Schwarzes Wochenende für den Präsidenten

Es war nicht sein Wochenende. Als ob er es geahnt hätte, schleppte sich am späten Sonntag Morgen des 26. Oktober ein zerknirschter und übermüdeter Alvaro Uribe Vélez an die Wahlurne, um das Kreuz für die Bürgermeisterwahl bei seinem Kandidaten Juan Lozano zu machen. Traditionell läutet der Präsident mit seiner Stimmabgabe am frühen Morgen den Wahltag ein. Uribe schien jedoch die Lust an der Symbolik abhanden gekommen zu sein. In den Knochen des Präsidenten steckte noch der Schmerz über das Scheitern des von ihm so gepuschten Referendums am Tag zuvor und die Ahnung, dass nur wenige Stunden später der Linkskandidat Luis Eduardo Garzón das Rennen um das Bürgermeisteramt der Hauptstadt Bogotá gewinnen würde.
Tatsächlich stieg die gemäßigte kolumbianische Linke in einer Konjunktur rechter Kasernenpolitik am letzten Oktober-Wochenende wie Phoenix aus der Asche empor. In der Hauptstadt Bogotá gewann der Kandidat der linken Sammelbewegung „Unabhängiger Demokratischer Pol“ (PDI), Luis Eduardo Garzón – auch bekannt als „Lucho“ –, mit 47 Prozent das Bürgermeisteramt und hat somit die nächsten vier Jahre den zweitwichtigsten Posten in der kolumbianischen Politik. „Man muss vor uns keine Angst haben“, rief Garzón seinen AnhängerInnen entgegen und stellte klar, dass seine Politik „kein Kampf zwischen Armen und Reichen“ werden wird.
Auch in anderen Regionen des Landes verbuchten linke und unabhängige Kandidaten Erfolge. In der Provinz Valle del Cauca gewann der Ex-Arbeitsminister unter Präsident Pastrana und PDI-Angehörige Angelino Garzón den Gouverneursposten, in der Metropole Medellín konnte entgegen allen Umfragen der Mathematik-Professor Sergio Fajardo von der Sozialen Indigenen-Allianz das Bürgermeisteramt erringen.

Chance für den Machtwechsel
Der Erfolg ist laut dem Analysten Ernesto Cortes Fierro ein deutliches Zeichen dafür, dass die gemässigte Linke in Kolumbien nun die Chance hat, an die Macht zu kommen. Ein Novum in der blutigen Geschichte Kolumbiens, nachdem diese in den letzten Jahrzehnten durch Hunderte von Morden seitens rechter Todesschwadrone aufgerieben und in den Untergrund getrieben wurde. Doch auch innere Querelen und ideologische Konflikte machten Fortschritte in den letzten Jahren zunichte. Nach dem Achtungserfolg von „Lucho“ Garzón vor eineinhalb Jahren bei den Präsidentschaftswahlen stellten Zerwürfnisse innerhalb des „Demokratischen Pols“ die Hoffnungen auf eine stabile linke Bewegung in Kolumbien in Frage. Mehrere Abgeordnete des „Demokratischen Pols“ sagten sich von der Linie Garzóns ab, um radikalere Positionen gegenüber Uribe zu vertreten. Der konnte diese im Wahlkampf zum Bürgermeister jedoch wieder auf seine Seite ziehen. Laut dem Analysten Daniel Samper Pinzón kennt keiner besser als der ehemalige Gewerkschafter „Lucho“ die Gründe für die vielfache Selbstzerstörung innerhalb der Linken und wüsste diese zu vermeiden.

Ein kolumbianischer Lula?
Der 52-jährige Garzón könnte als Abbild des brasilianischen Präsidenten „Lula“ da Silva gelten. Aufgewachsen ohne Vater und in bitterer Armut, verdiente sich „Lucho“ während der Schulzeit Geld als Kofferträger, Aushilfe in Tischlereien und kleineren Nebenjobs. Nach dem Abitur stieg er als Bote bei der staatlichen Erdölfirma Ecopetrol ein, bei der er eine 30 Jahre andauernde Karriere als Gewerkschafter begann. „Lucho“ war mehrere Jahre Vizepräsident der Erdölarbeitergewerkschaft USO sowie Präsident des Gewerkschaftsdachverbandes CUT.
Als hoher Gewerkschaftsfunktionär ging auch an ihm die Welle von Mordanschlägen nicht spurlos vorüber. 1986 verlor er seinen besten Freund Leonardo Posada von der Linksbewegung Unión Patriótica, die in den folgenden Jahren Tausende Mitglieder durch Anschläge verlieren sollte. Im Oktober 1998 wurde neben ihm während eines Streiks der Präsident der CUT, Jorge Luis Ortega, erschossen. Morddrohungen nahmen Überhand und Lucho und weitere Gewerkschafter den Weg ins Exil in die Schweiz. Dort hielt er es jedoch nicht lange aus. Im letzten Jahr kandidierte er – als erster Linker seit Jahren – bei den Präsidentschaftswahlen und fuhr mit knapp 700.000 Stimmen einen beachtlichen dritten Platz ein.
Trotz Grabenkämpfen in der eigenen Bewegung und der kolossalen Wahlkampfmaschine Uribe Vélez konnte „Lucho“ 17 Monate später bei der Kommunalwahl triumphieren. „Ab jetzt können wir niemandem mehr die Schuld geben, ab jetzt müssen wir mit absoluter Transparenz regieren“, so Garzón vor seinen AnhängerInnen in der Wahlnacht, in der er ihnen die kommende Verantwortung klar machte, da alle Augen auf ihnen haften würden.
Garzón kündigte statt autofreier Tage, die von seinen Vorgängern gefördert wurden, Tage ohne Hunger an. Alle Kinder in der durch Flüchtlinge rasant anwachsenden Hauptstadt sollen in den Genuss städtischer Ernährungsprogramme kommen. In den weitläufigen Armenviertel will Lucho Garzón bei Amtsantritt den sozialen Notstand ausrufen. Wie und womit er sein Sozialprogramm umsetzen will, liess er im Detail offen. Sicher wird jedoch die Opposition im Stadtrat gegen ihn sein, wenn er die Strategien der Vorgänger, die eine Rückeroberung des öffentlichen Raums und verschärfte Sicherheitspolitik betrieben, antastet.
Ein weiteres Problem könnte ihn zukünftig quälen: zehn Tage vor dem Urnengang zog die traditionelle Liberale Partei ihren Kandidaten zurück und kündigte die Unterstützung von Lucho an. Der nahm dankend an und zog somit eine kriselnde, aber in der Struktur mächtige Traditions-Partei ins Boot, die ihn unter Druck setzen und allzu linke Vorstellungen vom Tisch fegen könnte.
Für den Historiker und Schriftsteller Arturo Alape gehen von den Wahlsiegen wichtige Signale aus. „Bei der FARC-Guerilla sollten jetzt die Alarmsirenen läuten, da ein politisches Projekt mit sozialem Hintergrund offenbar Platz in der Demokratie hat“, so Alape. Tatsächlich stellt der Erfolg linker Kandidaten die Guerilla de facto vor eine schwierige Situation. Sollten die politischen Ziele der gerade Gewählten fruchten, könnte dies die brüchige Existenzgrundlage der linken Rebellenbewegungen überholen.

Schlappe für Uribe
Der Verlierer des Wahl-Wochenendes war zweifelsohne der rechte Präsident Uribe. Mit den neuen Lokalpolitikern, die teils in scharfer Opposition zu seinem militärischen Konfrontationskurs gegen die Rebellen und der Sicherheitspolitik stehen, wird das Regieren für den bisher unangefochtenen Uribe, der noch immer mit einer 75-prozentigen Unterstützung seitens der Bevölkerung rechnen kann, unbequemer.
Doch weit schlimmer entpuppte sich das Scheitern des sicher geglaubten Referendums einen Tag vor den Kommunalwahlen, das tiefe Einschnitte in der Haushaltspolitik und Staatsreformen vorsah. Die Gehälter von knapp einer Million öffentlich Angestellter sollte per Volksentscheid die nächsten zwei Jahre eingefroren sowie der Kongress deutlich verkleinert werden. Das Ziel: Einsparungen von mehr als 2,5 Milliarden Euro in den nächsten Jahren. Uribe pokerte mit seiner hohen Popularität und streifte durch Fernseh- und Radioshows. Auch durch Besuche bei der kolumbianischen TV-Version von „Big Brother“ und zahlreiche Debatten und Interviews erreichte er nicht die notwendige Beteiligung von mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten.
So musste das Kabinett wenige Tage später den so genannten „Plan B“ aus dem Boden stampfen, der die Finanzpolitik des Landes stabilisieren soll. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 17 Prozent, neue Steuern auf Renten und Eigentum sollen den Schuldendienst und die erhöhten Militärausgaben nicht ins Stocken geraten lassen.
Auch wenn Uribe bei dem Haushalt die Niederlage im Referendum durch andere Maßnahmen wettmachen kann, wird er die bisher verlässliche Geschlossenheit im Kongress nicht wieder erlangen können. Die Verletzlichkeit Uribes hat einige Abgeordnete seiner Linie zur Kritik ermutigt, die der Präsident mit harschen Worten abbügelte. Das Ergebnis sollte folgen: Zunächst wurde der bereits im Referendum existierende, aber vom Verfassungsgericht entfernte Punkt einer möglichen Wiederwahl von Präsidenten und Gouverneuren im Parlament abgelehnt, wenige Tage später geschah das Gleiche mit dem so genannten Antiterror-Statut, das dem Militär erweiterte Rechte bei Festnahmen und Durchsuchungen erlauben soll. Nur der skandalöse Abbruch der Abstimmung im Abgeordnetenhaus konnte zunächst eine sofortige Niederlage hinausschieben.

Innenminister nimmt den Hut
Das Fass zum Überlaufen brachte jedoch der polemische und umstrittene Innenminister Fernando Londoño Hoyos, der am 5. September einen möglichen Rücktritt des Präsidenten Uribe als Druckmittel in die Diskussion brachte. Um der Regierung den Rückhalt der Konservativen Partei, die enorm an Einfluss eingebüßt hat, zu sichern, sprach Londoño gegenüber deren Vertetern von einem möglichen Rücktritt Uribes, sollten ihm zukünftig die Hände wegen mangelnder Unterstützung gebunden sein. Die Ankündigung wurde von jemandem aufgenommen, machte in den Medien die Runde und besiegelte das politische Ende Londoños. Dieser hatte bereits in der Vergangenheit mehrfach Abgeordnete als „kiffende Politiker“ beschimpft, die Opposition gegen Uribe in die Nähe der Guerilla gestellt und in der Vergangenheit krumme Geschäfte mit Aktien gemacht.

Uribe als Workingclass Hero?
“Mir bleiben weitere sechs Jahre”, versicherte Uribe auf einer Veranstaltung nach Bekanntwerden des Eklats, nachdem Abgeordnete mutmassten, dass Londoño die wahren Gedanken Uribes widerspiegelte. „Drei Jahre tagsüber, und weitere drei Jahre, wenn man die Nächte an Arbeit zusammenzählt“, so Uribe. „Arbeiten, arbeiten und arbeiten“, heißt das ewige Motto des Präsidenten, das er laut der Kolumnistin María Jimena Duzán nach der Niederlage lieber in „Nachdenken, nachdenken und nachdenken“ ändern sollte, um sich wieder der Realität des Landes anzunähern.
Eine Niederlage, die laut der Politikwissenschaftlerin Adriana Delgado das Ende der „Einstimmigkeit“ zugunsten Uribes bedeutet und „im kontinentalen Kontext“ steht. „Der Sieg von Garzón in Bogotá ist das Ergebnis der Neuorientierung der lateinamerikanischen Linken, einer moderaten Linken, die versteht, dass sie eine Machtalternative mit einem neu konzipierten Sozial- und Wirtschaftsmodell ist.“

Die Diktatur in der Schweiz Südamerikas

Mitte der 70er Jahre erlangte Uruguay traurige Berühmtheit als “Folterkammer Lateinamerikas”. Einer Schätzung von amnesty international zufolge befanden sich allein 1976 mehr politische Häftlinge in den Gefängnissen des Landes (im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung von drei Millionen Menschen) als irgendwo sonst auf der Welt. Insgesamt wurden 40.000 Menschen während der Diktatur verhaftet, die meisten gefoltert und viele ermordet. Über den Verbleib von knapp 200 Personen gibt es bis heute keine Gewissheit. Und auch die zumeist erzwungene Auswanderung seiner Bürger belastete das Land schwer: bereits 1979 lebten 8,6 Prozent der Uruguayer im Ausland.
Doch wie konnte es zu solch einer Repression und dem Niedergang der demokratischen Werte kommen? Schließlich war Uruguay eines der wenigen Länder Lateinamerikas mit langer demokratischer Tradition, einem in Zeiten großen Wohlstands entwickelten Sozialsystem und gewaltigen Exportüberschüssen. Bis in die 50er Jahre galt Uruguay deswegen noch als die „Schweiz“ Lateinamerikas oder auch als „Modell Uruguay“, das zum Teil deutlich von der Entwicklung der übrigen Länder der Region abwich. Gelang es dem Land noch, sich von der Weltwirtschaftskrise zu erholen und beinahe wieder an die Erfolge von vorher anzuknüpfen, war der Konjunktureinbruch ab 1955 unvermeidlich. Die völlige Abhängigkeit der klassischen Exportgüter (Fleisch, Leder, Wolle) vom Weltmarkt und der generelle Rückgang der Nachfrage nach diesen Gütern, die Schließung des europäischen Marktes durch Gründung der Europäischen Gemeinschaft und das Erreichen der immanenten Wachstumsgrenzen für Industrialisierung und Agrarproduktion hatten die Stagnation der Wirtschaft zur Folge. Die Arbeitslosigkeit stieg während die Löhne sanken, die Inflationsspirale setzte sich in Bewegung. Gleichzeitig bürdeten der sozialstaatliche Ausbau und besonders die aufgeblähte staatliche Verwaltung der Regierung dem Land nicht mehr zu tragende Kosten auf und ließen keine Investitionen mehr zu.

Der Aufstieg der Tupamaros

In dieser späten ökonomischen „Lateinamerikanisierung“ Uruguays liegen die wesentlichen Ursachen für die Krise der bürgerlichen Demokratie, der politischen Polarisierung der 60er Jahre und letztlich des Zusammenbruchs der Demokratie. Wirtschaftliche Stagnation, Perspektivlosigkeit und Reformunfähigkeit bereiteten schrittweise den Weg in die Diktatur, und nicht so sehr die sozialen Spannungen, die erst als Reaktion darauf offen zu Tage traten.
Die sichtbaren Folgen der Krise waren empfindliche Einbußen im Realeinkommen und im Lebensstandard. Dies galt für fast alle sozialen Schichten, von der oberen Mittelschicht an abwärts. Die Gefahr der sozialen Deklassierung war auf Grund des erschöpften sozialen Systems allgegenwärtig und die Verteilungskämpfe spitzten sich dramatisch zu. Eine neue soziale Bewegung versuchte entschieden gegen die sozialen Missstände anzugehen: die Nationale Befreiungsbewegung Tupamaros. Diese gewaltbereite Bewegung, gegründet 1962 aus Solidarität mit den ausgebeuteten Zuckerrohrarbeitern, wurde später überwiegend von Studenten und Intellektuellen geführt und konstituierte die erste marxistische Stadtguerilla-Organisation Lateinamerikas. Mit Bombenanschlägen, Banküberfällen, Betriebsbesetzungen, Entführungen und auch Morden forderten sie die Staatsmacht heraus, um deren Unfähigkeit und Korruption, den Sozialabbau sowie die willkürlichen Strafmaßnahmen durch Polizei und Militär anzuprangern. Die fortschreitende soziale Polarisierung und Deklassierung im städtischen Umfeld verhalf den Tupamaros Ende der 60er Jahre zu einem großen Zulauf von Mitkämpfern und Sympathisanten, so dass sie ihr Handeln großflächig ausweiteten.

Schleichend in die Diktatur

Uruguays Weg in die Diktatur beschleunigte sich aber zunächst schon ab 1967 durch den Amtsantritt von Jorge Pacheco Areco als neuen Präsidenten. Im Jahre zuvor gelang es den Colorados – neben den Blancos eine der beiden großen Volksparteien im bis in die 70er Jahre dominierenden Zweiparteiensystems Uruguays – durch ein Referendum die Regierungsform zu ändern. Dieser Schritt war in der langen demokratischen Tradition des Landes bereits mehrere Male durchgeführt worden, wenn die jeweilige Regierung bei fundamentalen Problemen nicht weiter wusste. Von dem kollegialen Regierungssystem, das die Exekutive in verschiedene Hände, unter anderem auch in die der Opposition legte, wechselte man wieder zum Präsidialsystem, das die Machtposition des gewählten Präsidenten verstärkte. Pacheco Areco ergriff bereits eine Woche nach seinem Amtsantritt drastische Maßnahmen. Unter seiner Regierung wurden politische Gruppen und Publikationen verboten und zensiert. Die militärische Repression verstärkte sich gegen jegliche, zumeist linke Gruppierungen, die im Verdacht standen, mit den Tupamaros zu sympathisieren. Bis 1972, bis zum Amtsantritt des letzten gewählten Präsidenten Juan María Bordaberry, der wie Pacheco Areco den Colorados angehörte, herrschte fast durchgehend das Ausnahmerecht der Regierung – damit konnte man gegen die Tupamaros angehen, deren Aktionen ihren Höhepunkt erreicht hatten. Der Polizei und dem Militär wurden größere Vollmachten für den Kampf gegen die Guerilla gegeben, die diese aber zunehmend auch gegen Studenten- und Gewerkschaftsdemonstrationen missbrauchten.
Die spektakulärsten Aktionen der Tupamaros, der Mord an einem US-Geheimdienstler 1970 und die Entführung des britischen Botschafters 1971, hatten beide Male für mehrere Wochen die Aufhebung aller Bürgerrechte zur Folge. Und nachdem im September 1971 mehr als 100 Tupamaros aus dem Gefängnis fliehen konnten, wurden der Armee sämtliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Guerilla anvertraut. Juan María Bordaberry hielt an der Linie seines Vorgängers fest und autorisierte umfassende Bürgerkriegsmaßnahmen der Armee gegen die letzte Offensive der Tupamaros, die mit flächendeckender Repression der mittlerweile sehr gut ausgestatteten und vorbereiteten Militärs relativ schnell niedergeschlagen wurde. Die überlebenden Guerilleros kamen ins Gefängnis oder flohen ins Exil. Neben dieser offenen Gewalt war Bordaberrys erstes Amtsjahr von der beinahe durchgängigen Aufhebung der Bürgerrechte, der unaufhaltsam fortschreitenden Inflation und den aus der sozialen Not resultierenden Spannungen, die sich durch eine Vielzahl von Streiks der Gewerkschaften Luft zu schaffen versuchten, geprägt.
Nach der gewaltsamen Befriedung des Landes waren die Militärs nicht mehr bereit, die ihnen übertragenen besonderen Vollmachten wieder abzugeben. Bereits im Februar 1973 meuterten Armee und Luftwaffe und forderten ihrerseits nun drastische politische, ökonomische und soziale Reformen. Die Bevölkerung verhielt sich auffallend ruhig, ging nicht auf die Straße und es waren gerade Teile der Opposition und linke Demokraten, die lieber auf die angeblich progressiven Generäle setzen wollten, als auf die konservative Regierung. Die Folge war ein Pakt zwischen Bordaberry und den Militärs sowie die Schaffung eines Nationalen Sicherheitsrates, eines zivilmilitärischen Organs, das dem Parlament zur Seite gestellt wurde und den Militärs unterstand. Es wurde ihnen ebenfalls weit reichende Beraterfunktionen und Beteiligung bei politischen Entscheidungen gewährt. Nach diesem kleinen Coup folgte wenige Monate später der letzte Schritt in ein autoritäres System.

Der Coup

Gestützt durch das Militär löste Präsident Bordaberry am 27. Juni 1973 das Parlament auf und ersetzte es durch einen von den Militärs dominierten Staatsrat. Die politischen Grundrechte und die beiden Traditionsparteien wurden suspendiert, die kleinen Parteien aufgelöst, deren Führer sowie die der Studentenverbände und Gewerkschaften verhaftet. Ein kurzer, zweiwöchiger Generalstreik als Reaktion auf den Staatstreich wurde mit starker Repression und Lohnerhöhungen gebrochen. Wenige Tage später kontrollierten die Militärs nicht nur das Land, sondern auch alle Institutionen.
Im Gegensatz zu den Diktaturen in den Nachbarländern gab es in Uruguay keine überzeugende Führungspersönlichkeit unter den Militärs, sondern verschiedene Wechsel in der obersten Heeresleitung, wie es auch überhaupt in den zwölf Jahren des totalitären Regimes verschiedene Phasen gab. Während seiner gesamten Herrschaft gelang es dem Regime weder dauerhaft wirtschaftliche Erfolge vorzuweisen, noch sich selber institutionell zu legitimieren. Der Widerstand und die Verweigerung der wichtigsten politischen Gruppen und Politiker sowie des Großteils der Bevölkerung wirkten von Anfang an der Verankerung des Regimes und der Schaffung wirksamer zivil-militärischer Koalitionen entgegen. Die Diktatur wurde durch diese breite Ablehnung und die tief verwurzelte demokratische Tradition, aber auch durch das große soziale Elend schon sehr früh geschwächt. Starken Druck übte auch die Carter-Administration auf die Junta aus, so dass der Versuch, sich selber zu institutionalisieren aufgegeben werden musste und Ende der 70er Jahre Kräfte unter den Militärs die Oberhand gewannen, die eine paktierte Rückkehr in die Demokratie anvisierten. Heraus kam am Ende ein Elitenkompromiss zwischen Militärs und demokratischer Opposition, über die die Junta zunehmend die Kontrolle verlor und gegen deren Mobilisierung der Massen sie nichts mehr unternehmen konnte.

Die Geburt der Frente Amplio

Die erste Phase der zivil-militärischen Allianz auf der Basis des Ausnahmezustands zerbrach bereits nach drei Jahren, als Präsident Bordaberry sein Amt zwangsweise niederlegen musste, da er mit seinen rigiden Verfassungsreformen selbst den Militärs zu weit ging, die nach außen hin den Anschein der Demokratie bewahrenden Erneuerer erwecken wollten. Als neuer und den Militärs ergebener Präsident wurde bis 1981 Aparicio Méndez installiert. Die Junta erklärten sich selber aber zum Souverän, der den Präsidenten, die Mitglieder des Staatsrates, alle wichtigen Amtsträger und Richter selbst ernennen konnte. Nur ein „Zeugnis der politischen Verlässlichkeit“ verhalf zu Ämtern im Staatsdienst. 15.000 politisch aktive Uruguayer verloren in dieser Zeit des größten Terrors sämtliche Bürgerrechte.
In einer zweiten Phase versuchten die Militärs zunächst sich selbst zu legitimieren und danach, ihre Vorstellungen einer autoritären Übergangsverfassung durchzusetzen. Damit scheiterten sie aber und leiteten den Niedergang des Regimes ein. Die demokratische Opposition, besonders das junge erstarkende Bündnis aus Linken und Christdemokraten, Frente Amplio, und große Teile der Blancos, organisierten sich im Untergrund und mobilisierten die Bevölkerung erfolgreich gegen das von den Militärs ausgerufene Plebiszit von 1980, in dem eine große Mehrheit gegen einen von den Militärs geleiteten Übergang in die Demokratie abstimmten.
Die Dynamik der wieder freigesetzten demokratischen Politik bestimmte die letzte Phase der Diktatur, in der die Militärs auf Grund der nicht erreichten Selbstlegitimierung, massiver Generalstreiks und der katastrophalen Wirtschaftslage den geordneten Rückzug und die Redemokratisierung anstrebten. Ein weiterer Versuch (1982) sich doch noch durch Zulassung von Wahlen der Parteiführung der beiden Traditionsparteien abzusichern schlug ebenso fehl, da durchweg Gegner des Regimes gewannen. Es blieb den Militärs nichts anderes übrig, als mit den Oppositionsgruppen 1984 ihr eigenes Ende zu paktieren und freie Wahlen für November desselben Jahres anzusetzen, aus denen der Colorado Julio María Sanguinetti als erster postdiktatorischer Präsident hervorging und im März 1985 sein Amt antrat. Trotz des unerwarteten Wechsels in ein autoritäres Regime, war es den Militärs in Uruguay nicht gelungen, die demokratischen Strukturen für lange Zeit auszuschalten. Allerdings konnten die Militärs eine Amnestie für sich durchsetzen, die 1989 durch ein Referendum auch legitimiert wurde.

Die Verschwundenen sind Anwesend

Mehr als zweieinhalb Jahre lang versuchte die im August 2000 vom Präsidenten Jorge Batlle eingesetzte Kommission für den Frieden (Comisión para la Paz) das Schicksal der in Uruguay während der Militärdiktatur Verschwundenen aufzuklären. Am 10. April 2003 stellte sie ihren Abschlussbericht in Montevideo vor. Die Kommission, die von Nicolás Cotugno, dem Erzbischof von Montevideo geleitet wurde, stellte fest, dass in Uruguay 38 Personen verschwanden, davon 32 uruguayischer und sechs argentinischer Nationalität. 26 der 32 UruguayerInnen werden offiziell als verschwunden bestätigt, in sechs weiteren Fällen konnte kein Zusammenhang mit dem Auftrag der Kommission festgestellt werden. „Den nationalen Frieden zu festigen und den Frieden zwischen den UruguayerInnen für immer zu besiegeln“, so lautete der Regierungsauftrag bei Einsetzung der Kommission. Dazu sollte konkret die Situation und das Schicksal der Verhafteten-Verschwundenen während der Zeit des Militärregimes untersucht werden. Akribisch werden die Namen der Verschwundenen aufgelistet: neben den 38 in Uruguay festgestellten Fällen, verschwanden in Argentinien insgesamt 182 uruguayische StaatsbürgerInnen, in Chile sieben, in Bolivien eine Person und in Paraguay zwei.
Als politische Aussage wird festgestellt, was im Land seit Ende der Militärdiktatur Anfang 1985 niemals offiziell ausgesprochen wurde: Während der Militärdiktatur folterten die staatlichen Sicherheitskräfte, hielten ohne richterlichen Befehl Menschen in geheimen Zentren fest, ließen Menschen verschwinden, brachten Menschen um und begingen weitere schwere Vergehen gegen die Menschenrechte.

Fortschritt oder Augenwischerei?

Obwohl von allen anerkannt wird, dass die politische Aussage, die erstmals die direkte Verantwortung der Staatsorgane und des Militärs offen ausspricht, einen Fortschritt darstellt – über 15 Jahre lang war die offizielle Sprachregelung „Es wurden beim Verhalten einiger staatlicher Stellen während der Militärdiktatur Referenzpunkte verloren“ – fällt die Reaktion auf den vorgelegten Abschlussbericht der Kommission erwartungsgemäß sehr unterschiedlich aus. Das dürftige Resultat sehen selbst einige Kommissionsmitglieder kritisch. „In den meisten Fällen sind nicht zehn Prozent der Wahrheit ans Licht gebracht worden, und in einigen Fällen ist gar nichts Neues hinzugekommen“, so ein Mitglied der Kommission.
Zumindest wird nicht verschleiert, warum die Datenlage so dünn ist. Die Kommission hatte keine juristischen Vollmachten und es gab nahezu keine Unterstützung durch die Militärs und die Polizei, im Gegenteil. Schon während der Arbeit der Kommission und besonders nach Vorstellung des Abschlussberichtes meldeten sich die obersten Militärs unverhohlen mit nebulösen Drohgebärden zu Wort: So drohte der oberste Militärbefehlshaber Uruguays, der General Carlos Daners, Mitte Mai während eines Vortrags vor der Militärakademie, bei dem auch der Präsident anwesend war, damit, dass die Ruhe im Land gestört werden könnte, sollte das Thema der Verschwundenen weiterverfolgt werden.

Wo sind die Toten?

Besonders umstritten ist eine Vermutung, die im Bericht der Kommission ausgesprochen wird und die sich nur auf die Aussagen von nicht näher genannten Angehörigen des Militärs stützt. Die sterblichen Überreste von insgesamt 25 Verschwundenen, die seit 1973 sterben mussten, sollen 1984 ausgegraben, daraufhin verbrannt und die Asche in der Nähe eines Stadtrandviertels von Montevideo in den Río de la Plata geschüttet worden sein. Diese Behauptungen kann die Kommission nicht beweisen und so vermuten viele, dass diese Version lanciert wurde, um zu signalisieren, dass es keinen Sinn macht, weiter nach den sterblichen Überresten der Verschwundenen zu suchen. Dabei sollte das Beispiel Chile, wo die Militärs eine ähnliche Spur legten, die sich später als falsch herausstellte, eine Lehre sein.
Für den Senator Rafael Michelini vom linksliberalen Nuevo Espacio ist es offensichtlich, dass es sich hier um ein Ablenkungsmanöver handelt. Sein Vater Zelmar Michelini war selbst eines der prominentesten Opfer der Zusammenarbeit zwischen den uruguayischen und argentinischen Militärdiktaturen: der Mitgründer der Frente Amplio wurde zusammen mit dem ehemaligen Vorsitzenden des Repräsentantenhauses Héctor Gutiérrez Ruiz von der Partido Nacional im Mai 1976 in Buenos Aires verschleppt und vier Tage später ermordet aufgefunden. Für Rafael Michelini muss die Suche nach den sterblichen Überresten der Opfer des Terrors weitergehen bzw. eine ernsthafte Untersuchung, die auch juristisch gegen die Verantwortlichen vorgehen kann, muss jetzt endlich beginnen.

Schlussstrich?

Für den Präsidenten Jorge Batlle, der im Gegensatz zu seinen Vorgängern das Thema nicht komplett ausblendet, ist der Kommissionsbericht der punto final, der Schlussstrich unter das Thema der Verhafteten-Verschwundenen und er verfolgt das Ziel, das auch gesetzlich zu verankern. Dazu rang er sich durch, die politischen Aussagen der Kommission anzuerkennen, obwohl er unter dem Druck der Militärs stand. Andererseits betrachtet er aber im Nachhinein den Bericht als die im Gesetz zur Straflosigkeit von 1989 geforderte Untersuchung des Schicksals der Verschwundenen.
In diesem Sinne unterzeichnete er am 16. April ein Regierungsdekret. Für die Vereinigung der Mütter und Angehörigen der Verhafteten und Verschwundenen in Uruguay (Madres y Familiares de Uruguayos Detenidos Desaparecidos) ist der Abschlussbericht der Kommission für den Frieden alles andere als ein Schlussstrich und sie weisen darauf hin, dass nie von einer Untersuchung und damit von der Erfüllung der Verpflichtung des 4. Zusatzes zum Gesetz über die Straflosigkeit von 1989 geredet wurde.
„Wir sind weit davon entfernt, dass das Kapitel der Verschwundenen in Uruguay geschlossen wird. Wir glauben, dass das bestätigt wurde, was wir alle schon geahnt hatten. Dass die Kommission von Beginn an keine Mittel hatte, tatsächlich etwas zu untersuchen, kein einziger Körper ist aufgetaucht, keine neuen Fakten wurden herausgefunden“, so die Vereinigung in einer Stellungnahme nach Vorlage des Berichtes.

Straffreiheit statt Aufklärung

Und mehr noch, der Schlusspunkt soll auch für zivile Personen, denen als Funktionsträger während der Militärdiktatur Verbrechen gegen die Menschenrechte zur Last gelegt werden, gelten. Auch dass soll per Dekret neu geregelt werden. Konkreter Anlass dafür ist die Bestätigung des Urteils gegen den ehemaligen Kanzler Juan Carlos Blanco, der unter der Regierung Bordaberry 1973 den Weg zur Militärdiktatur ebnete und der verantwortlich gemacht wird für das Verschwinden von Elena Quinteros. Die junge Lehrerin wurde 1976 aus der Botschaft von Venezuela in Montevideo, wohin sie sich geflüchtet hatte, verschleppt. Blanco, der sechs Monate in Untersuchungshaft saß, wurde zwar mit Hilfe des Präsidenten der Republik Anfang Mai 2003 freigelassen, das Verfahren gegen ihn läuft aber weiter und ihm droht eine mindestens sechsjährige Haftstrafe. Das Hauptproblem der Regierung Batlle ist denn auch im Moment nicht, nach Wegen zu suchen, wie die Kommission weiterarbeiten kann, sondern wie sie Straffreiheit auch für die zivilen Verantwortlichen der Militärdiktatur ermöglicht. Dazu gibt es drei Ideen: die Ausweitung des Gesetzes über die Straflosigkeit auch für Zivile, eine Begnadigung oder eine Amnestie. Der ehemalige Präsident Juan Maria Bordaberry steht ebenfalls auf der Anklageliste, ihm wird vorgeworfen, verantwortlich für die Ermordung von Gewerkschaftern im Jahr 1973 zu sein.
Aber das Thema ist nicht von der Tagesordnung: Anfang Mai versammelten sich Hunderte von DemonstrantInnen vor dem Haus des ehemaligen Kanzlers Blanco im noblen Stadtviertel Carrasco und veranstalteten ein „Escrache“, eine Art spontane Demonstration vor seinem Wohnhaus. Auch der Präsident wurde scharf angegriffen, „dieser ehemalige Staatsangestellte lebt heute in seinem Frieden, ebenso wie der Präsident, der am Ende seiner frustrierenden Amtsperiode ohne Freunde ist. Er hat sich eine Kommission für seinen Frieden geschaffen, eine Kommission für seinen Frieden und den Frieden von Juan Carlos Blanco. Diese Kommission hat nicht dazu getaugt, die Folterer und Mörder zu befragen, aber wohl hat sie dazu getaugt, die Verantwortlichen freizulassen. 30 Jahre nach dem Putsch werden wir eine Welle der Proteste hervorrufen, damit nicht Bordaberry, nicht die Militärs, nicht irgendein anderer der Täter von damals und heute Ruhe findet.“

Die Terrorbilanz

Einer der Täter von damals, der 1971 mit nur 22 Prozent der abgegeben Stimmen zum Präsidenten gewählte Politiker Juan María Bordaberry vom ultrarechten Flügel der Colorado-Partei unterzeichnete am 27. Juni 1973 ein Dekret, mit dem die beiden Kammern des uruguayischen Parlamentes aufgelöst wurden. Kurz darauf, im Morgengrauen des nächsten Tages besetzten Militärs das Parlamentsgebäude.
Dieser Staatsstreich zerstörte den Mythos vom zivilen und demokratischen Sozialstaat Uruguay. Das Parlament wurde aufgelöst, öffentliche Versammlungen wurden untersagt, Gewerkschaften und linke Parteien wurden verboten, eine Pressezensur wurde eingeführt. Nach dem Staatstreich in Brasilien 1964 fielen die lateinamerikanischen Regierungen mit tatkräftiger Unterstützung der USA in den siebziger Jahren reihenweise in die Hände der Militärs: Uruguay im Juni 1973, kurz darauf putschte im September 1973 Augusto Pinochet in Chile, 1976 übernahmen die Militärs in Argentinien die Macht. Alle diese Länder verwandelten sich in Laboratorien des Terrors mit dem Ziel, die Zivilgesellschaft in ihrer Struktur zu zerstören und die politischen und sozialen Organisationen wie die Gewerkschaften zu zerschlagen und ein neo-liberales Wirtschaftsmodell zu etablieren.
Während der zwölf Jahre andauernden Herrschaft der Militärs war das ganze uruguayische Volk dem Terror ausgesetzt. Zwischen 1972 und 1984 wurden etwa 60.000 UruguayerInnen festgenommen, entführt, gefoltert und vor Militärgerichte gestellt. Mehr als 6.000 Personen wurden als politische Gefangene inhaftiert, für ein Land mit einer Einwohnerzahl von drei Millionen Menschen sehr hohe Zahl, die höchste Prozentzahl aller mit Folter und Terror belasteten lateinamerikanischen Ländern.
Während der Militärdiktatur verschwanden über 200 StaatsbürgerInnen. Viele davon wurden in Argentinien entführt, das bis 1976 eine zivile Regierung hatte und wohin sich viele UruguayerInnen nach dem Putsch im Juni 1973 geflüchtet hatten, dessen Militärs aber schon während dieser Zeit mit ihren KollegInnen aus Uruguay kollaborierten. Diese allgegenwärtige, allumfassende Bedrohungssituation und die Systematik des Terrors hatten tiefgreifende Auswirkungen auf das Alltagsleben, auf die Stimmung und auf das Miteinander in dem kleinen Land, in dem traditionell jeder jeden kennt und dessen Gesellschaft durch verwandtschaftliche oder freundschaftliche Bande miteinander verknüpft ist. Die Militärs, die nie einen gesellschaftlichen Rückhalt in der Bevölkerung hatten und die auch nicht mit der Unterstützung der ökonomisch dominierenden Klasse der Großgrundbesitzer rechnen konnten, zerbrachen durch den systematischen Terror gegen jeden und alles diesen gesellschaftlichen Konsens und zerstörten diese soziale Reproduktion durch ein Regime der Einsamkeit, der Unsicherheit, der Verunsicherung und der Depression. Muster, die die uruguayische Gesellschaft traumatisiert haben und sie bis heute prägen.

Der Voto Amarillo

Viele Generationen Uruguays kannten nur den Rechtsstaat. Der Bruch mit dieser zivilen, rechtsstaatlichen Tradition hatte Konsequenzen für die Nation als Ganzes. Dieses Trauma wurde mit dem so genannten „Voto Amarillo“, dem gelben Votum manifest. Für viele UruguayerInnen, die die Zeit der Militärdiktatur erlebt haben, ist diese Niederlage bis heute nicht überwunden.
Schließlich war Uruguay das einzige Land in Südamerika, in dem es eine Volksabstimmung darüber gab, ob es Straffreiheit für die Verbrechen der Militärdiktatur geben oder ob die Täter zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Der Verfassung nach müssen 25 Prozent der Wahlbevölkerung Unterschriften für ein Referendum leisten, das bei Erfüllung dieser Quote eingesetzt werden muss. 1987 wurde mit der Sammlung der Unterschriften begonnen. Ein steiniger Weg, der insgesamt über neun Monate dauerte, bis die Unterschriften zur Prüfung übergeben werden konnten.
Fast zwei Jahre zog sich dann das Ringen um die Unterschriften. Es gab Manipulationen und die regierende Colorado-Partei unter Julio María Sanguinetti versuchte das Plebiszit zu verhindern. Umsonst – am 16. April 1989 fand das Volksbegehren statt. Unverhohlen drohten die Militärs mit der Neuauflage der Diktatur, falls sich das Volk gegen die Straflosigkeit entscheiden sollte.
Und diese Kampagne fruchtete: Mit grün, also gegen die Straffreiheit stimmten 770.000 UruguayerInnen (43 Prozent), mit gelb, d.h. für die Straffreiheit knapp über eine Million (57 Prozent). Das Gesetz über die Straflosigkeit (Ley de la caducicad) war bestätigt. Gerade weil es eine Entscheidung des Volkes war und nicht die Entscheidung einer Regierung, ist dieses Votum bis heute für viele, die entweder verhaftet waren, gefoltert worden, ihren Besitz verloren oder die gezwungen waren, ins Exil zu gehen, eine offene Wunde. Angst und Drohungen bestimmten das Votum, trotz des Verständnisses der historischen Situation bleibt Bitterkeit und das Gefühl, umsonst einen Kampf geführt zu haben. Ein wesentlicher Grund, warum in Uruguay die Aufarbeitung der Geschichte der Zeit zwischen 1973 und Ende 1984 im Grunde noch nicht richtig begonnen wurde. Das Voto Amarillo steht bis heute für eine Paralysierung dieser Debatte.

Heute, mehr als jemals zuvor, niemals wieder!

Mehr als 40.000 Menschen demonstrierten am 20. Mai 2003 in Montevideo unter dem Motto „Wo sind Sie? Heute, mehr als jemals zuvor, niemals wieder!“ Am achten Schweigemarsch, der von den Müttern und Familienangehörigen der Verhafteten und Verschwundenen organisiert wird, nahmen in diesem Jahr so viele Menschen teil wie seit Jahren nicht mehr. Sie machten so deutlich, dass sie keinen Schlusspunkt wollen.
Die Menschen fordern endlich eine ernsthafte Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur. Eine machtvolle Manifestation gegen das Bestreben des Präsidenten Jorge Batlle, das Kapitel offiziell zu beenden. In absoluter Stille fand der Marsch statt, die Menschen trugen Fotos der Verhafteten und Verschwundenen mit sich und zum Abschluss der Demonstration wurden die Namen der Verschwundenen vorgelesen und die Menschenmenge antwortete: Anwesend!

Opposition im Misskredit

Vor einem Jahr, am 11. April 2002, stürzte eine Gruppe Armeegeneräle gemeinsam mit Großunternehmern den mit großer Mehrheit gewählten Präsidenten Venezuelas Hugo Chávez. Er wurde unter der Drohung, den Präsidentenpalast zu bombardieren, abgeführt, und der Vorsitzende des Unternehmerverbandes Pedro Carmona ernannte sich selbst am nächsten Tag zum neuen Präsidenten. Schnell wurde die Putsch-Regierung von den USA und Spanien anerkannt, der IWF bot Kredite an, während die Oligarchie im Präsidentenpalast Miraflores mit Champagner anstieß. Keine 48 Stunden später wurden die verfassungsmäßige Regierung und Präsident Hugo Chávez durch einen Aufstand von mehreren Millionen Menschen und loyalen Armeedivisionen wieder eingesetzt.
„In der Nacht vom 12. auf den 13. April dachte ich einen Moment lang die Veränderungen sind auf demokratischem Weg nicht möglich”, erklärte Chávez in einer Pressekonferenz. „Am nächsten Morgen sah es zum Glück anders aus und der Gedanke war nur eine flüchtige Idee. Denn wenn es auf demokratischem Weg nicht möglich ist, dann müssen wir in die Berge.

Gute Absichten – schlechte Zahlen ?

Die Unterstützung für Chávez ist weiterhin ungebrochen. Auch wenn es manchmal mit der Revolution nicht so einfach ist. Zwar wurde eine der progressivsten Verfassungen der Welt von 80 Prozent der Bevölkerung in einer Volksabstimmung angenommen und zahlreiche Gesetze und Programme zu Gunsten der Armen, Frauen und Indígenas verabschiedet, jedoch befindet sich die Justiz nach wie vor in den Händen der ehemals herrschenden Schichten. So entschied der Oberste Gerichtshof mit elf zu neun Stimmen, dass es im vergangenen Jahr keinen Putsch gegeben habe. Chávez sei nicht gefangen, sondern „in Schutz genommen” worden und die Militärs hätten in einem Machtvakuum „von guten Absichten geleitet” handeln müssen. Die Verfahren bezüglich der 19 Toten vom ersten Putschtag, die entgegen der Behauptungen der Opposition bis auf ein oder zwei Ausnahmen alle zu den AnhängerInnen des Präsidenten gehören, stocken. Ein Staatsanwalt, der in einem Fall die Verantwortung der von der rechten Opposition geführten Stadtpolizei von Caracas nachwies, erhielt Morddrohungen und auf ihn wurde geschossen.

Problem Wirtschaft

Auch die ökonomische Situation ist alles andere als einfach. Allein von 1999 bis Ende 2002 betrug die Kapitalflucht 32 Milliarden US-Dollar und die Sabotage der staatlichen Erdölindustrie im vergangenen Dezember und Januar, die international als Streik verkauft wurde, hinterließ Einnahmeausfälle von sieben Milliarden US-Dollar.
Zwar sind die Prognosen des IWF von 17 Prozent Minuswachstum im Jahr 2003 sicher stark übertrieben, aber dennoch ist die Situation alles andere als rosig. Mit einer Erholung der Wirtschaft kann wohl frühestens im zweiten Halbjahr gerechnet werden.
Die Regierung setzt derweil auf die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen und Landverteilungen. Eine halbe Million Hektar wurden allein in diesem Jahr – bevorzugt an Kooperativen – verteilt. Bis Ende des Jahres sollen es drei Mal so viel sein. Dafür wurde nicht einmal Land enteignet, sondern nur durch Großgrundbesitzer illegal angeeignetes Land zurückgeholt. Das wollen diese nicht hinnehmen. In der Region südlich des Maracaibo-Sees wurden in den vergangenen Jahren mehr als 60 Bauern im Auftrag der Großgrundbesitzer ermordet.
Die Opposition wähnt sich durch den Krieg gegen den Irak im Aufwind. Auf allen TV-Kanälen, bis auf das staatliche Fernsehen, läuft bereits seit zwei Wochen eine Kampagne gegen Chavez mit der Botschaft „Jetzt holen wir dich!” Das wird allerdings nicht ganz einfach werden.

Die Rolle der Medien

Obwohl die Opposition de facto alle großen Fernsehsender und Zeitungen kontrolliert, nahmen an der Demonstration zur Feier des letztjährigen Putsches nur wenige hundert Leute teil, andernorts zündeten kleine Gruppen zwei Fahrzeuge an. An der Demonstration zum Jahrestag von Chávez Rückkehr hingegen nahm etwa eine halbe Million Menschen teil, obwohl viele EinwohnerInnen Caracas die Hauptstadt wegen der Osterfeiertage bereits verlassen hatten.
Die Opposition hat sich durch die gewaltsame Aussperrung der Unternehmer, getragen von der Elitengewerkschaft CTV, und durch die Sabotage der Erdölindustrie stark diskreditiert. Selbst von vielen Chávez-Gegnern auf der Straße ist zu hören: „Weder mit der Regierung, noch mit der Opposition.“
CTV-Vorsitzender Carlos Ortega und der Vorsitzende des Unternehmerverbandes Carlos Fernandez, beide Multimillionäre und Führer der vergangenen Proteste, haben sich mittlerweile ins Ausland abgesetzt.

Hoffen aufs Referendum

Die regierungsnahen Kräfte sind sich daher sicher, dass Chávez die Volksabstimmung über seinen weiteren Verbleib zur Hälfte seiner Amtszeit im August diesen Jahres, auf das sich Regierung und Opposition erst am 10. April geeinigt hatten, gewinnen wird. Zuletzt wurde Chávez durch die Zustimmung zur neuen Verfassung in seinem Amt bestätigt.
Seit seiner Wahl zum Präsidenten 1998 wurden er und sein politisches Programm bereits in sieben Wahlen und Abstimmungen bestätigt. Eine Wahl würde die Opposition sicher verlieren, gespalten und diskreditiert wie sie ist.
Doch ihre Hoffnung ist ein einfaches Referendum, in dem nur nach einem Ja oder Nein zu Chávez gefragt würde. Daher tut die Opposition ihr Bestes, um die wirtschaftliche Situation weiter zu verschlimmern und die Volksabstimmung inmitten einer starken Rezession stattfinden zu lassen.
Zusätzlich wird versucht, ein Klima der Angst zu erzeugen. Zum Beispiel versuchen die TV-Kanäle den Zuschauern pausenlos den Eindruck zu vermitteln, Venezuela sei auf dem Weg zum „Castro-Kommunismus”. Kurz nach der Bekanntgabe der Einigung zwischen Regierung und Opposition bezüglich der Volksabstimmung richtete ein Bombenanschlag in der Nacht vom 11. auf den 12. April schwere Schäden am Sitz der Verhandlungskommission an.

“Ich steh’ zu Chávez!”

Die Täterschaft ist zwar bisher nicht nachgewiesen, doch regierungsnahe Kräfte haben sicher kein Interesse an einer solchen Destabilisierung.
Indes lautet eine trotzige Losung von Millionen VenezolanerInnen „Ohne Arbeit und mit Hunger, ich steh zu Chávez!”

Eine amerikanische Dreiecksbeziehung

Im April fand in Genf die alljährliche Konferenz der UN-Menschenrechtskommission statt. Die spannendste Frage war wie immer, ob es zu einer offiziellen Anprangerung Kubas wegen Menschenrechtsverletzungen kommen würde. Da die USA auf Grund mangelnder internationaler Unterstützung nicht mehr in dem Gremium vertreten sind, mussten sie sich bereits im letzen Jahr nach einem Land umschauen, welches den entsprechenden Antrag zur Verurteilung Kubas einbringen würde. Diese Aufgabe wurde damals von der Tschechischen Republik übernommen, die aber dieses Jahr signalisiert hatte, dass sie dafür nicht noch einmal zur Verfügung stehen würde. Die Bemühungen der USA konzentrierten sich daher voll und ganz auf die lateinamerikanischen Vertreter in der Menschenrechtskommission, da man sich der ideologischen Tragweite einer Verurteilung auf Initiative eines der “Bruderländer” vollkommen bewusst war.

Uruguay springt ein

Peru hatte sich, nachdem ein bilaterales Wirtschaftsabkommen mit den USA in Aussicht gestellt worden war, bereit erklärt, den Job zu übernehmen. Ein Tag vor Ablauf der Frist zur Antragannahme sah sich der peruanische Präsident Toledo jedoch gezwungen der eingegangenen Verpflichtung eine Absage zu erteilen, da das Parlament für eine “souveräne und autonome” Entscheidung in der Kuba-Frage gestimmt hatte. 15 Minuten vor Ablauf der Frist am 10. April reichte dann schließlich Uruguay den kontroversen Antrag ein und löste damit die schwerste Krise zwischen den beiden Ländern seit Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen im Jahr 1985 aus. Am 19. April kam es daraufhin zur Abstimmung, bei der der Antrag Uruguays zur internationalen Ächtung der sozialistischen Insel mit 23 Stimmen dafür, 21 Stimmen dagegen und acht Enthaltungen knapp angenommen wurde. Bis auf Kuba und Venezuela, die erwartungsgemäß gegen den Antrag stimmten, sowie Brasilien und Ecuador die sich enthielten, wurde er von den sieben anderen vertretenen lateinamerikanischen Ländern unterstützt. In dem verabschiedeten Text werden einerseits “die kubanischen Bemühungen im Bereich der sozialen Rechte angesichts der unvorteilhaften internationalen Lage” honoriert, andererseits wird aber eine einjährige Untersuchung der Menschenrechtslage durch einen Vertreter der UNO empfohlen. Dabei handelt es sich um eine alte Forderung der USA, die, da sie die Annahme schwerer Menschenrechtsverletzungen beinhaltet, von Kuba als “Einmischung in nationale Angelegenheiten” zurückgewiesen wird.

Markt oder Ehre?

Die kubanischen Reaktionen auf das Verhalten Uruguays in Genf waren äußerst heftig. Der Außenminister Kubas, Felipe Pérez Roque, bezeichnete die Bereiterklärung Uruguays, den Antrag zur Verurteilung Kubas zu stellen, als einen “unterwürfigen Kniefall vor den Interessen des US-Imperialismus”. Er beschuldigte den Präsidenten Jorge Batlle, dass ihm die Märkte wichtiger als die Ehre seien. Bei ihrem letzten Zusammentreffen auf dem Gipfel der amerikanischen Staaten in Mexiko hatte US-Präsident Bush ein Freihandelsabkommen und vorteilhafte Einfuhrbedingungen für uruguayisches Fleisch versprochen, falls Batlle bei einer Verurteilung Kubas behilflich sein würde. Gleichzeitig stellte Pérez Roque die moralische Autorität des Landes in Frage, indem er auf das Amnestiegesetz verwies, welches im Jahr 1989 per Referendum ratifiziert wurde und jegliche Strafverfolgung von Verbrechen, die während der Militärdiktatur begangen wurden, verbietet. “Ein Land, in dem kein einziger Folterer und Mörder verurteilt wurde, und das sich jetzt als der große Richter aufspielen will, das erscheint mir wie ein schlechter Witz.” Die Antwort aus Montevideo ließ nicht lange auf sich warten. Der uruguayische Außenminister Didier Opertti nannte die Äußerungen seines kubanischen Kollegen falsch und beleidigend. Der strittige Antrag sei nicht auf Betreiben der USA zu Stande gekommen, außerdem setze man sich seit Jahren für eine Beendigung des US-Embargos ein. Wenn Kuba die Beschuldigungen nicht zurücknehme, so müsse man über weit reichende Konsequenzen nachdenken.

”Cuba sí, yanquis no!”

Die US-amerikanischen Versuche, Einfluss auf die politischen Beziehungen zwischen Kuba und anderen lateinamerikanischen Staaten zu nehmen, sind so alt wie die kubanische Revolution. Auch das Verhältnis von Uruguay zu Kuba ist geprägt von massivem Druck aus Washington, dem aber von Anfang an eine mächtige Solidaritätsbewegung entgegenstand. Der Erfolg der kubanischen Revolution beeinflusste auch die uruguayische Linke nachhaltig. 1961 besuchte Che Guevara in seiner damaligen Funktion als kubanischer Industrieminister den uruguayischen Badeort Punta del Este, wo er auf einer Konferenz amerikanischer Staaten eine seiner berühmten Reden hielt und anschließend vom damaligen uruguayischen Ministerpräsidenten zum gemeinsamen Mate-Trinken eingeladen wurde. Während einem Besuch der Universität von Montevideo gab es ein Attentat, bei dem ein kommunistischer Student erschossen wurde, der direkt neben Guevara lief. Dass die Kugel nicht ihm galt, ist so gut wie sicher. 1964 beendete Uruguay erstmals die diplomatischen Beziehungen mit Kuba, eine Entscheidung, die, wie der ehemalige CIA-Agent Philipp Agee in einem seiner neueren Bücher schildert, von den USA forciert wurde. Die größte Unterstützung fand Kuba naturgemäß in der Kommunistischen Partei Uruguays, während die Guerilla der Tupamaros immer eine kritische Distanz bewahrte und großen Wert auf politische Unabhängigkeit legte. 1995, zehn Jahre nach Ende der Militärdiktatur, besuchte Fidel Castro das Land und wurde in der traditionell linken Hauptstadt empfangen wie ein Popstar: 500.000 Uruguayer, das heißt jeder Sechste, säumten seinen Weg vom Flughafen zum Rathaus, wo ihn der Bürgermeister des Linksbündnisses Frente Amplio (FA), Mariano Arana, erwartete. Die Solidarität mit Kuba zählt seit der Gründung im Jahr 1971 zu den unerschütterlichen Prinzipien des FA, die bis jetzt noch jede “ideologische Erneuerung” des Parteienbündnisses überstanden hat.

Nationale Schande

“Das Verhalten Uruguays in der Menschenrechtskommission ist eine Schande für das ganze Land und stellt einen Pyrrhus-Sieg für die Vereinigten Staaten dar.” So äußerte sich der sozialistische Senator Reinaldo Gargano in einer Parlamentsdebatte und gab damit den Tenor, der in der gesamten Linken des Landes vorherrschte, wieder. Während die meisten Vertreter der rechts-liberalen Regierungskoalition aus Colorados und Blancos in seltener Übereinstimmung das Vorgehen Uruguays als Beweis für die große demokratische Tradition des Landes im Dienste der Menschenrechte wertete, gab es auch dort Missstimmungen. Ein Beraterteam des Außenministers Oppertti hatte im Vorfeld eine Enthaltung Uruguays in der Kuba-Frage empfohlen, so wie dies bereits im Jahr 1998 geschehen war. Daraufhin wurde die Menschenrechtsbeauftragte der Regierung, Silvia Izquierdo, die an der Empfehlung maßgeblich beteiligt war, auf Grund von angeblicher Illoyalität zu Gunsten Kubas entlassen. “Ein einzigartiger Akt ideologischer Verfolgung”, so Senator Gargano.

Flucht nach Norden

Die überraschende Demission Izquierdos ist symptomatisch für die Irritationen, die seit dem Amtsantritt Batlles im Jahr 2000 die Beziehungen zwischen dem Außenminister Opertti, der bereits unter dem vorherigen Präsidenten Sanguinetti diese Funktion innehatte, und dem Chef der Exekutive beherrschen. Wiederholt hat sich Batlle in den letzten zwei Jahren durch Alleingänge in der Außenpolitik hervorgetan, die weder mit seinem Außenminister, noch mit den Partnern in der Regierungskoalition, geschweige denn mit der Opposition abgestimmt waren. Jorge Batlle, der in den USA studierte, gilt als bedingungsloser Bewunderer des “Großen Bruders” und seines Wirtschaftssystems. Die daraus resultierende Politik, die auch schon als “Flucht nach Norden” charakterisiert wurde, äußert sich besonders in der Vernachlässigung der Beziehungen zu den anderen Mitgliedstaaten des Mercosur, Argentinien, Brasilien und Paraguay. Anstatt auf eine Politik der regionalen Integration setzt Batlle auf bilaterale Abkommen mit den USA, um so die Exportmöglichkeiten Uruguays zu verbessern. Die enge Bindung an die Vereinigten Staaten kommt nun auch in den Beziehungen zu Kuba voll zum Tragen. Bereits auf dem amerikanischen Gipfel im mexikanischen Monterrey kam es zu Verstimmungen als Batlle die vorzeitige Abreise Castros als “Show eines alten Mannes” bezeichnete und eine ältere Aussage des ehemaligen Präsidenten von El Salvador, Flores, bekräftigte, in der dieser Castro als Mörder bezeichnet hatte.

Solidarität und Meningitis

Drei Tage nach der von Uruguay initiierten Verurteilung Kubas in Genf folgte dann das verbale Donnerwetter vom comandante en jefe auf das viele gewartet hatten und das in seiner Schärfe nichts zu wünschen übrig ließ. Castro bezeichnete Batlle als “veralteten niederträchtigen Judas” und beschuldigte ihn des Verrats an der lateinamerikanischen Einheit. Gleichzeitig betonte er, dass die kubanische Regierung sehr wohl zwischen der uruguayischen Regierung und dem uruguayischen Volk zu unterscheiden wisse, welches eine über vier Jahrzehnte währende Beziehung der Brüderlichkeit und Solidarität mit der kubanischen Revolution verbinde. Er verwies auf eine vor Ausbruch der Krise gemachte Zusage, nach der Kuba sich verpflichtet hatte, eine Spende von 1,2 Millionen Impfspritzen gegen Meningitis B, die kürzlich in der Provinz Uruguays ausgebrochen war, zu senden. “Am selben Tag wie in Genf mit Hilfe von Uruguay die internationale Stigmatisierung Kubas aufrecht erhalten wurde, die nur zur weiteren Rechtfertigung des Embargos dient, flog das erste Flugzeug mit 200.000 Spritzen nach Uruguay, und auch der Rest wird folgen, es sei denn man lässt uns nicht landen.” Auch über diese Hifsleistung hatte es bereits im Vorfeld Auseinandersetzungen gegeben, da die uruguayische Regierung keine kubanische Spende akzeptieren wollte, sondern darauf beharrte den Wert der Spritzen mit den 30 Millionen US-Dollar Schulden, die Kuba bei Uruguay hat, zu verrechnen. Die Kubaner waren empört, da es sich um eine Hilfe aus Solidarität handele, die nichts mit den Schulden zu tun habe, die man natürlich begleichen werde.
Ein Sprecher der uruguayischen Regierung wertete die harschen Attacken aus Havanna als “ungerechtfertigten Angriff auf die nationale Würde durch ein totalitäres System”. Am 24. April war es dann soweit: Der kubanische Botschafter in Montevideo, José Alvarez Portela, wurde zur persona non grata erklärt und aufgefordert schnellstmöglich das Land zu verlassen. Batlle begründete den endgültigen Bruch mit Kuba mit den Beleidigungen Castros und kündigte eine Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen an, “sobald es Freiheit auf dieser Insel gibt.”

Persona grata!

Gleichzeitig wurde das Ergebnis einer Umfrage bekannt, nach der nur acht Prozent der Bevölkerung das Ende der diplomatischen Beziehungen mit Kuba unterstützen, 65 Prozent sprechen sich gegen eine Verurteilung der Insel durch die UN-Menschenrechtskommission aus. Am 4. Mai kam es dann zu einer Wiederholung der Geschichte. Genau wie im Jahr 1964 versammelten sich um sieben Uhr morgens hunderte Montevideaner vor den Toren der kubanischen Botschaft, um den des Landes verwiesenen Diplomaten Alvarez Portela zum Flughafen Carrasco zu begleiten. Während der Fahrt durch die Stadt wuchs die Karawane aus Autos, Mopeds, Lastwagen, Bussen und Fahrrädern auf mehrere Kilometer an. Auf dem Flughafen wandte sich der Botschafter mit Tränen in den Augen zu einem letzten Gruß an die Uruguayer und bedankte sich für den überwältigenden Abschied. Die Antwort schallte ihm aus Tausenden Kehlen entgegen:“Persona grata!”. Der Botschafter rief: “Hasta siempre, compañeros!” und stieg in sein Flugzeug.

Der lecke Ölhahn im Hinterhof

Dumm gelaufen. Mit einem auf das Herz Venezuelas konzentrierten Streik sollte Hugo Chávez zu einem schnellen Rücktritt getrieben werden. Aber auch acht Wochen massiv eingeschränkte Produktion der staatlichen Erdölgesellschaft PDVSA brachten den Präsidenten nicht zum Nachgeben. Und mit jedem Tag Ausstand mehr trifft die scharfe Waffe Erdöl nicht nur die venezolanische Wirtschaft und Gesellschaft, sondern eben auch den wichtigsten Verbündeten der Opposition, die USA. Die Hälfte des venezolanischen Erdöls fließt in normalen Zeiten in die Vereinigten Staaten und Chávez hatte seit seinem Amtsantritt 1998 immer alle Lieferverträge geradezu pedantisch erfüllt. Nur die Zeiten sind derzeit nicht normal, nicht in Venezuela und nicht in der Welt. Ausfälle, wie derzeit beim fünftgrößten Erdölexporteur der Welt werden in ruhigen Zeiten über die Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC) mehr oder weniger problemlos aufgefangen. Im Falle eines Kriegs gegen Irak indes käme der zeitgleiche Ausfall zweier wichtiger Lieferanten die Erdöl importierenden Länder über kräftige Preiserhöhungen teuer zu stehen – der Ölpreisanstieg in den letzten Wochen gibt einen Vorgeschmack davon. Ein unkalkulierbares Risiko für die dahindümpelnde Weltwirtschaft.
Fünf Millionen Barrel würden dem globalen Erdölmarkt täglich fehlen, wenn Venezuela und Irak gleichzeitig ausfallen würden. Kein Zweifel, dass in Washington gerechnet wird. Denn der bisherige Hauptersatzlieferant für das venezolanische Erdöl heißt ausgerechnet Irak. In Vorkriegszeiten eine zuverlässige Quelle, denn das Öl stammt aus dem vor sechs Jahren aufgenommen UNO-Programm „Öl für Lebensmittel“. Saddam Hussein ist außen vor. Seit Dezember haben die USA ihre Erdölimporte aus Irak bereits verdoppelt – mit steigender Tendenz. Ob die USA mit einem Irak-Feldzug warten müssen, bis die venezolanische Krise gelöst ist, wie der venezolanische Professor und Sicherheitsexperte Aníbal Romero mutmaßt, ist eher unwahrscheinlich. Doch wenn auch nicht militärisch, so wird ein Irak-Krieg wirtschaflich bei weitem riskanter, wenn der südamerikanische Hinterhof als zuverlässiger Öllieferant entfällt. Anders als im zweiten Weltkrieg, in der Nachkriegszeit, während der Eskalation des Nahostkonfliktes und im ersten Irak-Krieg 1991 ist Venezuela erstmals Teil des Problems und nicht mehr Teil der Lösung. Und Bush junior weiß, dass sein Vater trotz gewonnenen Golfkriegs ein Jahr später wegen der Konjunkturkrise in den USA von den Wählern schmählich aus dem Amt getrieben wurde. Die Strategen im Weißen Haus haben inzwischen die Venezuelakrise ins Kriegskalkül einbezogen. Das zeigt sich schon daran, dass die noch im Dezember erhobene Forderung nach nicht verfassungsgemäßen vorgezogenen Neuwahlen von den USA wieder zurückgenommen wurde – im Gegensatz zur venezoelanischen Opposition. Die USA rudern moderat zurück und sprechen sich für eine verfassungsgemäße Lösung aus, wie auch Vermittler Jimmy Carter und der brasilianische Präsident Lula, der die Gruppe der Freunde Venezuelas (Brasilien, Mexiko, Chile, USA, Spanien, Portugal) auf die Bahn brachte.
Hugo Chávez pochte übrigens von Anfang an auf eine Verfassung, die unter anderem die schon seit Oktober auf dem Plaza Francia offen opponierenden Teile des Militärs vor Strafverfolgung schützt. Unter der alten Verfassung wäre das so undenkbar wie ein Referendum gewesen. Gegen ein Referendum ab August 2003 hatte Chávez nie einen Einwand, und warum die Opposition keine sechs Monate warten kann, bleibt ihr Geheimnis. Nach einer Niederlage bei einem verfassungsgemäßen Referendum wäre dem Präsidenten sogar eine neue Kandidatur verwehrt. Nicht so bei vorgezogenen Neuwahlen. Die Opposition steht nun im Abseits, zumal das Oberste Gericht in Sachen Referendum für die Position von Chávez entschieden hat. Der Generalstreik hat keine Zukunft mehr. Wieviel Zukunft die boliviarianische Revolution von Hugo Chávez hat, steht auf einem anderen Blatt. Sein Projekt steht schon spätetestens seit dem Putsch im April auf dünnem Fundament. Und bei aller berechtigten Kritik an seinem autokratischen Regierungstil: Chávez hat als erster Staatspräsident des Landes die Staatsmacht für die Armen eingesetzt, ob mit dem Fischereigesetz, einer Land- und Bildungsreform. An der Armut der Massen hat dies freilich kaum etwas geändert. Für ein breiteres Fundament muss Chávez den kooperationsbereiten Teil der Eliten und Mittelschicht gewinnen. Bisher hat er ihn verprellt – leider.

Venezolanische Opposition in der Sackgasse?

Ein Jahr nach dem ersten „Generalstreik“ der Opposition, mit dem die Kampagne zur Absetzung des demokratisch gewählten Präsidenten, Hugo Chávez, begann, befinden sich die oppositionellen Kräfte seit dem 2. Dezember 2002 in ihrem vierten „Generalstreik“. Landesweit blieben viele Geschäfte und fast alle Privatschulen geschlossen, die Straßen waren so leer wie sonst nur am Sonntag.
Schon am zweiten Tag war jedoch klar, dass ein solcher Streik sich nicht allein würde tragen können. Doch die Opposition verlängerte ihn um einen weiteren Tag – immer wieder, bis heute. Auch als sich abzeichnete, dass er außer bei einigen großen Unternehmen wie McDonalds, Großsupermärkten und Privatschulen eine sehr geringe Resonanz erfuhr. Die Opposition hält trotzdem an ihrer Behauptung fest, der Streik sei ein überwältigender Erfolg.

Ölchefs für Opposition

Am vierten Tag des Streiks wendete sich das Blatt zu ihren Gunsten. Die Manager und Verwaltungsangestellten von Venzuelas Ölgesellschaft, PDVSA. protestierten vor der Hauptniederlassung der Ölgesellschaft. Trotz der kontinuierlichen Bemühungen des Präsidenten der PDVSA, mit den abtrünnigen Managern zu verhandeln, entschieden sich diese für den Streik. Der bekam aber erst mehr Dynamik, als sich einen Tag später auch Tankerkapitäne und Hafenarbeiter anschlossen.
Am achten Tag des Streiks umzingelten Chávez-AnhängerInnen die großen Fernsehstationen in der Hauptstadt und im Rest des Landes, und führten laute Kochtopfkonzerte auf. Nach einigen Stunden folgten die DemonstrantInnen der Aufforderung von prochavistischen Abgeordneten und des Generalssekretärs der Vereinigung Amerikanischer Staaten, César Gaviria, und zogen sich zurück. Für die oppositionsfreundlichen Medien waren diese Proteste der Beweis dafür, dass Venezuela ein totalitärer Staat ist.
Die Proteste lieferten der Opposition die Rechtfertigung, den Streik fortzusetzen. Für die staatseigene Ölgesellschaft PDVSA hatte das fatale Folgen. Durch die Schließung der größten Ölraffinerie Venezuelas und den Streik der Dockarbeiter halbierte sich der Ölumschlag von drei Millionen Barrels pro Tag (bpd) auf 1,5 bpd. Der Präsident der PDVSA, Alí Rodríguez, erklärte, dass die Wirtschaft durch den Stillstand der Ölförderung pro Tag an die 50 Millionen Dollar verliere. Fast die gesamte wirtschaftliche Aktivität in Venezuela hängt von den stetigen Ölförderungen ab.
In Bezug auf den Außenhandel warnte Rodríguez bereits Mitte Dezember davor, dass Venezuela die internationalen Ölabnehmer verlieren und zahlungsunfähig werden würde, wenn die Ölproduktion nicht bald wieder angekurbelt werde.

Verhaltener Optimismus

Ende Dezember 2002 und Anfang Januar 2003 behauptete die Regierung mehrmals, die Kontrolle über Ölproduktion und Verschiffung mit Hilfe des Militärs, der nicht-streikenden Teile der Geschäftsführer und Arbeiter, sowie ausländischen Beratern und Firmen größtenteils wiedererlangt zu haben. Das Ölangebot werde binnen weniger Tage auf dem vorherigen Stand sein.
Die Opposition bestritt jedoch beharrlich, dass die Regierung in der Lage sei, die Ölindustrie erfolgreich wieder in Gang zu setzen. Mitte Januar sagte Alí Rodriguez, dass die Ölproduktion wieder zwei Millionen Tonnen pro Tag erreicht hätte und dass die Raffinerien wieder in Betrieb wären. Dennoch gab es weiterhin lange Schlangen vor Tankstellen.

Demos um die Wette

Die ganze Zeit über versuchten Opposition und Regierung ihre Anhänger zu riesigen Demonstrationen zu mobilisieren. Am 7. Dezember organisierte die Regierung eine Demonstration vor dem Präsidentenpalast, die mehrere Hunderttausende von UnterstützerInnen anzog. Die Opposition konterte mit einer Großdemonstration am 14. Dezember, bei der ebenfalls Hunderttausende zusammenkamen.
Die genaue Betrachtung dieser Demonstrationen zeigte, dass die AnhängerInnen der Regierung überwiegend aus den ärmeren – dunkelhäutigen – Schichten kommt, während die der Opposition weitgehend aus der hellhäutigeren Mittelklasse stammt. Die privaten Massenmedien Venezuelas vermeiden es jedoch, über Pro-Chávez-Demonstrationen zu berichten und den Klassencharakter, der dem Konflikt zu Grunde liegt, zu erwähnen.
Bei ausländischen Medien ohne eigene Beobachter, entsteht so der Eindruck, die Opposition hätte eine massive Unterstützung quer durch alle Schichten der venezolanischen Gesellschaft.

Vermittlung durch OAS

Während des Streiks hatte der Generalsekretär der Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS), César Gaviria, den nicht beneidenswerten Job zwischen der Regierung und der Opposition zu vermitteln. Die Verhandlungen blieben bis Ende Januar nahezu erfolglos.
Die drei großen Probleme Venezuelas wurden nicht gelöst: Durch Neuwahlen zu einem Ende der Krise zu kommen; eine Wahrheitskommission einzurichten, um die Geschehnisse während des Putschversuchs vom 11. bis 13. April zu untersuchen; und einen Entwaffnungsplan für die schwer bewaffnete Bevölkerung aufzustellen. Nach wie vor ist völlig unklar, in welcher Weise die Verfassung geändert werden soll, zu welchem Zeitpunkt Neuwahlen angesetzt werden können und was überhaupt auf den Verhandlungstisch kommen soll.

Freunde für Venezuela

Um mehr Druck auf die Verhandlungen auszuüben, schlug der neue brasilianische Pasident Luis Ignacio „Lula“ da Silva vor, gemeinsam mit mehreren Ländern eine „Gruppe der Freunde Venezuelas“ zu bilden, um bei der Lösung der Probleme zu vermitteln.
Um nicht ins Abseits manövriert zu werden, griff die US-Regierung diesen Vorschlag auf und versuchte, ihn sich zu eigen zu machen, indem sie verschiedene Länder als mögliche „Freunde Venezuelas“ empfahl. Darunter waren die USA selbst und Spanien. Beide haben eine ablehnende Haltung gegenüber der Regierung Chávez.
Doch wenn man davon ausgeht, dass Chávez glaubt, den Streik gebrochen und die Kontrolle über die Ölindustrie wiedererlangt zu haben, wird er sowieso kaum neuen Vereinbarungen zuzustimmen. Parallel zu den Verhandlungen und zum Streik tobte eine Debatte um ein Referendum. Am 4. November legte die Opposition über zwei Millionen Unterschriften vor, die eine „konsultative“ Befragung über einen freiwilligen Rücktritt des Präsidenten forderten. Die neue Verfassung Venezuelas lässt eine Befragung vor Ablauf der ersten Hälfte der Amtszeit nicht zu, die im Falle Chávez Mitte August 2003 um wäre. Da die Opposition aber Chávez so schnell wie möglich loswerden will, stimmt sie für den schnelleren und einfacheren Weg und fordert die Volksbefragung. Weil weniger Unterschriften dafür notwendig sind, ist sie einfacher durchzuführen. Außerdem führt sie schneller zu Ergebnissen, da weniger Stimmen benötigt werden.
Der nationale Wahlrat, der scheinbar mit der Opposition sympathisiert, erklärte die Unterschriften für gültig und legte den 2. Februar für ein Referendum fest. Der Oberste Gerichtshof verweigerte aber seine Zustimmung.
Es sieht so aus, als wäre die Opposition möglicherweise gescheitert, Chávez durch einen Streik in der Ölindustrie, über Verhandlungen oder über eine Volksbefragung aus dem Amt zu jagen. Nun hat sie eine neue Strategie eingeschlagen: den Steuerboykott, ein eindeutig illegaler Schritt. Doch laut der Opposition ist die Chávez-Regierung ein diktatorisches Regime – und die neue Verfassung erlaubt den zivilen Ungehorsam gegen undemokratische Regierungen.

„Venezuela hemmt den Irak-Krieg“

Herr Wilpert, wie bewerten Sie die Informationen, die derzeit aus Venezuela in Deutschland ankommen?

Die Artikel, die in letzter Zeit erschienen sind, sind etwas ausgewogener. Sogar bei der FAZ habe ich den Eindruck, dass der Journalist, der bis jetzt immer gegn Chávez war, anfängt den Lesern auch so ein bisschen die Chávez-Meinung zu zeigen. Ich konnte natürlich nicht alles lesen. Aber bisher hatte ich eher den Eindruck, dass grundsätzlich überall in deutschen Zeitungen nicht falsch, aber doch sehr voreingenommen berichtet wurde, immer aus Sicht der Opposition.

Warum spiegelt die deutsche Berichterstattung so sehr die Meinung der Opposition wider?

Es gibt kaum deutsche Korrespondenten, die direkt in Venezuela sind. Und wenn sie welche schicken, dann sind sie nur ganz kurz dort und lesen vor allem die lokalen Medien, die fast ausschließlich gegen Chávez sind.
Es gab zum Beispiel einen riesigen Artikel im Feuilleton von der ZEIT – das war einer der Schlimmsten. Der Journalist war eine Woche in Venezuela und hat einen Artikel über Chávez geschrieben. Um seine Persönlichkeit zu durchleuchten, hat er wohl hauptsächlich eine ehemalige Liebhaberin und seinen Psychiater interviewt. Diese Methode ist sehr fraglich. Außerdem hat er sich noch über verschiedene Aspekte der Regierung lustig gemacht: zum Beispiel, dass Chávez im prunkvollen Regierungspalast seine Fernsehansprache über die Armen hielt.
Die meisten dieser Ansprachen, die Chávez jeden Sonntag hält, finden aber in den Armenvierteln der Stadt statt und nur ab und zu im Präsidentenpalast. Aber er hat eben nur diese eine gesehen, weil er nur eine Woche da war.

Welche Bedeutung haben die wöchentlichen Fernsehansprachen des Präsidenten?

Sie sind sehr wichtig. In den Armenvierteln sind dann fast alle Fernseher eingeschaltet. Chávez ist in den Armenvierteln sehr beliebt. Die Sendung ist die Hauptinformationsquelle über die Arbeit der Regierung in der letzten Woche. So ausführlich berichtet selbst der offizielle Regierungssender nicht darüber. Chávez fasst zusammen, was die Regierung erreicht hat und erzählt Geschichten. Die Sendung dauert manchmal fünf, sechs Stunden, und die Leute gucken gar nicht alles. Auch für die Mittelklasse ist die Sendung eine wichtige Quelle über neue Entwicklungen in der Regierung. Aber sonst macht sie sich nur lustig über ihn.

Warum bilden sich keine unabhängigen Medien, Gruppen, die objektive Informationen verbreiten?

Die gibt es schon, aber sie sind sehr klein. Es gibt verschiedene Gründe, warum die Regierung diese Projekte nicht fördert. Erstens ist es, glaube ich, Ignoranz. Sie weiß gar nicht, was für Gemeinschaftsmedien es gibt und dass diese größtenteils pro-Chávez sind. Es ist einfach eine sehr schlechte Kommunikationspolitik in der Regierung. Andererseits ist, glaube ich, die Finanzierung unabhängiger Medien auch nicht ganz legal.
Ein großes Problem ist, dass die Regierung misstrauisch ist. Sie will nicht einfach Geld rübergeben und dann keine Kontrolle haben. Und die Medien haben auch Angst, dass sie kontrolliert werden. Nach den Putschversuchen wurden allerdings auch viele der illegalen Piratensender von Chávez legalisiert. Die Regierung hat schon gelernt, dass Gemeinschaftsmedien ihr nützen.

Es heißt oft, viele Ministerien in Venezuela seien falsch besetzt. Positioniert Chávez das Militär jetzt verstärkt um sich, weil ihm gebildete Anhänger fehlen, denen er vertraut?

Ja, so ist es. In vielen Ministerien gibt es Probleme mit den Führungskräften, sie haben nicht genug Erfahrung. So hat Chávez zum Teil Leute eingesetzt, die politisch nicht mit ihm übereinstimmten und die haben sich dann auch im April vergangenen Jahres gegen ihn gestellt.

Fehlen Venezuela die linken Intellektuellen?

Es gibt sie, aber sie sind nicht unbedingt gute Manager. Und das andere Problem ist, dass Chávez selber nicht aus diesem Spektrum kommt. Es ist aber auch nicht mehr so, dass ihn alle linken Intellektuelle unterstützen – vielleicht weil sie merken, dass er verliert.

Die USA und Venezuela liefern sich momentan ein regelrechtes Tauziehen um das Öl – die Haupteinnahmequelle des lateinamerikanischen Staates:
Wer wird gewinnen?

Ich glaube nicht, dass es ein richtiges Tauziehen ist. Das Problem ist nicht, dass das Öl den USA vorenthalten wird. Es ist eher das Problem, dass der Ölpreis hochgeht. Wenn die USA sich einen anderen Zulieferer suchen, kann Venezuela genauso schnell einen anderen Abnehmer finden. Es gibt nur einen Öl-Markt, wer da an wen verkauft, ist relativ egal, entscheidend ist der Preis.
Wenn Venezuela sich keinen anderen Abnehmer sucht, sondern die Öl-Produktion einfach zurückschraubt, dann geht der Öl-Preis hoch. Das ist das Problem für die USA. Sie arbeiten mit der Opec zusammen, damit alle Opec-Staaten gleichmäßig Marktanteile verlieren. Insofern ist es keine Frage zwischen Venezuela und den USA, sondern zwischen den USA und der Opec.
Das Problem ist, dass Venezuela in der Vergangenheit immer das Land war, das die Opec-Quoten zerstört hat, indem es einfach immer mehr produziert hat, als laut Opec-Verträgen eigentlich erlaubt war. So sind die USA immer an einen sehr günstigen Öl-Preis gekommen, weil es zwischen den Opec-Staaten keine Solidarität gibt.

Kann Venezuela durch einen dauerhaften Streik seiner Öl-Industrie den Irak-Krieg verhindern?

Verhindern nicht. Aber ich glaube, dass Venezuela den Irak-Krieg hemmt, denn der Öl-Preis ist jetzt sehr hoch. Ich glaube, dass die USA jetzt vorsichtiger sein werden, obwohl sie dringend den Krieg wollen. Schließlich müssen sie auch Öl auf dem internationalen Markt kaufen für Panzer, Flugzeuge und so weiter. Es wird ein sehr, sehr teurer Krieg werden.

Die Opposition hatte für Februar ein Referendum angesetzt, bei dem darüber entschieden werden sollte, ob Chavez freiwillig abdankt. Nun hat der Oberste Gerichtshof dieses Referendum als nicht verfassungskonform abgelehnt. Was glauben Sie, was in den kommenden Wochen passiert?

Vor Chávez stehen der Steuerstreik und die Medien. Das wird noch eine Schlacht. Chávez hat den Minister gewechselt, der für die Medien verantwortlich war. Viele Leute haben das so interpretiert, dass er gegen die Medien vorgehen wird, weil sie verschiedene Gesetze gebrochen haben. Ich weiß nicht, ob ihnen ihre Sendegenehmigung entzogen wird. Aber wenn das passiert, wird das Land immer näher an den Rand eines Bürgerkrieges kommen. Und die Opposition wird verrückt spielen.
Wenn tatsächlich ein Sender geschlossen wird, wird sie Chávez vorwerfen, die Meinungsfreiheit einzuschränken. Deshalb sollte die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) eingreifen. Aber die meisten Regierungen in Lateinamerika sind nicht pro-Venezuela. Chávez hätte es sehr schwer, wenn die Opposition die Staaten für sich gewinnt. Ich hoffe, dass sich die Situation bei der Volksbefragung im August entspannt. Davor sehe ich keine Lösung.

Dialog predigen, Gewalt dulden

“Wir begrüßen den Dialog,” sagt Antonio González von der Menschenrechtsorganisiation Provea und fügt im gleichen Atemzug hinzu: „Es bleibt abzuwarten, ob wirklich ein politischer Wille zur Verständigung da ist.“ Seit dem 8. November treffen sich je sechs hochrangige VertreterInnen der Regierung und des Oppositionsbündnisses „Demokratische Koordination“ fünf Mal pro Woche zum Meinungsaustausch. Von „Verhandlungen“ oder gar „Abkommen“, die der auf Betreiben von OAS-Generalsekretär César Gaviria installierte Tisch offiziell anstrebt, kann bisher noch nicht die Rede sein.
So wird González’ Skepsis von den allermeisten VenezolanerInnen geteilt. Nach einer Woche weigerte sich die Oppositionsdelegation sogar, eine von Gaviria vorgeschlagene gemeinsame Erklärung zur Verurteilung der Gewalt zu unterzeichen – mit dem Hinweis auf das „Doppelspiel“ der Regierung. In der Tat haben die Chavistas außer warmen Worten wenig anzubieten. Bezeichnend ist die Äußerung von Erziehungsminister Aristóbulo Istúriz, man werde „nicht unter Druck verhandeln.“
Der Druck nämlich und die Polarisierung der Gesellschaft wachsen von Woche zu Woche an – unter aktiver Beteiligung von Regierung und Opposition. Seit Mitte Oktober demonstrieren „aufständische“ Offiziere auf der Plaza Francia im Nobelviertel Altamira. Die „Demokratische Koordination“ unterstützt sie dabei. Das Paradoxe dabei: Das politische Engagement von Militärs ist durch einige Artikel der im Jahr 2000 verabschiedeten Verfassung gedeckt, die Chávez gegen die Kritik von Menschenrechtsorganisationen durchgesetzt hatte.
Es vergeht keine Woche, in der nicht die Stoßtrupps der „bolivarianischen Revolution“ stundenlange Straßenschlachten mit blutigem Ausgang provozieren. Etwa Anfang November, als oppositionelle DemonstrantInnen kistenweise Unterschriftenlisten zur Einberufung einer – unverbindlichen – Volksabstimmung über Neuwahlen zur Obersten Wahlbehörde schleppten. Oder als Bürgermeister Alfredo Peña in seinem belagerten Amtssitz an der Plaza Bolívar eine Gruppe rechter Politiker empfing – bei der anschließenden Randale wurden zwei Männer erschossen, ein junger Chavista und ein Straßenverkäufer.

Die Unkontrollierbare

Die prominenteste Straßenkämpferin ist die 42-jährige „Comandante“ Lina Ron. Unweit der Plaza Bolívar hat die Wortführerin der radikalen Chavistas in einem alten Gewölbe das Hauptquartier ihrer „Venezolanischen Volkseinheit“ (UPV) eingerichtet. Jeden Nachmittag steht sie den „Deklassierten, Hemdlosen, Unorganisierten“ zur Verfügung, „dem Mob oder dem Lumpenproletariat”, wie Bürgermeister Peña sagt. Mit Jeansjacke, roter Baseballmütze und ihren hellblond gefärbten Fransenhaaren sieht sie aus wie eine moderne Version der Sansculottes, der radikalen Volksbewegung der Französischen Revolution.
Dazu passt auch ihre Rhetorik. Mit der Chávez-Partei „Bewegung Fünfte Republik“ (MVR) gebe es „keine programmatischen Differenzen“, doch eine kleine Gruppe habe die Partei „entführt“. „Die Altlinken sind hinter dem Mond. Ich habe gewisse Vorbehalte gegen den ‘soften’ Chavismus,“ bekennt die Kettenraucherin und erklärt ohne Umschweife, was sie damit meint: „Wir müssen die Blockade aufbrechen, bis zum Schachmatt. Wir müssen die Regierung, die Justiz säubern. Wir sind die radikaleren Revolutionäre. Wir sind nicht bereit, über unsere moralischen Prinzipien zu verhandeln, mit der sozialdemokratischen Acción Democrática oder der neuen Rechtspartei Primero Justicia darf es keinerlei Verhandlungen geben – wenn sie friedlich werden, dann werden wir auch friedlich, aber nicht vorher. Niemand hat das Recht oder die moralische Autorität, um zu sagen, ‘seid nicht gewalttätig, wir müssen die Gewaltbereiten isolieren.’ Mit Verlaub, wer wendet hier Gewalt an?“
„An unserem Weg ist nicht zu rütteln. Hier kommt es täglich zu Scharmützeln, Gewalt, Konfrontationen, über die ihr Journalisten nicht berichtet. Der historische Moment wird kommen, dass diese Scharmützel an verschiedenen Stellen gleichzeitig ausbrechen… Wir sind völlig unbewaffnet, aber irgendwann wird sich das ändern. Es ist unmöglich, mit Blumen auf Schüsse zu antworten – wenn uns keine andere Wahl bleibt, bin ich für das Recht auf bewaffneten Kampf.“ Der Präsident sei sicher nicht mit all dem einverstanden, „aber ich bin frei wie der Wind, wie ein wildes Fohlen, ich habe auch kein öffentliches Amt, das mich einschränkt.“. Sie beschließt ihre Stellungnahme mit den Worten: „Wir müssen mit der Oligarchie brechen, es gibt keinen Wandel ohne Gewalt, das weißt du.“ Und Hugo Chávez? „Lina Ron ist unkontrollierbar,“ ließ er nach den Attacken auf die UnterschriftensammlerInnen verlauten.

Aló Presidente

Das provisorische Studio für die sonntägliche Chávez-Show „Aló Presidente“ ist diesmal auf einem Hügel vor der Provinzhauptstadt Maracay aufgebaut. Hinter dem Schreibtisch, an dem ein sichtlich angespannter Chávez Platz nimmt, liegt eine Siedlung von Sozialwohnungen, die als Beispiel für die „bescheidenen Früchte der Revolution“ herhalten. Dem gleichen Zweck dienen die sorgfältig vorbereiteten Statements der anwesenden Minister und die zwischendurch eingeblendeten Regierungsvideos: Sie drehen sich um Investitionen in der Schuh- und Textilbranche, um den Bau von Straßen, Eisenbahnlinien und Wasserkraftwerken, Projekten, durch die über eine Million Arbeitsplätze geschaffen worden seien. Die zugeschalteten AnruferInnen fungieren als Stichwortgeber für Chávez.
Tausende sind herbeigeströmt. Hausfrauen und ArbeiterInnen aus der örtlichen Zuckerfabrik, Jung und Alt, Chávez-VerehrerInnen oder auch nur Neugierige drängen sich bis auf zehn Meter an den Präsidenten heran, wo sie von jungen Soldaten zurückgehalten werden. Sie wollen einen Blick auf ihn erhaschen, durch Rufe auf sich aufmerksam machen. Behinderte Kinder werden nach vorne gereicht, ebenso zahllose Zettel mit Bitten an den Präsidenten, der den Anwesenden, wie Millionen im ganzen Land, nach wie vor als Hoffnungsträger gilt. Im Gedränge unter einem großen Zeltdach ist kaum ein Wort der Sendung zu verstehen. Das ist nebensächlich, sind doch Dramaturgie und Inhalte von „Aló Presidente“ seit Jahren wohl bekannt.
Auch beim anschließenden Auto- und Motorradkorso ins benachbarte Valencia genießt Chávez das Bad in der Menge. Von einem Lastwagen aus winkt er den Menschen am Straßenrand zu. Der tausendfache Jubel, den die Fernsehteams des Staatssenders einfangen, erinnert an die Zeit vor den Wahlen 1998 und 2000, in denen der frühere Fallschirmjäger klare Mehrheiten erzielt hatte – zuletzt 59 Prozent.

Konzeptionslos in die Wirtschaftskrise

Doch seither schwindet der Rückhalt. Auch der Solidarisierungseffekt nach dem Aprilputsch ist verflogen. Durch seine radikale Rhetorik schockiere der Staatschef das Bürgertum und mache zugleich den Armen etwas vor, kritisiert Antonio González. Dabei seien spürbare Korrekturen am neoliberalen Wirtschaftskurs nur im Bildungs- und Gesundheitswesen erfolgt. Inkompetenz und Korruption hätten dazu geführt, dass die tatsächlichen Verbesserungen auf sozialem Gebiet minimal geblieben seien.
Ganz ähnlich sehen das andere BasisaktivistInnen. Edgar Pérez, seit 15 Jahren in der Stadtteilbewegung des Armenviertels Las Casitas de la Vega am Rande von Caracas tätig, unterstützt die „große Führungspersönlichkeit“ Chávez aus pragmatischen Gründen, denn unter ihm sei der Freiraum für die Organisation gewachsen. „Die Polizei lässt uns jetzt in Ruhe,“ sagt „El Gordo“ Pérez. Doch tatsächlich verändert habe Chávez wenig, so begrüßenswerte Maßnahmen wie die angekündigte Agrarreform bestünden vor allem aus Propaganda und Vetternwirtschaft. „Die Institutionen funktionieren als Zwangsjacke“, analysiert Pérez, der sich als Anarchist versteht. Chávez´ Reformbemühungen blieben im Symbolischen stecken. Die Korruption, die im Erdölland Venezuela besonders tiefe Wurzeln geschlagen hat, sei unverändert groß.
Dazu kommt die grassierende Rezession, in die Venezuela trotz hoher Erdölpreise geraten ist. Das Bruttoinlandsprodukt ist im ersten Halbjahr 2002 um 7,1 Prozent gefallen. Wegen der politischen Ungewissheit halten sich die InvestorInnen zurück. Die Abwertung der Landeswährung Bolívar schürt die Inflation und lässt die Realeinkommen sinken, immer mehr Menschen werden arbeitslos.
„Chávez hat kein Projekt,“ kritisiert Edgar Pérez. Und er findet offenbar nicht mehr aus seiner systematisch kultivierten Ambivalenz heraus, bei der Reden und Handeln immer weiter auseinanderklaffen. Damit spielt er der Rechten in die Hände, die nicht mehr auf das Referendum warten will, mit dem der Präsident laut Verfassung ab August 2003 zum Rücktritt gezwungen werden könnte. Er bereitet der Konfrontation den Boden und beschleunigt damit letztlich seinen eigenen Niedergang.

Politik aus dem Kanonenrohr

Tote mussten her. Tote Paramilitärs. Am 9. August meldete die kolumbianische Armee nach Gefechten in der Provinz Antioquia 22 gefallene sowie acht gefangene Paramilitärs. Erst zwei Tage im Amt, hatte sich Präsident Álvaro Uribe Vélez somit auf internationalem Parkett die Gelegenheit verschafft, sich nicht nur als Hardliner im Kampf gegen die Guerilla, sondern auch gegen die rechten Milizen zu beweisen. Sollte Uribe von denen falsch verstanden worden sein, die ihm regelmäßig Sympathien mit diesen Gruppen vorgeworfen haben? Wohl kaum. Nur sechs Wochen später packte ein Kommandant der Paramiltärs vor der Justiz aus, dass es sich bei diesem scheinbaren Gefecht um eine Falle gehandelt habe. Demnach habe die zweite Armeedivision unter der Führung von General Martín Carreño ein regelrechtes Massaker an den paramilitärischen Kämpfern verübt. Laut dem Paramilitär sei an diesem Tag eine gemeinsame Operation mit der Armee gegen ELN-Kämpfer geplant gewesen. Zuvor hatte die paramilitärische Gruppe bereits selektive Morde im Auftrag der kolumbianischen Streitkräfte durchgeführt. An einer Armeesperre nahe der Ortschaft Segovia wurden die Paramilitärs von einem Transporter abgeholt, mussten sich auf den Boden legen und wurden von den Soldaten per Kopfschuss hingerichtet. Weitere Kämpfer wurden durch Granaten getötet, um für spätere Untersuchungen keine Zweifel an einem Gefecht aufkommen zu lassen.

Lorbeeren für militärische Vergehen

Die Aussagen des damals anwesenden Paramilitärs gehören zu den schwerwiegendsten Anschuldigungen von Komplizenschaft der Armee mit den Paramilitärs und militärischer Willkür, die in den letzten Jahren an die Öffentlichkeit gedrungen sind. Ein Militärgericht wurde mit der Prüfung des Vorfalls beauftragt. Nun sollte man annehmen, dass dieser Fall weite Kreise ziehen würde. Doch weit gefehlt. Das Militärgericht behandelt derzeit die Anschuldigungen wie ein Sturm im Wasserglas. Personelle Folgen sind bis auf einen suspendierten Unteroffizier ausgeblieben. Im Gegenteil: um die Regierung Uribe im Kampf gegen aufständische und rechte bewaffnete Gruppen zu unterstützen, gab es Lorbeeren. Die US-Regierung ließ am 11. Oktober alle Begrenzungen der bisher gelieferten Militärhilfe fallen. Waren Kampfhubschrauber, Waffen und Ausbildungen unter US-Leitung der letzten zwei Jahre ausschließlich auf den Antidrogenkampf beschränkt, dürfen diese Mittel nun unbegrenzt gegen Guerilla und rechte Milizen angewendet werden. Über zwei Milliarden US-Dollar flossen im Laufe der letzten 24 Monate ins Land, die überwiegend der militärischen Aufrüstung dienten. Die 22 toten Paramilitärs – sei es nun eine Armeefalle gewesen oder nicht – galten bei dieser Entscheidung als Alibi. Uribe geht gegen alle illegal Bewaffneten vor, so der Eindruck, den Washington verbreiten will.

Armee ohne Kontrolle

Uribe Vélez, seit knapp drei Monaten im Amt, hält offenbar das, was er seinen Landsleuten versprochen hat. Zumindest bei denen, die das Ärgste befürchten. Er will das Land auf dem militärischen Wege befrieden und räumte der Armee in den ersten Wochen seiner Amtszeit mehr Rechte ein als je zuvor. Am 11. August rief die Regierung den inneren Notstand für zunächst 90 Tage aus, welcher der Armee Sonderrechte im Kampf gegen die Subversion zugesteht. Nur wenige Tage später deklarierte die Regierung 15 Bezirke in den nördlichen Provinzen Sucre, Bolívar und Arauca zu so genannten Wiederaufbauzonen. Dort wurde den zivilstaatlichen Stellen per Dekret weitgehend die Gewalt entzogen. Zwei Generäle bestimmen nun über die Politik in diesen Regionen, die wirtschaftlich wichtig sind. Durch diese Gebiete führt auch die Ölpipeline Caño Limón, auf die im Jahr 2001 über 170 Anschläge durch die Guerilla verübt wurden; ein Millionenverlust für den Staat und ansässige Ölmultis. „Wer wird jemals erfahren, was für Menschenrechtsverletzungen in diesen Zonen stattfinden, in denen ausschließlich die Armee die Kontrolle besitzt?“, fragte der linke Kongressabgeordnete Carlos Gaviria zurecht in einem Zeitungsinterview. Wahrscheinlich niemand. Zwar muss die Armee etwa bei Hausdurchsuchungen und Militäroperationen einen Richter konsultieren. Doch das sogenannte Dekret 2002, das diese Zonen und ihre Funktionsweise bestimmt, hält eine Fußnote parat. Demnach könne die Anrufung eines Richters auch nach der Operation erfolgen, sollte es zum Operationszeitpunkt nicht möglich sein. Ein Blankoscheck für die Armee, Spuren zu verwischen und Vorwände zu finden, um der Justiz die wahren Begebenheiten vorzuenthalten. Ähnliche Bedenken äußerte das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen in Bogotá. „Wenn keine Klarheit herrscht, die Regeln vage sind, und vor, während sowie nach bestimmten Operationen keine rechtliche Kontrolle stattfindet, besteht ein hohes Risiko von Menschenrechtsverletzungen“, so Amerigo Incalcaterra, Direktor des UN-Büros. Die UNO wirft der Regierung Uribe vor, dass das Dekret 2002 international verabschiedeten Menschenrechtsklauseln widerspreche. Die Bewohner der betroffenen Bezirke stehen unter Generalverdacht, willkürliche Festnahmen sind faktisch erlaubt.

Blaues Auge statt Blauhelm

Nicht nur diese Äußerungen der UNO haben Uribe erzürnt. Ende September forderte der kolumbianische Präsident einen Blauhelmeinsatz «a la colombiana» im Land. Seine Vorstellung: Mehrere tausend kolumbianische Soldaten sollen – im Auftrag der UNO und mit Blauhelmen ausgestattet – Flüchtlinge in ihren Heimatort zurück begleiten und dort beschützen. Dabei zielt Uribe klar auf eine Internationalisierung des Konflikts im militärischen Sinne ab, statt sich auf politische Verhandlungen zu konzentrieren. Er könnte der kolumbianischen Armee, die mit Menschenrechtsverletzungen vorbelastet ist, eine gewisse Immunität verschaffen, wenn sie im Rahmen eines Blauhelmeinsatzes agieren würde. Ein Angriff auf diese Soldaten würde dann einem Vergehen an der Weltgemeinschaft gleichkommen, die in der UNO vertreten ist. Diese zeigte jedoch die kalte Schulter. „Es gehört nicht zu unserer Arbeitsweise, Soldaten des betroffenen Landes für einen Blauhelmeinsatz einzusetzen“, so das UN-Büro. „Die internationale Gemeinschaft kritisiert und kritisiert, macht Studien und soziale Experimente. Sie ergreift aber keine effektiven Maßnahmen“, verteidigte sich Uribe in forschem Ton. Dass seine Initiative jedoch gescheitert war, konnte er kaum noch verbergen.

“Schmutziges Spiel“ mit Referendum

Auch auf heimischem Terrain schlug dem neuen Präsidenten unerwarteter parlamentarischer Widerstand entgegen. Hatte Uribe seine Wahl neben Säbelrasseln auch mit einem versprochenen Kampf gegen Korruption und Politikerklüngel gewonnen, entpuppt sich sein Programm mehr und mehr als Papiertiger. Im September war im kolumbianischen Kongress ein Streit um ein Referendum entbrannt, das laut Uribe wegweisend für die zukünftige Politik des Landes sein sollte. Der Fragebogen umfasst 17 Punkte und soll im März kommenden Jahres der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt werden. Oppositionelle Politiker im Kongress kritisierten das Referendum als genau das, was Uribe bekämpfen wollte: Politikklüngelei. So stelle die Regierung mit Hilfe einer millionenteuren Abstimmung Themen und Punkte zur Debatte, die im Parlament gelöst werden könnten. Sie werfen ihm Populismus vor. Uribe will unter anderem die Amtszeit der jetzigen Gouverneure und Bürgermeister bis Ende 2004 verlängern und den persönlichen Besitz von geringen Mengen Drogen wie Kokain und Marihuana wieder unter Strafe stellen. „Kampf gegen das Fieber statt gegen die Krankheit“, nannten es Abgeordnete, die sich zunächst gegen das vorgelegte Papier aussprachen, in dem von tief greifenden Änderungen keine Spur zu finden ist. Das Referendum sieht des Weiteren vor, die Löhne im öffentlichen Dienst in den kommenden zwei Jahren einzufrieren, um ein klaffendes Haushaltsloch zu stopfen. Das Defizit beträgt derzeit knapp vier Prozent. Davon ausgenommen sind jedoch die Pensionen der Abgeordneten. „Wir spielen ein schmutziges Spiel mit den Menschen“, meinte der unabhängige Abgeordnete German Talero, der der Regierung vorwarf, sich mit Hilfe des Referendums finanzielle Vorteile verschaffen zu wollen. Vorschläge, die in der Öffentlichkeit zu Empörung führten, stellte die Regierung als Pannen dar und strich sie aus dem Antrag. So sollte die staatliche Aus- und Weiterbildungseinrichtung SENA geschlossen werden, um Geld zu sparen. Rund zwei Millionen mittellose Kolumbianer haben in der SENA die Möglichkeit, mit staatlicher Unterstützung einen technischen Beruf zu erlernen oder sich weiterzubilden. Uribe plante, diesen Bereich zu privatisieren, was für diese Menschen finanziell unerschwinglich geworden wäre. Eine zunächst sicher geglaubte Mehrheit im Parlament, die das Referendum verabschieden sollte, schien in Gefahr. Uribe schickte seinen polemischen Innenminister Fernando Londoño ans Pult, der die Abgeordneten warnte. Sollten sie den Antrag nicht annehmen, würde die Regierung ein Anfang September aufgegebenes Wahlversprechen wieder aufgreifen, dass eine Reduzierung des Kongresses auf eine Kammer beinhaltet. Die Regierung drohte, mit einem Zusatzpunkt im Referendum die jetzigen Kammern auflösen zu lassen und vorgezogene Kongresswahlen anzusetzen. Am 15. Oktober verabschiedete der Kongress dann doch den Referendumsentwurf. Gewonnen wurde die Debatte mit populistischen Drohungen: Wenn der Kongress nicht mitziehe, würde die Straße über die Abgeordneten richten.

Generalstreik in der Probezeit

Jedoch war es Uribe selbst, der schon Mitte September ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik geraten war. Zwar gelten für neue Präsidenten im Normalfall Schonfristen von 100 Tagen, doch bereits nach 40 Tagen sah sich der kolumbianische Präsident mit einem ersten Generalstreik des öffentlichen Sektors konfrontiert. Eine geplante Anhebung des Renteneinstiegsalters und eine Flexibilisierung der Arbeitsrechte waren Stein des Anstoßes für den Streik, der am 16. September weite Teile Kolumbiens lahm legte. Was unter mitteleuropäischen Gesichtspunkten höchstens scharfe politische Debatten ausgelöst hätte, entwickelte sich in den Vortagen des Streiks zur regelrechten Diffamierung kolumbianischer Gewerkschaften. Die Regierung titulierte den Ausstand als Plan der linken Guerilla, das Land zu destabilisieren. So habe laut Innenminister Fernando Londoño die marxistische FARC-Guerilla im Vorfeld der Proteste Bauern zur Teilnahme am Streik gezwungen. Im südkolumbianischen Cauca seien rund 500 Menschen von der Guerilla in Bewegung gesetzt worden, um Straßen unpassierbar zu machen. Die Gewerkschaften widersprachen diesen Äußerungen und kritisierten die Haltung der Regierung zu einem legitimen Recht der Arbeitnehmer, die keine andere Möglichkeit hätten, gegen die neoliberale Politik Uribes zu protestieren. Rund 700.000 Angestellte des öffentlichen Dienstes beteiligten sich am Streik. Laut den Gewerkschaften sei der Aufruf mit bis zu 90 Prozent Beteiligung ein voller Erfolg gewesen. Mehr als 30.000 Bauern hatten den Ausstand über eine Woche weitergeführt, um eine Einstellung von billigen Nahrungsmittelimporten und eine tragfähige Substitutionspolitik für eine Alternative zum Kokaanbau zu fordern. Dutzende Demonstranten wurden illegal von der Polizei festgesetzt, um den Streik zu unterbinden, Protestmärsche von Studenten verhindert. In anderen Teilen des Landes hätten Paramilitärs die Bauern eingeschüchtert. Mehrere Organisationen sprachen von Verschleppungen von Bauernführern, die bis heute vermisst werden.

Konfrontationskurs erzeugt Widerstand

Erst nach einem Einlenken der Regierung und der Zusage, über neue Gesetzesentwürfe mit den Gewerkschaften verhandeln zu wollen, wurde der Streik aufgehoben. Zwar hat Uribe weiterhin mit rund 70 Prozent ein ungewöhnlich hohes Ansehen in der Bevölkerung. Doch bereits in den ersten Wochen ist deutlich geworden, dass der soziale und militärische Konfrontationskurs seiner Regierung viele benachteiligte Gruppen und nicht wenige unabhängige Parlamentarier gegen ihn auf den Plan gerufen hat. Mehrere Gouverneure des Landes opponieren bereits jetzt offen gegen seine Politik der harten Hand und weigern sich, militärische Zonen in ihren Regionen zuzulassen. „Dass mir keine militärische Autorität ankommt, um mich zu ersetzen! Das würde unsere Verfassungsrechte verletzen“, so der Gouverneur der Provinz Magdalena. Elf weitere Gouverneure schlossen sich dieser Meinung an. Sie befürchten, dass sich der Konflikt in ihren Zonen damit verschärfen würde; denn eine grundlegende Änderung fand in den Wiederaufbauzonen nicht statt. Dutzende Anschläge durch die Guerilla hatten dort im Oktober den Sinn dieser Politik in Frage gestellt. Dennoch plant Uribe eine Ausweitung dieser Maßnahme, die dem Militär mehr Macht einräumen wird.

KASTEN:
Auslieferung von Carlos Castaño?
Der Chef des Paramilitärverbandes AUC soll in den USA vor Gericht gestellt werden

Präsident Uribe Vélez und der Chef der paramilitärischen Selbstverteidigungsgruppen AUC hätten sich Mitte September beinahe in Washington getroffen. Die Nachrichtenagentur AP lancierte die Meldung, Castaño befände sich auf dem Flug in die USA, während sich der kolumbianische Präsident mit US-Präsident Bush traf. Wenige Tage zuvor beantragte ein US-Gericht die Auslieferung des Paramilitär-Chefs. Er wird in den USA des Handels mit über 17 Tonnen Kokain beschuldigt. Ihm droht im Falle eines Prozesses eine lebenslange Haft. Die Nachricht der Selbstauslieferung entpuppte sich jedoch als Ente. Dennoch sah sich Castaño zu der Stellungnahme bereit, sich vor einem US-Gericht zu verantworten. Ein Märtyrer? Zweifler ließen die Frage aufwerfen, ob es im Vorfeld Geheimverhandlungen zwischen Castaño und den USA gegeben hat. Bereits in der Vergangenheit soll der paramilitärische Verband enge Kontakte zur US-Drogenbehörde DEA unterhalten haben, in denen Castaño die Auslieferung von Drogenbossen verhandelt habe, um seinen eigenen Kopf zu schützen. Die AUC gelten als größte Drogenhändler in Kolumbien. Wenige Wochen zuvor schickte Castaño nach eigenen Angeben einen seiner Anwälte in die US-Botschaft, um nachzufragen, ob Anklagen gegen ihn vorlägen. Dort sagte man jedoch, dass man mit ihm keine Probleme hätte. Während Castaño im Mai die AUC offiziell auflösen ließ, um das Image einer Drogenhandelsorganisation zu bekämpfen, berief er Anfang September eiligst eine Neugründung des Verbandes ein. Offenbar hatte er sich verrechnet: Castaño glaubte sich als politischer Akteur in einem möglichen Legalisierungsprozess mit der Uribe-Regierung profilieren zu können. Der Auslieferungsantrag traf ihn wie der Blitz. Während er jahrelang als berechenbare und nützliche Figur seitens der kolumbianischen Regierung und US-Behörden akzeptiert wurde, soll er nun seinen Kopf hinhalten – zumindest für die Öffentlichkeit. „Ich werde mich nicht vor den USA verstecken. Hier bin ich“, sagte Castaño in einem Interview Mitte Oktober irgendwo im Norden Kolumbiens. Als „Kriegstrophäe“ wolle er sich jedoch nicht opfern lassen, von einer Selbstauslieferung war keine Rede mehr. Bestünde ein wahres Interesse, Castaño dingfest zu machen, wäre dies längst geschehen. Im September trafen sich rund 2000 Paramilitärs und ein Tross von Journalisten nahe der Ortschaft Mariquita in der Provinz Tolima, um die Reorganisation der AUC zu zelebrieren. Polizei und Armee griffen nicht ein. Zwar existieren auch vor der kolumbianischen Justiz Dutzende Anklagen wegen unzähliger Massaker und Drogenhandels, aber Castaño will niemand anrühren. Es könnten Kontakte zu Tage treten, die das Militär und Politiker lieber im Dunkeln lassen wollen (siehe Artikel).

Chávez auf Versöhnungskurs

In einem Interview mit der britischen BBC, das auch im staatlichen venezolanischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, erklärte Präsident Chávez, „dass der Megaputsch in Venezuela und die herrliche Antwort eines würdigen, mutigen, demokratischen Volkes sowie die würdige und mutige Antwort der zentralen Strukturen der venezolanischen Streitkräfte eine außerordentliche Quelle für alle sein können, die mit klarem Blick und guten Absichten lernen wollen, was wirklich in Venezuela vor sich geht.“
Und in der Tat, was sich in Venezuela in den letzten Wochen abgespielt hat, ist in der Geschichte Lateinamerikas weitgehend ohne Beispiel. Der Putsch selbst wurde nach dem Muster von Chile 1973 vorbereitet und durchgeführt: provozierte wirtschaftliche Schwierigkeiten, Streik gegen die Regierung, die Provokation von Unruhen, um damit dem Militär den Vorwand für ein gewaltsames Eingreifen zu geben. Und auch die Ereignisse nach der Machtübernahme des Unternehmerchefs Pedro Carmona riefen entsprechende Erinnerungen hervor: Überfall auf die kubanische Botschaft, Menschenjagd auf Funktionäre und Anhänger der gewählten Regierung, Schüsse auf DemonstrantInnen gegen den Putsch. Doch diesmal lief es anders. Der Aufstand von Hunderttausenden von Menschen, die innerhalb von Stunden die zentralen Straßen und Plätze von Caracas besetzten, sowie das Eingreifen zahlreicher Einheiten des Militärs auf der Seite der gewählten Regierung sorgten nach gerade einmal 48 Stunden für ein Ende des Carmona-Regimes.

Die Rolle der USA

Immer deutlicher wird unterdessen die Verwicklung der USA in den Putsch. Richtete sich die internationale Kritik zunächst noch gegen die offensichtliche Befriedigung über den Sturz Chávez’, die von den USA, aber auch von der spanischen EU-Präsidentschaft zur Schau gestellt worden war, so kommen doch mehr und mehr Informationen ans Licht, die eine direkte Beteiligung der USA an den Vorgängen in Venezuela belegen.
Bereits am 30. April informierte die Tageszeitung Ultimas Noticias – eine der wenigen Zeitungen in Venezuela, die sich nicht der Hetze gegen die Regierung verschrieben hat – über ein US-Kriegsschiff und Militärflugzeuge, die während des Putsches das venezolanische Hoheitsgebiet verletzt hätten. Dabei hätten Flugzeuge auch die Militärbasis umflogen, in der Chávez festgehalten worden war. Zu den Plänen der Putschisten hatte es Augenzeugenberichten zufolge gehört, Chávez in die USA zu verschleppen. Gegenüber der englischen Tageszeitung The Guardian bestätigte der ehemalige Agent des US-Marine-Geheimdienstes, Wayne Madsen, die Verwicklung der US-Marine in den Putsch: „Die Marine der Vereinigten Staaten unterstützte den Staatsstreich des 11. April durch die Übermittlung von Geheiminformationen von ihren Kriegsschiffen in der Karibik an die Putschisten. Das Erste, was ich hörte, war, dass der bekannte Militärberater Coronel James Roger im vergangenen Juni an die Botschaft der USA in Caracas entsandt worden ist, um den Boden vorzubereiten.“
Auch Präsident Chávez kommentiert die Verwicklung von US-Offiziellen in den Putsch. In Bezug auf die Verletzung des venezolanischen Hoheitsgebietes bestätigt er die Existenz von entsprechenden Radaraufnahmen, leugnet aber diplomatisch, er kenne die Herkunft der Flugzeuge nicht. Nach eigener Aussage verfügt der Präsident aber über Beweise für die direkte Unterstützung der Putschisten durch US-Offiziere: „Ich habe Beweise über zwei Offiziere der Vereinigten Staaten, sie liegen mir schriftlich vor und ich weiß, wann sie den Sitz der Putschisten betraten und verließen, ich habe ihre Namen, ich weiß mit wem sie sprachen, es gibt sogar Beweise auf Video, Fotos, Registrierungen von ihrem Eintritt. Jetzt wird untersucht, was diese Offiziere des Militärattachés der Vereinigten Staaten in Venezuela dort getan haben.“

Konsequenzen

Was sind die Konsequenzen aus diesen Ereignissen? Diese Frage stellen sich nicht nur in Venezuela Anhänger und Gegner der „Bolivarianischen Revolution“, des unter der Regierung Chávez vorangetriebenen Reformprojekts.
Chávez selbst sieht sich durch den Aufstand des Volkes ein drittes Mal im Amt bestätigt: „Der 13. April stellt für mich meine dritte Wahl dar, das Volk hat mir das Amt erneut übergeben.“ Entsprechend wurden von der Regierung auch Forderungen der Opposition zurückgewiesen, die nach den Ereignissen ein Referendum über Neuwahlen gefordert hatten. Dabei verweist die Regierung auch auf Bestimmungen der venezolanischen Verfassung, wonach ein Referendum über eine Abwahl des Präsidenten erst nach der Hälfte der Amtszeit durchgeführt werden kann. Darüber hinaus belegen alle Umfragen, dass die Autorität von Chávez nach dem Sieg über die Putschisten deutlich gewachsen ist, während die oppositionellen Gruppen mit einer umfassenden Vertrauenskrise zu kämpfen haben.
Während Chávez seit seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft „Versöhnung“ und „Verständigung“ propagiert, fordern große Teile seiner Anhänger nun den Prozess der „Bolivarianischen Revolution“ zu vertiefen. So fordert die Chávez treu verbundene Kommunistische Partei (PCV) in einem „Manifest an das arbeitende Volk“: „Wir unterstützen die volle Respektierung der demokratischen Freiheiten, der Gültigkeit der Menschenrechte und des anstehenden Prozesses, wir fordern aber gleichzeitig Festigkeit in der Anwendung der gesetzlichen Strafen, die all denen zustehen, die sich gegen die Verfassung der Bolivarianischen Republik Venezuela erhoben haben. Dialog ohne Straflosigkeit! Exemplarische Bestrafung der Faschisten! Verteidigung der Verfassung zur Vertiefung der Revolution! Das sind die Forderungen des venezolanischen Volkes. Nicht in diese Richtung zu handeln bedeutet, zur Verletzung der Verfassung beizutragen, zu deren Verteidigung das großartige Volk seinen Mut bewiesen hat und einmal mehr den venezolanischen Boden mit seinem Blut getränkt hat.“

Revolution und Lohnerhöhung

Die massenhafte Unterstützung für eine Vertiefung des revolutionären Prozesses zeigt sich auch bei dem sich wiederholenden Kräftemessen auf den Straßen von Caracas. Die erste große Machtprobe nach dem Putschversuch fand am 1. Mai statt. Während Anhänger der Regierung mit der Gewerkschaft Fuerza Bolivariana de Trabajadores (FBT) für eine Demonstration zur Unterstützung der Regierungspolitik mobilisierten, rief die Führung der rechten Gewerkschaft CTV zu einer Demonstration gegen die Regierung „für die Rechte der Arbeiter“ auf. Die Anhänger der „Bolivarianischen Revolution“ konnten diese Kraftprobe deutlich für sich entscheiden. Mehr als eine Million Menschen bildeten einen 12 Kilometer langen Demonstrationszug, feierten unter anderem die an diesem Tag in Kraft getretene Erhöhung der Mindestlöhne und Pensionen um 20 Prozent und forderten die Unternehmer auf, diese Erhöhung auch auf die privaten Unternehmen anzuwenden. Die Forderung nach der Gehaltserhöhung war von der CTV und dem Unternehmerverband Fedecámaras im von ihnen gemeinsam veranstalteten Generalstreik propagiert worden, der am 11. April in den Putsch mündete. Eine der ersten Erklärungen des Putsch-Präsidenten und Fedecámaras-Chefs Pedro Carmona war jedoch, diese von ihm zuvor selbst geforderte Erhöhung sei „nicht finanzierbar“. Die demokratische Regierung hingegen hatte die Forderung nach der Gehaltserhöhung bereits kurz vor Beginn des mäßig unterstützten Generalstreiks aufgegriffen und für den 1. Mai deren Umsetzung angekündigt.
Die Demonstration der CTV konnte zwischen 40.000 und 60.000 Menschen vereinen, etwa die selbe Zahl, wie sie auch zehn Tage später am 11. Mai mobilisieren konnte, um den Ereignissen im Monat zuvor gemäß ihrer eigenen Interpretation zu gedenken.

Die westlichen Medien

Die Berichterstattung über die verschiedenen Demonstrationen zeigt allerdings auch, dass weder die privaten venezolanischen Medien noch die internationalen Presseagenturen Konsequenzen aus den Ereignissen im April gezogen haben. Noch immer wird den Aktionen der Opposition breiter Raum in den Medien eingeräumt, während die Anhänger der Regierung für ihre Aktionen weitgehend außerhalb der Medien mobilisieren müssen. In der Berichterstattung werden die Teilnehmerzahlen der Opposition maßlos übertrieben und die Aktionen der bolivarianischen Bewegung klein geredet. Ein schon groteskes Beispiel dafür bot am 2. Mai die größte spanische Tageszeitung El País, als sie behauptete, an der Maidemonstration der FBT hätten sich „3500“ Menschen beteiligt, während sie die Zahl der oppositionellen Demo mit „500.000“ angab.

Druck von außen

Der weitere Entwicklungsweg Venezuelas bleibt damit unsicher. Von Seiten der Opposition kommt derzeit kein Zeichen für eine Versöhnung und die Regierung manövriert zwischen einer Beruhigung der Gemüter und der Forderung nach einer Vertiefung der Revolution. Gleichzeitig sind die Signale aus Washington eindeutig: dort will man weiterhin ein Ende des souveränen Weges der Bolivarianischen Republik Venezuela. Und so ist der Schlussfolgerung von Carlos Fazio in der mexikanischen Tageszeitung La Jornada zuzustimmen: „Sie werden es wieder versuchen. Der Grund dafür ist einfach: die wirklichen Herren der ferngesteuerten Verschwörung sitzen in Washington und sie wollen weiterhin den Kopf von Chávez.“

Eine amerikanische Dreiecksbeziehung

Im April fand in Genf die alljährliche Konferenz der UN-Menschenrechtskommission statt. Die spannendste Frage war wie immer, ob es zu einer offiziellen Anprangerung Kubas wegen Menschenrechtsverletzungen kommen würde. Da die USA auf Grund mangelnder internationaler Unterstützung nicht mehr in dem Gremium vertreten sind, mussten sie sich bereits im letzen Jahr nach einem Land umschauen, welches den entsprechenden Antrag zur Verurteilung Kubas einbringen würde. Diese Aufgabe wurde damals von der Tschechischen Republik übernommen, die aber dieses Jahr signalisiert hatte, dass sie dafür nicht noch einmal zur Verfügung stehen würde. Die Bemühungen der USA konzentrierten sich daher voll und ganz auf die lateinamerikanischen Vertreter in der Menschenrechtskommission, da man sich der ideologischen Tragweite einer Verurteilung auf Initiative eines der “Bruderländer” vollkommen bewusst war.

Uruguay springt ein

Peru hatte sich, nachdem ein bilaterales Wirtschaftsabkommen mit den USA in Aussicht gestellt worden war, bereit erklärt, den Job zu übernehmen. Ein Tag vor Ablauf der Frist zur Antragannahme sah sich der peruanische Präsident Toledo jedoch gezwungen der eingegangenen Verpflichtung eine Absage zu erteilen, da das Parlament für eine “souveräne und autonome” Entscheidung in der Kuba-Frage gestimmt hatte. 15 Minuten vor Ablauf der Frist am 10. April reichte dann schließlich Uruguay den kontroversen Antrag ein und löste damit die schwerste Krise zwischen den beiden Ländern seit Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen im Jahr 1985 aus. Am 19. April kam es daraufhin zur Abstimmung, bei der der Antrag Uruguays zur internationalen Ächtung der sozialistischen Insel mit 23 Stimmen dafür, 21 Stimmen dagegen und acht Enthaltungen knapp angenommen wurde. Bis auf Kuba und Venezuela, die erwartungsgemäß gegen den Antrag stimmten, sowie Brasilien und Ecuador die sich enthielten, wurde er von den sieben anderen vertretenen lateinamerikanischen Ländern unterstützt. In dem verabschiedeten Text werden einerseits “die kubanischen Bemühungen im Bereich der sozialen Rechte angesichts der unvorteilhaften internationalen Lage” honoriert, andererseits wird aber eine einjährige Untersuchung der Menschenrechtslage durch einen Vertreter der UNO empfohlen. Dabei handelt es sich um eine alte Forderung der USA, die, da sie die Annahme schwerer Menschenrechtsverletzungen beinhaltet, von Kuba als “Einmischung in nationale Angelegenheiten” zurückgewiesen wird.

Markt oder Ehre?

Die kubanischen Reaktionen auf das Verhalten Uruguays in Genf waren äußerst heftig. Der Außenminister Kubas, Felipe Pérez Roque, bezeichnete die Bereiterklärung Uruguays, den Antrag zur Verurteilung Kubas zu stellen, als einen “unterwürfigen Kniefall vor den Interessen des US-Imperialismus”. Er beschuldigte den Präsidenten Jorge Batlle, dass ihm die Märkte wichtiger als die Ehre seien. Bei ihrem letzten Zusammentreffen auf dem Gipfel der amerikanischen Staaten in Mexiko hatte US-Präsident Bush ein Freihandelsabkommen und vorteilhafte Einfuhrbedingungen für uruguayisches Fleisch versprochen, falls Batlle bei einer Verurteilung Kubas behilflich sein würde. Gleichzeitig stellte Pérez Roque die moralische Autorität des Landes in Frage, indem er auf das Amnestiegesetz verwies, welches im Jahr 1989 per Referendum ratifiziert wurde und jegliche Strafverfolgung von Verbrechen, die während der Militärdiktatur begangen wurden, verbietet. “Ein Land, in dem kein einziger Folterer und Mörder verurteilt wurde, und das sich jetzt als der große Richter aufspielen will, das erscheint mir wie ein schlechter Witz.” Die Antwort aus Montevideo ließ nicht lange auf sich warten. Der uruguayische Außenminister Didier Opertti nannte die Äußerungen seines kubanischen Kollegen falsch und beleidigend. Der strittige Antrag sei nicht auf Betreiben der USA zu Stande gekommen, außerdem setze man sich seit Jahren für eine Beendigung des US-Embargos ein. Wenn Kuba die Beschuldigungen nicht zurücknehme, so müsse man über weit reichende Konsequenzen nachdenken.

”Cuba sí, yanquis no!”

Die US-amerikanischen Versuche, Einfluss auf die politischen Beziehungen zwischen Kuba und anderen lateinamerikanischen Staaten zu nehmen, sind so alt wie die kubanische Revolution. Auch das Verhältnis von Uruguay zu Kuba ist geprägt von massivem Druck aus Washington, dem aber von Anfang an eine mächtige Solidaritätsbewegung entgegenstand. Der Erfolg der kubanischen Revolution beeinflusste auch die uruguayische Linke nachhaltig. 1961 besuchte Che Guevara in seiner damaligen Funktion als kubanischer Industrieminister den uruguayischen Badeort Punta del Este, wo er auf einer Konferenz amerikanischer Staaten eine seiner berühmten Reden hielt und anschließend vom damaligen uruguayischen Ministerpräsidenten zum gemeinsamen Mate-Trinken eingeladen wurde. Während einem Besuch der Universität von Montevideo gab es ein Attentat, bei dem ein kommunistischer Student erschossen wurde, der direkt neben Guevara lief. Dass die Kugel nicht ihm galt, ist so gut wie sicher. 1964 beendete Uruguay erstmals die diplomatischen Beziehungen mit Kuba, eine Entscheidung, die, wie der ehemalige CIA-Agent Philipp Agee in einem seiner neueren Bücher schildert, von den USA forciert wurde. Die größte Unterstützung fand Kuba naturgemäß in der Kommunistischen Partei Uruguays, während die Guerilla der Tupamaros immer eine kritische Distanz bewahrte und großen Wert auf politische Unabhängigkeit legte. 1995, zehn Jahre nach Ende der Militärdiktatur, besuchte Fidel Castro das Land und wurde in der traditionell linken Hauptstadt empfangen wie ein Popstar: 500.000 Uruguayer, das heißt jeder Sechste, säumten seinen Weg vom Flughafen zum Rathaus, wo ihn der Bürgermeister des Linksbündnisses Frente Amplio (FA), Mariano Arana, erwartete. Die Solidarität mit Kuba zählt seit der Gründung im Jahr 1971 zu den unerschütterlichen Prinzipien des FA, die bis jetzt noch jede “ideologische Erneuerung” des Parteienbündnisses überstanden hat.

Nationale Schande

“Das Verhalten Uruguays in der Menschenrechtskommission ist eine Schande für das ganze Land und stellt einen Pyrrhus-Sieg für die Vereinigten Staaten dar.” So äußerte sich der sozialistische Senator Reinaldo Gargano in einer Parlamentsdebatte und gab damit den Tenor, der in der gesamten Linken des Landes vorherrschte, wieder. Während die meisten Vertreter der rechts-liberalen Regierungskoalition aus Colorados und Blancos in seltener Übereinstimmung das Vorgehen Uruguays als Beweis für die große demokratische Tradition des Landes im Dienste der Menschenrechte wertete, gab es auch dort Missstimmungen. Ein Beraterteam des Außenministers Oppertti hatte im Vorfeld eine Enthaltung Uruguays in der Kuba-Frage empfohlen, so wie dies bereits im Jahr 1998 geschehen war. Daraufhin wurde die Menschenrechtsbeauftragte der Regierung, Silvia Izquierdo, die an der Empfehlung maßgeblich beteiligt war, auf Grund von angeblicher Illoyalität zu Gunsten Kubas entlassen. “Ein einzigartiger Akt ideologischer Verfolgung”, so Senator Gargano.

Flucht nach Norden

Die überraschende Demission Izquierdos ist symptomatisch für die Irritationen, die seit dem Amtsantritt Batlles im Jahr 2000 die Beziehungen zwischen dem Außenminister Opertti, der bereits unter dem vorherigen Präsidenten Sanguinetti diese Funktion innehatte, und dem Chef der Exekutive beherrschen. Wiederholt hat sich Batlle in den letzten zwei Jahren durch Alleingänge in der Außenpolitik hervorgetan, die weder mit seinem Außenminister, noch mit den Partnern in der Regierungskoalition, geschweige denn mit der Opposition abgestimmt waren. Jorge Batlle, der in den USA studierte, gilt als bedingungsloser Bewunderer des “Großen Bruders” und seines Wirtschaftssystems. Die daraus resultierende Politik, die auch schon als “Flucht nach Norden” charakterisiert wurde, äußert sich besonders in der Vernachlässigung der Beziehungen zu den anderen Mitgliedstaaten des Mercosur, Argentinien, Brasilien und Paraguay. Anstatt auf eine Politik der regionalen Integration setzt Batlle auf bilaterale Abkommen mit den USA, um so die Exportmöglichkeiten Uruguays zu verbessern. Die enge Bindung an die Vereinigten Staaten kommt nun auch in den Beziehungen zu Kuba voll zum Tragen. Bereits auf dem amerikanischen Gipfel im mexikanischen Monterrey kam es zu Verstimmungen als Batlle die vorzeitige Abreise Castros als “Show eines alten Mannes” bezeichnete und eine ältere Aussage des ehemaligen Präsidenten von El Salvador, Flores, bekräftigte, in der dieser Castro als Mörder bezeichnet hatte.

Solidarität und Meningitis

Drei Tage nach der von Uruguay initiierten Verurteilung Kubas in Genf folgte dann das verbale Donnerwetter vom comandante en jefe auf das viele gewartet hatten und das in seiner Schärfe nichts zu wünschen übrig ließ. Castro bezeichnete Batlle als “veralteten niederträchtigen Judas” und beschuldigte ihn des Verrats an der lateinamerikanischen Einheit. Gleichzeitig betonte er, dass die kubanische Regierung sehr wohl zwischen der uruguayischen Regierung und dem uruguayischen Volk zu unterscheiden wisse, welches eine über vier Jahrzehnte währende Beziehung der Brüderlichkeit und Solidarität mit der kubanischen Revolution verbinde. Er verwies auf eine vor Ausbruch der Krise gemachte Zusage, nach der Kuba sich verpflichtet hatte, eine Spende von 1,2 Millionen Impfspritzen gegen Meningitis B, die kürzlich in der Provinz Uruguays ausgebrochen war, zu senden. “Am selben Tag wie in Genf mit Hilfe von Uruguay die internationale Stigmatisierung Kubas aufrecht erhalten wurde, die nur zur weiteren Rechtfertigung des Embargos dient, flog das erste Flugzeug mit 200.000 Spritzen nach Uruguay, und auch der Rest wird folgen, es sei denn man lässt uns nicht landen.” Auch über diese Hifsleistung hatte es bereits im Vorfeld Auseinandersetzungen gegeben, da die uruguayische Regierung keine kubanische Spende akzeptieren wollte, sondern darauf beharrte den Wert der Spritzen mit den 30 Millionen US-Dollar Schulden, die Kuba bei Uruguay hat, zu verrechnen. Die Kubaner waren empört, da es sich um eine Hilfe aus Solidarität handele, die nichts mit den Schulden zu tun habe, die man natürlich begleichen werde.
Ein Sprecher der uruguayischen Regierung wertete die harschen Attacken aus Havanna als “ungerechtfertigten Angriff auf die nationale Würde durch ein totalitäres System”. Am 24. April war es dann soweit: Der kubanische Botschafter in Montevideo, José Alvarez Portela, wurde zur persona non grata erklärt und aufgefordert schnellstmöglich das Land zu verlassen. Batlle begründete den endgültigen Bruch mit Kuba mit den Beleidigungen Castros und kündigte eine Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen an, “sobald es Freiheit auf dieser Insel gibt.”

Persona grata!

Gleichzeitig wurde das Ergebnis einer Umfrage bekannt, nach der nur acht Prozent der Bevölkerung das Ende der diplomatischen Beziehungen mit Kuba unterstützen, 65 Prozent sprechen sich gegen eine Verurteilung der Insel durch die UN-Menschenrechtskommission aus. Am 4. Mai kam es dann zu einer Wiederholung der Geschichte. Genau wie im Jahr 1964 versammelten sich um sieben Uhr morgens hunderte Montevideaner vor den Toren der kubanischen Botschaft, um den des Landes verwiesenen Diplomaten Alvarez Portela zum Flughafen Carrasco zu begleiten. Während der Fahrt durch die Stadt wuchs die Karawane aus Autos, Mopeds, Lastwagen, Bussen und Fahrrädern auf mehrere Kilometer an. Auf dem Flughafen wandte sich der Botschafter mit Tränen in den Augen zu einem letzten Gruß an die Uruguayer und bedankte sich für den überwältigenden Abschied. Die Antwort schallte ihm aus Tausenden Kehlen entgegen:“Persona grata!”. Der Botschafter rief: “Hasta siempre, compañeros!” und stieg in sein Flugzeug.

Hugo wieder Boss

Nur Gott kann die Revolution in Venezuela aufhalten, die ich durchsetzen werde. Aber er wird es nicht tun, denn er ist auf der Seite der Revolution”, sagte Hugo Chávez noch vor einigen Monaten. Seine GegnerInnen sollten weit einfacher, nämlich irdischer Natur sein, auch wenn sich unter ihnen die Kirche einreihte. In seiner unumstößlichen Selbstsicherheit, die ihn schon 1992 zu einem misslungenen Putsch gegen die Regierung Pérez führte, nahm er den Konflikt mit allen einflussreichen Sektoren des Landes auf (siehe LN 318). Am 11. April übte ein Bündnis aus Gewerkschaften, Industriellen und Medien den Aufstand, dem sich später Teile des Militärs anschließen sollten und der als Staatsstreich zusammenbrach.

Auf Generalstreik folgt Eskalation

Der Ausgangspunkt dieses 48-stündigen Staatsstreiches lag Wochen zurück. Ende Februar wurde der Vorstand der staatlichen Erdölgesellschaft PDVSA gefeuert. Dabei handelte es sich um nichts weiteres als einen Machtkampf der Regierung mit oppositionell dominierten Sektoren im Land. Chávez wollte die Posten mit seinen Anhängern besetzen, um die Kontrolle im Erdölsektor zu wahren. Wirtschaftliche Fähigkeiten waren zweitrangig. Teile der Ölarbeiter, angestachelt durch die oppositionell geführte Gewerkschaft, gingen wegen einer „Politisierung” der Firma in den Streik. Nach ihrer Ansicht gefährdete der Vorstandswechsel die Arbeit der PDVSA und somit das Schicksal des ganzen Landes. 84 Prozent der venezolanischen Exporteinnahmen stammen aus der Ölwirtschaft.
Statt den Konflikt beizulegen, ließ Chávez jedoch auf seine Art die Auseinandersetzung eskalieren. Am 7. April hielt er dem Land über seine wöchentliche Präsidentenshow „Hallo Präsident” eine Namensliste engegen, auf denen potenzielle Nachfolger für die Streikenden standen. „Sollte sich jemand wagen, weiter öffentlich zu einem Streik aufzurufen, wird er entlassen”, rief Chávez kampflustig in die Kameras. Um seinen Willen zu untermauern, ließ er weitere PDVSA-Sekretäre vorsorglich feuern oder zwangsbeurlauben.
Die Reaktion folgte auf dem Fuße. Der oppositionelle Gewerkschaftsdachverband CTV – angeführt von Carlos Ortega –, und der einflussreiche Industriellenverband Fedecámaras bereiteten einen Generalstreik gegen Chávez vor. War dieser zunächst auf den 9. April begrenzt, sollte er dann unbefristet ausgeweitet werden. Das Ziel war klar: Der zu 80 Prozent befolgte Streik sollte nicht vor der Absetzung des Präsidenten aufgehoben werden.

Wer schoss wirklich?

Am 11. April zogen mindestens 200.000 Menschen durch Caracas und forderten den Rücktritt von Chávez. Nachdem sich die Organisatoren unplanmäßig entschieden, zum Präsidentenpalast Miraflores zu marschieren, eskalierte die Gewalt. Laut Augenzeugen und ausländischer Journalisten schossen Scharfschützen von Dächern auf die DemonstrantInnen, aber auch auf den Präsidentenpalast. Was zunächst als Tat von Anhängern des Präsidenten ausgelegt wurde, widerspricht anderen Annahmen.
Laut dem Deutsch-Amerikaner Gregory Wilpert, der sich am Ort des Geschehens aufhielt, wurde von drei Seiten geschossen. Von Scharfschützen auf den Dächern, der Stadtpolizei und Gegendemonstranten, die durch die Nationalgarde von der Opposition getrennt wurden. Bei den schießenden Gegendemonstranten, die am Abend des 11. April im venezolanischen Fernsehen pausenlos bemüht wurden, handele es sich laut Wilpert um die berüchtigten Banderas Rojas, einer linksextremen Organisation, die nicht zu den Unterstützern von Chávez zählt. Die Polizei agierte unter dem Befehl des hauptstädtischen, oppositionellen Bürgermeisters Alfredo Peña, der gewiss nicht den Schießbefehl auf die Demonstranten gab. Wer die Scharfschützen waren, ist weiterhin unklar. Jedoch sollen laut mehreren Berichten unter den zwölf Toten und 52 Verletzten vom 11. April mehrheitlich Chávez-AnhängerInnen gewesen sein.
Ob es sich bei den Schießereien um eine bewusste Provokation gehandelt hatte, war Tage nach den chaotischen Zuständen noch nicht erwiesen. Aber die sich widersprechenden Aussagen deuten in diese Richtung.
Nur kurz nach den ersten Toten kündigte ein Teil der Armee, angeführt vom Bodenheereschef Efraím Vásquez Velasco und weiteren hohen Militärs, dem Präsidenten die Gefolgschaft auf. „Dies ist kein Putsch, sondern die Solidarität mit dem Volke Venezuelas”, sagte Vásquez zur Presse. Zuvor waren mehrere private Fernsehsender durch Chávez stundenlang abgeschaltet worden, der so „der Anstachelung zur Gewalt” einen Riegel vorschieben wollte.
Nahezu alle Medien, außer der unparteiischen Zeitung Última Noticia, sind auf Oppositionsseite. Fanden die Chávez-GegnerInnen keine Fürsprache mehr im Parlament, nutzten sie die Medien als ihr Sprachrohr. So hatten die privaten Radio- und Fernsehsender vor den jüngsten blutigen Demonstrationen dieser Tage in regelmäßigen Abständen Spots geschaltet, um gegen Chávez zu mobilisieren und den Eindruck entstehen zu lassen, der Präsident habe jede Unterstützung verloren. Was sich wenig später als Irrtum herausstellen sollte.
Doch zunächst plante die Opposition den Rücktritt von Chávez. Freiwillig oder unter Zwang. Während sich der 61-jährige Pedro Carmona, bis dato noch Präsident von Fedecámaras, in der Nacht zum 12. April mit Vertretern der früheren Regierungsparteien COPEI und Acción Democrática (AD) zur Bildung eines Kabinetts unter seiner Führung traf, schickte Heereschef Vásquez eine Gruppe Militärs zu Chávez. Diese legten ihm eine vorbereitete Rücktrittserklärung vor, während vor dem Präsidentenpalast Panzer auffuhren. Das Gespräch dauerte nur eine halbe Stunde. Chávez wurde danach durch einen Tunnel in den benachbarten Hauptsitz der Ehrengarde gebracht. Generalstabschef Lucas Rincón verkündete den Rücktritt des Präsidenten und die Einsetzung einer zivilmilitärischen Übergangsregierung unter Pedro Carmona.
Mehrere Minister und der Präsident der venezolanischen Bischofskonferenz, die Chávez im Moment der angeblichen Rücktrittserklärung um sich hatte, beobachteten den Ablauf ganz anders. „Ich werde so nicht zurück treten und damit Basta. Das tue ich nur vor der Nationalversammlung”, soll Chávez der Militärgruppe gesagt haben.

Putsch statt Rücktritt

Wenn eben nicht freiwillig, dann erzwungen. Chávez wurde mitgenommen und in mehrere Kasernen verlegt, wo er mit einer Ausnahme ohne Kontakt zur Außenwelt blieb. Ein unbekannter Soldat der Nationalgarde schmuggelte am Nachmittag des 13. April einen Brief von Chávez aus der 100 Kilometer östlich der Hauptstadt gelegenen Militärbasis Turiamo heraus und übergab ihn dessen Kindern. Die Ehefrau von Chávez suchte über befreundete Journalisten Kontakt zu CNN , um den kurzen Brief öffentlich zu machen. Die nationalen Medien arbeiteten schließlich für die Opposition. Darin hieß es wörtlich: „Ich, Hugo Chávez, Präsident der Bolivarianischen Republik Venezuelas, erkläre: Ich bin nicht von meiner legitimierten Macht zurück getreten, die mir das Volk gegeben hat. Für immer!”
Die „Konter-Konterrevolution” – wie Chávez die folgenden Geschehnisse später nennen sollte – nahm ihren Lauf. William Lara, unter Carmona abgesetzter Präsident der zeitweilig aufgelösten Nationalversammlung, und ein Abgeordneter machten tausende Kopien des Briefes von Chávez und ließen diese in den Stadtvierteln der Hauptstadt verteilen. Nur wenige Minuten später versammelten sich vor dem Präsidentenpalast etwa 2.000 Menschen. „Wir wollen Chávez sehen. Nieder mit der Diktatur”, skandierte die Menge, die bis zum Abend des 13. April auf mehrere zehntausend Menschen anwuchs.

Die „Konter-Konterrevolution”

Der schnelle Sturz der Übergangsregierung fand auf zwei Bühnen statt. Die erste war die Straße und einige Militärbataillone mehrerer venezolanischer Städte, die andere sollten die internationalen Medien und lateinamerikanische Staaten besteigen. Auf dem am 13. April in Costa Rica abgehaltenen Gipfel der Rio-Gruppe verurteilten mehrere Länder den Vorgang in Venezuela als „nicht demokratisch legitimiert“. Mexiko, Brasilien und Argentinien lehnten eine Anerkennung der Übergangsregierung ab. Der peruanische Staatschef Alejandro Toledo rief die Organisation Amerikanischer Staaten auf, Sanktionen gegen Venezuela zu verhängen, sollte das Land nicht umgehend die demokratische Ordnung achten. Auf Kuba demonstrierten rund 30.000 Menschen für die Freilassung von Hugo Chávez. Diese wurden von dessem engen Freund Fidel Castro angeführt, der ihn noch zwei Tage zuvor telefonisch warnte. „Du musst im Fall PDVSA zurückstecken, oder es ist dein Ende”, versuchte er diesen zu warnen, als vor dem Präsidentenpalast schon die Panzer vorfuhren.
An ihrem Ende arbeitete die Putsch-Regierung kräftig mit. In atemberaubender Geschwindigkeit wurde am 12. April zunächst das Anhängsel „Bolivarianisch” aus dem Republikentitel gestrichen, danach folgte die Auflösung der Nationalversammlung und des Strafgerichtshofs. Progressive und kontroverse Gesetze, die Chávez Ende letzten Jahres unterschrieb, wurden annulliert. Die Polizei nahm Durchsuchungen bei Chávez-Anhängern vor, mehrere Menschen, darunter Abgeordnete, wurden festgenommen.
Diese diktatorischen Züge gingen selbst nahen Verbündeten von Pedro Carmona zu weit. Gegenüber einem kolumbianischen Journalisten erklärte ein enger Vertrauter, dass der Verrat von Carmona nicht zu entschuldigen sei. „Wir saßen stundenlang in der Zentrale von Fedecámaras zusammen, um Pläne für ein Referendum auszuarbeiten, das Chávez absetzen sollte auf Basis der Verfassung. Als wir dabei waren, eine monatelange Debatte umzusetzen, machte es Carmona auf seine Weise.” Dabei ließ diese Quelle keinen Zweifel, dass man sich seit langem auf den Sturz von Chávez vorbereitet hatte.
Carlos Ortega, Vorsitzender des oppositionellen Gewerkschaftsverbandes CTV und selbst mit starken Ambitionen für das Amt des Übergangspräsidenten, fand sich überrumpelt wieder. „Als ich sah, dass Carmona nach seiner Vereidigung eine Hexenjagd auf Gouverneure und Funktionäre der Bewegung zur V. Republik (Chávez-Bündnis, Red.) veranstalten ließ, wurde mir klar, dass er sich als Handlanger der Militärs betätigte.” Die Opposition, die sich nur unter dem Hassobjekt Chávez einigen konnte, schaufelte sich ihr eigenes Grab.

„Ein Putsch, und zwar ein Rechter”

Im ganzen Land kam es nach einem Tag der Übergangsregierung zu Demonstrationen und Rebellionen. Zuerst opponierte eine Fliegerstaffeleinheit in der zentralvenezolanischen Stadt Maracay. „Das ist ein Putsch, und zwar ein Rechter. Ich zähl mich nicht dazu”, schloss General Raúl Baduel, nachdem er gründlich in der Verfassung gestöbert hatte. Ihm folgten Einheiten in den Städten Carabobo und Aragua.
Auch die erste große Demonstration von Chávez-AnhängerInnen fand in Maracay statt. Die in den letzten Jahren gebildeten „Bolivarianischen Zirkel”, chavistische Basisorganisationen, mobilisierten in kürzester Zeit ihre Leute in den Vororten Caracas’. „Wenn diese Revolution der Mehrheit der Bevölkerung nicht auf dem friedlichen Weg durchführbar ist, sind wir bereit, sie bewaffnet zu führen”, sagte ein Jugendlicher einem Reporter in Guarenas, 30 Kilometer von Caracas, wo Demonstranten brennende Barrikaden errichteten.
Dazu bestand aber keine Veranlassung mehr. Trotz brutaler Übergriffe der Polizei, die schon tags zuvor versucht hatte, Demonstrationen zu verhindern – zwölf Menschen sollen durch Kopfschüsse getötet worden sein –, bahnten sie sich einen Weg bis ins Zentrum der Hauptstadt. In einem letzten Versuch der Selbstrettung erklärte Carmona die Nationalversammlung für nicht aufgelöst. Doch zu spät. Die Ehrengarde des Präsidenten nahm ihn in Gewahrsam. In der Nacht zum 14. April feierten eine Million Menschen in den Straßen Caracas und 200.000 vor dem Präsidentenpalast die Rückkehr von Hugo Chávez.

Nationale Einheit in einem gespaltenen Land

Die „kompakte Gestalt wie aus Stahlbeton“, die dem kolumbianischen Schriftsteller Gabriel García Márquez am Präsidenten Venezuelas schon Jahre zuvor aufgefallen war, nahm wieder auf dem Präsidentenstuhl Platz, um seine „Bolivarianische Republik” weiter zu regieren. „Regieren, nicht spalten,” rief er seinen Landsleuten noch in der Nacht zum 14. April in die Kameras. In der Hand die Verfassung schwingend, wolle er keine „Hexenjagd” veranstalten. „Sollte ich etwas falsch machen, sagt es mir”, verlangte er in einem versöhnlichen Ton.
Was Chávez nun erwartet, ist ein Drahtseilakt zur nationalen Einheit, die er versprochen hat. In einem ersten Schritt ging er den mahnenden Worten Castros nach und nahm den Rücktritt des von ihm eingesetzten PDVSA-Vorstands an. Eine moderatere Leitung soll den Konflikt im Erdölsektor entschärfen. Zudem kündigte er an, nach einer „Reflexion der Ereignisse” zu einer Berichtigung von vorangegangenen Fehlern bereit zu sein.
Ob Chávez der Mann dafür ist, bleibt zu bezweifeln. Vor Jahren Goethe zitierend, dass „Politik ein dynamischer Prozess sei, in dem manche ihre Prinzipien wechseln”, bleibt er sich seinen jedoch fest verbunden: „Prinzipientreue und seine Kontinuität bewahren”, schloss er an. Nur einen Tag nach seiner Wiederauferstehung rief er seinen treuen AnhängerInnen in Maracay kämpferisch zu, dass die Bolivarianische Revolution nicht aufzuhalten sei. Ein Draufgänger und Idealist ohne politisches Fein- und Feindgefühl war Chávez während seiner dreijährigen Amtszeit im Präsidentenpalast Miraflores gewesen, dabei wird es wohl zunächst bleiben. Die Opposition, die zwar lädiert, aber nicht geschlagen ist, forderte bereits am 15. April Neuwahlen.
Sollte dies nicht gelingen, bekommt Chávez eine einjährige Bewährungsfrist. Nach vier Jahren kann der Präsident laut Verfassung – Chávez´ Verfassung – abgewählt werden. Die Opposition wird alles daran setzen.

KASTEN:
Washington hat sich zu früh gefreut
Hatten die USA bei dem Putschversuch ihre Finger im Spiel?

Hugo Chávez war erst einen Tag wieder im Amt, da wurden erste Fragen laut, welche Rolle den USA bei den Geschehnissen vom 11. April zuzuschreiben wäre. Zwei Vertreter der unabhängigen Washingtoner „Organisation für Angelegenheiten der Hemisphäre” warfen die Frage auf, ob die CIA in die Vorbereitungen zum Putsch involviert war. Nach ihrer Auffassung war die US-Regierung bereits vorher über die Szenarien gut informiert gewesen.
Schon kurz nach dem „Rücktritt” von Chávez waren Vertreter der Bush-Regierung an die Mikros getreten und haben diesen nicht etwa als unlegitimierten Vorgang beschrieben, sondern sich zufrieden gezeigt. „Die Regierung (Carmona) ist Ausdruck der friedlichen Demonstration”, sagte der Sprecher des Weißen Hauses, Ari Fleischer, bereits am 12. April. Da waren die Toten, unter ihnen meist Chávez-Anhänger, noch nicht einmal von den Straßen Caracas´ geholt. „Chávez war der Regisseur seines eigenen Endes”, wusste die nationale US-Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice ganz genau.
Knackpunkt der offiziellen US-Aussagen war die offensichtliche Kenntnis eines Rücktrittsschreibens von Chávez, das es aber nie gab. „Alle unsere Quellen sagten aus, dass er zurück getreten sei”, so Fleischer, nachdem Chávez bereits wieder an der Macht war. „Wir haben das über Fax bekommen.” Welche die „Quellen” waren, darauf wollte Fleischer auf Pressenachfragen nicht eingehen.
Fakt ist, dass es Wochen vor dem 11. April regelmäßige Kontakte von Mitgliedern der Bush-Administration mit den oppositionellen Sektoren gegeben hatte, die den Putsch initiierten. Offiziell gibt die US-Regierung weiterhin den Wunsch zu, dass Chávez nicht mehr Präsident sein solle. Ohne auf die Form einzugehen. Über widersprüchliche Darstellungen berichtete die New York Times. Ein US-Vertreter gab demnach an, dass man „akzeptable Wege wie ein Referendum mit der Opposition besprochen hatte”. Dagegen sagte ein Vertreter des US-Verteidigungsministeriums, dass man weniger kategorisch den Dialog gepflegt habe. „Wir haben ihnen Infos zukommen lassen. Unmissverständliche Signale, dass wir diesen Typen (Chávez) nicht mögen. Wir sagten nicht ‘Hier habt ihr Waffen, wir helfen euch, ihn zu stürzen’. Das sagten wir natürlich nicht.”
Die Interessen an einer genehmen Regierung in Caracas können in der Bush-Regierung nicht hoch genug gesteckt sein. Venezuela ist der zweitwichtigste Erdöllieferant der USA. Als Chávez zum Präsidenten gewählt wurde, startete dieser Initiativen zu einer unabhängigeren Ölpolitik. Er bereiste hemmungslos so genannte „Schurkenstaaten” wie Libyen, Irak und Iran. Nicht zuletzt ihm ist es zu verdanken, dass der Ölpreis in den letzten Jahren durch die Senkung der Förderquoten überdurchschnittlich hoch liegt. Das belastet den US-Markt und somit die Nerven der Bush-Regierung. Spätestens seit dem 9. April, als auf Grund des Generalstreiks zwei Dutzend Öltanker vor der Küste Venezuela ohne Ladung blieben, schrillten dort vermutlich die Alarmglocken.
Nach dem Putsch stellte ein weiterer US-Regierungsvertreter sein Demokratieverständnis vor. „Chávez wurde demokratisch gewählt”, sagte dieser knapp. Dann aber: „Legitimität ist jedoch etwas, das man nicht unbedingt im Einklang mit der Mehrheit der Wähler haben muss.”
T. R.

„Geheiligt sei das Landgesetz!“

Alles oder nichts, muss sich Hugo Chávez gesagt haben, als er mit seinen Beratern das neue Landgesetz ohne Konsultierung der einflussreichen Agraroligarchie ausgearbeitet hatte. Denn dies bedeutet einen neuen Konfrontationskurs mit dem alten System, dem Chávez seit seinem Amtsantritt im Februar 1999 mehr mit Worten als mit Taten ein Ende angekündigt hat. Das soll am 10. Dezember mit seiner Unterschrift unter das Gesetz nun anders werden, just am gleichen Tag, an dem verschiedene Institutionen einen landesweiten Streik dagegen durchführen wollen.

Streit mit den Gewerkschaften

Bereits in den letzten Wochen kam es bei Streiks durch oppositionelle Gewerkschaften zu Prügeleien mit Chávez-AnhängerInnen. Grund war der erste Wahlverlust, den sich der Präsident zuschreiben musste. Bei der Wahl des neuen Präsidenten der größten Gewerkschaft des Landes, dem venezolanischen Arbeiterbündnis CTV, gewann der Kandidat der oppositionellen Acción Democrática, Carlos Ortega, der sogleich ankündigte, den Generalstreik mit seiner etwas über eine Million Mitglieder umfassenden Gewerkschaft zu unterstützen.
Schon während des Votums kam es zum verbalen Schlagabtausch zwischen Regierung und Opposition. Von Wahlbetrug war die Rede und Ungereimtheiten in verschiedenen Wahlbüros. So zog sich der Prozess ganze drei Wochen hin, bis Ortega sich offiziell gegen den Regierungskandidaten Aristóbulo Istúriz durchsetzen konnte.
Chávez hat es sich offenbar mit einem guten Teil der Gewerkschaftsbewegung, die er bisher als Rückhalt verstand, verscherzt. Dieser wirft ihm den allerdings erfolglosen Versuch vor einem Jahr vor, durch ein Referendum die Rechte der Gewerkschaften zu beschneiden. Damit hatte er diese in die Hände der Opposition gedrängt. Andererseits lässt sich genauso wenig sagen, wie viele der GewerkschafterInnen hinter Ortega stehen. Schließlich haben nur etwa 30 Prozent der Wahlberechtigten in den drei Wochen ihre Stimme abgegeben.
Was die Interessenverbände in den letzten Wochen auf die Palme brachte, war ein Paket von 49 Gesetzen, das die Regierung im November auf den Weg brachte. Neben einer beinahen Verdoppelung der staatlichen Steuereinnahmen für privat produziertes Öl stand ein neues Landgesetz auf Platz eins der Kritik. „Eine Gefahr für die Prinzipien und Rechte des Landbesitzes in Venezuela“, nennt Pedro Carmona, Präsident der Industriellenvereinigung Fedecámaras, den Versuch Chávez’, dem Großgrundbesitzertum im Land ein Ende zu setzen.

Neues Landkonzept verärgert die Oligarchie

Das Gesetz sieht vor, dass der Staat die Größe des Landbesitzes zukünftig von der Bodenqualität und der Produktivität abhängig machen kann. Die Normen sollen von einer staatlichen Kommission festgesetzt werden. Bei brachliegenden Ländereien kann der Staat intervenieren und den Besitzer enteignen.
Auf einem internationalen Forum in Caracas erklärte der Vizeagrarminister Efrén Andrade Anfang Dezember, dass es der Regierung nicht um Aneignung von Land gehe, sondern um eine nachhaltige Produktion von Nahrungsmitteln für den Eigenbedarf des Landes sowie eine gerechtere Landverteilung. So markierte er drei Prinzipien der Regierung: „kein Großgrundbesitz, sichere Ernährung und Unterstützung des ökologischen Landbaus mit Umweltschutz.“ Für den letzten Punkt machte er auf eine Strategie im Gebiet südlich des Orinoco aufmerksam. Dort will die Regierung 30 Prozent der Ackerflächen, die für Landwirtschaft nicht mehr taugen, aufforsten lassen und nach dem Bonussystem an industrialisierte Länder, die einen hohen Kohlendioxid-Ausstoß haben, „verpachten“. Zudem ist geplant, dass bewaldete Flächen in Zukunft für wertvoller eingestuft werden als Grasflächen, um die fortschreitende Abholzung zu stoppen.
Auf einer Landübereignungszeremonie Ende November in einem Theater warb Chávez persönlich für seine Reform. Er stellte klein- und mittelständischen Betrieben staatliche Zuschüsse und günstige Kredite mit dem neuen Gesetz in Aussicht. Er wies auch darauf hin, dass bereits in diesem Jahr über 560 Landtitel verteilt wurden, die 15000 Hektar umfassen. „Geheiligt sei das Landgesetz!“ rief er seinen ZuhörerInnen euphorisch entgegen.
Darauf muss er hoffen bei dem Widerstand, den ihm die Oberschicht entgegensetzen will. Diese sieht sich hintergangen, weil Chávez das Gesetz ohne Rücksicht auf ihre Interessen ausgearbeitet hat und über ein so genanntes Verfügungsgesetz seine Pläne durchsetzen will. Das Verfügungsgesetz, Artikel 190 in der neuen Verfassung, erlaubt es dem Präsidenten innerhalb eines halben Jahres seine Unterschrift unter Gesetzesentwürfe zu setzen, die finanziellen und wirtschaftlichen „Notmaßnahmen“ zum Wohle des öffentlichen Interesses entsprechen. Mehrheiten im Parlament muss Chávez so nicht suchen und zwingt die Opposition zu besagtem Generalstreik. Zwar kündigte die Regierung am 5. Dezember an, mit dem Agrar- und Viehzüchterverband über Änderungen reden zu wollen. Der Streik sei aber ein Zug, der nicht mehr aufzuhalten sei, so Pedro Carmona von Fedecámaras. „Wenn sie Konfrontation wollen, sollen sie sie bekommen,“ konterte daraufhin Innenminister Luis Miquilena.

Landreform unter Terrorverdacht

Rückenwind bekommt die Opposition von den USA. Die Folgen des 11. September sollen anscheinend an Chávez nicht spurlos vorübergehen. Die Spannungen zwischen Venezuela und den USA bekamen mit der „Wer-ist-Terrorist-Debatte“ in den letzten Monaten wieder neue Nahrung.
Der Armeekommandant und Ex-Putschist Chávez gilt mit seiner linksorientierten bolivarianischen Revolution für die Bush-Administration als unkalkulierbares Risiko und laut State Department zusammen mit Fidel Castro und dem Ex-Präsidenten Nicaraguas Daniel Ortega als Teil eines „eisernen kommunistischen Dreiecks“. Eine Landreform, die in der Vergangenheit in anderen lateinamerikanischen Ländern schon mehrfach am Engagement der USA ein jähes Ende fand, dürfte ihr übriges bewirken.
Eine neue Runde im Disput läutete die Kritik Chávez’ an den US-Bomben in Afghanistan ein. So diplomatisch der meist etwas plump auftretende Chávez seinen Bedenken zu den Luftangriffen auf Afghanistan Ausdruck geben wollte, so undiplomatisch reagierte die US-Botschaft in Caracas. Die internationale Glaubwürdigkeit Venezuelas habe unter den Aussagen des Präsidenten gelitten, so die Botschafterin Donna Hrinak. „Wir müssen unsere Botschafterin nach Washington rufen, um unsere Beziehungen mit Venezuela zu analysieren“, erklärte das State Department.

USA haben nichts gegen Putsch in Venezuela

In einer Radio- und Fernsehansprache Ende Oktober sagte Chávez, dass Venezuela zwar den Antiterrorkampf der USA unterstütze, aber man dürfe „nicht Terror mit noch mehr Terror beantworten.” Dabei machte er lediglich auf die zivilen Opfer aufmerksam, die durch die Bomben bisher ums Leben gekommen waren. Offenbar Anlass genug, seitens der USA eine diplomatische Krise auszulösen. US-Politiker sahen durch Chávez’ Äußerungen ein Abkommen verletzt, das nach dem 11. September bei der Organisation Amerikanischer Staaten in Rio unterzeichnet wurde. Demnach unterstützen alle Mitglieder den proklamierten Antiterrorkampf. Und nicht nur das: Laut einem Abkommen der OAS von 1947 zur „gegenseitigen Unterstützung“ gibt es das amerikanische Pendant des NATO- Bündnisfalls. Ein Anschlag gegen eines der Mitgliedsländer sei ein Anschlag gegen die gesamte OAS.
Die Kritik von Chávez, der in Washingtoner Kreisen als ausgesprochener Castro-Freund gilt und gute Beziehungen zum Iran und Lybien pflegt, hat seine Person in Washington weiter in Verruf gebracht. Laut der venezolanischen Zeitung El Universal sehen Analysten und Berater im Umkreis von US-Präsident Bush nach der verbalen Kritik einen Putsch gegen Chávez heranwachsen. „Spätestens in einem Jahr“, so ließ die private Geheimdienstagentur Stratfor verlauten, „seien die militärischen Spannungen so hoch, dass ein Putsch folgen würde“. Und weiter: „Die US-Regierung würde nicht sonderlich gegen diese undemokratische Vorgehensweise protestieren“, so der Stratfor-Bericht. Soll heißen, man hätte gegen einen Putsch in der jetzigen Situation nichts auszusetzen.

Die Regierung Chávez als „mentaler Taliban“?

Auf der UN-Vollversammlung Anfang November versuchte Chávez wieder an diplomatischem Boden zu gewinnen, indem er versicherte, dass „niemand die Worte Venezuelas als Bedrohung verstehen soll“. Er verurteilte in seiner Rede den Terrorismus, wies zugleich aber darauf hin, dass „das Wichtigste ist, nun eine neue Weltordnung innerhalb der Vereinten Nationen zu schaffen“, und dass die UN ihre Kräfte auf die Bekämpfung von Armut und Hunger konzentrieren sollen, wie sie es auf der Millenniumssitzung vor gut einem Jahr beschlossen haben.
Ein neues Pulverfass hatte allerdings kurz zuvor die Vizepräsidentin Venezuelas Adina Bestidas aufgemacht. Auf einer internationalen Versammlung des venezolanischen Außenamtes sagte sie, der „Terrorismus der Unterdrückten ist ein perverses Ergebnis der Herrschaft der Wasp (weiße angelsächsische Protestanten)“. Abgeordnete der Opposition forderten deswegen ihren Rücktritt. „Rassistisch“ und „unzivilisiert“ nannte Ex-Außenminister Consalvi die Aussagen. Ein Professor der Bolívar-Universität steigerte sich in die Behauptung, bei der Regierung handele es sich um „mentale Taliban“.
Zwar hatte dieses Stimmungstief zwischen den beiden Ländern bisher keine weit reichende Folgen, alarmierend klang jedoch die Warnung der US-Botschaft an alle US-Bürger, sich am 10. Dezember zum Generalstreik nicht in dem südamerikanischen Land aufzuhalten, da es zu schweren Ausschreitungen kommen könnte. Chávez reagierte gereizt und warnte in Richtung seiner KritikerInnen vor allzu großen Hoffnungen auf ein baldiges Ende seiner Amtszeit durch gestreute Putschgerüchte. „Der Unterschied unserer Revolution zu der Salvador Allendes (1970 in Chile, Anm. d. Red.) liegt nicht im pazifistischen Charakter. Aber bei uns ist sie nicht unbewaffnet.“ Was Chávez meint, ist die Organisation der Bevölkerung unter seiner Regie.

Sparen bis zur Rebellion

Nicht viele dürften die Einschätzung von Argentiniens Präsidenten Fernando de la Rúa teilen: „Nun ist es vorbei mit der Unsicherheit.“ Grund für De la Rúas Optimismus war der neue Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF), den das Land nach zähem zwölftägigen Ringen von der Washingtoner Institution Ende August zugestanden bekam. Acht Milliarden US-Dollar sollen das Land vor dem ökonomischen Kollaps und der Zahlungsunfähigkeit bewahren. Das mag kurzfristig wirken. Zumindest die Börse reagierte auf die Nachricht positiv. Die Aktienwerte stiegen am Tag darauf um über acht Prozent, schließlich gibt die IWF-Liquiditätshilfe den Kapitalisten mehr Zeit, ihre Depots umzudisponieren. Die Furcht, wegen eines Crashes nicht mehr dazu zu kommen, ist gebannt. Damit sind auch schon die Gewinner des IWF-Kredites genannt: all jene, die von der künstlichen Überbewertung des Pesos durch die strikte Dollarbindung profitiert haben. Mit spekulativen Anlagen in den Peso schöpften sie Gewinne ab, ohne der Gefahr einer plötzlichen Abwertung ausgesetzt zu sein, da diese per Gesetz im Rahmen des Plan Cavallo seit 1991 ausgeschlossen ist.
Eben dieser Domingo Cavallo, der unter Menem bis 1996 als Wirtschaftsminister fungierte und von Fernando de la Rúa im Frühjahr als Retter in der Not als Superminister zurückgeholt wurde, verkündete, dass der IWF keine „Bedingungen“ an den Kredit geknüpft hätte. Wenn Cavallo die Wahrheit gesagt hat, erreichte die Effizienz des IWF damit neue Gipfel – zwölf Tage verhandeln, um dann bedingungslos Kredite zu vergeben. Dass von den Geldern bei der Bevölkerung kein Cent ankommen wird, steht dagegen außer Frage.

Zinsen in Millionenhöhe

Allein für die Bedienung der Schulden muss Argentinien dieses Jahr elf Milliarden US-Dollar ausgeben und damit drei Milliarden mehr, als die neuerliche Finanzspritze beträgt. Unter Umständen ist diese die letzte für den Pampastaat, denn der US-Finanzminister Paul O´Neill hat schon angekündigt, dass die USA nicht Willens sind, länger „das Geld amerikanischer Klempner und Zimmerleute“ in Argentinien zu verpulvern. O´Neill wollte damit weniger einen Hinweis darauf geben, wer in den USA Steuern zahlt als vielmehr darauf, dass die USA sich selbst schließlich am nächsten stehen und bei stockender Inlandskonjunktur US-amerikanische Steuergelder im eigenen Land benötigt würden.
Auch wenn Cavallo bestritt, dass an den Kredit Bedingungen geknüpft seien, so ist doch klar, dass Argentiniens Regierung den eingeschlagenen Kurs des Null-Defizits um jeden Preis fortzusetzen hat. Im August hat es geklappt, nicht mehr auszugeben als an Steuereinnahmen hereinkamen. Dafür mussten die Angestellten des öffentlichen Dienstes und die Rentner zwangsweise 13 Prozent Einkommenseinbußen hinnehmen. Im September dürfte dies nicht mehr ausreichen, denn die Steuereinnahmen in dem seit 1998 von einer Rezession gebeutelten Land gehen weiter zurück. De la Rúa steht deswegen mit dem Rücken zur Wand. Weitere soziale Einschnitte sind angesichts wachsender sozialer Proteste und politischem Widerstand seitens diverser Provinzregierungen kaum durchsetzbar und so bleibt ihm nur die Flucht nach vorne: eine Sparkur im politischen System. Fernando de la Rúa, in der argentinischen Presse als Frenando (Bremser) verspottet, muss gewaltig Gas geben, um den Karren aus dem Sumpf zu ziehen. Er kündigte zu Überraschung aller ein Referendum an, in dem die Bürger über Kostensenkungen in der Politik und die aufgeblähten Parlamente ihre Meinung sagen sollen. 16.508 gewählte Volksvertreter in der Hauptstadt und den Provinzen kassieren derzeit jährlich rund 11 Milliarden DM und zehren damit sechs Prozent des Staatshaushalts auf. Dabei hat jeder argentinische Abgeordnete im Nationalparlament im Schnitt zwölf Mitarbeiter, die ebenfalls gute Gehälter beziehen, während jeder dritte Bürger der gut 35 Millionen inzwischen zu den Armen zählt und die Zahl der Armen täglich um 700 steigt. Ob De la Rúa wirklich eine ernsthafte Reform anstrebt, oder nur versucht, den wachsenden Unmut der Bevölkerung zu kanalisieren und Zeit zu gewinnen, bleibt offen.
Es ist eher unwahrscheinlich, dass sich die sozialen Bewegungen so einfach besänftigen lassen. Die Lehrer streiken auf unbestimmte Zeit gegen die 13-prozentigen Gehaltskürzungen, die Bus-und U-Bahnfahrer legen mit Spontanstreiks die Hauptstadt Buenos Aires lahm und selbst die in einen offiziellen und einen dissidenten Teil gespaltene Gewerkschaft CGT (Confederación General de los Trabajadores) demonstrierte Ende August erstmals seit 1996 gemeinsam – wenn auch strikt nach Straßenzügen getrennt – gegen die Regierungspolitik.

Piqueteros – Protest oder Zuflucht

Getragen werden die Proteste vor allem von den piqueteros genannten Streikenden, die seit Monaten strategisch wichtige Straßen und Brücken im ganzen Land blockieren. Ihre Aktionen ziehen sie stets nach erprobtem Schema durch. Binnen Minuten errichten sie Barrikaden aus brennenden Autoreifen und Brettern.
Die piqueteros stoßen bei der argentinischen Bevölkerung auf große Akzeptanz. Kein Wunder, wenn Politik darin besteht, 300.000 Kindern das Schulessen zu streichen, wie jüngst von der Provinzregierung Buenos Aires veranlasst. Da bleibt nur der Protest oder die Flucht – allein im US-Bundesstaat Florida werden Ende 2001 etwa 200.000 Argentinier leben, knapp zwei Drittel mehr als im Vorjahr. Auch vor den Konsulaten Spaniens und Italiens stehen jeden Morgen Hunderte an, um einen Pass zu beantragen. Wer einen italienischen oder spanischen Vorfahren nachweisen kann, hat einen Anspruch auf die Staatsbürgerschaft. Zurück in die Zukunft.

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