Vorschläge für eine neue Linke

Bei den Wahlen im April dieses Jahres war von der peruanischen Linken nichts zu sehen. Weder präsentierte sich ein linker Präsidentschaftskandidat noch eine linke Parlamentsliste. Sie sind einer der wenigen Linken, die sich überhaupt um einen Sitz im Kongress beworben haben. Wie sehen Sie die Perspektiven der peruanischen Linken in der Zukunft? Wird sie nach dem Ende der Montesinos-Fujimori-Diktatur wieder bessere Zeiten erleben?

Es gibt momentan einen fruchtbaren Boden für linke Vorschläge, insbesondere was die soziale Gerechtigkeit betrifft. Das liegt an der schweren wirtschaftlichen Rezession und an der sozialen Misere im Land. Außerdem haben die Leute entdeckt, dass sie die Politiker kontrollieren müssen, damit diese ihren Erwartungen und Hoffnungen entsprechen. Man kann nicht nur einen Politiker wählen und diesen dann mit seinen Machtbefugnissen machen lassen, was er will. Wir müssen eine partizipative Demokratie schaffen, mit neuen Elementen. Die Linke in Peru hat allerdings mit verschiedenen Problemen zu kämpfen. Es ist nun einmal so, dass die IU sich aufgelöst und politisches Kapital verloren hat. Das war meiner Meinung nach den starken dogmatischen und separatistischen Strömungen innerhalb der verschiedenen Parteien des Bündnisses geschuldet. Dazu kam die mangelnde Effizienz der Linken, von denen viele angetreten waren, um eine Politik für die Armen und Entrechteten umzusetzen. Einmal in ein politisches Amt gewählt, verzichteten sie aber auf Elemente partizipativer Demokratie und regierten mit denselben autoritären Methoden wie rechte Politiker. Das war im Grunde kein Wunder, denn in den Organisationen der Linken wurde intern auch keine Demokratie praktiziert. Aufgrund der ideologischen Krise heutzutage nimmt auch der Opportunismus innerhalb der Linken zu. Wir müssen deshalb den Aufbau einer linken Bewegung völlig neu planen.

Was soll denn das Neue an dieser linken Bewegung sein?

Wir müssen mit ideologischen Prinzipien anfangen, aber nicht mit einer geschlossenen Ideologie. Wichtig ist, sozialen Bewegungen gegenüber offen zu sein, mit Prinzipien wie Solidarität, Gleichheit und partizipative Demokratie. Die PUM versteht Politik beispielsweise als Entwicklung einer Kultur und nicht nur als Verwaltung eines Teils des Staates. Die Bedingungen für ein Wachstum der Linken sind günstig, aber sie muss sich neuen Sektoren öffnen und eine Alternative zur herrschenden Politik entwickeln. Gewerkschaften oder Basisorganisationen dürfen dabei aber nicht Transmissionsriemen einer Partei sein. Das ist in Peru ein Grundproblem orthodoxer marxistischer Organisationen: deren Vertreter besetzen wichtige Funktionärsposten außerhalb ihrer Partei, doch ihr sozialer Einfluss bleibt gering.

Was müssten denn die konkreten Vorschläge einer Neuen Linken sein?

Ich sehe vier Achsen linker Politik. Die erste ist der Aufbau einer partizipativen Demokratie, die positive Elemente einer repräsentativen Demokratie aufgreift, wie beispielsweise Wahlen. Damit einhergehen müssen Mechanismen direkter Demokratie und der Kontrolle. Die zweite Achse ist eine Dezentralisierung des Landes. Das heißt: eine Umverteilung der Macht auf verschiedene Instanzen, die Tolerierung einer Gesellschaft der Unterschiede und die Anerkennung verschiedener Identitäten. Jede Region soll ihre eigenen Autoritäten wählen, einen eigenen Haushalt bekommen, ein eigenes Bildungs- und Gesundheitssystem verwalten. Natürlich müssen auch die Befugnisse der Kommunen beträchtlich erweitert werden. Die dritte Achse ist die Rückkehr der Ethik in die Politik, verbunden mit einem Mehr an Transparenz. Die vierte Achse ist schließlich ein grundlegender Wechsel in der Wirtschaftspolitik. Wir haben einen wilderen und brutaleren Kapitalismus erlebt als der Rest Lateinamerikas: das Land ist zerstört und deindustrialisiert. Die Landwirtschaft liegt brach und wurde ihrem Schicksal überlassen. Die einzigen Investitionen gibt es im Bergbau und bei der Finanzspekulation. Die bedeutendsten Industriezweige sind in ausländischer Hand. Hinzu kommt, dass das Land pro Jahr 2,1 Milliarden US-Dollar für die Schuldenrückzahlung aufwendet. Die verheerenden Folgen dieser Politik schlagen sich in den neuesten Statistiken zur Arbeitslosigkeit und Verarmung nieder.

Ist der gegenwärtige Spielraum zur Umsetzung linker Wirtschaftspolitik nicht besonders eng?

Für eine ganze Reihe von Maßnahmen ist der Zeitpunkt günstig. Die Wirtschaft kann aus der schweren Rezession nur durch eine Reaktivierung der Nachfrage herauskommen, und das geht nur über eine Einkommensverbesserung bei den Konsumenten. Alle Bauern sind sich einig, dass wir eine neue Agrarpolitik brauchen. Und auch wenn wir kein Problem mit ausländischen Investitionen haben: Es darf nicht so weit kommen, dass das Land von auswärts regiert wird. Eine Wiederherstellung der Arbeitsrechte steht ebenso an wie die Einführung des Achtstundentags. Außerdem: Der Zeitpunkt ist günstig, um über die Strukturen der Monopole und Oligopole bei der Strom- und Wasserversorgung oder den Telefondiensten zu verhandeln, denn es gibt starke soziale Proteste gegen deren Missbrauch. Es ist ebenfalls der Moment gekommen, in dem die neue peruanische Regierung mit einer breiten nationalen und internationalen Unterstützung die Bedingungen der Schuldenrückzahlung neu verhandeln kann. Auch in der Haushaltspolitik sind entscheidende Weichenstellungen möglich: Das Ansehen der peruanischen Streitkräfte ist auf dem Nullpunkt angelangt. Daher war die Gelegenheit noch nie so günstig, den Militärhaushalt drastisch zu kürzen. Das gesparte Geld kann in die Bereiche Bildung und Gesundheit investiert werden. Wir leben in einer schwierigen Zeit, die aber gleichzeitig viele Chancen bietet.

Kommen wir zur partizipativen Demokratie zurück. Wie soll diese konkret umgesetzt werden? Wie können zum Beispiel staatliche Institutionen besser kontrolliert werden? In den vergangenen zehn Jahren wurde Peru schließlich von einer Mafia regiert, die systematisch Richter, Staatsanwälte, Steuer- und Wahlbehörden, Oppositionspolitiker und Unternehmer bestochen und für ihre Zwecke eingesetzt hat.

Einige Vorschläge: Alle Amtsinhaber sollen gewählt werden, doch die Bürger müssen jederzeit das Recht haben, ihnen das Mandat abzuerkennnen, wenn sie die an sie gestellten Erwartungen nicht erfüllen. Beispielsweise wenn eine bestimmte Anzahl von Unterschriften für ihre Absetzung vorgelegt wird. Regelmäßig stattfindende öffentliche Versammlungen können einen direkten Dialog zwischen Bürgern und gewählten Repräsentanten sicherstellen. Weiterhin möchten wir, dass die Betroffenen bei allen sozialen Programmen der Regierung mitbestimmen, beispielsweise die Mütter bei den Programmen zur Milchausgabe an Kinder oder die Einwohner bei den Vertragsabschlüssen mit Firmen, die Wege oder Straßen in ihrem Viertel bauen. Die Bürger müssen mehr Kontrollmöglichkeiten und Einblick in die Finanzierung erhalten. Wir wollen ein Recht auf ein Referendum auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene. Wir wollen, dass in den Kommunen Räte mit Delegierten sozialer Organisationen aufgebaut werden. Die sollen die jeweiligen Bürgermeister zur Rechenschaft ziehen und über Einnahmen, Ausgaben und die Rangordnung von Projekten mitentscheiden dürfen. Natürlich sind auch Änderungen in den Kommunikationsmedien erforderlich: in staatlichen Fernseh- oder Rundfunkanstalten oder Zeitungen muss es ebenfalls eine Beteiligung der Bürger geben, und die privaten Medien haben bestimmte Verpflichtungen einzugehen.

Was für eine Rolle soll das Parlament in einer partizipativen Demokratie spielen? Viele Abgeordnete erweisen sich immer wieder als korrupt. Ein Kandidat für einen Abgeordnetensitz, der nicht über genügend Mittel für den Wahlkampf verfügt, hat praktisch keine Chance in den Kongress einzuziehen. Und weder Minderheiten noch Basisorganisationen sind dort vertreten.

Natürlich sollte die Wahlwerbung in allen Medien kostenlos sein. Alle Kandidaten müssen die gleichen Chancen besitzen. Dann muss in Peru ein Parteiengesetz verabschiedet werden, dass die demokratische Struktur der Parteien selbst sicherstellt. Wir teilen aber nicht den Standpunkt, dass soziale und andere Basisorganisationen einen Sitz im nationalen oder regionalen Parlament erhalten sollten. Es gibt bereits regionale Erfahrungen damit, und es hat nicht funktioniert, es war zu bürokratisch. Wir ziehen eine demokratische Wahl mit Rechenschaftspflicht vor. Das heißt, dass aktive und engagierte Bürgergruppen tatsächlich eine Kontrolle ausüben können. Wir müssen aber die Anzahl der Abgeordneten in Peru erhöhen. Es ist absurd, dass 120 Abgeordnete 27 Millionen Peruaner vertreten sollen. Auch deshalb, weil wir kleinere Wahlbezirke brauchen. Dann können die regional gewählten Abgeordneten auch besser Rechenschaft ablegen. Auch Minoritäten haben so eher eine Chance, in den Kongress zu gelangen. Ich selbst vertrete seit längerem die Idee, dass Ethnien aus dem Amazonasgebiet zwei Abgeordnete im Parlament stellen sollten, auch wenn sie dazu nicht die nötigen Stimmen erhalten. Ihre Standpunkte können so besser an die Öffentlichkeit gelangen und auch von anderen Parteien diskutiert werden. Wir haben mehr als 30 Ethnien im Amazonasgebiet; einige von ihnen sind sehr klein, und sie würden niemals genügend Stimmen erreichen, um ihre Repräsentanten ins Parlament zu bekommen.

Das Interview wurde im April 2001 von Rolf Schröder geführt

Wo ist Simón?

Seit Mai befindet sich Sara Méndez aus Uruguay auf einer Europareise, um über die Suche nach ihrem seit 1976 „verschwundenen“ Sohn Símon zu informieren und um Unterstützung dafür zu gewinnen, politischen Druck auf den uruguayischen Präsidenten Jorge Batlle auszuüben. Der Präsident als Oberbefehlshaber der Streitkräfte hat bisher keine Anstrengungen unternommen, um die namentlich bekannten verantwortlichen Militärs zur Aussage zu zwingen. Vielmehr besteht weiter der Eindruck, dass der Schweigepakt mit den Militärs auch vom neuen Präsidenten eingehalten wird.
Sara Méndez geriet Anfang der 70er Jahre in das Visier der Repressionsorgane und flüchtete kurz vor dem Militärputsch 1973 aus Uruguay nach Argentinien. 1976 putschten auch dort die Militärs. Im Juni 1976 brachte sie in Buenos Aires ihren Sohn zur Welt, den sie unter ihrem Decknamen als Símon Riquelo registrieren ließ.

Alte Bekannte

„Als der Staatsstreich stattfand, hatte ich wie viele andere Uruguayer Zuflucht in Buenos Aires gefunden, ich lebte dort seit dreieinhalb Jahren. Am 13. Juli 1976 stürmten circa 15 Zivilpersonen meine Wohnung. Der Verantwortliche stellte sich vor und fragte mich, ob ich ihn kennen würde. Natürlich kannte ich ihn, da Major José ‘Niño’ Gavazzo seit 1972 für die Repression in Uruguay verantwortlich war. Als sie mich aus meiner Wohnung herausschleppten, hinderten sie mich daran, meinen Sohn mitzunehmen. Das war das letzte Mal, dass ich Simón gesehen habe,“ erinnert sich Méndez.
Méndez wird in das Folterzentrum Automotores Orletti in Buenos Aires verschleppt. Von dort wird sie mit zwanzig weiteren Landsleuten von den uruguayischen Militärs heimlich in ihr Heimatland zurückgebracht. Grundlage dieser Aktion ist die „Operación Cóndor“, auf die sich sechs lateinamerikanische Diktaturen verständigt hatten, um die Länder übergreifenden Aktionen der Militärs und Geheimdienste zu koordinieren. In Uruguay wird eine erneute Verhaftung „inszeniert“ und Sara Méndez von einem Militärgericht zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt.
„Was uns das Leben gerettet hat, war der Umstand, dass die Militärs in Uruguay wegen des steigenden Drucks aus den USA im Vorfeld der Wahl von Präsident Jimmy Carter ‘lebende Subversive’ brauchten. Also wurde unsere Verhaftung noch einmal inszeniert. Während der vier Monate, die wir bis dahin in Uruguay ‘klandestin’ verhaftet waren, erfuhren wir, dass in Argentinien weitere UruguayInnener verhaftet worden waren. Von denen überlebte niemand.“

Angst vor der Wahrheit

1981 beginnt Sara Méndez unmittelbar nach ihrer Entlassung aus der Haft mit der Suche nach ihrem Sohn. Dabei arbeitet sie mit den Großmüttern der Plaza de Mayo in Buenos Aires zusammen und versucht auch auf juristischem Wege Informationen zu bekommen. 1986 erhält sie einen ersten Hinweis. Vermutet wird, dass Simón als Adoptivkind in einer uruguayischen Familie lebt.
„1989 übergaben wir diesen Hinweis der Justiz. Der Kampf darum, auf juristischem Wege eine DNA-Analyse zu erzwingen, dauerte zehn Jahre und war letztlich nicht erfolgreich. 1999 wurde mein Gesuch endgültig abgelehnt. Erst im Frühjahr 2000 überredete der neue Präsident Batlle die Familie, einem Test zuzustimmen. Zuvor hatte er allerdings von den Militärs Hinweise darauf erhalten, dass der Jugendliche nicht Simón wäre. Der DNA-Test wurde durchgeführt und fiel negativ aus. Wir standen wieder am absoluten Nullpunkt.“
Einer Strafverfolgung der für das „Verschwinden“ von Simón verantwortlichen Täter steht das uruguayische Amnestiegesetz aus dem Jahr 1986 entgegen. „Der Staatsterrorismus der Militärdiktatur hat im uruguayischen Volk tiefe Wunden hinterlassen. Bis heute herrscht immer noch eine gewisse Angst. Die Tatsache, dass das Amnestiegesetz in Uruguay durch ein Referendum vom Volk noch bestätigt wurde, hat die Situation im Land natürlich schwieriger gemacht.“ 1989 sollte das „Gesetz über die Hinfälligkeit des Strafanspruches des Staates“ mit Hilfe eines Referendums zu Fall gebracht werden. Der Regierung gelang es allerdings durch die Drohung mit einer erneuten Militärdiktatur, die UruguayerInnen soweit einzuschüchtern, dass die Abstimmung knapp scheiterte und das Amnestiegesetz damit bestätigt wurde.
„Die Tatsache, dass die uruguayischen Regierungen sich so lange geweigert haben, das Problem der ‘Verschwundenen’ anzusprechen, hat dazu geführt, dass Uruguay eines der rückständigsten Länder in Bezug auf dieses Thema ist. Diese Rückständigkeit hat letztlich für Batlle den Ausschlag gegeben, die Friedenskommission per Dekret einzusetzen. Sie hat allerdings lediglich das Mandat, die vorliegenden Informationen zusammenzutragen, kann also keine weiteren Untersuchungen erzwingen. Auf parlamentarischer Ebene wird die Kommission nur von der Opposition, dem Linksbündnis Frente Amplio und der sozialdemokratischen Fünf-Prozent-Partei Nuevo Espacio unterstützt. Die beiden traditionellen Parteien Colorados und Blancos, die das Regierungsbündnis stellen, haben kein Interesse an der Aufklärung der Verbrechen der Militärdiktatur. Mehr noch, Batlle wird in seinem eigenen Lager unter Druck gesetzt.“

Die Täter sind bekannt

Im Fall Simón Riquelo sind die Täter bekannt. Sie wurden von mehr als 20 ZeugInnen in Uruguay wie auch in Argentinien identifiziert. Bis heute leben der Entführer, Major José Gavazzo und sein Vorgesetzter im militärischen Geheimdienst Juan Antonio Rodríguez Buratti, allerdings frei im Land und werden nicht behelligt. Stattdessen wird von offizieller Seite harsche Kritik an Sara Méndez geübt. Vom Vorsitzenden der Friedenskommission Carlos Ramela wurde sie bereits als Lügnerin bezeichnet. Er warf ihr vor, nicht mit der Kommission zusammenzuarbeiten und nicht an Aufklärung, sondern nur an einem politischen Skandal interessiert zu sein. Die schlechten Beziehungen zwischen Méndez und der Kommission sind auch darauf zurückzuführen, dass vor einiger Zeit Mitglieder des Gremiums gezielt Fehlinformationen gestreut hatten, nach denen Simón schon lange Zeit tot sei. Dies ist ein beliebtes Mittel, um Angehörige bei der Suche nach den Opfern zu entmutigen und zur Aufgabe zu bewegen.

Solidarität mit Sara

Für Méndez steht fest: „Bis heute hat Präsident Batlle kein wirkliches Interesse an Aufklärung. Er möchte das Thema möglichst schnell vom Tisch haben. Dabei hatte er insbesondere im Fall der ‘verschwundenen’ Kinder Unterstützung versprochen. Aufklärung konnte nur durch internationalen Druck erreicht werden, wie im Fall des argentinischen Dichters Juan Gelman, dem es letztes Jahr gelang, die Tochter seines ermordeten Sohnes zu identifizieren.“ Während ihrer Europareise traf Sara Mendéz mit vielen MenschenrechtlerInnen und PolitikerInnen zusammen und erhielt Unterstützung für ihr Anliegen. So traf sie sich in Frankreich unter anderem mit Danielle Mitterand und Gesundheitsminister Bernard Kouchner. Der Gründer von Ärzte ohne Grenzen war bereits in den siebziger Jahren nach Uruguay gereist, um sich dort über die Lage der politischen Gefangenen zu informieren. Mendéz machte auch eine Zeugenaussage bei dem französischem Richter Roger Leloir, der seit einiger Zeit an Verfahren gegen argentinische Militärs arbeitet. Nach ihren Gesprächen mit Abgeordneten des Europäischen Parlaments in Frankreich, Belgien und Holland soll im Juli eine Resolution zu ihrem Fall im Europäischen Parlament eingebracht werden. In Deutschland kam kein Termin mit einem politischen Verantwortlichen zustande. „Keine Zeit!“ lautete die offizielle Begründung. Die nächsten Stationen ihrer Europareise sind die Schweiz und Spanien. Dort steht unter anderem auch ein Gespräch mit Richter Baltasar Garzón auf dem Programm.

Massenverhaftungen in Puerto Rico

Am 23. Mai wurde der Präsident der puertoricanischen Unabhängigkeitspartei PIP, Ruben Berríos, von einem US-amerikanischen Bundesrichter zu vier Monaten Haft verurteilt. Außer ihm erhielten zwei Abgeordnete des Bundesstaats New York, ein Stadtteilvertreter aus der Bronx und Reverend Sharpton, Pfarrer einer New Yorker Diözese und einstiger Weggefährte von Martin Luther King Jr., Gefängnisstrafen von bis zu 90 Tagen. Ihr Vergehen: Unbefugtes Betreten des militärischen Sperrgebiets auf der puertoricanischen Insel Vieques. Die Verurteilten hatten am ersten Mai ein Loch in den Stacheldrahtzaun zum Truppenübungsplatz geschnitten und sich dort positioniert, wo demnächst wieder Bomben abgeworfen werden sollten. Die Aktion dauerte nur 20 Minuten, dann schritt die Bundespolizei ein und transportierte die Demonstranten ab.
Als „völlig überzogen“ bezeichnete die puertoricanische Gouverneurin Sila Calderón die verhängten Strafen, schließlich handele es sich bei den Delikten nur um „zivilen Ungehorsam“. Zusammen mit ihrem Amtskollegen George Pataki, Gouverneur des Einzelstaats New York, setzt sie sich für die Freilassung der Angeklagten und die sofortige Einstellung der Truppenübungen auf Vieques ein. Calderón, Mitglied der Partido Popular Democratica (PPD) ist seit dem 18. Januar diesen Jahres im Amt und strebt – im Unterschied zu ihrem Vorgänger Rosselló, der den Anschluss Puerto Ricos an die USA forderte – die Beibehaltung des gegenwärtigen Status der Karibikinsel als assoziierter Freistaat an (siehe Kasten). Dieser Status bedeutet jedoch auch, dass sich Puerto Rico unter der Jurisdiktion der USA befindet, und ihr bezüglich eines Verbots der militärischen Manöver die Hände gebunden sind.
Doch der Widerstand und die Proteste gegen die Präsenz der Militärs auf der Karibikinsel mehren sich – in Puerto Rico und in der puertoricanischen Bevölkerung New Yorks. Seit dem 27. April 2001, dem Tag, an dem die Militärs nach einer mehrmonatigen Pause die Wiederaufnahme der Bombardements ankündigten, wurden auf dem Militärgelände rund 200 Demonstranten festgenommen, darunter der US-amerikanische Staranwalt Robert F. Kennedy Jr., der demokratische Abgeordnete im Kongress Louis Gutiérrez und der Schauspieler Edward Olson. 28 Personen demonstrierten im Gebäude der Vereinten Nationen und wurden ebenfalls kurzfristig festgenommen.
Das harte Vorgehen der Polizisten und das unverhältnismäßige Strafmaß im Schnellverfahren, das internationalen Anforderungen an ein faires Gerichtsverfahren nicht entspricht, hat nun auch Amnesty International zur Entsendung eines Prozessbeobachters bewogen.

Tränengas und Schnellverfahren

Augenzeugen zufolge ging die Polizei mit Tränengas und Gummibolzen gegen Unbewaffnete vor, mehrere Personen, darunter Kinder, wurden schwer verletzt. Die Demonstranten wurden ohne Schutz gegen den Regen im Freien festgehalten und durften 24 Stunden keinen Kontakt zu Freunden und Verwandten aufnehmen. Am 30. April wurde einigen Angeklagten, so auch der New Yorker Prominenz, der Prozess gemacht. Der Schauspieler James Olson und Robert Kennedy Jr. kauften sich gegen eine Kaution von 3000 US-Dollar frei, etwa 140 weitere Festgenommene sind noch in Haft.
Seit 1941 der Marinestützpunkt in Vieques geschaffen wurde, protestiert die einheimische Bevölkerung gegen den Lärm der Bomben, die ökologische Zerstörung und die gesundheitliche Bedrohung durch die Streitkräfte. Damals enteignete das Militär rund drei Viertel der 135 km2 kleinen Insel und vertrieb Tausende von Farmern und kleinen Grundstücksbesitzern von ihrem Land. Die meisten der 9.400 Einwohner leben nun eingezwängt zwischen dem Munitionslager im Westen und dem Manöverplatz im Osten von Vieques. Haupteinkommenszweig ist die Fischerei, doch die Fischbestände sind durch die ständigen Bombardierungen und die Verschmutzung des Wassers mit metallischen Rückständen der Geschosse bedroht.
Das Militär schafft auch keine wirtschaftlichen Alternativen, nur etwa dreißig Einheimische finden dort einen Job. Die Arbeitslosigkeit in Vieques liegt mit 50 Prozent weit über dem Landesdurchschnitt, über 72 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Wissenschaftliche Untersuchungen haben mehrmals eine hohe Konzentration von Quecksilber, Arsen, Kadmium und anderen giftigen Metallen im Boden und in den Wasservorräten der Insel vorgefunden. Deswegen wird die Bevölkerung seit einigen Jahren von der Hauptinsel aus mit Trinkwasser versorgt. Die metallischen Munitionsrückstände werden jedoch auch von Pflanzen, Fischen und Muscheltieren aufgenommen und wandern über die Nahrungskette zum Menschen. Ein Großteil der Bevölkerung leidet an Haut-, Lungen- und Bronchialleiden, bereits Kinder sind von Seh- und Gleichgewichtsstörungen betroffen. Die Krebsrate in Vieques übertrifft die der Hauptinsel um 27 Prozent.
Über sechzig Jahre verhallten die Proteste der Bevölkerung von Vieques ungehört. Ein tödlicher Unfall im April 1999 brachte den Wendepunkt: Ein Jagdbomber verfehlte sein Ziel um mehrere hundert Meter. Drei Menschen wurden verletzt, David Sanes, ein ziviler Angestellter der Militärbasis, kam ums Leben. Die Marine setzte bis auf weiteres ihre Manöver aus, unter Aufsicht von Ex-Präsident Clinton wurde eine Beratungskommission aus Vertretern des Militärs und der puertoricanischen Regierung einberufen.

Breite zivile Protestbewegung

Gleichzeitig formierte sich eine breite zivile Protestbewegung humanitärer, ökologischer und pazifistischer Ausrichtung um die Forderung „Frieden auf Vieques“. Studenten, Umweltaktivisten, Fischer, Gewerkschaftler, Frauengruppen und Künstler organisierten Protest-Camps auf dem Sperrgebiet und blockierten wichtige Zufahrtswege. In New York, wo inzwischen die Hälfte der Puertoricaner lebt, und in Kuba fanden solidarische Protestkundgebungen für Vieques statt. Der massive Druck der Protestbewegung veranlasste schließlich, nach 28 Jahren intensiven Lobbyings, das Dekolonisierungskomitee der Vereinten Nationen dazu, eine Resolution für eine Einstellung der Truppenübungen in Vieques zu verabschieden. So wurde erreicht, dass die Marine den bisher abgestrittenen Einsatz von Napalm-Bomben zumindest teilweise eingestand. Mit dem Einsatz des Giftgases verstößt sie gegen die eigenen Satzungen.
Doch die Lobby der Militärs im US-amerikanischen Kongress ist stark. Für sie ist Vieques die „Kronjuwele“ der atlantischen Flottenstützpunkte und unverzichtbar für die nationale Sicherheit. So konnten die Militaristen im Kongress dann auch Anfang letzten Jahres die eingeschränkte Fortsetzung der Schießübungen bis 2003 durchsetzen. Allerdings darf die Marine ab sofort nur Übungsmunition verwenden. Dies schließt zumindest alle Arten von Sprengstoffkörpern aus. Ferner soll nach Ex-Präsident Clintons Direktiven ein lokales Referendum stattfinden, in dem die puertoricanische Bevölkerung über eine weitere Präsenz der Streitkräfte nach 2003 entscheidet. Stimmen die Puertoricaner gegen die Militärs auf ihrer Insel, was bei der derzeitigen Lage sehr wahrscheinlich ist, sieht Clintons Plan eine zeitlich gestaffelte Rückgabe der enteigneten Ländereien vor. Außerdem sollen 40 Millionen Dollar aus Bundesmitteln zur Verfügung stehen, um ökologische Schäden zu beheben und die wirtschaftliche Entwicklung anzukurbeln. Für den unwahrscheinlichen Fall eines Ergebnisses zu Gunsten der Marine stehen 90 Millionen Dollar als einmalige Entschädigungszahlung zur Verfügung.

Leben auf der Kronjuwele

Die Puertoricaner sind über dieses Angebot allerdings empört. Fünftausend gingen in einer Protestkundgebung gegen diese Kompromisslösung im Juli 1999 auf die Straßen. „Das Referendum ist völlig undemokratisch. Es wurde von der Marine und für die Marine geschrieben, nicht von der puertoricanischen Regierung. Die Option der Bevölkerung – sofortiges Ende der Bombardements – ist gar nicht vorgesehen,“ heißt es in einer öffentlichen Stellungnahme der an der Protestbewegung beteiligten Organisationen. Und weiter: „Grundlegende Menschenrechte, wie das Recht auf Frieden, dürfen nicht Gegenstand eines Referendums werden.“ In Sila Calderón findet diese Position eine tatkräftige Unterstützerin. Gleich nach ihrem Amtsantritt ließ die puertoricanische Gouverneurin ein Lärmschutzgesetz verabschieden und will, wenn nötig, bis vor das Oberste Bundesgericht ziehen, um die Militärs wegen Lärmbelästigung zu verklagen. Mit dem Slogan „Wir lassen uns nicht kaufen!“ tritt sie öffentlich gegen das für November 2003 geplante Referendum ein.
Die Taktik der Protestbewegung, das Referendum zu boykottieren, birgt allerdings auch Risiken. So könnten, wenn George W. Bush, der neue Präsident im Weißen Haus, Konflikte anzettelt, weitere Argumente für die sicherheitspolitische Notwendigkeit des Stützpunkts auftauchen. Zwar hat Bush die Mehrheit im Senat vorerst verloren, doch da es in den USA im Unterschied zu Deutschland praktisch keinen Fraktionszwang gibt, kann Bush womöglich auch in Zukunft seine Projekte durchsetzen. Allerdings hat die Machtverschiebung zu Gunsten der Demokraten im Senat auch Auswirkung auf die Bestätigung von Bundesrichtern.
Insgesamt stehen die Aussichten für einen Erfolg der puertoricanischen Protestbewegung besser denn je: Organisationen der sonst so zerstrittenen politischen Lager haben den Schulterschluss vollzogen, und die Widerstandsbereitschaft hat ein bisher einzigartiges Ausmaß erreicht. Die Strategie des unerbittlichen Vorgehens gegen die Demonstranten durch Polizei und Justiz ist nicht aufgegangen. Sie konnte die Aktionen nicht verhindern und hat einflussreiche Politiker sowie von Vertreter aller größeren religiösen Gemeinschaften in New York und Puerto Rico zur öffentlichen Unterstützung der Protestierenden veranlasst.
„Das Foto von Pfarrer Sharpton, zusammen mit ausführlichen Artikeln zur Situation in Vieques findet sich zurzeit in allen US-amerikanischen Zeitungen und Fernsehsendungen,“ freut sich Robert Rabín, ein Sprecher des Komitees zur Rettung und Entwicklung von Vieques: „Wir hätten selbst keine bessere PR-Kampagne auf die Beine stellen können, als es die Marine unfreiwilligerweise durch die Inhaftierung von diesen angesehenen Personen der Bürgerrechtsbewegung getan hat.“ Doch auch von der Protestbewegung sind erste Gewalttaten ausgegangen. So wurde ein Offizier von Unbekannten zusammengeschlagen, die Polizei entschärfte eine Bombe in einem Gebäude des US-Postservice. An der Wand hinterließen die Täter nur das Wort „Vieques“. Die Marine hat unterdessen eine neue Testreihe für den 13. Juni diesen Jahres angekündigt. Es könnte verhängnisvoll für die Protestbewegung sein, wenn sie sich dadurch zu weiteren Gewalttaten provozieren ließe.

KASTEN:
Puerto Rico: assoziierter Freistaat der USA

Seit 1952 ist Puerto Rico assoziierter Freistaat der USA. Damit wurde zwar offiziell der Status als Kolonie beendet, nicht aber die politische und rechtliche Abhängigkeit, die immer noch koloniale Züge trägt. Die Machtbefugnisse des Staates können in letzter Instanz immer noch vom US-amerikanischen Kongress festgelegt werden..
Puertoricaner zahlen keine Bundessteuern, dürfen jedoch auch nicht an US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen teilnehmen und leben unter der Jurisdiktion der USA. Dies erklärt auch die nahezu uneingeschränkte Verfügungsgewalt der US-amerikanischen Marine auf ihrem 1941 geschaffenen Truppenstützpunkt Roosevelt Roads, dem größten US-amerikanischen Militärstützpunkt in der Karibik.
Alle Parteien Puerto Ricos machen die Beziehung zu den USA zum Wahlprogramm: Aufrechterhaltung des Status quo, gleichberechtigte Angliederung an die USA, oder die Unabhängigkeit. Während die ersten beiden Fraktionen sich stets die Waage halten, erzielt letztere Option seit Jahrzehnten nur noch fünf Prozent Zustimmung.

Das Paradies der Straflosigkeit

In den Morgenstunden des 18. Mai 1976 dringen sechs bewaffnete Männer in die Wohnung des uruguayischen Abgeordneten und ehemaligen Parlamentspräsidenten Gutiérrez Ruiz ein, der auf Grund seiner oppositionellen Haltung zur Militärdiktatur in seinem Heimatland seit einiger Zeit in Buenos Aires im Exil lebt. Gutierrez Ruíz wird festgenommen und die Männer in Zivil tragen sieben Koffer gefüllt mit Wertsachen aus seiner Wohnung. Ein Wachmann, der einschreiten will, wird mit den Worten zurückgewiesen,dass es sich um „eine gemeinsame Aktion von Polizei und Armee“ handele. Zwei Stunden später wird auch der populäre Politiker des Frente Amplio Zelmar Michelini entführt, der sich aus den selben Gründen im argentinischen Exil befindet. Am 20. Mai findet man ein Auto mit den Leichen der uruguayischen Oppositionellen und zweier weiterer Personen. Nachdem erst Angehörige linker Guerrillabewegungen aus Argentinien und Uruguay für die Morde verantwortlich gemacht werden, dringen wenig später Äußerungen, die von einer „Operation des uruguayischen Militärs“ sprechen, an die Öffentlichkeit.

43 verschwundene Uruguayer in Argentinien

Zwanzig Jahre später, im Jahr 1996, sagt eine Zeugin vor der Menschenrechtskomission des uruguayischen Repräsentantenhauses aus, dass ein gewisser Leutnant Mattos in einem 1976 geführtem Gespräch geäußert habe, dass er damals mit dem speziellen Auftrag Michelini und Gutierrez Ruíz zu entführen und umzubringen, nach Buenos Aires gereist sei.
Trotz dieser klaren Indizien hat es bis heute, da sich die Morde zum 25. Mal jähren, keinerlei Ermittlungen, geschweige denn Bestrafungen der Verantwortlichen gegeben. Der Fall steht wegen des hohen Bekanntheitsgrades seiner Opfer symbolisch für das Verschwinden und die Ermordung von 40 weiteren uruguayischen Exilierten in Argentinien, wo die Militärs, drei Jahre nach Uruguay und Chile, im März 1976 ebenfalls die Macht übernommen hatten. Anlässlich des 25. Jahrestages der Verbrechen wurde in Buenos Aires am 20. Mai eine Gedenkplatte enthüllt, die an die uruguayischen Opfer der staatlichen Repression in Argentinien erinnern soll. An der Zeremonie nahmen auch Rafael Michelini, Sohn des ermordeten Zelmar Michelini und Vorsitzender des sozialdemokratischen Nuevo Espacio, der Bürgermeister von Montevideo Mariano Arana (Frente Amplio) und der Regierungschef der Stadt Buenos Aires Aníbal Ibarra teil. Dieser betonte in seiner Rede die weit reichende Koordinierung des „antisubversiven Kampfes“ zwischen den verschiedenen südamerikanischen Militärdiktaturen, die durch die Ermordung von uruguayischen Oppositionellen unter aktiver Mithilfe der argentinischen Regierung erneut unter Beweis gestellt werde.

Entführte Wahrheit und verbotene Erinnerung

Auch in Uruguay ist der 20. Mai seit fünf Jahren Tag des Erinnerns an die Verschwundenen und des Protestes gegen die andauernde Straflosigkeit. Dieses Jahr nahmen 70.000 Personen an einem Schweigemarsch durch das Zentrum Montevideos unter dem Motto „Ohne entführte Wahrheit, ohne verbotene Erinnerung“ teil, zu dem der Frente Amplio, der Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT und verschiedene Menschenrechtsorganisationen aufgerufen hatten. Uruguay gilt als „Paradies der Straflosigkeit“, denn es ist das einzige Land des Cono Sur in dem bisher kein einziges Ermittlungsverfahren wegen der Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur eröffnet wurde. 1986, ein Jahr nach Rückkehr des Landes zur Demokratie, verabschiedete das Parlament ein umfassendes Amnestiegesetz, welches 1989 durch ein Referendum vom Volk bestätigt wurde. Das Gesetz verbietet jegliche Strafverfolgung von politischen Verbrechen, die zwischen 1973 und 1985 begangen wurden. Der Artikel 4 des Gesetzes jedoch verpflichtet den Staat zu einer bedingungslosen Aufklärung der Schicksale aller damals Verschwundenen. Diese Aufgabe wurde der Militärstaatsanwaltschaft übergeben, mit der Folge, dass nicht ein einziger Fall aufgeklärt wird. Die ehemaligen Präsidenten Sanguinetti und Lacalle hatten während ihrer Amtszeiten alle Bestrebungen zur Einhaltung des Artikels behindert.
Im November 1999 war der Kandidat des konservativen Partido Colorado Jorge Batlle unter anderem mit dem Versprechen zum Präsidenten gewählt worden, sich verstärkt um die Aufarbeitung der Vergangenheit zu kümmern. Daraufhin begann im August des vergangenen Jahres die Arbeit einer so genannten Friedenskommission, deren Auftrag hauptsächlich in der Aufklärung der Schicksale der 170 verschwundenen Oppositionellen in Uruguay besteht. Die Kommission, deren Vorsitzender Carlos Ramela ein Vertreter des Partido Colorado ist, wird auch von vielen linken Politikern als wichtiger Schritt gewürdigt, denn sie stellt die erste offizielle Anerkennung der Existenz eines derartigen Problems von staatlicher Seite dar. Sie besitzt jedoch weitaus weniger Kompetenzen als vergleichbare Kommissionen in Chile, El Salvador oder Südafrika. Die Friedenskommission „lädt zur Aufklärung ein“, hat aber keine Sanktionsmöglichkeiten, wenn die Zusammenarbeit von den Tätern verweigert wird. Auch eine Identifikation der Schuldigen wird ausdrücklich ausgeschlossen.

Neue Fronten

Die eingeschränkten Möglichkeiten der Friedenskommission haben eine Debatte über deren Sinn ausgelöst, in deren Verlauf es zu einer bis vor kurzem undenkbaren Frontenbildung gekommen ist. Die neuen Gräben verlaufen nicht mehr wie die gesamten letzten 15 Jahre zwischen linker Opposition und konservativer Regierung, sondern sind nun innerhalb der Linken zu finden. Während die Parteiführung des Frente Amplio unter Tabaré Vázquez zu Geduld aufruft und mit der Kommission zusammenarbeitet, wird diese von vielen Menschenrechtlern und Vertretern des linken Randes des Frente scharf kritisiert und ihr Sinn in Frage gestellt. Die Differenzen wurden besonders bei einer Protestaktion vor dem Verteidigungsministerium am 16.April deutlich, bei der auf die Verantwortung des Staates für die Verbrechen aufmerksam gemacht werden sollte. Zu der Aktion hatten ausschließlich außerparlamentarische Gruppierungen aufgerufen. Zu Gast war auch die legendäre Vertreterin der argentinischen Madres de la Plaza de Mayo, Hebe de Bonafini, die in ihrer Rede äußerte, dass die Kommissionen nur eine Demobilisierung des Wiederstandes und die Konsolidierung der Straflosigkeit mit sich bringen würden. In den Reaktionen auf die Demonstration fanden sich führende Politiker des FA in einer Reihe mit Vertretern der Regierung, der Friedenskommission und des Militärs wieder. Von Tabaré Vázquez, der die Aktion als „wenig hilfreich für die Aufklärungsarbeit“ bezeichnete, über Regierungssprecher, die die Aktivisten aufforderten, nicht die Demokratie zu gefährden, bis hin zu Militärs, die von „politisierten Anschuldigungen“ sprachen, die nur dazu bestimmt seien „ehrenhafte Soldaten zu diskreditieren, die für die Verteidigung der Institutionen des Staates auch ihr Leben gelassen hätten“; der Tenor der Ablehnung war nicht zu überhören.

Unkonventionelle Methoden

Im Zuge der stark polarisierten Debatte meldeten sich auch wieder verstärkt hohe Vertreter der uruguayischen Streitkräfte mit den altbekannten Argumenten zu Wort. Am „Tag der in Verteidigung der Institutionen Gefallenen“, der erstmals in Zeiten der Militärdiktatur begangen wurde und dann von Ex-Präsident Sanguinetti wieder eingeführt wurde, betonte der Leutnant Edison Linares die Notwendigkeit des antisubversiven Kampfes und rechtfertigte die damals angewandten „unkonventionellen Methoden“ mit einer mangelnden Unterstützungen durch andere Institutionen des Staates. Gleichzeitig wurde vor der akuten Bedrohung durch subversive Kräfte gewarnt, die jederzeit wieder auferstehen könnten, weshalb man sich immer noch im Kriegszustand befände.
Doch auch auf der anderen Seite hat sich der Ton verschärft. Seit einigen Monaten wird verstärkt auf die aus Argentinien importierte Aktionsform des escrache zurückgegriffen. Dabei handelt es sich um Protestaktionen vor den Domizilen von erwiesenen Menschenrechtsverbrechern, die dazu bestimmt sind, die Nachbarschaft für das Thema zu sensibilisieren. Besonders im Fokus der Aktivisten stand dabei in den letzen Wochen der Leutnant a.D. José ‘Nino’ Gavazzo, der als Chef eines militärischen Geheimdienstes für die Entführung, Folterung und Ermordung von vielen UruguayerInnen im Ausland verantwortlich sein soll. Ihm konnte auch eine direkte Beteiligung an der Entführung des Sohnes der Uruguayerin Sara Méndez, Simón Riquelo, im Jahr 1976 in Argentinien nachgewiesen werden. Der unermüdliche Kampf der Mutter hat inzwischen internationale Bekanntheit erlangt (siehe nachfolgenden Artikel).

Das Ende der Straflosigkeit?

Dieser Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit erfährt nun auch in Uruguay nach Jahren des Stillstandes einen neuen Impuls. Vor wenigen Tagen fand in Uruguay ein internationaler Juristenkongress statt. Dort wurde zum ersten Mal die Möglichkeit angesprochen, die Fälle der ‘Verschwundenen’ vor ein internationales Strafgericht zu bringen. Es wurde darauf hingewiesen, dass Uruguay im Jahr 1994 im Rahmen einer Versammlung der Organisation Amerikanischer Staaten eine Interamerikanische Konvention über das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen unterzeichnet hat. Dieses internationale Abkommen wurde 1996 zu uruguayischem Gesetz und etabliert die Rechtsnorm, dass Entführungen als permanente Verbrechen gelten, solange der aktuelle Aufenthaltsort der Opfer unbekannt bleibt. Die Anwendung dieses Gesetzes müsste also eine sofortige Strafverfolgung der damaligen Täter nach sich ziehen. Diese Perspektive stößt in Uruguay erwartungsgemäß auf heftigen Widerspruch. Dadurch, dass das Amnestiegesetz durch ein Referendum vom Volk abgesegnet worden sei, besäße es mehr Legitimation als ein internationales Abkommen, so hört man. Hier gilt jedoch eigentlich der Rechtsgrundsatz, dass wenn sich zwei Gesetze widersprechen,das jüngere von beiden angewandt werden muss, ganz egal wie dieses nun zu Stande gekommen sein mag. Das ist in diesem Fall nicht das Amnestiegesetz.
Bei den Fürsprechern eines radikalen Wandels im Umgang Uruguays mit seiner jüngeren Vergangenheit, handelt es sich nicht nur um Familienangehörige der Opfer und Vertreter der uruguayischen Linken. Rückendeckung kommt auch von ideologisch völlig unverdächtiger Seite. Das Menschenrechtskomitee der UNO ließ vor kurzer Zeit verlauten: „Die Amnestiegesetze sind nicht kompatibel mit den internationalen Verpflichtungen eines Staates, wenn sie für die Straflosigkeit derart ernsthafter Verbrechen sorgen.“ Das Ende der Straflosigkeit in Uruguay? Es bleibt zu hoffen, dass die Globalisierung auf dem Gebiet der Rechtssprechung ebenso schnell voranschreiten wird wie auf dem der Wirtschaft .

Einfluss der Gewerkschaften im Mercosur

Anders als andere vergleichbare Handelsabkommen konnte der Mercosur immer mit der Unterstützung wichtiger sozialer und wirtschaftlicher Akteure rechnen, die trotz Kritik – wie im Fall der Gewerkschaften – im Rahmen ihrer Möglichkeiten direkt an seiner Entwicklung mitwirkten. Obwohl es zu einer Verschlechterung der sozialen Situation in den Mitgliedsländern gekommen ist, hat dies dazu beigetragen, die Mitwirkung der Zivilgesellschaft bei den Verhandlungen im Mercosur zu vergrößern.

Erben einer Militärherrschaft

In Argentinien, Chile und Uruguay (Länder des Cono Sur) kam es zu einer verstärkten Präsenz der Gewerkschaften auf der politischen Bühne, vor allem vor dem Hintergrund der Redemokratisierung der jeweiligen Regierungen. Sie übernahmen als Erben einer Militärherrschaft ökonomische Modelle, die sich an neoliberalen Regierungsprogrammen orientierten. Die damit einhergehende Reduzierung der öffentlichen Ausgaben, die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen und die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes machte die Gewerkschaften mobil. Sie standen vor einer wirtschaftlichen Entwicklung, die sowohl eine stärkere Unterordnung der Region in das globale Gefüge bedeutete, als auch einen Weg zur Stärkung ihrer Position bei den Verhandlungen über die Auslandsschulden markierte. Deswegen entschieden sich die Gewerkschaften der Länder des Mercosur, vereinigt m Dachverband Coordenadora de Centrais Sindicais do Cono Sur (CCSCS), den Prozess von Anfang an zu begleiten und sich einzumischen.

Erste Schritte auf offiziellem Parkett

Aufgrund des Drucks der Gewerkschaften wurden im März 1992 mit der Gründung der „Arbeitsgruppe Arbeitsbedingungen, Beschäftigung und Soziale Sicherheit“ arbeitnehmerrelevante Themen in den internationalen Handelsvertrag aufgenommen. Aber die Mitwirkung der Gewerkschaften ging weit über Arbeitnehmerthemen hinaus.
Wenn auch nur als offizieller Beobachter, fing die CCSCS 1993 in offiziellen Verhandlungen an, auch andere makroökonomische politische Vorschläge zu unterbreiten, die beispielsweise den Außenhandel, Herkunftsvorschriften und Förderpolitik betrafen. Diese Entwicklung erweiterte den Spielraum der Debatten der CCSCS ganz entscheidend und zeigte die Notwendigkeit, ein globales Projekt der Integration und Aufnahme in den Weltmarkt auf den Weg zu bringen.
Doch wie kamen die Gewerkschaften zu einem einheitlichen Vorgehen? Vielleicht dadurch, dass sie gegen ein konkretes Programm mobilisierten, das von den Regierungen verhandelt wurde. Ein gemeinsames Vorgehen war die grundlegende Waffe, um den gewerkschaftlichen Einfluss zu verbessern.
Als im Dezember 1994 mit der Unterzeichnung das Protokoll von Ouro Preto unterzeichnet wurde, hatten die Gewerkschaften noch kein Instrument zum Schutz der Sozial- und Arbeitsrechte durchsetzen können. Aber sie erreichten eine stärkere Demokratisierung des Verhandlungsprozesses. Sie setzten die Gründung des Foro Consultivo Econômico-Social do Mercosur (FCES) durch, eines Beratungsorgans, das soziale und ökonomische Akteure mit dem wichtigsten Verhandlungsgremium des Mercosur an einen Tisch bringt.
Da es bezeichnenderweise nur wenige Verhandlungen in gewerkschaftsrelevanten Bereichen gab, war die Präsenz der Gewerkschaften dementsprechend schwach. Zudem nahm das Gewicht der Gewerkschaften durch die Restrukturierung der Produktion, stärkere Flexibilisierung und zunehmende Arbeitslosigkeit stark ab. In den Jahren 1996 und 1997 gewann der gewerkschaftliche Kampf auf nationaler Ebene wieder an Fahrt, und auch auf der Ebene des Mercosur kam es zu einigen interessanten Ergebnissen. Nach einem Treffen der Gewerkschaftspräsidenten Ende 1997 wurde Arbeits- und Sozialrechten und der Demokratisierung im Mercosur mehr Nachdruck verliehen.
Mit der erneuten Stärkung der Gewerkschaften sah es auch nach Fortschritten in der „Arbeitsgruppe Arbeitsbedingungen, Beschäftigung und Soziale Sicherheit“ aus. Die CCSCS präsentierte dort als zwei zentrale Forderungen die Verabschiedung einer Declaração Sociolaboral (Erklärung über Sozial- und Arbeitsrechte) und die Schaffung einer Aufsichtsinstanz auf dem Arbeitsmarkt, die 1998 auch angenommen wurden. Außerdem verschlechterten sich die Beschäftigungssituation und die sozialen Verhältnisse zusehends, was der CCSCS neuen Zuspruch brachte.
Zwei große Ereignisse fanden statt: der Aufzug am 1. Mai, an der Grenze zwischen Uruguay und Brasilien mit mehr als zehntausend Menschen und der erste Gewerkschafts-Gipfel des Mercosur in Montevideo im Dezember 1998, an dem etwa 400 GewerkschaftsvertreterInnen aus 16 verschiedenen Wirtschaftszweigen teilnahmen.
Auch im letzten Jahr kam es zu neuen Mobilmachungen und zum zweiten Gewerkschafts-Gipfel im Dezember in Florianópolis, an dem beinahe doppelt so viele Gewerkschaftsvertreter mitwirkten. Die TeilnehmerInnen übten übereinstimmend Kritik an den ökonomischen Modellen, die von den vier Ländern des Mercosur übernommen wurden und ihren sozialen Folgen. Außerdem verurteilten sie das Freihandelsabkommen FTAA (Free Trade Area of the Americas) und unterstützten die Vertiefung des Integrationsprozesses, um so die Beziehung zu anderen Handelsblöcken zu stärken.
Eine der grundlegenden Forderungen des Kongresses an den derzeitigen Koordinator des Mer-cosur, Botschafter Botafogo, war es, vor dem Beitritt zu FTAA alle Regierungen zur Organisation einer Volksabstimmung zu verpflichten. Dieser Vorschlag ist bereits in den Parlamenten der vier Mercosur-Staaten vorgestellt worden, und seine Unterstützung dehnt sich auch auf die übrigen Staaten der americas aus.
Durch die öffentliche Verkündung des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez auf dem Treffen von Quebec, vor dem Beitritt zur FTAA solch ein Referendum zu organisieren, gewinnt diese Forderung immens an Kraft.

Gibt es wirklich Fortschritte?

Für eine(n) außenstehende(n) BeobachterIn stellt sich nach den hier gegebenen Eindrücken unmittelbar die Frage: Gibt es Erfolge? Erkennt der Mercosur den Arbeitsschutz und die Verbesserung der Sozialnormen an?
Bei Themen der Arbeitsplatzschaffung, Lohnverbesserung und Verbesserung der Arbeitskonditionen ist die Antwort Nein. Die soziale Situation der vier Länder hat sich wahrnehmbar verschlechtert, und bis heute fördern die Maßnahmen, die der Mercosur zustande gebracht hat, im Grunde nur die großen Firmen und das internationale Finanzkapital. Jedoch haben die Gewerkschaften im Mercosur – abgesehen von ihrer derzeitigen Schwäche – wichtige Bereiche erobert. Wenn diese weiterhin ausgebaut werden, können sie den Weg zu einem größeren Organisations- und Mobilisierungsgrad ebnen und zu realen sozialen und ökonomischen Errungenschaften führen.

Soziale Themen an höchster Stelle

Die Declaração Sociolaboral ist inhaltlich zurückhaltender als die nationalen Gesetzgebungen formuliert und darüber hinaus nicht bindend. Aber sie wurde von den Gewerkschaften angenommen, weil sie die Schaffung des ersten dreigeteilten Kontrollorgans für ihre Umsetzung vorsieht – die Comissão Sociolaboral. Dies wurde nur möglich, weil sie im Vertrag von Asunción noch nicht vorgesehen war und eine direkte Verbindung zur obersten Verhandlungsinstanz des Mercosur hat, also nicht den Arbeitsministerien untergeordnet ist. So können soziale Themen an höchster Stelle eingebracht werden.

Hintertür Tarifverträge

Außerdem gibt es gute Möglichkeiten, mit Tarifverhandlungen auf bi- oder trinationaler Ebene weiterzukommen. Es gibt bereits einen Tarifvertrag zwischen den Volkswagenniederlassungen in Argentinien und Brasilien und ihren Gewerkschaften. Trotz der rechtlichen Unterschiede zwischen den Tarifverträgen sind durch die Erklärung Anfänge geschaffen, die die Wirksamkeit von ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen in den Verhandlungen auf supranationaler Ebene stärkt. Die Tarifverhandlungen könnten auch Fakten schaffen, die mittelfristig eine rechtliche Gestalt annehmen, welche in die Deklaration oder das juristische Grundgerüst des Mercosur übernommen werden kann. Damit das umgesetzt wird, müssen die Gewerkschaften offensichtlich ihre organisatorischen Pläne weiterverfolgen und auch weiterhin Druck ausüben.

Gewerkschaftliche Mitwirkung ausschlaggebend

Ein weiterer wichtiger Erfolg ist die Einrichtung einer Aufsichtsinstanz im Arbeitsmarkt des Mercosur – ein eher technisches Organ, das den Arbeitsministerien untergeordnet ist, aber dreiteilig geleitet wird. Diese Aufsicht könnte neben ihrer Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt bei Themen der Beschäftigung, Qualität der Beschäftigung, Migration etc. Möglichkeiten zu Debatten und politischen Verhandlungen eröffnen und Richtlinien zu staatlicher Förderpolitik erstellen. Auch hier ist die gewerkschaftliche Mitwirkung ausschlaggebend.
Zu guter Letzt gibt es die Einflussmöglichkeit im Foro Consultivo Econômico Social do Mercosur (FCES), in dem derzeit zwar beinahe nur gewerkschaftliche und unternehmerische Organisationen sitzen, das aber Raum zum Austausch gewerkschaftlicher Organisationen mit anderen Institutionen der Zivilgesellschaft liefern könnte. Auf diese Weise können die Gewerkschaften an Bedeutung gewinnen, wenn das FCES im Mercosur auf dem Gebiet demokratischer Fortschritte Gewicht bekommt.

Übersetzung: Laurissa Mühlich

KASTEN

Einige Erläuterungen zum Mercosur

Der Mercado Común del Sur (Gemeinsamer Markt des Südens) ist ein geschützter Handelsblock, mit dem Ziel, einen gemeinsamen Markt zwischen Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay aufzubauen. Er wurde mit dem Vertrag von Asunción im März 1991 gegründet.
Im Mercosur leben über 200 Millionen Menschen, von denen 80 Millionen ökonomisch aktiv sind. Das Pro-Kopf-Einkommen ist dort höher als im Rest des lateinamerikanischen Kontinents. Der Mercosur ist international der viertgrößte Handelsblock; in ihm werden 54 Prozent des lateinamerikanischen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet. Brasilien und Argentinien sind von den Mitgliedsstaaten, zusammen mit Mexiko, die Länder, die in Lateinamerika die meisten ausländischen Investitionen anziehen.
1994 wurde mit dem Protokoll von Ouro Preto die Freihandelszone beschlossen. Die Entwicklung der Zollunion wurde in Gang gesetzt, doch sie hat sich bis heute nicht über einen gemeinsamen Außenzoll hinaus weiterentwickelt. Aufgrund interner wirtschaftlicher Krisen in Argentinien und Brasilien ist dieser bereits mehrfach punktuell erhöht worden.
Im ökonomischen Blickwinkel ist der Mercosur zweifellos ein erfolgreiches Unternehmen. In den letzten 10 Jahren ist der Handel innerhalb des Wirtschaftsblocks um das Vierfache gestiegen: Von 5,1 Milliarden US-Dollar 1991 auf 20,7 Milliarden US-Dollar 1997. In den Jahren 1998 und 1999 brach der wirtschaftliche Austausch aufgrund der internationalen Finanzkrise, die insbesondere Argentinien und Brasilien traf, stark ein. Er erholte sich allerdings im letzten Jahr etwa auf das Niveau von 1997. Brasilien ist der größte Importeur im Wirtschaftsraum Mercosur – zudem betrugen die Ausfuhren an den Mercosur 1999 bereits 14,1 Prozent der gesamten brasilianischen Exporte. Für die anderen Mitgliedsstaaten ist die Bedeutung des Mercosur noch größer. 1999 machte der intraregionale Handel 30,3 Prozent der Ausfuhren Argentiniens aus. Für Paraguay waren es 41,4 Prozent und für Uruguay sogar 45 Prozent.
Zur Zeit durchlebt der Mercosur seine härteste Bewährungsprobe, die durch den Druck bei den FTAA-Verhandlungen (Free Trade Area of the Americas) und die argentinische Wirtschaftskrise ausgelöst wurde.

„Die Vereidigung Fujimoris muss verhindert werden“

Neben Ihrer Beratertätigkeit für Toledo sind Sie Präsident des Demokratischen Forums in Peru. Erzählen Sie uns etwas über diese Organisation.

Die Gründung des Demokratischen Forums war eine Anwort auf den Putsch Fujimoris im Jahre 1992. Ursprünglich verstand sich das Forum nicht als Oppositionsbewegung, sondern als Bündnis zur Stärkung der staatlichen Institutionen und der Demokratie. Bekannt wurden wir durch die Unterschriftensammlung für ein Referendum gegen die verfassungswidrige dritte Kandidatur Fujimoris. Wir bekamen 1,5 Millionen Unterschriften zusammen. Das reicht laut Verfassung für ein Referendum aus. Aber die Regierung erkannte die Unterschriften nicht an.

Welche Rolle kann das Forum bei der Organisation des Widerstands gegen Fujimori nach dessen Wahlbetrug spielen?

Die Protestbewegung gegen Fujimori hat sich erst in den letzten Wochen formiert. Wir haben Massendemonstrationen in verschiedenen Teilen des Landes erlebt. Das wäre noch vor wenigen Monaten unvorstellbar gewesen. Nach dem Wahlbetrug muss das oberste Ziel der Rücktritt Fujimoris sein. Erst danach kann eine Demokratisierung eingeleitet werden. Das Demokratische Forum will dazu beitragen, dass Strukturen geschaffen werden, die eine Fortsetzung des Widerstands garantieren.
Müssen sich solche Strukturen nicht von unten bilden, innerhalb der

Gewerkschaften, der Universitäten oder der pueblos jóvenes, der armen Randzonen der Städte?

Ja. Deswegen will das Demokratische Forum bei der Vernetzung der einzelnen Gruppen helfen. Es bilden sich fast täglich neue Komitees, die sich am Widerstand beteiligen. Die Studenten und die Gewerkschaften spielen eine herausragende Rolle in der Protestbewegung. Besonders die jungen Leute haben aber starke Vorbehalte gegenüber den Vertretern der politischen Parteien, die zum Teil auch im Demokratischen Forum vertreten sind. In den pueblos jóvenes tut sich wenig. Dort rekrutiert Fujimori den Großteil seiner Wähler. Er fährt oft in die Randbezirke Limas und verschenkt Lebensmittel, die zum großen Teil aus der internationalen Entwicklungshilfe stammen. Und er droht mit der Streichung dieser Hilfe, wenn gegen die Regierung protestiert wird.

Welche Rolle spielt Alejandro Toledo bei der Organisation des Widerstands?

Alejandro Toledo hat in den letzten Monaten einen unglaublichen Aufstieg erlebt. Alle demokratischen Kräfte im Land unterstützten ihn bei den Wahlen. Er ist der Kopf der demokratischen Bewegung, und er versteht es, die Menschen zu mobilisieren. Am Wahlabend brachte er über 60.000 Demonstranten in Lima zusammen. Toledo steht auch für die Gewaltfreiheit des Widerstands. Das ist ein wichtiger Punkt, denn das Trauma des Bürgerkriegs mit dem Leuchtenden Pfad ist noch nicht überwunden.

Was ist vom neu gewählten Parlament zu erwarten? Die Opposition hat dort die Mehrheit und könnte die Präsidentschaft als vakant erklären.

Ich erwarte nichts vom Parlament. Die Regierung wird versuchen, Abgeordnete der Opposition zu kaufen. Erste Bestechungsversuche sind schon vor der Zusammenkunft des neuen Parlaments bekannt geworden.

Vorläufiger Höhepunkt des Widerstands gegen Fujimori soll eine machtvolle Demonstration am 28. Juli sein, wenn die neue Regierung vereidigt wird.
Toledo hat angekündigt, er wolle vier Millionen Menschen aus dem ganzen Land mobilisieren. Ist diese Zahl realistisch?

Nein, das ist sie nicht. Ich rechne mit gut 100.000 Teilnehmern. Geplant ist ein nationaler Marsch aus verschiedenen Richtungen auf Lima vom 26. bis zum 28. Juli. Die Vereidigung Fujimoris muss verhindert werden.

Was erwarten Sie sich von Ihrem Aufenthalt in Deutschland?

Der Wahlbetrug ist keine innere Angelegenheit Perus. Die Globalisierung darf nicht bei der Wahrung der Menschenrechte und dem Aufbau demokratischer Strukturen Halt machen. Insofern wäre es wünschenswert, dass sich auch die Bundesregierung einmischt. Nur wirtschaftliche Sanktionen wollen wir nicht. Ansonsten versuche ich Unterstützung für die demokratische Bewegung in Peru zu bekommen. Dabei geht es nicht nur um finanzielle Aspekte. Auch moralische Unterstützung aus der Solidaritätsbewegung ist wichtig.

Wie schätzen Sie die Überlebenschancen der Regierung Fujimori ein? Es gibt Gerüchte, Fujimori könnte unter Druck zurücktreten und seinem Stellvertreter Francisco Tudela die Präsidentenschärpe überreichen. Wäre damit dem Widerstand die Spitze genommen?

Der eigentlich mächtige Mann hinter Fujimori ist der Geheimdienstchef Vladimiro Montesinos. Er ist der Gründer der Todesschwadron „Colina“, die für Morde und Massaker verantwortlich zeichnet. Alle Peruaner wissen: Es geht um eine Gruppe an der Macht, zu der auch die Armeespitze gehört. Der Präsident ist innerhalb dieser Gruppe austauschbar. Deshalb täte ein solcher Wechsel dem Widerstand keinen Abbruch. Tudela, ein Repräsentant der weißen Oberschicht, hätte außerdem in den pueblos jóvenes weniger Chancen als Fujimori. Wie lange die Regierung überlebt, kann ich nicht voraussagen. Vielleicht ein paar Wochen, vielleicht bis Weihnachten, vielleicht aber auch länger.

Warum klammert sich die Regierung Fujimori derart an die Macht?

Die Regierung und die Spitze der Armee sind in zahlreiche Korruptionsskandale verwickelt. Montesinos verbucht beispielsweise auf einem seiner Konten im Laufe eines Jahres Einnahmen von 2,6 Millionen US-Dollar. Im Übrigen hat sich herumgesprochen, dass Verbrechen verantwortlicher Politiker auch international verfolgt werden. Vor allem Montesinos muss mit diversen Anklagen rechnen.

Kasten: Judaslohn für Abgeordnete

Die peruanische Regierung auf dem Weg zur Parlamentsmehrheit

Präsident Fujimori zog seinen Wahlschwindel unter internationaler Beobachtung nicht bis zur letzten Konsequenz durch. Bei den Parlamentswahlen erreichte seine Liste Perú 2000 nur 52 von 120 Sitzen. Die Regierungsmafia ist dabei, diesen Schönheitsfehler auszubügeln. Koste es, was es wolle.

Luis Cáceres Velásquez gibt offen zu, ein Bewunderer Hitlers zu sein. Doch bei den peruanischen Parlamentswahlen entschied sich der Politiker für eine Kandidatur auf der Liste eines religiösen Führers – der des rauschebärtigen Predigers Ezequil Ataucusi. Cáceres und sein Sohn Róger Cáceres Pérez waren die einzigen Kandidaten auf der Liste der Gottesfürchtigen, die auch gewählt wurden. Aber leider ist Luis Cáceres vorbestraft, weil er einst als Bürgermeister der Stadt Arequipa Krankenwagen unterschlug, die in seiner Kommune als Spende eingegangen waren. Deshalb annullierte das oberste peruanische Wahlgremium JNE seine Wahl. Nun entschied sich Cáceres zu einem Fahnenwechsel und schloss sich gemeinsam mit seinem Sohn Fujimoris Liste Perú 2000 an, die aufgrund der Fälschung von einer Million Unterschriften zur Wahl zugelassen wurde (vgl. LN 310).
Luis Cáceres hatte richtig kalkuliert. Er wurde postwendend vom obersten Gerichtshof begnadigt. Sein erst wenige Jahre zurückliegendes Verbrechen wurde für verjährt erklärt. Mithin annullierte auch das JNE seine Entscheidung und gab Cáceres seinen Abgeordnetensitz zurück. Der glückliche Abgeordnete versprach, noch weitere Oppositionskandidaten für Fujimoris Liste zu werben.
Ob Cáceres zusätzlich Geld von der Regierungsmafia kassiert hat, ist unbekannt. Doch fünf gewählte Oppositionsabgeordnete gaben zu, ein konkretes Angebot für einen Wechsel ins Regierungslager erhalten zu haben. Ein künftiger Abgeordnete für Toledos Parlamentsgruppe Perú Posible, Leoncio Torres, nannte konkrete Zahlen: Sein Judaslohn sollte 50.000 US-Dollar auf die Hand und noch mal 10.000 US-Dollar monatlich betragen. Torres lehnte ab. Andere gaben zu, dass ihnen Filetgrundstücke in den besseren Zonen Limas angeboten wurden.
Wie dem auch sei, fest steht, dass einen Monat vor Beginn der neuen Legislaturperiode am 28. Juli mit Vater und Sohn Cáceres bereits acht gewählte Oppositionsabgeordnete definitiv ins Regierungslager übergewechselt sind. Damit gäbe es im Parlament eine Pattsituation. Doch es kann davon ausgegangen werden, dass Fujimori und sein Geheimdienstchef Montesinos ihre Überzeugungsarbeit erfolgreich fortsetzen werden. Im Interesse einer stabilen Regierung.

Totengesänge auf die Demokratie

Zehn Tage vor der Stichwahl am 28. Mai gab Alejandro Toledo (siehe Foto) auf. Vor Tausenden seiner Anhänger erklärte er, nur antreten zu wollen, wenn der Wahltermin um drei Wochen verschoben würde. Über den Platz, auf dem Toledo seine Kundgebung abhielt, zog ein Trauerzug. Schwarz gekleidete junge Frauen und Männer reckten Kreuze empor und ließen einen Sarg von Schulter zu Schulter wandern. Sie stimmten Totengesänge auf die Demokratie an.
Der Totengräber heißt Alberto Fujimori und schaufelt schon seit Jahren. Am Donnerstag vor den Wahlen vollendete er sein Werk und setzte zum letzten Spatenstich an. Die oberste Wahlinstanz JNE lehnte an diesem Tag mit 3:2 Stimmen eine Verschiebung des Wahltermins ab. Toledo rief derweil dazu auf, entweder die Wahlzettel mit der Parole „No al fraude“ – „Nein zum Betrug“ zu beschriften oder der Abstimmung fern zu bleiben. Bei einem einzigen verbleibenden Kandidaten war es nun nicht mehr schwer, den Wahlsieger vorherzusagen. Nur Absalón Vasquez, die Nummer eins auf Fujimoris Wahlliste Perú 2000, wollte nicht den Propheten spielen. Aber er sei optimistisch, so betonte er zwei Stunden vor Schließung der Wahllokale, dass Fujimori eine breite Mehrheit erhalten werde.
Der Kandidat siegte mit stolzen 74,6 Prozent. Rechnet man die ungültigen Stimmen, die laut vorläufigem offiziellem Endergebnis der Wahlbehörde ONPE etwa 31,5 Prozent ausmachten, hinzu, entfielen auf Fujimori nur noch 51,1 Prozent der Stimmen. Immerhin 17,4 Prozent entfielen auf Toledo, dessen Name trotz eines entsprechenden Antrags nicht von den Wahlzetteln gestrichen worden war. Die Zahl der NichtwählerInnen wurde auf 18,2 Prozent geschätzt. Das ist der höchste Anteil, der je in der Geschichte peruanischer Präsidentschaftswahlen registriert wurde, denn es gibt eine Wahlpflicht. Vergeblich ließ Fujimori kurz vor dem Urnengang einen Sprecher der Wahlbehörde ONPE scharfe Geschütze auffahren, um die Zahl der Boykotteure in Grenzen zu halten. Wer nicht zur Wahl ginge, so wurde angekündigt, der müsse eine Geldstrafe von umgerechnet 32 US-Dollar zahlen. Das ist eine Summe, die für viele PeruanerInnen fast an ihren Monatsverdienst heranreicht. Der ONPE-Sprecher drohte NichtwählerInnen zudem mit einem Ausschluss aus der staatlichen Sozialversicherung und stellte in Aussicht, ihnen den Zugang zum öffentlichen Dienst oder die Ausstellung eines Reisepasses zu verwehren.

Rechentricks und schwarze Löcher

Die Resultate zeigen deutlich, dass Fujimori in fairen Wahlen die absolute Mehrheit der Stimmen verfehlt hätte. Zumal nach den Erfahrungen der ersten Wahlrunde vom 9. April die von der ONPE bekanntgegebenen Zahlen mit hoher Wahrscheinlichkeit gefälscht sind. Denn immer noch verschleppt die Wahlbehörde aufgrund diverser Reklamationen die offizielle Bestätigung der Resultate der Parlamentswahlen. Die Ergebnisse der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen wurden von der Opposition nur deshalb nicht angefochten, weil sie wegen der Stichwahl ihre Bedeutung verloren hatten. Doch es bleibt verdächtig, dass Fujimori überall dort, wo weder Vertreter der Opposition noch Wahlbeobachter anwesend waren, mit durchschnittlichen 58 Prozent ein Ergebnis erzielte, das deutlich über die absolute Mehrheit hinausging. Zudem kann die ONPE bis heute nicht erklären, warum fast eine Million mehr angekreuzte Wahlzettel als Wahlberechtigte erfasst wurden. Das ist allerdings im Peru Fujimoris nicht weiter schlimm, denn die Regierung hatte bereits rechtzeitig ein Gesetz verabschiedet, dem zufolge auch in einem solchen Fall gezählt werden darf.
Unvergessen bleibt, wie die ONPE Fujimori nach dem ersten Wahlgang fast zum Sieg gerechnet hätte. Dieses Vorhaben wurde unter anderem von der unabhängigen Organisation Transparencia vereitelt, deren Hochrechnungen den Präsidenten deutlich unter der 50-Prozent-Marke sahen. Zur jetzigen Stichwahl zog sich Transparencia ebenso zurück wie die internationalen Beobachter der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und des US-amerikanischen Carter-Centers. Die Rechenkunst der ONPE konnte sich also ungestört auf ihrem höchsten Niveau entfalten.
Toledo hatte seine Teilnahme an der Stichwahl klipp und klar an drei Bedingungen geknüpft. An erster Stelle stand der Rücktritt des Führungspersonals der ONPE. Zweitens sollte eine unabhängige Ethikkommission darüber wachen, dass die Sensationspresse und verschiedene Fernsehsender auf Lüge, Hetze, Hohn oder Spott als Mittel der politischen Auseinandersetzung verzichteten. Schließlich bestand Toledo auf einem gleichberechtigten Zugang zu den Medien (siehe LN 309/310). Fujimori ging nicht auf eine einzige Bedingung ein. Dennoch fiel Alejandro Toledo die Entscheidung schwer, seine Kandidatur zurückzuziehen. Aber er musste einsehen, dass er unter diesen Bedingungen keine Chance gegen Fujimori hatte.
Eduardo Stein, der oberste Wahlbeobachter der OAS, erleichterte Toledo seinen Rückzug. Stein hatte die Computerprogramme der Wahlbehörde ONPE getestet, die bei der Auszählung der Stimmen am kommenden Sonntag eingesetzt werden sollten. Dabei musste er feststellen, dass bei der Eingabe von Testergebnissen Teile der Datenbank und die Namen der zugelassenen Programmbenutzer gelöscht wurden. Stein sprach von einem schwarzen Loch im Computer der ONPE und bezweifelte, dass sich diese Probleme bis zum Wahlsonntag lösen ließen. Er forderte als erster eine Verschiebung der Wahlen. Toledo brauchte sich ihm nur noch anschließen.

Philippinen, Indonesien, Peru?

Fujimori befindet sich mit seinem Wahlcoup in illustrer Gesellschaft. Wahlen mit nur einem Kandidaten haben vor ihm unter anderen schon die altbekannten Diktatoren Stroessner, Marcos und Suharto zelebriert. Diese wurden entweder von einem Putsch oder von Volksaufständen hinweggefegt. Der peruanische Präsident steht mit dem Rücken zur Wand. Institutionen wie die OAS, das Carter-Center oder Transparencia hatten sich unmissverständlich für eine Verschiebung der Wahlen eingesetzt. Alle drei zogen ihre Beobachter vor dem Urnengang zurück, weil sie mit der Wahlfarce nichts zu tun haben wollten. Die OAS könnte in den kommenden Wochen sogar Sanktionen gegen die peruanische Regierung beschließen. Das US-Außenministerium erklärte die Wahlen für ungültig und Fujimoris Präsidentschaft für nicht mehr legitim.
Am Wahltag waren im ganzen Land weit über hunderttausend Menschen unterwegs, um gegen den Wahlbetrug zu demonstrieren. Auf der Kundgebung Alejandro Toledos in Lima forderten allein 80.000 ein Ende der Diktatur. Der Oppositionsführer verglich sich mit Mahatma Gandhi und Corazón Aquino. Er hofft noch immer auf eine dritte Wahlrunde und kündigte weitere Protestwellen in allen wichtigen Städten an. Als Toledo gewaltlose Proteste anmahnte, schallte ihm ein lautes „Noooooooo“ entgegen. Die Stimmung ist explosiv. In der Andenstadt Huancayo wurde das Gebäude der spanischen Telekommunikationsfirma Telefónica in Brand gesteckt, die nach der Privatisierung des Telefonsektors das staatliche Monopol übernahm. Fujimori ließ seine Polizei mit Tränengas, Schlagstöcken und Wasserwerfern gegen die Demonstranten vorgehen. Vorläufige Bilanz des Wahlabends: 130 Verletzte und 450 Festnahmen.
Das Fernsehen ignorierte die Protestkundgebungen gegen Fujimori mit Ausnahme von zwei Kabelkanälen. Es wurden Spielfilme gezeigt oder die neuesten Hochrechnungen der ONPE eingeblendet, die darüber Auskunft gaben, ob Fujimori nun bei 74 oder 75 Prozent lag. Selbstverständlich waren die Fernsehkameras auch bei der programmierten Jubelfeier der Fujimori-Anhänger in Lima dabei. Sie warteten allerdings vergeblich auf den angekündigten Wahlsieger, denn der traute sich an diesem Abend nicht an die frische Luft.
Besonders an den Universitäten, in denen seit Anfang der 90er-Jahre Grabesruhe herrschte, scheint sich eine neue Protestbewegung zu formieren. „Se acabó el miedo“ – „Wir haben keine Angst mehr“ war während der Demonstrationen auf verschiedenen Plakaten zu lesen. Für Martha Chávez, der ehemaligen Parlamentspräsidentin Fujimoris, sind die aufsässigen Studierenden zum Großteil Terroristen. Und die gehören ihrer Meinung nach ins Gefängnis. Doch Tausende Unschuldiger sind in der Ära Fujimori genau dort reingewandert, weil sie des Terrorismus angeklagt wurden.
Spannungen sind auch im neu gewählten Parlament garantiert, dessen Legislaturperiode am 28. Juli beginnt. Dort hat Fujimori die absolute Mehrheit deutlich verfehlt. Die Abgeordneten könnten mit einfacher Mehrheit die Präsidentschaft als vakant erklären oder ein Referendum für neue Wahlen in die Wege leiten. Natürlich wird Fujimori das zu verhindern suchen und rechtzeitig die Gesetze ändern, Abgeordnete der Opposition bestechen oder gar das Parlament auflösen. Aber er läuft jetzt Gefahr, mit jeder seiner Maßnahmen neue Protestwellen auf den Straßen auszulösen.

Die Regierungsmafia

Große Teile der Opposition schöpften mit dem Aufstieg des Alejandro Toledo neue Hoffnungen. Doch die Regierungspolitik der letzten Monate ließ keine Zweifel aufkommen: Fujimori und seine rechte Hand, der Geheimdienstchef Vladimiro Montesinos, sind gewillt, die Macht um jeden Preis zu halten. Beide müssten nämlich fluchtartig das Land verlassen, wenn sie die Kontrolle über die von ihnen gleichgeschaltete Justiz verlören. Anstiftung zum Mord, Folter, Wahlfälschung, illegale Bereicherung, Korruption, Drogenhandel oder Betrug wären nur einige der Anklagen, denen sie und ihre Helfershelfer sich zu stellen hätten.
Allein die Verbrechen des Vladimiro Montesinos würden eine unabhängige Justiz über Jahre beschäftigen. Zunächst verdient der ehemalige Major nicht schlecht: Im Dezember 1999 konnte die Zeitung Liberación nachweisen, dass auf einem einzigen Konto des Geheimdienstchefs pro Jahr etwa 2,6 Millionen US-Dollar gutgeschrieben wurden. Montesinos gilt als Gründer der paramilitärischen Todesschwadron „Colina“. Die ermordete 1992 neun Studenten und einen Dozenten der Universität „La Cantuta“ und steht im Verdacht, ein Jahr zuvor in Barrios Altos, einem Stadtviertel von Lima, fünfzehn Menschen massakriert zu haben. Wer sich mit Montesinos anlegt, lebt gefährlich. Das erfuhr Demetrio Chávez, einer der bekanntesten Drogenbosse in Peru, am eigenen Leibe. Er gestand, monatlich 50.000 US-Dollar an Montesinos gezahlt zu haben, um einen Landeplatz für seine Flugzeuge im Dschungel zu erhalten. Dafür wurde er in Isolationshaft gesteckt und so gefoltert, dass er wohl nie wieder aussagen kann.
Das vorerst letzte Opfer von Montesinos Schergen ist Fabián Salazar, Journalist der Oppositionszeitung República. Salazar befand sich im Besitz von Videobändern, auf denen Gespräche zwischen dem Geheimdienstchef und dem Vorsitzenden des angeblich unabhängigen Wahlgremiums JNE, Alipio Montes de Oca, aufgezeichnet waren. Wenige Tage vor der Stichwahl am 28. Mai wollte Salazar sein brisantes Material veröffentlichen. Doch er wurde überfallen. Mit einer elektrischen Säge zertrennten ihm die Täter mehrere Sehnen seiner Hand und verschwanden mit den Bändern.
Alberto Fujimori steht an der Spitze der Regierungsmafia. Doch er ist auch ein äußerst geschickter Politiker, der nicht unterschätzt werden darf. Er wäre nie an die Macht gekommen, wenn der Sendero Luminoso in den achtziger Jahren nicht eine lange Blutspur durch das Land gezogen hätte. An den Wahlergebnissen ist zu erkennen, dass Fujimori zwar nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hat, aber immer noch einen großen Teil. Das verdankt er in erster Linie seiner Kontrolle über die Medien, in denen er sich ausgezeichnet verkauft. Die Bevölkerung ist in zwei Lager gespalten. Es bleibt zu hoffen, dass ein angeschlagener Fujimori seine Anhänger künftig nicht gegen seine Gegner aufhetzt.

KASTEN:
Offener Brief an BAYER AG

Die Informationsstelle Peru e.V. und das peruanische Instituto de Defensa Legal (Ideele) befürchten, dass ein Pestizid der BAYER AG für den Tod von 24 Kindern in Tauccamarca/Peru verantwortlich ist. Die beiden Initiativen wenden sich mit einem Offenen Brief an die deutsche BAYER AG und an die peruanische Niederlassung. Darin fordern sie eine würdige Entschädigung für die Hinterbliebenen, die Übernahme der Behandlungskosten für die Überlebenden und eine Stellungnahme des Konzerns.
Nach Angaben beider Stellen weist vieles darauf hin, dass es sich bei dem Pestizid um Parathion handelt. Dieses Mittel wird in Peru von der Firma BAYER unter dem Namen Folidol verkauft; in Deutschland ist das Pestizid unter dem Namen E 605 erhältlich.
Die Kinder wurden am 22. Oktober 1999 mit einem Pestizid vergiftet. Weitere 22 Kinder überlebten mit schweren inneren Verletzungen. Folidol wird in Peru ohne Kontrolle auf den Märkten verkauft. Die meisten Bauern und Bäuerinnen können die Gebrauchsanweisungen nicht lesen, da sie Analphabeten sind.
Die Informationsstelle Peru vertritt die Meinung, dass das Unternehmen BAYER diese Tatsachen nicht ignorieren kann, obwohl die Verantwortung dafür, dass das Pestizid bisher nicht verboten wurde, der peruanische Staat hat. BAYER muss die Verantwortung für die Konsequenzen übernehmen, die der Verkauf des Produktes in Peru mit sich bringt.
Die Informationsstelle Peru ist überzeugt davon, dass der Verkauf von Folidol in Peru und anderen Ländern, in denen dieselbe Gefahr für Menschenleben besteht, eingestellt werden sollte.
Nähere Information bei der Informationsstelle Peru e.V., Tel. 0761-7070840
Elena Muguruza, Frank Esche
Gartenstr. 8/1
D-71701 Schwieberdingen
Muguruza.Esch@t-online.de

Das Schiff ohne Besatzung

Toilettenpapier scheint in Kolumbien eine ganze Stange Geld zu kosten. Jedenfalls dann, wenn der Präsident des Abgeordnetenhauses Armando Pomárico einkaufen geht. Dieser gab gleich 49.119 Dollar dafür aus. Doch nicht nur das stand auf seiner Einkaufsliste: In nur zwei Tagen unterschrieb er ganze 62 gefälschte Verträge über 2,8 Millionen Dollar, die er aus der Staatskasse bezahlte. Ein neues Bad war da ebenso enthalten wie eine ausgedehnte Millenniumsfeier.
Dieser Fall von Korruption gehört zu einer ganzen Reihe von Skandalen, denen die kolumbianische Generalstaatsanwaltschaft seit dem 17. März nachgeht. Über ein dutzend Senatoren und Abgeordnete wurden bisher in Untersuchungshaft genommen. Mittlerweile vermuten die Ermittler Unregelmäßigkeiten von über elf Millionen Dollar. Ungewöhnlich sind diese Fälle nicht, schließlich gehört der kolumbianische Staatsapparat zu einem der korruptesten auf dem ganzen Kontinent. Überraschend aber war die darauf folgende politische Krise zwischen Regierung und Kongress, die Anfang April begann, teils groteske Züge angenommen hat und ein fast typisch kolumbianisches Ende nahm.

Eine ausgewachsene Krise

Als Reaktion auf die Nachforschungen der Ermittler kündigte der konservative Präsident Andrés Pastrana am 30. März ein Referendum gegen die Korruption und für eine Reform des Kongresses an. Dabei sollten unter anderem die 267 Sitze im Kongress auf 170 dezimiert werden, die Lohn- und Rentenprivilegien der Abgeordneten abgeschafft und das Finanzgebahren der Beamten stärker kontrolliert werden. Als Datum war der 16. Juli geplant.
Einige Tage später, als die Regierung den Referendumsentwurf dem korruptionsgeplagten Kongress vorlegte, wurde den Abgeordneten bewusst, dass damit auch eine vorzeitige Auflösung von Senat und Abgeordnetenhaus und eine Neuwahl beabsichtigt waren. “Ein Schritt in Richtung einer Diktatur”, nannte es Horacio Serpa erzürnt, Kopf der Liberalen Partei und unterlegener Konkurrent von Pastrana bei den Präsidentschaftswahlen vor zwei Jahren.
Und dieser Schuss von Pastrana ging auch gleich nach hinten los: Um regierungsfähig zu sein gegen die liberale Mehrheit im Kongress, muss sich Pastrana seit seinem Amtsantritt 1998 auf seine so genannte Große Allianz für den Wandel stützen. Diese besteht neben den Abgeordneten seiner Konservativen Partei aus unabhängigen Abgeordneten und Abtrünnigen der Liberalen Partei. Letztere scherten nun aus, da das Referendum als ein Angriff gegen die Liberalen gewertet wurde und man persönliche Vorteile in Gefahr sah. Politik war in Kolumbien somit vorerst gelähmt, da Mehrheiten für Gesetzesentwürfe der Regierung blockiert waren.
Also besannen sich die Befürworter des Referendums auf das Gesetz 134 von 1994, mit dem sie die Abgeordneten unter Druck setzen wollten. Dieses erlaubt es, durch eine Unterschriftensammlung von zehn Prozent der eingetragenen Wähler das Referendum auch durchzuführen, wenn der Kongress den Entwurf ablehnt. Bei über 90 Prozent Zustimmung bei der Bevölkerung sah man keine Schwierigkeiten. In der zweiten Aprilwoche begann die Unterschriftensammlung.
Was Pastrana aber scheinbar bis dahin nicht gewusst hat: Die Wähler wollen nicht nur einen neuen Kongress, sondern gleichzeitig einen neuen Präsidenten. Die Zustimmung für Pastranas Politik erreichte im April mit 29 Prozent einen Tiefststand. Die Wirtschaft erholte sich schließlich bisher kaum von ihrem Einbruch aus dem letzten Jahr und die Arbeitslosenrate lag weiterhin bei über 20 Prozent. Das rief wiederum die Liberalen auf den Plan. Diese sahen nun ihre Chance, den Wahltermin komplett um ein Jahr auf das Jahr 2001 vorzuziehen. Also wurde ein eigener Entwurf für ein Referendum ausgearbeitet, das dem der Regierung entgegengestellt wurde und generelle Neuwahlen vorsah. Die Idee einer Reform des politischen Systems und der Korruptionsbekämpfung wurde nun – ob von Pastrana ernst gemeint oder nicht – zur Waffe, um sich eigene Vorteile zu erstreiten und sich gegenseitig zu demontieren.
Um gleichfalls Druck auszuüben, nahm der Kongress Mitglieder der Regierung ins Visier und leitete Misstrauensabstimmungen ein. So musste am 3. Mai Gesundheitsminister Virgilio Galvis seinen Hut nehmen. Er machte dubiose Verträge mit einer Klinik, deren Teilhaber er war. Kurz danach folgte der Generalsekretär des Präsidenten Juan Hernández, der seinen Einfluss für die Kleidungsfirma seiner Frau geltend machte. Dritter in der Reihe war der Innenminister Néstor Humberto Martínez am 9. Mai. Daraufhin wurde spekuliert, wer als nächstes in welcher Reihenfolge seinen Rücktritt ankündigen würde.
Nun war die Krise komplett für Pastrana. Er nahm den Entwurf aus dem Kongress, um ihn durch die Unterschriften durchzusetzen. Er bezichtigte die liberalen Abgeordneten, Chaos und Anarchie zu schaffen. “Der Kongress akzeptiert nicht den Wechsel”, den er sich 1998 ins Wahlprogramm geschrieben hat.

Einigung nach altem Vorbild

Die Auswirkungen des Konflikts blieben nicht aus, besonders wirtschaftlich. Die Finanzmärkte reagierten gereizt und der Peso verlor gegenüber dem US-Dollar über sieben Prozent an Wert im Zeitraum April/Mai. Um an einen vereinbarten 2,7 Milliarden Dollar-Kredit vom IWF zu kommen, mussten wichtige Reformen verabschiedet werden, die aber im Kongress blockiert wurden. So wurde Präsident Pastrana immer mehr von allen Seiten attackiert. “Seine langfristige Politikplanung reicht nur für die nächsten zwei Stunden”, so der Gewerkschaftsführer Luis Garzón. Die unabhängige Abgeordnete und ehemalige Präsidentschaftskandidatin Noemí Sanín behauptete, Pastrana halte an “den alten, klientelistischen Praktiken fest”.
So kam es denn auch. Wie schon des öfteren in der rund 150-jährigen Geschichte der beiden dominierenden Parteien einigte man sich auf einen Konsens, wenn man in einer zu großen Krise steckt. Am 26. Mai erklärte Pastrana, dass er die Idee einer vorzeitigen Auflösung des Kongresses zurücknehmen und das Referendum vorerst ad acta legen will, um zunächst wichtigere Dinge in Angriff zu nehmen. Die Liberalen stimmten zu und nahmen ihren Referendumsentwurf ebenfalls zurück.
Dagegen verraten fühlten sich die unabhängigen Vertreter, die das Referendum des Präsidenten unterstützten. “Das ist eine neue Nationale Front, die die unabhängigen Kräfte aus dem Prozess ausschließt”, so der Politikwissenschaftler Francisco Leal. Die Nationale Front wurde als Reaktion auf die violencia in den 50er Jahren und den Machtverlust durch eine Militärdiktatur geschaffen. Man einigte sich ab 1957 auf ein Rotationsprinzip bei den Posten bis hin zum Präsidenten. Diese Nationale Front existierte offiziell bis 1974, aber an dem Grundprinzip des Zweiparteiensystems von Liberalen und Konservativen hat sich kaum etwas geändert.
So ohne weiteres ließ sich die Idee des Referendums aber nicht von der Tagesordnung streichen. Eine Gruppe von acht unabhängigen Abgeordneten protestierte gegen die Entscheidung und kündigte an, die Unterschriftensammlung weiter zu verfolgen. Sie gehen davon aus, dass sie bis Anfang Juni die benötigten 2,1 Millionen Unterschriften zusammenbekommen, um das Referendum und die gewünschte Auflösung des Kongresses durchführen zu können.

Friedensprozess im “Urlaub”

Dass Pastrana im Mai die Kontrolle verlor, bekam auch der Friedensprozess mit den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) zu spüren. Nach einem makabren Mordanschlag durch eine “Halskettenbombe” an einer 56-jährigen Bäuerin, der am 15. Mai stattgefunden hatte, verkündeten der neue Friedensbeauftragte der Regierung Camilo Gómez und der Präsident eine Unterbrechung der Gespräche. Unbekannte hatten der Frau eine “Halskettenbombe” mit Zeitzünder angelegt und sie erpresst, binnen weniger Stunden 7.500 US-Dollar Lösegeld aufzutreiben. Die Bombe explodierte während der Entschärfung, neben der Frau kam ein Sprengstoffexperte dabei ums Leben.
In ungewöhnlich scharfem Tonfall machte Pastrana daraufhin die Guerilla dafür verantwortlich, obwohl der Vorfall noch immer nicht aufgeklärt ist. Die Regierung gestand mittlerweile zu, dass die Unschuld der FARC immer offensichtlicher wird. Trotzdem blieb der Friedensprozess en receso – im Urlaub, wie die kolumbianischen Zeitungen titelten. Die FARC bestritten sofort energisch eine Verantwortung für diese Bluttat und verurteilten die Urheber. Sie nannten den Mord einen “ersten Anschlag auf die Verhandlungsrunde”. Die Schuldigen liegen ihrer Ansicht nach in Kreisen, die den Friedensprozess behindern wollen. Gemeint sind sowohl ultrarechte Paramilitärs als auch Militärkreise. Zudem war zu diesem Zeitpunkt bereits seit zwei Monaten keine Guerillaeinheit mehr in dieser Gegend gewesen.
Es ist das erste Mal, dass der 18-monatige Friedensprozess von Regierungsseite unterbrochen wurde. Im Januar 1999 wurde dieser von den FARC ausgesetzt, weil die Paramilitärs zu Beginn der offiziellen Gespräche das Land mit einer Gewaltwelle überzogen hatten. Über 150 Zivilisten waren in kürzester Zeit bei Massakern ums Leben gekommen. Die Entscheidung Pastranas hat verschiedene Ursachen. Zum einen haben die FARC mit einer Art “paralleler Gesetzgebung” Beschlüsse gefasst, die der kolumbianischen Oberschicht den Schweiß auf die Stirn treiben. Das “Gesetz 002” etwa droht allen Dollarmillionären im Land direkt mit Entführung und Erpressung, sollten sie nicht freiwillig eine Steuer an die Guerilla zahlen. Dieses Thema will Pastrana bei neuerlichen Gesprächen behandelt wissen. Kurioserweise passte der Anschlag dafür wie die Faust aufs Auge.

Europa mischt sich ein

Größeres Aufsehen aber hat die fragwürdige Regierungsentscheidung erregt, ein internationales Treffen über Drogensubstitution und Umweltfragen abzusagen. 22 Länder, überwiegend europäische, unter der Schirmherrschaft von Norwegen und Spanien, wollten sich am 29. Und 30. Mai mit Regierungsvertretern und den FARC am Verhandlungstisch treffen, um über friedliche Wege der Drogenbekämpfung zu sprechen. Eine italienische Kommission hatte sich kurz darauf eingeschaltet, um zu vermitteln. “Wir wollen keine Internationalisierung des Konflikts und noch weniger eine Militarisierung”, sagte Marco Pezzoni, Abgeordneter im Europaparlament. Die Befürchtung scheint nun auch bei den Europäern zu wachsen, dass es durch US-Milliardenhilfen für den Plan Kolumbien zur Aufrüstung des kolumbianischen Militärs für den “Antidrogenkampf” kommt (siehe LN 308, 310).
Die Abstimmung dazu im US-Senat verzögert sich allerdings weiter. Nachdem keine Mehrheit abzusehen war, hat eine Senatskommission Kürzungen in Höhe von etwa 300 Millionen US-Dollar vorgenommen. Dagegen hat die US-Regierung protestiert. Außenministerin Madeleine Albright drohte am 17. Mai gar mit einem Veto des Präsidenten, sollte nicht das ursprüngliche Paket verabschiedet werden. Sie sieht “nationale Interessen” bedroht. Der “Anti-Drogenzar” Barry McCaffrey äußerte gegenüber der Zeitung El Colombiano, dass das Finanzpaket in der ersten Juniwoche abgestimmt werden soll.
Vor diesem Hintergrund würde es nicht verwundern, wenn der angeschlagene Präsident Pastrana das Treffen über Drogensubstitution bewusst verzögern wollte. Ihm wäre es lieber, erst die Milliarden aus den USA für sein Militär einzusacken und dann das internationale Treffen abzuhalten. Dessen scheinen sich die FARC bewusst zu sein und kommen der Regierung ungewöhnlich entgegen. Sie haben angekündigt, dass sie bereit sind, über Erpressung und Entführung zu reden. Und nicht nur das: erstmals besteht die Aussicht auf einen ausgehandelten Waffenstillstand. Ende Mai gab es wieder nach fast zwei Wochen ein Treffen zwischen den Konfliktparteien. Als neuer Termin für das internationale Treffen wurden der 29. und 30. Juni genannt. Mal sehen, ob nicht wieder etwas dazwischen kommt.

Zwischen Referendum und Constituyente

Im Kampf Alemáns gegen seinen schärfsten und populärsten Gegenspieler, den Rechnungshofpräsidenten Agustín Jarquín, hatte letzterer zunächst einen Erfolg verbucht: Am 24. Dezember wurde er aus dem Gefängnis freigelassen, wohin ihn der Druck des Staatschefs auf die Justiz einen Monat zuvor gebracht hatte. Das Berufungsgericht hatte die Klage gegen Jarquín, Danilo Lacayo und Néstor Abaunza aufgehoben, da die der Klage zugrunde liegenden angeblichen Vergehen unklar typifiziert waren. Zur Erinnerung: Jarquín war beschuldigt worden, dem Journalisten Danilo Lacayo unter falschem Namen – unter dem Decknamen „Ramón Parrales“ – Honorare ausbezahlt zu haben, damit dieser Beweise für die Korruption der Alemán-Regierung sammle.

Der Kampf ums Referendum

Bereits einen Tag nach der Entlassung aus dem Gefängnis forderte Jarquín Nicaraguas Nationalversammlung dringend auf, über die von der Sandinistischen und der Liberalen Partei eingebrachten Verfassungsänderungen (den „Pakt“) ein Referendum durchzuführen.
Jarquín wies darauf hin, dass das Referendum eine Maßnahme ist, die „in der Verfassung vorgesehen und im Wahlgesetz definiert ist“. Obwohl die FSLN und Alemáns Liberale Partei behaupten, dass die Verfassungsänderungen der Bevölkerung zugute kommen, betonte der Rechnungshofpräsident, alle Meinungsumfragen würden zeigen, dass die Mehrheit der Bevölkerung diese Reform ablehnt.
Vizepräsident Enrique Bolanos lehnt ein solches Referendum mit dem Hinweis auf die enormen Kosten ab. „Außerdem“, fügte er hinzu, „wählen wir in einem demokratischen Verfahren Abgeordnete in die Nationalversammlung und ermächtigen sie, Gesetze zu machen, die wir befolgen müssen. Es geht nicht, dass jedes Mal, wenn jemand mit einem Gesetz nicht einverstanden ist, er oder sie versucht, es zu ändern. Ein Referendum würde das demokratische Verfahren unterminieren.“
Jarquín gab bei der Präsentation seines Vorschlags zu, dass die Zeit drängt. „Wir müssen uns beeilen. Die Nationalversammlung tritt am 10. Januar wieder zusammen, und die Verfassungsänderungen werden Punkt eins der Tagesordnung sein.“ Der Antrag auf die Verfassungsreform war bereits im vergangenen Herbst von der Legislative verabschiedet worden; um Rechtsgültigkeit zu erlangen, mußte er aber in der neuen Legislaturperiode, die am 10. Januar begann, neuerlich gebilligt werden.
Diese schicksalhafte Abstimmung fand am 20. Januar statt: Im Abgeordnetenhaus wurde das „Gesetz der teilweisen Reform der politischen Verfassung Nicaraguas“ – der „Pakt“ – mit 70 Pro- bei 12 Gegenstimmen angenommen.
„Rette sich, wer kann!“ war die Reaktion der sandinistischen Abgeordneten Mónica Baltodano, eine der wenigen, die sich von Anfang an gegen dieses Abkommen der zwei Großparteien gewendet hatte. Dieser Pakt habe der sandinistischen Partei großen Schaden zugefügt, und die zustimmenden Abgeordneten hätten sich des „politischen Betrugs“ schuldig gemacht, so Baltodano. „Als Vertreterin der FSLN beklage ich aufrichtig diese Entscheidung und muß mich ihr entgegenstellen, da sie zutiefst meiner Partei schadet“, kommentierte die langjährige sandinistische Kämpferin.

Neues Wahlgesetz

Am 20. Januar passierte auch die Reform des Wahlgesetzes das Parlament und ist somit rechtskräftig. Damit dürften zahlreiche Kleinparteien in der nächsten Zeit von der Bildfläche verschwinden.
Um an einer Wahl teilzunehmen, muß eine Partei die Unterstützungserklärungen von drei Prozent der ins Wählerregister eingetragenen Personen vorweisen können (gegenwärtig 2,7 Millionen), d.h. von etwa 80.000 Personen.
Im Falle von Wahlbündnissen liegt die Hürde noch höher: jede der teilnehmenden Parteien muß die Unterstützung von vier Prozent der Stimmberechtigten vorweisen können, also bei einer angenommenen Allianz von drei Parteien sind das an die 320.000 UnterstützerInnen!
Der Abgeordnete Silvio Calderón erklärte, mit dieser Reform sei das Ziel von Sandinisten und Liberalen erfüllt worden, nämlich „ein modernes Wahlgesetz zu schaffen, das transparent und leicht auslegbar ist“. Mit dieser Reform ist auch die suscripción popular abgeschafft, d.h. das Aufstellen parteiunabhängiger KandidatInnen. Ausnahmen gelten für die wahlwerbenden indianischen und ethnischen Gruppen der Atlantikküste.
Eine weitere Hürde für die Kleinparteien liegt darin, dass der staatliche Zuschuß für die Wahlkampagne erst im nachhinein – nach den Wahlen – und nur dann, wenn die erforderliche Stimmenanzahl erreicht wurde, ausbezahlt wird.

Jarquíns Entmachtung

Die ebenfalls erfolgte Ratifizierung einer neuen Struktur für den Rechnungshof bedeutet praktisch die Entmachtung des amtierenden Kontrollamtschefs Agustín Jarquín, wie dieser selbst der Öffentlichkeit mitteilte. Er bereite sich auf eine „harmonische, geordnete und transparente Übergabe seines Amtes vor“, so Jarquín.
Das Rechnungshofgesetz sieht nun vor, dass diese vormals unabhängige Körperschaft von einem Gremium von fünf Personen geführt wird: drei von ihnen werden von den Liberalen nominiert, eine von den Sandinisten – der fünfte ist Jarquín selbst (da er für eine Amtszeit von sechs Jahren gewählt wurde, die erst im April 2002 ausläuft). Die Entscheidungen werden mit einfacher Mehrheit gefällt, d.h. die drei Liberalen bestimmen zur Gänze die zukünftige Politik dieser Institution. Die neuen Mitglieder des Rechnungshofkollegiums werden am 18. Februar bestimmt.

Eine Idee wird zur Lawine

Trotz des Kongreßbeschlusses wird weiterhin für ein Referendum gegen die Verfassungsreformen mobilisiert. Die Möglichkeit eines Referendums ist in Nicaragua zwar gesetzlich verankert, doch wurde bisher noch nie von ihr Gebrauch gemacht. Wenn für eine Vorlage 50.000 Unterschriften gesammelt werden (oder diese von 31 Abgeordneten unterzeichnet wird, was jedoch angesichts des Zwei-Parteien-Paktes im Abgeordnetenhaus derzeit praktisch ausgeschlossen ist), so muss diese im Parlament diskutiert und dann an die Wahlbehörde weitergeleitet werden, damit diese die Vorbereitungen für die Abhaltung der Volksabstimmung trifft. Eine Ablehnung durch die Nationalversammlung ist nicht möglich.
Der Vorschlag Jarquíns stieß sofort auf breite Zustimmung. In dem Vorbereitungskomitee für das Referendum sind zivilgesellschaftliche Organisationen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens vertreten. Eine der AktivistInnen, Ana Quiroz (siehe Kasten) von der “Zivilen Koordination für den Notstand und den Wiederaufbau”, versicherte, nationale und internationale Institutionen hätten bereits finanzielle Unterstützung für die Abhaltung des Referendums zugesagt.
Am 10. Januar setzte die Sammlung der 50.000 Unterschriften ein. Erstunterzeichnerin war Violeta Barrios de Chamorro. Die Ex-Präsidentin verneinte, mit diesem Schritt auf die politische Bühne zurückkehren zu wollen. Sie rief die Bevölkerung auf, sich dieser staatsbürgerlichen Initiative „zum Wohle des Landes“ anzuschließen.
Die Vorbereitungsphase, also das Sammeln der Unterschriften, ist auf einen Monat angesetzt. Möglichkeiten zur Unterzeichnung der Petition gibt es in zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen, wie im Frauennetzwerk gegen Gewalt, der Zivilkoordination, der Acción Ciudadana; gesammelt wird aber auch auf den Märkten, in Geschäftszentren, Spitälern, an Bushaltestellen und vielen anderen öffentlichen Plätzen.
Die Präsidentin der Menschenrechtskommission CENIDH, Vilma Núñez, unterstrich den demokratischen Charakter dieser Initiative: „Der schlechteste Kampf ist der, der unterlassen wird. Wenn die Nationalversammlung das Referendum nicht einberufen sollte, so verweigert sie jedem Staatsbürger seine demokratische Teilnahme.“
Der Staatschef kontert auf die Gefahr, sein Pakt mit den Sandinisten könnte einem Referendum zum Opfer fallen, mit einer Neuauflage seiner Forderung nach Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung (Constituyente), die eine neue Verfassung ausarbeiten soll. Nach dem Vorbild seines venezolanischen Amtskollegen Hugo Chávez, dessen Machtfülle Alemán neidisch betrachtet, würde diese Constituyente die Nationalversammlung auflösen und dann eine Carta Magna redigieren, die die juristischen und politischen Grundlagen für eine neue Republik bieten soll.
Der konservative Abgeordnete Noel Vidaurre sprach bereits vom Versuch eines „Staatsstreichs“, womit sich Alemán an der Macht verewigen wolle. Vidaurre wies auch daraufhin, dass die Einberufung einer derartigen Constituyente nur mit der Zustimmung Daniel Ortegas und der Sandinistischen Partei möglich wäre. Seiner Meinung nach sei der Pakt gefährdet, und FSLN und PLC wollten nun den demokratischen Prozeß im Lande völlig brechen.
Alemán möchte die Idee zuerst im Schoß seiner Liberalen Partei und später dann mit den Sandinisten besprechen. Der Staatschef, bis jetzt mit Ortega Hauptbefürworter der Verfassungsreform durch den „Pakt“, schwelgt nun in vollen Tönen von einer neuen Magna Carta. „Ich glaube, sie ist wichtig für die Institutionalität dieses Landes. Nicaragua braucht eine neue Verfassung mit einer neuen Vision der Nation mit einer Perspektive von 25 bis 30 Jahren oder noch mehr.“ Parlamentspräsident Iván Escobar Fornos unterstützt Alemán und beschwört ebenfalls eine neue, dem „modernen demokratischen Denken angepaßte“ Verfassung.

Ortega: mit dem Pakt an die Regierung

Der ehemalige Staatschef und FSLN-Generalsekretär, Daniel Ortega, verteidigte Mitte Januar neuerlich den Pakt zwischen Sandinisten und Liberalen mit der Versicherung, dadurch könnte die FSLN die Präsidentschaftswahlen von 2001 gewinnen. (Weshalb dann der frühere politische Erbfeind Arnoldo Alemán, der sich selbst über die gegenwärtige Amtsperiode hinaus an der Macht halten will, diesen Pakt ebenfalls will und unterzeichnete, verriet Ortega nicht.) Der FSLN-Führer: „Diese Reformen wurden in Hinblick auf die Wahlen von 2001 erarbeitet. Angesichts des Wahlbetrugs von 1996 blieb uns kein anderes Mittel übrig als dieses Abkommen, um die Wahlen von 2001 zu gewinnen.“ Auch dass dieser Wahlbetrug vom heutigen Pakt-Partner Alemán durchgeführt wurde, verschwieg ‘Revolutionskommandant’ Ortega bei seinem Fernsehauftritt am 15. Januar.
Für das Engagement von Violeta Chamorro für das Referendum gegen den Pakt zeigte der sandinistische Politiker nur Geringschätzung: „Doña Violeta möchte Präsidentin sein. Die Tatsache, dass sie für die Einleitung des Referendums unterschrieb, ist ein Teil der Wahlkampagne, die sie bereits startete. Doch die Bevölkerung ist dieser Kandidaten müde.“ Wie man sieht, beginnt das Jahr 2000 in Nicaragua mit großen Sprüchen und Lügen. So viel kann auf jeden Fall vorausgesagt werden: Das politische Leben wird auch in diesem Jahr vom Paktieren der beiden Großparteien und der Auseinandersetzung zwischen Alemán und Jarquín geprägt sein. Letztere wird wohl an Intensität zunehmen, je näher der Wahltermin von 2001 rückt.

KASTEN

Ana Quiroz im Visier des Präsidenten

Nach dem Hurrikan Mitch wurde von mehr als 300 Nichtregierungsorganisationen in Nicaragua die „Zivile Koordination für den Notstand und den Wiederaufbau“ (CCER) gegründet. Der NRO-Verbund ist zu einer der wichtigsten Initiativen der Opposition gegen Präsident Alemán geworden und kritisiert unter anderem den Missbrauch internationaler Hilfs- und Wiederaufbaugelder durch die Regierung. In der Öffentlichkeit wird der CCER zumeist durch dessen Koordinatorin Ana Quiroz vertreten. Um die eloquente Kritikerin lozuwerden, will Alemán nun der gebürtigen Mexikanerin ihre nicaraguanische Staatsbürgerschaft, die sie erst vor wenigen Jahren erhalten hatte, aberkennen.
LN

KASTEN

Grenzkonflikt zwischen Honduras und Nicaragua

Am 19. und 25. Februar haben sich nicaraguanische und honduranische Patrouillenboote im pazifischen Golf von Fonseca beschossen. Glücklicherweise nahmen dabei weder Mensch oder Material Schaden. Militärsprecher beider Staaten warfen sich danach gegenseitig vor, das Feuer eröffnet zu haben und beanspruchten die betreffenden Seegebiete für sich. Die honduranische Seite erklärte, dass die Patrouillenboote Kutter der Fischereiflotte beschützen wollten, während Nicaragua beabsichtigte, das illegale Fischen und die Piraterie in nicaraguanische Gewässer eingedrungener honduranischer Fischer zu verhindern.
Allerdings bestehen die Probleme im Golf von Fonseca schon länger. Regelmäßig verhaften dort nicaraguanische und honduranische Grenzpatrouillen Fischer der jeweils anderen Nation auf Grund angeblicher Grenzüberschreitung und Schwarzfischerei. Fundamental ist dabei, dass die 1992 vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag angeordnete Demarkierung der Seegrenze zwischen Nicaragua, Honduras und El Salvador bis dato noch nicht durchgeführt wurde, was Fischer beider Seiten zur Erhöhung der Fangquote ausnutzen.
Weitere Grenzstreitigkeiten zwischen Nicaragua und Honduras gibt es auch auf der atlantischen Seite des Kontinents. Am 30. November 1999 ratifizierten die Parlamente von Honduras und Kolumbien einen Vertrag von 1986, nachdem die beiden Nicaragua vorgelagerten Karibikinseln San Andrés und Providencia Kolumbien zufallen, während Kolumbien im Gegenzug anerkennt, dass das honduranische Hoheitsgewässer nördlich des 15. Breitengrades anfängt.
In diesem Vertrag wird die nicaraguanische Seite übergangen, die sowohl die Inseln San Andrés und Providencia einfordert, als auch einen Grenzverlauf mit Honduras entlang des 17. Breitengrades verlangt. Nicaragua beruft sich dabei auf ein Abkommen aus den 20er Jahren, das noch unter US-amerikanischer Militärherrschaft getroffen wurde. Insgesamt geht es dabei um ein Gebiet von 130.000 Quadratkilometern.
Als Reaktion auf diese Ratifizierung hat Nicaragua den Importzoll auf honduranische und kolumbianische Güter um 35 Prozent erhöht, was wiederum die honduranische Seite brüskiert hat. Der Konflikt verschärfte sich weiter, als sich beide Seiten gegenseitig vorwarfen, die Zahl der Militärs an der gemeinsamen Grenze und speziell in der Karibik zu erhöhen.
Durch mehrere Treffen beider Staaten unter Vermittlung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ist der Streit mittlerweile entschärft worden. Es wurde am 7. Februar zunächst eine maritime Sperrzone in der strittigen Region beschlossen und man einigte sich darauf, die Frage des Grenzverlaufes vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag klären zu lassen.
Am 7. März wurde vereinbart, die Zahl der Militärs an der gemeinsamen Grenze auf den Stand vom September 1999 zurückzuführen, internationale Beobachter in den Krisengebieten einzusetzen, die Patrouillenfahrten im Golf von Fonseca und an der Karibikküste zu kombinieren beziehungsweise zu koordinieren und den Grenzverlauf im Golf von Fonseca durch Grenzbojen zu markieren. Offen bleibt die Frage, ob Nicaraguas Präsident Alemán den Zwischenfall im Golf inszeniert hat, um mit aggressiver Aussenpolitik und durch die Beschwörung der nationalen Einheit seine innenpolitische Position zu stärken.
Volkmar Liebig

Stagnation oder Rückschritt

Allen bisherigen Prognosen und WählerInnenumfragen zufolge zeichnet sich ein düsteres Panorama für die Zukunft Guatemalas ab. Es ist zu befürchten, daß ein Sieg Portillos und der FRG den dreijährigen Friedensprozeß endgültig beenden würde. Bereits vor einigen Wochen verkündeten die zur Anhängerschaft der FRG gehörenden Mitglieder der ehemaligen Zivilpatrouillen (PAC) triumphierend, sie würden nach dem Sieg Portillos alle MenschenrechtsaktivistInnen umbringen. Die FRG selbst weigert sich kategorisch, über ihre Mitverantwortung bei den Menschenrechtsverletzungen der achtziger Jahre zu sprechen, und dementsprechend spielen die Friedensabkommen in ihrem Wahlprogramm auch keine Rolle. Hinzu kommt, daß kurz vor der letzten WählerInnenumfrage in Guatemala bekannt wurde, daß Portillo Anfang der achtziger Jahre in Mexiko bei einem privaten Streit zwei seiner Widersacher erschoß, sich dem Gerichtsverfahren entzog und die Tat mittlerweile verjährt ist.
Paradoxerweise führte dies dazu, daß seine Beliebtheit bei den Umfragen noch anstieg – obwohl in der gleichen Umfrage die große Mehrheit der Befragten angab, daß sie keine Partei wählen würden, die Menschenrechtsverletzer als Kandidaten aufstellt. Und gerade an solchen Kandidaten mangelt es der FRG nicht. Der bekannteste unter ihnen ist Rios Montt, auf dessen Konto die schwersten, in den achtziger Jahren begangenen Menschenrechtsverletzungen gehen und der den ersten Listenplatz als Parlamentskandidat besetzt.
Die seit Anfang 1996 regierende PAN unter Präsident Alvaro Arzú, die im Dezember 1996 mit der ehemaligen Guerilla URNG die Friedensabkommen unterzeichnete, bekannte sich bislang verbal zum Frieden. Sie zeigte sich aber in der politischen Praxis als unfähig und unwillig, die Vereinbarungen des Abkommens umzusetzen – was sie nicht davon abhält, sich in diesem Wahlkampf als Garant der Friedensabkommen zu präsentieren. Dieser offensichtliche Verlust an politischer Glaubwürdigkeit kommt jetzt den ultrakonservativen und rechten Kräften des Landes, sprich der FRG, zugute.

Keine Alternative in Sicht

Aber auch das Vakuum links von PAN und FRG, das Fehlen einer politischen Alternative, die der Bevölkerungsmehrheit einen realen Ausweg aus ihrem wirtschaftlichen und sozialen Dilemma zeigen könnte, begünstigt diese Entwicklung. Daran konnte auch die im April gegründete ANN, ein Bündnis zwischen der URNG, der Demokratischen Front Neues Guatemala (FDNG) – die bei den Wahlen 1995 sechs Parlamentssitze errang – sowie den beiden Parteien DIA (Authentische Integrale Entwicklung) und UNID (Einheit der Demokratischen Linken), nichts ändern. Als Alternative zu den etablierten Parteien angetreten, legte die ANN bereits im Mai ihr Regierungsprogramm und die Wahlplattform vor, die ein klares Bekenntnis zu den Friedensabkommen und ihrer Umsetzung enthalten. Das Bündnis war allerdings nur von kurzer Dauer und spaltete sich im August. URNG, DIA und UNID gehen als ANN weiterhin mit ihrem Präsidentsschaftskandidaten Colom, einem fortschrittlichen Unternehmer, der in der Vergangenheit den Friedensfonds (FONAPAZ) und die Schlichtungsstelle für Landkonflikte (CONTIERRA) leitete, und Vitalino Similox, einem indigenen Priester und Sprecher der Protestantischen Kirchenkonferenz (CIEDEG), als Vizepräsidentschaftskandidat ins Rennen. Die FDNG hingegen, die Teile ihre AnhängerInnenschaft, unter ihnen die Kongreßabgeordnete und bekannte Menschenrechtlerin Nineth Montenegro, an die ANN verlor, hat als Präsidentschaftskandidatin die frühere christdemokratische Politikerin Catalina Soberanis aufgestellt und als Vizepräsidentschaftskandidaten Juan León, indigener Vertreter der Defensoría Maya. Die Abspaltung der FDNG, die insbesondere unter der indigenen Bevölkerung Vertrauen genoß, könnte jetzt dazu führen, daß diese ein noch größeres Desinteresse an den Wahlen zutage legt als 1995. (Näheres zur Spaltung siehe Kasten)

Ungünstige Vorzeichen

Es zeichnet sich ab, daß die Mehrheit der Bevölkerung den Urnen fernbleiben wird. Bereits im Mai, als das Referendum zur Änderung der Verfassungsreformen scheiterte, womit unter anderem die rechtliche Gleichstellung der indigenen Bevölkerung verhindert wurde, hatten sich über 80 Prozent der Bevölkerung der Stimme enthalten. Das niederschmetternde Ergebnis gab konservativen Kräften im Lande einen enormen Auftrieb, es verdeutlichte die Schwäche des Friedensprozesses und die Spaltung Guatemalas in eine weiße städtische Minderheit der Mittel- und Oberschicht gegenüber dem Gros der verarmten indigenen Bevölkerung ländlicher Regionen.
Die Ursachen für diese Abstinenz sind vielschichtig. Abgesehen vom Fehlen einer glaubwürdigen Politik, die die Interessen der Bevölkerungsmehrheit vertritt, hat vor allem die ländliche Bevölkerung kaum Zugang zu Informationen, geschweige denn die Möglichkeit, sich überhaupt an den Wahlen zu beteiligen. Die Einschreibung ins Wahlregister ist ein komplizierter, mit hohen Kosten verbundener Vorgang, und die Wahlurnen, die sich nur in den Bezirksstädten befinden, sind für die BewohnerInnen abgelegener Landstriche kaum zu erreichen.
Trotz der Anstrengungen, die der Oberste Wahlrat und verschiedene Volks- und Basisorganisationen in den letzten Monaten unternahmen, um die Zahl der Einschreibungen ins Wahlregister zu erhöhen, waren nach Ablauf der Frist im August lediglich 4,3 der 6 Millionen Wahlberechtigten registriert.
Entscheidend für das Desinteresse an den Wahlen ist jedoch die Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Bevölkerungsmehrheit seit dem Friedensschluß. Der neoliberale Wirtschaftskurs der PAN-Regierung führte zunehmend in die ökonomische Krise und jüngst gar zu einer dramatischen Abwertung der nationalen Währung. Auch die vorherrschende Straflosigkeit wurde von der Regierung nicht bekämpft – als ein Beispiel sei hier nur der bis heute ungeklärte Fall der Ermordung von Bischof Juan Gerardi im April 1998 genannt. Die Regierung hielt es ebensowenig für nötig, auf die Empfehlungen des im Februar 1999 veröffentlichten Berichts der Wahrheitskommission zu antworten, die der Aufklärung der Verbrechen der Vergangenheit und der Entschädigung der Opfer der Repression dienen sollen. Die zunehmende Lynchjustiz innerhalb der Bevölkerung zeigt, daß es die Regierung noch nicht einmal geschafft hat, das korrupte und ineffiziente Justizsystem so weit zu verbessern, daß wenigstens der normalen Delinquenz Einhalt geboten wird. Gerade dies begünstigt den rechten Populismus des FRG-Kandidaten Portillo, der sich als ein Schwerpunktthema seiner Wahlkampagne die Schaffung von Sicherheit und Ordnung auf die Fahnen geschrieben hat.

Schlammschlachten

Abgesehen von der Spaltung der Linken, die die ANN zahlreiche Stimmen kosten wird, sind auch ihre Wettbewerbsbedingungen gegenüber einer PAN oder FRG extrem ungleich. Die Bedrohungen gegenüber AktivistInnen der Linken waren in den vergangenen Monaten ungleich höher als gegen die AnhängerInnen der rechten Parteien. Hinzu kommt, daß die in den Friedensabkommen vereinbarte Reform des Wahlgesetzes, womit die (finanziellen) Wahlkampfbedingungen für alle Parteien definiert werden sollten, bisher nicht realisiert wurde. Die beiden Rechtsparteien verfügen über einen großen finanziellen und politischen Rückhalt ihrer jeweiligen Klientel. Bei der PAN sind dies die Modernisierer unter den Unternehmern, die den neoliberalen Wirtschaftskurs der Regierung Arzú unterstützen, wohingegen die FRG auf die Unterstützung der Oligarchie, der Großgrundbesitzer und der Militärs zählen kann. Die Wahlkampagnen beider Parteien werden dementsprechend mit großem finanziellen Aufwand betrieben und „Wahlkampfgeschenke“ großzügig verteilt.
Bis auf die ANN hielten es alle anderen Parteien nicht für nötig, ihr Regierungsprogramm vor Mitte September zu präsentieren. Die Programme unterscheiden sich nicht wesentlich und beinhalten wahlkampftaktische Themen wie die Schaffung von Arbeitsplätzen, Sicherheit, Korruptionsbekämpfung, Erziehung und Gesundheit – allerdings ohne darauf einzugehen, wie diese Ziele konkret erreicht werden könnten. Überhaupt sind Inhalte im Wahlkampf Mangelware, wie einer der gängigen Wahlkampfslogans „Wir alle lieben die PAN!“ verdeutlicht. In erster Linie geht es darum, den jeweiligen politischen Gegner zu vernichten. Die Präsidentschaftskandidaten ersetzen ernsthafte politische Debatten durch gegenseitige Beschuldigungen, die Wahlkampftrupps von PAN und FRG liefern sich Straßenschlachten.
In den Tenor der rechten Propaganda reihen sich noch weitere kleine Parteien ein, wie die Acción Reconciliadora Democrática (ARDE) mit ihrem Präsidentschaftskandidaten Francisco Bianchi. Der evangelikale Sektenführer Bianchi, der erfolgreich eine millionenschwere Propagandakampagne gegen die Volksabstimmung im Mai führte, setzt sich für die vollständige Erhaltung der Struktur und der Funktion des Militärs ein. Und die Liberale Progressive Partei (PLP), die den ehemaligen Generalstaatsanwalt Acisclo Valladares als Präsidentschaftskandidaten aufgestellt hat, plädiert gar für die konsequente Anwendung der Todesstrafe, „um den Respekt vor dem Leben zu retten“.

Die große Kluft

Die Stimmen der zivilen Gesellschaft, die an einer ernsthaften Fortführung des Friedensprozesses interessiert sind, kommen kaum gegen die Propagandamaschinerie der einflußreichen Parteien an. Verschiedene Menschrechtsorganisationen riefen im August die Bevölkerung dazu auf, keine Partei zu wählen, unter deren Kandidaten sich Menschenrechtsverletzer befinden – offenbar ein erfolgloses Unterfangen. Ein Bündnis von über 40 Organisationen der zivilen Gesellschaft, die sich zu der Koordination „Ja für den Frieden“ zusammenschlossen, stellte einen Minimalkatalog von Themen auf, die von der künftigen Regierung umgesetzt werden sollen. Die Themenliste fußt auf den Vereinbarungen der Friedensabkommen. Bislang verpflichteten sich nur ANN, FDNG und PAN, diese zu respektieren.
Auffällig ist auch, daß keine Partei das Problem der ungelösten Landfrage in den Vordergrund stellt. Der Dachverband der Campesino/a-Organisationen (CNOC) kritisierte dies in einem vor kurzem veröffentlichten Kommuniqué und rief Indígenas und Campesinos/as dazu auf, sich am 12. Oktober an einem landesweiten Sternmarsch zur Verteidung ihres Rechts auf Land zu beteiligen. „Von den Parteien, die darum kämpfen, an die Regierung zu kommen, hat keine einzige Vorschläge gemacht, wie die Inhalte des Friedensabkommens umgesetzt werden können. Keine der Parteien hat konkrete Vorschläge gemacht, wie die Landproblematik gelöst werden kann“. Damit benennt CNOC die große Kluft zwischen den Parteien und den Bedürfnissen der Bevölkerung, die auch die ANN nicht überwinden konnte.
Hinsichtlich der prekären wirtschaftlichen und sozialen Situation der Mehrheit der GuatemaltekInnen wird sich zukünftig weder unter einer PAN noch unter einer FRG-Regierung etwas ändern. Die Hauptgefahr ist jedoch, daß unter einer FRG-Regierung die Menschenrechtsverletzungen weiter ansteigen und die Vergangenheitsbewältigung kaum noch thematisiert wird – einhergehend mit der zu erwartenden Stärkung der Armee ein großer Rückschritt in die Vergangenheit.

KASTEN

Spaltung der ANN

Die wirklichen Gründe der Auseinandersetzungen innerhalb der ANN, die zum Ausschluß der FDNG führten, sind schwer nachzuvollziehen. Den offiziellen Erklärungen der ANN zufolge soll der aktuelle Generalsekretär der FDNG, Rafael Arriaga, versucht haben, den Einfluß seiner Klientel innerhalb der ANN zu stärken, was von der ANN strikt abgelehnt wurde. Arriaga entstammt der Partido Revolucionario (PR), die in den Jahren der Repression in Guatemala eine zwielichtige Rolle spielte. Allerdings hatte die FDNG bei ihrer Gründung 1995 das Problem, daß sie sich, um den für eine Aufstellung zu den Wahlen erforderlichen legalen Parteistatus zu erhalten, mit der PR zusammenschließen mußte. Der Rausschmiß Arriagas und der FDNG hatte zur Folge, daß innerhalb der FDNG auch Differenzen zutage traten, die dazu führten, daß etwa die FDNG-Abgeordnete Nineth Montenegro und ein Teil der Führungsspitze der FDNG zur ANN übertraten. Die restlichen fünf FDNG-Abgeordneten, unter ihnen Rosalina Tuyuc von der Witwenorganisation CONAVIGUA, verblieben bei der Partei, obwohl sie sich nicht hinter Arriaga stellen. Im Vorfeld der Spaltung des Bündnisses kam es außerdem zwischen der URNG und der FDNG zu Unstimmigkeiten über die zu vergebenden Listenplätze. Das deutlichste Beispiel hierfür ist wohl der Fall von Rosalina Tuyuc, die als sichere Kandidatin für die Vizepräsidentschaft galt, im Mai jedoch dem Favoriten der URNG, Vitalino Similox, weichen mußte. Dies löste allgemeine Verwunderung aus, da Tuyuc gerade innerhalb der indigenen Bevölkerung großes Vertrauen besitzt.

Zwischen Solidarität und interkulturellem Austausch

Das Büro hat sich Anfang der 90er Jahre anders als andere Gruppen dazu entschlossen, weiter Brigaden nach Nicaragua zu schicken. Die Brigaden – so die Argumentation – sollten junge Menschen an die Nord-Süd-Problematik heranführen, zu ihrer Politisierung beitragen und im besten Fall ein dauerhaftes politisches Engagement zur Folge haben. Mit ähnlicher Argumentation wurden dann nach Unterzeichnung der Friedensverträge 1992 auch Brigaden nach El Salvador organisiert. Seitdem wurden die Brigaden innerhalb des Büros nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt. Über deren Zielsetzung und das „richtige“ Konzept wird aber immer wieder diskutiert. Im Folgenden soll der Diskussionprozeß der letzten Jahre in groben Zügen nachgezeichnet werden.
Auf den ersten Blick schien diese neue Idee der Brigaden stimmig: Beim Landaufenthalt und der Mitarbeit im Projekt leben die TeilnehmerInnen in den Familien und machen so, mit den Menschen, Erfahrungen eines völlig anderen Alltags. Im Anschluß daran können sie diese Erfahrung in einen Gesamtkontext stellen, indem sie im Rahmen eines Programms Informationen bekommen und Diskussion miterleben.
Mitte der 90er Jahre bestand das Ziel der Brigadearbeit folgerichtig darin, möglichst viele Menschen für das Thema Nicaragua beziehungsweise El Salvador zu gewinnen. Ein Flugblatt aus dem Jahr 1996 trägt den Titel: „Hast Du im Sommer schon was vor?“ Im gleichen Jahr wurden die Brigaden des Ökumenischen Büros in einem Artikel über Jugendreisen in der Süddeutschen Zeitung erwähnt. Ohne größeren Aufwand waren die beiden Gruppen ausgebucht. Die Auseinandersetzung mit den BrigadistInnen über ihre genauen Motivationen, ihre Vorstellungen von dem Land und ihren Kontext standen bei der Vorbereitung nicht im Mittelpunkt. Es wurde versucht, ihnen während der vier Vorbereitungswochen-enden möglichst viele Informationen zu vermitteln, die sie sowohl für den Landaufenthalt als auch vor allem für das Informationsprogramm benötigen würden. Auch das Informationsprogramm stand noch in „alter Tradition“: möglichst viele Gespräche mit verschiedenen Gruppen, möglichst viel mitbekommen, was für die Arbeit in Deutschland wichtig ist.
Bei den Auswertungen der Brigaden mit den BrigadistInnen wurde deutlich: Sie waren überfordert mit all dem, was auf sie eingeströmt war (damit meinten sie sowohl die Fülle an Informationen als auch die Eindrücke des Landes und des Lebens dort). Die meisten von ihnen hatten zu Beginn der Vorbereitung das erste Mal von Nicaragua oder El Salvador gehört.
Der Widerspruch zwischen der Zusammensetzung der Brigaden, den Erwartungen des Büros und den Erwartungen der ProjektpartnerInnen wurde irgendwann unerträglich groß. Die BrigadistInnen waren überfordert; das Büro war enttäuscht über fehlende Begeisterung und mangelndes Engagement von seiten der BrigadistInnen. Und den ProjektpartnerInnen (dies trifft vor allem für Nicaragua zu) fiel es zunehmend schwer, von der Revolution zu schwärmen und von der Verantwortung, die man immer noch dem Volk gegenüber trage, und dabei in vollkommen teilnahmslose und fragende Gesichter zu blicken.
Aufgrund der Tatsache, daß in der Vorbereitung zu wenig auf die Vorstellungen und Motivationen der BrigadistInnen eingegangen wurde, ergaben sich beim Aufenthalt selbst zum Teil Effekte, mit denen im Büro zunächst nur sehr schwer umgegangen werden konnte: Die TeilnehmerInnen empfanden die Gruppen in Nicargua oder El Salvador oftmals als lächerlich, Stereotypen wurden nicht aufgebrochen (was eigentlich das Ziel gewesen wäre), sondern verstärkten sich oft noch. Das Bild der „glücklichen Armen“ wurde romantisiert oder die „faulen Nicas“ an der Baustelle zitiert. Diese Erfahrungen machten deutlich: aus der Idee der Solidaritätsbrigaden mußte nun die Vorstellung eines interkulturellen Austausches erwachsen.
Dabei ist das geographische Ziel Nicaragua oder El Salvador nicht mehr so ausschlaggebend. Für das Büro lag es natürlich nahe, an diesen beiden Ländern festzuhalten. Es wollte diesen interkulturellen Austausch fördern, dabei allerdings gezielt die politische Geschichte des Landes, der einzelnen Gruppen und der Menschen in den Vordergrund stellen. Durch die Auseinandersetzung mit dieser Geschichte und das gleichzeitige Einbeziehen der Situation in der BRD und der persönlichen Situation der BrigadistInnen war nun potentiell die Basis für eine gemeinsame Auseinandersetzung gegeben.
Seit dem letzten Jahr hat sich die Diskussion um das Brigadekonzept dahingehend gewendet, nicht mehr möglichst viele Menschen für die Brigaden zu gewinnen, sondern Menschen mit konkreten Ideen, Wünschen, Zielen, die möglicherweise bereits in politischen Gruppen in der BRD aktiv sind, um so einen Austausch mit nicaraguanischen oder salvadorianischen Gruppen, die zu ähnlichen Themen arbeiten, zu ermöglichen. Während der Vorbereitungszeit informieren sich die BrigadistInnen über relevante Themen in Deutschland. Im Vordergrund stand nun, daß politisches Engagement hier immer mit der persönlichen Betroffenheit der einzelnen zusammenhängt. Damit schafft man den TeilnehmerInnen einen Freiraum für eine politische Auseinandersetzung und Debatte, den sie sonst in den meisten Fällen nicht haben. Selbstbestimmt sollen die TeilnehmerInnen über die inhaltliche und organisatorische Gestaltung, zum Beispiel die Anzahl der Gespräche pro Tag, des Informationsprogramms entscheiden.
All das zusammen bedeutet eine arbeitsintensive Vorbereitung. Seit zwei Jahren hat sich eine Gruppe von ehemaligen BrigadistInnen zusammengefunden, die die Brigaden mit vor- und nachbereiten und auch das Konzept ständig hinterfragen und zu verbessern versuchen. In diesem Jahr wurde den Brigaden ein Thema gestellt, um Menschen aus konkreten Zusammenhängen anzusprechen. Diese Rückbesinnung auf den politischen Anspruch der Brigaden spiegelt sich im Flugblatt wider: „Die herrschenden Verhältnisse ins Wanken bringen“ steht über einem Foto, auf dem BrigadistInnen eine Steinmauer umstürzen. In diesem Jahr haben sich trotz intensiver Werbung noch weniger InteressentInnen gefunden. Es wird nur eine Brigade nach El Salvador fahren.

Die Verwirrung kommt nach dem Einsatz

Die AktivistInnen der Vorbereitungsgruppe sind der Meinung, man könnte viel aus den Brigaden machen, wenn man genug Zeit für Vor- und Nachbereitung hätte. Genug Zeit, um Konzepte und Methoden zu erarbeiten, wie man Menschen gewinnen kann. Als wesentlich erachten sie, ein geeignetes Konzept für die Nachbereitung zu entwickeln. Die Festschreibung von Stereotypen beispielsweise oder die Verwirrung, die bei vielen nach der Brigade entsteht, müssen im Anschluß an die Reise aufgearbeitet werden.
Eines muß man sich also eingestehen, auch wenn es manchen „alten Hasen“ im Büro schwerfällt: Brigaden sind nicht mehr Teil einer klassischen politischen Arbeit, sondern fallen eher unter das Raster pädagogischer Jugendbildungsarbeit. Daß dies einen großen Aufwand erfordert, dürfte einleuchten.
Die Krise der Mittelamerika-Solidarität macht diese Aufgabe nicht unbedingt leichter. Wie soll sich eine Jugendliche für die Nicaragua-Arbeit interessieren, wenn man sich innerhalb der Nica-Arbeit selbst ständig die Frage stellt, ob Ländersoliarbeit noch sinnvoll ist und es wahrscheinlich schwierig zu definieren ist, worin diese Ländersoliarbeit genau besteht? Wie kann man BrigadistInnen zu politischer Arbeit motivieren, wenn die Solidaritätsarbeit selbst immer mehr den Weg der Nichtregierungs-Entwicklungshilfe geht? Wie soll sich eine Jugendliche mit einer anderen Geschichte und einer anderen Denkweise in einen Arbeitskreis hineinfügen wollen, dessen Zusammensetzung sich in den letzten zehn Jahren nur geringfügig geändert hat?

Die Autorin war bis 1997 El Salvador-Referendum im Ökumenischen Büro

KASTEN:
Solidaritätsbrigaden nach Mittelamerika

Auch im nächsten Sommer wird das Ökumenische Büro für Frieden und Gerechtigkeit Solidaritätsbrigaden nach Nicaragua und El Salvador organisieren.

Die Brigaden halten sich fünf Wochen lang in Nicaragua oder El Salvador auf. Das Programm hat zwei Schwerpunkte: Zum einen soll Solidarität durch die Brigadenarbeit praktisch werden, indem ein Projekt finanziell unterstützt wird und die BrigadistInnen sich an der Projektdurchführung beteiligen. Die TeilnehmerInnen leben in dieser Zeit in Familien der Gemeinde oder Kooperative auf dem Land. Bei der Projektmitarbeit geht es nicht um karitative Hilfe, sondern um die Unterstützung emanzipativer Organisationen. Das Zusammenarbeiten und -leben soll ermöglichen, daß ein Austausch über Lebenserfahrungen, gesellschaftliche Realitäten und die jeweilige politische Arbeit stattfindet. Zum anderen treffen sich die BrigadistInnen während eines Informationsprogramms mit Organisationen aus diversen Sektoren, die sich mit verschiedenen Themen befassen – Frauenorganisationen, Menschenrechtsorganisationen, Kooperativenverbände, Gewerkschaften.
Die Brigaden werden gemeinsam mit den Partnerorganisationen des Ökumenischen Büros in Nicaragua und El Salvador organisiert und durchgeführt. In El Salvador ist dies der Socorro Luterano (Lutherisches Hilfswerk). Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit des Socorro ist die Unterstützung von Basisorganisationen auf dem Land. Für eine bestimmte Zeit werden die Organisationen vom Socorro Luterano in ihrer Arbeit begleitet, um mit ihnen eine Infrastruktur aufzubauen, die es möglich macht, organisiert Veränderungen anzugehen.
In Nicaragua ist der Projektpartner das Movimiento Comunal in Matagalpa, eine Basisorganisation, die sich der Bereitstellung von Infrastruktur in marginalisierten Stadtteilen und Gemeinden sowie der Förderung von Prozessen der Selbstorganisation widmet.
Wen sucht das Büro für die Brigaden?
Für die Solidaritätsbrigaden werden keine SpezialistInnen benötigt. Teilnehmen können Leute, die
* Interesse an einer Zusammenarbeit mit Menschen haben, die an Verbesserungen ihrer Situation und der Veränderung von politischen und sozialen Rahmenbedingungen arbeiten
* Lust haben, sich mit einer Gruppe an vier Wochenendseminaren auf die Reise vorzubereiten, sie zu organisieren und dabei viel zu diskutieren
* bereit sind, bis zur Brigade soviel spanisch zu lernen, daß es für die Alltagskommunikation ausreicht
* etwa 2.000 DM aufbringen können (Flug, Unterkunft, Verpflegung, Taschengeld)

Nähere Infos gibt es beim: Ökumenisches Büro für Frieden und Gerechtigkeit e.V., Pariser Str. 13, 81667 München, Tel.: 089-4485945, e-mail: oeku-buero@link-m.de

KASTEN:
Das Ökumenische Büro für Frieden und Gerechtigkeit e.V. München

Das Ökumenische Büro wurde 1983 von einer Gruppe angehender SozialpädagogInnen und GewerkschafterInnen aus München gegründet. Das Hauptziel bestand darin, durch Arbeitsbrigaden der Solidarität mit dem sandinistischen Nicaragua einen konkreten Ausdruck zu verleihen. Seitdem besteht das Büro als Anlaufstelle für Menschen aus München und Umgebung, die sich mit der Nord-Süd-Problematik auseinandersetzen und sich zwischen Theorie und Praxis politisch engagieren wollen.
Heute liegen unsere Arbeitsschwerpunkte in den Ländern Nicaragua, El Salvador und Mexiko. Länderübergreifend beschäftigen wir uns mit Menschenrechtsproblemen und der Situation in den Maquilas (Freie Produktionszonen / Billiglohnfabriken) auch in Honduras, Guatemala und Costa Rica.
In der BRD leistet das Büro Informationsarbeit zur sozialen, wirtschaftlichen und politischen Situation sowie zu aktuellen Entwicklungen in den Ländern Mittelamerikas und in Mexiko. Wir halten Kontakte zu JournalistInnen, machen Infostände und geben Broschüren mit Schwerpunktthemen sowie ein vierteljährlich erscheinendes Infoblatt heraus. Zusätzlich veranstalten wir Seminare und Vorträge, oft mit Gästen aus unseren Schwerpunktländern.
In Mittelamerika und Mexiko arbeiten wir mit Organisationen zusammen, die durch emanzipatorische Ansätze Prozesse in Gang setzen wollen, um die herrschenden Verhältnisse zu ändern. Diese direkte Unterstützung unserer Partner erfolgt auf verschiedenen Wegen:
* Einmal jährlich organisieren wir sogenannte Brigaden, die im Artikel beschrieben werden.
* Wir suchen nach finanzieller Unterstützung für Projekte, die unsere Partnerorganisationen vor Ort verwirklichen. Die Projekte unterstützen die marginalisierte Mehrheit in Mittelamerika und Mexiko dabei, sich der Ursachen ihrer Situation bewußt zu werden und selbst nach Lösungen zur Änderung der Verhältnisse zu suchen.
* In Diskussionen und durch den permanenten Austausch analysieren wir gemeinsam die Beziehungen zwischen Nord und Süd und suchen nach Strategien, um die Verhältnisse zu verändern.
* In unregelmäßigen Abständen laden wir Gäste aus Mittelamerika ein, damit sie selbst ihre Arbeit, ihre Analysen, ihre Vorstellungen der Öffentlichkeit hier bekanntmachen können.
* Wir versuchen, die Belange unserer Partner, sowohl in der deutschen als auch der mittel-amerikanischen Öffentlichkeit, bekannt zu machen, suchen von Fall zu Fall die Unterstützung von PolitikerInnen, Gewerkschaften und Kirchen und rufen zu Urgent Actions mit Protestbriefen auf. gegen Menschenrechtsverletzungen auf.

Revolution ohne Rückendeckung?

“Ein Triumph“, so Venezuelas Präsident Hugo Chávez, sei die Volksabstimmung vom 24. April gewesen. Carlos Canache, Vorsitzender der sozialdemokratischen Oppositionspartei Acción Democrática (AD) wertete das Referendum als „die erste Niederlage“ für Chávez. So unterschiedliche Einschätzungen der ersten Volksbefragung in der Geschichte Venezuelas zu einer neuen Verfassung verdanken sich dem widersprüchlichen Ergebnis: Zwar haben 80 Prozent für eine Verfassungsgebende Versammlung nach den Vorstellungen des Ex-Putschisten Chávez gestimmt, doch die Wahlenthaltung lag bei über 60 Prozent.
Chávez ist der erste Präsident Venezuelas seit 1958, der nicht den Reihen der Traditionsparteien AD und Copei (Comité de Organización Política Electoral Independiente) entstammt. Den Wahlerfolg vom vergangenen Dezember verdankt der Sohn einer armen Lehrerfamilie dem Versprechen, mit der notorischen Korruption der venezolanischen Elite aufzuräumen. Zu diesem Zweck soll eine neue Verfassung Venezuela einen Neuanfang zu Beginn des dritten Jahrtausends ermöglichen.
Die historisch niedrige Beteiligung bei der ersten Abstimmung für das Projekt veranlaßt freilich die beiden Oppositionsparteien, AD und Copei, die Legitimität der angestrebten neuen Verfassung anzuzweifeln. Regierungschef Chávez versucht indes, sich mit Stochastik aus der Affäre zu ziehen: 57 Prozent hätten ihm das Vertrauen ausgeprochen, als sie ihn zum Präsidenten wählten. Die Mehrheit der Venezolaner sei folglich auch mit seinem „politischen Projekt“ einverstanden. Ist das Desinteresse der Bevölkerungsmehrheit nun dem Vertrauen in den Präsidenten oder dem Gefühl der eigenen Machtlosigkeit geschuldet – das Referendum Ende April war die erste und wahrscheinlich schwierigste Hürde für das Kernprojekt der Regierung Chávez: eine neue Grundordnung für Venezuela zu schaffen. Mit der überdeutlichen Mehrheit für Chávez’ Projekt ist der Weg frei für ein knappes Jahr permanenten Wahlkampf.
Seit dem 7. Mai sind die Kandidaten für die Verfassungsgebende Versammlung aufs Volk losgelassen. Theoretisch hat jeder Venezolaner bis 14. Juni Zeit, Unterschriften für sich zu sammeln, um diese dem Consejo Nacional Electoral (CNE) vorzulegen. Der CNE entscheidet bis spätestens 24. Juni, welche der Kandidaten zugelassen werden. Einen Monat später, am 25. Juli, stellen sich die angehenden Verfassungsväter und -mütter zur Wahl. Die tatsächliche Ausarbeitung und Verabschiedung der „Carta Magna“ soll bis Anfang 2000 geschehen sein.

Mit Panzern gegen die Korruption

Präsident Chávez bemüht sich unterdessen, unter die 131 zur Verabschiedung der Verfassung Beauftragten möglichst viele Getreue aus den eigenen Reihen zu mischen. Entgegen der Entscheidung des Obersten Gerichtes, die Versammlung könne einzig eine Verfassung ausarbeiten, hat der ehemalige Fallschirmjäger, der die Uniform seit seiner Vereidigung am 2. Februar kaum noch trägt, eine Revolution mit Volkes Stimme im Visier: Die Verfassungsgebende Versammlung soll nach seinen Vorstellungen das Parlament und gleich dazu das Oberste Gericht absetzen. Chávez, schon im Wahlkampf nicht um harsche Töne verlegen, drohte dem Kongreß offen mit Panzern, falls dieser sich gegen „die Revolution“ wehren sollte – ein Hinweis auf seine guten alten Verbindungen zum Militär.

80 Prozent leben in Armut

„Revolution“ nennt Chávez das Projekt der neuen Grundordnung nicht nur, weil er der Bevölkerung den Eindruck eines nationalen Aufbruchs vermitteln will. Vor allem sollen die Machtbefugnisse des Präsidenten ausgebaut werden. Geht es nach dem Willen des „Comandante“, wird er selbst Vorsitzender der Verfassungsgebenden Versammlung. Für den Nationalen Koordinator der Regierungspartei Polo Patriotico (PP), Joel Acosta Chirinos, wäre diese Besetzung ganz normal. „Wir müssen die Kontrolle über die Macht behalten“, sagt er in einem Interview mit der Tageszeitung El Universal. Man wolle nur verhindern, daß die Phase nach der Verfassungsgebung schlimmer ist als die vorher. Dazu müsse der PP – ein buntes Gemisch verschiedenster politischer Strömungen, die Chávez im vergangenen Jahr um sich geschart hat, um seinen Wahlkampf führen zu können – in der Verfassungsgebenden Versammlung die Mehrheit stellen. Gegenüber den Medien verteidigt auch Hugo Chávez seine „Revolution“ mit gewohnt populistischen Argumenten: Die Mitglieder von Kongreß und Oberstem Gericht seien schließlich von den ehemaligen Regierungsparteien ins Amt gewählt und mitverantwortlich für Korruption und Mißwirtschaft, die Venezuela in die wirtschaftliche und moralische Katastrophe geführt hätten. Also gehörten sie auch abgesetzt, wenn Venezuela eine echte Erneuerung erleben wolle.

80 Prozent stehen hinter Chávez

Trotz dieses denkbar undemokratischen Vorhabens kann Chávez auf Unterstützung aus der Bevölkerung rechnen. Immer noch stehen laut Umfragen 80 Prozent der Venezolaner hinter ihrem neuen Präsidenten. Aus zwei Gründen dürfte die Wählerschaft Chávez auch künftig noch einige Fehler verzeihen: Zum einen liegt die letzte Militärdiktatur in Venezuela knapp ein halbes Jahrhundert zurück. Die Mehrzahl hat keine Vorstellung mehr von den Nachteilen diktatorischer Regime. Im Gegenteil hat die 40 Jahre währende Demokratie zuletzt immer mehr Unzufriedenheit hervorgerufen. Wachsende Armut, Kriminalität und Demokratiefeindlichkeit wurden nur notdürftig verdeckt von einer hermetischen politischen Klasse. Zwei Parteien haben sich an der Regierung abgewechselt und so jegliche politische Dynamik unterdrückt. Die starke Hand des Hugo Chávez ist vielen Venezolanern deshalb eine willkommene Abwechslung und weckt Hoffnung auf neue Grösse.

Die Elite kassiert weiter ab

Zum anderen haben AD und Copei seit 1958 hauptsächlich den eigenen Kontostand aufgebessert. Die Korruption in Venezuela nimmt heute einen traurigen Spitzenplatz ein. Bis in die 70er Jahre bedeuteten die riesigen Ölvorkommen Venezuelas Wohlstand und Sorglosigkeit. Wer keine Anstellung in der freien Wirtschaft fand, konnte problemlos in einer der zahlreichen Behörden unterkommen. Doch als der Ölpreis zu fallen begann, traten die Schwächen des Systems offen und unerbittlich zutage. Die politische und gesellschaftliche Elite kassierte weiter ab, während für den Großteil der Bevölkerung immer weniger abfiel. Heute leben die meisten der etwa 23 Millionen Venezolaner in Armut. Eine Umstrukturierung der Wirtschaft mit dem Ziel, die Abhängigkeit von den Ölpreisen zu verringern, hat bislang nicht stattgefunden. Chávez’ Ankündigung, er werde mit dem Filz aufräumen und „die Köpfe der Mächtigen in der Pfanne brutzeln“, kam daher bei den Wählern gut an.
Und Chávez scheint dieses Versprechen ernst zu nehmen: Anfang Mai wurde General Ruben Rojas Perez wegen Korruption verurteilt. Außenminister José Vicente Rangel, vor seiner Berufung ins Kabinett Journalist, hatte den Fall in jahrelanger Kleinarbeit aufgedeckt. Perez ist einer von mehreren hohen Beamten, die in den vergangenen Wochen über Korruptionsaffären stolperten. Der General ist allerdings ein Sonderfall und könnte Chávez noch gefährlich werden. Als Schwiegersohn von Chávez’ Amtsvorgänger Rafael Caldera hat er gute Kontakte zu Führungspersönlichkeiten in Politik und Militär. Diese Verbindungen scheint er zu nutzen, um sich eine Gefolgschaft von Chávez-Gegnern in der Armee aufzubauen. Die Internet-Zeitung VHeadline zitiert Perez am 7. Mai mit den Worten, er sei „nicht allein“, wolle aber nicht mehr sagen, um seine „Untergebenen zu schützen“. Chávez hat beim Militär bereits Unmut und Mißtrauen hervorgerufen, als er seine Ex-Gefolgsleute beim Putschversuch von 1992 wieder in die Armee holte und mit ihnen rund 50 Schlüsselstellen besetzte. Die Äußerung des Verteidigungsministers General Raul Salazar Rodriguez, die Armee sei „monolithisch und geeint“, strafte nicht nur Perez’ düstere Andeutung Lügen. Offensichtlich geht durch die Reihen der Militärs ein Riß zwischen Chavisten und den den Traditionsparteien verpflichteten Soldaten.
Auch im Parlament, mehrheitlich von AD und Copei besetzt, macht Chávez sich mit seiner Militärpolitik keine Freunde: Seit seinem Amtsbeginn zog er rund 70.000 Soldaten zum Aufbau von Infrastrukturprojekten heran und wertete damit die Stellung des Militärs zusätzlich auf. Außerdem erhöhte er den Druck auf den Kongreß mit dem Hinweis auf die katastrophale wirtschaftliche Situation. Schließlich stimmten die Abegordneten einem sogenannten „Ermächtigungsgesetz“ zu, das die Befugnisse des Präsidenten stark erweitert. Seit 22. April darf Chávez für ein halbes Jahr am Kongreß vorbei Steuern erhöhen, über Auslandsschulden verhandeln und die Verwaltung umstrukturieren.

Chávez’ Spielraum wird enger

Einzig die Einsicht des Kongresses in den Regierungshaushalt und Mitsprache bei Gesetzen, die den Ölsektor betreffen, schränken den formalen Spielraum des Präsidenten noch etwas ein. Dessen politischer Spielraum hingegen scheint mit jedem Tag enger zu werden: Mitte Mai gab Chávez zunächst den Rücktritt von Alfredo Peña bekannt, Chef des Präsidialministeriums, der als Kandidat für die Verfassungsgebende Versammlung antreten soll. Dasselbe Schicksal ereilte wenige Tage später vier weitere Top-Kabinettsmitglieder: Innenminister Luis Miquilena, Arbeitsminister Leopoldo Puchi, Verkehrsminister Luis Reyes und Umweltministerin Atala Uriana Pocaterra wurden ihrer Ämter enthoben, um für Chávez „an vorderster Front bei der Schlacht“ um die neue Verfassung zu kämpfen, so der Präsident. Der 84jährige Miquilena gilt als Mentor von Chávez, Reyes war dessen Mitstreiter beim Putschversuch 1992. Diese radikalen Personalentscheidungen lassen vermuten, daß Chávez die Unterstützung für sein Verfassungsprojekt bereits in den eigenen Reihen schwinden sieht. Und auch beim PP, dem Parteienkonglomerat, das dem Ex-Putschisten entscheidend zur Macht verholfen hat, zeigen sich erste Erscheinungen von Ungehorsam: Die Partei „Movimiento al Socialismo“ (MAS), die bereits unter Präsident Caldera an der Regierung beteiligt war, besteht auf mindestens einem eigenen Kandidaten für die Verfassungsgebende Versammlung und will sich dabei nicht von oben dirigieren lassen. Als Favorit wird der Vorsitzende des MAS, Felipe Mujica, gehandelt.
Die scharf geführte Debatte um die Verfassung und die Personalprobleme des Präsidenten drohen indes die drängenden wirtschaftlichen Probleme des Landes zu überlagern. Chávez konnte mit seiner Revolutionsrhetorik bislang kaum neue Investoren ins Land locken. Wichtige Reformprojekte zur Konsolidierung der Staatsfinanzen und zur Einkommensumschichtung kommen nicht richtig auf Touren. Wenngleich der IWF betont, man führe einen „exzellenten Dialog“ mit der venezolanischen Regierung, handelt es sich dabei wohl eher um diplomatische Floskeln im Vorfeld konkreter Verhandlungen. Eddo Polesel, Vorsitzender des nationalen Wirtschaftsrats (Consejo de Economía Nacional) wurde da schon deutlicher. Er sprach von einem „Zustand der Unsicherheit“, der Investoren abschrecke und Verwirrung stifte. Sicher jedenfalls ist, daß es mit Venezuelas Wirtschaft weiter abwärts geht. Die Arbeitslosigkeit stieg im Mai auf über 20 Prozent. Das Haushaltsdefizit überstieg acht Milliarden US-Dollar.
Die einzige Antwort, die Chávez bislang zu geben weiß, läßt kaum auf wirtschaftlichen Aufschwung hoffen: Er will die PdvSA, einen der größten Ölkonzerne der Welt, wieder stärker an den Staat binden und Geld für den Haushalt abzapfen. Auch AD und Copei hatten die PdvSA stets für Almosen an die Bevölkerung benutzt.

Die Macht des schwarzen Goldes

Will Präsident Chávez sein Land tatsächlich aus der wirtschaftlichen Talsohle führen, darf er sich nicht wie seine Vorgänger auf die Macht des schwarzen Goldes verlassen. Doch Chávez sitzt in einem Dilemma. Für tiefgreifende Strukturreformen fehlt ihm der Rückhalt in der Bevölkerung. Man erwartet schnelle Wohlstandsmehrung, kein Sparprogramm nach den Anweisungen des IWF. Für die nötige Ankurbelung der Konjunktur wird Chávez allerdings auf Kredite kaum verzichten können. Seine stundenlangen worthülsenreichen Radioansprachen werden ihm dabei genausowenig helfen wie die Beschwörung einer Revolution. „El Comandante“ braucht vielmehr Unterstützer in Wirtschaft, Militär und auch bei den Oppositionsparteien. Ob „das Chamäleon“, wie Chávez wegen seiner Fähigkeit zum Rollentausch genannt wird, so viel diplomatisches Geschick mitbringt, darf bezweifelt werden. Je mehr Macht er anhäuft, desto weniger Vertrauen schenken ihm die potentiellen Verbündeten.

Sonst läuft die Haushälterin davon

Bei der Abstimmung, die nach vier Themenblöcken unterteilt war und über 50 Verfassungsartikel betraf, ging es vor allem um die Gleichstellung der indigenen Bevölkerungsmehrheit Guatemalas und die Anerkennung ihrer Sprachen und Gewohnheitsrechte. Die Aufgaben der Armee sollten zudem durch die Verfassungsänderung auf die Landesverteidigung beschränkt und die Wahrung der „inneren Sicherheit“ der zivilen Nationalpolizei übertragen werden. Außerdem war die Auflösung des für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlichen „Generalstabs des Präsidenten“ (EMP) und eine Reform des Justizwesens vorgesehen.

Verzögerungstaktik und fehlende Aufklärung …

Die Verfassungsänderungen waren bereits im Oktober letzten Jahres vom Kongreß verabschiedet worden und sollten durch das Referendum legalisiert werden. Dies hatte schon im Vorfeld heftigste politische Debatten hervorgerufen, ultrakonservative Kräfte hatten in den letzten Monaten durch Verfassungsklagen versucht, die Volksabstimmung zu vereiteln.
Doch es gab noch weitere Probleme: In Guatemala herrscht in ländlichen Gebieten eine Analphabetenrate von über 70 Prozent, und große Teile der indigenen Bevölkerung, vor allem Frauen, sind des Spanischen nicht mächtig. Wer sollte also die Bedeutung der hochkomplizierten Gesetzestexte verstehen und ihre politische Dimension einschätzen können?
Die Aufklärung der Bevölkerung über die Inhalte der Reformen sowie die Mobilisierung für ein „Ja“ übernahmen in den letzten Monaten vor allem die Basisorganisationen der Indígena, der Frauen und der Campesino/abewegung. Das Abstimmungsergebnis zeigte, daß hier zumindest Teilerfolge erzielt werden konnten, denn gerade in den ländlichen Regionen, die besonders vom bewaffneten Konflikt betroffen waren und einen hohen Anteil an indigener Bevölkerung aufweisen, gewann das „Ja“. Die Abstimmung wurde jedoch in der Hauptstadt entschieden, in der die Mehrheit der ladinischen Bevölkerung angesiedelt ist und die durch eine Gleichstellung der indigenen Bevölkerung fürchtet, ihre Privilegien zu verlieren.
Die Regierung beschränkte sich im wesentlich darauf, für das „Ja“ aufzurufen. Die beiden linken Parteien Frente Democrático Nueva Guatemala (FDNG) und die ehemalige Guerilla URNG setzten sich mittels einer „Kampagne für das Ja“ weitaus intensiver für die Reformen ein, da die Verfassungsänderungen einen wesentlichen Teil ihrer Auslegung des Friedensabkommens beinhalten. Allerdings waren beide Parteien, die ohnehin nur über begrenzte Kapazitäten verfügen, in den letzten Wochen auch damit beschäftigt, einen Präsidentschaftskandidaten für ihr neugeschmiedetes Parteienbündnis „Allianz Neue Nation“ (ANN) zu finden, das bei den Wahlen im kommenden November antreten soll.
Doch dies alles ist noch keine hinreichende Erklärung für das niederschmetternde Ergebnis der Abstimmung und die hohe Wahlenthaltung. Entscheidende Faktoren für die hohe Abstinenz waren das Transportproblem, das vor allem die ländliche Bevölkerung daran hinderte, zu den Urnen zu gelangen, und das Problem, daß viele Wahlberechtigte, vor allem Frauen, nicht ins Wahlregister eingetragen waren. Eine Kampagne zur Einschreibung ins Wahlregister war zwar schon Monate zuvor von der URNG lanciert worden, aber auch hier mangelte es wiederum an der Unterstützung durch die Regierung.
Bei all diesen Unzulänglichkeiten im Vorfeld der Abstimmung fiel die Propaganda rechter Organisationen, die gegen die Verfassungsreformen mobilisierten, auf fruchtbaren Boden. Zwar bekannte sich die FRG, die Partei des Ex-Diktators Ríos Montt, nach monatelangen Versuchen, die Abstimmung zu verhindern, in letzter Minute noch zum „Ja“, doch der mächtige Unternehmerverband CACIF rief kurz vor dem Referendum zum „Nein“ auf, und rechte Organisationen, die sich Ende April in einer „Front für das Nein“ zusammengeschlossen hatten, rührten mit finanzieller Unterstützung konservativer Unternehmerkreise in Radio und Fernsehen kräftig die Werbetrommel.

… begünstigten die „Front für das Nein“

Sie konnten dabei auf die tatkräftige Unterstützung vieler evangelikaler Sekten zählen. Deren Prediger verkündeten, eine Abstimmung für die Reformen bedeute ein Votum für die Guerilla und die Rückkehr zum Krieg – und eine Erhöhung der Steuern. Außerdem bringe die Zustimmung eine Legalisierung satanischer (indigener) Bräuche. Insbesondere mit letzterer Drohung trafen sie den Nerv einer zutiefst rassistischen Gesellschaft, deren weiße Mittel- und Oberschicht nichts mehr fürchtet als eine Gleichstellung der Maya-Bevölkerung.
Aus einer Umfrage der Tageszeitung „El Periódico“ geht hervor, wie tief die Ängste sitzen: Die einen befürchteten, daß ihnen nach der Verfassungsänderung die indigene Haushälterin wegläuft, andere sahen in der Anerkennung des Gewohnheitsrechts der Maya den sofortigen Auftakt für einen Aufstand der Indígenas und noch anderen wollte man glauben machen, daß mit der Zustimmung zu den Reformen der Zwang zum Erlernen einer der 24 Maya-Sprachen verbunden sei. Genügend Gründe, um gegen die Definierung des guatemaltekischen Staates als „multiethnisch, plurikulturell und vielsprachig“ zu stimmen, wie Artikel 1 der guatemaltekischen Verfassung nach dem 16. Mai hätte lauten können.
Das seit Wochen anhaltende repressive Klima, das drei Tage vor der Abstimmung in der Ermordung des führenden FDNG-Vertreters Belarmino González und seiner Begleiterin gipfelte, trug zu diesem Abstimmungsergebnis bei. Die Art des Mordes – González wurde auf offener Straße von Unbekannten erschossen – sowie die Tatsache, daß González sich in der „Kampagne für das Ja“ engagiert hatte, lassen auf politische Hintergründe schließen.

Rückschlag für den Friedensprozeß

Der Friedensprozeß in Guatemala hat mit dem Ergebnis der Abstimmung einen schweren Rückschlag erlitten. Neben den bereits genannten Schwierigkeiten für eine Teilnahme am Referendum waren die Vorurteile und Ängste der stillschweigenden Mehrheit für das enttäuschende Ergebnis entscheidend. Ein Ergebnis, das auch die Übel der guatemaltekischen Gesellschaft und des politischen Systems aufzeigt:
Der jahrhundertelang verwurzelte Rassismus, die aus den Zeiten der Repression herrührende tiefsitzende Angst und das fehlende Vertrauen in das Parteiensystem und seine VertreterInnen. Verloren haben dabei vor allem die unterzeichnenden Parteien des Friedensabkommens. Die derzeitige PAN-Regierung unter Präsident Alvaro Arzú wird vor den Geberländern und der internationalen Gemeinschaft, von deren Krediten sie abhängt, den erneuten Rückschritt im Friedensprozeß erklären müssen.
Viel tiefgreifendere Auswirkungen hat das Abstimmungsergebnis jedoch auf die URNG und das kürzlich gegründete linke Wahlbündnis Alianza Nueva Nación (ANN). Denn die Volksbefragung war für die guatemaltekische Linke – zumindestens für die in Parteien organisierte – auch ein Probelauf für die im kommenden November stattfindenden allgemeinen Wahlen. Schließlich hat die ANN die progressive Auslegung des Friedensabkommens zum Kern ihres Wahlprogramms gemacht. Um das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen, muß die ANN nun versuchen, die Aufklärungsarbeit über das Friedensabkommen noch einmal zu intensivieren – ansonsten drohen die Wahlen in einem ähnlichen Debakel zu enden. Bei dieser Arbeit, bei der es jedoch nicht nur um Wahlergebnisse gehen kann, sondern ganz allgemein um eine Wiederbelebung des Friedensprozesses, müssen die linken Parteien allerdings stärker als bisher auch die Initiativen anderer Akteure des Friedensprozesses, etwa die der Basisorganisationen oder der katholischen Kirche, wahrnehmen.

Trickreich gegen den Trend

Auf den ersten Blick sehe es schlecht aus für Alberto Fujimori. Alfredo, Taxifahrer in Lima, fährt sich mit dem Zeigefinger über den Hals, als er auf die Wahlchancen des amtierenden Präsidenten angesprochen wird. Natürlich ist das symbolisch zu verstehen und soll nicht heißen, daß er Fujimori am liebsten unter der Guillotine sähe. Doch die Stimmung auf der Straße ist von der wirtschaftlichen Krise geprägt, die den Subkontinent überzieht. Wer weniger Geld in seinen Taschen findet als vor einem Jahr, macht dafür den Präsidenten verantwortlich. So auch die Taxifahrer, deren Anzahl sich mit steigender Arbeitslosigkeit rapide vermehrt. „Zehn Jahre Fujimori, das reicht,“ meint nicht nur Alfredo. Auch in Meinungsumfragen für die im April 2000 stattfindenden Präsidentschaftswahlen liegt Fujimori hinter dem amtierenden Bürgermeister von Lima, Alberto Andrade, zurück.
Aber wer Alberto Fujimori kennt, kann sich sicher sein: der Präsident wird alle Register ziehen, um das sich für ihn ankündigende Unheil noch einmal abzuwenden. Fujimori hat seine Kandidatur noch nicht offiziell verkündet. Dennoch präsentiert er sich in den Medien, als sei der Wahlkampf bereits in vollem Gange. Gelegenheit dazu bieten ihm die zahlreichen Unwetterkatastrophen, von denen Peru auch im Jahr nach dem Abzug vor El Niño heimgesucht wird. Anders als sein nicaraguanischer Kollege Arnoldo Aleman steht Fujimori stets in Gummistiefeln, Regenjacke und Schutzhelm bereit. Er beaufsichtigt höchstpersönlich Bergungs- und Aufräumarbeiten, wenn gerade ein Dorf überflutet oder von einer Lawine verschüttet wurde. Sogar der Probleme einzelner MitbürgerInnen nimmt er sich an.

Geburt im Präsidentenhubschrauber

So ordnete der unermüdlich die Krisengebiete überfliegende Präsident kürzlich die Evakuierung einer Frau an, die bereits in den Wehen lag. Sie durfte ihren Sohn im Präsidentenhubschrauber zur Welt bringen. Als Dank erhielt der Bub von der glücklichen Mutter den wohlklingenden Namen Kenyi Alberto. Doch das elterliche Glück war offenbar auch auf Seiten Fujimoris, dessen neugeborener Sohn ebenfalls auf den Namen Kenyi hört. Strahlend wog er das schreiende Baby vor surrenden Kameras in seinen Armen. Besser könnte auch die Dramaturgie einer Telenovela nicht sein. Fujimori hat in den letzten Jahren konsequent auf seine Wiederwahl hingearbeitet. Drei VerfassungsrichterInnen, die festgestellt hatten, eine zweite Wiederwahl sei gemäß der peruanischen Verfassung nicht zulässig, mußten ihren Hut nehmen. Denn nach Auffassung der Regierung steht im Jahr 2000 die erste Wiederwahl des seit 1990 amtierenden Präsidenten an. Sie argumentiert, er sei im Jahre 1995 zum ersten Mal nach der 1993 in Kraft getretenen neuen Verfassung gewählt worden. Gegenüber der alten Verfassung war damals im wesentlichen ein Artikel geändert worden: die bis dato untersagte Wiederwahl des Präsidenten wurde für eine weitere Periode zugelassen. Durch das Ausscheiden der drei RichterInnen ist das Verfassungsgericht zur Zeit unterbesetzt und darf laut Gesetz nicht mehr über Verfassungsklagen entscheiden.
Die oberste Wahlbehörde, das Jurado Nacional de Elecciones (JNE), dem fünf Juristen angehören, könnte sich einer erneuten Wiederwahl Fujimoris ebenfalls in den Weg stellen. Bis Mai letzten Jahres wäre dies mit einfacher Mehrheit möglich gewesen. Da diesem Gremium zwei Parteigänger des Präsidenten angehören, verabschiedete Fujimori ein neues Gesetz, das für derartige Beschlüsse eine Mehrheit von 4:1 fordert. Den letzten Versuch, Fujimori zu stoppen, startete im vergangenen Jahr eine Initiative mit dem Namen Foro Democrático (Demokratisches Forum). Sie sammelte 1,4 Millionen Unterschriften für ein Referendum gegen die Wiederwahl. Laut Verfassung hätte das Referendum damit zugelassen werden müssen. Doch das JNE erkannte einen Teil der Unterschriften nicht an und verkündete, ein Referendum sei nur zulässig, wenn sich mindestens 48 Abgeordnete des Kongresses dafür aussprächen. Kurz zuvor hatte das JNE noch versichert, eine Zustimmung des Parlaments zu einem Referendum sei nicht erforderlich. Zu diesem Zeitpunkt war bereits klar, daß die Opposition im Kongreß nur maximal 45 Stimmen zusammenbringen konnte. Insgesamt hat sich Fujimori in kontinuierlicher Arbeit seit 1990 genügend Machtmittel verschafft, um die Rechtslage nach seinen Vorstellungen verändern und beliebige Personen mit Anklagen überziehen zu können. Obwohl er im Kongreß über eine absolute Mehrheit verfügt, übergeht er vielfach sogar die Legislative. Eine ganze Reihe von Dekreten der Regierung werden ohne Zustimmung des Parlaments durchgesetzt. Das lahmgelegte Verfassungsgericht kann nicht einschreiten. Die Justiz steht weitgehend unter Kontrolle von zwei Regierungskommissionen, die ursprünglich eine Justizreform für Gerichte und Staatsanwaltschaft in die Wege leiten sollten.

Justiz in Fujimoris Diensten

Wie effizient Fujimori die Justiz einsetzt, um KritikerInnen aus dem Weg zu räumen, zeigt der bekannte Fall des Unternehmers Baruch Ivcher, vormals Besitzer des Fernsehkanals 2. Ihm wurde nach kritischen Reportagen mit dubiosen Begründungen die peruanische Staatsangehörigkeit entzogen, die laut Gesetz Voraussetzung für den Betrieb eines Senders ist. Nach seiner Flucht ins Ausland wurde er wegen angeblicher Zollvergehen in Abwesenheit zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Der Geheimdienst SIN (Servicio de Inteligencia Nacional), von Vladimiro Montesinos geleitet, ergänzt die Maßnahmen der Justiz. Er wird von der Opposition unter anderem beschuldigt, Verbrechen der Todesschwadron Colina autorisiert und kontrolliert zu haben. Im vergangenen Jahr stellte sich heraus, daß auf Veranlassung des SIN die Telefone von Parlamentsabgeordneten und der oppositionellen Presse abgehört wurden. Auch die Polizei, die Policia Nacional del Peru (PNP), steht unter Kontrolle des SIN, denn im Mai 1998 verkündete Fujimori ein Dekret, das unter dem Vorwand der effektiveren Verbrechensbekämpfung die Infiltration der PNP durch den SIN erlaubt.
Der Opposition macht es Fujimori so schwer wie möglich, eine Liste zu den Wahlen aufzustellen. Er verabschiedete ein Wahlgesetz, nach dem jede Partei oder Gruppierung, die einen Kandidaten präsentieren möchte, etwa 520.000 Unterschriften vorlegen muß. Das sind 4 Prozent der Wahlberechtigten. Viele potentielle KandidatInnen werden schon an dieser Hürde scheitern. Die Politik des Präsidenten läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß er die Macht um jeden Preis zu erhalten versucht. Das Problem: ein zweiter aussichtsreicher Kandidat aus den Reihen seiner Regierungspartei Cambio 90 / Nueva Mayoria ist nicht in Sicht.

Erfolgreicher Gegenspieler: Alberto Andrade

Zu den möglichen Gegenkandidaten: An erster Stelle in den Meinungsumfragen liegt Alberto Andrade, der amtierende Bürgermeister von Lima. Auch er hat seine offizielle Kandidatur noch nicht erklärt. In Lima gewann er große Popularität durch seine Anstrengungen, das historische Zentrum der Stadt von illegalen StraßenhändlerInnen zu säubern und wichtige Plätze neu herzurichten. Als er 1995 zum ersten Mal für das Bürgermeisteramt in Lima kandidierte, betonte er, daß er nicht der Opposition angehöre, aber auch nicht in allen Punkten mit der Regierungspolitik übereinstimme. Da er als ebenso autoritär wie Fujimori eingeschätzt wird, zweifeln viele Linke in Peru, ob sich unter seiner Präsidentschaft viel ändern würde. Ursprünglich war Andrade Mitglied der konservativen Partei PPC. Doch als nach dem Desaster der Regierung Alan García das Ansehen der traditionellen Parteien in Peru sank und unabhängige Kandidaten sich als chancenreicher bei Wahlen herausstellten, trat er aus der Partei aus. Zu den Bürgermeisterwahlen gründete er die Bewegung Somos Lima – „Wir sind Lima“, deren Namen er vorsorglich schon in Somos Peru korrigiert hat. Wichtiger als ein politisches Programm sind in der peruanischen Politik offenbar Gefühle. Andrade wiegt zwar bislang keine Neugeborenen in seinen Armen, doch er hat sich für ein Herz als Parteilogo von Somos Peru entschieden. Fujimori versuchte dem Bürgermeister in weiser Voraussicht Steine in den Weg zu legen, kürzte ihm die Mittel und konterkarierte seine Politik, wo er nur konnte. Aber das machte Andrade nur beliebter.
Ein anderer Kandidat ist auf jeden Fall für eine Überraschung gut – der ehemalige Präsident des staatlichen Peruanischen Instituts für Sozialversicherungen, IPSS, Luis Castaneda Lossio. Er gehörte früher der Accion Popular, der Partei des ehemaligen Präsidenten Belaúnde, an und präsentiert sich jetzt aus den gleichen Gründen wie Andrade als unabhängiger Kandidat. Ihm gelang die Sanierung des IPSS, und er wehrte sich erfolgreich gegen dessen drohende Privatisierung. Das trug ihm vor allem die Sympathie jener Bevölkerungsschichten ein, die sich eine private Krankenversicherung nicht leisten können. In Meinungsumfragen liegt Castaneda mit immerhin rund 15 Prozent der Stimmen an dritter Stelle. Mit der Sammlung von Unterschriften für seine Kandidatur hat er bereits begonnen.
Als weitere Kandidaten haben Alberto Borea, wie Andrade Ex-PPC-Mitglied, und Alejandro Toledo, der schon bei den letzten Wahlen antrat, ihren Hut in den Ring geworfen. Sie wollen sich aber in Vorwahlen vom Demokratischen Forum bestätigen lassen, so daß nur einer von beiden übrig bleiben wird. Beide gelten als weniger aussichtsreich als Andrade oder Castaneda. Alle erwähnten Kandidaten gehören der politischen Rechten an. Sie sprechen sich für eine Unabhängigkeit der Justiz, die Respektierung der Menschenrechte und eine Demokratisierung der Institutionen aus. Vor allem Castaneda und Borea kritisieren zwar die neoliberale Wirtschaftspolitik der Regierung Fujimori, doch werden sie es kaum wagen, sich mit dem IWF anzulegen.

Die Linke ist heillos zerstritten

Ein Kandidat der heillos zerstrittenen Linken ist nicht in Sicht. Sollte noch jemand ins Rennen geschickt werden, hätte er ohnehin nicht die geringste Chance. Die Izquierda Unida (IU), die zu den Wahlen 1985 und 1990 noch aussichtsreiche Kandidaten präsentierte, ist nach dem Wahldesaster von 1995 fast in der politischen Bedeutungslosigkeit verschwunden. Allenfalls im Kongreß sind für linke Abgeordnete einige wenige Sitze zu erreichen, besonders dann, wenn sie sich mit anderen Oppositionskreisen auf einer Liste zusammenschließen. Dies taten verschiedene Ex-IU-Mitglieder 1995 mit Erfolg in der UPP (Unidad Popular del Peru). Anführer dieser momentan größten Oppositionsgruppe im Kongreß ist der ehemalige UNO-Generalsekretär Perez de Cuellar, der sich mit Ende der Legislaturperiode aus dem politischen Leben zurückziehen wird. Das weitere Schicksal der UPP ist noch unklar.
Fujimori, momentan mit etwa 30 Prozent der Stimmen gehandelt, kann mit Sicherheit noch zulegen. Wie das möglich ist, demonstrierte er bereits erfolgreich im Wahljahr 1995: Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst, persönliche Einweihungen von Schulen in allen Landesteilen, Elektrifizierung und Wasserversorgung von entlegenen Dörfern oder neugegründeten Pueblos jóvenes in Lima und Zuteilung von Besitztiteln für LandbesetzerInnen, falls keine Ansprüche Dritter bestehen. Nach der Privatisierung vieler staatlicher Unternehmen hat Fujimori genügend Mittel für solche Zwecke zur Verfügung. Auch das Militär kooperiert gern mit dem Präsidenten. Soldaten werden zu Straßenarbeiten in die Randgebiete Limas geschickt und schneiden ihren Mitbürgern umsonst die Haare. Sollten alle diese Maßnahmen nicht fruchten, bieten sich weitere Manöver an.

Im Jahr 2000 nur ein Wahlgang?

Die Opposition befürchtet, die Regierung könnte das Wahlsystem ändern. Falls kein Kandidat die absolute Mehrheit der Stimmen erhält, müssen nach dem jetzigen System die beiden Kandidaten mit dem besten Ergebnis in einer Stichwahl noch einmal gegeneinander antreten. Da die Opposition im zweiten Wahlgang voraussichtlich geschlossen den Gegenkandidaten zu Fujimori unterstützen wird, ist es für den amtierenden Präsidenten leichter, im ersten Urnengang mit einfacher Mehrheit zu gewinnen. Es böte sich aus Regierungssicht also an, den zweiten Wahlgang rechtzeitig per Gesetz zu eliminieren und den Sieger der ersten Runde zum Präsidenten zu erklären.

Letzter Ausweg: Wahlfälschung

Als letztes Mittel bleiben Wahlmanipulationen. In Peru lebt etwa 25 Prozent der Bevölkerung in Notstandsgebieten, die unter Kontrolle des Militärs stehen. Auch der Wahlprozeß wird dort von den Streitkräften geleitet. Unter anderem transportieren Soldaten die Wahlurnen zu den Auszählstellen. Kritiker aus der Opposition befürchten, insgesamt könnten bis zu 10 Prozent der Stimmen manipuliert werden. Angesichts dieser Möglichkeiten der Regierung zweifelt auch Taxifahrer Alfredo an einem wirklichen Machtwechsel: „Fujimori ist schlau und äußerst trickreich. Er manipuliert, wo er nur kann.“ Die Gegenkandidaten werden es schwer haben. Auch Andrade und Castaneda. Doch Fujimoris großes Problem ist die gegenwärtige Wirtschaftskrise. Wenn nicht bald ein Aufschwung in Sicht ist, könnten am Ende doch alle Tricks vergeblich gewesen sein.

Abgelehnte SelbstBestimmung

Es sollte ein schönes Geburtstagsgeschenk werden. Hundert Jahre nach der ‘Ankunft’, wie die Invasion der US-amerikanischen Truppen in Guánica am 25. Juli 1898 im offiziellen Jargon der puertorikanischen Regierung gern bezeichnet wird, sollte die Bevölkerung des Commonwealths Puerto Rico wieder einmal über ihr zukünftiges Verhältnis zu den USA entscheiden dürfen. Diesmal ernsthaft. Die Gesetzesvorlage, formuliert von dem republikanischen Abgeordneten Dean Young, verfügte zum erstenmal die Autorisierung und Finanzierung eines Status-Plebiszits in Puerto Rico durch den US-amerikanischen Kongreß, gekoppelt an eine zehnjährige Übergangsphase zur Umsetzung der Ergebnisse. Bisherige Referenden waren von puertorikanischer Seite in Eigenregie durchgeführt worden und hatten für die Bundesregierung keinen verbindlichen Charakter.
Nur eine Stimme Mehrheit brachte den Young-Act durch das Repräsentantenhaus und in den Senatsausschuß für Energie und natürliche Ressourcen, jenes Komitee, das als letztes Überbleibsel uneingestandener kolonialer Kompetenzen die Funktion der Rechtssprechung bezüglich des letzten größeren ‘nicht-inkorporierten Territoriums’ (siehe Kasten) der USA innehat. Im republikanisch kontrollierten Senat verursachte die Initiative Bauchschmerzen. Die Vorstellung eines spanisch-sprachigen 51. Bundesstaats, dessen Bevölkerung zu 70 Prozent von bundestaatlich finanzierten Essensmarken lebt, keine Bundessteuern zahlt und mehrheitlich demokratisch wählt, ist ein Horrorszenario für die Verteidiger der alten ‘WASP-(White Anglo Saxon Protestant) Ideologie’, nach welcher der gesellschaftliche Konsens in den USA auf angloamerikanischen Werten fußt. Andererseits können selbst die konservativsten Kräfte in der Grand Old Party es sich nicht mehr leisten, mit latino-feindlichem Verhalten den Verlust weiterer Stimmen innerhalb der stetig wachsenden Hispanic Community in den USA zu riskieren (vgl. LN 295). Angesichts dieses Dilemmas verlegte man sich aufs Unverfänglichste, aufs Warten. Das rettende Ende des 105. Kongresses war in Sicht, Neuwahlen standen vor der Tür und die unbequeme Entscheidung war somit erst einmal wieder aus dem Weg geräumt. Erleichtert über diesen Aufschub sind nicht nur die Konservativen, sondern auch Luis Gutiérrez, Immigrant aus Puerto Rico, demokratischer Abgeordneter im Repräsentantenhaus und ein vehementer Verfechter der Unabhängigkeit. Nicht zu Unrecht warf er Youngs Formulierung der Statusalternativen (Eingliederung in den Staatenbund der USA, Commonwealth oder Unabhängigkeit; siehe Kasten) vor, sie begünstige ein Wahlergebnis zugunsten von Puerto Ricos Anschluß als 51. Bundesstaat.
In der Tat ist eine ausdrückliche Garantie für die unwiderrufbare US-Staatsbürgerschaft, der freie Zugang auf den US-amerikanischen Markt und die Zusage bundesstaatlicher Fördergelder – Mindestforderungen, welche PuertorikanerInnen aus allen Statuslagern teilen – nur in der Bundesstaat-Option enthalten. Um deren Zustandekommen zu vermeiden, schürte Gutiérrez die anti-hispanischen Ressentiments der ultra-konservativen Kräfte und hielt feurige Tiraden auf die kulturelle Fremdheit und Unassimilierbarkeit der puertorikanischen Nation. Mit Gutiérrez stimmte auch Nydia Velazquez, eine weitere der vier puertorikanischen Abgeordneten im Repräsentantenhaus und Befürworterin des Status Quo, gegen die Gesetzesinitiative.

Wie alternativ sind die Alternativen?

Das Abstimmungsverhalten der puertorikanischen Abgeordneten im US-Kongreß spiegelt den tiefen Riß wieder, den die Statusfrage durch die puertorikanische Nation gezogen hat. Alle drei relevanten Parteien Puerto Ricos definieren sich über die Statusfrage. Die regierende Partei der novoprogresistas PNP befürwortet einen Anschluß als 51. Bundesstaat, die sozialreformerische Populäre Demokratische Partei PPD (Partido Popular Democrático) steht für die Vervollkommnung des halb-autonomen Status quo, und die parteipolitische Organisation der Unabhängigkeitsbewegung PIP (Partido Independendista Puertoriqueña) will eine unabhängige Republik Puerto Rico mit sozialistischem Profil. Die Eigenständigkeit und den Selbstwert einer puertorikanischen Kultur-Nation, Stolz aller PuertorikanerInnen auf der Insel und dem Festland, streitet keine der Parteien ab. Ebensowenig möchten und können sie auf zumindest einen gewissen Grad der wirtschaftlichen und politischen Kooperation mit den USA verzichten. Die Beibehaltung des Bürgerrechtsstatus, freien Marktzugang und mindestens zehn weitere Jahre bundesstaatliche Zuschüsse und Handelsprivilegien führen somit auf irgendeine Weise alle im Partei-Programm.
Auf die eigentlichen, hinter der Statusfrage liegenden Probleme hat jedoch keine der politischen Alternativen eine überzeugende oder auch nur innovative Antwort. Puerto Ricos Pro-Kopf-Einkommen beträgt ein Drittel dessen, was man durchschnittlich in den USA verdient und nur die Hälfte des ärmsten Bundesstaates Mississippi. Ein Viertel der arbeitsfähigen Bevölkerung ist arbeitslos, sechzig Prozent aller Familien erhalten Sozialleistungen aus Washington in Form von Essensmarken oder Arbeitslosengeld. Derartige bundesstaatliche Zuwendungen machten 1995 gut 22 Prozent des Bruttoinlandsprodukts Puerto Ricos aus und beliefen sich auf über fünf Milliarden US-Dollar. Arbeitsmigration – vor allem im Nordosten der USA – ist für die PuertorikanerInnen zum Lebensstil geworden, 2,5 der 6 Millionen PuertorikanerInnen wohnen auf dem Festland, die Mehrzahl in New York. Haben sie auch keinen Paß, so können sie auf ihren eingeschränkten US-Bürgerrechtsstatus dennoch unmöglich verzichten. Ebenso ausgeschlossen ist für sie jedoch die Aufgabe ihrer – ebenso eingeschränkten – puertorikanischen ‘Nationalität’, schließlich beharren die PuertorikanerInnen auf einer eigenen Flagge, einer Nationalhymne und einer Olympiamannschaft.
So heißen die eigentlichen Kategorien, in denen die Bevölkerung denkt, nicht Unabhängigkeit oder koloniale Vormundschaft, sondern Arbeit oder Wohlfahrtsstaatlichkeit, Nationalität oder Bürgerrechtsstatus und Gleichheit oder freie Selbstbestimmung. Die arme Hälfte der Bevölkerung verspricht sich von der Angliederung an die USA die Ausweitung bundesstaatlicher Zuschüsse, wie Medicaid und Lebensmittelmarken. Gerade die Armen sprechen jedoch größtenteils kein Englisch und sind in den Händen US-amerikanischer Gegner einer Integration Puerto Ricos in den Staatenbund deshalb das größte Argument. Die Wohlhabenderen auf der Insel fürchten, sie müßten mit ihren Bundessteuern die ärmere Hälfte der Bevölkerung finanzieren und votieren somit tendenziell gegen die Bundesstaatlichkeit.

Rosselló zeigt Flagge für die ‘Option der Armen’

„Statehood is for the poor“, die Eingliederung als Bundesstaat ist die Option der Armen, wirbt denn auch die derzeit regierende PNP in ihrer Wahlbroschüre. Mit diesem Slogan konnte sie 1968 der langen Herrschaft der PPD ein Ende setzen, und zum ersten Mal übernahmen die Befürworter einer vollständigen Integration in die Vereinigten Staaten die Regierung. Das Aufbrechen der PPD-Hegemonie führte zu einer Polarisierung der politischen Landschaft um die Statusfrage. Beide Parteien lösten sich jedoch bis 1992 mit einem derart knappen Vorsprung an der Regierung ab, daß sie es nicht wagten, ein Referendum durchzuführen. Bei allen bisherigen Referenden, in denen die drei Alternativen Bundesstaatlichkeit, Commonwealth und Unabhängigkeit zur Auswahl standen, hielten sich die Commonwealth-Option und die Bundesstaatlichkeit denn auch die Waage. Die Unabhängigkeit war, abgesehen von einem kurzen Aufleben der nationalistischen Bewegung in den 30ern, stets das Stiefkind der Nation und in Wahlen, ebenso wie in den Plebisziten, erzielt die PIP bis zu vier Prozent.

Nach hinten losgegangen

Pedro Rosselló, seit seinem erfolgreichen Wahlsieg 1992 amtierender Gouverneur, wähnte seine Popularität groß genug, um einen beherzten Schritt in Richtung US-Bundesstaatlichkeit zu wagen – und ging dabei ein Stück zu weit. Mit einer intensiven Werbekampagne unterstützte er Dean Youngs Initiative für ein autorisiertes Statusreferendum im US-Kongreß und war nicht bereit aufzugeben, als dieses im Senat letztendlich scheiterte. Um den für das Plebiszit anvisierten Termin am 13. Dezember 1998 trotzdem wahrzunehmen, legte er der puertorikanischen Bevölkerung eine eigene, um eine Option erweiterte Fassung zur Abstimmung vor, die den bereits der Senatsversion vorgeworfenen Hang zur Bundesstaatlichkeit noch verstärkte. Neben dem Anschluß an die USA, Unabhängigkeit und Commonwealth (in den vom US-Kongreß formulierten Formen) stand nun auch noch die Alternative eines erweiterten Autonomiestatus als ‘Republik in freier Assoziierung’ auf dem Papier, ein Modell, das progressive Kräfte innerhalb der PPD ohnehin favorisieren. Hintergedanke war jedoch, die Opposition zu spalten und auf diese Weise die Bundesstaatlichkeit zur alleinigen mehrheitsfähigen Option zu machen. PPD und Unabhängigkeitspartei reagierten mit einem Boykottaufruf, die empörte Wählerschaft rettete sich in die „fünfte Kategorie“ und gab der Ablehnung aller vorgeschlagenen Optionen mit 50,6 Prozent noch vor der Bundesstaatsvariante mit 46,5 Prozent ihre Stimme. Rosselló interpretiert das Ergebnis nun skrupellos zu seinen Gunsten, doch im Endeffekt hat er sich mit dem Vorstoß selbst zurückgeworfen. Zwar hatte er sich durch einige Maßnahmen wie der Privatisierung der Telefongesellschaft und des Gesundheitssystems sowie eines Projekts zur Förderung der englischen Sprache an puertorikanischen Schulen bereits unbeliebt gemacht und breite Protestbewegungen provoziert. Dennoch sagten Meinungsumfragen der puertorikanischen Medien in den letzten Jahren einen leichten Vorsprung der Bundesstaatlichkeits-Option im Falle eines Plebiszits voraus. Die letzte Antwort der Bevölkerung ist somit tatsächlich auch als Protest gegen die versuchte Manipulation zu deuten.

Gezerre um Symbole

Der schleichende Erfolg der Bewegung für die Bundesstaatlichkeit in den letzten Jahren ist vor allem auf deren geschickte Rhetorik und die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem Status Quo zurückzuführen. Mit ihrem Konzept der estadidad jíbara, eines US-Bundesstaats mit puertorikanischer Kultur, bediente sich die PNP der folkloristischen Figur der Landarbeiter aus dem gebirgigen Landesinneren der Insel, der Jíbaros, die der Überlieferung nach hartnäckige Bewahrer puertorikanischer Traditionen sind. Auf diese Weise integrierte sie ein Wahrzeichen des kulturellen Nationalismus in ihr Parteiprogramm und schaffte es, den Wunsch der Bundesstaats-Advokaten nach wirtschaftlicher und politischer Gleichheit mit dem der autonomistas nach politischer und kultureller Selbstbestimmung zu verbinden. Eigentlich übernahm sie dabei das Emblem ihres Kontrahenten PPD, das bereits seit ihrer Gründung 1948 den Jíbaro-Strohhut und die Machete im Schilde führt – ebenfalls als populistische Propaganda, allerdings für den 1952 ausgehandelten und derzeit gültigen Commonwealth-Status. Aber schließlich wird der Jíbaro inzwischen auch von PuertorikanerInnen in den USA als Argument für Seßhaftigkeit und Zuverlässigkeit bei Unternehmensgründungen gehandelt. Für kulturelles Gedächtnisgut gibt es zum Glück kein Copyright.

Das einstige Vorzeigemodell ist nun bankrott

Entscheidend ist jedoch nicht, was Puerto Rico fordert, sondern was der US-amerikanische Kongreß gewährt. Und das ist weit weniger als alle puertorikanischen Vertreter, einschließlich der USA-orientierten sich ertrotzen. Dabei ist man auch in den USA grundsätzlich an der Lösung der Statusfrage interessiert, denn das einstige Vorführ-Commonwealth-Modell ist in den Augen seiner Schöpfer nun bankrott. In knapp dreißig Jahren überstürzter Wirtschaftsförderung durch die Kolonialmacht durchlief Puerto Rico die Entwicklung von der Agrar- zur Dienstleistungsgesellschaft. Heute hat es die Wirtschaftsstruktur eines reichen, aber die Sozialstruktur eines armen Landes. Im Zeichen des Ost-West-Konflikts katapultierte die von der Roosevelt-Administration initialisierte ‘Operation Steigbügel’ die Karibikinsel durch staatliche Interventionen und massive Investitionsanreize in die Rolle eines ‘Vorzeigeobjekts kapitalistischer Entwicklung’, warf jedoch die breite Masse der ländlichen Bevölkerung dabei aus dem Sattel. In den 70er Jahren erreichte die Arbeitslosigkeit Rekordzahlen von über 20 Prozent. Die sozialen Folgen konnten nur durch beiderseits geförderte Emigration in die USA, sowie von US-Seite finanzierte Sozialhilfeprogramme aufgefangen werden. Der Krisenstab im Weißen Haus reagierte im ad-hoc-Verfahren, schraubte die Sozialleistungen immer höher und schuf als zusätzlichen Investitionsanreiz das Wundermittel ‘Sektion 936’.
Durch diesen zusätzlichen Paragraphen in der US-Steuergesetzgebung sind nicht nur die Gewinne von in Puerto Rico operierenden Tochterfirmen US-amerikanischer Konzerne, sondern auch deren Transaktion an die Zentralen auf dem Festland von jeglichen Abgaben befreit. Insgesamt hat dieses System des Corporate Welfare weder der puertorikanischen noch der US-amerikanischen Wirtschaftslage Erleichterung gebracht. Die erhoffte Entspannung auf dem Arbeitsmarkt blieb aus, stattdessen wurde US-Konzernen ein willkommenes Schlupfloch für Steuerhinterziehung und die Umgehung von Arbeiterschutzgesetzen geschaffen. Exzessive Profite haben hierdurch in erster Linie die kapitalintensive High-Tech- und Pharmaindustrie gemacht, die fast 50 Prozent der steuerlichen Ersparnisse für sich nutzen konnten – und die belaufen sich auf 2 bis 3 Milliarden US-Dollar jährlich. Während sich die Zahl der Arbeitsplätze im Industriebereich seit den 70er Jahren extrem verringerte, boomte der Finanz- und Service-Sektor. Inzwischen macht das Dienstleistungswesen in Puerto Rico fast die Hälfte aller Arbeitsplätze aus. Der Billigproduktionsstandort entwickelt sich zum Finanzknotenpunkt zwischen den USA und der Karibik.
Dem soll nun mit einem Federstrich ein Ende bereitet werden. Angesichts der angespannten Haushaltslage beschloß die US-Regierung gegen die Opposition der puertorikanischen Repräsentanten im Kongreß und gegen die Lobby der Ostküsten-Konzerne S 936, den Motor der puertorikanischen Wirtschaft abzuschalten. Der Nutzen des kolonialen Ausbeutungs-Verhältnisses wog die Kosten schon seit längerem nicht mehr auf, und spätestens seit der Eröffnung noch günstigerer Produktionsstandorte durch die Caribbean Basin Initiative und NAFTA ist das Commonwealth-Modell auch in den Augen seiner Betreiber endgültig bankrott. Grund genug also, anläßlich des centenarios das Verhältnis neu zu überdenken, doch auch Uncle Sam fehlt guter Rat. Außer dem Risiko rechtlicher Präzedenzfälle (angelegt im Umgang mit der eingeschränkten Staatsbürgerschaft der PuertorikanerInnen) droht den Abgeordneten die politisch unangenehme Position in der Zwickmühle zwischen dem Finanzministerium und den politisch einflußreichen Groß-Konzernen.
An der ‘Selbstbestimmung’ der Puertorikaner, wie alle beteiligten Parteien die Statusfrage nennen, ist in Wirklichkeit kaum jemand interessiert. Für die US-amerikanischen Politiker geht es um wichtige Latino-Stimmen, die Organisationen der Hispanic Community hoffen ihrerseits auf Einflußgewinne für die Latino-Wählerschaft. Die Inselpolitiker kämpfen um Zuschüsse aus dem Bundestopf und für die Hegemonie der lokalen Machtelite. Und die internationale Debatte vor dem Dekolonisierungskomitee der UN, wo sich die unverbesserlichen Kontrahenten Kuba und USA bockshörnig Paroli bieten, nahm nur selten die Diskussion in Puerto Rico selbst zur Kenntnis. Mit dem Inkrafttreten einer eigenen Verfassung 1952 traf die UN Generalversammlung den – damals übrigens von allen lateinamerikanischen Ländern außer Guatemala und Mexiko mitgetragenen – Entschluß, Puerto Rico von der Liste der zu dekolonisierenden Länder zu streichen. Nun wollen viele lateinamerikanische Staatsmänner, welche in Puerto Rico ein Symbol des US-amerikanischen Imperialismus sehen, sich nicht eingestehen, daß für die Puertorikaner Selbstbestimmung nicht von vornherein mit Unabhängigkeit gleichzusetzen ist. Nicht umsonst betonten puertorikanische Gesandte mehrmals vor den UN, sie wollten und könnten ihre politischen Probleme selber lösen.
Bestes Beispiel für den taktischen Umgang mit der Statusfrage ist die fehlende Einbeziehung der PuertorikanerInnen auf dem Festland, die regen Anteil an dem politischen Schicksal ihrer Insel nehmen. New York ist mittlerweile nach San Juan die zweitgrößte Metropole Puerto Ricos. Insgesamt leben fast drei Millionen PuertorikanerInnen der ersten oder folgenden Einwanderungsgeneration in den USA und sind, wenn sie dort einen festen Wohnsitz haben, auch wahlberechtigt. Was lokalpolitische Belange angeht, unterhalten die Inselpolitiker einen intensiven Austausch mit der US-amerikanischen ‘Hälfte’ der Bevölkerung. In Statusfragen gilt sie, obwohl Umfragen ein ähnliches Verhalten wie auf der Insel feststellten, jedoch als unberechenbarer Faktor, mit dem keiner gerne kalkuliert. Dabei hätte für die MigrantInnengemeinde eine Statusänderung durchaus Konsequenzen, angefangen von Staatsbürgerschaft und Quantität der Migration bis hin zur staatlichen Förderung ethnischer und sozialer Organisationen.

Die Airbus-Nation wird weiter ferngesteuert

Das Karussell der Weltgeschichte wird sich auch ohne die Beteiligung der PuertorikanerInnen weiterdrehen. Wie Rosselló bereits verlauten ließ, wird die nationale Telefongesellschaft trotz der massiven Proteste der Bevölkerung im Februar verkauft. Die Steuergesetzgebung S 936 wird vom US-amerikanischen Kongreß trotz des Widerstands Rossellós und der Konzerne gestrichen. Trotz des Zorns der Independistas und der nicht unbeachtlichen Umweltbewegung wird Puerto Rico neuer Standort von SOUTHCOM, dem Südkommando der US-Armee. Und Dean Young, der republikanische Abgeordnete, der mit seiner Intitiative im letzten Jahr so kläglich scheiterte, zückt bereits zornig seine nächste – die nur noch die Bundesstaatlichkeit oder das erweiterte Commonwealth zur Auswahl stellt – und wettert auf die ‘undankbaren’ PuertorikanerInnen, die ‘anscheinend denken, sie kämen weiterhin in den Genuß der Bundesgelder, ohne was dafür zu tun’.
Obwohl die PuertorikanerInnen mit ihrem Votum wahre politische Mündigkeit bewiesen haben, liegt nun die Interpretationsgewalt über das Resultat wieder in den Händen US-amerikanischer Politiker. Die könnten im schlimmsten Fall ein altes Vorurteil bestätigt sehen: Noch bis in die 80er Jahre galt die Unfähigkeit der PuertorikanerInnen, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, als offizielle Rechtfertigung für die koloniale Vormundschaft. Unglücklicherweise wurde mit dem Nationalepos der 30er Jahre, Insularismo, diesem Mythos sogar von einem puertorikanischen Autor Stoff geboten. Antonio Pedreira verwandte hier das Bild eines im Wind driftenden Schiffes als nautische Allegorie für die Identitätssuche der puertorikanischen Nation. Dies wurde dann als Sinnbild für Entscheidungsunfähigkeit interpretiert. Auch in den Zeiten der ‘Airbus-Nation’, in der Charterflüge den Schiffsverkehr ersetzen und bis zu 5000 PuertorikanerInnen, AmerikanerInnen und NuyorikanerInnen (Puertorikanische Einwanderer in New York) täglich zielsicher zwischen San Juan und New York verkehren, sind diese Vorurteile nicht behoben.

KASTEN

Hundert Jahre ‘separate and unequal’

Die Irritation der US-amerikanischen Staatsmänner angesichts ihres Besitzes eines exotischen Eilands in der Karibik reicht zurück bis 1898. Das war das Jahr, in dem Spanien nach einem verlorenen Krieg seine letzten Territorien in Übersee, Kuba, Puerto Rico und die Philippinen, an die USA abtrat. Während Kuba nach vergleichsweise kurzer Zeit unter US-amerikanischer Militärverwaltung zumindest formell die Souveränität erlangte, erklärte der Oberste Bundesgerichtshof der Vereinigten Staaten Puerto Rico zu einem ‘nicht-inkorporierten Terrritorium’ und nahm dadurch sogar die wenigen politischen Freiheiten, die Spanien seiner Kolonie kurz zuvor in der Carta Autonómica verbürgt hatte, weitgehend zurück. Nach diesem im amerikanischen Verfassungsrecht bis dahin unbekannten Status „gehört Puerto Rico den Vereinigten Staaten, ist aber nicht die Vereinigten Staaten und ist auch kein Teil der Vereinigten Staaten“, es sei denn, das Gebiet würde durch ein Gesetz des Kongresses einverleibt. Zwar gestanden die USA im 1900 vom Kongreß erlassenen Foraker Act den PuertorikanerInnen eine zivile Verfassung zu und, rechtzeitig vor dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg, eine eingeschränkte Staatsbürgerschaft, grundlegend hat sich an dem ungleichgewichteten Verhältnis, das Puerto Rico von bestimmten Pflichten, aber auch von einigen Rechten US-amerikanischer StaatsbürgerInnen ausnimmt, jedoch nichts verändert.
Zwar müssen PuertorikanerInnen keine Bundessteuern leisten, und im Unterschied zur Regelung für die 50 Einzelstaaten, dürfen Zölle auf aus dem Ausland importierten Waren in den puertorikanischen Haushalt fließen. Getreu nach dem Umkehrschluß aus dem Prinzip der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, ‘no representation without taxation’ dürfen sie jedoch auch nicht an Präsidentschaftswahlen teilnehmen und ihr einziger Vertreter im US-amerikanischen Kongreß, der Resident Commissioner, ist nicht stimmberechtigt. Letzteres Schicksal teilen sie übrigens mit der Bevölkerung von Washington DC, deren Antrag auf vollwertige Einzelstaatlichkeit bisher ebenfalls vom Kongreß abgelehnt wurde. 1952 erhielt Puerto Rico eine eigene Verfassung und den Status eines Commonwealth, und verlor damit laut Beschluß der Vereinten Nationen den Status einer Kolonie. Bereits die auf eine weitreichendere Autonomie schließende spanische Übersetzung ‘Estado Libre Associado’, frei assoziierter Staat, zeigt jedoch, daß man sich auf puertorikanischer Seite mehr von diesem neuen Status versprochen hat. Daß es in der Tat auch auf US-amerikanischer Seite Versprechen zur weiteren Liberalisierung gab, wird heute gern vergessen. Stattdessen behält sich der US-amerikanische Kongreß vor, jedes puertorikanische Gesetz für nichtig zu erklären, die Gesetze des Bundes, so auch im Bedarfsfall der Militärdienst, haben dagegen auf der Insel volle Gültigkeit. Die offiziell gehandelten Alternativen zum Commonwealth heißen heute Unabhängigkeit, parteipolitisch vertreten durch die PIP, und Bundesstaatlichkeit, befürwortet durch die regierende PNP. Letzteres bedeutet den vollständigen Anschluß Puerto Ricos an den US-amerikanischen Staatenbund, mit allen Rechten und Pflichten der übrigen 50 Einzelstaaten.

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