„Es sei wohl nicht sein Jahr gewesen“, hieß es im Rückblick auf das Jahr 1994 in der Tageszeitung El Comercio über den ecuatorianischen Staatspräsidenten Sixto Durán Ballén. Dieser hatte im vergangenen Jahr durch Korruptionsaffären in seiner unmittelbaren Nähe und durch seine Ohnmacht gegenüber dem Kongreß stark an Ansehen verloren und wegen der sozialen Konsequenzen seiner Modernisierungspolitik die letzten Sympathien im Volk einbüßen müssen. Darüber hinaus brachten die spontanen Alleingänge seines Vizepräsidenten Alberto Dahik die Frage nach der eigentlichen Macht immer wieder in die Schlagzeilen.
Seit 1992 fährt Ecuador unter Präsident Sixto Durán Ballén als eines der letzten lateinamerikanischen Länder den Kurs einer harten Strukturanpassung, die im vergangenen Jahr die ersten Erfolge zeigte: Senkung der Inflation von 70 auf 20 Prozent, Stabilisierung des Wechselkurses und eine Rekordhöhe der Währungsreserven. Sie wurden aber angesichts der Liste der nach langem Hin und Her letztendlich doch nicht privatisierten Betriebe wenig gewürdigt. Neben der für 1995 angesetzten Privatisierung der EMETEL, dem Bereich der Telekommunikation, sorgten besonders die geplante Privatisierung des IESS, des Instituts für Sozialversicherung, und der staatlichen Ölgesellschaft Petroecuador für einigen Zündstoff.
Der IESS zog von öffentlichen Angestellten ein Zwangsbeitrag ein und finanzierte so gewisse soziale Bereiche wie Krankenhäuser, die auch für die unteren Schichten zugänglich wären. In diesem Sinne ist das IESS wohl die einzige Institution in Ecuador, in der sozial umverteilt wird. Der Staat schuldet dem IESS mehr als 500 Millionen US-Dollar, was dieses Thema zu einem der heikelsten für den 1983 ins Leben gerufenen CONAM, den Nationalen Rat zur Modernisierung des Staates, macht. Die Bevölkerung fürchtet, die Schulden könnten bei der Privatisierung „verloren“ gehen, und fühlt sich um ihre Beiträge betrogen, so daß es auch bei Erwähnung dieses Themas zu Demonstrationen und Ankündigungen von Streiks kam.
Streiks gegen Streikverbot
Streiks der Lehrer, der Gewerkschaften, im Gesundheitswesen, der Telekom, der Justiz – die Liste der im vergangenen Jahr durchgeführten Streiks nimmt kein Ende. Streiks in allen Bereichen sind in Ecuador ein probates Mittel, seinen Unmut kundzutun, gibt es doch sonst kaum Instrumente der Opposition. Im Januar letzten Jahres zum Beispiel verbarrikadierten verschiedene Indígena-Organisationen als Reaktion auf das zum Jahresbeginn verabschiedete „Agrarentwicklungsgesetz“ zehn Tage lang sämtliche Hauptverkehrsknotenpunkte des Landes und legten den gesamten Verkehr lahm. Die Regierung vertritt die Ansicht, die ständigen Streiks seien ein Hauptgrund der schleppend verlaufenden Modernisierung.
Vorgesehen ist ein Gesetz zur Eindämmung von Streiks, die „einen Großteil der Bevölkerung betreffen“; ausgeführt durch das Militär. Die Bevölkerung sieht ihr letztes Instrument des Protestes auf der Abschußliste und ihr Recht auf Meinungsäußerung vom Militär bedroht. Die Reaktion hätte kaum deutlicher sein können: Mitte Januar kündigte sich in Quito eine ganze Welle von Streiks an.
Sixto scheitert im Kongreß
Die versprochenen Verfassungsänderungen, zu denen Ende August eine sehr umstrittene Volksbefragung stattgefunden hatte, scheiterten am Widerstand des Kongresses. Am 10. Januar lief ein 100-Tage-Ultimatum ab, das Durán Ballén selbst gesetzt hatte. In dieser Zeit wollte er seine 113 Gesetzentwürfe im Kongreß verabschieden, die er aufgrund eines erstellten Meinungsbildes vorgestellt hatte. Eine weitere Volksumfrage ist nun für den 21. Mai angesetzt. Doch die Begeisterung hält sich in Grenzen, „das würde nur noch mehr Zeit und Geld kosten, und man habe doch wahrhaftig besseres zu tun.“
Neben Fragen zu den Blöcken Elektrizität, dem Energiesektor und der Telekommunikation soll es vor allem um die Neustrukturierung des IESS und die Veränderung bestehender Gewerkschaftsstrukturen gehen.
Moralunterricht statt soziale Verbesserungen
Parallel zur Ankündigung einer neuen Volksbefragung und damit einer neuen moralischen Niederlage des Präsidenten vor dem Kongreß, sorgte ein Gesetzentwurf, der Religionsunterricht als Pflichtfach in den Schulen vorsieht, für große Aufregung unter den SchülerInnen und StudentInnen und entfachte eine grundsätzliche Diskussion über das Bildungssystem in Ecuador. Erziehungsministerin Rosalía Arteaga mußte wie auch ihr Amtsvorgänger ihre Sachen packen, nachdem sie das von der katholischen Kirche initiierte Gesetz öffentlich verurteilt hatte. Das sogenannte „Ley religiosa“ erwies sich insofern als hochbrisant, als es die seit langem schwelende Unzufriedenheit mit bestehenden Bildungseinrichtungen mit einem Schlag explodieren ließ. Der Gesetzentwurf sieht zwei Pflichtstunden „Religion und Moral“ pro Woche an allen Schulen vor, mit speziell dazu ausgebildeten „MorallehrerInnen“. Es wird geschätzt, daß zwischen 5000 und 6800 neue LehrerInnen ausgebildet und eingestellt werden müßten, um diesem Anspruch zu genügen.
In Ecuador gibt es rund vierhundert religiöse Gruppierungen neben dem Katholizismus, so daß der Gesetzentwurf auch scharfen Attacken wegen Diskriminierung und indirektem Rassismus ausgesetzt war.
Die kirchlichen Schulen und Universitäten besitzen in der Regel eine ganze Menge Geld, dazu kommen Schenkungen und nicht zuletzt die hohen Gebühren ihrer SchülerInnen und StudentInnen. So lassen die Padres der Katholischen Universität in Quito ein schickes Hochhaus nach dem anderen zur Erweiterung bereits bestehender Fakultäten bauen, während an der staatlichen Universität die Gebäude verkommen und es an den nötigsten Lehrmitteln fehlt.
Höhere Preise für den öffentlichen Transport
Anfang Januar diesen Jahres wurden dann die Preise für die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln von 150 auf 200 Sucres (etwa 7 Pf) heraufgesetzt. Das mag auf den ersten Blick nicht besonders viel erscheinen, war aber die dritte Erhöhung der Fahrpreise innerhalb von drei Jahren von ursprünglich 50 Sucres, also um insgesamt 300 Prozent. Die schrittweise Erhöhung – jedesmal angekündigt als die letzte – wechselte sich mit der gestaffelten Erhöhung der Benzinpreise ab, die allein im letzten Jahr um 75 Prozent anstiegen. Ebenfalls bereits die dritte „letzte“ Steigerung. Beides wirkt sich unmittelbar auf die allgemeinen Lebenshaltungskosten aus.
Heftige StudentInnenunruhen und ein Toter
So kam es dann in der zweiten Januarwoche während einiger Demonstrationen zu heftigen Ausschreitungen zwischen StudentInnen und der Polizei. Am fünften Tag aufeinanderfolgender Straßenschlachten wurden mehrere StudentInnen wie auch Polizisten schwer verletzt. Der 16jährige Juan Carlos Luna Carillo erlag im Krankenhaus seinen Verletzungen. Nach einem Wochenende der scheinbaren Ruhe ging es in der darauffolgenden Woche umso erbitterter weiter. Juan Carlos wurde feierlich beerdigt. Seine Mutter fordert, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, und der Abgeordnete Iván Rodríguez des Movimiento Popular Democrático versprach eine genaue Untersuchung der Vorfälle, worauf innerhalb der Polizei das im vergangenen Jahr vielfach praktizierte Spiel der gegenseitigen Schuldzuweisungen von vorne losging.
Die StudentInnen streikten in einigen Teilen des Landes gemeinsam mit den Gewerkschaften, Indígenas und andere Campesinos in seltener Eintracht, vereint durch den gemeinsamen Protest gegen die Privatisierungsprogramme und somit gegen die Regierung. Als dann auch noch die staatliche Ölgesellschaft Petroecuador einen Generalstreik für den 26. Januar ankündigte, um gegen das Vorhaben des neuen Energieministers Galo Abril anzugehen, auch die erst vor wenigen Jahren verstaatlichte Petroecuador für private Investoren zu öffnen, drohte Ecuador der totale Kollaps.
Hinzu kommen immer neue Schrekkensmeldungen aus der Küstenprovinz Guayas über Cholera-Erkrankungen und erste Tote, man befürchtet eine Epidemie. Auch in den Provinzen Manabí und Esmeraldas werden Erkrankungen gemeldet. Als ob es nicht schon genug wäre, wurden die Dörfer Calderón und Carapungo nördlich von Quito – im Gebiet des heftig diskutierten neuen Flughafens – am 13. Januar von einem mittleren Erdbeben heimgesucht.
Wenn 1994 kein gutes Jahr gewesen sein soll, so läßt sich 1995 um seine Katastrophen jedenfalls nicht lange bitten.
Wirtschaftliche Rolle des Militärs
Die Modernisierungsansätze des Präsidenten – insbesondere die Pläne zur Verstaatlichung der Ölgesellschaft Petroecuador – beobachtet das Militär mit größtem Mißtrauen. Bei Ölförderungen in den an ausländische Investoren vergebenen Abschnitten im Oriente erhalten die Militärs rund 30 Prozent der Gewinne. Sie stellen einen beträchtlichen Teil der Wirtschaft, unter anderem sind eine Fluggesellschaft und eine Bank in ihrem Besitz, sowie die Schürfungsrechte in dem von ihnen kontrollierten ecuatorianischen Oriente. Die starke militärische Präsenz im gesamten ecuatorianischen Amazonastiefland wird offiziell durch die ungeklärte Grenzsituation zum Nachbarn Peru gerechtfertigt. Die Militärs haben außerdem das Monopol zur Veröffentlichung von Landkarten und sind so Urheber des Festhaltens am Amazonaszugang – nicht zuletzt deshalb haben ecuatorianische Schulkinder eine ganz andere Silhouette ihres Landes im Kopf als die, die der internationalen Realität entspricht.
Verlagerung der innenpolitischen Spannungen an die Grenze
Bereits am 7. Januar schwirrten Gerüchte von Zusammenstößen an der ecuatorianisch-peruanischen Grenze durch die Presse, die Verteidigungsminister José Gallardo dementierte. Die erfolgten Truppenbewegungen seien reine Übungen. Eine Woche später folgten dann die ersten Darstellungen der Zwischenfälle, die offizielle Version berichtete von einer vierköpfigen peruanischen Patrouille, die am 9. Januar in – unbestritten – ecuatorianischem Territorium, nämlich im oberen Verlauf des Río Cenépa nördlich von Cueva de los Tayos, überrascht wurde. Sie wurde gefangengenommen und gemäß den zwischen Ecuador und Peru bestehenden Vereinbarungen am nächsten Tag zu ihrem Bataillon zurückgebracht. Am Mittwoch sei erneut eine Gruppe von diesmal 11 peruanischen Soldaten in ihr Territorium eingedrungen, so der Verteidigungsminister José Gallardo, wobei es zu ersten Toten kam.
In der Tat geht es in diesem nunmehr fast 150 Jahre andauernden Konflikt schon lange nicht mehr darum, den bis auf gelegentliche Scharmützel ansonsten friedlichen Status Quo in Frage zu stellen. Viel eher, ob es politisch opportun ist, einen Zwischenfall als „Bedrohung der nationalen Sicherheit“ hochzuspielen.
Wäre dieser Konflikt vom ecuatorianischen Präsidenten Sixto Durán Ballén direkt oder indirekt inszeniert worden, so hätte dieser gut daran getan, schon auf die ersten Gerüchte und den ersten Zwischenfall hin die Sache zur obersten Priorität zu machen. Statt dessen hielt er sich bedeckt, erst am 26. Januar, nach dem Abschuß eines peruanischen Helikopters, wird der nationale Notstand erklärt.
Das Protokoll von Rio: ein ecuatorianisches Trauma
Ob Zufall oder nicht, der 26. Januar war der 53. Jahrestag der Unterzeichnung des Protokolls von Rio de Janeiro, ein traumatischer Augenblick für das ecuatorianische Nationalbewußtsein. In Geschichtsbüchern unter der Bezeichnung „Das territoriale Desaster“ aufgeführt, ist es ein Thema, das bis heute Bitterkeit und Frustration auslöst. Der Vertrag sei unter Druck zustande gekommen und somit ungültig. Man fühlt sich ungerecht behandelt nicht nur vom „Bruderstaat Peru“, der mit Salamitaktik immer noch ein weiteren Scheibchen vom ecuatorianischen Gebiet abgeschnitten hat, sondern auch von den vier Garantiestaaten und der Weltöffentlichkeit insgesamt, die das 1942 unterzeichnete Protokoll als rechtskräftig anerkennt. Ecuador, der „Zwerg“ unter den Andenstaaten, fühlte sich schon immer als „Verteilmasse“ zwischen den beiden großen Nachbarn Peru und Kolumbien. Diese hatten im vergangenen Jahrhundert mehrere geheime Zusatzprotokolle über eine mögliche Aufteilung Ecuadors untereinander abgeschlossen, so zumindest die offizielle ecuatorianische Geschichtsschreibung.
Die von Ecuador veröffentlichten Landkarten zeigen die 1942 an Peru verlorenen Gebiete bis an den Amazonas. Der im Protokoll von Rio de Janeiro festgelegte Grenzverlauf ist zwar eindeutig markiert, bis auf die 80 km, um die es in den derzeitigen Auseinandersetzungen geht. Die eingezeichnete internationale Grenze verläuft aber jenseits des umstrittenen Gebiets. Besonders erbost ist man in Ecuador, daß Peru den in Artikel VI des Protokolls garantierten Zugang zum Amazonas die konkrete Ausführung verwehrt. „Ecuador ist, war und wird ein Amazonas-Staat sein“, heißt es auf vielen Schulheften direkt unter der ambivalent interpretierbaren Karte. Aus der Entdekkung des Amazonas 1542 durch Kapitän Francisco de Orellana leitet die ecuatorianische Geschichtsschreibung einen zusätzlichen Anspruch auf den Amazonaszugang ab: „Den Titel des ersten Entdekkers des Amazonas konnte Ecuador bis heute niemand streitig machen.“
Ecuador distanzierte sich 1960 von dem Vertrag, seither bestand ein mehr oder weniger friedlicher Status Quo. Daß dieses Thema jedoch nichts an seiner Aktualität verloren hat, war bereits vor Ausbruch des Krieges mit Peru deutlich. Der 1988-92 amtierende sozialdemokratische Präsident Rodrígo Borja setzte den Grenzkonflikt wieder ganz oben auf die Tagesordnung. Man wolle endlich eine dauerhafte und friedliche Lösung, signalisierte er nach Lima. Fujimori kam dreimal nach Quito, um dieses heikle Thema anzugehen. Aber der geplante Gegenbesuch Durán Balléns in Lima löste eine so kontroverse Diskussion im Kongreß und in der Öffentlichkeit aus, daß der Besuch zweimal verschoben wurde und schließlich ganz vom Tisch war. Besonders seitens des Militärs und allen voran bei Verteidigungsminister José Gallardo herrschte die Meinung vor, Sixto würde durch einen Gegenbesuch in Lima bereits klein beigeben.
Rückendeckung für Durán Ballén
In dem Konflikt mit Peru war für Ecuadors Präsidenten nicht vorauszusehen, daß er die Bevölkerung, die in allen Teilen des Landes zum Streik gegen ihn rüstete, und den Kongreß, der ihn mit Ablaufen des Ultimatums zur Verfassungsänderung gerade erneut auflaufen lassen hatte, auf seiner Seite haben würde. Und: Sixto ist alles andere als ein Draufgänger. Das von der Opposition gezeichnete Bild eines gutmütigen Greises, der nicht mitbekommt, was um ihn herum vorgeht, hat sich schon mehrmals bestätigt. Sixto hat im übrigen seine erneute Kandidatur für die 1996 anstehenden Wahlen bereits dementiert, über eine Wiederwahl macht sich der 80jährige keinerlei Illusionen. Bei diesem so brisanten Thema des Grenzkonflikts in der Öffentlichkeit als Verlierer zu erscheinen, sei es auch nur durch zu schnelles Einlenken, wäre politischer Selbstmord gewesen. Den Zuspruch anderer Staaten zu bekommen scheint genauso unwahrscheinlich wie dem bis an die Zähne bewaffneten Peru auch nur einen Quadratmeter Land zu entreißen. Außerdem hätte es wahrhaftig bessere Zeitpunkte gegeben, den bis vor kurzer Zeit von einem internen Krieg ausgelaugten Nachbarn anzugreifen.
Viel eher erschien Sixto Durán Ballén bemüht, den Konflikt mit dem Nachbarn so schnell wie möglich beizulegen, ohne jedoch das Gesicht zu verlieren.
Das Militär in neuem Glanz
Anders hingegen das Militär, das seine Position behauptet und seine Daseinsberechtigung erneuert hat. Das Feindbild Peru erstrahlte in neuem Glanz. Ecuador sah sich eindeutig in der Rolle des unschuldigen Opfers innenpolitischer Spannungen in Peru, nämlich der anstehenden Wahlen und Fujimoris eigenen „Grenzstreitigkeiten“ mit Ex-Frau Susana. Fahnen wurden geschwenkt, Bilder von Mädchen in knappen Röckchen, die den Soldaten an der Front zujubelten. Gegenstimmen hatten in diesem Aufschrei des Patriotismus keine Chance. Eine kurzfristig angesetzte zusätzliche Kriegssteuer wurde sofort verabschiedet und so der im Haushaltsentwurf angesetzte Etat für das Militär entscheidend aufgebessert.
Mit der am 17. Februar in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia unterzeichneten beiderseitigen Friedenserklärung schienen die konkreten Auseinandersetzungen vorerst ein Ende zu haben. Jedoch bereits nach wenigen Tagen flammten die Feindseligkeiten und gegenseitigen Beschuldigungen wieder auf, nachdem der Generalstab die vom ecuatorianischen Unterhändler unterzeichnete Waffenstillstandserklärung kurzerhand ablehnte. Die vier Vermittlerstaaten Argentinien, Brasilien, Chile und die USA, unter deren Mitwirkung auch das 1942 unterzeichnete Protokoll zustande kam, stoppten vorerst die geplante Beobachtertruppe, die die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone in dem fraglichen Grenzabschnitt erwirken sollte. Die Organisation Amerikanischer Staaten OAS erwägt inzwischen wirtschaftliche Sanktionen gegen die kriegsführenden Parteien, die Situation erzeugt zunehmend Nervosität unter den anderen Staaten des Kontinents.
„Kopfjäger“ in kopflosen Zeiten
„Ecuador, das sind wir alle.“ Solche und ähnliche Parolen ließen während der Auseinandersetzungen im ecuatorianisch-peruanischen Grenzgebiet an der Sierra del Condor für kurze Zeit alle sozialen und vor allem rassistische Vorurteile vergessen. Der multi-ethnische Staat sorgte wie nie zuvor für Diskussionsstoff in der ecuatorianischen Öffentlichkeit. Im Zentrum des neu erwachten Nationalbewußtseins als Inkarnation des Widerstands stehen die Shuar. Zwar zahlenmäßig und waffentechnisch weit unterlegen, aber durch Geschick und zähes Beharren in der Lage, dem großen Nachbarn Paroli zu bieten. Kurz: eine Wohltat für das zerrüttete ecuatorianische Nationalbewußtsein und Anlaß zur Wiederbelebung eines Mythos‘ mit Tradition.
Die Shuar gehören wie auch die Achuar und die auf peruanischer Seite lebenden Awajun (oder Aguaruna) und die Wampis zu der Sprachfamilie der Jivaros. Sie leben im Südosten des Oriente, der ecuatorianischen Amazonasregion zwischen dem Rio Pastaza und der Andenkordillere. Trotz jahrhunderterlanger hartnäckiger „Zivilisierungsbemühungen“ halten die Shuar heute noch immer an ihren ursprünglichen Traditionen fest. Durch das Protokoll von Rio de Janeiro wurden sie 1942 in zwei Teile gespalten.
Im nationalen Bewußtsein Ecuadors sind die Shuar eine Art Legende, die zwischen Bewunderung und Abscheu pendelt und die nicht zuletzt durch den Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichten Roman „Cumandá“ des erklärten Nationalschriftstellers Juan León Mera am Leben gehalten wird. In dieser Pflichtlektüre für alle Schulkinder werden die Jivaros als unerbittliche und grausame Krieger dargestellt, für die nur Rache und Ehre von Bedeutung sind. Der weise aber letztendlich „wilde“ und ungläubige Häuptling Yahuarmaqui (zu deutsch: Bluthand) soll mit der schönen und erstaunlich zivilisierten Cumandá verheiratet werden. Sie ist die Tochter des Kaziken eines verfeindeten Stammes und wäre somit ein Friedenspfand. Cumandá möchte aber viel lieber den streng gläubigen und verträumten Carlos heiraten, den Sohn des katholischen Missionars. Die Sympathien werden also klar vorgegeben, und nach einer langen Odyssee durch den Oriente und vieler Dialoge zwischen Herzschmerz und Tragik wird deutlich, daß die Weißen die Guten sind und die „Wilden“ die Bösen.
„Shuar“ bedeutet „Menschen“
Die 1964 ins Leben gerufene Interessenvertretung der Shuar ist der CONAIE, der Konföderation der indigenen Nationalitäten Ecuadors, angeschlossen. Sie ging offensiv gegen die Bezeichnung „Jivaro“ an, die im ecuatorianischen Sprachgebrauch eine eindeutig abwertende Konnotation hat. Sie selbst bezeichnen sich als „Shuar“, was in ihrer Sprache „Menschen“ bedeutet.
Die CONAIE schätzt die Zahl der Shuar auf etwa 40.000 und die der Achuar auf rund 2400. Sie fordert seit Jahren, die Region um die Sierra del Condor einer Selbstverwaltung der Shuar zu unterstellen und zu entmilitarisieren.
Seit den 40er Jahren verfolgt die Regierung eine aggressive Kolonisierungspolitik im Gebiet entlang des Rio Zamora. Sie vergibt Kredite und verkauft abschnittweise Land für die Viehzucht, ohne sich um Gewohnheiten und Ansprüche der dort lebenden Shuar zu kümmern. Zwar werden in dieser Region reiche Gold- und Ölvorkommen vermutet, aber in erster Linie soll eine Infrastruktur für Siedler und Militärposten geschaffen werden.
Die Shuar leben traditionell in einem erweiterten Familienverband, in dem die Ehefrauen meist Schwestern sind. Sie zogen in einem etwa 10-jährigen Zyklus zu verschiedenen Gebieten im Regenwald, wo sie sich für einige Zeit niederließen, ohne anderen Familienverbänden ins Gehege zu kommen. Durch diese ursprünglich nomadische Lebensform hatten die Shuar der gezielten Invasion seitens der Regierung nichts entgegenzusetzen und lange Zeit auch auf gesetzlicher Ebene nicht die geringste Möglichkeit, ihre territorialen Ansprüche geltend zu machen.
Die sagenumwobenen Schrumpfköpfe werden heute nur noch aus bestimmten Affenschädeln hergestellt, die kultische Bedeutung der Tsantsa, wie das Ritual der Herstellung der Köpfe genannt wird, ist jedoch nach wie vor sehr groß. Als exotisch-makabere Mitbringsel grinsen Schrumpfkopfimitate in Quito von den Regalen jedes zweiten Souvenirladens.
Mittlerweile nimmt die Viehzucht neben der traditionellen Jagd und dem Fischfang bei den Shuar eine wichtige Rolle ein. Viele von ihnen leben heute in Siedlungen und kooperieren mit den dortigen SiedlerInnen vor allem bei der Goldsuche. Die vermuteten Goldvorkommen werden bislang ausschließlich von ecuatorianischer Seite erschlossen, allerdings nur in sehr geringem Maße.
Im Brennpunkt
Der inzwischen wieder aufgeflammte Konflikt um die Sierra del Condor zwischen Ecuador und Peru hat die Shuar und die BewohnerInnen der vereinzelten Siedlungen zwar schlagartig in die Mitte des nationalen Interesses katapultiert, aber Solidaritätsbekundungen aus der weit entfernten Hauptstadt nützen wenig, wenn die eigene Haut und eventuell auch noch ein wenig Hab‘ und Gut in Sicherheit gebracht werden sollen. Die meisten Frauen und Kinder flüchteten aus dem Kriegsgebiet in größere Dörfer am Rande der Kordillere. Die nicht an den Scharmützel beteiligten Shuar zogen sich tiefer in den Regenwald zurück. Langsam kehren die BewohnerInnen. Sie sind die eigentlichen Leidtragenden dieses Krieges. Die Interessenvertretung der Shuar wandte sich mittels der CONAIE mit einem Protestschreiben und gleichzeitigem Spendenaufruf an die Weltöffentlichkeit, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen.
Einige der ecuatorianischen Shuar meldeten sich freiwillig zur Unterstützung des Militärs. Ihre genaue Kenntnis der Region war von entscheidendem Vorteil für die EcuatorianerInnen gegenüber dem schweren, aber in diesem Gelände unbrauchbarem Militärgerät der Peruaner. Der Assimilierungsprozeß scheint Früchte zu tragen, stolz verkündete ein Shuar, bis ans Ende für sein Vaterland zu kämpfen. Zu den jenseits der Grenze lebenden peruanischen Shuar besteht nur noch wenig Kontakt. Hin und wieder mal ein Besuch, aber die politische Narbe hat auch in den Köpfen des früher zusammengehörigen Volks eine Bresche geschlagen. Die weitverbreitete Ansicht, die peruanischen Shuar seien zwangsrekrutiert worden und dienten nur als Kanonenfutter, paßt in das von der ecuatorianischen Presse verbreitete Feindbild.
Die ecuatorianische Bevölkerung bejubelte die Unterstützung durch die Shuar als Wendepunkt und neue Hoffnung. Die Presse berichtete vom Stützpunkt D561 am Rio Santiago, in dem sich neben Soldaten von der Küste, dem Hochland und der hauptsächlich von Farbigen bewohnten nördlichen Provinz Esmeraldas nun auch Shuar in ecuatorianischer Uniform tummelten, um in Eintracht und voller Begeisterung dem Feind standzuhalten.
Remigio Cayap, ein 19-jähriger Shuar, wird in seinem – gebrochenem – Spanisch zitiert: „Ich bin in einem Gefecht noch nie zurückgewichen, ich gehe nur vorwärts. Ich kenne den Krieg, und werde an der Seite meiner Brüder kämpfen.“
In der zweiten Woche nach offiziellem Ausbruch des Krieges durch den Abschuß eines peruanischen Hubschraubers, besuchte die Präsidentengattin Josefina die abgelegenen Stützpunkte, um den Soldaten Mut zuzusprechen und um die in allen Regionen des Landes als Solidaritätsbekundungen gesammelten Medikamente, Lebensmittel und Decken zu verteilen. Das Fernsehen übertrug Bilder von verlassenen Dörfern, von armseligen Behausungen und spartanisch eingerichteten Klassenzimmern, woraufhin die Regierung Verbesserungen der sanitären Einrichtungen, Krankenhäuser sowie Gelder für Schulen und bessere Straßen versprach. Doch jetzt, nachdem die Inszenierung einer nationalen Bedrohung durch die am 17. Februar in Brasilia unterzeichnete Friedenserklärung, in der die Schaffung einer entmilitarisierten Zone vorgesehen ist, erst einmal von der Tagesordnung zu sein scheint, und Quito in seine Normalität zwischen Parteiintrigen und Korruption zurückkehrt, sind auch die akuten Gründe für bessere Infrastruktur in der Amazonasregion erst einmal wieder vom Tisch.
Elisabeth Schumann
„Digo que estoy „integrado“
porque en este momento
no estoy hablando en lengua shuar,
mi lengua,
sino en la de ustedes que es
el castellano.
los pueblos indios estan integrados
por medio de la lengua.
Nos preguntamos
ソCuando se integran los
hispanohablantes
a la realidad nacional,
hablando nuestras lenguas?“
Ampam Karakras, Shuar, 1984
Ich sage, daß ich „integriert“bin,
weil ich jetzt gerade
nicht in der Sprache der Shuar spreche,
meine Sprache,
sondern in Eurer Sprache,
dem Spanischen.
Die indianischen Völker sind integriert
durch die Sprache.
Wir fragen uns,
wann werden die Spanischsprachigen
sich integrieren
in die nationale Realität,
in dem sie unsere Sprachen sprechen.
Tierra: Umwelt und Mitwelt indigener Völker
Auf der zweiten Weltkonferenz für Menschenrechte, die im Juni 1993 in Wien stattfand, wurden wichtige Verpflichtungen für die Vereinten Nationen vereinbart: eine Dekade für Indigene Völker zu starten und ein voraussichtlich permanentes Forum einzurichten. Parallel dazu veranstaltete das österreichische Lateinamerika-Institut ein Symposium zu der Frage nach den Rechten indigener Völker, um einen Dialog zwischen WissenschaftlerInnen, indigenen VertreterInnen und ExpertInnen aus Entwicklungsprojekten zu ermöglichen. In 14 Beiträgen dieses Buches werden die Ergebnisse dieses Treffens dargestellt.
Der Titel des Sammelbandes greift die zentrale Frage der internationalen Auseinandersetzung um die Rechte der indigenen Völker auf. „Tierra“: Forderung nach Land. Tierra, wird uns im Vorwort erklärt, sei die „Lebensgrundlage eines jeden indianischen Volkes“, und entsprechend sei die Forderung nach einer legalen Basis für territoriale Ansprüche und politische Autonomie eng mit der Ökologie und den indigenen Land- und Nutzungsrechten verbunden.
Reale und formelle Politik
Seitdem die UNO 1982 die „Arbeitsgruppe für Indigene Völker“ einsetzte, gibt es formelle und regelmäßige Kontakte mit VertreterInnen indigener Völker. Die Aufgabe dieser UN-Gruppe ist es, wie es im Beitrag von Julian Burger erklärt wird, „Entwicklungen, die die indigenen Völker beeinträchtigen, zu beobachten und Standards für den Schutz ihrer Rechte auszuarbeiten“. Wie die Umsetzung dieser Standards auf internationaler Ebene vorangeht, zeigt die Tatsache, daß der Deklarationsentwurf der UN über die Rechte der indigenen Völker, erst im Februar 1995, zwei Jahre nach seiner Verabschiedung, von der Menschenrechtskommission der UN angenommen wird. Ob diese Deklaration auf die verschiedenen Regierungen einwirken wird bleibt noch abzuwarten.
Der tägliche Kampf der indigenen Völker wird in den Beiträgen der ExpertInnen aus Entwicklungsprojekten dargestellt. Berichte über Venezuela und Ecuador zeigen, wie die rechtliche Stellung ihrer Reservate den Indígenas keinen Schutz vor der Ausplünderung ihrer Bodenschätze seitens des Staates gibt. Durch die Militarisierung der Zone und die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage sind sie stark bedroht. Andere Beispiele dagegen zeigen, wie in Guatemala und Brasilien sich die Indígenas gegen die Interessen des Staates wehren. In Guatemala erobern die Kekchí-Indianer die Region Petén mit Bauernsiedlungen, in denen ihre traditionellen Strukturen und ihre Identität aufrechterhalten werden. In Brasilien ist das Gebiet der Zuflüsse des oberen Rio Negro eine der wenigen Regionen des Amazonasbeckens, in dem seit Jahrhunderten verschiedene indianische Völker nahezu die einzigen ständigen BewohnerInnen sind. Wie die 19 Volksgruppen dieses Gebiets zusammenleben und ihre kulturelle Vielfalt aufrechterhalten, könnte ein Vorbild für andere Gesellschaften werden…
Menschenrechte und Indianität
Ethnische Rechte der indigenen Völker als speziell begründeter Anspruch innerhalb der Menschenrechte zu betrachten, erfordert eine Definition der Indianität. Bei Rodolfo Stavenhagen werden die konzeptuellen Problemfelder, die dadurch entstehen, benannt: Individuelle und kollektive Rechte, ethnische Minderheiten und indigene Völker auf der ganzen Welt. Als Gegengewicht steht der Beitrag von Leo Gabriel über die „Indianisierung“ der Volksbewegungen in Lateinamerika. Er vertritt die These, daß durch die neuen Transformationsprozesse in diesem Kontinent Begriffe wie Ethnie, Rasse und Klasse nicht mehr gültig sind. Als Folge der neoliberalen Wirtschaftspolitik organisiert sich die Zivilgesellschaft in Volksorganisationen, um die Armut zu bekämpfen. Darin ist die indianische Identität der gemeinsame Nenner, unter dem sich auch Mestizen und andere benachteiligte Gruppen finden.
Natur als Mit- und Umwelt
Aus ökologischer Sicht zeigen die Berichte der Experten über die indigenen Auseinandersetzungen mit dem Staat eine alternative Lebensweise, in der die Natur als Mit- und Umwelt erlebt wird. Es ist beeindruckend zu erfahren, wie in den zwei Vorträgen, die von Indianer-Vertretern in Wien gehalten wurden, der Kampf um die Umwelt gleichgesetzt wird mit dem Kampf um das eigene Leben. Dieses Naturkonzept ist Gegenstand der Menschenrechtsdiskussion, weil es ein anderes Rechtsverständnis darstellt als das von Europa in die Kolonien übertragene und heute international gültige. Eine Alternative zu diesem juristischen Problem wird von Wolfgang Dietrich analysiert, sowie im Beitrag von Otmar Höll, in dem die juristischen Hindernisse zu einer nachhaltigen Entwicklung gezeigt werden.
Ob die Internationale Dekade der Indigenen Völker, die im Dezember 1994 begonnen hat, dazu beitragen wird, die Lage der Indígenas zu verbessern, bleibt noch offen. Was der Sammelband zeigt, ist die Vielschichtigkeit eines Problems, das durch den europäischen Kolonialismus vor 500 Jahren in den Trikont-Ländern in Gang gesetzt wurde.
Tierra: Indigene Völker, Umwelt und Recht./ Doris Cech u.a., Frankfurt a.M. 1994,. ISBN 3-86099-131-0 (Brandes und Apsel), 180S.,ca 28DM.-
Zwischen Privatisierung und Korruption
In der Tat hat die seit 1992 amtierende Regierung ihr Modernisierungsvorhaben mit zahlreichen Privatisierungen deutlich unter Beweis gestellt. Mit der Modernisierung sollen in Ecuador die Marktkräfte gestärkt werden, um das Land auf die globalen Veränderungen vorzubereiten und die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern.
In Wirklichkeit handelt es sich hierbei nicht gerade um eine neue Strategie, wird doch lediglich der bereits 1982 initierte und seitdem von den nachfolgenden Regierungen praktizierte neoliberale Kurs beschleunigt und vertieft. Eine Verdopplung der Auslandsschulden von 6,6 Milliarden auf 12,9 Milliarden US-Dollar und ein den Verfall der Währung ausdrückender Anstieg des Wechselkurses von 49,8 auf 2118 Sucres pro US-Dollar sind die vorläufigen Ergebnisse der zweijährigen Regierungszeit.
Der Maßnahmenkatalog der ecuatorianischen Regierung, der 1994 vom Internationalen Währungsfonds (IWF) gebilligt wurde, betont die Notwendigkeit, Staatsvermögen in private Hände zu überführen und stellt die Inflationsbekämpfung als Sozialpolitik dar – obwohl der Regierung gerade in dieser Hinsicht jegliche Perspektive fehlt. So soll die Inflationsrate, die Anfang 1992 bei 56 Prozent pro Jahr lag, bis Ende 1994 auf 20 Prozent pro Jahr gesenkt werden. Sind diese Ziele erst einmal erreicht, bleibt die Hoffnung auf ausländische Investitionen, die dem wirtschaftlichen Wachstum den entscheidenden Impuls geben sollen.
Im Bemühen um höhere Steuereinnahmen und größere Liquidität zur Tilgung der Auslandsschulden bediente sich die Regierung eines komplizierten Systems steigender Kraftstoffpreise. In diesem System sind drei Elemente vereinigt: der Preis von auf Erdöl basierenden Produkten, der Preis des ecuatorianischen Rohöls auf dem Weltmarkt und der Wechselkurs zum US-Dollar. Im Falle, daß die ersten beiden steigen, bezahlt der ecuatorianische Konsument weniger, aber sollten sie fallen, trägt die Bevölkerung die Kosten. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß der Preis für Benzin seit 1992 um 432 Prozent angestiegen ist, womit er noch über den Preisen auf dem nordamerikanischen Markt liegt.
Der propagierte Modernisierungsprozeß zeichnete sich von Anfang an durch eine Reihe von Unschlüssigkeiten, Verzögerungen und Widersprüchlichkeiten seitens der Regierung aus. Dies hatte im ersten Jahr nach ihrem Amtsantritt den Konkurs einiger staatlicher und für die Privatisierung vorgesehener Betriebe zur Folge. Im zweiten Jahr kam der Prozeß besser in Gang, wurde aber von mehreren Korruptionsanschuldigungen sowie fragwürdiger Verwendung der Privatisierungserlöse stark beeinträchtigt.
Geprägt waren die letzten zwei Jahre von Mißtrauen, dem Fehlen einer einheitlichen Führung, der institutionellen Schwäche und der Unfähigkeit der Regierung breite gesellschaftliche Bündnisse einzugehen. Die zunehmende Verarmung großer Teile der Bevölkerung, steigende Arbeitslosigkeit und die Kürzung der Sozialausgaben fügen sich in dieses Panorama ebenso ein, wie die Nichtexistenz einer Sozialpolitik, die die Auswirkungen der neoliberalen Politik mildern könnte.
Modernisierung oder Fetischismus?
Das Projekt der Modernisierung des Staates, versuchte die Regierung den EcuatorianerInnen mittels einer geschickt aufgezogenen propagandistischen Kampagne zu verkaufen. Staatliche Institutionen wurden verleumdet und die Vortrefflichkeit von Privatbetrieben gepriesen. Sehr bald bildete sich jedoch in den unterschiedlichsten Bereichen eine Opposition. Besonders die extreme Vereinfachung des Privatisierungsansatzes wurde kritisiert. Tatsächlich weist das Gesamtprojekt starke Mängel in der Finanzierung auf.
Die Erfahrungen anderer lateinamerikanischer Länder mit Privatisierungen erlauben die Prognose, daß es besonders in drei Bereichen zu Problemen kommen wird: Bei der angemessenen Wertbestimmung des zu privatisierenden Bestands, bei der transparenten Gestaltung des Privatisierungsprozesses und bei der konkreten Verwendung der Privatisierungserlöse. Im Fall von Ecuador ist keines dieser drei Probleme gelöst worden. Ganz im Gegenteil.
Die Zuckerfabrik AZTRA ist einer der bekanntesten Fälle. Sie wurde zu einem symbolischen Preis von 100.000 US-Dollar verkauft, nachdem anfangs zwischen 40 und 50 Millionen US-Dollar geboten worden waren. Um Einzelinteressen entgegenzukommen, wurde eine Krise manipulativ erzeugt, lauten diverse Anschuldigungen. Auch der Verkauf der Zementfabrik „Selva Alegre“ paßt in dieses Bild, bei dem der Staat laut Aussagen von Spezialisten ungefähr 30 Millionen US-Dollar verloren hat.
Ein weiterer Skandal erschütterte das Vertrauen in den Präsidenten auf breiter Ebene. So wurde enthüllt, daß die Regierung sich mittels des Finanzministeriums heimlich hunderte Millionen von Sucres von den Konten öffentlicher und staatlicher Banken, sowie von halbstaatlichen Unternehmen angeeignet hat. Zu letzteren zählt auch die Corporación Financiera Nacional, die die Betriebe AZTRA und Cemento Selva Alegre verkauft hat. Anscheinend hat die Regierung das Geld verwendet, um den Schuldendienst zu leisten und damit den vierteljährlichen Überprüfungen des IWF standzuhalten. In jedem Fall ist der Verbleib der Privatisierungserlöse bis zum heutigen Tag von keiner einzigen Behörde offengelegt worden.
Obwohl der Direktor des Nationalen Rats für Modernisierung (CONAM) die Bereiche Sozialversicherung, die Telekommunikation, die Seehäfen, die standesamtliche Registration, die Flughäfen und Zölle zu den Bereichen äußerster Priorität in seinem weiteren Vorgehen erklärt hat, liegt dem IWF eine Absichtserklärung vor, die Wasserkraftwerke, Telekommunikation, elektrische Energie und die Sozialversicherung als Hauptobjekte für mögliche Privatisierungen definiert. Das würde die Privatisierung strategisch wichtiger Sektoren der ecuatorianischen Ökonomie bedeuten.
Was die Verringerung der Staatsquote angeht, so konzentriert sich die Regierung auf den Abbau von Stellen im öffentlichen Sektor. Bis zum August dieses Jahres wurden 30.000 Stellen abgebaut. Anstelle von Kündigungen ist die Politik der erkauften „freiwilligen“ Rücktritte vom Arbeitsplatz eine weitverbreitete Praxis.
Unterdrückung der Ökonomie?
Nach Auffassung vieler Sozialwissenschaftler ist die derzeitige Modernisierung in Wahrheit nichts anderes als eine „modernisierte Unterdrückung der Ökonomie“, da durch die Politik der derzeitigen Regierung die Primärgüterproduktion, insbesondere die Landwirtschaft und die Agroindustrie begünstigt wird. Die Manufakturbetriebe, plötzlich mit dem Wegfall der aus vorangehenden Dekaden gewohnten Anreize und Schutzzölle konfrontiert, sahen sich gezwungen, ihre Produktion einzuschränken und/oder umzustellen. Das einzig Moderne an der derzeitigen Situation ist der juristische und institutionelle Rahmen, sowie das Aufkommen von neuen landwirtschaftlichen Exportprodukten wie Blumen, Pflanzen und tropischen Früchten.
Alltägliche Korruption
Korruption ist in Ecuador nicht nur eine hin und wieder auftauchende Randerscheinug, sondern eine strukturelle Realität. In dieser Amtszeit erreichte sie ein besonders starkes Außmaß. Das von der Opposition immer wieder aufgebrachte Bild des Präsidenten Sixto Durán Ballén als wehrloser, alter Greis mit guten Absichten, der keinerlei Ahnung davon hat, was um ihn herum passiert, kommt der Realität tatsächlich sehr nah. So blüht um ihn herum die Korruption, angefangen in seiner eigenen Familie.
Die Beschuldigungen eines sozialdemokratischen Abgeordneten im letzten August, daß die Nichte des Präsidenten in einen Bestechungsgelderskandal verwikkelt sei, stellt dabei den Höhepunkt dar. Sixto protestierte entschieden und forderte eine sofortige Untersuchung der Angelegenheit bis zur letzten Konsequenz, damit sein Ruf und der seiner Familie gewahrt bleibe. Die Anschuldigungen erwiesen sich als gerechtfertigt. Seine Nichte hatte bewirkt, daß dem Unternehmen „Flores y Miel“ seitens der Corporación Financiera Nacional (CFN) ein Kredit von 800.000 US-Dollar gewährt wurde. Und dies, obwohl „Flores y Miel“ die Kriterien für einen Kredit nicht erfüllte und bereits Schulden bei privaten Banken hatte. Während der endgültigen Enthüllung aller dieser Verstrickungen befanden sich die Hauptpersonen dieser Affäre – die Nichte des Präsidenten, die Nutznießer des Kredits und der Vorsitzende der CFN – in Miami, um sich vom Streß dieser ganzen unbegründeten Anschuldigungen und anderer Wehwehchen zu erholen.
Die Policía Nacional, ebenfalls von Korruptionsvorwürfen stark bedrängt, mußte im Juli ihre gesamte Führungsspitze neu konstituieren, nachdem sieben ihrer Generäle wegen illegaler Bereicherung ausgeschieden waren. Die Hauptanklage richtete sich gegen den Exkommandanten Guido Nuñez. Die Anklage offenbarte die Ausmaße der existierenden Korruption und war der Ausgangspunkt weiterer Nachforschungen, ohne daß es bisher zu konkreten Verurteilungen gekommen ist.
Mit dem Vertrauen der Bevölkerung in die Glaubwürdigkeit der verschiedenen öffentlichen Institutionen ist es nun wohl endgültig vorbei. Innerhalb des Polizeikorps kommt es jetzt auch zu ersten Prozessen hinsichtlich der Menschenrechtsverletzungen vor einigen Jahren, unter denen der Fall der 1988 verschwundenen Brüder Restrepo besonderes Aufsehen erregte.
Kasten 1:
Die neun Leben des Präsidenten
Im November 1994 mußte der ecuatorianische Präsident Sixto Durán Ballén, genannt „el viejito“ (immerhin schon über achtzig Jahre alt) zweimal innerhalb von zwei Wochen sein eigenes Ableben, über das hartnäckige Gerüchte kursierten, dementieren. Der ehemalige Architekt bemerkte dazu nur, er habe offensichtlich die neun Leben einer Katze, und er sei froh, daß ihm auf diese Weise noch sieben Leben blieben…
Nicht gerade zur Stärkung des allgemeinen Respekts gegenüber dem Präsidenten weiß Vizepräsident Dahik, der starke Mann im Hintergrund, seine Position zu nutzen. So hat er auch ein gewisses Talent entwickelt, beim Inkrafttreten neuer von ihm propagierter Gesetze im Ausland und damit außerhalb der Schußlinie des Bevölkerungsprotests zu sein. So kommt es inzwischen beispielsweise zu grotesk langen Schlangen an Tankstellen und anderen Panikkäufen, sobald erste Gerüchte einer Staatsreise des Vizepräsidenten in der Luft liegen.
Aber auch andere reisen gerne. Das Magazin Vistazo wählte den Abgeordneten Rubén Vélez der Democrácia Popular zum meistgereisten Parlamentsvertreter des Jahres. Allerdings konnte er seinen Vorsprung gegenüber den Kandidaten aller anderen Parteien nur knapp behaupten. Was das konkrete Interesse für ecuatorianische Angelegenheiten bei Reisen nach zum Beispiel Nordkorea und Kamerun war, bleibt in der Statistik offen.
Elisabeth Schumann
Kasten 2:
Die Farbe unserer Gefängnisse
„Wenigstens lassen sie uns die Farbe unsere Gefängnisse wählen…“ steht auf einer Hauswand in der Nähe der Universidad Central in Ouito. Auch wenn die Tageszeitungen die Ergebnisse des Ende August durchgeführten Plebiszits euphorisch mit „Ja zum Wechsel“ und ähnlichem betitelten, so kommt das Graffiti der in der Bevölkerung vorherrschenden Meinung wohl näher.
Eine eigentlich überhaupt nicht vorhandene Informationspolitik seitens der Regierung zum Thema Volksabstimmung wirkte Mißtrauen und Nichtbeachtung nicht gerade entgegen. Bei einer Umfrage zwei Wochen vor der Befragung zeigte sich, daß zwar die meisten davon gehört hatten. Was aber genau gefragt werden sollte, war dem Großteil der Bevölkerung völlig unklar. Und immerhin besteht Wahlpflicht. Es schien, daß das an diesem Wahlwochenende verhängte Ausschankverbot mehr Diskussionen verursachte als das Plebiszit selbst.
Nach der Auszählung der sieben zum Teil unklar formulierten Fragen interpretierte die Regierung Durán Ballén diese Folgerungen:
Erstens: Das Volk hat sich klar für eine Reformierung der Konstitution entschlossen. Zweitens: Die Wiederwahl eines Präsidenten wird prinzipiell befürwortet. Bisher bedeutete in Ecuador jede Wahl automatisch einen neuen Präsidenten. Diese Änderung könnte bei den in zwei Jahren anstehenden Wahlen interessante Folgen haben, da sämtliche Präsidenten der letzten Jahrzehnte – angefangen mit Osvaldo Hurtado über León Febres Cordero und Rodrígo Borja bis hin zu Sixto persönlich – theoretisch eine Wiederwahl anstreben könnten. Und drittens können in Zukunft auch Parteilose im politischen Geschehen mitwirken.
So weit, so gut. Böse Stimmen behaupten, die Regierung hätte nun endlich eine konkrete Aufgabe für die nächsten zwei Jahre: die Auslegung und Wiederneuauslegung der Volksabstimmung…
Elisabeth Schumann
Öko-Zuschüsse als entwicklungspolitische Neuerung
Was ist von der noch relativ jungen GEF zu halten? Handelt es sich tatsächlich nur um ein weiteres Kreditangebot im Menü von IWF und Weltbank, wodurch sich die beiden einen grünen Touch geben können? Oder steckt diesmal vielleicht mehr als nur ein Lippenbekenntnis dahinter?
Wie alles anfing
Die GEF wurde 1990 auf Initiative der deutschen und französischen Regierung in erstaunlichem Tempo eingerichtet: bereits 1992 erfolgten die ersten Auszahlungen. Sie hat – trotz des IWF-typischen Begriffs „Fazilität“ – nichts mit diesem zu tun; dafür aber ist die Weltbank als Durchführungsorganisation beteiligt – neben dem Nuten Nations Development Programme (UNDP) und dem United Nations Environment Programme (UNEP). Diese Konstellation ist grundsätzlich neu, da gerade Weltbank und UNDP ansonsten in vielen Bereichen konsequent aneinander vorbeiarbeiten. Zwar sind auch bei der GEF die Aufgaben nach dem üblichen Muster – Weltbank für finanzielle und UNDP für technische Projekte – getrennt, immerhin aber unter einem Dach zusammengefaßt. Die UNEP darf in einer Nebenrolle einen Wissenschaftlichen und Technischen Beirat einsetzen, der die Kriterien für die Mittelvergabe erarbeitet. Diese werden als reine Zuschüsse, also nicht als Kredite, vergeben.
Da in den meisten Fällen staatliche Organisationen die Empfänger dieser GEF-Zuschüsse sind, wurde von Anfang an ein Programm für Klein(st)zuschüsse über die UNDP für Projekte auf kommunaler, nichtstaatlicher Ebene als Gegengewicht etabliert. 10-15 Mio. US-Dollar bei Projekten in über 30 Ländern machen aus diesem Programmteil aber höchstens ein Fliegengewicht.
In der Pilotphase wurden insgesamt 750 Mio. US-Dollar für die genannten Bereiche verwendet, davon allein 42 Prozent für die Erhaltung der Artenvielfalt. (Zum Vergleich: Die Weltbank zahlt jährlich ca. 20 Mrd. US-Dollar aus.) Dieser Topf ist für Lateinamerika besonders interessant, da aus ihm die meisten Gelder nach Lateinamerika fließen, allen voran nach Mexiko und Brasilien mit jeweils 30 Mio. US-Dollar.
Kritische Stimmen und Reform
Die GEF wurde seit ihrer Einrichtung von vielen Seiten scharf kritisiert, insbesondere auch von internationalen Naturschutzorganisationen, die über die GEF Zuschüsse erhalten. Eine 1993 vom World Wildlife Fonds veröffentlichte Studie von über 100 Nichtregierungsorganisationen (NRO) in Lateinamerika, Afrika und Asien kommt zu den folgenden Ergebnissen:
– Die GEF wurde von einigen wenigen Nord-Ländern unter Mißachtung jeglicher Süd-Perspektive (Umweltprobleme durch Armut, Bevölkerungsentwicklung, Verschuldung und mangelhaften Zugang zu Ressourcen) gegründet. Mit dem Stichwort „global“ versuchen die Länder des Nordens in die Politik der Entwicklungsländer hineinzuregieren, wobei sie gleichzeitig von ihrer Verantwortung ablenken wollen.
– Die Weltbank, UNDP und UNEP sind für die GEF-Aufgaben ungeeignet. Die Bank hat bisher grundsätzlich soziale und Umweltaspekte von Projekten beflissentlich übersehen und ist nicht gerade für Transparenz und demokratische Konsultationen bekannt. UNDP und UNEP sind zu bürokratisch, um effektiv arbeiten zu können.
– Die GEF konzentriert sich auf kurzfristige Projekte, obwohl gerade der Umweltbereich langfristige Investitionen und Programme erfordert.
– Der Schwerpunkt der GEF liegt im Bereich staatlicher Unterstützung und läßt NRO fast überall außen vor.
Zu besonders heftigen Kontroversen hat die Beteiligung der Weltbank an der GEF geführt. Während einige NRO die Beteiligung der Weltbank an der finanziellen Verwaltung der GEF akzeptieren, bezweifeln die meisten die allgemeine Kompetenz der Bank im Bereich Umwelt. Die Kompetenz einzelner MitarbeiterInnen aus der Weltbank wird hingengen hoch gelobt.
Die Kritik an der GEF hat dazu geführt, daß sie nach der Pilotphase im März 1994 restrukturiert wurde bzw. werden soll. Um den Entwicklungsländern mehr Mitsprache zu verschaffen, wurde der GEF-Aufsichtsrat tatsächlich paritätisch besetzt: 16 Sitze gehen an die Entwicklungsländer, 14 an Industrie- und zwei an osteuropäische Transformationsländer. Für die Projektdurchführung bleiben allerdings weiterhin die drei genannten Organisationen verantwortlich, so daß von einer „grundsätzlichen Reform“, wie es die Geberländer gerne darstellen, bisher nicht die Rede sein kann.
Artenvielfalt: wann gibt’s Geld wofür?
Die von der UNEP aufgestellten Vergabekriterien für GEF-Zuschüsse sind sehr vage und werden teilweise recht fragwürdig gehandhabt.
Die GEF finanziert grundsätzlich nur Projekte, bei denen die Kosten für das Land gegenüber dem Nutzen zu hoch sind, als daß das Land das Vorhaben durchführen könnte. Einfaches Beispiel: Der Aufbau eines Nationalparks zum Schutz bedrohter Tierarten wird von der GEF als förderungswürdig eingestuft. Komplizierter wird es, wenn dieser Park für den Tourismus attraktiv sein könnte und das Land dadurch höhere Einnahmen (= höheren Nutzen) besäße. Aufgrund dieser Annahme finanziert die GEF nur die „Zusatzkosten“, die ihrer Ansicht nach nicht aus nationaler Tasche bezahlt werden können. Daraus ergeben sich so absurde Situationen wie die in Costa Rica: Durch den vom IWF-Programm aufgezwungenen Sparkurs mußte Costa Rica zwei Drittel des Personals für die Nationalparks entlassen. Dies erschwerte die Erhaltung des erreichten Parkstandards. Überdies sanken die Einnahmen durch den Ökotourismus, da nicht mehr ausreichend ReiseführerInnen zur Verfügung standen. Gleichzeitig finanzierte die GEF lediglich zwei Projekte zur „biologischen Forschung und Training des Parkmanagements“, da potentiell Einnahmen aus dem Ökotourismus vorhanden wären.
Die Vergabe von Geldern richtet sich weiterhin danach, ob das Projekt innovativ ist. Großvaters Lehren über den Umgang mit natürlichen Ressourcen sind nicht gefragt: neu ist gleich gut. Daß bei moderner Technologie oftmals die Kostenkontrolle aus den Augen verloren wird, liegt auf der Hand. Viele Pilotprojekte haben sich als so teuer erwiesen, daß sie nach Vergabe der GEF-Gelder nicht weitergeführt, geschweige denn auf andere Gebiete übertragen werden können.
In Lateinamerika werden neben den genannten in Costa Rica, folgende Projekte im Bereich Artenvielfalt gefördert:
Weltbank:
– Bolivien: Stärkung des Schutzzonen-Managements und der nationalen Institutionen über bolivianischen Treuhandfonds. (5 Mio. US-Dollar)
– Brasilien: noch kein Projekt festgelegt. (30 Mio. US-Dollar)
– Ecuador: Schutz der Artenvielfalt durch Stärkung der legalen Rahmenbedingungen und des Parkmanagements. (6 Mio. US-Dollar)
– Mexiko: Unterstützung des Managements von 20 Schutzgebieten. (30 Mio. US-Dollar)
– Peru: Etablierung eines Treuhandfonds für Management, Training, Ausbildung usw. im Bereich Artenschutz. (4 Mio. US-Dollar)
UNDP:
– Amazonasregion: Strategien zur Erhaltung natürlicher Ressourcen. (5 Mio. US-Dollar)
– Argentinien: Entwicklung eines regionalen Managementplans für Patagonien. (3 Mio. US-Dollar)
– Belize: Forschung und Beobachtung sowie Entwicklung eines Managementplans für das längste Felsenriff Lateinamerikas. (3 Mio. US-Dollar)
– Costa Rica: Finanzierung von biologischer Forschung und Training von Parkmanagement (8 Mio. US-Dollar)
– Dominikanische Republik: Protektion von Samana Bay, incl. wissenschaftliche Basisstudien. (3 Mio. US-Dollar)
– Guayana: Programm für nachhaltiges Tropenwaldmanagement. (3 Mio. US-Dollar)
– Kolumbien: Bewahrung der Artenvielfalt im Chocó. (9 Mio. US-Dollar)
– Kuba: Schutz und nachhaltige Entwicklung des Sabana-Camaguey Archipels. (2 Mio. US-Dollar)
– Uruguay: Schutz der Artenvielfalt in den östlichen Feuchtgebieten. (3 Mio. US-Dollar)
Bemerkenswert ist zunächst einmal die vage Formulierung der meisten Projekte und insbesondere auch der Fall Brasilien. Gerade dieses Beispiel zeigt, daß die Auswahl der Länder und Schutzgebiete eher aus politischen als aus ökologischen Gründen erfolgte.
Die oben genannte Kritik an kurzfristiger Finanzierung gilt auch für die aufgelisteten lateinamerikanischen Projekte: sie machen nur Sinn, wenn sie auch nach der GEF-Projektperiode (2-5 Jahre) weitergeführt werden. Die meisten Länder sind aber zur Zeit nicht in der Lage (oder auch nicht willens), für Projekte zum Schutz der Artenvielfalt Geld bereitzustellen. Ein geplanter Treuhandfonds wie in Peru oder die Unterstützung eines bereits existierenden wie in Bolivien ist unter diesen Umständen besser als stark eingegrenzte Projekte, da hierdurch Zahlungen über einen langen Zeitraum garantiert werden können. Eine Weiterfinanzierung der meisten anderen Projekte ist unwahrscheinlich, da bei der bisherigen Projektfinanzierung Länder mit großer Artenvielfalt wie Guatemala, Indien, Madagaskar, Malaysia, Tansania und Zaire ausgelassen wurden, die sich bei einer weiteren Runde stark zu Wort melden werden.
Die Projekte decken zudem sehr unterschiedliche Ökosysteme ab, vom tropischen Regenwald über Meeresbiotope, Feucht- und Trockengebiete. Wenn man sich die zur Verfügung stehenden Gelder ins Gedächtnis ruft und bedenkt, daß mehr oder weniger zu jedem Projekt intensive Studien aufgestellt und ausländische Experten bezahlt werden, dann entsteht der Eindruck, die GEF wolle ihre Vielfalt beweisen und übernimmt sich ganz ordentlich. Viele der genannten Projekte wurden unter – politischem – Zeitdruck bereits Ende 1993 eingeführt; Diskussionen und Evaluierungen von unabhängigen Gutachter oder NRO haben so gut wie gar nicht stattgefunden bzw. wurden mit der Entschuldigung „Mittelabflußdruck“ unterbunden. Die meisten lateinamerikanischen Projekte fallen in die Kategorie der „wenig beeindruckenden Mittelabflußdruckprojekte“, allen voran Brasilien und auch Mexiko.
Erstaunlich ist auch die mangelhafte Aufmerksamkeit gegenüber politischen Zwängen. Selbst bestens geplante Projekte können scheitern, wenn Wirtschaftspolitik, Handelsabkommen, Strukturanpassungsprogramme und Gesetze über Bodeneigentum einen dauerhaften Schutz der Artenvielfalt behindern. Hinzu kommen noch Entwicklungsprojekte, die den Umweltschutz konterkarieren und oft von derselben Durchführungsorganisation stammen. Eine Aufstockung der GEF-Gelder, wie sie von allen Seiten berechtigterweise gefordert wird, wird unter diesen Umständen keine erhebliche Verbesserung des Artenschutzes bringen.
Scheitern an alten Strukuren
Nach dem bisher Gesagten verlief die GEF-Pilotphase nicht sehr beeindruckend. Auch in Zukunft wird sich daran nicht viel ändern, da insbesondere die Weltbank an ihrer üblichen Praxis festhalten wird: Auswahl nach politischen Gesichtspunkten, fast nur öffentliche Organisationen als Ansprechpartner, mangelnde Flexibilität bei Projektdesign und -durchführung, keine sozioökonomischen Studien, kurze Projektzyklen, Einsatz ausländischer ExpertInnen und rein symbolische Beteiligung der lokalen Bevölkerung. Bei der GEF können diese Probleme allerdings wenigstens abgemildert werden, wenn die beteiligten NRO – und gerade die großen – ihren Einfluß so stark wie möglich geltend machen. Die Weltbank läßt sich sonst normalerweise nicht in die Karten sehen, daher sollte jede Möglichkeit der Einflußnahme ausgenutzt werden. Bei der derzeitigen finanziellen Ausstattung ist die Auswirkung der GEF auf globale Umweltschutzmaßnahmen jedoch nur von marginaler Bedeutung. Die GEF bleibt ein Trostpflaster, das die eigentlichen Ursachen der Umweltzerstörung nicht angeht.
Alles paletti
Bis zum Vertragsabschluß war es ein weiter Weg: der BGI hatte ein ‚Gütesiegel für kolumbianische Blumen‘ schon zum Muttertag 1993 angekündigt. Allerdings erwiesen sich die weiteren Schritte – allen voran das Einverständnis der kolumbianischen Exporteure – schwieriger als gedacht, so daß noch einige Zeit verging, bis endlich zumindest das grundlegende Vertragswerk der Öffentlichkeit vorgestellt werden konnte. Nach den bisherigen inhaltlichen Ausführungen bleibt jedoch Skepsis angebracht, ob sich damit die Verhältnisse auf den Blumenplantagen tatsächlich verbessern. Die kolumbianische Blumenindustrie, weltweit zweitgrößter Schnittblumenexporteur, hat aufgrund der Produktions- und Arbeitsbedingungen in ihren Betrieben in den letzten Jahren vor allem in Europa zunehmend Negativschlagzeilen gemacht. Eine allzu kritische Presse und Öffentlichkeit, dazu Debatten bis ins Europaparlament hinein sind nicht gut für einen Bereich, in dem täglich neue Anbieter auf den internationalen Markt drängen.
Alter Hase im Blumengeschäft
Für Kolumbien sind Blumen ein wichtiges Geschäft: schon in den 60er Jahren wurden die ersten Betriebe in der Hochebene rund um die Hauptstadt Bogotá gegründet. Die Sabana de Bogotá bot günstigste Voraussetzungen für den Blumenanbau, die diesem Wirtschaftszweig schon bald traumhafte jährliche Zuwachsraten bescherten: ein hervorragendes Klima mit hoher Sonneneinstrahlung, fruchtbarer Boden zu günstigen Preisen, ausreichend Wasser, eine gute und schnelle Anbindung an den Flughafen von Bogotá, nur wenige Stunden entfernt vom Importmarkt der USA, Miami. Und nicht zuletzt gab es ausreichend billige Arbeitskräfte, deren Entlohnung um ein vielfaches niedriger lag als in den industrialisierten Ländern: Betrug der durchschnittliche Tageslohn im landwirtschaftlichen Bereich der USA 1966 18 US-Dollar und 1970 21,25 US-Dollar, waren es in Kolumbien gleichbleibend nur ganze 82 Cent, die ein/e BlumenarbeiterIn im Durchschnitt pro Tag verdiente.
Heute sind Blumen das drittwichtigste landwirtschaftliche Exportprodukt Kolumbiens nach Kaffee und Bananen, mit dem immerhin noch 4 – 5 Prozent des Gesamtexportvolumens des Landes erwirtschaftet werden. Im letzten Jahr wurden über 130.000 Tonnen Blumen im Gesamtwert von über 380 Millionen US-Dollar exportiert. Etwa drei Viertel des Exports gehen in die USA, jedoch kommt auch den Märkten Westeuropas eine wichtige Rolle bei der Vermarktung inmitten einer immer größer werdenden Konkurrenz von anderen ‚Drittweltländern‘ zu.
Steigender Konkurrenzdruck – Suche nach der Nische
Trotz Wirtschaftskrise und Rezession sind die hiesigen Märkte noch ausbaufähig, und Blumen werden immer gekauft. Spitzenreiter im Konsum ist die Bundesrepublik, in die Kolumbien bisher nur etwa ein Viertel seiner EU-Exporte liefert. Das entspricht jedoch nur zwei Prozent des jährlichen deutschen Blumenumsatzes. Möglich ist da noch viel: nirgends sonst wird pro Kopf so viel Geld für Blumen ausgegeben wie in Deutschland, dem weltweit größten Importmarkt für Schnittblumen mit einem Jahresumsatz von 8 Milliarden Mark. Etwa 80 Prozent der Blumen sind Importware. Diese wird zwar zum größten Teil aus Holland eingeführt, aber es bleibt immer noch genügend Spiel für Zuwachsraten anderer Produzentenländer wie etwa Kolumbien. Zudem ist der Export nach Europa vor allem im hiesigen kalten Winter ein wichtiges Geschäft, wenn auch die beste Heizanlage in niederländischen Gewächshäusern nicht mehr das rechte Resultat bringt und umsatzstarke Feiertage wie Weihnachten, Silvester, Valentins- und Muttertag ins Haus stehen.
Auch die anderen westeuropäischen Länder sind wichtige Exportmärkte: In den englischen Handel geht etwa die Hälfte der EU-Transporte, den Rest teilen sich die übrigen Mitgliedsländer. Nimmt man die Fast- und -Immer-noch-nicht-EU-Staaten Norwegen, Schweden, Österreich oder die Schweiz hinzu, werden insgesamt etwa 20 Prozent der gesamten kolumbianischen Blumenproduktion in die EU importiert. Zudem können Blumen seit dem 1990 im Rahmen der ‚internationalen Drogenbekämpfung‘ geschlossenen Zollpräferenzabkommen mit den Andenländern (Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Peru) zollfrei in die EU eingeführt werden. Die Verlängerung dieses bis Ende 1994 befristeten Abkommens um weitere 10 Jahre wird gerade in den Gremien der Europäischen Union innerhalb des Allgemeinen Zollpräferenzsystems diskutiert.
Blühende Landschaften – ausgelaugte Menschen
Gerade in Westeuropa jedoch, und hier vor allem in der Bundesrepublik, Österreich und der Schweiz, nahmen in den letzten Jahren die Stimmen derer zu, die die Produktionsbedingungen auf den Blumenplantagen und die Lebens- und Arbeitsbedingungen der BlumenarbeiterInnen kritisieren und ihren Klagen über die zahlreichen Verletzungen minimalster Grundrechte auch in den Verkaufsländern öffentliches Gehör verschaffen. In Kolumbien arbeiten heute etwa 80.000 Menschen, in der Mehrzahl Frauen, direkt in der Blumenindustrie. Weitere 50 – 60.000 sind in angegliederten Produktionszweigen beschäftigt, in der Zulieferung, dem Transport, der Herstellung von Verpackungsmaterial und Plastikplanen usw. 600.000 Personen sind, so die Schätzungen, insgesamt von der Arbeit auf den Blumenplantagen abhängig. Der Preis, den sie und vor allem die Arbeiter und Arbeiterinnen bezahlen, ist hoch: Der Arbeitsalltag ist lang mit nur kurzen Pausen, um sich von den körperlichen Strapazen stundenlangen Stehens oder Arbeitens in der Hocke und auf den Knien zu ‚erholen‘. Kommen längere Anfahrwege hinzu, sind die Frauen und Männer schon an normalen Arbeitstagen häufig 12 Stunden und länger außer Haus. Vor allem zur Haupterntezeit, die im Oktober beginnt, kommen Überstunden hinzu, die die gesetzlich erlaubten Maximalzeiten oft weit überschreiten und häufig auch noch den einzigen arbeitsfreien Tag, den Sonntag, einschließen. Bezahlt wird dabei gerade einmal der gesetzlich vorgeschriebene Mindestlohn. Der liegt im Moment bei etwa 120 US-Dollar im Monat – was bei weitem zu wenig ist, um eine Familie auch nur mit dem Notwendigsten zu versorgen.
hire and fire
Die Anstellungsverhältnisse sind unsicher. Immer mehr ArbeiterInnen sind nicht fest beim Betrieb angestellt, sondern arbeiten über Leihfirmen und mit Zeitarbeitsverträgen. Dies ermöglicht es beispielsweise, Sozialversicherungspflichten oder Verpflichtungen zu Lohnfortzahlungen bei Kündigung zu umgehen. Auch das 13. Monatsgehalt wird auf diese Weise eingespart. Die Beschäftigung über Kurzzeitverträge ermöglicht es den Unternehmern auch, ausschließlich nach dem aktuellen Bedarf und den gerade anfallenden Arbeiten einzustellen und zu entlassen. Zudem werden Zeit-, beziehungsweise Leiharbeits-„verträge“ oft nur mündlich geschlossen. Entsprechend erschwert ist der Gang vor ein Arbeitsgericht, um vorenthaltene Rechte einzuklagen. Die mit den kurzfristigen Verträgen und der großen Arbeitsplatzunsicherheit verbundene hohe Rotationsrate unter den ArbeiterInnen macht zudem eine gewerkschaftliche Organisierung schwierig. Ein ausgesprochen positiver Effekt aus Sicht der Unternehmer, die alles daransetzen, eine unabhängige Organisierung in ihrem Betrieb zu vermeiden. Dabei reicht die Palette von Repressionen über Prämien für Wohlverhalten bis hin zu Entlassungen. Ausnahmen gibt es lediglich dort, wo eine arbeitgeberfreundliche Betriebsgewerkschaft existiert, auch wenn in Kolumbien das Grundrecht auf freie Organisierung und gewerkschaftliche Betätigung gesetzlich garantiert ist.
Ein weiteres großes Problemfeld ist der permanente und intensive Pestizideinsatz im Blumenanbau – 120 bis 230 kg Pestizid-Wirkstoff, so Schätzungen, werden pro Jahr und Hektar auf den Plantagen ausgebracht, etwa das Doppelte der holländischen Mengen. Der Blumenanbau erfordert im Schnitt 14 verschiedene manuelle Arbeitsschritte, bei denen die Pflanzen direkt angefaßt und berührt werden – mehr als in allen anderen landwirtschaftlichen Produktionsbereichen. Mangelhafte Arbeits- und Schutzkleidung, die Nichteinhaltung von Wiederbetretungsfristen nach Ausbringung von Schädlingsbekämpfungsmitteln, unterlassene Ausbildung der ArbeiterInnen, mangelnde hygienische Einrichtungen… all das heißt, jeden Tag aufs Neue die Gesundheit zu gefährden und zu ruinieren. Vergiftungserscheinungen wie Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit, Hautausschläge und Allergien sind alltäglich und „nur“ die „leichteren“ Gesundheitsschäden. Arbeitsunfälle mit Todesfolge kommen immer wieder vor.
Ein erhebliches Problem für die Gemeinden der Sabana ist der Wasserverbrauch der Blumenplantagen, die oftmals direkt bis an die Häuser der Ortschaften heranreichen oder sie teilweise vollständig einschließen. Drei Viertel des gesamten Wasserverbrauchs in den Hauptanbaugebieten gehen auf das Konto der Blumenunternehmen. Der Grundwasserspiegel fällt jährlich um ca. 3,5 bis 5 Meter. Infolgedessen sind Trinkwasserprobleme inzwischen weit verbreitet. Viele Gemeinden haben nur noch stundenweise am Tag Wasser – sofern sie es sich überhaupt leisten können, immer tiefere Brunnenbohrungen vorzunehmen. Wer das nicht kann, muß eben das noch vorhandene Oberflächenwasser nutzen – oft genug eine schillernde Brühe zweifelhafter Qualität.
Der Blumenboykott
Die vielen Berichte über diese Lebens- und Arbeitsverhältnisse führten dazu, daß im Frühjahr 1991 in der Schweiz, in Österreich und der Bundesrepublik verschiedene Organisationen und Hilfswerke mit einer Informations- und Öffentlichkeitskampagne begannen. Diese war verbunden mit dem Versuch, in einem konstruktiven Dialog mit den verschiedenen Verantwortlichen eine Verbesserung der Situation der ArbeiterInnen zu erreichen. Sie stießen dabei nicht nur auf taube Ohren: der Verband der deutschen Blumenimporteure BGI kündigte schließlich im Frühjahr vergangenen Jahres an, eine ‚Colombian Clean Flower Declaration‘, wie sie zunächst hieß, zusammen mit den kolumbianischen Exporteuren verabschieden zu wollen, die die Einhaltung der gesetzlichen Grundlagen in Kolumbien innerhalb der Bereiche Arbeitsrecht, Sozialbestimmungen, Umweltschutz und Einsatz von Pestiziden garantieren sollte. Die Organisationen der deutschen Blumen-Kampagne begrüßten diesen Schritt, bedeutete er doch eine indirekte Anerkennung der immer wieder geäußerten Kritik an den Zuständen in der kolumbianischen Blumenindustrie auch durch die Unternehmer. Und könnte tatsächlich durchgesetzt werden, daß die gesetzlichen Vorschriften eingehalten würden, wäre dies in einem Land wie Kolumbien, in dem massive Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind, doch schon ein erster Erfolg, auch wenn die Blumen damit noch lang nicht ’sauber‘ sind und ein wirkliches ‚Güte‘-Siegel sicher mehr erfüllen muß als die Einhaltung der nationalen Gesetzgebung.
Ob mit dem jetzt in Frankfurt vorgestellten Siegel tatsächlich Verbesserungen erreicht werden können, bleibt abzuwarten und muß bislang noch mit einiger Skepsis betrachtet werden. Das Abkommen zwischen BGI und Asocolflores sieht vor, daß die kolumbianischen Betriebe, die das Siegel benutzen wollen, sich zunächst kontrollieren lassen müssen. Fällt diese Kontrolle zufriedenstellend aus, werden die Unternehmen auf eine ‚Weiße Liste‘ gesetzt und erhalten das Recht, ein Emblem auf ihren Verkaufskartons zu führen. Bisher liegen für das Siegel des ‚Colombia Flower Council, Germany‘ allerdings lediglich Richtlinien für den biologisch-ökologischen Bereich vor, mit denen der Pestizideinsatz gesenkt, die Handhabung der Agrochemikalien ungefährlicher gemacht und die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften und Wiederbetretungsfristen erreicht werden sollen. Dazu, wie die schwierigen Bereiche des Sozial- und Arbeitsrechts in das Siegel eingebunden werden können, was von diesen Bereichen sinnvollerweise wie kontrolliert und von wem überprüft werden soll, gibt es bislang allerdings keine genaue Vorstellung, obwohl kolumbianische und deutsche Gruppen immer wieder Vorschläge hierzu gemacht haben.
Die deutschen Unternehmer möchten mit dem Siegel schnell auf den Markt kommen, möglichst schon Anfang nächsten Jahres. In Frankfurt kündigten sie an, daß schon im Oktober die ersten Betriebe dazu ‚gecheckt‘ werden sollten – aufgrund der geschilderten Situation bislang nur für den biologischen Bereich. Wie die fehlenden Aspekte so schnell integriert werden können, so daß der ins Auge gefaßte Zeitplan eingehalten werden kann, ist unklar. Reine ‚Öko-Blumen‘ aber aus Betrieben, die nicht bereit sind, Gewerkschaften zuzulassen und ihren sozial- und arbeitsrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen, können keinesfalls das Ziel der Bemühungen sein.
Für die deutsche Blumenkampagne gibt es einige weitere zentrale Punkte, die bei der Einführung eines Blumensiegels grundlegend sind: 1. Eine Trennung zwischen Umwelt- und sozialen Rechten oder auch eine Vernachlässigung letzterer ist nicht durchführbar. Wie soll beispielsweise gewährleistet werden, daß die Vorschriften eingehalten und Sicherheitsvorkehrungen bei der Handhabe von Pestiziden beachtet werden? Oder die Arbeitskleidung komplett und funktionstüchtig ist? Wer könnte den Arbeitsalltag in den Betrieben besser und kompetenter kontrollieren als die Arbeiter und Arbeiterinnen, die dort beschäftigt sind? Wie aber sollen sie dies tun und sich auch äußern können, wenn grundlegende soziale Rechte wie das Recht auf Koalitionsfreiheit nach wie vor mißachtet werden? Voraussetzung ist, daß es den ArbeiterInnen möglich ist, ihre eigenen unabhängigen Gewerkschaften aufzubauen, und zwar ohne damit ihre Entlassung zu riskieren oder Repressalien im Betrieb fürchten zu müssen.
2. Den Berichten und Beschwerden der ArbeiterInnen muß ein besonderes Gewicht eingeräumt werden – und hierzu ist mehr notwendig als die Möglichkeit, sich bei den Betriebsbesichtigungen an eine Kontrollkommission zu wenden, die möglicherweise einmal pro Jahr im Unternehmen vorstellig wird. Es muß eine dauerhafte neutrale Möglichkeit für die ArbeiterInnen geben, sich zu ihren Arbeitsbedingungen zu äußern, ohne daß sie negative Folgen für sich befürchten müssen. Gleichzeitig muß ein Modus gefunden werden, der gewährleistet, daß den Beschwerden der ArbeiterInnen über die Situation in ihren Betrieben auch nachgegangen wird.
3. Für eine Glaubwürdigkeit des Siegels muß auch die Unabhängigkeit der Kommission garantiert sein, die die Einführung und Einhaltung des Siegels und der Deklaration in den Betrieben kontrollieren soll. Bisher ist vorgesehen, daß über die Besetzung der Kontrollkommission nur von Unternehmerseite entschieden werden soll, während andere beteiligte Gruppen keinerlei Mitspracherecht haben. Die Gefahr einer reinen Eigenkontrolle durch eine Kommission, die größtenteils den Wünschen der Unternehmer entspricht, liegt so auf der Hand. Die kolumbianischen Unternehmer haben es bisher immer wieder abgelehnt, sich mit kolumbianischen Gruppen, den ArbeiterInnen und selbst mit WissenschaftlerInnen der staatlichen Nationaluniversität von Bogotá zusammenzusetzen, die an einem interdisziplinären Forschungsprojekt zur Blumenindustrie arbeiten. Eine auch für die Öffentlichkeit nachvollziehbare Unabhängigkeit der Kommission, die das Vertrauen aller am Konflikt beteiligten Gruppen genießt, ist jedoch unabdingbare Voraussetzung dafür, daß das Siegel auch glaubwürdig ist. Nicht zuletzt für die hiesigen VerbraucherInnen, die schließlich die kontrollierten Blumen auch kaufen sollen.
4. Ein weiterer kritischer Bereich ist die Check- oder Kontrolliste, anhand derer die Betriebe in Kolumbien überprüft werden sollen. Auch hier liegt ein Konzept für den arbeits- und sozialrechtlichen Bereich nach Aussagen der deutschen Blumenimporteure noch nicht vor, obwohl es in Kolumbien an kompetenten Personen nicht mangelt, auf die bei ihrer Erstellung zurückgegriffen werden könnte.
Alle vorgenannten Punkte müssen zunächst einmal in zufriedenstellender und für alle Seiten überzeugender Weise gelöst sein, damit das in Frankfurt vorgestellte Siegel zu einem Instrument werden kann, mit dem eine Verbesserung der Situation für die kolumbianischen BlumenarbeiterInnen erreicht werden kann.
Unterschrieben –
aber auch umgesetzt?
Doch zunächst einmal ist das geschlossene Abkommen ein Vertrag zwischen zwei Verbänden, das für sich genommen noch keinerlei Auswirkungen und Verpflichtungen für die, den Verbänden angeschlossenen Betriebe mit sich bringt. Das heißt, in Kolumbien muß sich nach der Unterschrift von Asocolflores noch kein einziges Unternehmen in Zukunft kontrollieren lassen, so lange nicht die Besitzer selbst noch einmal der Deklaration beitreten. Daß die Unternehmer nicht gerade euphorisch reagierten, kann daran abgelesen werden, daß bislang nur sechs oder sieben der über 400 kolumbianischen Blumenbetriebe ein Interesse an dem Siegel gezeigt haben. Und selbst für den eher unwahrscheinlichen Fall, daß alle Mitgliedsbetriebe Asocolflores‘ sich dem Abkommen anschließen, sind die Blumenbetriebe Kolumbiens noch nicht vollständig erfaßt. ‚Interessant‘ ist das Abkommen ohnehin zunächst nur für diejenigen Betriebe, die in die Bundesrepublik exportieren. Wenn der deutsche Einzelhandel sich aber verpflichten würde, nur noch Blumen von Betrieben der ‚Siegelliste‘ zu vermarkten und zu verkaufen, wäre es ein Instrumentarium , das die kolumbianischen Unternehmer dazu bewegen könnte, dem Abkommen beizutreten.
Der deutsche Blumenimporteursverband (BGI) hat in Frankfurt angekündigt, in einem nächsten Schritt seinen Mitgliedern eine entsprechende Empfehlung geben zu wollen und fügte hinzu, der deutsche Floristenverband habe das Abkommen bereits begrüßt. Eine Möglichkeit, die Einzelhändler über eine eigene freiwillige Entscheidung hinaus zu einer Unterstützung des Siegels zu bewegen, hat der BGI allerdings nicht. Kommen vom hiesigen oder anderen Märkten nicht entsprechende ‚Anreize‘, wird sich wohl kaum ein Unternehmer finden, der freiwillig und ohne damit verbundene Vorteile eine Umstrukturierung seines Betriebes vornehmen wird.
Natürlich sind hiermit noch längst nicht alle Verantwortlichen erfaßt, die – nicht nur im Falle der Blumen – in der Verpflichtung stehen, wenn es um die Durchsetzung menschenrechtlicher Mindeststandards und sozialer Grundrechte geht: der kolumbianische Staat, weit entfernt davon, alles ihm Mögliche zur Durchsetzung und Garantie der Menschenrechte zu tun und seine Kontrollpflichten wahrzunehmen, die (deutsche) chemische Industrie, die alljährlich Riesengeschäfte mit dem Export hochgiftiger Pestizide macht, die deutsche Regierung, gerade jetzt in der EU-Präsidentschaft mit einer ‚besonderen‘ Chance zum Handeln, nationale wie internationale Verbände und Regierungen… Auch die deutschen KonsumentInnen werden es mit ihrer eigenen Verantwortung nicht dabei bewenden lassen können, sich mit ‚kontrollierten‘ und ‚besiegelten‘ Blumen ein reines Gewissen zu (er)kaufen. Bis zu einer echten ‚Sozio-Öko-Blume‘ ist es noch ein weiter Weg.
Eine Materialliste zum Thema ‚Blumen‘ ist erhältlich bei: FIAN, Overwegstr. 31, 44625 Herne.
Indígenas legen das Land lahm
Der Streik, der am 12. Juni begonnen hatte, nahm rasch an Intensität zu und hatte schließlich die vollkommene Isolierung von neun der 21 Provinzen des Landes zur Folge, in den Bergregionen der Sierra ebenso wie im Amazonasgebiet. Einige regionale Hauptstädte waren vollständig von der Versorgung mit Treibstoff und Grundnahrungsmitteln abgeschnitten. Autostraßen und Brücken wurden gesperrt, öffentliche Gebäude besetzt und Nahrungsmittel, deren HaupterzeugerInnen die Indígenas sind, zurückgehalten. Damit gelang es ihnen, Schritt für Schritt eine chaotische Situation herbeizuführen und die ecuatorianische Gesellschaft auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen.
Die mangelnde Kenntnis und die wenig fortschrittliche Auffassung der Regierung vom Gewicht und der Bedeutung der Indígena-Bewegung, die diese spätestens seit dem Aufstand im Jahre 1990 gewonnen hat, traten offen zu Tage, als der Landwirtschaftsminister, Mariano González, von „Manipulationen gegen die Regierung“ sprach, denen die „Indios“ erlegen seien. Derartige Aussagen bestätigen nach der Auffassung eines Kommentators „ein in Vorurteilen und obsoleten Wertvorstellungen wurzelndes Bewußtsein, das nicht einmal in der Lage ist, den Indígenas selbstverantwortliches Handeln und eigenständigen Protest zuzugestehen“.
In der Tat war die sogenannte „verlorene Dekade“ im Lateinamerika der achtziger Jahre für die Indígena-Bewegung Ecuadors ein „gewonnenes Jahrzehnt“. Wer ihren Organisierungsprozeß mitverfolgt hat, muß anerkennen, daß die Indígenas an Selbstbewußtsein gewonnen haben und auch in der Öffentlichkeit stärker präsent sind. Die heutige Bewegung hat politische Bedeutung auf nationaler Ebene erlangt. Sie nimmt Stellung, erarbeitet Vorschläge, sie ist nicht von den politischen Parteien abhängig und befindet sich auf dem besten Wege, ihr Selbstbild auf der Grundlage indigener Kultur, Sprache und eines eigenständigen Weltbildes neu zu definieren.
Selbstbewußt und offensiv
Die Regierung sah sich schließlich aus zweierlei Gründen genötigt, den Dialog mit den leitenden Persönlichkeiten der CONAIE aufzunehmen: einerseits die Wucht der Proteste, zu denen die Indígenas unter der Bezeichnung „Mobilmachung für das Leben“ aufriefen; andererseits die Kritik von weiten Kreisen der politischen Mitte und der Linken am Vorgehen der Regierung, einen unnötigen Konflikt heraufbeschworen und die Kritik im Vorfeld der Gesetzesverabschiedung nicht ernst genommen zu haben. Dennoch: bislang haben die Gespräche keine erkennbaren Erfolge erzielt.
Der tiefsitzende Rassismus der mestizischen Bevölkerungsmehrheit trat offen zu Tage, als EinwohnerInnen der Stadt Canar Gewalt gegen Indígenas anwandten, das Gebäude einer Landwirtschaftskooperative und Fahrzeuge dieser Organisation in Brand setzten. Die Polizei begnügte sich damit, die Ereignisse zu beobachten, ohne einzugreifen, während die zuständigen Militäreinheiten des nächstgelegenen Stützpunktes sich „zu Fuß“ zum Tatort begaben. Zur gleichen Zeit fand in Riobamba, der Hauptstadt der Provinz mit dem höchsten Indígena-Anteil, ein Protestmarsch statt, an dem über 40.000 Bauern und Bäuerinnen teilnahmen. Ihr Anliegen war ebenfalls die Aufhebung des neuen Agrargesetzes; die Proteste sollten so lange anhalten, bis auf ihre Forderungen eingegangen werde.
Bis zum 22. Juni waren alle Verständigungsversuche zwischen Indígenas und Regierung gescheitert. An diesem Tag ordnete die Regierung die militärische Mobilmachung als Radikalmaßnahme an, die Zeugnis von ihrer Unnachgiebigkeit ablegen sollte.
Angesichts der klaren Übermacht der Truppen, die in einigen Orten sogar mit Panzern ausrückten, begannen die Bauern und Bäuerinnen, sich friedlich in ihre Gemeinden zurückzuziehen. Wenig später wurde bekannt, daß maskierte Sondereinheiten Razzien in drei Radiosendern durchgeführt hatten, die dem Netzwerk der „Radio Popular Educativa“ angeschlossen sind. Sie wurden beschuldigt, „das gewalttätige und hetzerische Klima im Land anzuheizen“, Aufzeichnungen und Informationsmaterial wurden konfisziert und mehrere Personen festgenommen, darunter die Leiterin von „Radio Latacunga“, die Ordensschwester Alma Montoya.
Immerhin nahm die Regierung einige Tage später, unter dem anhaltenden Druck von Seiten der CONAIE, den Vorschlag an, eine Vermittlungskommission einzurichten, die über Reformen am Agrarentwicklungsgesetz beraten soll. Dieser Kommission werden der Präsident von Ecuador, der Vorsitzende des Kongresses, ein Vertreter der katholischen Kirche, VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen und Mitglieder der wichtigsten Indígena-Organisationen angehören.
Knackpunkte des „Agrarentwicklungsgesetzes“
Die Verabschiedung des „Agrarentwicklungsgesetzes“ ist kein isoliertes Phänomen, sondern reiht sich in eine Serie von Reformen ein, die die gegenwärtige Regierung vorantreibt. Diese haben unter anderem zum Ziel, den größten Teil der staatlichen Betriebe zu privatisieren, um so in- und ausländische Investoren anzulocken.
Die Landwirtschaftskammer bemängelte schon seit geraumer Zeit die „ineffiziente Bodenausnutzung in Ecuador“ und forderte eine Aufhebung des seit 1974 geltenden Agrarreformgesetzes, das den heutigen Ansprüchen nicht gerecht werde. Auch die Indígenas wiesen wiederholt auf die Reformbedürftigkeit dieses Gesetzes hin.
Am 17. Mai diesen Jahres lehnte der Kongreß eine erste Gesetzesvorlage der Regierung zur Agrar-Neuordnung ab, vor allem auf den Druck hin, den die Bauern-, bzw. Indígena-Organisationen auf den Gesetzgeber ausübten. Das Parlament einigte sich darauf, einen neuen Gesetzesentwurf zu erarbeiten, der sowohl die Vorschläge der Regierung, als auch die der oppositionellen Partido Social Cristiano und der die Indígena-Interessen vertretenden Coordinadora Nacional Agraria aufnehmen sollte.
Dennoch verabschiedete der Kongreß zwei Wochen später überraschend ein Gesetz, das zwar Regierungs- und Oppositionsentwürfe, nicht jedoch die Position der Indígenas in sich vereinigt. Mehr noch: es unterscheidet sich nur in Details von dem vorher gekippten Gesetzesentwurf.
Ein wichtiger Punkt des neuen Gesetzes stellt die verstärkte Eigentumsgarantie für LandbesitzerInnen dar. Durch diese Verfügung werden die bisher meist stillschweigend geduldeten Landbesetzungen ausdrücklich kriminalisiert. Diese stellten für die Indígenas eine der wenigen Möglichkeiten dar, an Grund und Boden zu gelangen. Polizei- und Militäreinsätze sind vorgesehen, um LandbesetzerInnen zu vertreiben.
Gleichzeitig schränkt das Gesetz die Möglichkeit für Enteignungen ein. Konnte nach dem ursprünglichen Agrargesetz eine Bodennutzung von weniger als 80 Prozent der jeweiligen Fläche mit Enteignung und öffentlicher Vergabe des Landes geahndet werden, so sieht das neue Gesetz – von Wiederholungsfällen abgesehen – nur noch eine Geldstrafe vor. Enteignungen durch den Druck der Bevölkerung, der bislang von den Indígenas am meisten zum Erhalt von Land geltend gemacht werden konnte, verschwinden vollständig in der neuen Regelung.
Zerstörung indigener Wirtschaftsformen
Weiterhin wird die Liberalisierung des Marktes für Agrarland vorangetrieben, indem es jedem Eigentümer freisteht, sein Grundstück ohne jedwede Genehmigung zu verkaufen. Auch wird die Teilung der gemeinschaftlichen Grundstücke von Kooperativen und comunas ermöglicht. Die comunas waren aus Zusammenschlüssen von Indígena-Familien entstanden, die gemeinsam Grundstücke für die landwirtschaftliche Nutzung kauften. Wenn auch jeder comunero über ein eigenes Stück Land verfügt, gibt es auch Gemeinschaftsland, das traditionell an einem Tag in der Woche von allen Mitgliedern der comuna zusammen bestellt wird („la minga“). Bis jetzt konnte kein comunero seinen Anteil an diesem Land verkaufen. Das neue Agrargesetz könnte für die in comunas lebenden Indígenas eine Auflösung ihrer Gemeinschaften bedeuten, die in der Vergangenheit nicht nur Gebietskörperschaften, sondern auch Zentren einer politischen, sozialen und kulturellen Selbstorganisation waren.
Vom Standpunkt einiger SozialwissenschaftlerInnen aus betrachtet, zielt das nun verabschiedete Gesetz auf eine „Zersetzung der physischen und territorialen Grundlagen der indigenen Gemeinschaften und Wirtschaftsformen“ ab. Auch sei die Nahrungsmittelversorgung des Landes gefährdet, da die Indígenas die hauptsächlichen Hersteller der im Land konsumierten Produkte seien. Die Ländereien der Indígena-Gemeinschaften stünden im Visier internationaler Investoren, versichern diese BeobachterInnen; vor allem am Holzexport interessierte Forstunternehmen hätten ein Auge darauf geworfen.
Darüberhinaus verfügt das Gesetz die Wasserversorgung durch private Anbieter. Für die Indígena-Bevölkerung vor allem in den trockenen Regionen der ecuatorianischen Sierra stellt das Ende der öffentlich garantierten Wasserverteilung ein ernstes Problem dar.
Außerdem geht das neue Regelwerk nicht auf die Realität der indigenen Bevölkerung des Amazonas-Gebietes ein, die schon seit Jahren auf eine gebietsrechtliche Anerkennung der von ihnen seit Jahrhunderten bewohnten und bewirtschafteten Territorien drängen. Auch die schwerwiegenden ökologischen Probleme dieser Zone fanden keine Berücksichtigung. Das alte „Kolonisierungs- und Agrarreformgesetz“ hatte hier die spezifischen Bedürfnisse einer westlichen Produktionsweise ermöglicht, deren Form der extensiven Rohstoffausbeutung keine Rücksicht auf die Empfindlichkeit dieses Ökosystems nimmt.
Lateinamerika im Fußballfieber
Kolumbien – auf leisen Sohlen zum Titel?
Die Vorstellung mit Kolumbien zu beginnen, rührt aus der schlichten Tatsache, daß die Kolumbianer als einzige Mannschaft die Qualifikation ungeschlagen überstanden. Zu zwei Siegen über Peru und zwei Unentschieden gegen Paraguay gesellten sich zwei Siege gegen den Topfavoriten und Südamerikameister Argentinien. Nach dem 2:1 Heimsieg gelang den Kolumbianern im Rückspiel in Buenos Aires Historisches. Mit 5:0 wurde Argentinien die höchste Heimniederlage in seiner Geschichte verpaßt. Kurz nach Schlußpfiff füllten sich in Kolumbien landesweit die Straßen mit fünf Finger zeigenden, enthusiastisch feiernden AnhängerInnen. Überschäumende Begeisterung mit tödlichen Folgen für Dutzende. Gewalt als Begleiterscheinung des Massenspektakels Fußball ist leider auch in Kolumbien an der Tagesordnung.
Dem hohen Stellenwert des Fußballs im allgemeinen und dieses Triumphes über Argentinien im besonderen, trug auch Präsident Gaviria Rechnung. Alle Spieler und der Trainer wurden mit dem höchsten Orden des Landes dekoriert. In Kolumbien träumen viele vom Titel, auch die Fußballfachwelt traut den Supertechnikern den Coup zu. Unbestritten der populärste und schillerndste Fußballer des Landes ist der Kapitän und Mittelfeldregisseur Carlos Alberto Valderrama. Nach einer Knieverletzung Ende Februar bangte eine ganze Nation um seine Teilnahme. Tausende von Kerzen wurden angezündet, tausende von Gebeten gesprochen. Unerwartet schnell wurde „El Pibe“ (der Kleine) wieder fit und die Träume vom Titel erhielten mit seinem Comeback neue Nahrung.
Der Kopf Kolumbiens: „El Pibe“ – „Ich liebe das Leben in seiner ganzen Buntheit“
Schon äußerlich fällt Carlos Valderrama mit seinem blonden Afro-Look aus dem Rahmen. So eigenwillig wie seine Haartracht, die er als Ausdruck seiner Lebensfreude beschreibt, so eigenwillig zeigt er sich auf dem Spielfeld. Der Ball als Spielzeug und nicht als schnöder Arbeitsgegenstand. Dieser Spielauffassung zu Folge „streichelt“ Valderrama erst ausgiebig den Ball, bevor er ihn zu einem Mitspieler weiterpaßt. All dies mit ausgefeilter Technik, die den ÄsthetInnen unter den FußballanhängerInnen das Herz höher schlagen läßt. Brillant seine Spielübersicht, die exakten Pässe, die nahezu Ausgang jedes Angriffes seiner Mannschaft sind. Als Kopf von seinen Mitspielern unumschränkt anerkannt, wird er als Anspielstation permanent gesucht und meist auch gefunden. Zumindest so lange die Kondition von „El Pibe“ reicht. Laufen war vor allem zu Beginn seiner Karriere nicht sein Ding. „Ich bin keiner, der anderen hinterherrennt. Ich muß das Spiel machen und Tore schießen, sonst nichts.“ Im reifen Alter von knapp 33 Jahren hat er sich scheints doch noch besonnen. Bei der „Copa America“ (Südamerikameisterschaft) im letzten Jahr zeigte er neben den gewohnten technischen Kabinettstückchen auch ungewohnten kämpferischen Einsatz. Der dem Nationaltrainer Francisco Maturana vor Jahren zugeschriebene Satz: „Ein Länderspiel ohne Carlos ist wie ein Tag ohne Sonne“, gewinnt so gesehen zusätzliche Berechtigung. Die Wertschätzung ist indes nicht auf Kolumbien beschränkt. Sowohl 1987, als Valderrama bei der „Copa America“ erstmals international in Erscheinung trat, als auch 1993 wurde er zum südamerikanischen Fußballer des Jahres gewählt.
Europäische Effizienz und lateinamerikanisches Genie
In Europa gehen die Meinungen bezüglich Valderrama auseinander. Bei den deutschen Fans ist er durch seine Schauspieleinlage im WM-Spiel 1990 gegen die deutsche Elf unrühmlich in Erinnerung geblieben. Mehrere Minuten lang spielte er den „toten Mann“, ließ sich mit der Bahre vom Platz tragen, um Sekunden später, wie von Geisterhand genesen, wieder quicklebendig auf dem Platz aufzutauchen und zu allem Überfluß mit einem genialen Paß das kolumbianische Ausgleichstor vorzubereiten.
Als erster Kolumbianer suchte Valderrama 1988 das lukrative Legionärsdasein in Europa. Seine Leistungen während der drei Jahre im französischen Montpellier und dem halbjährigen Aufenthalt im spanischen Valladolid waren aber eher durchwachsen. Seine lateinamerikanische Spielauffassung vertrug sich nicht recht mit europäischem Effizienzdenken. Richtig glänzen konnte Valderrama nur bei seinen Auftritten im Nationaltrikot. Folglich kehrte er 1992 nach Kolumbien zurück. Seit 93 spielt er nun in Barranquila, unweit entfernt von seiner Geburtsstadt Santa Marta an der kolumbianischen Karibikküste. Mit dem dortigen Klub Atlético Junior wurde er erstmals in seiner Laufbahn kolumbianischer Meister. Vielleicht doch von europäischem Effizienzdenken beeinflußt oder etwa nur ein Aspekt des Lebens in seiner ganzen Buntheit?
Mexiko – Heimvorteil im Gringoland
An der Qualifikation zur letzten WM durfte Mexiko nicht teilnehmen. Der Grund: Bei einer Junioren-WM hatte Mexiko diverse ältere Spieler mit getunten Pässen eingesetzt. Nachdem die Verfehlung ruchbar wurde, folgte die empfindliche Strafe durch den Weltfußballverband (FIFA) auf dem Fuß. Nach achtjähriger WM-Abstinenz war die Freude nun um so größer, daß Mexiko seiner Favoritenrolle in der Nord- und Mittelamerika-Ausscheidung gerecht wurde und somit neben dem automatisch qualifizierten Veranstalterland USA als einziges Land diese Region vertritt. Die Spiele der mexikanischen Mannschaft werden wohl die stimmungvollsten der WM werden – zumindest, was die Atmosphäre auf den Rängen betrifft. Hauptspielort für Mexiko ist Washington. Die riesige mexikanische Gemeinde in den USA wird zu Tausenden in die Hauptstadt pilgern.
Zwei Niederlagen in der Qualifikation in Costa Rica und El Salvador konnte das mexikanische Team verkraften, da der Hauptkonkurrent Kanada zweimal geschlagen wurde. In zwölf Spielen nur acht Gegentore. Nicht zuletzt ein Verdienst des Ausnahmetorwarts Jorge Campos, der als populärster Spieler dem in Spanien spielenden Hugo Sanchez den Rang abgelaufen hat.
Der komplette Spieler:Campos – „Ich liebe grelle Farben und verrückte Kleiderkombinationen“
Der jetzige US- und ehemalige mexikanische Nationaltrainer Bora Milutinovic hält ihn für den kompletten Spieler der letzten hundert Jahre. Einfach deshalb, weil Jorge Campos auf den zwei gegensätzlichsten Positionen, die es im Fußball gibt, zumindest nationale Spitzenklasse darstellt. Sowohl in der Nationalmannschaft, als auch vor allem im Verein, spielt er je nach Lage Torwart oder Mittelstürmer, mitunter gar in einem Spiel. Den Höhepunkt seiner Doppelrolle zelebrierte er 1992 bei einem Erstligaspiel. Zuerst vom Tor in den Sturm gewechselt, sorgte er für den Ausgleich, um kurz vor Ende der Partie bei einem Elfmeter für die gegnerische Mannnschaft ins Tor zurückzukehren und mit seiner Abwehrparade das Unentschieden zu sichern. „Das Ganze ist keine inszenierte Show von mir. Ich kann mich einfach nicht entscheiden, ob ich nur Tore verhindern oder nur Tore schießen soll.“ Aber Entscheidungen über die Aufstellung trifft im Fußball ja gemeinhin der Trainer, womit Campos aus seinem Dilemma befreit wäre. Seinem Spieltrieb gibt Campos mit Billigung seiner Trainer auch als Torwart nach. Da sowohl die mexikanische Nationalmannschaft als auch seine Vereinsmannschaft UNAM Mexiko ohne letzten Mann (Libero) spielen, bekleidet Campos diese Position ersatzweise.
Seine für einen Torhüter geringe Größe von 175 cm gleicht er mit einem enormen Sprungvermögen aus. Entwickelt hat er diese Sprungkraft nach eigenen Angaben beim Fußballspiel am Strand seiner Heimatstadt Acapulco. Andere Berichte kolportieren indessen, daß er seiner Tätigkeit als Hühnerfänger auf der großväterlichen Farm einen Gutteil seiner Fangtechnik und Sprungkraft verdankt.
Kleider machen Leute
Seine Position als Torwart verleiht ihm alle Freiheiten bei der Kleiderwahl. Haben Feldspieler ob des einheitlichen Trikots nur geringen Spielraum, mit ihrer Kluft auf sich aufmerksam zu machen, so sind der Phantasie des Torhüters keine Grenzen gesetzt. Kein Torhüter nützt dies so weidlich aus, wie Jorge Campos. „Das meiste Geld gebe ich für meine ausgefallenen Torhüterausrüstungen aus, ich liebe grelle Farben und verrückte Kleiderkombinationen.“ Wenn er auch verrückte Kleiderkombinationen bevorzugt, verrückt ist er keineswegs, sondern mit einer guten Portion Realitätssinn ausgestattet. Nach Europa will er auf keinen Fall wechseln. Er befürchtet wohl zu Recht, daß er mit seinem Stil im nüchternen Europa nicht ankommen würde.
Bolivien – Höhenflug in dünner Andenluft
Bolivien hatte nun wahrlich bei der Prognose der WM-Teilnehmer niemand auf der Rechnung. Während ihrer zweier WM-Teilnahmen 1930 und 1950 gelang ihnen weder Punkt noch Tor. Einer der „Fußballzwerge“ schlechthin. Die Fußballgrößen Brasilien und Uruguay galten vor Beginn der Qualifikation als haushohe Favoriten, Ecuador als Außenseiter und Bolivien als Punktelieferant. Aber es kam ganz anders. Seine Heimspiele trägt Bolivien auf 3800m Höhe in La Paz aus. Folglich geht den gegnerischen Mannschaften in La Paz im wahrsten Sinne des Wortes gegen Ende des Spiels die Luft aus. Dies ist nicht neu, doch noch nie schlug Bolivien soviel Kapital daraus wie diesmal. Brasilien mußte in den letzen drei Minuten zwei Gegentore hinnehmen und verlor 0:2. Uruguay bekam in den letzten zehn Minuten gar drei Eier ins Nest gelegt und verlor 1:3. Daß Bolivien in Brasilien mit 0:6 unter die Räder kam, konnte verschmerzt werden. Der zweite Platz hinter Brasilien blieb dank der imposanten Heimbilanz gewahrt. Die erste WM-Teilnahme seit 44 Jahren war geschafft. Der Verkehr brach zusammen. Nicht nur in La Paz, auch in den Exilgemeinden Washington-Georgetown, Buenos Aires, Santiago und Lima.
Sechs aktuelle Nationalspieler entstammen der berühmten Academia Tahuichi Aguilera (Fußballnachwuchsschule) in Santa Cruz, die 1978 vom jetzigen Staatssekretär für Sport Rolando Aguilera gegründet wurde. Auch der Stürmerstar Marco Antonio Etcheverry erlernte dort sein fußballerisches Rüstzeug.
„El diabolo“: Ein teuflischer Dribbler
Seine Ausbildung an der Tahuichi-Akademie verdankt Marco Etcheverry der Antidrogen-Organisation „Seamos“. „Seamos“ kam für den Monatsbeitrag von 16 DM auf, da dieser die finanziellen Möglichkeiten seiner Eltern überstieg. Mit 17 Jahren unterschrieb „El diabolo“ (der Teufel) seinen ersten Profivertrag bei Bolivar La Paz. Mit 21 Jahren feierte er 1991 sein Debüt in der Nationalmannschaft. Im gleichen Jahr glänzte er mit spektakulären Dribblings bei der „Copa America“ (Südamerikameisterschaft) so sehr, daß er ins All-Star-Team der besten 11 Spieler des Turniers gewählt wurde. Der Weg ins lukrative Europa war geebnet. Der spanische Erstligist Albacete sicherte sich flugs die Dienste des umworbenen Stürmers. Doch alles Geld konnte das überhandnehmende Heimweh nicht kompensieren. Etcheverry wurde mehr in Kneipen als auf dem Trainigsplatz gesehen. Nach einem halben Jahr brach „El diabolo“ seine Zelte im europäischen „Paradies“ wieder ab, um nach La Paz zu seinem Stammverein Bolivar zurückzukehren. Die in Bolivien für einen Fußballprofi kärglichen Verdienstmöglichkeiten von im Schnitt 1700 DM, ließen ihn aber nach einem Jahr das chilenische „Exil“ bei Colo Colo Santiago suchen. Mit diesem Club wurde er 1993 auf Anhieb Meister, wenngleich eine schwere Knieverletzung im November sein Mitwirken in der Schlußphase der Meisterschaft verhinderte. Bei der WM soll er aber wieder fit sein und kann somit im Eröffnungsspiel dem deutschen Team die Hölle heiß machen.
Argentinien
Bei den letzten zwei Weltmeisterschaften jeweils Endspielgegner der deutschen Mannschaft, war der Weltmeister von 1978 und 1986 und amtierende Südamerikameister (1993) natürlich Topfavorit in seiner Gruppe. Doch Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Das unterentwickelte Kolumbien könne in Argentinien doch gar nicht gewinnen, soll Diego Maradona vor dem Rückspiel in Buenos Aires geäußert haben. Mit dem schon erwähnten 5:0 Sensationssieg gaben die Kolumbianer auf dem Spielfeld eine deutliche Antwort. Das ruhmreiche Argentinien mußte so eine interkontinentale Zusatzqualifikation gegen Australien bestreiten, um das Ticket für die USA zu erhalten. Mit diesen beiden Spielen kehrte auch Argentiniens bester Fußballer aller Zeiten, Diego Armando Maradona nach dreijähriger Abstinenz wieder ins Nationalteam zurück. Trotz mangelhafter Fitness trug Maradona mit seiner Vorlage zum 1:1 in Australien und beim knappen 1:0 in Buenos Aires mit seinem Mythos entscheidend zur Qualifikation bei. Wenn auch im Moment ohne Verein und von seiner Höchstform weit entfernt, hofft Argentinien, daß Maradona auch bei der WM mit Genieblitzen die Mannschaft führen und inspirieren kann.
„Dieguito“: „Fußballgott“ und „Kokainsünder“ – der Mythos Maradona
Neben dem Brasilianer Pelé gilt er als weltbester Spieler aller Zeiten. Schlagzeilen produziert er im Privatleben ebenso ausgiebig wie auf dem Spielfeld. Seine Größe als Fußballer ist ebenso unumstritten, wie seine Persönlichkeit umstritten. Politisch zeichnet sich Maradona durch wechselnde Positionen aus. Einst Verehrer von Menem, schenkte er als Zeichen seiner Wertschätzung unlängst dem máximo líder Fidel Castro sein Trikot. Bei den kürzlichen Kommunalwahlen in Argentinien sprach er sich für das Mitte-LinksBündnis Frente Grande aus.
Teures Wunderkind
Seine von zahlreichen Rekorden und Erfolgen gekrönte Profikarriere begann Diego Armando Maradona schon zehn Tage vor seinem 16. Geburtstag als Einwechselspieler der Argentinos Juniors Buenos Aires. Vier Monate später feierte das Supertalent als jüngster Nationalspieler des Landes aller Zeiten seinen Einstand in der Nationalmannschaft. Mit 21 Jahren wechselte er für die damalige Rekordablösesumme von ca. 20 Millionen DM zum spanischen Club FC Barcelona; 1984, mit 23 Jahren, für die neue Rekordablösesumme von ca. 24 Millionen DM an den Vesuv zum SSC Neapel. Größere sportliche Erfolge hatte „Dieguito“ bis dato überhaupt noch nicht errungen. Allein sein Ruf als weltbester Fußballspieler ließ die Ablösesumme in ungeahnte Höhen schnellen. Mit der Zeit in Neapel (84 bis 91) ist der Aufstieg zum verehrten „Fußballgott“ wie auch der Fall zum „Kokainsünder“ verbunden.
Eine Stadt und ihr Spieler – die Symbiose
Schon zu seiner Vorstellung pilgerten 80.000 ZuschauerInnen ins Stadion San Paolo. Maradona, einer, der den Aufstieg geschafft hat, als Symbol der Hoffnung für die Armen. „Bienvenuti a Italia“ – so wurde das Afrika zugeordnete Neapel in Genua oder Mailand hämisch empfangen. Maradona als Symbol eines neuen Selbstbewußtseins gegenüber den reichen Städten des Nordens.
Maradona gab die Sympathien, die ihm in Neapel entgegenschlugen, zurück. Auf dem Spielfeld ließ er mit seinen Tricks Alltagssorgen verblassen. Privat lud er des öfteren Kinder für ein Wochenende in seine Prunkvilla ein. Wenn überhaupt, dann wurde in Argentinien der Gewinn der Weltmeisterschaft 1986 enthusiastischer gefeiert als in Neapel. Auch Neapel war Weltmeister geworden, schließlich war es ihr „Dieguito“, der als überragender Spieler dem Turnier seinen Stempel aufgedrückt hatte. Unsterblich machte sich Maradona im Jahr darauf. Der Begriff scudetto (italienischer Meistertitel) war aus dem neapolitanischen Vokabular entfernt worden, schien doch ein Fluch auf ihm zu lasten oder wie anders konnte erklärt werden, daß Neapel noch nie Meister geworden war. Maradona, der Magier, löste auch diesen Fluch. Meisterschaft und Pokal in einem Jahr. Maradona war auf dem Höhepunkt seines Ruhms angekommen. Eine ganze Stadt lag „Dieguito“ zu Füßen, umarmte ihn – und hätte ihn fast erdrückt.
Maradona auf der Flucht – die Tragik
Maradona, der sich anfangs in seiner unantastbaren, gottähnlichen Rolle gefiel, wurde es zuviel. „Ich fühle mich wie ein Gefangener“ äußerte er 1989. Er wollte weg, obwohl der sportliche Erfolg immer noch gegeben war. 1990 wurde die Meisterschaft ein zweites Mal errungen. Maradona gehen lassen, Neapel ohne Gott und Hoffnung? Wie sollte ein Präsident das verantworten? Maradona im Käfig. Im Februar 91 wurde Maradona mit ersten Drogenvorwürfen konfrontiert. Im März wurde es amtlich. Nach einem Ligaspiel wurde ihm der Kokaingenuß nachgewiesen. Er habe zu den Drogen gegriffen, um dem Rummel um seine Person zu entfliehen. Er floh weiter. Zunächst vor der italienischen Justiz nach Argentinien. Dort wiederum in die Drogen. Nach seiner Festnahme wegen Drogenbesitz bewahrte ihn nur sein Name und die Bereitschaft, sich einer Entziehungskur zu unterziehen, vor einer Haftstrafe. Seine Karriere schien beendet.
Nach Ablauf seiner 15monatigen Spielsperre wegen Dopings wollte er seine Karriere bei Boca Juniors Buenos Aires fortsetzen. Neapel gab seinen Sohn preis – für 11,3 Millionen DM. Nie war er so billig und dennoch für Boca zu teuer. So hieß der glückliche Erwerber Sevilla. Mit Maradona setzte ein Zuschauerboom ein. Der Mythos Maradona hatte an Zugkraft nichts eingebüßt. Glücklich wurde Diego in Sevilla jedoch nicht. Die Eskapaden häuften sich. Im Sommer 93 hatte Maradona sein Ziel erreicht. Er wurde entlassen und kehrte nach Argentinien zurück. Sein neuer Club hieß Newell’s Old Boys aus Rosario – bis zum 1. Februar. „Maradonas Vertrag mit unserem Klub ist beendet, weil Diego psychisch nicht in der Lage ist, mit Anstand und Würde in einer ihm gemäßen Art zu spielen.“ Mit diesen Worten beendete der Vereinspräsident die Zusammenarbeit mit dem enfant terrible. Die WM ist Maradonas neuer Fluchtpunkt. „Die Argentinier können beruhigt sein. Ich werde bei der WM dabei sein und in den USA wie um mein Leben spielen“ ließ er kurz nach seiner Entlassung verlauten. Wohin sein Weg oder seine Flucht danach führen wird, ist noch offen. Der Mythos lebt weiter. Nur so ist zu erklären, daß dem bald 34jährigen Maradona auch für die Zeit nach der WM schon wieder Angebote vorliegen. Darunter eins vom SSC Neapel.
Brasilien
Brasilien ist das einzige Land der Welt, das an allen 14 Weltmeisterschaften teilgenommen hat. Brasilien ist das einzige Land, das auf einem fremden Kontinent Weltmeister wurde (1958 in Schweden). Die glorreiche Zeit des dreifachen Weltmeisters liegt indessen weit zurück. Seit 24 Jahren kein Weltmeistertitel mehr. Dennoch gilt Brasilien immer noch als Inbegriff für Fußballkunst und Fußballzauber. Wenngleich auch die Kolumbianer inzwischen als „die letzten Brasilianer“ tituliert werden, gilt Brasilien wie immer als einer der Topfavoriten auf den Titel. Daran ändert auch die erstmals in einer Qualifikation erlittene Niederlage gegen Bolivien nichts. Gruppensieger wurden die Brasilianer trotzdem. Im letzten und entscheidenden Spiel gegen Uruguay berief der Nationaltrainer Parreira nach neunmonatiger Verbannung den Stürmerstar Romário wieder ins Aufgebot. Dieser bedankte sich mit zwei Toren. Unbestritten als Torjäger, ist er innerhalb der Mannschaft ob seiner Starallüren jedoch ständiger Unruheherd.
Heirat im Strafraum: Romário: „Training ist Kalorienverschwendung“
„Ich wollte schon seit frühester Jugend immer ganz vorne spielen und Tore schießen.“ Romário hat sein Vorhaben eindrucksvoll umgesetzt. Von 89 bis 91 wurde er dreimal in Folge holländischer Torschützenkönig. Auch in seiner ersten Saison beim FC Barcelona wurde er dieses Jahr souveräner Schützenkönig. In Europa zog er als Torschützenkönig bei den Olympischen Spielen 1988 erste Aufmerksamkeit auf sich. Sein darauffolgender Wechsel zum Philips-Sport-Verein (PSV) Eindhoven sorgte durch die ungewöhnliche Finanzierungsart für Schlagzeilen. Philips hatte von der brasilianischen Zentralbank mit einem Abschlag Schuldentitel in Höhe von 2,8 Millionen US-Dollar aufgekauft, der Verein Romários (Vasco da Gama) erhielt im Gegenzug von der Zentralbank Cruzados zum Tageswert von 3,91 Millionen US-Dollar (siehe LN 176). Zum ersten Mal wurde so ein Fußballspieler zum Zwecke staatlicher Schuldentilgung verwendet.
Der launische Strafraumkönig
Der Strafraum ist Romários Lebensfeld. Nicht nur, daß er seine Tore fast ausschließlich aus kurzer Distanz im selbigen erzielt, nein selbst geheiratet hat er in ihm. Zu seiner Trauung wurde eigens ein Altar auf dem Elfmeterpunkt eines Fußballplatzes aufgebaut. Launisch zeigt er sich auch bei der Wohnungssuche in Barcelona. Nach knapp einem Jahr wohnt er immer noch in einem Luxushotel, weil er sich für kein Appartement entscheiden kann. Mal hat’s keinen Meeresblick, mal ist’s zu klein, mal ist’s zu weit vom Trainingsplatz entfernt. Ansonsten mißt er dem Training eher weniger Bedeutung bei. Training sei „Kalorienverschwendung“ ließ er einmal verlauten. Dementsprechend häufig blieb er ihm fern. Tore schießen läßt sich nunmal nicht trainieren. „Ich glaube, daß ich mit diesem Talent auf die Welt gekommen bin“, äußerte er sich zu seinen Torjägerqualitäten. An Selbstvertrauen mangelt es Romário wirklich nicht. Dem brasilianischen Nationalheiligen Pelé unterstellte er kürzlich sogar in aller Öffentlichkeit „Schwachsinnigkeit“ und „Museumsreife“. Seinen Stürmerkollegen in der Nationalmannschaft, Muller, kritisierte er heftig und kündigte an, daß er nicht mit ihm zusammenspielen wolle. Pelé reagierte gelassen: „Manchmal sagt man in Europa eine Sache und sie wird in einer anderen Art und Weise in Südamerika berichtet“. Er bezeichnete sich sogar als Fan Romários und erwartet ihn als einen der Superstars bei der WM. Die Mitspieler des Torjägers reagierten gar nicht. Der Grund: Nationaltrainer Parreira verhängte einen „Maulkorberlaß“. Keiner darf sich in der Öffentlichkeit negativ über den Hoffnungsträger der Nation äußern. Vor neun Monaten noch hatte Romários Forderung nach einem Stammplatz zu seiner Verbannung geführt. Jetzt hält ganz Brasilien in der Hoffnung still, daß Romário Brasilien zum Weltmeistertitel schießt. Wehe Romário, wenn er nicht trifft.
Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes
„Er warf noch einen Blick in den Spiegel, in sein hageres, fast blutleeres Gesicht. Dann brach er auf, ohne Eile. War nicht der Nebel tiefer und dichter? […] Schließlich bog er ab und kam auf den Platz des schönen Todes. Geduldig wartete er, bis die Fußgänger sich zerstreut hatten und das Mysterium wieder auftrat. Er wußte genau, daß es eine überwältigende Stärke erlangen würde. Und so kam es auch.“ An diesem Abend noch gleitet José María de Alesio hinüber in das Reich des Todes. In der Hand „eine üppige, schöne Blume, in der später jemand eine Amazonasblume“ erkennt.
Edgardo Rivera Martínez erzählt in „Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes“ eine Geschichte vom Sterben. Melancholisch, poetisch, jedoch nicht traurig.
„Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes“, so heißt auch die jetzt im Verlag edition día erschienene Anthologie peruanischer ErzählerInnen. Sie wurde von Luis Fayad und Kurt Scharf für das Berliner Haus der Kulturen der Welt herausgegeben. Siebzehn AutorInnen haben ihre in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren entstandenen Geschichten hier veröffentlicht.
Die LeserInnen werden in Lima umhergeführt: von den Oberschichtsvierteln zu den Mittelstandsdiscos, von einem Café im Zentrum in eine Penthousewohnung, in die Vorstädte. Von der Grenze zu Ecuador nach Ayacucho, Arequipa und schließlich nach Europa. So unterschiedlich wie diese Orte, so vielseitig sind auch die Erzählungen selbst.
In „Ein harter Knochen“ von Cronwell Jara Jiménez geht es um die Ehre, um Rivalität zwischen Männern und um eine Frau. „Celodonio, du weinst wie ein Weib. Und du stirbst aus Todesangst. Du verdienst, in Weiberröcken zu sterben.“ Schlimmer kann eine Beleidigung nicht sein. Schon blitzt der Dolch. Der Junge, der diese Vorgänge erzählt, tut dies als scheinbar Unbeteiligter – selbst wenn er von seinen Tränen spricht. Jara Jiménez beschreibt die Welt der Indígenas ohne Schwarzweißmalerei und ohne Pathos.
Ehre und Rache stehen im Mittelpunkt der beiden Erzählungen „Die Kleider einer Dame“ von Alonso Cueto und „Hinter der Calle Toledo“ von Teresa Ruiz Rosas. Hier sind es jedoch die Frauen, die die Männer strafen – berechnend und ruhig. Das Aufbegehren gegen die Willkür und Überheblichkeit des anderen Geschlechts findet dabei seinen Ausdruck in Lima ebenso wie im kleinstädtischen Arequipa. Beide Male wählt die Frau die radikale Lösung, die in ihren Augen die einzige ist.
Auch in „Arachne“ von José Alberto Bravo de Rueda ist es eine Frau, die sich von ihrem Geliebten verraten fühlt und sich an ihm rächt. Wie in „Hinter der Calle Toledo“ spielt bei der Disharmonie der Partner auch der Konflikt zwischen städtischem und ländlichem Lebens eine Rolle.
Durch ihre expressive Sprache zeichnen sich die beiden sehr kurzen Erzählungen von Carmen Ollé und Miguel Barreda Delgado aus. Hier wird deutlich, wie sich Zusammenhänge in der Großstadt auflösen. In „Lince und der letzte Sommer“ reiht die Autorin Gedankenfetzen aneinander, setzt mit fast lyrischen Ausführungen an, um sich dann selbst ironisch zu unterbrechen: „Leider haben mich meine Freunde samt meiner Schwermut satt“.
„Ein Telefon ist für mich gefährlicher als ein Maschinengewehr; es tötet leise“ – Barreda Delgados Erzählung „Alle Welt liebt dich, wenn du tot bist“ drückt die Einsamkeit in der anonymen Großstadt aus, die hier schließlich in den Tod führt. Die Überlagerung von Erinnerung und Gegenwart prägt Julio Ramón Ribeyros Geschichte „Die Jakarandabäume“. Es gelingt ihm, der Stadt Ayacucho einen mystischen, ehrwürdigen, aber auch kleinbürgerlichen Charakter zu verleihen, obwohl die Stadt nur als Bühne für die Erinnerungswelt erscheint.
Träume und Phantasien lassen in „Der schwarze Pianist“ von Carlos Calderón Fajardo reale und irreale Welten ineinanderfließen. „Es war an einem Oktobertag im Jahre 1976, ich war ein einsamer Südamerikaner, der in einer Welt lebte, zu der er zwar gehörte, der er aber dennoch völlig fremd war.“ Schauplatz ist Europa, Belgien. Ein Student erzählt von den merkwürdigen Jobs, mit denen er sich über Wasser hält. Die zufällige Begegnung mit einem schwarzen Mitreisenden und ein Plakat beflügeln seine Vorstellung von einer geheimen Seelenverwandtschaft der Fremden. Den Herausgebern ist es gelungen, viele Facetten der aktuellen peruanischen Literatur zusammenzustellen und dabei auch AutorInnen zu berücksichtigen, die in Deutschland unbekannt sind. Ein besonderes Lob verdient auch das Vorwort, das, ohne schulmeisterlich zu sein, einen kurzen Überblick über die peruanische Literatur gibt. Natürlich bleibt dieser Überblick sehr oberflächlich, unterliegt dabei aber nicht der Gefahr, einfach nur flach zu wirken. Die Erzählungen sind jede für sich ein kleines Lesevergnügen (obwohl es natürlich „Lieblingsgeschichten“ gibt), alle zusammen sind besonders für diejenigen, die nicht mit der peruanischen Literatur vertraut sind, ein guter Einstieg.
„Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes. Erzählungen aus dem peruanischen Alltag“; hrsg. v. Luis Fayad und Kurt Scharf im Auftrag des Hauses der Kulturen der Welt, edition diá 1994, 191 Seiten; 34 Mark
Indígenas, Ölkonzerne und der Regenwald
Die Geschichte des Erdöls und ihrer Ölmultis
Ecuador gehört zu den erdölexportierenden Staaten und war von 1971 bis 1992 Mitglied der OPEC. Zwischen den Anden und der östlichen Landesgrenze zu Peru ist es zu finden, das schwarze Gold. Dieses Gebiet, genannt „Oriente“ oder „Amazonasregion“, war bis Anfang der 70er Jahre von der „Zivilisation“ verschont geblieben. Besiedelt vom Indígena-Volk der Huaorani (auch unter dem Namen Aucas bekannt) hatte der Regenwald und die dort lebenden seltenen Tiere nichts zu befürchten. Nach der Entdeckung des Erdöls in der Amazonasregion vergab die damalige Militärregierung die Konzessionen zur Ausbeutung vor allem an die US-amerikanische Gesellschaft Texaco. Straßen wurden gebaut, SiedlerInnen zogen nach, breitangelegte Rodungen begannen und somit die Natur und damit der Lebensraum der Indígenas zerstört. Texaco unterlag kaum einer Kontrolle und dementsprechend ist auch heute der Zustand des Gebietes. Texaco, City (eine Gesellschaft mit Sitz auf den Bahamas) und die staatliche PETROECUADOR sind die Hauptakteure im Ölgeschäft Ecuadors und auch die Hauptverantwortlichen der entstandenen Umweltschäden. 1992 lief die Ölförderkonzession von Texaco aus. Mittlerweile wird der Multi verklagt, und inzwischen fordern nicht nur Ökologie- und Indígenagruppen Schadensersatz, sondern auch die ecuadorianische Regierung.
Der Ölexport hat eine große Bedeutung für Ecuador. Er macht 60% der Exporterlöse aus und finanziert zu 48% den Staatshaushalt. In dem Amazonasgebiet operieren heute außer PETROECUADOR etwa ein Dutzend ausländischer Ölkonzerne. Die Umweltauflagen und Gesetze zum Schutz des Regenwaldes sind nicht ausreichend oder werden umgangen. 30% des ecuadorianischen Amazonasgebietes wurden schon zerstört. Naturreservate und Nationalparks werden nicht ausgenommen, die letzten Bioreservate Ecuadors werden geopfert. Ein kleiner Hoffnungsschimmer besteht allerdings: die Ölreserven Ecuadors im Amazonasgebiet werden im Jahre 2010 erschöpft sein.
MAXUS und der Yasuni-Nationalpark
MAXUS operiert schon seit 20 Jahren im Yasuni-Nationalpark. Der Ölmulti hat nicht nur die Förderrechte von CONOCO übernommen, sondern auch den „Plan ambiental de CONOCO para el Bloque 16 dentro del Parque nacional de Yasuni“ (Umweltrichtlinien für den Block 16 im Yasuni-Nationalpark). Das Vorlegen eines derartigen Planes ist für alle ausländischen Ölkonzerne zwingend vorgeschrieben. Nach einer Studie des Comité Ecológico-ESPOL ist der besagte Plan allerdings völlig unzureichend für den Schutz des Nationalparks, der von der UNESCO zur „Reserva Mundial de la Biosfera“ deklariert wurde.
Die von CONOCO begonnene Zubringerstraße (vgl. LN 235) wird von MAXUS weitergebaut und soll im Jahre 1998 beendet sein. Nach dem offiziellen Plan wird mit dem Bau der Straße eine Waldfläche von 1050 ha zerstört werden. Das entspricht etwa einem Sechstel des gesamten Nationalparks.
Der Ölmulti MAXUS operiert außer in seiner Heimat Dallas/Texas noch in weiteren zwölf Ländern. In der Vergangenheit benutzte er den Namen „Diamond Shamrock Corporation“ (Sitz: New Jersey) Nach Angaben der ecuadorianischen Zeitschrift „Infotrop“ produzierte die Firma zwischen 1951 und 1969 Herbizide und Entlaubungsmittel, die im Vietnamkrieg eingesetzt wurden. 1984 wurden er zu einer Schadensersatzzahlung an die sogenannten „Agent Orange“-Opfer von 23 Millionen Dollar verklagt. Nur fünf Jahre später „verdienten“ er allerdings bei der Reinigung und Entgiftung der Produktionsstätten 26 Millionen Dollar. Die Negativschlagzeilen in diesem Zusammenhang veranlaßten die Manager, eine Namensänderung vorzunehmen. Der Yaruni-Nationalpark wird bei dieser Firma, ob nun MAXUS oder „Diamond Shamrock Corporation“ keine großen Überlebenschancen haben.
Anmerkung: In den LN 235 gaben wir die Adresse von CONOCO an, wohin ihr Protestschreiben senden solltet. Da dieser Ölmulti aus dem Amazonasölgeschäft ausgestiegen ist, erledigt sich natürlich das diesbezügliche Protestschreiben. Protestschreiben daher bitte jetzt an:
MAXUS
717 N.- Harwoodstreet
75202 Dallas
USA
Kasten:
Indígenas wehren sich gegen Ölverseuchung
Auf dem Internationalen Kongreß zur Situation indigener Völker in Lateinamerika, der im Dezember 1993 in Berlin stattfand, berich¬tete Galo Villamil von der Verseuchung der Gewässer von 18 indiani¬schen Gemeinschaften. Die Gemeinschaften, die sich im Amazonasgebiet, in der Provinz Pastaza be¬finden, müssen nun Regenwasser sammeln, um nicht zu verdursten. Dort bohrt seit nunmehr einem Jahr die US-amerikanische Firma ARCO nach Öl. Mitglieder einer Indígena-Organisation von Pastaza namens OPIP besetzten nun dieses Erdölfeld, den Block 10 (siehe Schaubild). Ihnen war ein Gespräch mit der Firma ARCO zugesagt worden, um die sozialen und ökologischen Bedingungen der Ölförde¬rung abzuklären. Dieses Gespräch war jedoch in dem Moment abgesagt worden, als große Ölfunde gemacht wurden. Seit 1967 – als erstmals Öl im ecuadoreanischen Amazonasgebiet gefunden wurde – hat dort eine zunehmende Zerstörung um sich gegriffen. 1972 wurde eine 500 km lange Pipeline zu den Raffinerien an der Pazifikküste fertiggestellt. Durch sie floß bisher der Inhalt von eineinhalb Mil¬liarden Fässern Rohöl zum Pazifik. Mehr als die Hälfte des Staatshaushaltes wird durch die Einnah¬men aus dem Ölgeschäft bestritten. Die Folgen für die Umwelt sind immens: Zwischen 1972 und 1989 sind insgesamt 16,8 Millionen Gallonen Öl aus der Pipeline ausgetreten, d.h. die dreifache Menge des beim Exxon-Valdez-Unglück ins Nordmeer geflossenen Öls. Und die Erschließung neuer Ölfelder geht weiter. Gegenwärtig werden auf einer Fläche von 3 Millionen Hektar Probebohrungen vorge¬nommen. Des weiteren werden mit Probesprengungen lohnende Gebiete seismologisch ausfindig ge¬macht. Dafür hat mensch 1300 Hubschrauberlandeplätze im tropischen Regenwald angelegt.
Indígenas, Ölkonzerne und der Regenwald
Der US-amerikanische Ölkonzern CONOCO, in der Bundesrepublik durch die Tochterfirma „Jet“ bekannt, hat mit der Zerstörung des ecuadorianischen Regenwaldes begonnen. Im Osten des Landes, in der Provinz Napo, soll Erdöl gefördert werden, der Bau von Zubringerstraßen in dem bisher unerschlossenen Wald ist angelaufen. Damit wird das Gebiet der Huaorani-Indianer zerschnitten, die als die letzten Indianer Ecuadors ohne Kontakt zu den „Weißen“ gelten. Die begonnene Straße wird 175 Kilometer durch den Yasuni-Nationalpark führen, der eigentlich eine Fläche von 679.730 Hektar Regenwald schützen soll und in dem noch seltene Tiere wie das Ozelot und der Urvogel Hoazin leben.
Texaco vor Gericht?
Einen Einfluß auf die weiteren Bauvorhaben in dem Regenwaldgebiet könnte eine Klage haben, die verschiedene indigene Gruppen gegen die US-Ölkompanie Texaco anstrengen. Der Ölfirma wird vorgeworfen, während ihrer mehr als 20jährigen Tätigkeit in dem unter dem Namen Oriente bekannten Gebiet die Umwelt in unverantwortlicher Weise verschmutzt zu haben. Die aus dem ecuadorianischen Amazonasgebiet kommenden Gruppen klagen 1,5 Milliarden US-Dollar als Wiedergutmachung für die entstandenen Schäden ein. Ihre Begründung: Texaco habe in Ecuador minderwertige Technologie eingesetzt. Hochgiftige Abfallstoffe wurden einfach in die Wasserläufe der Flüsse gepumpt oder es wurden Müllhalden angelegt, wo die toxischen Abfälle lagerten. Die Gesundheit der in dem Gebiet lebenden Menschen wurde damit auf das Fahrlässigste gefährdet.
Verschiedene Studien von Umweltorganisationen und indigenen Organisationen belegen die Anklagen. So erarbeitete zum Beispiel die Forscherin Judith Kimerling in Zusammenarbeit mit der indigenen Organisation FCUNAE (Federación de Nacionalidades Indígenas de la Amazonia Ecuadoriana) einen detaillierten Report über die Aktivitäten von Ölgesellschaften im Jahre 1990. Danach ist die Gesundheit der Bevölkerung durch giftige Abfälle – speziell verursacht durch Texaco – stark beeinträchtigt. Das vermehrte Auftreten von Hautkrankheiten, Atemwegsbeschwerden, Krebs und sogar Mißgeburten bei der Bevölkerung sind die Folge der Vergiftung durch die Ölgesellschaft.
Anfang November machten sich VertreterInnen indigener Gruppen nach New York auf, um gegen den Ölmulti Texaco vor Gericht zu gehen. Es wird damit gerechnet, daß es ungefähr sechs Monate dauern wird, bis die US-Gerichtsbarkeit entscheidet, ob die Klage zulässig ist oder nicht.
Protestschreiben in Hinblick auf die oben genannten Umweltzerstörungen durch CONOCO bitte zahlreich an die folgende Adresse senden:
CONOCO
Überseering 27
22297 Hamburg 60
Kreative Unruhe inmitten des ökonomischen Desasters
Es ist eine seltsame Sturmnacht. Wind und Regen peitschen von der Karibik her gegen das kolumbianische Festland. Krebse krabbeln aus der Gischt und retten sich an Land. Ein Baby wird unruhig. In Windeseile bedeckt das glitschige Getier den Boden der Strohhütte. Das Baby schreit. Draußen hat das Unwetter ein anderes verstörtes Wesen an den Bootssteg gespült: „Un señor muy viejo con unas alas enormes“ – einen sehr alten Herrn mit enormen Flügeln. Ein Geschenk des Himmels?
Fernando Birri, Kuba, 1989
Wie jeden Tag sitzt sie in der Küche und weint beim Zwiebelschneiden, als sie spürt, daß es soweit ist: Der gewölbte Unterleib krampft sich zusammen, die Fruchtblase platzt, und ein Meer von Tränen ergißt sich über die Holzdielen, schwappt bis zur Türschwelle. Das Mädchen, das in diesem Moment das Licht der Küchenfunzel erblickt, wird den Großteil seines Lebens in diesem Raum verbringen und als Köchin kleine Wunder vollbringen. Tief im Inneren wird sie sich nach den samtigen Schlafzimmeraugen ihres Geliebten und späteren Schwagers verzehren. Sie gehören zueinander „como agua para chocolate“ – wie das Wasser und die Schokolade, die sie ihm täglich in emsiger Fürsorge zubereitet…
Alfonso Arau, Mexiko, 1992
Mexikanische Knäste sind nicht besonders angenehm, dieser ist keine Ausnahme: Die Mittagshitze brennt aufs Wellblechdach, apathisch hängt die Wärterin hinterm Schreibtisch und zählt Schmiergeld. Auch der einzige Insasse langweilt sich – und sinnt auf Rache: Er weiß, wessen Verrat er diesen Aufenthalt verdankt. Da ist das Schlagen einer Autotür zu hören. Breitbeinig, die Knarre im Anschlag, betreten sie die Baracke. Damit der Chef die neue Freiheit auch genießen kann, haben sie ihm gleich was mitgebracht: einen schwarzen Gitarrenkoffer – drinnen eine kleine Waffensammlung. Der Weg ist frei für die Revanche – wenn da nicht ein unschuldiger „Mariachi“-Sänger mit einem ähnlichen Koffer wäre…
Roberto Rodriguez, Mexiko, 1992
Von einem Tag auf den anderen beschließt er, das wenige zu verkaufen, was er sich in all‘ den Jahren als Sargtischler erarbeitet hat. In La Paz begreift niemand, warum er zurück will in sein Aymara-Dorf. Vor Jahren hatte ihn die Gemeinschaft verstoßen: Er hatte Geld unterschlagen. Eine rituelle Tanzmaske auf den Rücken geschnallt, macht er sich zu Fuß auf den Weg, um dort zu sterben, wo er hingehört: zur „nación clandestina“ – der geheimen Nation.
Jorge Sanjinés, Bolivien, 1991
Bloß raus aus dem feuerländischen Winter, weg vom spießigen Stiefvater, der resignierten Mutter, den Schikanen in der Schule und der verwickelten Liebesaffäre. – Wohin? Mal sehen: erst mal mit dem Rad durch Patagonien, dann weiter nach Norden… Quer durch den unbekannten lateinamerikanischen Kontinent, auf den Spuren des Vaters, der vor Jahren das Weite suchte: „El viaje“ – die Reise – vielleicht ist der Weg schon das Ziel?
Fernando Solanas, Argentinien, 1992
Eingangsquenzen von fünf lateinamerikanischen Filmen, die in den letzten Jahren entstanden: Ein Panoptikum unterschiedlicher Geschichten und Bildsprachen. Nicht alle haben eine klare „mensaje“, eine politische Botschaft. Im Gegenteil: „El Mariachi“ und „Como agua para chocolate“ stehen eher in der Tradition populärer Unterhaltungsgenres, treiben sie auf die Spitze, lavieren zwischen parodistischer Brillianz und schnöder Trivialität hin und her.
Ganz anders dagegen Filme wie „La nación clandestina“ und „El viaje“. Auf sehr unterschiedliche Art und Weise befassen sie sich mit der Suche nach einer persönlichen und kollektiven Identität: „La nación clandestina“ des Bolivianers Sanjinés hält sich als künstlerisches Werk zurück. Der Film, der mit Aymara-Indígenas in ihrer Sprache gedreht wurde, paßt sich in Tempo und Schnittfolge der Lebensphilosophie dieses Volkes an. Ganz anders dagegen der abenteuerliche Trip von Solanas Protagonisten, einem Jungen aus dem weißen Mittelstand: „El viaje“ ist vom ständigen Wechsel der Verkehrsmittel, der Umgebung, der Eindrücke geprägt: Ein surreal-dekadentes Argentinien, von Wassermassen überschwemmt und in seiner eigenen Scheiße erstickend. Ein postkartenschönes Machu Picchu, das inmitten des touristischen Rummels Ahnungen von der präkolumbianischen Vergangenheit aufsteigen läßt. Ein von grotesken Gegensätzen zerrissenes Brasilien, in dem es futuristische High-Tech-Metropolen gibt, während gleichzeitig im Amazonasgebiet Minenarbeiter sich zu Tode schuften müssen wie schon zu den Zeiten der Conquista. – Zwei Filme, der eine von stoischer äußerer Ruhe und Verschlossenheit, der andere opulent, teilweise überladen mit Eindrücken und Metaphern – Porträts der widersprüchlichen Gesichter eines Kontinents.
Filme zur Conquista: Jubiläumsspektakel oder kultureller Dialog?
Pünktlich zum Jahr 1992 entstanden auch einige Filme, die sich direkt mit der Geschichte der Eroberung Amerikas auseinandersetzen: Im Gegensatz zu den US-amerikanischen Mammutschinken „1492“ und „Columbus“, die sich auf die Heldengestalt des „Entdeckers“ bezogen, erzählen „Jericó“ (Luis Alberto Lamata, Venezuela, 1991) und „Cabeza de vaca“ (Nicolás Echevarría, Mexiko, 1991) andere Versionen vom „Aufeinandertreffen zweier Welten“, die ebenfalls auf historische Quellen zurückgehen: In beiden Fällen sind die Protagonisten spanische
Conquistadoren, die von ihrer Armee getrennt werden, nach und nach immer mehr vom alten Ich abstreifen, in die fremde Umgebung und Kultur eintauchen – bis sie gegen ihren Willen von den Spaniern „gerettet“ und in die „Alte Welt“ zurückgeholt werden.
Das Paradoxe ist, daß die meisten dieser „500 Jahre“-Filme nur mit Hilfe von Geldern aus Europa realisiert werden konnten. Besonders der staatliche spanische Fernsehsender TVE ließ sich das historische Gedenken schon einiges kosten und trat als Koproduzent bei der Finanzierung einiger Filme auf – unter anderem bei „La nación clandestina“ von Sanjinés und „Un señor muy viejo con unas alas enormes“, den Fernando Birri nach einer Kurzgeschichte von Gabriel García Márquez verfilmte.
Allgemein konnte im letzten Jahr durchaus der Eindruck enstehen, als ob die europäische Medienöffentlichkeit ganz wild darauf sei, die koloniale Vergangenheit durch eine hohe Durchlaufzahl von lateinamerikanischen Filmproduktionen aufzuarbeiten. Sowohl auf den Leinwänden der Filmfestivals als auch in der ersten Reihe bei ARD und ZDF waren so viele amazonische Ureinwohner und großstädtische Straßenkinder zu sehen wie nie zuvor. Jetzt, wo der Jahrestag der Betroffenheit abgefeiert worden ist, scheinen sich die Bedürfnisse des Marktes und das Angebot in den Massenmedien erst mal wieder in andere Weltregionen verlagert zu haben.
Zwischen „Ästhetik des Hungers“ und Happy End für „Juliana“
Und wie sieht es in Lateinamerika selbst aus? Mehr als 30 Jahre sind seit der Entstehung des Neuen Lateinamerikanischen Films vergangen. Beeinflußt von der kubanischen Revolution und linken Bewegungen anderswo auf dem Kontinent, versuchten in verschiedenen Ländern FilmemacherInnen, neue Wege zu gehen. Stilistisch waren sie unter anderem vom italienischen Neorealismus oder vom Surrealismus Luis Buñuels beeinflußt, der damals im mexikanischen Exil lebte. Das Kino sollte keine illusionistische Traumfabrik sein, sondern Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse und gleichzeitig Motor politischer Veränderungen. Entsprechend programmatisch waren die Namen: „Cine Imperfecto“, „Cine de Liberación“, „Ästhetik des Hungers“. Regisseure wie Fernando Solanas und Octavio Getino (Argentinien) propagierten ein „Drittes Kino“ in Abgrenzung sowohl von der kommerziellen Filmindustrie als auch vom individualistischen Autorenkino.
Ziel war die „Entkolonialisierung der Köpfe“ – Film als politisches und pädagogisches Instrument: Entsprechend groß war auch die Bedeutung, die dem Kino in Kuba und auch im sandinistischen Nicaragua beigemessen wurde. Einige dieser Filme beeindrucken nicht nur durch die „Botschaft“, sondern auch durch die expressive Bildsprache: Zum Beispiel „Lucía“ von Humberto Solás (Kuba, 1968), der die Geschichte Kubas anhand dreier Frauen aus unterschiedlichen Epochen dieses Jahrhunderts zeigt. Andere Filme arbeiteten dagegen vorwiegend mit dem didaktischen Zeigefinger: Die Charakterisierung der Personen wurde dem vereinfachenden Pinselstrich des „sozialistischen Realismus“ untergeordnet.
Einige RegisseurInnen oder Filmkollektive versuchten, nicht nur die Inhalte zu „revolutionieren“, sondern auch die Entstehung eines Films zu einem Gemeinschaftsprojekt zu machen: In den achtziger Jahren arbeitete Grupo Chaski in Peru fast ausschließlich mit LaiendarstellerInnen, die aus ähnlichen Lebensverhältnissen stammten wie die Personen des Films. Ihre Erfahrungen sollten in die Handlung einfließen. Dieser Anspruch wurde allerdings nur begrenzt realisiert – unter anderem, da es nicht gelang, mit gruppeninternen Hierarchie- und Machismo-Konflikten fertigzuwerden. Bei den Filmen von Grupo Chaski flossen Realität und Fiktion ineinander. Und auch Wunschträume hatten ihren Platz, beispielsweise bei dem Film über das Straßenmädchen „Juliana“ (Peru 1989), der auf Wunsch der Kinder, die mitspielten, ein Happy End bekam. – Dies löste übrigens bei der Präsentation des Films in Europa bei vielen BetrachterInnen Befremden aus, wurde angesichts der Situation in Peru als unpolitisch und naiv angesehen…
Vor dreißig Jahren: Aufbruch trotz wirtschaftlicher und politischer Zwangsjacken
Das Neue Lateinamerikanische Kino sah sich natürlich von Anfang an mit großen ökonomischen Problemen konfrontiert. Nur in wenigen Ländern, wie etwa Argentinien, Brasilien und Mexiko, gab es eine funktionierende Infrastruktur im Filmbereich, die in erster Linie der Herstellung kommerzieller Unterhaltungsspektakel diente. In den siebziger Jahren begannen Länder wie Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Peru und Venezuela, Gesetze zur Förderung der nationalen Filmindustrie zu verabschieden. So schreibt beispielsweise seit 1972 ein Gesetz in Peru vor, daß in den Kinos vor jedem ausländischen Spielfilm ein peruanischer Kurzfilm gezeigt werden muß und ein Teil der Kinoeinnahmen seinen ProduzentInnen zufließt. Dies führte immerhin dazu, daß zwischen 1972 und 1990 mehr als 800 Kurzfilme entstanden.
Während der Zeit der Militärdiktaturen in Argentinien, Chile, Bolivien und anderen Ländern waren viele FilmemacherInnen gezwungen, ins Exil zu gehen. Erst die Rückkehr der Länder zur formalen Demokratie brachte wieder Impulse für den Film, der zum Sprachrohr der progressiven Bewegungen wurde: In Argentinien entstanden ab Mitte der achtziger Jahre eine Reihe von Werken, die sich mit der Zeit der Diktatur auseinandersetzten, so etwa „La historia oficial“ von Luis Puenzo („Die offizielle Geschichte“, 1985), „La noche de los lápices“ („Die Nacht der Bleistifte“ 1986) von Héctor Oliveira und „Sur“ (Süden, 1987) von Fernando Solanas.
Ökonomische Krise und Videoboom: schlechte Zeiten fürs Kino
Die neunziger Jahre sind für das lateinamerikanische Kino nicht gerade die Zeit der großen Hoffnungen, und das hat in erster Linie ökonomische Ursachen: Die in den meisten Ländern ohnehin nicht sehr stabile Filmindustrie leidet zum einen unter der immer größeren Konkurrenz durch Fernsehen und Video. Die ökonomische Krise der letzten Jahre und vor allem die neoliberale Wirtschaftspolitik haben gleichzeitig die Kaufkraft so weit geschwächt, daß ein Kinobesuch auch für Leute aus der Mittelschicht zum Luxus geworden ist.
Als Konsequenz des Publikumsschwundes mußten in den vergangenen sechs Jahren mehr als die Hälfte der Kinosäle in Lateinamerika schließen. Die übrig gebliebenen Lichtspielhäuser setzen vorwiegend auf US-amerikanische Massenware. Oft werden sie auch von den Verleihfirmen dazu verpflichtet, mehrere Streifen en bloc einzukaufen, was es schwer macht, unabhängig produzierte in- oder ausländische Filme ins Programm zu nehmen.
Anders als in der Fernsehindustrie gibt es im Filmbereich kaum Strukturen für den Vertrieb und Austausch lateinamerikanischer Produktionen. Mit paradoxen Folgen: Die Wahrscheinlichkeit, einen kolumbianischen Film in einem Programmkino in Köln oder einem Dritte Welt Zentrum in Münster zu sehen, ist weitaus größer als die Möglichkeit, das Werk im Nachbarland Ecuador zu Gesicht zu bekommen. Das gilt auch für viele Filme, die internationale Preise erhalten haben.
Insbesondere die brasilianische Filmindustrie wurde von den Privatisierungen unter Collor de Mello stark getroffen. Dieser löste nach seinem Amtsantritt die staatliche Filmförderungsbehörde Embrafilm auf und schaffte das Gesetz ab, das den brasilianischen Filmen eine Abspielmöglichkeit garantierte. – Mit dem Ergebnis, daß das Land, das zeitweise bis zu 90 Filme pro Jahr produzierte, seit Anfang der neunziger Jahre nur noch durchschnittlich 3 Filme herstellt. Die Programmlücken, die so im Kinoangebot entstanden, wurden rasch mit US-Produktionen gefüllt.
Lediglich Mexiko gelingt es nach wie vor, seine – größtenteils recht kommerziell orientierte – Filmproduktion relativ stabil zu halten. Dies liegt zum einen an der vergleichsweise sicheren politischen und ökonomischen Situation des Landes. Wichtig für die künstlerische Filmproduktion sind die Aktivitäten des staatlichen „Instituto Mexicano de Cinematografía“ (IMCINE), das unter anderem gezielt junge FilmemacherInnen fördert. Einige Filme wurden sogar kommerzielle Erfolge im Ausland, zum Beispiel „Como agua para chocolate“: In den USA wurde das Küchendrama überraschend zum Kassenschlager und spielte allein in den ersten 16 Wochen 8,5 Millionen Dollar ein.
Und wie steht es mit Kuba? In den drei Jahrzehnten nach der Revolution entstand auf der Insel unter Federführung des nationalen Filminstitutes ICAIC eine Filmindustrie, die zwischen 1984 und 1990 ungefähr 10 Spielfilme pro Jahr sowie zahlreiche Kurz- und Dokumentarfilme produzierte. Entscheidend ist allerdings nicht die Anzahl der Filme, sondern die politischen Impulse, die vom kubanischen Film ausgingen, sowie die Infrastruktur, die der kubanische Staat aufbaute und auch Filmschaffenden anderer Länder zur Verfügung stellte.
So wurde 1986 auf Kuba die „Filmschule der drei Welten“ gegründet – ein weltweit einmaliges Projekt, das jungen Leuten aus Lateinamerika, Asien und Afrika die Möglichkeit bietet, gemeinsam zu studieren und sich auszutauschen. Das Internationale Filmfestival von Havanna, das seit 1980 jährlich stattfindet, entwickelte sich schnell zum wichtigsten Forum des lateinamerikanischen Films.
Die ökonomische Krise, unter der Kuba seit dem Zusammenbruch der Länder des Warschauer Paktes leidet, hat natürlich auch Auswirkungen auf die Filmindustrie: So konnten im vergangenen Jahr nur zwei Spielfilme fertiggestellt werden. Folglich fand das Filmfestival in Havanna in den letzten beiden Jahren in einer Atmosphäre der Widersprüche statt: Inmitten des immer größer werdenden Mangels gelang den OrganisatorInnen zwar das Kunststück, einen reibungslosen Ablauf des Festivals zu organisieren. Gleichzeitig sorgte 1992 die de-facto-Zensur des kubanischen Films „Alicia en el pueblo de las maravillas“ („Alice im Wunderland“), einer systemkritischen Satire von Daniel Díaz Torres, für einen Skandal.
Lateinamerikanische Filmkooperation – erste zaghafte Schritte
Was ist aus der kontinentalen Vision der Väter – und wenigen Mütter – des Neuen Lateinamerikanischen Films geworden, die sich 1967 im chilenischen Badeort Viña del Mar zum ersten lateinamerikaweiten Treffen versammelten?
1986 wurde von Filmschaffenden aus verschiedenen Ländern die „Fundación del Nuevo Cine Latinoamericano“ („Stiftung des neuen lateinamerikanischen Kinos“) ins Leben gerufen, die sich zum Ziel gesetzt hat, „die nationalen und kulturellen Werte Lateinamerikas wiederzubeleben“ und die bereits bestehenden Bewegungen auf kontinentaler Ebene zu verknüpfen. Auf Initiative der Stiftung, die ihren Sitz in Havanna hat, wurde beispielsweise 1989 die „Conferencia Iberoamericana de Autoridades Cinematográficas“ CACI („Iberoamerikanische Konferenz der Filmbehörden“) gegründet. Ziel ist, die Zusammenarbeit staatlicher Institutionen und der Filmindustrien auf dem Kontinent zu verbessern und verstärkt Koproduktionen herzustellen. Mittlerweile haben 13 Länder eine „Ibero-amerikanische Film-Vereinbarung“ unterzeichnet, die unter anderem die Einrichtung einer jährlichen internationalen Filmkonferenz vorsieht. Auch soll ein Exekutivorgan geschaffen werden, das die gesetzliche und praktische Umsetzung der Vereinbarung in den verschiedenen Ländern überprüft. – Ein gemeinsamer lateinamerikanischer Filmmarkt – die Patentlösung gegen die erdrückende Dominanz der US-amerikanischen Medienindustrie? Gabriel García Márquez, einer der Gründer der „Stiftung des neuen lateinamerikanischen Films“, betont, das Ziel sei nicht, die US-Konzerne aus dem Geschäft zu drängen, sondern lateinamerikanischen Filmen die gleichen Vertriebs- und Präsentationschancen zu verschaffen.
Der lateinamerikanische Film, ein schillernder Vogel, zur Zeit ziemlich gerupft, versucht, ökonomisch fliegen zu lernen. Ein schweres Unterfangen in einer Zeit, in der die wirtschaftliche Krise eine solch beklemmende Schwerkraft entwickelt wie in den neunziger Jahren.
Von der Sünde, ein Volk zu sein
Die ursprüngliche Fassung des Projekts, die Vorstellungen indigener Gemeinschaften und ihrer VertreterInnen enthielt, sollte der Gleichgültigkeit ein Ende setzen, mit der traditionell den ersten BewohnerInnen des Landes begegnet wurde. Mapuches, Aymaras, Rapa, Nui, Atacamenas, Collas, Kawshkar und Yamana stellen heute ein Zehntel der chilenischen Bevölkerung und leben meistens in extremer Armut. Die Vorstellungen der 998.000 Indigenas, in der Mehrzahl Mapuches, die zunächst zur Mitarbeit eingeladen worden waren, wurden schließlich im Zuge der Beratungen in beiden Kammern des Parlaments nicht berücksichtigt.
Zwei Jahre dauerte es, ehe die Deputiertenkammer und der Senat die Ley Indígena verabschiedeten, die der ursprünglichen Fassung der Gesetzesinitiative jedoch in entscheidenden Punkten nicht mehr entsprach. Auch wenn sich die PolitikerInnen aller Fraktionen damit brüsten, einen Konsens erreicht zu haben, kann das nicht darüber hinwegtäuschen, daß nach wie vor die von Indígenas geforderte Anerkennung als eigenständige Völker verweigert wird.
Röntgenbild der Tauben
1990 kehrte Chile zur formalen Demokratie zurück. Der frisch gewählte Präsident, der Christdemokrat Patricio Aylwin, berief die „Sonderkommission indigener Völker“ (Cepi), zu deren offiziellen Zielen es gehörte, den lange mißachteten Rechten indigener Völker Geltung zu verschaffen. Die Cepi stützte sich dabei auf ein Übereinkommen, das die spätere Regierungskoalition der „Parteien für die Demokratie“ im Zuge ihres Wahlkampfes mit Indígena-Organisationen getroffen hatte. Die Concertación versprach damals „die verfassungsmäßige Anerkennung indigener Völker samt ihrer ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte“.
In Zusammenarbeit mit verschiedenen Interessenvertretungen von Indígenas bereitete die Cepi einen Entwurf für die neue Ley Indígena vor. Die VertreterInnen der verschiedenen Völker sowie BeraterInnen der Regierung behandelten Themen wie die Anerkennung einer eigenen Identität, die Landfrage, Wasserrechte und den Zugang zu einer Erziehung, die Kultur und Sprache der Indígenas fördert. Außerdem sollte es ermöglicht werden, Konflikte auf der Grundlage indigenen Gewohnheitsrechtes beizulegen. „Die schweren Versäumnisse der bisherigen Gesetzgebung sollten beseitigt werden. Es ging nicht nur darum, sich lediglich auf dem Papier gegen Rassismus zu wenden, sondern auch darum, die Geschichte dieses Landes zu bewältigen, die in höchstem Maße durch Intoleranz gegenüber den Existenzrechten indigener Völker geprägt war“, erklärt José Bengoa, der Direktor der Cepi. Seiner Meinung nach war der Gesetzentwurf, der im Oktober 1991 dem Parlament vorgelegt worden war, durch den Willen gekennzeichnet, den indigenen Völkern das Recht zuzugestehen, den Entwicklungsweg zu wählen, der in ihren eigenen Traditionen und Vorstellungen wurzelt. Ausgehend vom Prinzip der „positiven Diskriminierung“ sollte die neue Gesetzgebung der ungerechten juristischen Praxis ein Ende bereiten, die Indígenas stets nur im Zusammenhang mit Besitzrechten auf Ländereien betrachtet hat.
Von der Sünde, ein Volk zu sein
Aylwin beabsichtigte, gemeinsam mit der Ley Indígena die Verfassung von 1980 zu verändern, die die Gleichheit aller ChilenInnen vor dem Gesetz festlegte. Hinter diesem Rechtsgrundsatz der von der Militärdiktatur hinterlassenen Verfassung verbirgt sich in Bezug auf indigene Völker das Prinzip: „Wir alle sind Chilenen“. Dieses dogmatische Gebot als wichtigster Baustein juristischer Interpretation verhindert die Anerkennung der Existenz indigener Völker in der chilenischen Verfassung.
In der ursprünglichen Version der Ley Indígena hieß es: „Der Staat wird sich für den juristischen Schutz und die Entwicklung der indigenen Völker einsetzen, die Bestandteile der chilenischen Nation sind“. Für Ricardo Navarrete von der Radikalen Partei, die dem Regierungsblock angehört, ist es unverzichtbar, „die Existenz indigener Völker ausdrücklich anzuerkennen, weil es sich bei ihnen um einen Bestandteil der Bevölkerung mit einem eigenen kulturellen Wert handelt“. Doch gerade der Begriff „Volk“ war es, der die erste Fassung des Gesetzes scheitern ließ. Die politische Rechte lehnte diesen Begriff mit der Begründung ab, er gefährde die innere Sicherheit des Staates und verletze das Prinzip der einheitlichen chilenischen Identität. Sergio Diez, der Senator der rechten „Nationalen Erneuerung“, erklärte: „Ich bin ein entschiedener Anhänger der Integration aller Wurzeln des chilenischen Volkes in das chilenische Volk. Ich glaube, daß wir uns alle als Chilenen fühlen und uns in die nationale Gemeinschaft eingliedern wollen. Der Begriff ‚Volk’würde hingegen einer separatistischen Tendenz Vorschub leisten, die einer Politik zuwider läuft, die auf die harmonische Integration dieser Gruppen abzielt.“
Der politische Diskurs weckte in dramatischer Weise Erinnerungen an den Jahrhunderte währenden Versuch, „das Indigene auszumerzen“, die Indígenas koste es was es wolle zu assimilieren, einer in kultureller Hinsicht homogenen Gesellschaft zuzustreben. Statt im neuen Indígena-Gesetz von Völkern zu reden, wurde der unverfängliche Begriff „Gemeinschaft“ oder „Ethnie“ gewählt. Die Concertación mußte schließlich eingestehen, „daß die verfassungsgemäße Anerkennung der Existenz indigener Völker noch solange ausstehen wird, bis innerhalb der chilenischen Gesellschaft und ihrer politischen Klasse ein größeres Maß an Verständnis existiert“.
Unter den Indígenas, die sich an der Ausarbeitung des ursprünglichen Gesetzentwurfes beteiligt hatten, breiteten sich Mißtrauen und Enttäuschung aus. Cesar London von der Organisation „Xawun Ruca“ stellte fest, „daß das Gesetzesverfahren von Anfang an von der politischen Macht bestimmt wurde, an der wir Mapuches nicht teilhaben“. Der Ratgeber der Cepi und Vertreter von Ad Mapu, José Santos Millao, fällte ein vernichtendes Urteil über das neue Gesetz: „Ohne die verfassungsmäßige Anerkennung als Volk samt Territorium wird uns auch das Recht auf politische Teilnahme verwehrt. Wir haben nicht mehr als ein Anhörungsrecht.“
Der fehlende politische Wille der ParlamentarierInnen hat die Ley Indígena zu einem Gesetzwerk gemacht, das weit hinter den Standards internationaler Rechtsprechung zurückbleibt. Viele lateinamerikanische Staaten verfügen über Verfassungen, in denen sich die Gesellschaften wenigstens auf dem Papier als pluriethnisch und -kulturell bezeichnen. In Panamá existiert dieser Verfassungsgrundsatz seit vierzig Jahren, und auch in Kolumbien, Brasilien, Nicaragua, Ecuador und Peru wird das Konzept unterschiedlicher Nationen in einem Staat akzeptiert. Der Druck internationaler Standards scheint die chilenische Politik nicht sonderlich zu beeindrucken. Noch während des Wahlkampfes versprach die Concertación, der „Konvention 169 über indigene Völker und Stämme in unabhängigen Staaten“ der Internationalen Arbeitsorganisation beizutreten. In dieser Konvention wird „die Notwendigkeit anerkannt, den Schutz indigener Völker zu gewährleisten und ihren eigenständigen Charakter anzuerkennen“. Das zitierte Dokument stellt den fortschrittlichsten internationalen Vertrag in Bezug auf indigene Völker dar, weil es die traditionelle ethnozentrische, auf Assimilation gerichtete Perspektive überwindet und moderne Sichtweisen von Menschenrechten umsetzt. Noch immer wurde dieses Vertragswerk vom chilenischen Parlament nicht ratifiziert. Seit 1991 liegt die Ratifizierung auf Eis, enthält die Konvention doch dasselbe Konzept von indigenen Völkern, das jüngst die Nueva Ley Indígena zum Scheitern brachte.
Die wichtigsten Punkte der Ley Indígena
Offiziell trägt das neue Gesetz den Titel „Gesetz zum Schutz, zur Förderung und zur Entwicklung der Indigenas“ und fügt sich in das Konzept „Ethnoentwicklung“ ein, das auf den Möglichkeiten indigener Kultur aufbaut. Ein zentraler Gesichtspunkt des Gesetzes behandelt die Landfrage. Die Eigentumsrechte auf im Augenblick von Indígena-Gemeinschaften genutztem Land sollen abgesichert werden. Mit dem Verbot, Indígena-Land an Privatpersonen zu verkaufen, soll verhindert werden, daß diese Territorien über den Immobilienmarkt auf legale Art und Weise enteignet werden.
Der „Fonds für Land und Wasser“ soll dazu dienen „Indígena-Ländereien“ zu schützen, für deren angemessene Nutzung zu sorgen, ein ökologisches Gleichgewicht zu gewährleisten und auf die Ausweitung von Indígena-Eigentum hinzuwirken“. Mit Hilfe staatlicher Unterstützung sollen die Indígenas die Schwierigkeiten des Minifundismus überwinden. Außerdem soll der Fonds dazu dienen, die Bodenqualität zu verbessern und Probleme der Bewässerung zu lösen. Die gesamte Indígena-Politik wird von der Nationalen Vereinigung Indigener Entwicklung (CONADI) koordiniert, die neben ihrer Zentrale in Araucania Zweigstellen überall im Land haben soll.
Darüber hinaus soll es unter Strafe gestellt werden, Indígenas aufgrund ihrer Herkunft und ihrer Kultur zu beleidigen. Die Meldebehörden werden angewiesen, in den Geburtsregistern jene Namen festzuhalten, die Indígena-Eltern angeben. Dieser etwas grotesk anmutende Artikel soll der Politik der „Chilenisierung“ vorbeugen, die vielfach von Verwaltungsbeamten betrieben wird.
In Regionen mit hohem indigenen Bevölkerungsanteil sollen zweisprachige Schulen eingerichtet werden. Forderungen nach politischen Mitbestimmungsrechten wurden von der Rechten als angeblich verfassungwidrig abgelehnt. Immerhin stehe der Zugang zu politischen Ämtern allen ChilenInnen offen, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft. Andererseits wurde ein Artikel angenommen, der besagt, „Indígenas sollen an der lokalen und regionalen Verwaltung beteiligt werden“.
Kritik der Mapuches an der neuen Gesetzgebung
Die Mapuche-Organisationen, die in der Cepi mitarbeiten, stimmen in der Einschätzung überein, daß die Landfrage nur unzureichend geklärt wurde. Dagoberto Cachána von Ad Mapu kritisiert, „daß das Gesetz uns nicht die Eigentumsrechte der Ländereien zubilligt, die uns auf der Grundlage damaliger Rechtssprechung weggenommen wurden. Darum wird das neue Gesetz für uns ebenso schädlich sein wie das alte.“
Im Hinblick auf den Schutz von Indígena-Territorien weist die neue Ley Indígena eine entscheidende Lücke auf. Nach ziviler Rechtssprechung existiert nach wie vor die Möglichkeit, Land für längstens neunundneunzig Jahre zu verpachten, was de facto einer völlig legalen Enteignung entsprechen würde. Der Erfolg dieses Gesetzes wird zudem entscheidend davon abhängen, mit welchen finanziellen Mitteln die Regierung bereit ist, für dessen Umsetzung zu sorgen. Nachdem das Finanzministerium für die Ausstattung des „Fonds für Land und Wasser“ lediglich eine Zusage von 500.000 US-Dollar gemacht hat, muß an dieser Bereitschaft gezweifelt werden. Selbst die staatliche Behörde Cepi stellt in Frage, ob der Fonds für die Umsetzung der ehrgeizigen Zielsetzungen des Gesetzes ausreichen wird.
Die Indígena-Politik unter der Militärdiktatur
Jahrhundertelang wurden die Territorien der Indígenas unter dem Vorwand kolonialisiert, es existierten keine juristisch abgesicherten Besitztitel. Erst 1972 wurde unter Salvador Allende ein Gesetz erlassen, das Indígenas als eigenständige menschliche Wesen akzeptierte und nicht nur als Teil der von ihnen besessenen Ländereien. Dieser Fortschritt wurde mit dem Militärputsch von 1973 zunichte gemacht. Den Prinzipien des Neoliberalismus getreu ging es der Militärdiktatur vor allem darum, das Prinzip des Privateigentums durchzusetzen. 1978 wurde per Dekret der Prozeß der Zersplitterung von in Gemeinschaftsbesitz befindlichen Ländereien beendet: „Von heute an gibt es weder Indígena-Land noch Indígenas“. Die Schöpfer dieses Dekrets gaben vor, mit der Einführung des Individualbesitzes den entscheidenden Schritt für den Fortschritt und die Modernisierung im ländlichen Bereich zu unternehmen. Sozialstudien in der Region Auracania zeigen jedoch, daß durch die Aufteilung der Ländereien ein Minifundismus gefördert wurde, der vielen Mapuche-Familien allenfalls das Existenzminimum sichert.
Im Interesse nationaler Politik wurden die Indígenas zu chilenischen Bauern und Bäuerinnen erklärt. Offiziell hieß es unter der Pinochet-Diktatur, „daß das eigentliche Problem der Mapuche nicht in ihrer kulturellen Andersartigkeit besteht, sondern im ihrem Mangel an Erziehung und Kultur“. Außerdem wurde hartnäckig die Position vertreten, in Chile gäbe es keinen Unterschied zwischen Indígenas und dem Rest der Bevölkerung. Ein bedeutender Anteil der Indígenas, hauptsächlich Mapuches, ist seit den fünfziger Jahren in die größeren Städte emigriert, um vor allem der Armut auf dem Land zu entfliehen. In den Städten sahen sie sich dem Druck ausgesetzt, ihre Tradition und ihre Sprache abzulegen. Sechsundsiebzig Prozent der Indígena-MigrantInnen ziehen nach Santiago und arbeiten dort mehrheitlich in Brotfabriken, auf dem Bau oder als Hausangestellte. Ohne entsprechende Ausbildung und aufgrund ihrer Herkunft geringgeschätzt, vergrößern sie den marginalisierten Sektor der urbanen Bevölkerung.
„Marri cliwe“ – oder der Kriegsruf
Mit dem Beginn der siebziger Jahre entstand in Lateinamerika eine starke indigenistische Bewegung, die sich für die „ethnische Autonomie“ einsetzte. Konzepte wie die „Integration aller Ethnien“ wurden von dieser Bewegung abgelehnt, weil mit ihnen stets Ungleichheiten verschleiert wurden und sie als Vorwand dienten, indigenen Völkern eine fremde Kultur aufzuzwingen. Dem wurde das Recht entgegengestellt, kulturelle, ökonomische, soziale und politische Systeme zu entwickeln und zu bewahren, die sich von denen der Bevölkerungsmehrheit unterscheiden. Auf dem gesamten Kontinent neigte die indigenistische Bewegung dazu, Verbindungen zu Teilen der mestizischen Gesellschaft zu kappen. Die häufig eingegangenen Verbindungen mit Sektoren der Linken hatten nie dazu geführt, daß die Probleme von Indígenas losgelöst von der allgemeinen Problematik gesehen wurden. Im Unterschied zu seinen lateinamerikanischen Nachbarstaaten hat der Indigenismus in Chile in intellektuellen oder fortschrittlichen Kreisen kaum Widerhall gefunden. Das Scheitern der ursprünglichen Ley Indígena machte einmal mehr deutlich, daß es die chilenische Gesellschaft nicht vermag, ihr Verhältnis zu indigenen Völkern zu lösen.
Die Frage des Landbesitzes bleibt indessen das zentrale Moment bei der Mobilisierung der Indígenas. Notfalls auch mit Waffengewalt will der „Consejo de Todas las Tierras“ die den Mapuche genommenen Ländereien zurückerlangen. Darüber hinaus verlangt der Consejo einen Status politischer Autonomie gegenüber dem chilenischen Staat. Die Haltung der Regierung lehnt der Rat vollständig ab. „Nachdem er bemerkt hat, daß man die Existenz der Indígenas nicht länger verleugnen kann, bittet der Staat heute um Verhandlungen, an denen zwar alle teilnehmen, aber nur wenige entscheiden. Der kulturelle Genozid drückt sich heute anders aus. Er trägt nicht länger das Merkmal physischer Gewalt, militärischer Intervention. Die Maßnahmen der Regierung laufen darauf hinaus, den kulturellen Zusammenhalt der Mapuche zu zerstören, und sie will die Regeln festlegen, nach denen wir mit ihr verhandeln sollen.“
In diesen Zusammenhang stellt der Consejo auch das neue Indígena-Gesetz. „Das Gesetz wurde uns von außen diktiert und ist ein wirkungsvolles Instrument des Kolonialismus, an dessen Herstellung leider auch Indígenas beteiligt waren. Indem sie uns den Status als Volk verweigern, drücken sie aus, daß es keine Gleichberechtigung mit den Chilenen gibt. Nach wie vor werden unsere Rechte verletzt, verweigert man unsere Existenz“, faßt Aucan Huilicaman zusammen. Das Versprechen, die Urbevölkerung Amerikas in ihren Rechten zu respektieren, wurde in Chile noch immer nicht erfüllt. Mit der Ley Indígena hat es wiederum die mestizische Bevölkerungsmehrheit versucht, die Geschichte der Indígenas zu schreiben – auch im 501. Jahr nach der sogenannten „Entdeckung“ Amerikas.
Wenn die Rede von Machos ist…
Wenn die Rede von Machos ist, sind sich die meisten darüber bewußt, daß sie ein Fremdwort aus dem Spanischen benutzen. Der „Machismo“ ist eins der verbreitetsten Klischees über Lateinamerika. Darauf spielen Kampmann und Koller-Tejeiro vermutlich an, wenn sie als Untertitel zu ihrem Buch „Madre Mía“ die Frage stellen, ob Lateinamerika der Kontinent der Machos sei.(Wer so etwas thematisiert, sollte mir einen Kontinent ohne Machos nennen, da würde ich nämlich sehr gerne hingehen!). Leider war eine Antwort darauf anscheinend nicht so einfach zu formulieren wie die Frage selbst, denn auf sie geht keine der Autorinnen ein, die zu dem Buch beigetragen haben.
Im Buch sind Aufsätze von verschiedenen Autorinnen über den Frauenalltag und die Frauenbewegung in Lateinamerika gesammelt. Themen wie Verhütung, sexuelle Aufklärung, Geschlechterrollen, Identität, Arbeitswelt und der Kampf ums Überleben und um Anerkennung werden oft aus der Perspektive der betroffenen Frau gezeigt, entweder in Interviews oder durch ihre Biographien, was die Lektüre lebendig und leicht macht. Dabei werden Frauen aus unterschiedlichen Schichten dargestellt: Von der Karrierefrau in Mexiko über das Dienstmädchen in Kolumbien bis zur „Indiofrau“ in Ecuador. Allerdings wird dem/r LeserIn nicht klar, welche Repräsentativität die Fallbeispiele haben und nach welchen Kriterien die Auswahl verlief.
Es wird gezeigt, wie die Frauen ein neues Bewußtsein entwickeln, indem sie sich selbst organisieren und verwalten, sei es in Volksküchen, in Betrieben oder in BäuerInnenprojekten, und wie sie nach neuen Wegen suchen, um voranzukommen, da sich die Männer von jeder Verantwortung fernhalten.
Das Buch gibt einen Einblick in die Lebensverhältnisse der Frauen in Lateinamerika, da die Berichtenden die Rolle passiver Beobachterinnen einnehmen und im Reportagestil (begleitet von großen und künstlerisch schönen Bildern) schreiben. Wer also befürchtet, durch diese Lektüre seine eigene Lebensweise in Frage stellen zu müssen, kann unbesorgt sein, erzählt wird nur über „das Fremde“.
Martina Kampmann, Yolanda M. Koller-Tejeiro (Hrg.) – Madre Mía! Kontinent der Machos? Frauen in Lateinamerika. Elefanten Press, Berlin 1991.
ISBN 3-88520-387-1.
Putsch und Gegenputsch
Der erste Putsch
Am 25. Mai um sieben Uhr morgens gab Präsident Jorge Serrano über Rundfunk und Fernsehen bekannt, daß er Teile Verfassung außer Kraft gesetzt habe. Er habe den Kongreß, den Obersten Gerichtshof, das Verfassungsgericht und die Generalstaatsanwaltschaft aufgelöst und den Menschenrechtsprokurator Ramiro de León seines Amtes enthoben. Er hob auch Versammlungsfreiheit, Streikrecht und Meinungsfreiheit auf und schaltete die Medien gleich. Serrano begründete seinen Putsch von oben mit dem Kampf gegen die Korruption, den Drogenhandel und der schlechten Amtsführung des Kongresses sowie des Obersten Gerichthofes.
Die Reaktionen auf Serranos Putsch waren einhellig ablehnend. Das Verfassungsgericht erklärte am 26. Mai die Maßnahmen Serranos für gesetzlich ungültig. Auch die Oberste Wahlbehörde lehnte es ab, eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen, wie Serrano am Tag zuvor angekündigt hatte. Arbeitsminister Mario Solorzano und andere Kabinettsmitglieder traten aus Protest gegen Serranos Vorgehen zurück, genauso wie einige BotschafterInnen Guatemalas im Ausland.
Außer in Peru wurde der Putsch auch im Ausland heftig verurteilt. Am 27. Mai kündigte der Sprecher des US-State-Departments Richard Boucher an, die wirtschaftliche Unterstützung einzufrieren. Außerdem könnten die Handelspräferenzen für ein Land, in dem die Arbeitsrechte nicht respektiert würden, nicht aufrechterhalten werden. Am 26. Mai knüpfte die deutsche Bundesregierung die weitere Zusammenarbeit mit Guatemala, „einschließlich der Entwicklungshilfe“, an die Rückkehr zur demokratischen Ordnung und die strikte Einhaltung der Menschenrechte. Am 29. Mai kündigte auch die EG- Kommission die Suspendierung ihrer Hilfe an.
Die Volksbewegungen zeigen Mut
Trotz der massiven Militär-und Polizeipräsenz auf den Straßen setzten sich die Volksorganisationen über das Demonstrationsverbot hinweg. Dabei spielte Rigoberta Menchú eine wichtige Rolle, als sie am 26. Mai gemeinsam mit der Katholischen Kirche, dem Rektor der Universität San Carlos und der Trägerin des alternativen Nobelpreises, Helen Mack für den nächsten Tag zu einer Messe in der Kathedrale der Hauptstadt aufrief, mit der das Versammlungsverbot durchbrochen wurde. Nach der Messe überreichten 62 Organisationen im Nationalpalast ein Dokument, in dem sie die „sofortige Rückkehr zur institutionellen Ordnung“ forderten. Auch der abgesetzte Menschenrechtsprokurator Ramiro de León Carpio hatte das Papier unterschrieben. Er verwandelte sich schnell in ein Symbol des Widerstands. Nachdem er sich schon am 26. Mai von seinen Funktionen selbst entbunden hatte, schloß er am 31. Mai seine Behörde und rief zum zivilen Ungehorsam auf. In einem offenen Brief an die guatemaltekische Bevölkerung erklärte de León seine „totale und absolute Ablehnung“ der von Präsident Serrano getroffenen Entscheidungen.
Das Militär eiert hin und her
Verteidigungsminister Garcia Samayoa hatte zunächst den Diktator Serrano vorsichtig unterstützt. Wenn Serrano diesen Schritt nicht unternommen hätte, „wäre das Land in eine anarchische Krise mit schwerwiegenden Konsequenzen geraten“, rechtfertigte er am 27. Mai den Putsch. Doch drei Tage später -nach einer Zusammenkunft mit einer im Land weilenden OAS-Delegation -versicherte Garcia Samayoa, die guatemaltekische Armee wünsche die „schnellstmögliche“ Rückkehr zur verfassungmäßigen Ordnung. „Die Ereignisse basieren nicht auf einer militärischen sondern einer politischen Entscheidung. Wir wurden erst kurz vor der Außerkraftsetzung der Verfassung informiert.“ An dem Treffen mit dem Generalsekretär der OAS, Joao Baena Soares, nahmen auch Generalstabschef Roberto Perussina, der Chef des Sicherheitsstabes des Präsidenten, Francisco Ortega Menaldo, der Geheimdienstchef der Armee, Otto Pérez Molina, und der stellvertretende Generalstabschef Mario Enriquez teil.
Der zweite Putsch
Am 1. Juni um 11.00 Uhr überreichten die Kommandanten der 22 Militärzonen Serrano ein Dokument, in dem sie ihm die Präsidentschaft entzogen. Zugleich überflogen Hubschrauber den Nationalpalast. Auf einer Pressekonferenz erklärte Verteidigungsminister Jose Garcia Samayoa, daß damit dem Urteil des Verfassungsgerichtes vom 26. Mai Gültigkeit verschafft werden solle. In dem Urteil war das Dekret von Serrrano für null und nichtig erklärt worden. Die Armee werde auf der Basis dieses Urteils der Verfassung zur Wirksamkeit verhelfen.
Garcia Samayoa verkündete: „Der Präsident der Republik hat sich für die Aufgabe seines Amtes entschieden.“ Serrano jedoch weigerte sich mehrere Stunden lang, seinen Rücktritt zu unterzeichnen. In den erneut gleichgeschalteten Radios und Fernsehsendern wurden die Mitglieder des Verfassungsgerichtes aufgefordert, in den Nationalpalast zu kommen. Dort wurde dann ein fünfstündiges Treffen abgehalten, an dem Menschenrechtsprokurator Ramiro de León, Unternehmer, Parteien und Militärs teilnahmen. Der Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchu, die eine Beteiligung der Volksorganisationen an diesen Verhandlungen forderte, wurde der Zutritt zu dem Treffen verweigert.
Rigoberta Menchu Tum vertrat die Forderungen der neugebildeten „Multisectorial Social“, eines Zusammenschlusses von Organisationen der Volksbewegung und der Universität San Carlos. In mehreren Demonstrationen lehnte die „Multisectorial Social“ die Übernahme der Präsidentschaft durch den bisherigen Vizepräsidenten Gustavo Espina ab, forderte Prozesse gegen Serrano und Espina und verlangte, den Kongreß von „korrupten Dieben“ zu säubern.
Auf dem Weg vom Menschenrechtsprokurator zum Präsidenten
Ramiro de León hatte am 1. Juni den Putsch der Armee gegen Serrano ge rechtfertigt: Der Putsch sei „vollständig im Rahmen der Verfassung“. Die Militärs hätten in Übereinstimmung mit dem Urteil des Verfassungsgerichts interveniert, um zur verfassungsmäßigen Ordnung zurückzukehren, „ohne die Macht auch nur eine Minute auszuüben“. Am folgenden Tag kündigte er die Wiedereröffnung seiner Menschenrechtsbehörde an, mußte dann allerdings feststellen, daß mittlerweile die Militärspitze den ehemaligen Vizepräsidenten Gustavo Espina unterstützte. Dieser könne nicht ernannt werden, da er wegen Verfassungsbruchs angeklagt sei, so de León Carpio. Er verlangte von Verteidigungsminister José Garcia Samayoa, daß er der Nation eine Erklärung über das Chaos gebe, in dem das Land versunken sei. Doch Verteidigungsminister Garcia vergrößerte das Chaos noch, indem er zunächst nicht nur Serranos Rücktritt, sondern auch den des Vizepräsidenten Espina verkündet hatte. Als sich die Armee dann aber nicht in der Lage sah, eine von Espina unterschriebene Rücktrittsurkunde vorzulegen, erklärte der Verteidigungsminister plötzlich Espina zum verfassungsmäßigen Präsidenten Guatemalas. (Nach anderen Versionen hatte sich Espina vorher selbst zum Präsidenten ausgerufen.) In der Nacht zum 3. Juni versammelten sich Tausende vor dem Parlamentsgebäude und äußerten ihren Unmut mit Sprechchören wie „Wir wollen nicht das Militär. Wir wollen nicht Espina“. Schließlich urteilte das Verfassungsgericht am 4. Juni, daß Espina dieses Amt wegen seiner Beteiligung
am Staatsstreich von Serrano nicht ausüben könne, woraufhin die Armee nun dem Verfassungsgericht umfassende Unterstützung zusicherte.
Zweigeteilte Zivilgesellschaft
Nachdem das Verfassungsgericht dem Kongreß am 4. Juni eine vierundzwanzigstündige Frist gesetzt hatte, um einen neuen Präsidenten zu wählen, trafen VertreterInnen der Privatwirtschaft, der Parteien, Gewerkschaften, Kooperativen und der Universität San Carlos unter Ausschluß der „Multisectorial Social“ eine Übereinkunft über die Rückkehr zur verfassungmäßigen Ordnung. Sie einigten sich auf sechs Punkte, darunter den Rücktritt des amtierenden oder auch nicht amtierenden Präsidenten Gustavo Espina und die Wahl eines neuen Präsidenten durch den Kongreß. Die sogenannte „Instanz des Nationalen Konsens“ überreichte das Dokument der Militärführung, die ihre volle Unterstützung zusicherte. Francisco Cali von der „Multisectorial Sociai“ erklärte, daß weder Menchu Tum noch der Rektor der Universität das Dokument unterzeichnet hätten. Vielmehr hätten die Volksorganisationen noch vier weitergehende Forderungen: Prozesse gegen die Putschisten; Prozesse wegen Korruption; Ausschluß der Armee vom sozialen und politischen Leben; entscheidende Rolle der zivilen Gesellschaft bei den Entscheidungen über die Zukunft Guatemalas.
Die am 5. Juni für zehn Uhr morgens angesetzte Kongreßsitzung zur Wahl des neuen Präsidenten konnte wegen der intensiven Verhandlungen hinter den Kulissen erst um 18 Uhr beginnen. Neben Ramiro de León trat der am gleichen Tag von seinem Posten als Präsident der Obersten Wahlbehörde zurückgetretene Arturo Herbruger an. Herbruger zog seine Kandidatur allerdings zurück, als er im ersten Wahlgang mit 51 gegen 64 Stimmen unterlag. Da beide keine Zweidrittelmehrheit erreichten, mußte de León in einer weiteren Abstimmung um ein Uhr nachts noch bestätigt werden. In seinen ersten Erklärungen sagte de León, Guatemala müsse in sicheren Schritten einer besseren Zukunft entgegengehen, aber „ohne Revanche-oder Rachegefühle“. Er versprach, den hartkritisierten „Fonds für Vertrauliche Ausgaben“ der Regierung abzuschaffen. aus dem sich die Präsidenten traditionell zur Bereicherung und Bestechung bedient haben und insbesondere die Meinungs-und Pressefreiheit zu respektieren. Neben dem Kampf gegen die Straffreiheit verpflichtete er sich auch zur strikten Einhaltung der Menschenrechte. Er kündigte die Einrichtung eines „permanenten Dialogmechanismus“ mit den verschiedenen Ethnien an. Vorrangige Aufmerksamkeit werde er den Problemen im Gesundheits-und Bildungssektor widmen und sofort eine Alphabetisierungskampagne beginnen.
Glückwünsche aus dem Ausland
Der frisch gewählte Präsident konnte sich vor Glückwünschen aus dem Ausland kaum retten. Schon zwei Tage nach seiner Wahl traf der stellvertretende US- Außenminister Clifton Wharton zu einem dreistündigen Gespräch mit de León
ein. Wie alle anderen Regierungen, die ihre Wirtschaftshilfe nach dem Staatsstreich vom 25. Mai eingefroren hatten, kündigte er die sofortige Wiederaufnahme an. Das Auswärtige Amt in Bonn kommentierte: „Ramiro de León Carpio genießt aufgrund seiner Arbeit als Menschenrechtsprokurator großes Vertrauen in der guatemaltekischen Bevölkerung“.
León Carpio ernannte als erstes den in die Staatsstreiche verwickelten General Jorge Roberto Perussina zum neuen Verteidigungsminister, der zur harten Linie im Militär gezählt wird. Die beiden anderen Putschgeneräle Ex-Verteidigungsminister Garcia Samayoa und der Ex-Chef des Sicherheitsstabs des Präsidenten Ortega Menaldo wurden in den Ruhestand beziehungsweise in die Provinz versetzt.
Aus den ersten Erklärungen de Leóns 1äßt sich erkennen, daß er nicht vorhat, sich mit der Armee anzulegen. Solange es bewaffnete Auseinandersetzungen gebe, würde der Militärhaushalt nicht gekürzt, erklärte er. Auf internationaler Ebene löste er zunächst Befremden aus, als er sich zum Verhandlungsprozeß mit der Guerilla äußerte. Die Friedensgespräche seien keine Priorität seiner Regierung, weil der Wechsel an der Regierungspitze den Krieg „überflüssig“ machen würde. Wichtiger sei es, den demokratischen Prozeß zu konsolidieren. Die URNG- Guerilla hatte am 10. Juni ein direktes Treffen mit dem neuen Präsidenten in Anwesenheit des Vermittlers vorgeschlagen. Das Zögern von de León Carpio ist wahrscheinlich damit zu erklären, daß er als ehemaliger Menschenrechtsprokurator nicht umhin könnte, das ausstehende Menschenrechtsabkommen zu unterzeichnen -was aber vom Militär kaum akzeptiert würde.
Die „Multisectorial Social“ und Rigoberta Menchu begrüßten die Wahl de Leóns. Die Aktionen gegen die Militarisierung würden aber nicht aufhören, erklärte Rigoberta Menchú nach einem Gespräch mit de León am 9. Juni.
Der gestürzte Präsident Serrano befindet sich mittlerweile ohne seine Bankkonten mit 17 Millionen US-Dollar und mindestens 100 Immobilien im Exil in Panama. Das guatemaltekische Außenministerium beantragte am 8. Juni seine Auslieferung wegen Verfassungsbruch, Veruntreuung und Unterschlagung.
Berichtigung: Zwölf Monate sind ein Jahr, zwanzig Jahre gibt es die LN, das sind 240 Monate, und wenn die Inflation in Ecuador wirklich so hoch wäre, wie wir im letzten Heft auf Seite 9 behauptet haben, dann wären heute sicher nicht mehr 1800 Sucres einen Dollar wert, sondern die EcuadonanerInnen müßten in Millionen rechnen. Tatsächlich nämlich beträgt die Inflation nicht 50 Prozent monatlich, sondern im Jahr.