seit er sein Amt angetreten hat. Symptomatisch dafür ist der Rücktritt des Chefs der staatlichen Datenerhebungsbehörde (DANE). Er hatte sich geweigert, sich die Unterschlagung von weniger gefälligen Umfrageergebnissen zur Sicherheit in den Städten vorschreiben zu lassen.
Der nun beginnende Prozess der Prüfung, ob die Gesetzesnovelle verfassungsgemäß ist, wird nicht vor Oktober 2005 abgeschlossen sein. Dadurch könnte Uribe mit seinem Anliegen auf eine erneute Kandidatur zeitlich in die Bredouille geraten.
Sicher ist hingegen, dass sich die politische Landschaft Kolumbiens nach vier Jahren Uribe deutlich gewandelt hat. Davon könnte gerade die Linke profitieren. Die beiden größten linken parlamentarischen Kräfte haben kürzlich beide die Nominierung jeweils eines Vorab-Kandidaten bekannt gegeben. Es kandidieren der ehemalige Verfassungsrichter Carlos Gaviria von der Alternativa Democrática (AD) und Carlos Navarro Wolf für den Polo Democrático Independiente (PDI), der wie die meisten der parlamentarischen Protagonisten dieses Mitte-Links Bündnisses ein Mitglied der ehemaligen Guerilla M-19 war (s.LN 360). Das könnte sie in Zukunft zu Zielscheiben des Terrors werden lassen, mit dem die parlamentarische Linke seit jeher unterdrückt wurde. Bei den Wahlen 2006 werden die linken Parteien mit einer gemeinsamen Liste antreten und einen einzigen Kandidaten unterstützen, um die Chance auf eine politische Wende zu erhöhen. Diese wäre für Kolumbien von ähnlich historischer Einmaligkeit wie die Beendigung des zwei Parteien-Regimes durch die „Frente Amplio“ in Uruguay.

Jubel bis zum Morgengrauen

Wir sind drei Millionen konservative Anarchisten: Es gefällt uns nicht, wenn jemand uns etwas befiehlt und es fällt uns schwer, etwas zu ändern. Aber wenn wir uns entschieden haben etwas zu verändern, dann wird es ernst.“ So der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano über seine Landsleute. Am 31. Oktober machten die UruguayerInnen ernst. Und feierten sich danach in einen wahren Rausch. Bis in die frühen Morgenstunden war fast ganz Montevideo in Rot-Blau-Weiß, den Farben der Frente Amplio (Breite Front, FA), gefärbt. Die Menschen lagen sich in den Armen, es flossen Tränen über Tränen und überall gab es nur glückliche, erleichterte Gesichter zu sehen. Gesichter voller Hoffnungen und Erwartungen für ein ganzes Jahrzehnt. Zehntausende waren auf den Beinen, um das Ende einer Epoche (für allzu viele eines Alptraums) und den Beginn einer neuen Zeitrechnung zu bejubeln. So als wäre Uruguay zum dritten Mal Fußballweltmeister geworden. Die VerliererInnen waren völlig abgetaucht.
2.480.000 wahlpflichtige UruguayerInnen, mehr als eine Million davon allein in der Hauptstadt Montevideo, konnten zwischen acht Präsidentschaftskandidaten wählen, sowie 30 Senatoren und 99 Abgeordnete bestimmen. Sie entschieden sich für den historischen Wechsel. Mit 50,5 Prozent der abgegebenen Stimmen erreichte der 64-jährige Krebsspezialist Tabaré Vázquez, Kandidat des Linksbündnisses Encuentro Progresista – Frente Amplio – Nueva Mayoría (Fortschrittliche Vereinigung – Breite Front – Neue Mehrheit, EPFANM) im dritten Anlauf nach 1994 und 1999 bereits im ersten Wahlgang die notwendige absolute Mehrheit. Zum ersten Mal in der Geschichte des kleinen südamerikanischen Landes übernimmt damit ein linker Präsident die Verantwortung. Zum ersten Mal teilen die beiden konservativen Traditionsparteien Colorados und Blancos die Macht nicht unter sich auf.

Gallionsfigur der Linken
Ausschlaggebend für den knappen Sieg der Linken war wohl die Parteien und Generationen übergreifende Popularität von José „Pepe“ Mujica (siehe Artikel in dieser Ausgabe), in den späten 60er und frühen 70er Jahren führendes Mitglied der ehemaligen Stadtguerilla Tupamaros und seit zehn Jahren im Parlament die Gallionsfigur der daraus hervorgegangenen MPP (Movimiento Participación Popular). Auch die Stimmen der im Exil lebenden UruguayerInnen trugen zum Wahlerfolg bei. So kamen mehr als 30.000 Menschen zum Wählen ins Land gereist. Denn in Uruguay ist konsultatives Wählen, das heißt eine Abstimmung in der uruguayischen Botschaft im jeweiligen Aufenthaltsland, nicht möglich. Und erst die Linksregierung hat versprochen, dies schnellstens zu ermöglichen, obwohl sie dazu die Unterstützung einer weiteren Partei braucht. Circa 20.000 WählerInnen reisten aus Argentinien an, Tausende aus Brasilien und Hunderte aus Europa. Diese schon während der Militärdiktatur aus politischen Gründen ins Exil getriebenen UruguayerInnen sowie diejenigen, die aus wirtschaftlicher Not auswanderten, wählten in ihrer überwältigenden Mehrheit links.
Die Colorados, die im letzten Jahrhundert 17 Mal den Präsidenten stellten und den Staat seit seiner Gründung im Jahre 1825 als ihr persönliches Eigentum betrachten, wurden mit nur noch zehn Prozent der Stimmen buchstäblich hinweg gefegt. Das war vor allem für den scheidenden Präsidenten Jorge Batlle und seine Regierung eine schwere Demütigung. Die Abstrafung voraussehend, hatte Vizepräsident Hierro López wenige Tage vor der Wahl die Dummheit der UruguayerInnen für den zu erwartenden Sieg der Linken verantwortlich gemacht. Auf die Frage, warum so viele Menschen vermutlich links wählen würden, antwortete er schlicht: „Weil es den Uruguayern an Intelligenz fehlt.“

Ende einer Epoche
Vor allem für Batlles Vorgänger Julio María Sanguinetti, der das eigentliche Machtzentrum innerhalb der Partei verkörpert und seit über vier Jahrzehnten für Klientelismus steht, wird dieses Desaster das politische Aus einläuten. Die Colorados werden sich nicht so schnell von dieser Niederlage erholen. Und auch bei der Nationalpartei, den Blancos, weht ein neuer Wind aus dem Norden des Landes: Ihr Präsidentschaftskandidat, der Senator Jorge Larrañaga führte seine Partei zu unerwarteten 34 Prozent und festigte so seine Position gegenüber seinem innerparteilichen Rivalen Luis Alberto Lacalle, der das Land von 1990 bis 1995 regierte.
Neben der Marginalisierung der Colorados ist der Erfolg der ehemaligen Tupamaros das deutlichste Anzeichen für das Ende einer Epoche. Bis in die entlegensten Winkel des kaum bevölkerten Landes wurden die KandidatInnen der einstigen Stadtguerilla gewählt. Mit 30 Prozent stellt die MPP innerhalb des Linksbündnisses den mit Abstand stärksten Sektor und erreichte allein deutlich mehr Stimmen als die gesamte Colorado-Partei mit ihren verschiedenen Listen. „Aus dem Gefängnis in die Regierung“ könnte man diesen langen Weg seit Anfang der 1970er Jahre beschreiben.

Dissens in Einigkeit
Die 1971 gegründete Frente Amplio, das Herzstück des Bündnisses EPFANM, ist keine eilig zusammengeschusterte Wahlallianz, sondern das älteste politische Linksbündnis in Lateinamerika. Unter dem Grundsatz „Dissens in Einigkeit“ beherbergt sie KommunistInnen, SozialistInnen, ehemalige bewaffnete Stadtguerriller@s und ChristdemokratInnen. Die für die lateinamerikanische Linke (und generell die Linke) nicht gerade typische Einigkeit wurde in einem Dialogprozess vor allem seit dem Ende der Militärdiktatur im Jahre 1984 mühsam erarbeitet. Einer der Architekten dieser Einheit, der Mitgründer der Frente Amplio General Líber Seregni, durfte den Triumph allerdings nicht mehr erleben: Die unumstrittene Symbolfigur der uruguayischen Linken starb 87jährig im Juni 2004. Vázquez widmete dem verstorbenen Präsidenten der Frente Amplio den errungenen Wahlsieg.
Dass die Einigkeit trägt, wurde während des Wahlkampfs deutlich: Die Breite Front stand wie eine Wand sowohl gegen die Kritik von links am eher liberal eingestellten designierten Wirtschafts- und Finanzminister Danilo Astori, als auch gegen die Hetzkampagnen der Colorados. Diese diffamierten vor allem die Tupamaros wegen ihrer bewaffneten Aktionen in der Vergangenheit. Der Erfolg des Bündnisses wäre ohne die Unermüdlichkeit tausender HelferInnen in den Basiskomitees nie erreicht worden. Tabaré Vázquez weiß, dass die Frente Amplio eher eine Bewegung als ein Zusammenschluss von Parteien ist, mit der sich fast die Hälfte der Bevölkerung absolut identifiziert. So skandierten die Menschen immer wieder: „El Frente soy yo – Die Frente bin ich“. Und Vázquez weiß ebenso, dass er ohne die aktive Partizipation der Menschen nichts erreichen wird. Deshalb waren seine ersten Worte nach dem Triumph: „Feiert UruguayerInnen, Feiert! Der Sieg ist euer. Vielen, vielen Dank.“

Auslandsverschuldung
als Sprengsatz
Die größten Differenzen innerhalb der FA gibt es zweifellos zwischen der von Mujica angeführten MPP und der Liste von Astori. Dieser votierte in seiner Amtszeit als Senator in den letzten beiden Legislaturperioden nicht selten mit den Konservativen und stellte sich damit gegen das Bündnis. Zuletzt beim Referendum über die Teilprivatisierung der staatlichen Raffinerie ANCAP im Dezember 2003. Die Privatisierung wurde von der uruguayischen Bevölkerung mit 62 Prozent der Stimmen abgelehnt. (Siehe LN 354).
Kurz vor der Präsidentschaftswahl kündigte Astori an, dass in der Wirtschafts- und Finanzpolitik keine radikalen Veränderungen zu erwarten seien und die neue Regierung sich am Modell der brasilianischen Regierung orientieren wolle. „Die Erfahrung der Regierung unter Präsident Lula zeigt den Uruguayern, dass die Linke an die Macht kommen und Veränderungen durchführen kann, ohne jemanden zu verschrecken. Die Kontrolle der Inflation und die Erfüllung der Verpflichtungen gegenüber den internationalen Organisationen können auch von der Linken ausgeführt werden. Das Problem ist nur das Wie.” Um dieses Wie auszuloten, hatte Astori schon vor dem Wahlsonntag Kontakt mit IWF und Weltbank aufgenommen.
Dem gegenüber steht die Haltung von José Mujica, der nach der Wahl bekräftigte, was er zuvor in zahlreichen Interviews geäußert hatte: „Wir müssen verhandeln, wieder neu verhandeln und wieder verhandeln, weil wir eine Verschuldung haben, die nicht bezahlbar ist. Wir wissen, dass wir diese Schuld nicht bezahlen können und die internationalen Institutionen wissen das auch.“ Wie mit der Bürde von 12,8 Milliarden US-Dollar Auslandsverschuldung umzugehen ist, eine Summe, die deutlich über dem bei 11,7 Milliarden Dollar liegenden Bruttoinlandsprodukts von 2003 liegt, dürfte die erste harte Bewährungsprobe für Tabaré Vázquez werden, der am 1. März 2005 sein Amt antritt.
Viel hängt von seiner glücklichen Hand beim Moderieren zwischen Träumen, Erwartungen und der brutalen Realität ab. Und von seiner Fähigkeit, die Einheit des Bündnisses zu bewahren. Zugute kommt ihm dabei seine absolute Integrität und sein Ruf als „ehrliche Haut“.
Für Vázquez selbst stehen zwei Punkte an vorderster Stelle: die Bekämpfung der Korruption und die Schaffung von Arbeitsplätzen. „Wir werden eine ehrliche Regierung sein. Wir können Fehler machen, das ist menschlich. Aber wir werden uns niemals bestechen lassen. Niemand wird in die Kasse greifen.“
Arbeitsplätze sollen vor allem durch die Wiederbelebung der landwirtschaftlichen Produktion, die Förderung kleiner Betriebe und Unternehmen sowie mit Investitionen in die Bildung geschaffen werden. Wo das Geld dafür herkommen soll, blieb in den ersten Tagen nach der Wahl noch ein Geheimnis.

Das Schicksal
der Verschwunden
Ein weiterer Programmpunkt, den der zukünftige Präsident bei der eindrucksvollen Abschlusskundgebung vier Tage vor der Wahl vor 300.000 Menschen ankündigte, ist die Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen aus der Zeit der Militärdiktatur.
Obwohl durch ein Plebiszit im Jahre 1989 die Straflosigkeit für die Militärs festgeschrieben wurde, lässt das Gesetz zu, dass Zivilpersonen für begangene Taten verantwortlich gemacht werden können. So waren allein drei der vier Diktatoren in den 70er und 80er Jahren Zivilpersonen, wie zum Beispiel Julio María Bordaberry. Dieser konnte sich bislang auf den Schutz und die Unterstützung durch Colorados und Blancos verlassen. Immerhin war Julio María Sanguinetti unter Bordaberry Minister für Erziehung und Kultur.
„Uruguay ist das Land, dass sich am wenigsten um die Aufarbeitung der Militärdiktatur bemüht hat. Nicht ein Militär, nicht ein Polizist musste sich für seine Verbrechen verantworten“, sagt Sara Méndez, die 26 Jahre nach ihrem Sohn Simon suchte, der 1976 von den Militärs in Argentinien geraubt wurde. Nicht nur Sara Méndez hofft, dass sich das unter Tabaré Vázquez nun ändern wird.
Viel Zeit bleibt nicht. Und vor allem Mujica drückt aufs Tempo. „Dieses Volk ist nicht mehr in der Lage, lange zu warten. Es braucht Taten. Und es soll mir niemand mit Utopien kommen, die in 50 Jahren Realität werden. Wir müssen die Probleme heute lösen. In den ersten sechs, sieben Monaten müssen wir alles erreichen und das danach fünf Jahre verteidigen. Ich bin es satt, immer zu hören, das geht nicht und das auch nicht, und zum Schluss geht gar nichts.“

Untergang der Hardliner

Enrique Mendoza und Henrique Salas Feo sind die wohl prominentesten Verlierer der Regionalwahlen am letzten Oktobersonntag. Mit Mendoza hat einer der radikalsten Gegner von Präsident Hugo Chávez Frías seinen Gouverneursposten im Bundesstaat Miranda verloren. Diosdado Cabello, der als Kandidat der Bewegung 5. Republik (MVR) von Chávez diesen wichtigen Bundesstaat gewonnen hat, befindet sich in guter Gesellschaft. Die Chavisten gewannen insgesamt 20 der 22 Bundesstaaten.
Miranda ist mit zweieinhalb Millionen EinwohnerInnen der zweitgrößte Bundesstaat Venezuelas und außerdem einer der wohlhabendsten. Gouverneur Mendoza, schon seit zehn Jahren im Amt, galt lange Zeit als aussichtsreichster Kandidat der Opposition im Falle vorzeitiger Neuwahlen – während des Popularitätstiefs von Chávez im Jahr 2003 ebenso wie während der Kampagne zur Absetzung des Präsidenten in diesem Sommer. Nun könnte Mendozas Politikerkarriere abrupt enden. Mit seiner Niederlage ist er mehr als nur sein Amt los, denn der Regierungsapparat in Miranda wurde bisher auch intensiv für die politische Auseinandersetzung mit Chávez genutzt. In der Person Diosdado Cabellos säße in Zukunft ein loyaler Chávez-Anhänger auf dem Gouverneursposten. Der ehemalige Offizier leistete Chávez bereits mehrfach gute Dienste: während des Putsches 2002, sowie während des Referendums in diesem Jahr.

Duell verloren
Auch das zweite bedeutende Duell dieser Wahlen hat die Opposition verloren. Zum zweiten Mal in Folge gewann mit Juan Barreto ein chavistischer Kandidat das wichtige Bürgermeisteramt von Groß-Caracas. Was für die AnhängerInnen des Präsidenten eine besondere Genugtuung ist: Der vor fünf Jahren gewählte Bürgermeister Alfredo Peña muss seinen Posten räumen. Dieser hatte nämlich kurz nach seiner Wahl die Seiten gewechselt und sich als einer der aggressivsten Gegner der „bolivarianischen Revolution“ entpuppt.
Peña spielte beim Putschversuch im April 2002 eine der Hauptrollen. Die von ihm befehligte Policía Metropolitana war in das Komplott von UnternehmerInnen, rechten Gewerkschaften, Medien und einigen Militärs verstrickt. Der Anfang dieses Jahres veröffentlichte Dokumentarfilm Schlüsselszenen eines Massakers des Regisseurs Angel Palacios beweist, wie die Polizeikräfte Peñas aus gepanzerten Fahrzeugen auf RegierungsanhängerInnen schossen, um ein Klima aus Chaos und Gewalt zu schaffen, das den Putsch rechtfertigen sollte. Auch die Hexenjagd, zu der Peña während der am Ende nur zweitägigen Amtszeit von Putsch-Präsidenten Pedro Carmonas blies, ist dem wendehälsigen Ex-Bürgermeister nie verziehen worden.
Alfredo Peña selbst hatte seine neuerliche Kandidatur kurz vor den Wahlen zurückgezogen, angeblich „aus Protest gegen die Betrugsversuche des Regierungslagers“. Tatsächlich jedoch hatte Peña nicht genügend Rückhalt in der Opposition. Über Monate war der Bürgermeister dazu gedrängt worden, seine Kandidatur zu Gunsten Claudio Fermíns aufzugeben.
Peñas Rückzug hatte den „Kampf um Caracas“ noch einmal spannend gemacht. Meinungsumfragen sagten ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Fermín und Barreto voraus. So knapp wurde es am Ende jedoch nicht: Etwas mehr als 60 Prozent stimmten für Barreto. Damit ist der Opposition eine weitere Waffe in ihrem Kampf gegen Chávez abhanden gekommen.

Geraubter Sieg?
Alfredo Peña droht nun weiteres Ungemach. Dem scheidenden Bürgermeister wurde auf Antrag der Staatsanwaltschaft die gerichtliche Auflage erteilt, das Land nicht zu verlassen, da gegen ihn wegen Veruntreuung ermittelt wird. Und auch seine Rolle während des Putschversuches könnte noch einmal die Staatsanwaltschaft beschäftigen.
Auf bundesstaatlicher Ebene sorgte neben der Abwahl Mendozas vor allem das Wahlergebis in Carabobo für Verwirrung. Auch hier wurde mit Henrique Salas Feo ein Gouverneur aus den Reihen der Opposition abgewählt. Die Niederlage des Parteichefs der Gruppierung Proyecto Venezuela gegen den chavistischen Kandidaten Luis Felipe Acosta Carlez war nicht nur hauchdünn (48 gegen 51 Prozent), vor allem die Ergebnisse der Abgeordnetenwahlen nährten bei Proyecto Venezuela (Projekt Venezuela) den Verdacht, dass bei den Gouverneurswahlen betrogen worden sein könnte. Mit dem entsprechenden Betrugsvorwurf trat wenige Tage nach den Wahlen ein Sprecher von Proyecto Venezuela vor die Kameras: „Sämtliche neun Abgeordnete, die in Carabobo gewählt wurden, waren Kandidaten für Proyecto Venezuela und gewannen jeweils deutlich. Niemand versteht, dass ausgerechnet Salas Feo nicht eimal die Hälfte der Stimmen bekommen haben soll, obwohl er der Amtsinhaber ist.“ Das jedoch ist nur die Hälfte der Wahrheit, denn auf lokaler Ebene erlitt Proyecto Venezuela Schiffbruch. Und handfeste Beweise für einen Betrug konnte auch Salas Feo bislang nicht vorlegen.
Doch auch wenn Mendoza, Salas Feo und Co. fast verzweifelt versuchten, die Welt, das Land oder zumindest die eigene Anhängerschaft davon zu überzeugen, dass ihnen der Sieg geraubt worden sei: Der Niedergang der Fundamentalopposition gegen Chávez’ MVR und deren Verbündete ist überdeutlich. Die Mitgliedsparteien des klinisch toten Oppositionsbündnisses Coordinadora Democrática (Demokratische Koordination) verloren auf dem Land ebenso wie in den Städten, auf Gouverneurs- wie Bürgermeisterebene. Die sozialdemokratische, ehemalige Regierungspartei Acción Democrática (Demokratische Aktion) konnte von ihren zuvor 90 Bürgermeisterposten nur 30 halten. Die Christsozialen, die bis 1999 abwechselnd mit Acción Democrática den Präsidenten stellten, regieren noch in 25 Rathäusern und sind in weiten Teilen des Landes von der politischen Landkarte verschwunden.
Venezuelas Vizepräsident Vincente Rangel von Chávez Koalitionspartner Podemos (Wir Können) hofft nun, dass die ebenso heftige wie schädliche Polarisierung der Parteienlandschaft ein Ende nehmen werde. Ansatzpunkte dafür sind da: Der neue Gouverneur von Nueva Esparta, Morel Rodríguez, feierte zwar seinen Triumph über „die desaströse Politik“ des bisherigen, chavistischen Mandatsträgers Alexis Navarro Rojas. Er offerierte aber zugleich eine Politik des Ausgleichs. Ähnliche Töne schlug Manuel Rosales an, der im Bundesstaat Zulia als einziger oppositionsnaher Politiker einen Gouverneursposten halten konnte.

Opposition vor
dem Neuanfang
Die politische Landkarte Venezuelas verfärbt sich nach den Regionalwahlen also chavistisch rot. Doch der Sieg des Regierungslagers ist nur bedingt aus eigener Kraft erzielt worden. Die Wahlbeteiligung war gering, und wie es aussieht blieben mehrheitlich die AnhängerInnen der Opposition zu Hause. Das Wahlergebnis spiegelt daher vor allem den desatrösen Zustand der Opposition und das Scheitern ihrer Konfrontationspolitik wider. Die oppositionelle Coordinadora Democrática existiert faktisch nicht mehr, nachdem ein Teil des Bündnisses zum Boykott der Wahlen aufgerufen hatte und traditionelle Parteien wie Sozialdemokraten und Christsoziale trotzdem teilnahmen, um zumindest die Bürgermeisterämter in wohlhabenden Bezirken zu retten. Dies geschah nur mit begrenztem Erfolg.
Bereits in den letzten Monaten hatten einige Unternehmerverbände Bereitschaft angedeutet, mit Hugo Chávez zu kooperieren. Und die privaten Medien Venezuelas gaben sich nach dem Referendum und vor den Regionalwahlen erstaunlich gemäßigt. Die Opposition steht vor einem Scherbenhaufen. Will sie sich in Zukunft nicht gänzlich auf einige wenige Bürgermeisterposten beschränken, muss sie die veränderten politischen Bedingungen in Venezuela anerkennen und versuchen, als konstruktive, demokratische Kraft wählbare Alternativen zu Chávez zu entwickeln. Ob man sich dabei noch auf Enrique Mendoza verlassen will, ist seit den Regionalwahlen mehr als fraglich.

Medien und ihre Mittel

Die Frage lautet weniger, was die Medien mit den Menschen machen, sondern: Was machen Menschen mit den Medien? Medien bieten einen wichtigen Anhaltspunkt für die Interpretation von Realität. Dabei zählt aber nicht nur, welche Informationen ausgewählt und dargestellt werden, sondern auch welches Medium zur Präsentation dieser ausgewählt wird. Das Medium ist Teil der Nachricht.
Unter diesem Gesichtspunkt ist auch der Begriff der Öffentlichkeit zu betrachten, der den Medienschwerpunkt des Jahrbuchs rahmt. Er bedarf als zentraler Begriff der Medienwissenschaften einer ausführlichen Betrachtung. Sérgio Costa, der an der Freien Universität Berlin lehrt, bietet hierzu eine wissenschaftliche und umfassende Untersuchung. Dabei stellt er eine Entwicklung der Öffentlichkeit in Lateinamerika fest, die in Habermas’scher Tradition schließlich die Rolle des Publikums zum einen als Teil eines „kommunikativen Raums“ der Öffentlichkeit, ebenso wie als Akteur in diesem Raum sieht.
So ist auch das Projekt des Indigenen Foto-Archivs (Archivo Fotográfico Indígena – AFI) zu verstehen, dass Anne Huffschmied in ihrer kurzen Reflektion „Eine andere Art zu sehen? Die Camaristas aus Chiapas“ vorstellt und diskutiert. Die Fotografien der indigenen Bevölkerung sind ein eigener selbstständiger Blick auf ihre Lebensweise. Eine kleine Auswahl von zwölf Fotografien wird den LeserInnen gleich mitgeliefert und machen das Jahrbuch selbst zu einem alternativen Medium.

Telenovelas verkannt
Ein sehr populäres Phänomen im lateinamerikanischen Fernsehen sind die Telenovelas. Umso interessanter ist die unterhaltsame und fundierte Analyse von Gisela Klindworth dieser oft als primitive Verdummung abgewerteten Produktionen. Ganz im Sinne der Popular Culture Studies werden die Novelas als das legitimiert, was sie sind: Unterhaltung. Klindworth holt die Novelas damit aus der Schublade des Groschenromans. Gerade angesichts des erneuten Versuchs, eine bekannte Telenovela-Produktion Lateinamerikas im deutschen Fernsehen zu etablieren, hat der Artikel eine besondere Aktualität. Das ZDF bringt mit „Bianca“ eine Adaption der kolumbianischen Novela „Yo soy Betty, la fea“ ins deutsche Fernsehen.
Aber auch klassische Medien werden untersucht. Rafael Otano und Guillermo Sunkel, Professoren an der Universität in Santiago, unterziehen den chilenischen Journalismus einer harten und – für das Verständnis eines unabhängigen Journalismus – vernichtenden Analyse, die sich durchaus auch auf weitere lateinamerikanische Staaten adaptieren lässt.
Bettina Bremme widmet sich dem lateinamerikanischen Kino inmitten von Krisen und Aufbrüchen und bietet in bewährter Manier eine Vielzahl an Beispielen für die Situation des Kinos in den einzelnen Ländern und destilliert überregionale Tendenzen und Motive, die Hoffnung auf weitere kreative Produktionen aus Lateinamerika machen.
Bert Hoffmann schließt den Medienschwerpunkt mit einer Untersuchung des in den letzten zehn Jahren am wohl stärksten gewachsenen Mediums und seinen Auswirkungen auf Lateinamerika: dem Internet. Für ihn trägt es durchaus nennenswert zur Demokratisierung und der dazugehörigen Einbeziehung der armen Bevölkerungsschichten bei. Hoffmann liefert Zahlen und Fakten für Lateinamerika, die das bereits auf dem World Summit on Information Society (WSIS) in Genf 2003 deutlich gewordene Problem der Digitalen Spaltung bestärken. Das heißt die Kluft wächst zwischen denen, die Zugang zu Informationen haben und denjenigen, die davon ausgeschlossen bleiben.

Blick auf Belize
Die Länderberichte umfassen traditionell den zweiten Teil des Jahrbuchs. Dieses Jahr werden die Entwicklungen in Argentinien, Belize, Bolivien, Brasilien, Ecuador, Mexiko und Venezuela analysiert.
Die Journalistin Gaby Weber berichtet aus Buenos Aires von der nach den Wirren 2001 sich langsam wieder normalisierenden Situation unter Präsident Kirchner und dem entstehenden Kirchnerismus in Argentinien.
Das sonst kaum beachtete Land Belize wird von Wolfgang Gabbert, Professor für Soziologie an der Universität Hannover, vorgestellt. Er gibt einen Überblick über die gesellschaftliche Situation der ehemaligen britischen Kolonie, die erst 1981 in die Unabhängigkeit entlassen wurde und in den letzten Jahren mit der Integration der steigenden Anzahl an MigrantInnen aus den umliegenden Staaten Guatemala, El Salvador und Honduras zu kämpfen hat.
Die verfahrene Situation in dem Andenland Bolivien wird von Anne Piepenstock, Gonzalo Vargas und Ulrich Goedeking nachgezeichnet. Aufgrund der neoliberalen Ausrichtung der Politik von IWF, Weltbank und USA ist das Land in eine Krise gerutscht, in der der aktuelle Präsident Carlos Mesa noch gebraucht wird, da er zumindest eine gewisse Stabilität verspricht.
Ein Jahr vorsichtige Reformen des linken Hoffnungsträgers Lula in Brasilien wird von Imme Scholz vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik und Leiterin für Globale Umweltpolitik zusammengefasst. Neben den Reformthemen in der Innenpolitik und der Wirtschaft, widmet sie der Umweltproblematik speziell im Amazonasgebiet ein besonderes Augenmerk. Neben außenpolitischen Akzenten kann Scholz innenpolitisch nur viel Kontinuität konstatieren.
Der Ökonom Alberto Acosta stellt die Ernüchterung angesichts der neoliberalen Politik des Präsidenten Lucio Gutiérrez in Ecuadors Bevölkerung dar. Gerade die anfangs von Gutiérrez geschürten Hoffnungen der indigenen Bevölkerung auf mehr Repräsentation durch indigene Minister wurden verraten.
Der an der UNAM lehrende Ökonom Enrique Dussels Peters steuert einen profunden Artikel zu Mexikos wirtschaftlicher Situation bei. Ausführliche Zahlen und Fakten zur Entwicklung des BIP und zur Einkommensverteilung fassen die letzten fünf Jahre zusammen und belegen die Krise der mexikanischen Maquiladora-Industrie.
Margarita López Maya zeichnet den oppositionellen Protest in Venezuela bis ins Jahr 2004 eindrücklich nach. Präsident Hugo Chávez geht aus den Kämpfen mit der Opposition eher gestärkt hervor und gewinnt auch das, leider nicht mehr in dem Artikel analysierte, Referendum im Spätsommer 2004.

Ein guter Überblick
Wie unterschiedlich die Realität in Lateinamerika auch aussehen mag, das 28. Jahrbuch gibt einen guten Einblick, um die aktuelle Situation in sieben Ländern Lateinamerikas besser zu verstehen. Gleichzeitig bekommen LeserInnen einen guten Überblick an die Hand, wie Medien in Lateinamerika funktionieren und wie sie Gesellschaft darstellen. Gerade durch das alternative Medienverständnis, in dem alle AbsenderInnen von Kommunikation sein können, wird die Bandbreite der unterschiedlichen Möglichkeiten in einem „kommunikativen Raum“ der Öffentlichkeit deutlich. Das macht Hoffnung, dass trotz aller Probleme eine kulturelle und politische Demokratisierung möglich ist.

Jahrbuch Lateinamerika. Analysen und Berichte, Band 28. Medien und ihre Mittel. Verlag Westfälisches Dampfboot 2004. ISBN 3-89691-579-7

Lateinamerika in der zweiten Reihe

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 gab es kein Land auf dem amerikanischen Kontinent, das sich nicht mit dem „großen Bruder“ solidarisch erklärt hätte. „Individuell und kollektiv werden wir terroristischen Gruppen die Möglichkeit nehmen, in dieser Hemisphäre zu operieren“, hieß es beispielhaft in einer Erklärung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), denn „die amerikanische Familie steht vereint zusammen“. Von Chile über Kuba bis Mexiko – Latein- und Zentralamerika sowie die Karibik stellten sich ostentativ hinter die USA.

Latin@s als Wählerpotenzial

Eine halbe Woche vor dem elften September war der mexikanische Präsident Vicente Fox nach Washington gereist, um für die bilateralen Beziehungen zu werben. Bush hatte zuvor Mexiko den ersten Auslandsbesuch seiner Amtszeit abgestattet – und nicht etwa dem nördlichen Nachbarn Kanada oder einem westeuropäischen Verbündeten. Fox sprach von „offenen Grenzen“, Bush von einer Regulierung des Arbeitskräftestroms. Es scheint lange her: Bush hatte unter anderem die schnell wachsenden hispanischen Gemeinden als Wählerpotenzial für die Republikaner im Blick. Dann kam der 11. September 2001.
Als einen Trend zur „Vernachlässigung“ bezeichnen PolitikwissenschaftlerInnen die Entwicklung der Beziehungen Washingtons zu Lateinamerika nach dem 11. September. Bezeichnend für die US-amerikanische Außenpolitik gegenüber Lateinamerika waren die Reaktionen der Bush-Regierung auf die argentinischen Massenproteste im Dezember 2001, die die Regierung De la Rúa zu Fall brachten. US-Finanzminister Paul O’Neill sagte herablassend, die Argentinier sollten ihren „Stall“ in Ordnung bringen. Nicht einmal der Überraschungssieg Carlos Menems in der ersten Wahlrunde veranlasste außenpolitische US-Strategen, Interesse an den Vorgängen in Argentinien zu bekunden. Washington lockerte seine Kontakte mit den lateinamerikanischen Verbündeten langsam durch schlichtes Ignorieren, durch Liegenlassen regionaler Verträge und Umgehen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS).
Andererseits wurde der Druck auf die strategischen regionalen Gegner, die „Drogen-Terroristen“ Kolumbiens, Kubas Fidel Castro und Venezuelas Hugo Chávez, erheblich verschärft. Kritiker sagten, die USA hätten sich in Lateinamerika mit den drei Staaten eine zweite „Achse des Bösen“ zur Bekämpfung ausgesucht. Mit dem Wahlsieg von Luiz Inácio „Lula“ da Silva in Brasilien, der die Beseitigung des Hungerproblems versprochen hatte, stieß aus dieser Sicht ein viertes Land zur lateinamerikanischen „Achse des Bösen“.

Durch die Brille des „Antiterrorkriegs“

Dass diese Ansichten nicht nur pauschal den US-Konservativen in den Mund gelegt werden, bewies Henry Hyde, Vorsitzender des Ausschusses für internationale Beziehungen im Repräsentantenhaus, mit Blick auf Kuba: „Einen Dreistundenflug von Miami entfernt stehen wir einem potenziellen Nährboden für internationalen Terror gegenüber, der vielleicht nur durch Afghanistan übertroffen wird. Die Bedrohung der US-amerikanischen nationalen Sicherheit ist unmittelbar und unübersehbar“. Nicht nur hochrangige Parlamentarier, auch Regierungsspitzen und Militärs begannen, die südliche Hemisphäre durch die Brille des „Antiterrorkriegs“ zu sehen. Dabei hatte das Länderdreieck Argentinien, Brasilien und Paraguay schon lange vor dem elften September Argwohn erweckt. Seit den schweren Bombenanschlägen in Argentinien von 1992 und 1994, die mutmaßlich von der libanesischen Hisbollah geplant und durchgeführt worden waren, galt die Region als logistischer und finanzieller Nährboden für arabische Terroristen – in den jährlichen Terrorberichten des US-Außenministeriums der Jahre 2001 und 2002 wurde sie ausdrücklich erwähnt. Eine weitere „Terrorbedrohung“ geht aus Washingtoner Sicht von Kuba aus. Schon die Ernennung des Hardliners Otto Reich, der wärmste Beziehungen zu Rechtsaußen-KubanerInnen in Miami pflegt, zu Bushs wichtigstem Beauftragten für Lateinamerika versprach nichts Gutes. Aus einer Reform der US-amerikanischen Beziehungen zu Kuba, wie sie im Kongress angemahnt worden war, wurde nichts. John Bolton, Unterstaatssekretär für Waffenkontrolle und internationale Beziehungen, setzte dem Ganzen die Krone auf, als er im Mai 2002 in einer Rede sagte: „Die USA glauben, dass Kuba mindestens begrenzte Forschung und Entwicklung von biologischen Angriffswaffen betreibt. Kuba hat anderen Schurkenstaaten Biotechnologie zur ‘dualen Verwendung’ geliefert“. Kuba und Iran, dem Fidel Castro einen Besuch abgestattet hatte, könnten „Amerika in die Knie zwingen“, echote es aus Washington. Die Folge waren noch schärfere Reise-, Geldtransfer- und Handelsbeschränkungen. Die „demokratische Opposition und Zivilgesellschaft“ Kubas erhält weitere 29 Millionen US-Dollar, für US-Propaganda in Kuba sind 59 Millionen veranschlagt.
In Bezug auf Venezuela erlebte Washington dagegen ein Debakel. Die Bush-Regierung hatte den Militärcoup gegen Präsident Chávez im April 2002 mit der unmittelbaren Anerkennung des Putschisten Pedro Carmona für gut geheißen und Chávez für seinen Fall selbst verantwortlich gemacht. Doch Chávez war innerhalb von zwei Tagen zurück im Amt. Auch das Referendum im August dieses Jahres bestätigte zum Ärger von Bush-Regierung und venezolanischer Oppositon den venezolanischen Präsidenten.

Schlappe in Venezuela

Von Erfolg gekrönt war allerdings die indirekte US-Intervention in Haiti. Am 29. Februar dieses Jahres wurde der erste demokratisch gewählte Präsident Jean-Bertrand Aristide zum zweiten Mal innerhalb von 13 Jahren gestürzt. Oppositionsmilizen hatten mit US-Waffen operiert, ihre politische Führung war von den Republikanern finanziert worden. Es war der 33ste Coup in Haiti, die USA hatten nicht zum ersten Mal ihre Hände mit im Spiel.
Ein neuer Trend der Regionalstrategie der USA lautet Militarisierung unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung. Betrug die Militärhilfe selbst zu Hochzeiten des Kalten Krieges nie mehr als ein Drittel der Wirtschaftshilfe, so erreichte sie 2003 einen Umfang von 860 Millionen Dollar und lag nur knapp unter den 921 Millionen Dollar für humanitäre und Wirtschaftshilfe. Immer stärker bestimme das finanziell besser als das US-Außenministerium ausgestattete „Kommando Süd“ die Rolle Washingtons in Lateinamerika, hieß es vor kurzem in einer Studie von Nichtregierungsorganisationen (NRO). US-Militärprogramme würden die lateinamerikanischen Streitkräfte bestärken, Funktionen wie Verbrechensbekämpfung, Straßenbau und Umweltschutz zu übernehmen. „Kommando Süd“-Chef James Hill machte in seinem letzten Jahresbericht unter anderem einen „radikalen Populismus“ als Bedrohung aus. Noch vor der Polizei und zivilen Einrichtungen seien die Streitkräfte als Bewahrer der Sicherheit gefragt. Neu ist die Doktrin Hills allerdings nicht. Sie stelle eine „Rückkehr zur US-Militärdoktrin der nationalen Sicherheit“ dar, schlussfolgerten die NRO-Autoren. Unter ihr hatten die Militärs in den 60er und 70er Jahren systematisch linke und populistische Volksbewegungen bekämpft.
Da stellt sich kurz vor den US-Präsidentschaftswahlen die Frage, ob eine Kerry-Administration in Lateinamerika nur dieselbe Leier weiterspielen, oder einen weniger konfrontativen Kurs fahren würde. Einer Umfrage von GlobeScan in Toronto und der University in Maryland zufolge wollen 42,5 Prozent der Befragten in neun lateinamerikanischen Ländern Kerry als neuen US-Präsidenten sehen. 19 Prozent stimmten für Bush. Kubas Sprecher der Nationalen Versammlung, Ricardo Alarcón, wiederum sagte, eine Veränderung der US-Politik gegenüber dem Land sei auch von Kerry nicht zu erwarten. Tatsächlich teilen beide Kandidaten die Auffassung, das Embargo müsse bis zum Fall Castros aufrechterhalten werden. Die spärlichen Aussagen, die Kerry über seine Lateinamerikapolitik traf, bezogen sich in erster Linie auf den Handel. Er würde die getroffenen Handelsvereinbarungen einer Revision unterziehen, sagte er, und das Freihandelsabkommen zwischen den USA, Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras und Nicaragua ebenso wie die „Free Trade Area of the Americas“ (FTAA) neu verhandeln wollen. Kerry verspricht die Einrichtung eines „Council for Democracy“, das der OAS als Instrument des Krisenmanagements unter die Arme greifen soll. Kerrys „Vizekandidat“ John Edwards hatte sich als scharfer Gegner von Freihandelsabkommen zu profilieren versucht. Sie seien nicht „nachhaltig“ und würden zur Arbeitsplatzvernichtung in den USA führen.
Was unter einer demokratisch geführten Regierung zu erwarten wäre, bleibt zum einen den Kräfteverhältnissen zwischen Weißem Haus, Senat und Repräsentantenhaus überlassen. Zum anderen kann kein Zweifel daran bestehen, dass auch eine Kerry-Regierung Latein-, Zentral- und Südamerika sowie die Karibik als ihren Hinterhof ansehen wird. Zu einer Reform oder Umkehr der Beziehungen kann es kurz- oder mittelfristig allein schon deshalb nicht kommen, weil Kerry/Edwards den Irak-Krieg als Hauptproblem erben, und sich alle außenpolitischen Anstrengungen auf eine „Abzugsmöglichkeit“ konzentrieren werden.

Demokratie made in USA

Hugo Chávez eckt an in den USA. Vor allem mit seiner unabhängigen Außen- und Ölpolitik. Der venezolanische Präsident verweigert der US-Luftwaffe die Überflugrechte und lehnt eine militärische Einkreisung Kolumbiens ab. Er beteiligte sich nicht an Bushs „Antiterrorallianz“ und erklärte anlässlich des Afghanistankrieges, man könne „Terrorismus nicht mit Terrorismus bekämpfen“. Darüber hinaus wendet sich Chávez gegen das ökonomische Prestigeprojekt der USA in Lateinamerika, das geplante gesamtamerikanische Freihandelsabkommen ALCA, und setzt auf eine Stärkung einer kontinentalen Allianz sowie auf die Zusammenarbeit mit anderen Ländern des Südens. Er hat die OPEC, deren Vorsitz Venezuela lange Zeit innehatte, geeint und führte wieder verbindliche Förderquoten ein. Und schließlich leitete Chávez, ein persönlicher Freund Fidel Castros, eine weitreichende Kooperation mit Kuba in die Wege. Am wenigsten schmeckt den USA die Ausstrahlung des venezolanischen Projektes auf andere Länder in Lateinamerika.
Die US-Regierung kam trotz ihrer Abneigung gegen Chávez nicht umhin, dessen deutlichen Sieg im Referendum über seine Abberufung am 15. August diesen Jahres anzuerkennen. Danach hofften viele BeobachterInnen, es würde zu einer Entspannung des Verhältnisses beider Länder kommen. Doch die US-Regierung setzt weiterhin alles daran, den Transformationsprozess unter der Regierung Chávez in Venezuela zu blockieren, zu sabotieren und letztlich zu stoppen. Egal, mit welchen Mitteln.

Putschversuch und Softwarestreik

Bereits in den Putschversuch gegen Hugo Chávez im April 2002 waren die USA maßgeblich verwickelt. Nach Angaben des US-Magazins Newsweek pflegten die Putschisten bereits zwei Monate vor dem 11. April regelmäßige Kontakte zur US-Botschaft in Venezuela. Die New York Times berichtet sogar von zahlreichen Treffen hochrangiger Funktionäre der Bush-Regierung mit Anführern der Putschisten. Die Zeitung beruft sich dabei auf nicht genannte offizielle Quellen und weist darauf hin, dass die Äußerungen der USA zum Putsch nie klar gewesen seien, weil es dazu unterschiedliche Ansichten innerhalb der US-Regierung gegeben hätte. Über die Notwendigkeit, Chávez aus dem Amt zu entfernen, sei man sich jedoch einig gewesen.
Die Verwicklung der USA in den Putsch ist jedoch noch weit reichender. Als US-Botschafter residierte damals Charles Shapiro in Caracas. Shapiro war 1999 der Verantwortliche für die Kuba-Politik im Außenministerium. Während des salvadorianischen Bürgerkrieges arbeitete er von 1983 bis 1988 als CIA-Verbindungsmann in der US-Botschaft in San Salvador. Damals unterstützten der venezolanische Militärgeheimdienst DISIP und Exilkubaner der CIA salvadorianische Todesschwadronen. Am 12. April 2002 besuchte Shapiro Pedro Carmona, der sich nach dem Putsch zu Chávez´ Nachfolger ernannt hatte, im Präsidentenpalast. In der Militärkaserne Fuerte Tiuna, die Chavez´ Gefängnis beherbergte, hielten sich zu Beginn des Putsches auch zwei ranghohe US-Militärs auf. Einer der beiden, US-Oberstleutnant James Rodgers, stand in ständigem Kontakt zu den Putschisten. Zeitgleich wurden auch die US-Streitkräfte in Kolumbien und in der Karibik in Einsatzbereitschaft versetzt.
Ein besonders brisanter Fall für US-Aktivitäten gegen Chávez ist das Unternehmen INTESA (Informática, Negocios y Tecnología, S.A.), das als Subunternehmen des staatlichen Erdölbetriebs PDVSA seit 1999 für die Software und Steuerung in PDVSA zuständig war. So auch während des oft als Streik bezeichneten Protestes der UnternehmerInnen im Dezember 2002 und Januar 2003, der den Sturz der Chávez-Regierung zum Ziel hatte. Der schwerste Schlag für die venezolanische Wirtschaft war damals die Lahmlegung von PDVSA. Verantwortlich dafür waren die Managementebenen. Die Software des computergesteuerten Unternehmens wurde sabotiert. ArbeiterInnen und viele IngenieurInnen, die sich nicht am „Streik“ beteiligten, brachten die Produktion schließlich manuell wieder in Gang, nachdem sie die einzelnen Bereiche vom Computernetz isoliert hatten. Für die computerisierten Steuerungssysteme zeichnete INTESA verantwortlich, die das gesamte Informationssystem von PDVSA kontrollierte.INTESA wurde offiziell mit einer Beteiligung von 40Prozent von PDVSA und von 60 Prozent des US-Unternehmens Science Applications International Corporation (SAIC) gegründet, obwohl PDVSA das gesamte Kapital beisteuerte. Der damalige PDVSA-Vorsitzende Luis Giusti ist heute Berater des US-Präsidenten Bush in Erdölangelegenheiten. Die Unternehmensleitung von SAIC in den USA ist prominent besetzt: neben den Ex-US-Verteidigungsministern William Perry und Melvin Laird sitzen dort die ehemaligen CIA-Leiter John Deutsch und Robert Gates sowie Max Thurman, der Kommandeur der Panamainvasion.
Ein weiterer Baustein der Destabilisierungsstrategiedurch die US-Regierung ist der Versuch ständiger Diskreditierung und Verleumdung Venezuelas. Die Vorgehensweise könnte aus einem Handbuch psychologischer Kriegführung entstammen und wiederholt sich seit Jahren: Ein Sprecher der US-Regierung erhebt den Vorwurf der „Unterstützung terroristischer Gruppen“ an die venezolanische Regierung unter Hugo Chávez. Diese beschwert sich öffentlich, da für den Vorwurf keinerlei Beweise vorliegen und ein anderer US-Repräsentant macht einen öffentlichen Rückzieher.

Strategie der Verleumdung

Meisterhaft inszeniert war beispielsweise eine Kampagne im September 2004, als das US-State Department verlauten ließ, die Regierung Venezuelas habe die kolumbianische Guerilla, vor allem die FARC, mit mindestens einer Million US-Dollar finanziell unterstützt, zudem verschiebe sie Waffen für die Guerilla durch venezolanisches Territorium. Die Meldung wurde sogleich von der venezolanischen oppositionellen Presse, allen voran den Tageszeitungen El Universal und El Nacional aufgegriffen. Ein näherer Blick zeigt, wie einfach solche vermeintlichen Wahrheiten produziert werden: Das US-State Department berief sich in der schriftlichen Erklärung auf einen Artikel der stramm rechten Tageszeitung El Nacional. Diese wiederum zitierte in einem erneuten Aufguss der Meldung einige Tage später wieder das State Department.
Schon während seiner Wahlkampagne 1998 wurde Hugo Chávez vorgeworfen, mit der kolumbianischen Guerilla zusammen zu arbeiten. Chávez stellte sich damals überraschend in Bogotá der kolumbianischen Staatsanwaltschaft, die ihn nur mit großen Augen ansah, da nichts gegen ihn vorlag. Auch die in den vergangenen Jahren erhobenen Vorwürfe, Venezuela sei eine Operationsbasis von Al Kaida, erwiesen sich als völlig haltlos, und die angebliche Nähe Chávez zu Saddam Hussein und Muammar al-Gadaffi fußte nur auf dem Antrittsbesuch Chávez in allen OPEC-Ländern, nachdem Venezuela die Präsidentschaft der Organisation Erdöl fördernder Staaten übernommen hatte. Doch die US-Regierung arbeitet weiter daran, Venezuela medial für die Einreihung in die „Achse des Bösen“ vorzubereiten. Zuletzt wies sie auf die angebliche Anwesenheit kubanischer Geheimdienstangehöriger in Venezuela hin. Beweise wurden dafür freilich nicht vorgelegt.

Chávez als Dritter

Die Strategie der Opposition, die sich in Venezuela selbst wenig Hoffnungen auf eine breite Unterstützung machen kann, zielt darauf, Entscheidungen der Regierung als Willkür einer Diktatur zu präsentieren. Sie versucht durch Rücktritte, die Behinderung verwaltungstechnischer Vorgänge und das Anstacheln von gewalttätigen Zusammenstößen auf den Straßen, ein Bild weitgehender Instabilität und Unregierbarkeit zu erzeugen, um so den internationalen Druck auf Venezuela zu erhöhen. Die führenden Sektoren der Opposition hoffen dadurch einen erneuten Militärputsch oder eine US-Intervention hervorzurufen. Dafür demonstrierten sie auch vor der US-Botschaft in Caracas mit Schildern wie „1. Hussein; 2. Aristide; 3. Chávez“.
Beides scheint allerdings im Augenblick recht unwahrscheinlich. Vor allem die Option der US-Militärintervention. Bei aller Polemik und Propaganda dürfte sich auch Washington über immense Unterstützung der tiefgreifenden politischen und sozialen Transformationen unter Chávez bewusst sein. Doch das die US-Regierung eine bedeutende Rolle im Drehbuch der Destabilisierung Venezuelas einnimmt ist nicht zu übersehen. Jenseits der direkten Verwicklung in den Putsch von 2002, finanziert die US-Regierung über das National Endownment for Democracy (NED) verschiedene Oppositionsorganisationen.
Die venezolanisch-US-amerikanische Anwältin Eva Gollinger erreichte kürzlich die Freigabe einiger Unterlagen des State Department, die belegen, dass die US-amerikanische Behörde für internationale Entwicklung USAID seit geraumer Zeit fünf Millionen US-Dollar jährlich an Oppositionsgruppen in Venezuela verteilt. An der Spitze steht das Privatunternehmen Sumate, das während der Unterschriftensammlung gegen Chávez Druck auf ArbeitnehmerInnen ausübte, Falschmeldungen verbreitete und sich bis heute weigert, das Ergebnis der Volksabstimmung anzuerkennen.
USAID finanzierte über die US-Entwicklungsorganisation DAI auch Clips für das venezolanische Fernsehen, in denen im Dezember 2002 zum Streik aufgerufen wurde. Dabei kam es zu einer Zusammenarbeit mit dem Putschisten und Ex-Präsidenten des Arbeitgeberverbandes Carlos Fernández.

Fragliche Förderung

Andere Projekte sind auf arme Stadtteile ausgerichtet, um dort „demokratische Werte“ der USA und den Gedanken der Privatisierung zu fördern. 200.000 Dollar flossen nach Petare, ein als chavistische Hochburg bekannter Stadtteil von Caracas.
Viel deutet weiterhin daraufhin, dass die venezolanische Opposition, mit Unterstützung aus Kolumbien und wohl auch aus den USA, am Aufbau von paramilitärischen Strukturen in Venezuela arbeiten. Anfang Oktober 2004 äußerten venezolanische Regierungsangehörige öffentlich Besorgnis darüber, dass sie Informationen besäßen, wonach US-Militärangehörige in Kolumbien auch Paramilitärs ausbilden würden. Die US-Behörden dementierten die Meldung nicht. Von den kolumbianischen Paramilitärs (AUC) wiederum führt eine klare Verbindung zur venezolanischen Opposition. Die AUC hatten bereits vor etwa zwei Jahren angekündigt den Aufbau venezolanischer Paramilitärs (AUV) zu unterstützen.
Erst im Mai 2004 wurden etwa 130 kolumbianische Paramilitärs auf dem Gut eines Exilkubaners am Rande von Caracas mit venezolanischen Armeeuniformen verhaftet. Mit dabei war auch ihr Anführer, der als José Ernesto Ayala Amado, alias „Comandante Lucas“ identifiziert wurde und Paramilitärführer des „Bloque Norte de Santander“ vom kolumbianischen Paramilitärdachverband AUC ist.
Die kolumbianischen Paramilitärs, gab Lucas zu, seien von venezolanischen Ex-Polizisten im Umgang mit dem leichten Sturmgewehr FAL ausgebildet worden und hätten vorgehabt, in einem Überfall eine größere Anzahl der Gewehre zu rauben. Auf einem von der Geheimpolizei Disip am 31. Juli vorgelegten Video erklärt einer der verhafteten Paramilitärs, sie hätten den Auftrag gehabt, in den Präsidentenpalast einzudringen und Chávez zu „köpfen“.
Als venezolanische Soldaten gekleidet, sei das Ziel der Paramilitärs gewesen, bewaffnete Auseinandersetzung innerhalb der Armee zu provozieren, Regierungsziele anzugreifen und Mitglieder radikaler Basisgruppen im Armenstadtteil „23 de Enero“ in Caracas zu ermorden. Die Strategie zielt nicht auf einen militärischen Sieg, sondern auf Destabilisierung – so wie in den 1980er Jahren die Contra-Aktivitäten gegen die sandinistische Revolution in Nicaragua. Ein militärischer Sieg ist wohl weder möglich noch notwendig, gespielt wird auf Zeit.

Spiel auf Zeit

Eine Zermürbungsstrategie, die die Transformation der Gesellschaft behindern und die Fragestellung für die venezolanische Bevölkerung bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2006 verändern soll. Sie sollen sich nicht zwischen einem neoliberalen kapitalistischen System und einem transformatorischen Projekt entscheiden, sondern zwischen dem Neoliberalismus einerseits und Angst, Krieg sowie Unsicherheit andererseits.
Venezuela ist allerdings nicht Nicaragua. Venezuela kann auf viel mehr Ressourcen zurückgreifen, die Verteidigung des Projektes wird also wesentlich an der Frage hängen, ob es gelingt, es weiter zu vertiefen. Und bisher ist es auch nicht gelungen, Unterschicht gegen Unterschicht aufzubringen, die Bedingung für „bürgerkriegsähnliche Zustände“, wie sie so oft heraufbeschworen werden.
Die Mittelschicht mag zwar lauthals lamentieren, aber Träger einer bewaffneten Auseinandersetzung ist sie historisch nie gewesen und auch in Venezuela war sie in den vergangenen Jahren nicht bereit, den eigenen Kopf hinzuhalten.

Bush muss weg

Keine Frage, die Bush-Regierung muss weg. Im internationalen Interesse. Ihre grausamen Kriege in Afghanistan und im Irak kosteten zehntausenden Menschen das Leben. Sie rechtfertigt und praktiziert Folter im Kampf gegen den Terrorismus. Sie bedroht alle Staaten, die sie verdächtigt, Massenvernichtungswaffen herzustellen, während sie sich selbst einen atomaren Erstschlag vorbehält. Und natürlich will sie sich für ihre Taten nicht verantworten. Deshalb sollen sich beispielsweise lateinamerikanische Staaten vor Abschluss eines bilateralen Handelsvertrags mit den USA verpflichten, keine US-StaatsbürgerInnen an den Internationalen Strafgerichtshof auszuliefern.

Die Vereinten Nationen wagten es nicht einmal, die US-Regierung zu rügen, als deren Außenminister vor dem Irakkrieg die UN-Vollversammlung schamlos belog. Abgestraft werden können Bush und sein Falkenquintett Cheney, Rumsfeld, Wolfowitz, Powell und Rice nur, wenn sie bei den Präsidentschaftswahlen am 2. November aus den Ämtern gejagt werden. Deshalb setzen viele ihrer GegnerInnen, wie der Filmemacher Michael Moore, nicht auf den chancenlosen Kandidaten Ralph Nader, der wirklich für eine andere Politik steht, sondern auf den demokratischen Bewerber John Kerry. Mag sein, dass ein Präsident Kerry das Kyoto-Protokoll unterzeichnen würde. Mag sein, dass er die Menschenrechte mehr respektieren würde. Mag sein, dass er die Bündnispartner der USA mehr konsultieren würde. Fraglich ist jedoch, ob er grundsätzlich für eine andere Außenpolitik steht.

Zu Beginn seiner Bewerbungsrede auf dem demokratischen Parteikonvent Ende Juli stand der Kandidat stramm, salutierte wie ein Feldwebel und meldete sich zum Dienst. Als junger Mann habe er sein Land verteidigt und er werde es auch als Präsident verteidigen, schwor er den Delegierten. Natürlich hatte er den Feind damals nicht in seiner Heimat Massachusetts gestellt. Kerry meldete sich freiwillig nach Vietnam und half der US-Armee beim Völkermord an mehr als zwei Millionen Vietname-sInnen.

Dazu passt, dass er als Senator für den Irakkrieg stimmte. Inzwischen hat er zwar seine Meinung geändert, aber das Auftreten der Bush-Regierung gegenüber Nordkorea und dem Iran ist dem forschen Patrioten immer noch nicht aggressiv genug. Entsprechend plant er eine Stärkung der Geheimdienste sowie die Aufstockung der US-Armee um 40.000 Soldaten. Außerdem will er keiner internationalen Organisation jemals in Fragen der nationalen Sicherheit ein Vetorecht einräumen. Einer, der schon am Mekong-Delta für die Sicherheit der USA gesorgt hat, weiß, wovon er redet.

Zu Kerrys engsten außenpolitischen Beratern zählt Rand Beers, ein ehemaliges Mitglied im Nationalen Sicherheitsrat der Bush-Regierung. Dort quittierte Beers vor einem Jahr seinen Dienst, weil er fand, die Regierung habe nach der Irak-Invasion Kolumbien vernachlässigt. Schließlich war er unter der Regierung Clinton als Chef des Büros für internationalen Drogenhandel und Polizeiangelegenheiten einer der Architekten des Plan Colombia. Für Rand Beers sind die Guerrilleros von der FARC schlicht Narcoterroristen mit Verbindungen zu Al Kaida. Er steht dafür ein, dass ein Kerry im Fall seiner Wahl die US-Kriegspolitik in Kolumbien geradlinig fortsetzen wird.

In Venezuela, so findet Kerry, habe die Bush-Regierung nicht entschieden genug die Opposition gegen Chávez unterstützt. Dabei unterhielt die US-Regierung ganz offensichtlich enge Verbindungen zu den venezolanischen Putschisten im April 2002. Der Demokrat Kerry will womöglich einen Präsidenten stürzen, der erst kürzlich beim Referendum über seine Abwahl eine deutliche Zustimmung erhielt. Auf jeden Fall will er den US-Erzfeind Fidel Castro beseitigen: Am strikten Embargo gegen Kuba soll nicht gerüttelt werden.

Schlimmer als unter George Walker Bush kann es nicht werden. Aber die Grundpfeiler der US-Außenpolitik wird Kerry auch nicht umstürzen. In Lateinamerika schon gar nicht.

Opposition im virtuellen Niemandsland

Die Situation in Venezuela ist nicht nur politisch brisant, sie gibt auch medientheoretisch einiges her. In dem südamerikanischen Land scheint Baudrillards Satz von den Bildern, die nur noch auf sich selbst verweisen, Wirklichkeit geworden zu sein. Die Berichterstattung der privaten Medien hat sich losgelöst von der Realität, wie sie die Bevölkerungsmehrheit erlebt und wie sie auf der Straße zu beobachten ist. Eine komplette Ober- und Mittelschicht scheint eingetaucht in einen Raum des Simulacrums, lebt also in einem medial produzierten Trugbild. Anders als bei Baudrillard sind der Virtualität jedoch enge Grenzen gesetzt. Immerhin sind die Wohlstandsenklaven der venezolanischen Eliten ökonomisch ja weiterhin von jener „dunkelhäutigen, irgendwie schmutzigen“ Gesellschaft abhängig, zu der man eigentlich nicht dazugehören möchte. Die völlige Selbstreferenzialität medialer Bilderwelten wird auf Dauer zum Problem, denn deren Produktion findet in einer ganz realen Gesellschaft mit handfesten sozialen Konflikten statt.
Tatsächlich erinnert die Berichterstattung der venezolanischen Medien auch vier Wochen nach dem gescheiterten Referendum gegen Präsident Chávez am 15. August immer noch an eine absurde Fassung von „Matrix“. Weil die Wahlen mit 59,25 Prozent Zustimmung für den Präsidenten aus Sicht der bürgerlichen Opposition katastrophal ausgegangen sind, verweigert diese schlichtweg die Wahrnehmung der Realität. Das Ergebnis wird als gefälscht bezeichnet. Die automatischen Wahlmaschinen, die erstmals eingesetzt wurden, um Manipulationen bei Stimmabgabe und Auszählung zu verhindern, seien manipuliert worden. Da es neben dem elektronischen Zählverfahren auch einen Kontrollmechanismus mit Stimmzetteln gab, die die WählerInnen ausgedruckt bekamen und in die Usrnen werfen mussten, behaupten die Bürgerlichen ergänzend, Tausende von Urnen seien ausgetauscht worden. Und weil dies wiederum von den WahlbeobachterInnen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und des Carter Centers, die der Regierung Chávez bis dato nicht gerade wohlgesonnen gegenüberstanden, für unmöglich gehalten wird, wirft die Opposition den beiden internationalen Einrichtungen vor, mit dem Präsidenten unter einer Decke zu stecken. Diese eigenwillige Argumentationskette stützt sich auf eine einzige Grundlage: auf die Meinungsumfragen der oppositionellen Initiative Súmate. Das aus den USA finanzierte Kampagnenbüro zählte am 15. August eine Ablehnung von 59 Prozent der Bevölkerung gegen den Präsidenten. Wenn das Wahlergebnis nun genau andersherum aussehe, so die Opposition, könne es sich nur um einen Betrug handeln. Was für eine Logik: Die Wirklichkeit – das sind die Fernsehberichte, Meinungsumfragen und Zeitungsartikel. Alles, was davon abweicht, ist „Manipulation“ oder gar – wie ein oppositionsnaher Leitartikel in der spanischen Tageszeitung ABC im August verlautbarte – „virtuelle Realität“. Absurder geht es kaum.
Die wichtigste Erkenntnis nach dem Referendum dürfte damit darin bestehen, dass Venezuela in den vergangenen Jahren keineswegs, wie in Medien stereotyp verbreitet wird, in erster Linie von Präsident Chávez polarisiert worden ist. Der soziale Bruch der venezolanischen Gesellschaft reicht mindestens zwei Jahrzehnte weiter zurück und auch für die politische Eskalation ist die Opposition ungleich stärker verantwortlich. Seit 1999 verteufeln die Bürgerlichen eine von fast 90 Prozent der WählerInnen bestätigte Verfassungsreform, die immerhin die Mitbestimmungsmöglichkeiten stark erweitert hat, als „undemokratisch“. 2001 rief sie zum Generalstreik gegen eine Landreform auf, die brachliegenden Großgrundbesitz in die Hände von KleinbäuerInnen überführen soll. Wenige Monate später inszenierte sie im April 2002 einen Putschversuch, nachdem die Umstrukturierung des staatlichen Erdölunternehmens PDVSA angekündigt worden war. Als dieser scheiterte, versuchte sie zur Jahreswende 2002/2003 mit Sabotageakten und Aussperrungen den Zusammenbruch der Regierung herbeizuführen. Der innenpolitische Konflikt in Venezuela hat eine sehr schlichte Ursache: Eine ökonomisch privilegierte Minderheit will nicht zulassen, dass eine demokratische legitimierte Regierung mit Sozialreformen an der Macht- und Reichtumsverteilung im Land rüttelt.

Chávez und sein Transformationsprojekt

Dass Präsident Chávez das Referendum so deutlich gewinnen konnte, hatte vor allem mit den Misiones, den Sozialprogrammen der Regierung, zu tun. Die Erfolge der Kampagnen sind bemerkenswert. Innerhalb weniger Monate sind Hunderte von Gesundheitsposten, Schulen und Mercal-Läden (zur Verteilung subventionierter Grundprodukte) neu entstanden. Überall im Land trifft man auf Klassen von Erwachsenen, die im Rahmen der Misiones Robinson und Ribas Lesen und Schreiben lernen oder den Schulabschluss nachholen. Mehr als 10.000 kubanische Ärzte und Ärztinnen sind mit dem Programm Barrios Adentro in die Armenviertel gegangen und gewährleisten dort die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung.
Das Hervorhebenswerteste an diesen Programmen ist, dass die Misiones nicht einfach als paternalistische Sozialmaßnahmen des Staates daherkommen. In vielen Stadtteilen und Dörfern ergänzen sich Selbstorganisierungsbemühungen und Unterstützung durch die Regierung auf ziemlich produktive Weise. Dass die Misiones wesentlich von Nachbarschaftsorganisationen getragen werden, dürfte mit zwei Ursachen zu tun haben: zum einen mit der Unfähigkeit der Staatsbürokratie und dem Fehlen einer klassischen linken Avantgardepartei, die den sozialen Bewegungen einen enormen Raum verschaffen. So ist das venezolanische Transformationsprojekt bislang im besten Sinne von Improvisation geprägt.
Zum anderen ist für den Protagonismus der Basisorganisationen aber durchaus auch ein politisches Konzept verantwortlich. Die ‚bolivarianische Verfassung’ von 1999 sieht den Übergang von einer repräsentativen zu einer „partizipatorischen, protagonistischen Demokratie“ vor. Tatsächlich werden, was international bisher kaum wahrgenommen wird, Bürgerbeteiligung und Selbstverwaltung auf allen Ebenen gefördert. Das Konzept, politische Repräsentation durch Formen der Selbstregierung zu ersetzen – unterscheidet die Entwicklung in Venezuela auch grundlegend von den Prozessen in Nicaragua, El Salvador oder Kuba. Dort war in der Vergangenheit zwar auch viel von poder popular („Volksmacht“) die Rede, diese Macht wurde aber wesentlich von linken Parteien und ihren sozialen Unterabteilungen ausgeübt. Eher als am sandinistischen Nicaragua oder am staatssozialistischen Kuba orientiert sich das venezolanische Projekt, zumindest bislang, an Bewegungserfahrungen. Die neu gegründeten Consejos de Planificación Local (Lokale Planungsräte) etwa haben die BürgerInnen-Mitverwaltung der Kommunalhaushalte im südbrasilianischem Rio Grande do Sul zum Vorbild. Und die nach wie vor überaus dynamische Stadtteilbewegung Venezuelas ähnelt in ihrer horizontalen Struktur viel eher der brasilianischen Landlosen-Bewegung als den nicaraguanischen oder kubanischen „Komitees zur Verteidigung der Revolution“.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Präsident Chávez, der – was das wichtigste Argument gegen den Vorwurf des Populismus sein dürfte – die Bevölkerung immer wieder zur Selbstorganisierung aufruft, selbst die Kampagne zum Referendum in die Hände solcher Netzwerke gelegt hat. Ausdrücklich rief er die Bevölkerung im Sommer 2004 dazu auf, nicht auf die politischen Parteien zu warten, sondern sich selbstständig als Initiativen für das Nein zu konstituieren. Man kann das für eigennützig halten – immerhin ging es um den Verbleib von Chávez’ im Amt –, ganz konkret lässt es sich aber auch als Stärkung der Bewegungen gegenüber den Parteien als klassischen Trägern politischer Repräsentation interpretieren.

Die Basis ist derSchlüsselfaktor

Der Trend zur Basisorganisierung weist jedoch auch auf mögliche Bruchlinien innerhalb der ‚bolivarianischen Revolution’ hin. Bislang ist das venezolanische Projekt eine bunte Mischung aus Denkansätzen. Was Bildungswesen und Antiimperialismus angeht, orientiert man sich an Kuba. Hinsichtlich der kommunalen Selbstverwaltung blickt man nach Brasilien, bei der Kritik des Neoliberalismus zitiert man gern die linkskeynesianischen RedakteurInnen von Le Monde Diplomatique. Symbolik und Diskurs der ‚Revolution’ schließlich schöpfen gleichermaßen aus dem christlichen Messianismus, der Tradition der Guerillagruppen der sechziger und siebziger Jahre sowie den von der französischen Revolution beeinflussten ProtagonistInnen der antikolonialen Befreiungskriege des frühen 19. Jahrhunderts.
Von einem theoretischen Standpunkt aus betrachtet, muss ein solches Projekt eigentlich eher mittel- als langfristig an seiner Heterogenität zerbrechen. Doch glücklicherweise haben gesellschaftliche Veränderungen mit Theorie in der Regel wenig zu tun. Unmittelbar vor dem Referendum äußerte Gonzálo Gómez, einer der linken Wortführer und Medienaktivist beim Nachrichtenportal www.aporrea.org, die Ansicht, es werde nach dem Referendum zu einer Klärung des politischen Projekts kommen. Gómez unterschied dabei ganz klassisch zwischen denen, die gewisse Reformen, und jenen, die eine radikale Veränderung der Gesellschaft anstreben. Doch bei genauerer Betrachtung erweist sich die Angelegenheit als weitaus komplizierter. Immerhin scheiden sich die Geister nicht nur an der Frage, ob man neben Reformen für Verteilungsgerechtigkeit, auch eine Umgestaltung von Arbeit und Wirtschaft anstrebt, sondern auch daran, welche Rolle Basisorganisationen respektive politischen Repräsentationen dabei zukommt.
Bisher gibt es keine eindeutigen politischen Lager, in denen sich die AnhängerInnen von Basismacht oder Staatlichkeit, reformiertem Kapitalismus oder Sozialismus sammeln könnten. Mit den Parteien und vielen PolitikerInnen um Chávez ist auch das Gros der Chávez-WählerInnen unzufrieden. Man weiß zu gut, wie schnell sich politische Eliten verselbständigen. Eine wachsende Zahl von KritikerInnen weist darauf hin, dass es nicht reicht, bessere Leute in Führungspositionen zu bringen, sondern Strukturen aufgebaut werden müssen, in denen Politik und Verwaltung permanenter sozialer Kontrolle und Mitbestimmung unterworfen sind. Auch für viele FührerInnen der Regierungsparteien dürfte diese Art der demokratischen Aneignung von unten unangenehm werden. Dementsprechend groß ist das Konfliktpotenzial. Paradoxerweise ist der Erfolg der Demokratisierungsbewegung wesentlich von einer Person abhängig: Chávez. An sich müsste er, der in der Bewegung die unangefochtene Rolle des Heroen einnimmt, einer solchen Entwicklung ebenfalls mit geteilten Gefühlen gegenüber stehen. Doch andererseits hat er sich seit dem Putschversuch im April 2002 – wohl auch aus Ernüchterung über die ihn stützende Parteienkoalition – immer deutlicher für die Stärkung der Bewegungen ausgesprochen.
Venezuela bleibt für Überraschungen gut. Hoffentlich auch weiterhin für erfreuliche.

Nach dem Referendum: Nationalisiert Bolivien sein Erdgas?

Das wohl wichtigste Ergebnis des Referendums zeichnete sich bereits in den Tagen vor dem Abstimmungssonntag ab: Das Referendum fand in einer landesweit friedlichen Atmosphäre statt, und die Wahlbeteiligung von fast zwei Dritteln der Bevölkerung war für lateinamerikanische Verhältnisse außerordentlich hoch. Dies galt über lange Zeit als keineswegs sicher, denn die Frage des Umgangs mit den bolivianischen Gasreserven ist ein stark emotionsgeladenes und politisch polarisierendes Thema. Die Frage des Erdgases hatte nicht zuletzt im Oktober 2003 zu massiven landesweiten Protesten mit unzähligen Toten und schließlich zur Flucht des Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada in die USA geführt (siehe LN 353).
Im Vorfeld der Volksabstimmung gab es ebenso viele Diskussionen über möglicherweise zu erwartende Stör- und Blockadeaktionen radikaler Gruppierungen, etwaige Gegenstrategien der Regierung und die Rolle der Armee wie über die Inhalte des Referendums selbst. Insbesondere die teilweise komplizierten und umständlichen Formulierungen der fünf Fragen des Referendums führten zu langwierigen Debatten über die Interpretation des Wortlauts (siehe Kasten).

Gewinner …

Das zweite zentrale Ergebnis der Volksabstimmung betrifft die Rolle von Präsident Mesa selbst. Als Vizepräsident landete er nach den Oktoberunruhen im vorigen Jahr unvorhergesehen auf dem Präsidentenstuhl und galt bisher als Übergangspräsident, dem die eigentliche Legitimation durch das Volk fehlte. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt benannte Mesa zwei Achsen seiner Regierungspolitik: Das Referendum über die Energiepolitik des Landes sowie die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung, um die Grundlage des bolivianischen Staates neu festzulegen. Präsident Mesa verknüpfte die Abstimmung über den Umgang mit den Gasreserven eng mit der Zustimmung zu seiner Regierungspolitik, denn er regiert ohne Unterstützung der politischen Parteien. Mit dem positiven Ergebnis der Volksabstimmung erhielt die Regierung Mesas ein deutliches Mandat. Die Zeit der „Übergangsregierung“ ist nun beendet: Präsident Mesa ist der klare Sieger des Referendums. Zugleich haben Verlauf und Ergebnis des Referendums zu einer optimistischen Stimmung im Land geführt.
Doch Mesa ist nicht der einzige Sieger. Auch sein Gegenspieler Evo Morales vom MAS (Movimiento al Socialismo), ohne dessen zwischenzeitliche Unterstützung die Regierung Mesa vermutlich schon längst kollabiert wäre, kann sich zu den Gewinnern der Volksabstimmung zählen. Seine Formel, die ersten drei Fragen mit JA und die letzten zwei mit NEIN zu beantworten, findet ihren deutlichen Niederschlag in den Ergebnissen: Stehen bei den Fragen eins bis drei der Zweidrittelmehrheit für das JA nur sechs bis elf Prozent NEIN-Stimmen gegenüber, so sind es bei den Fragen vier und fünf rund 40 Prozent JA-Stimmen gegenüber 30 Prozent NEIN-Stimmen. Auch die etwa 20 bis 30 Prozent leerer und ungültiger Stimmzettel dürften als Protest und zumindest teilweise als Votum für die Position des MAS gewertet werden. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Formulierung der Frage zwei zur staatlichen Souveränität über die Erdgasreserven weder einen Zeithorizont noch Umsetzungsmechanismen benennt und somit interpretationsoffen ist. Für die MAS bedeutet das JA des Volkes die Aufforderung zur sofortigen Nationalisierung der Energieressourcen. Die Regierung hingegen sah dies bisher eher in einen Zeithorizont von mehreren Jahrzehnten vor.

…und Verlierer

Zu den Verlierern der Volksabstimmung müssen sich all jene zählen, die im Vorfeld versucht hatten, das Referendum zu verhindern. In erster Linie sind das der Aymara-Bauernführer Felipe Quispe mit seinem gescheiterten Blockadeaufruf, Oscar Olivera von der „Erdgaskoordination“ in Cochabamba (ehemals „Wasserkoordination“) mit einer gescheiterten eigenen Volksabstimmung, Roberto de la Cruz als Vertreter des Gewerkschaftsdachverbandes COB (Central Obrera Boliviana), sowie der Vorsitzende des regionalen Gewerkschaftsdachverbandes von El Alto, Jaime Solares. Letzterer hatte nicht nur zum Abstimmungsboykott, sondern auch zur Zerstörung der Wahlurnen aufgerufen, stieß damit allerdings selbst bei seinen eigenen AnhängerInnen auf taube Ohren. Mit dem Ausgang des Referndums ist den radikalen Kräften erst einmal der Wind aus den Segeln genommen worden.
Der Umgang mit den Gasreserven bleibt trotz allem weiterhin unklar. Gleich nach dem Ende der Abstimmung entbrannte der zu erwartende Streit um die richtige Interpretation der gesetzlich als „bindend“ festgeschriebenen Ergebnisse und deren korrekte Umsetzung. Auch wenn letztlich die Position der Regierung entscheidend ist, gibt es zwei wichtige politische Akteure mit erheblichem Gewicht und durchaus abweichenden Standpunkten. Auf der einen Seite sind das Evo Morales und seine MAS, die das Ergebnis als Aussage gegen das herrschende neoliberale Wirtschaftsmodell und als Mandat für die Nationalisierung des Energiesektors sehen. Auf der anderen Seite steht die Legislative mit Parlament und Senat, in der sich die ehemaligen Regierungsparteien MNR (Movimiento Nacional Revolucionario) und MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionario) gerade zu einer politischen Allianz zusammengefunden haben.

Weichenstellung für die Nationalisierung

Nachdem es in den vergangenen Wochen bei der Debatte über das Erdgas-Gesetz keine Annäherung zwischen Regierung und Parlament gegeben hatte, vollzog Präsident Mesa am 6. September offensichtlich eine Kehrtwende. Jedenfalls nimmt der vorgelegte Gesetzesentwurf nun eine Reihe der Forderungen und Formulierungen des Parlaments auf.
So sieht einer der Hauptpunkte des Entwurfs die Anpassung aller bestehenden Verträge an die neuen gesetzlichen Gegebenheiten vor. Dies bedeutet insbesondere eine Veränderung aller nach dem Privatisierungsdekret von Sánchez de Lozada aus dem Jahre 1996 geschlossenen Verträge. Der auf Ausgleich bedachte bolivianische Präsident geht damit auf Konfrontationskurs mit den transnationalen Erdöl- und Erdgasunternehmen. Mesa spricht von einer „Nationalisierung, ohne den Investoren die Tür zuzuschlagen“. Mit Mesas Gesetzesentwurf erhielte Bolivien die Hoheit über seine fossilen Brennstoffe zurück, und damit die Kontrolle über die Exportmärkte und die heimischen Energiepreise.
Bei der Diskussion um die Aufhebung der bestehenden Verträge wird jedoch oftmals vergessen, dass die Konzerne seit dem Privatisierungsdekret Investitionen von rund drei Milliarden US-Dollar getätigt haben und damit erst die Steigerung des Erdgasexportes der letzten Jahre ermöglicht haben. Richtig ist allerdings auch, dass in den meisten Fällen von den Konzernen der vertraglich festgelegte Umfang der Prospektion und Erschließung neuer Erdgasfelder nicht eingehalten wurde. Dies ist vermutlich die einzige rechtliche Grundlage der Regierung Mesa für eine Neuverhandlung der bestehenden Verträge.

Regierung beweist Mut

Weitere Neuerungen im aktuellen Gesetzentwurf betreffen die Neugründung der staatlichen Erdöl- und Erdgasgesellschaft, die Gründung von „Petrobolivia“, sowie die Festsetzung der Höhe der Abgaben und Steuern auf insgesamt 50 Prozent des Produktionswertes. Artikel 10 des Entwurfes legt fest, dass die dem Ergebnis des Referendums entsprechenden Gesetzesteile nur durch einen erneuten Volksentscheid abgeändert werden dürfen – und nicht, wie üblich, durch Parlamentsbeschluss. Damit werden die Forderungen der Parlamentsmehrheit und der oppositionellen MAS weitgehend aufgenommen, und es besteht die Chance, den internationalen Erdölunternehmen mit einer gemeinsamen Verhandlungsposition entgegenzutreten.
Allerdings birgt der plötzliche Gesinnungswandel, den Carlos Mesa mit seiner „Lernfähigkeit“ begründete, auch eine Reihe von Risiken: Werden sich die Erdölkonzerne auf eine „Umwandlung“ ihrer bestehenden Verträge einlassen oder in internationalen Prozessen auf deren Erfüllung und gegebenenfalls Schadenersatz in Millionenhöhe klagen? Verliert Bolivien so seine internationale Glaubwürdigkeit und verärgert es langfristig internationale Investoren, die im Erdgasbereich benötigt werden? Vielleicht ist dies aber auch der Beginn einer nationalen Emanzipation, die den Interessen und Forderungen der Bevölkerungsmehrheit trotz wirtschaftlicher Globalisierung Rechnung trägt.

Neuformulierung der Verfassung geplant

Die Regierung hat jedenfalls einen mutigen Schritt getan. Während die Reaktion der Erdölunternehmen noch aussteht, kommentierte Evo Morales sofort: „Das Volk hat triumphiert und Präsident Mesa hat sich der Position des bolivianischen Volkes unterworfen. Mit diesem Gesetzentwurf vermeidet die Regierung Konflikte.“
Eine notwendige politische Erneuerung von Senat und Parlament steht allerdings immer noch aus. Die Abgeordneten und SenatorInnen haben mit der Wahl von Mario Cossío von der MNR und Hormando Vaca Diez vom MIR zu ihren jeweiligen Vorsitzenden zumindest keinen Schritt in diese Richtung getan. Vaca Diez steht für die verkrusteten Strukturen der Altherrenpolitik und auch der jugendlich wirkende Cossío gilt nicht als Repräsentant einer modernisierenden Strömung innerhalb seiner Partei. Immerhin wurde aber mit dem Abkommen zwischen MIR und MNR nach monatelanger Lähmung wieder eine gewisse Handlungsfähigkeit des Kongresses hergestellt. Dies führte zunächst zu einer gegenseitigen Blockade von Legislative und Exekutive. Beide präsentierten einen eigenen Entwurf für ein Gesetz über fossile Ressourcen. Dazwischen steht der „Schattenpräsident“ Evo Morales, der zwischen einem Dialog mit dem Präsidenten und einem Blockadeaufruf seiner Basis schwankt und stark damit beschäftigt ist, sich für die Wahlen 2007 in Stellung zu bringen.
Zudem stehen für Anfang Dezember Kommunalwahlen an, die in der aktuellen Diskussion unterzugehen drohen. Dabei sind diese Wahlen durchaus von einiger Bedeutung, denn mit dem gerade erst verabschiedeten Gesetz über Bürgervereinigungen und indigene Völker werden erstmals parteiunabhängige KandidatInnen zur Wahl stehen. Die Auswirkungen des Gesetzes auf die Parteienlandschaft und die politische Kultur im Lande sind bisher kaum abzuschätzen. Auch das „Sondergesetz zum Aufruf für die Verfassungsgebende Versammlung“ wird gerade diskutiert. Darin geht es im Wesentlichen um die Frage, wie, in welcher Anzahl und nach welchem regionalen Schlüssel die VertreterInnen der Versammlung gewählt oder benannt werden sollen, und ob es zum Beispiel eine Frauenquote geben wird. Weitgehende Einigkeit besteht bereits über den Zeithorizont: Zum Nationalfeiertag am 6. August 2005 soll sich die Verfassungsgebende Versammlung konstituiert haben und innerhalb eines Jahres soll ihre Arbeit beendet sein. Der Arbeitsauftrag: Die komplette Neuformulierung der bolivianischen Verfassung.

Kasten:
Die fünf Fragen des Referendums

1. Sind Sie mit der Annullierung des von Gonzalo Sánchez de Lozada verabschiedeten Gesetzes 1689 über die fossilen Brennstoffe einverstanden?

2. Sind Sie mit der Wiedererlangung des Eigentums sämtlicher fossiler Brennstoffe ab Bohrloch durch den bolivianischen Staat einverstanden?

3. Sind Sie mit der Wiedergründung der staatlichen Erdöl- und Erdgasgesellschaft YPFB (Yacimientos Petrolíferos Fiscales Bolivianos) einverstanden, indem das Staatseigentum an den kapitalisierten Erdöl- und Erdgasunternehmen mittels Aktien von Bolivianerinnen und Bolivianern zurückgewonnen wird und die YPFB auf diese Weise an der gesamten Produktionskette der fossilen Brennstoffe teilhaben kann?

4. Sind Sie mit der Politik des Präsidenten Carlos Mesa einverstanden, das Erdgas als strategische Ressource für die Wiedererlangung eines nützlichen und souveränen Zugangs zum Pazifischen Ozean einzusetzen?

5. Sind Sie damit einverstanden, dass Bolivien Erdgas exportiert im Rahmen einer nationalen Politik, die:
– den Erdgas-Konsum der Bolivianerinnen und Bolivianer deckt
– die Industrialisierung des Erdgases innerhalb des Staatsgebietes fördert
– Steuern und/oder Abgaben von bis zu 50 Prozent des Wertes der Produktion des Gases oder Erdöls von den Unternehmen zu Gunsten des Staates erhebt
– die Erlöse aus Export und Industrialisierung des Erdgases hauptsächlich für Bildung, Gesundheit, Straßenbau und Beschäftigung einsetzt?

„Bolivien vertraut heute auf den demokratischen Prozess“

Bis zum Oktober war die MAS einer der wichtigsten Protagonisten der sozialen Bewegungen mit einem radikalen Diskurs des Umsturzes. Seitdem hat sich die MAS sehr zurückgenommen und unterstützt nun die Regierung und den neuen Präsidenten Carlos Mesa, der bislang die Forderungen, die ihm während des Aufstandes im Oktober zur Bedingung gemacht wurden, nicht erfüllte. Warum dieser Wandel?

Die MAS erlangte Stärke vor allem durch ihre Losung, das Land neu zu gründen, alle Staatseigentümer zurück zu gewinnen und für bessere Lebensbedingungen zu kämpfen. Und genau diese Forderungen waren auch fundamental für die Aufstände im Februar und im Oktober. Nachdem aber der ehemalige Präsident Sánchez de Lozada im Oktober das Land verließ und der vormalige Vizepräsident Carlos Mesa das Amt übernahm, veränderte sich die Einstellung vieler reaktionärer, konservativer Kräfte gegenüber der Demokratie, auf die sie jetzt nur noch einen wesentlich geringeren Einfluss haben. Die großen privatwirtschaftlichen Unternehmer des Landes, die transnationalen Firmen und die Mächtigen des Landes hatten die Demokratie gestützt, wie zuvor auch die Diktatur, weil sie mit ihrer Hilfe fortfahren konnten, das Land auszubeuten und sich zu bereichern. Nach dem Erfolg der MAS bei den letzten Wahlen und nach dem Aufstand im Oktober ist das anders. Jetzt sind diese Kräfte nicht mehr so fundamental an der Demokratie interessiert, weil sie genau durch diese Demokratie mehr und mehr Raum verlieren. Sie haben begonnen, die Demokratie zu boykottieren und ein günstiges Szenario für einen möglichen Staatsstreich zu schaffen. Heute arbeiten sie daran, ein Chaos zu erzeugen, in dem dann ein möglicher Staatsstreich durchgeführt werden kann.
Ausgehend von dieser Einschätzung haben wir entschieden: Wir wollen die Demokratie und ihre Institutionen verteidigen. Nicht zuletzt deshalb, weil wir seit den letzten Wahlen gesehen haben, dass es auch für eine nicht-traditionelle Partei möglich ist, innerhalb der Demokratie Ziele zu erreichen.

Für diese Position wird die MAS von den radikalen Kräften heftig angegriffen, insbesondere vom Gewerkschaftsdachverband Central Obrera Boliviana (COB) und der Indigenenorganisation Movimiento Indígena Pachacuti (MIP), die weiterhin auf der Straße mobilisieren.
Ja, die COB und auch die MIP klagen uns an, ein Teil der Regierung zu sein, uns ans System gewöhnt zu haben. Sie werfen uns vor, unsere Ideale und ursprünglichen Werte verloren zu haben. Doch sie irren sich. Die COB hat seit dem ersten Mai einen unbefristeten Generalstreik und eine Blockade aller Straßen des Landes ausgerufen. Sie haben praktisch keine Unterstützung und Mobilisierung in der Bevölkerung erreicht.
Die Mehrheit der Bolivianer vertraut heute auf den demokratischen Prozess und eine graduelle Transformation innerhalb der Demokratie. Im Rückblick auf die letzten Jahrzehnte erkennt man, dass mit Begriffen wie „Diktatur des Proletariats“, „Arbeiter- und Bauernregierung“, „Volksaufstand“ und „bewaffneter Kampf“ niemals ein mehrheitlicher Rückhalt in der Bevölkerung erreicht wurde. Und inzwischen ist die MAS nicht mehr ausschließlich ein politisches Instrument der indigenen Bevölkerung und der Arbeiter und Bauern, auch Teile der Mittelklasse haben sich solidarisiert.

Vor kurzem kam es zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Militär und demonstrierender Bevölkerung im Beni. Dabei gab es auch wieder Tote. Warum schweigt die MAS selbst zu den Toten und stützt damit ein gewaltsames Vorgehen der Regierung gegen die protestierende Bevölkerung?

Die Menschen, die im Beni blockierten, forderten den Rücktritt eines Präfekten, außerdem ging es um die Verteilung von Landtiteln. Natürlich haben sie jedes Recht für bessere Lebensbedingungen auf die Straße zu gehen. Aber angesichts der tiefen ökonomischen Krise, in der das Land sich derzeit befindet, kann keine Regierung, wer auch immer sie stellt, in nur drei Monaten alle Probleme lösen und alle Forderungen der Bevölkerung erfüllen. Es gab in Bolivien schon einmal eine sehr ähnliche Etappe. 1982, nach der Rückgewinnung der Demokratie, hatten wir eine Regierung, die aus einer Koalition von Linksparteien bestand. Sie kamen mit einem populistischen Programm, progressiven Ideen und einer breiten Unterstützung an die Regierung. Die selben Sektoren, die sie an die Regierung gebracht hatten, damals vor allem die Minenarbeiter, übten mit der Forderung nach Berücksichtigung ihrer Partikularinteressen permanenten Druck aus. Solange, bis sie eine totale Instabilität erzeugt hatten und der Präsident zurücktreten musste. Danach wurde es erst richtig schlimm, mit Präsidenten wie Gonzalo Sánchez de Lozada.

Darum beteiligt sich die MAS nicht mehr an den Mobilisierungen?

Ich bin der festen Überzeugung, wenn die MAS in diesem Moment anfinge zu mobilisieren und die Straßen zu blockieren, dann würde die Regierung keine 48 Stunden bestehen bleiben. Und danach, was käme dann? Nach der bolivianischen Verfassung würde der aktuelle Präsident des Senats die Nachfolge des Präsidenten antreten. Der ist ein Vertreter der MIR (Bewegung der Revolutionären Linken), die auch an der vorigen Regierung von Gonzalo Sánchez de Lozada beteiligt war. Damit würde man zum alten System zurückkehren. Es könnte sogar zu einer militärischen Intervention wie in Haiti kommen.

Eine der zentralen Forderungen der Oktoberunruhen war die Verstaatlichung der Erdgasvorkommen. Wie steht es momentan um die Eigentumsverhältnisse des Erdgases?

Nach der bolivianischen Verfassung sind alle fossilen Energiereserven unveräußerlich und gehören dem bolivianischen Staat. Im derzeit gültigen Energiegesetz gibt es aber eine Klausel namens boca de pozo. Die besagt, dass alle Vorkommen dem Staat gehören, solange sie unter der Erde sind. Sobald sie aber an der Oberfläche sind, gehören sie automatisch dem Konzern, der sie gefördert hat. Momentan existieren 78 Verträge über die Förderung und den Vertrieb des Gases, die die vorherige Regierung abgeschlossen hat. Und laut denen gehört das geförderte Gas den Unternehmen.

Dem für Juli geplanten Referendum über die Zukunft der Gasvorkommen wird eine absichtliche Auslassung der essentiellen Fragen vorgeworfen: Aller Voraussicht nach wird Präsident Mesa die Verträge mit den transnationalen Unternehmen nicht in Frage stellen. Wie ist die Position der MAS in Bezug auf eine Verstaatlichung? Wie geht ihr mit den abgeschlossenen Verträgen um?

Zuallererst wollen wir das Eigentum zurückgewinnen. Das bedeutet konkret, dass die gesamten Öl- und Erdgasvorkommen in den Besitz des staatlichen Energieunternehmens YPBF überführt werden müssen. Im Augenblick ist die YPBF praktisch vollkommen zerstört und besteht aus nichts weiter als ihren Buchstaben. Sowohl die Suche nach Energievorkommen als auch die Förderung und der Verkauf wurden an verschiedene ausländische Unternehmen übertragen.
Die MAS fordert die Annullierung des aktuellen Energiegesetzes, das die Grundlage für die Verträge mit den multinationalen Unternehmen und die Ausbeutung unserer natürlichen Ressourcen bildet. Wenn dieses Energiegesetz annulliert wird, sind auch die Verträge nicht mehr rechtskräftig.
Wir setzen uns außerdem für eine Revision der abgeschlossenen Verträge ein. Der Großteil der 78 Verträge wurde unter betrügerischen Bedingungen abgeschlossen. Sie sind das Produkt von Geldschiebereien, dubiosen Treffen und Geschäftsessen, in denen die Vorkommen praktisch verschenkt wurden. Ein großer Teil der Verträge verstößt gegen die Verfassung und zahlreiche Vertragsklauseln wurden einfach nicht eingehalten. Wenn wir jeden Vertrag einer Revision unterziehen, sparen wir uns möglicherweise Entschädigungszahlungen. Wir setzen momentan nicht unbedingt auf eine Verstaatlichung, weil das zugleich Entschädigungen für die Unternehmen bedeuten würde, die sich auf geschätzte zehn Milliarden Dollar belaufen würden – eine Summe, die der bolivianische Staat zu diesem Zeitpunkt unmöglich zahlen könnte. .
Neben den genannten Forderungen werden wir uns nach dem Referendum am 18. Juli im Parlament für eine Industrialisierung des Gases stark machen, damit wir nicht mehr ausschließlich Rohstoffe exportieren, sondern in Bolivien eine verarbeitende Industrie aufgebaut wird. Wir wollen erstmal die Verteilung des Gases an bolivianische Haushalte fördern und erst danach in andere Länder exportieren, und zwar zu fairen Marktpreisen.

Eure Partei heißt MAS – Movimiento al Socialismo, Bewegung zum Sozialismus. Was bedeutet dieser Name für euch? Welche Vorstellung habt ihr von dem Sozialismus, auf den ihr euch zu bewegt?

Nachdem der bolivianische Staat uns bereits zweimal die Anerkennung als politische Gruppe verweigert hatte, wurde auf einem großen Kongress in Cochabamba, zu dem viele Kokabauern aus den Yungas und dem Chaparé gekommen waren, die hinter Morales standen, das „Instrumento Político por la Soberanía de los Pueblos“ (IPSP) ins Leben, gerufen. Endlich gelang es uns, die Bewegung zu festigen und weiter zu entwickeln. Als Verband wurden wir anerkannt, als Partei aber wollte uns der Nationale Wahlrat wieder nicht akzeptieren.
Und genau in dieser Phase unserer Entwicklung ergab es sich, dass die Vereinigte Linke, bestehend aus der Kommunistischen Partei und einer Partei namens MAS, sich zerstritt und schließlich auflöste. Beide Parteien verloren ihre Basis, behielten aber ihren Status als Partei. Und so kam die MAS auf uns zu und bot uns an, den Namen, die Farben und die Papiere zu übernehmen. Also besetzten wir alle Posten, änderten das Statut und waren endlich zu einer Partei geworden.Die Menschen identifizierten sich sehr bald mit den Farben und dem Namen der MAS, und die Wahlen waren ein so großer Erfolg für uns, dass wir es bei der eigentlich als Provisorium gedachten Bezeichnung beließen.
Nun soll man uns aber nicht vorwerfen, wir benützten lediglich das Banner des Sozialismus für unsere Zwecke – wir sind eine Bewegung hin zum Sozialismus. In der andinen Kultur, in der Aymara- wie der Quechuakultur, bestimmen Traditionen wie die Solidarität, die Gegenseitigkeit und das Füreinander die Gemeinschaft. Es gibt nicht das Individuum als Person, sondern die solidarische Gemeinschaft. Das bedeutet: Schon bevor man die Theorie des Sozialismus definiert hat, gab es in den Gemeinschaften die solidarische Praxis. Was wir suchen ist eine neue Form des Sozialismus, der auf unseren Traditionen und den Überlieferungen aufbaut. Noch sind wir nicht sozialistisch – aber wir sind eine Bewegung zum Sozialismus.

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