Editorial Ausgabe 250 – April 1995

Als die sandinistische Armee Nicaraguas im Frühjahr 1988 in einer großangelegten Offensive die Contra-Banden aus dem Norden des Landes verjagte und dabei einigen Einheiten auch über die Grenze nach Honduras folgte, da dauerte es keine 24 Stunden, und die USA waren mit ihrer berüchtigten 82. Luftlandedivision zur Stelle – “auf Bitten” einer verschüchterten honduranischen Re­gierung, die zunächst gesagt hatte, sie wisse nichts von einer nicaraguanischen Invasion, nach acht Stunden Bearbeitung durch den US-Botschafter in Tegucigalpa aber dringend um Hilfe gegen den nicaraguanischen Einmarsch bat.
Als Nato-Partner Türkei Mitte März mit 35.000 Soldaten, unterstützt von der Luftwaffe und schwe­rer Artillerie auf der Su­che nach Guerilleros der Arbeiterpartei Kurdi­stans (PKK) in den Nordirak einmarschierte, ließ die US-Regierung verlauten, sie habe “volles Ver­ständnis” für die “Sicherheitsbedürfnisse” der tür­kischen Seite, doch möge sich die türkische Armee bitte bald zu­rückziehen. Dabei hat die US-Regie­rung selbst Probleme, ihrer eigenen Öffentlichkeit zu erklä­ren, warum die Kurden im Nordirak seit dem Golfkrieg vor An­griffen des Irak geschützt werden, die türkische Armee aber im gleichen Ge­biet mit Kampfbom­bern mutmaßliche PKK-Lager unter Feuer neh­men darf und die aus Tür­kisch-Kurdi­stan geflohenen ZivilistInnen erneut verfolgt.
Nun war die US-Außenpolitik noch nie von mo­ralischen, ideologischen oder gar ethischen Grundsätzen geleitet, außer von dem Grundsatz der Machtausübung und deren Durchsetzung – und insofern würde all das nicht Wunder nehmen, wenn denn klar zu verstehen wäre, was die USA eigentlich strategisch in der Region erreichen wollen.
Da setzen die USA ein ums andere Mal im UN-Sicherheitsrat durch, daß das Embargo gegen den Irak wieder um einige Monate verlängert wird, obwohl Frankreich und andere Staaten längst auf dessen Aufhebung drängen. Da zeigt die US-Re­gierung volles Verständnis für die türkische Militär­offensive, während ein Republikaner im Unterhaus die Einstellung der Hilfe für die Türkei wegen der Menschenrechtsverletzungen fordert.
Die türkischen Generäle bauen darauf, daß die türkische Armee entweder selbst eine “Pufferzone” im Nordirak errichten kann oder aber die iraki­schen Militärs wieder die Kontrolle über die Schutzzone über­nehmen und die Grenze zur Türkei militärisch si­chern. Und so sind die USA nach ei­ner Politik, die ziellos irgendwie Einfluß sichern will, endgültig im Zugzwang. Das Ergebnis sind konfuse Reaktionen und unsicheres Umhertapsen auf diplomatischem Feld.
Die Europäische Union ist da keinen Deut bes­ser. Deutsche Waffen sind auch im Nordirak mit dabei, der Außenminister will davon mal wieder nichts wissen. Der Innenminister läßt sich zwar von den Menschenrechtsorganisationen der Tür­kei detailliert die Praktiken des Folterstaa­tes ge­genüber der kurdischen Bevölkerung be­schreiben, nur um daraufhin zu verkünden, natür­lich könne man Kurden dorthin abschieben. Der Weg der Türkei, so befürchten viele, könnte eini­ges mit dem Lateinamerikas der siebziger zu tun haben: Eine Gesellschaft, deren innerer Zu­stand von den Mi­litärs bestimmt wird, deren in­ternationale Position aber vom strategischen In­teresse der westlichen Partner abhängt.
Die letzten Jahre haben verschiedene Arten von Konflik­ten gezeigt: Den der Großmacht gegen die kleine. Hier beschränkt sich die internationale Reaktion auf diplomatisch formulierte “Sorge” – siehe Rußland/Tschetschenien, Türkei/Kurdistan. Den der kleinen untereinander an der Peripherie: Hier ist die Reaktion entweder Nichtstun (Sudan), ent­setztes Nichtstun (Ruanda), die eigenen Mili­tärs ausprobieren (Somalia) oder herzlich Lachen (Peru/Ecuador). Den der kleinen am Rande der Metropole, wo mit Flüchtlingen zu rechnen ist: Hier wird die Demo­kratie verteidigt (Haiti). Und den in strategisch wichtiger Lage, wo die Macht­interessen der neuen Weltmächte aufeinander­treffen: Es ist noch nicht ausgemacht, wie man damit umgeht (Ex-Jugoslawien).
Mit der Propaganda der “neuen Welt­ordnung”, der Verteidigung der friedlich vor sich hinträl­lernden Völkergemeinschaft gegen etwaige Ag­gressoren, wie noch im Golfkrieg verkündet, hat all das nichts zu tun – was zu erwarten war.

“Brudervölker” im Krieg

Die auf den ersten Blick scheinbar so einleuchtende Erklärung für den Krieg, der seit Ende Januar in der Sierra del Condor an der Grenze zwischen beiden Ländern stattfand und mit der Unterzeich­nung einer Friedenserklärung in der brasi­lianischen Hauptstadt Brasilia zunächst ein Ende gefunden zu haben schien, läßt Fragen offen. Viele Indizien weisen dar­auf hin, daß diesmal die ecuatorianische Regierung größeres Interesse an einem bewaffneten Konflikt hatte, als ihr Gegen­über in Lima. Interessen, die weniger mit den umkämpften, abgelegenen, bewalde­ten Bergen, aber viel mehr mit innenpoli­tischen Schwierigkeiten, persönlichen Ambitionen und diplomatischem Kalkül zu tun haben.
Die Kommentare sind sich einig: Dieser Krieg war sinnlos. Seit 1992 war der pe­ruanische Präsident Alberto Fujimori dreimal in der ecuatorianischen Haupt­stadt Quito, um die Freundschaft zwischen den “Brudervölkern” zu beschwören, und die Bevölkerung Quitos jubelte ihm zu. Auch sind beide Länder Mitglieder des Andenpakts und wollen zum beiderseiti­gen Vorteil ihre wirtschaftlichen Bezie­hungen ausbauen. Sollte nun ein Grenz­konflikt das Verhältnis zwischen beiden Ländern vereisen, der seit Jahrzehnten bekannt ist, in dem aber abgesehen von gelegentlichen Scharmützeln längst ein friedlicher Status Quo bestand? Über Jahrzehnte hinweg beharrten beide Seiten auf ihren Auffassungen über den Grenz­verlauf. Aber im Moment stellt sich vor allem die Frage, warum es trotz jahrelan­ger Normalität von Zeit zu Zeit immer wieder zu bewaffneten Auseinanderset­zungen kommt, welche innenpolitischen Gründe jeweils für oder gegen die Insze­nierung eines solchen Konflikts sprechen und wer sich von einem Krieg außenpoli­tischen Nutzen verspricht.
Der Auslöser: ein Fluß zuviel
Der Grenzkonflikt zwischen Peru und Ecuador ist nicht neu. Seit der Existenz beider Staaten sind große Gebiete des Amazonastieflandes und die Grenzregion um das heute peruanische Tumbes an der Pazifikküste zwischen beiden Ländern umstritten. Seit 1942 dreht sich der Streit um das sogenannte Protokoll von Rio de Janeiro. Nach dem letzten Krieg 1941/42 zwischen Peru und Ecuador führten die Friedensverhandlungen zur Unterzeich­nung des damals von beiden Seiten aner­kannten Protokolls, in dem der Grenzver­lauf festgelegt wurde. Brasilien, Argenti­nien, Chile und die USA fungieren seitdem als Garanten des Protokolls, durch das Ecuador den größten Teil seines ama­zonischen Tieflands sowie die Stadt Tum­bes verlor.
Schwierig war die Einigung im Fall des umstrittenen rund 80 Kilometer langen Grenzabschnitts zwischen den Flüssen Rio Santiago und Rio Zamora, einer von Wald bedeckten, weitgehend unerschlossenen Re­gion. Schließlich akzeptierten damals beide Seiten den Schiedsspruch des Bra­silianers Bras Dias de Aguiar, der damit die “natürliche Grenze”, die Wasser­scheide zwischen den beiden Flüssen, zur Staatsgrenze machte. Das Problem be­stand darin, daß es nur im nördlichen Teil des Grenzabschnitts eine echte Wasser­scheide zwischen den beiden Flüssen gibt. Im größeren Teil der umstrittenen Region liegt zwischen dem zweifelsfrei ecuato­rianischen Rio Zamora und dem eindeutig peruanischen Rio Santiago nicht nur eine Bergkette, sondern noch ein weiteres Flußtal: der Rio Cenepa. Ecuador be­trachtete das Protokoll deshalb in dieser Region als undurchführbar, während Peru darauf bestand, daß sich das Tal des Rio Cenepa schon lange vor dem Krieg von 1941/42 eindeutig unter peruanischer Kon­trolle befand und daher die Bergkette zwischen Rio Zamora und Rio Cenepa die Grenze bilde.
Der Status Quo: nicht aufeinander schießen
Für die peruanische Seite war seit dem Protokoll von Rio de Janeiro klar, daß mit Ecuador überhaupt kein Grenzkonflikt be­steht. Der Vertrag sei eindeutig, völker­rechtlich gültig und von den vier Staaten garantiert, so die peruanische Auffassung. Ecuador dagegen rückte schon bald von dem Protokoll ab. Der Vertrag sei unter Druck zustande gekommen und deshalb nichtig, so die ecuatorianische Position seit Jahrzehnten, die Grenzfrage mit Peru sei damit nicht nur in der Sierra del Con­dor, sondern im gesamten Verlauf der Grenze bis nach Kolumbien offen. Es ist kein Zufall, daß auf allen ecuatorianischen Landkarten zum einen an der Sierra del Condor der Vermerk “Zone, in der das Protokoll von Rio de Janeiro undurch­führbar ist” und darüber hinaus das ge­samte nördliche Amazonasgebiet des heu­tigen Peru einschließlich der wichtigsten Stadt Iquitos als ecuatorianisches Territo­rium eingezeichnet ist. Keine Kleinigkeit, geht es doch nicht um 5 Kilometer mehr oder weniger, sondern um eine Fläche von 200.000 Quadratkilometer Regenwald mit Ölvorkommen und Zugang zu den Ama­zonashäfen, von denen aus der Weg über den Fluß durch Brasilien zum Atlantik geht.
Ansprüche sind eine Seite, die realen Machtverhältnisse eine andere, und die militärischen Fakten sprachen immer für Peru. Es war für Ecuador undenkbar, das verlorene Territorium durch einen Krieg zurückzuerobern. Ganz abgesehen davon, daß die Garantenstaaten deutlich machten, daß sie das Protokoll von Rio als gültig und das riesige Regenwaldgebiet somit als peruanisch betrachteten.
In der Sierra del Condor gibt es seit Jahren sowohl ecuatorianische als auch peruanische Grenzposten und Patrouillen. Beide Seiten gehen davon aus, auf ei­genem Territorium zu sein, und beide be­trachten die jeweils gegnerischen Pa­trouillen als Eindringlinge. Die Frage war damit nicht, wer böswilligerweise die Grenze überschreitet, sondern ob man sich entweder aus dem Wege geht oder einen Konflikt inszeniert. Oder anders gesagt: Wer einen Konflikt braucht, kann ihn ha­ben, denn so gut wie ständig befindet sich irgendeine Patrouille der jeweils anderen Seite auf dem vermeintlich eigenem Ter­ritorium. Die “Grenzverletzungen” des Gegners müssen nur dramatisch in der Öf­fentlichkeit als “Bedrohung der nationalen Sicherheit” dargestellt werden, und schon ist der Konflikt da.
Peru: Fujimori kann den Konflikt nicht brauchen
Das Interesse am Konflikt, so die ver­breitete Meinung, hatte aus innenpoliti­schen Gründen diesmal der peruanische Präsident Fujimori. Wahlen stehen kurz bevor, und bekanntermaßen ist die Mobi­lisierung nationaler Gefühle ein probates Mittel, um Popularität zu erlangen. Aber ein Blick auf die innenpolitische Lage in Peru und Ecuador läßt dieses Bild nicht ganz so eindeutig erscheinen.
Fujimori führt die Umfragen vor der Präsidentschaftswahl mit großem Vor­sprung vor seinen Konkurrenten an. Sollte er wirklich glauben, einen Krieg mit Ecuador nötig zu haben, um noch einmal Stimmen zu mobilisieren? Im Gegenteil, ein Krieg muß für ihn eher kontraproduk­tiv sein. Neben der wirtschaftlichen Stabi­lisierung ist es der gerade wiedergewon­nene Frieden, auf dem seine Popularität beruht. Peru im Jahre 1995 ist ein von dreizehn Jahren internen Krieges zwi­schen Staat und Guerilla ausgelaugtes Land, das seit zwei Jahren, mit dem Sieg Fujimoris über die Guerillabewegung Sendero Luminoso, wieder Hoffnung schöpft, eine friedliche Normalität aufzu­bauen. Ob man Alberto Fujimori für den geeigneten Präsidenten dafür hält oder nicht, die peruanische Bevölkerung steht jedenfalls genau deswegen mehrheitlich hinter ihm. Es kann deshalb nicht ver­wundern, daß von nationaler Begeisterung in Peru wenig zu spüren war, der Krieg war extrem unpopulär. Die seit Jahren von Fujimori beschworene Eingliederung in die internationale Staatengemeinschaft – konkret: Kreditwürdigkeit und Attraktivi­tät für Investitionen aus dem Ausland – litt stark unter dem Grenzkonflikt mit Ecua­dor. Investitionen fließen nur spärlich in Krisenregionen und von Krieg belastete Volkswirtschaften. Fujimori arbeitet ziel­gerichtet an seinem Projekt eines kapitali­stisch-modernen, von einem starken Prä­sidenten namens Fujimori regierten Lan­des. In dieser Situation einen Krieg mit Ecuador zu provozieren, hieße, den Erfolg dieses Projektes zu riskieren – und das an­gesichts eines auch ohne Krieg fast siche­ren Wahlsiegs. Fujimori müßte von sei­nem Gespür für die öffentliche Meinung verlassen worden sein, das ihn in den fünf Jahren seiner Amtszeit ausgezeichnet hat. Himzu kommt, daß ein von Fujimori in­szenierter Konflikt ein Wahlgeschenk für seine härtesten Konkurrenten wäre. Ex-UNO-Generalsekretär Javier Perez de Cuéllar verkörpert durch seine politische Vergangenheit geradezu die Option di­plomatischer Konfliktlösung. Fujimori hätte einen peinlich taktischen Fehler be­gangen.
Ecuador: Ein Präsident in Schwie­rigkeiten
Anders dagegen die Situation in Ecua­dor. Präsident Sixto Durán Ballén war in den letzten Monaten alles andere als po­pulär. Wirtschaftliche Probleme und Kor­ruptionsskandale nagen am Image des achtzigjährigen Präsidenten, der im No­vember ’94 sogar schon Gerüchte über seinen Tod dementieren mußte (siehe LN 247). Er hatte im Gegensatz zu Fujimori eine Popularitätsspritze dringend nötig. So sah die öffentliche Darstellung des Kon­fliktes in Ecuador auch völlig anders aus als in Peru. Während die peruanische Re­gierung sich zunächst bemühte, den Grenzkrieg intern zu einem drittrangigen Thema zu machen, fuhr das offizielle Ecuador schwere Geschütze auf. Flam­mende Reden über die nationale Ehre und die Verteidigung der Souveränität schufen ein aufgeheiztes und aggressives Klima, das in keinem Verhältnis zu der in der pe­ruanischen Öffentlichkeit abwartenden Skepsis stand.
Über die innenpolitische Schwäche der gegenwärtigen Regierung hinaus liegt es durchaus im Interesse der ecuatoriani­schen Außenpolitik, das Thema “Grenze zu Peru” am Kochen zu halten. Daß die Gebiete bis hin zum Amazonasufer perua­nisch sind, weiß in Quito jeder realistisch denkende Politiker. Die Geschichte des Krieges von 1941/42 und das Protokoll von Rio sind nicht zurückzudrehen. Aber in der Sierra del Condor läßt sich mit dem Argument der Undurchführbarkeit des Protokolls noch etwas herausholen. Um wichtige wirtschaftliche Interessen dürfte es dort zwar kaum gehen, bewegen sich die Informationen über Rohstoffvorkom­men doch vor allem auf der Ebene von Gerüchten und Spekulationen. Aber der ecuatorianische Präsident, der dem Land ein verloren geglaubtes Territorium zu­rückholt, wird als Held in die Geschichte eingehen. Eine attraktive Perspektive für Präsidenten jeder Couleur. Je bemitlei­denswerter Ecuador in der Rolle des Op­fers erschien, um so größer konnte die Chance sein, bei einem unabhängigen Schlichter Zugeständnisse zu erreichen. Es paßt ins Bild, daß die ecuatorianische Diplomatie nach Ausbruch des Krieges mit bemerkenswerter Inkonsequenz aus­gerechnet bei den vier Garantenstaaten intensiv antichambrierte, obwohl Ecuador das Protokoll insgesamt als ungültig be­trachtet. Dazu kam die dramatische War­nung des ecuatorianischen Präsidenten, es drohe ein Militärputsch, sollte das Land den Krieg verlieren. So unglaubwürdig diese Warnung angesichts der sicheren internationalen Isolierung eines Militärre­gimes auch ist, der Wink war deutlich: Fällt der Ausgang des Konfliktes nicht po­sitiv für Ecuador aus, droht Fürchterliches.
Nur nicht das Gesicht verlieren
Die erste öffentliche Klage darüber, fremde Truppen seien über die Grenze ge­kommen, kam von Ecuador. Dies und die jeweiligen innenpolitischen Verhältnisse in Peru und Ecuador legen die Vermutung nahe, daß das Interesse am Konflikt dies­mal mehr auf ecuatorianischer Seite lag als in Peru. Aber daraus ist kein Mythos von den Intrigen des perfiden Ecuador ge­gen das friedliche Peru abzuleiten. Die letzten Scharmützel genau in diesem Ab­schnitt der Grenze fanden vor drei Jahren im Januar 1992 statt. Damals, in einer Zeit, als Sendero Luminoso in Lima täg­lich bombte, hatte Fujimori durchaus Grund, von innenpolitischen Problemen abzulenken. Das taktische Spiel wird zum gegebenen Zeitpunkt von beiden Seiten betrieben.
Die Eigendynamik der Eskalation eines bewaffneten Konflikts wirkte – auf beiden Seiten. Die peruanische Seite ließ nicht lange darauf warten, ihrerseits das Ein­dringen ecuatorianischer Truppen in pe­ruanisches Gebiet bekannt zu geben. Und schon drehte sich die Spirale gegenseitiger Schuldzuweisungen. Keine Seite wollte das Gesicht verlieren. Besonders pikant war die Lage für Alberto Fujimori. Er steckte in einem Dilemma: Einerseits wollte er aus wahltaktischen Überlegun­gen den Krieg schnellstens beenden. Gleichzeitig mußte er aufpassen, denn so unpopulär der Konflikt in Peru auch war, würden seine Wahlchancen doch darunter leiden, erschiene der Ausgang des Krieges in der Wahrnehmung der peruanischen Öffentlichkeit als peinliche Niederlage. Wie der vorerst bestehende Waffenstill­stand und die Bekundung von Friedensab­sichten jedoch langfristig in eine stabile Lösung verwandelt werden sollen, steht vorerst in den Sternen.

Patriotische Parolen als Allheilmittel?

“Es sei wohl nicht sein Jahr gewesen”, hieß es im Rückblick auf das Jahr 1994 in der Tageszeitung El Comercio über den ecuatorianischen Staatspräsidenten Sixto Durán Ballén. Dieser hatte im vergange­nen Jahr durch Korruptionsaffären in sei­ner unmittelbaren Nähe und durch seine Ohnmacht gegenüber dem Kongreß stark an Ansehen verloren und wegen der so­zialen Konsequenzen seiner Modernisie­rungspolitik die letzten Sympathien im Volk einbüßen müssen. Darüber hinaus brachten die spontanen Alleingänge seines Vizepräsidenten Alberto Dahik die Frage nach der eigentlichen Macht immer wie­der in die Schlagzeilen.
Seit 1992 fährt Ecuador unter Präsident Sixto Durán Ballén als eines der letzten lateinamerikanischen Länder den Kurs ei­ner harten Strukturanpassung, die im ver­gangenen Jahr die ersten Erfolge zeigte: Senkung der Inflation von 70 auf 20 Pro­zent, Stabilisierung des Wechselkurses und eine Rekordhöhe der Währungs­re­ser­ven. Sie wurden aber ange­sichts der Liste der nach langem Hin und Her letztendlich doch nicht privatisierten Betriebe wenig ge­wür­digt. Neben der für 1995 ange­setz­ten Privatisierung der EMETEL, dem Be­reich der Telekommu­nikation, sorgten be­son­ders die geplante Privatisierung des IESS, des Instituts für Sozialversicherung, und der staatlichen Ölgesellschaft Petro­e­cua­dor für einigen Zündstoff.
Der IESS zog von öffentlichen Ange­stellten ein Zwangsbeitrag ein und finan­zierte so gewisse soziale Bereiche wie Krankenhäuser, die auch für die unteren Schichten zugänglich wären. In diesem Sinne ist das IESS wohl die einzige Insti­tution in Ecuador, in der sozial umverteilt wird. Der Staat schuldet dem IESS mehr als 500 Millionen US-Dollar, was dieses Thema zu einem der heikelsten für den 1983 ins Leben gerufenen CONAM, den Nationalen Rat zur Modernisierung des Staates, macht. Die Bevölkerung fürchtet, die Schulden könnten bei der Privatisie­rung “verloren” gehen, und fühlt sich um ihre Beiträge betrogen, so daß es auch bei Erwähnung dieses Themas zu Demonstra­tionen und Ankündigungen von Streiks kam.
Streiks gegen Streikverbot
Streiks der Lehrer, der Gewerkschaften, im Gesundheitswesen, der Telekom, der Justiz – die Liste der im vergangenen Jahr durchgeführten Streiks nimmt kein Ende. Streiks in allen Bereichen sind in Ecuador ein probates Mittel, seinen Unmut kund­zutun, gibt es doch sonst kaum Instru­mente der Opposition. Im Januar letzten Jahres zum Beispiel verbarrikadierten ver­schiedene Indígena-Organisationen als Reaktion auf das zum Jahresbeginn verab­schiedete “Agrarentwicklungsgesetz” zehn Tage lang sämtliche Hauptverkehrskno­tenpunkte des Landes und legten den ge­samten Verkehr lahm. Die Regierung ver­tritt die Ansicht, die ständigen Streiks seien ein Hauptgrund der schleppend ver­laufenden Modernisierung.
Vorgesehen ist ein Gesetz zur Eindäm­mung von Streiks, die “einen Großteil der Bevölkerung betreffen”; ausgeführt durch das Militär. Die Bevölkerung sieht ihr letztes Instrument des Protestes auf der Abschußliste und ihr Recht auf Mei­nungsäußerung vom Militär bedroht. Die Reaktion hätte kaum deutlicher sein kön­nen: Mitte Januar kündigte sich in Quito eine ganze Welle von Streiks an.
Sixto scheitert im Kongreß
Die versprochenen Verfassungsände­rungen, zu denen Ende August eine sehr umstrittene Volksbefragung stattgefunden hatte, scheiterten am Widerstand des Kongresses. Am 10. Januar lief ein 100-Tage-Ultimatum ab, das Durán Ballén selbst gesetzt hatte. In dieser Zeit wollte er seine 113 Gesetzentwürfe im Kongreß verabschieden, die er aufgrund eines er­stellten Meinungsbildes vorgestellt hatte. Eine weitere Volksumfrage ist nun für den 21. Mai angesetzt. Doch die Begeiste­rung hält sich in Grenzen, “das würde nur noch mehr Zeit und Geld kosten, und man habe doch wahrhaftig besseres zu tun.”
Neben Fragen zu den Blöcken Elektri­zität, dem Energiesektor und der Tele­kommunikation soll es vor allem um die Neustrukturierung des IESS und die Ver­änderung bestehender Gewerkschafts­strukturen gehen.
Moralunterricht statt soziale Ver­besserungen
Parallel zur Ankündigung einer neuen Volksbefragung und damit einer neuen moralischen Niederlage des Präsidenten vor dem Kongreß, sorgte ein Gesetzent­wurf, der Religionsunterricht als Pflicht­fach in den Schulen vorsieht, für große Aufregung unter den SchülerInnen und StudentInnen und entfachte eine grund­sätzliche Diskussion über das Bildungssy­stem in Ecuador. Erziehungsministerin Rosalía Arteaga mußte wie auch ihr Amtsvorgänger ihre Sachen packen, nachdem sie das von der katholischen Kirche initiierte Gesetz öffentlich verur­teilt hatte. Das sogenannte “Ley religiosa” erwies sich insofern als hochbrisant, als es die seit langem schwelende Unzufrieden­heit mit bestehenden Bildungseinrichtun­gen mit einem Schlag explodieren ließ. Der Gesetzentwurf sieht zwei Pflichtstun­den “Religion und Moral” pro Woche an allen Schulen vor, mit speziell dazu aus­gebildeten “MorallehrerInnen”. Es wird geschätzt, daß zwischen 5000 und 6800 neue LehrerInnen ausgebildet und einge­stellt werden müßten, um diesem An­spruch zu genügen.
In Ecuador gibt es rund vierhundert re­ligiöse Gruppierungen neben dem Katho­lizismus, so daß der Gesetzentwurf auch scharfen Attacken wegen Diskriminierung und indirektem Rassismus ausgesetzt war.
Die kirchlichen Schulen und Universi­täten besitzen in der Regel eine ganze Menge Geld, dazu kommen Schenkungen und nicht zuletzt die hohen Gebühren ihrer SchülerInnen und StudentInnen. So lassen die Padres der Katholischen Universität in Quito ein schickes Hochhaus nach dem anderen zur Erweiterung bereits bestehender Fakultä­ten bauen, während an der staatlichen Universität die Gebäude verkommen und es an den nötigsten Lehrmitteln fehlt.
Höhere Preise für den öffentlichen Transport
Anfang Januar diesen Jahres wurden dann die Preise für die Benutzung von öf­fentlichen Verkehrsmitteln von 150 auf 200 Sucres (etwa 7 Pf) heraufgesetzt. Das mag auf den ersten Blick nicht besonders viel erscheinen, war aber die dritte Erhö­hung der Fahrpreise innerhalb von drei Jahren von ursprünglich 50 Sucres, also um insgesamt 300 Prozent. Die schritt­weise Erhöhung – jedesmal angekündigt als die letzte – wechselte sich mit der ge­staffelten Erhöhung der Benzinpreise ab, die allein im letzten Jahr um 75 Prozent anstiegen. Ebenfalls bereits die dritte “letzte” Steigerung. Beides wirkt sich un­mittelbar auf die allgemeinen Lebenshal­tungskosten aus.
Heftige StudentInnenunruhen und ein Toter
So kam es dann in der zweiten Januar­woche während einiger Demonstrationen zu heftigen Ausschreitungen zwischen StudentInnen und der Polizei. Am fünften Tag aufeinanderfolgender Straßen­schlach­ten wurden mehrere StudentInnen wie auch Polizisten schwer verletzt. Der 16jährige Juan Carlos Luna Carillo erlag im Krankenhaus seinen Verletzungen. Nach einem Wochenende der scheinbaren Ruhe ging es in der darauffolgenden Wo­che umso erbitterter weiter. Juan Carlos wurde feierlich beerdigt. Seine Mutter fordert, die Verantwortlichen zur Rechen­schaft zu ziehen, und der Abgeordnete Iván Rodríguez des Movimiento Popular Democrático versprach eine genaue Un­tersuchung der Vorfälle, worauf innerhalb der Polizei das im vergangenen Jahr viel­fach praktizierte Spiel der gegenseitigen Schuldzuweisungen von vorne losging.
Die StudentInnen streikten in einigen Teilen des Landes gemeinsam mit den Gewerkschaften, Indígenas und andere Campesinos in seltener Eintracht, vereint durch den gemeinsamen Protest gegen die Privatisierungsprogramme und somit ge­gen die Regierung. Als dann auch noch die staatliche Ölgesellschaft Petroecuador einen Generalstreik für den 26. Januar an­kündigte, um gegen das Vorhaben des neuen Energieministers Galo Abril an­zugehen, auch die erst vor wenigen Jahren verstaatlichte Petroecuador für private In­vestoren zu öffnen, drohte Ecuador der totale Kollaps.
Hinzu kommen immer neue Schrek­kensmeldungen aus der Küstenprovinz Guayas über Cholera-Erkrankungen und erste Tote, man befürchtet eine Epidemie. Auch in den Provinzen Manabí und Esme­raldas werden Erkrankungen gemeldet. Als ob es nicht schon genug wäre, wurden die Dörfer Calderón und Carapungo nörd­lich von Quito – im Gebiet des heftig dis­kutierten neuen Flughafens – am 13. Ja­nuar von einem mittleren Erdbeben heim­gesucht.
Wenn 1994 kein gutes Jahr gewesen sein soll, so läßt sich 1995 um seine Kata­strophen jedenfalls nicht lange bitten.
Wirtschaftliche Rolle des Militärs
Die Modernisierungsansätze des Präsi­denten – insbesondere die Pläne zur Ver­staatlichung der Ölgesellschaft Petroecua­dor – beobachtet das Militär mit größtem Mißtrauen. Bei Ölförderungen in den an ausländische Investoren vergebenen Ab­schnitten im Oriente erhalten die Militärs rund 30 Prozent der Gewinne. Sie stellen einen beträchtlichen Teil der Wirtschaft, unter anderem sind eine Fluggesellschaft und eine Bank in ihrem Besitz, sowie die Schürfungsrechte in dem von ihnen kon­trollierten ecuatorianischen Oriente. Die starke militärische Präsenz im gesamten ecuatorianischen Amazonastiefland wird offiziell durch die ungeklärte Grenzsitua­tion zum Nachbarn Peru gerechtfertigt. Die Militärs haben außerdem das Mono­pol zur Veröffentlichung von Landkarten und sind so Urheber des Festhaltens am Amazonaszugang – nicht zuletzt deshalb haben ecuatorianische Schulkinder eine ganz andere Silhouette ihres Landes im Kopf als die, die der internationalen Re­alität entspricht.
Verlagerung der innenpolitischen Spannungen an die Grenze
Bereits am 7. Januar schwirrten Ge­rüchte von Zusammenstößen an der ecuatorianisch-peruanischen Grenze durch die Presse, die Verteidigungsminister José Gallardo dementierte. Die erfolgten Trup­penbewegungen seien reine Übungen. Eine Woche später folgten dann die ersten Darstellungen der Zwischenfälle, die offi­zielle Version berichtete von einer vier­köpfigen peruanischen Patrouille, die am 9. Januar in – unbestritten – ecuatoriani­schem Territorium, nämlich im oberen Verlauf des Río Cenépa nördlich von Cueva de los Tayos, überrascht wurde. Sie wurde gefangengenommen und gemäß den zwischen Ecuador und Peru bestehen­den Vereinbarungen am nächsten Tag zu ihrem Bataillon zurückgebracht. Am Mittwoch sei erneut eine Gruppe von diesmal 11 peruanischen Soldaten in ihr Territorium eingedrungen, so der Vertei­digungsminister José Gallardo, wobei es zu ersten Toten kam.
In der Tat geht es in diesem nunmehr fast 150 Jahre andauernden Konflikt schon lange nicht mehr darum, den bis auf gelegentliche Scharmützel ansonsten friedlichen Status Quo in Frage zu stellen. Viel eher, ob es politisch opportun ist, einen Zwischenfall als “Bedrohung der nationalen Sicherheit” hochzuspielen.
Wäre dieser Konflikt vom ecuatoriani­schen Präsidenten Sixto Durán Ballén di­rekt oder indirekt inszeniert worden, so hätte dieser gut daran getan, schon auf die ersten Gerüchte und den ersten Zwischen­fall hin die Sache zur obersten Priorität zu machen. Statt dessen hielt er sich bedeckt, erst am 26. Januar, nach dem Abschuß eines peruanischen Helikopters, wird der nationale Notstand erklärt.
Das Protokoll von Rio: ein ecuato­ri­anisches Trauma
Ob Zufall oder nicht, der 26. Januar war der 53. Jahrestag der Unterzeichnung des Protokolls von Rio de Janeiro, ein trau­matischer Augenblick für das ecuatoriani­sche Nationalbewußtsein. In Geschichts­büchern unter der Bezeichnung “Das ter­ritoriale Desaster” aufgeführt, ist es ein Thema, das bis heute Bitterkeit und Fru­stration auslöst. Der Vertrag sei unter Druck zustande gekommen und somit un­gültig. Man fühlt sich ungerecht behandelt nicht nur vom “Bruderstaat Peru”, der mit Salamitaktik immer noch ein weite­ren Scheibchen vom ecuatorianischen Ge­biet abgeschnitten hat, sondern auch von den vier Garantiestaaten und der Weltöf­fentlichkeit insgesamt, die das 1942 unter­zeichnete Protokoll als rechtskräftig aner­kennt. Ecuador, der “Zwerg” unter den Andenstaaten, fühlte sich schon immer als “Verteilmasse” zwischen den beiden großen Nachbarn Peru und Kolumbien. Diese hatten im vergangenen Jahrhundert mehrere geheime Zusatzprotokolle über eine mögliche Aufteilung Ecuadors unter­einander abgeschlossen, so zumindest die offizielle ecuatorianische Geschichts­schreibung.
Die von Ecuador veröffentlichten Landkarten zeigen die 1942 an Peru verlo­renen Gebiete bis an den Amazonas. Der im Protokoll von Rio de Janeiro festge­legte Grenzverlauf ist zwar eindeutig markiert, bis auf die 80 km, um die es in den derzeitigen Auseinandersetzungen geht. Die eingezeichnete internationale Grenze verläuft aber jenseits des umstrit­tenen Gebiets. Besonders erbost ist man in Ecuador, daß Peru den in Artikel VI des Protokolls garantierten Zugang zum Amazonas die konkrete Ausführung ver­wehrt. “Ecuador ist, war und wird ein Amazonas-Staat sein”, heißt es auf vielen Schulheften direkt unter der ambivalent interpretierbaren Karte. Aus der Entdek­kung des Amazonas 1542 durch Kapitän Francisco de Orellana leitet die ecuato­rianische Geschichtsschreibung einen zu­sätzlichen Anspruch auf den Amazonas­zugang ab: “Den Titel des ersten Entdek­kers des Amazonas konnte Ecuador bis heute niemand streitig machen.”
Ecuador distanzierte sich 1960 von dem Vertrag, seither bestand ein mehr oder weniger friedlicher Status Quo. Daß die­ses Thema jedoch nichts an seiner Aktua­lität verloren hat, war bereits vor Aus­bruch des Krieges mit Peru deutlich. Der 1988-92 amtierende sozialdemokratische Präsident Rodrígo Borja setzte den Grenzkonflikt wieder ganz oben auf die Tagesordnung. Man wolle endlich eine dauerhafte und friedliche Lösung, signali­sierte er nach Lima. Fujimori kam dreimal nach Quito, um dieses heikle Thema an­zugehen. Aber der geplante Gegenbesuch Durán Balléns in Lima löste eine so kon­troverse Diskussion im Kongreß und in der Öffentlichkeit aus, daß der Besuch zweimal verschoben wurde und schließ­lich ganz vom Tisch war. Besonders sei­tens des Militärs und allen voran bei Ver­teidigungsminister José Gallardo herrschte die Meinung vor, Sixto würde durch einen Gegenbesuch in Lima bereits klein beigeben.
Rückendeckung für Durán Ballén
In dem Konflikt mit Peru war für Ecua­dors Präsidenten nicht vorauszusehen, daß er die Bevölkerung, die in allen Teilen des Landes zum Streik gegen ihn rüstete, und den Kongreß, der ihn mit Ablaufen des Ultimatums zur Ver­fassungsänderung gerade erneut auflaufen lassen hatte, auf seiner Seite haben würde. Und: Sixto ist alles andere als ein Drauf­gänger. Das von der Opposition gezeich­nete Bild eines gutmütigen Greises, der nicht mit­be­kommt, was um ihn herum vorgeht, hat sich schon mehrmals bestä­tigt. Sixto hat im übrigen seine erneute Kandidatur für die 1996 anstehenden Wahlen bereits dementiert, über eine Wiederwahl macht sich der 80jährige keinerlei Illusionen. Bei diesem so bri­santen Thema des Grenz­konflikts in der Öffentlichkeit als Ver­lierer zu erscheinen, sei es auch nur durch zu schnelles Einlen­ken, wäre politischer Selbstmord gewesen. Den Zu­spruch an­de­rer Staaten zu bekom­men scheint genauso un­wahrscheinlich wie dem bis an die Zähne bewaffneten Peru auch nur einen Quadratmeter Land zu entreißen. Außer­dem hätte es wahrhaf­tig bessere Zeit­punkte gegeben, den bis vor kurzer Zeit von einem internen Krieg aus­gelaugten Nach­barn anzugreifen.
Viel eher erschien Sixto Durán Ballén bemüht, den Konflikt mit dem Nachbarn so schnell wie möglich beizule­gen, ohne jedoch das Gesicht zu verlieren.
Das Militär in neuem Glanz
Anders hingegen das Militär, das seine Position behauptet und seine Daseinsbe­rechtigung erneuert hat. Das Feindbild Peru erstrahlte in neuem Glanz. Ecuador sah sich eindeutig in der Rolle des un­schuldigen Opfers innenpolitischer Span­nungen in Peru, nämlich der anstehenden Wahlen und Fujimoris eigenen “Grenz­strei­tigkeiten” mit Ex-Frau Susana. Fah­nen wurden geschwenkt, Bilder von Mäd­chen in knappen Röckchen, die den Soldaten an der Front zujubelten. Gegen­stimmen hatten in diesem Aufschrei des Patriotismus keine Chance. Eine kurzfri­stig angesetzte zusätzliche Kriegssteuer wurde sofort verabschiedet und so der im Haushaltsentwurf angesetzte Etat für das Militär entscheidend aufgebessert.
Mit der am 17. Februar in der brasilia­nischen Hauptstadt Brasilia unterzeichne­ten beiderseitigen Friedenserklärung schie­nen die konkreten Auseinanderset­zungen vorerst ein Ende zu haben. Jedoch bereits nach wenigen Tagen flammten die Feindseligkeiten und gegenseitigen Be­schuldigungen wieder auf, nachdem der Generalstab die vom ecuatorianischen Unterhändler unterzeichnete Waffenstill­standserklärung kurzerhand ablehnte. Die vier Vermittlerstaaten Argentinien, Brasi­lien, Chile und die USA, unter deren Mit­wirkung auch das 1942 unterzeichnete Protokoll zustande kam, stoppten vorerst die geplante Beobachtertruppe, die die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone in dem fraglichen Grenzabschnitt erwir­ken sollte. Die Organisation Amerikani­scher Staaten OAS erwägt inzwischen wirtschaftliche Sanktionen gegen die kriegsführenden Parteien, die Situation er­zeugt zunehmend Nervosität unter den anderen Staaten des Kontinents.

“Kopfjäger” in kopflosen Zeiten

“Ecuador, das sind wir alle.” Solche und ähnliche Parolen ließen während der Auseinandersetzungen im ecuatorianisch-peruanischen Grenzgebiet an der Sierra del Condor für kurze Zeit alle sozialen und vor allem rassistische Vorurteile ver­gessen. Der multi-ethnische Staat sorgte wie nie zuvor für Diskussionsstoff in der ecuatorianischen Öffentlichkeit. Im Zen­trum des neu erwachten Nationalbewußt­seins als Inkarnation des Widerstands ste­hen die Shuar. Zwar zahlenmäßig und waffentechnisch weit unterlegen, aber durch Geschick und zähes Beharren in der Lage, dem großen Nachbarn Paroli zu bieten. Kurz: eine Wohltat für das zerrüt­tete ecuatorianische Nationalbewußtsein und Anlaß zur Wiederbelebung eines Mythos’ mit Tradition.
Die Shuar gehören wie auch die Achuar und die auf peruanischer Seite lebenden Awajun (oder Aguaruna) und die Wampis zu der Sprachfamilie der Jivaros. Sie le­ben im Südosten des Oriente, der ecuato­rianischen Amazonasregion zwischen dem Rio Pastaza und der Andenkordillere. Trotz jahrhunderterlanger hartnäckiger “Zivilisierungsbemühungen” halten die Shuar heute noch immer an ihren ur­sprünglichen Traditionen fest. Durch das Protokoll von Rio de Janeiro wurden sie 1942 in zwei Teile gespalten.
Im nationalen Bewußtsein Ecuadors sind die Shuar eine Art Legende, die zwi­schen Bewunderung und Abscheu pendelt und die nicht zuletzt durch den Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichten Roman “Cumandá” des erklärten Natio­nal­schriftstellers Juan León Mera am Le­ben gehalten wird. In dieser Pflichtlektüre für alle Schulkinder werden die Jivaros als unerbittliche und grausame Krieger darge­stellt, für die nur Rache und Ehre von Be­deutung sind. Der weise aber letztendlich “wilde” und ungläubige Häuptling Ya­huarmaqui (zu deutsch: Bluthand) soll mit der schönen und erstaunlich zivili­sierten Cumandá verheiratet werden. Sie ist die Tochter des Kaziken eines verfein­deten Stammes und wäre somit ein Frie­denspfand. Cumandá möchte aber viel lie­ber den streng gläubigen und verträumten Carlos heiraten, den Sohn des katholi­schen Missionars. Die Sympathien werden also klar vorgegeben, und nach einer lan­gen Odyssee durch den Oriente und vieler Dialoge zwischen Herzschmerz und Tra­gik wird deutlich, daß die Weißen die Guten sind und die “Wilden” die Bösen.
“Shuar” bedeutet “Menschen”
Die 1964 ins Leben gerufene Interes­senvertretung der Shuar ist der CONAIE, der Konföderation der indige­nen Nationa­litäten Ecuadors, ange­schlos­sen. Sie ging offensiv gegen die Bezeich­nung “Jivaro” an, die im ecua­to­rianischen Sprach­gebrauch eine ein­deu­tig abwer­tende Kon­notation hat. Sie selbst be­zeich­nen sich als “Shuar”, was in ihrer Spra­che “Menschen” bedeutet.
Die CONAIE schätzt die Zahl der Shuar auf etwa 40.000 und die der Achuar auf rund 2400. Sie fordert seit Jahren, die Region um die Sierra del Condor einer Selbstver­waltung der Shuar zu unter­stel­len und zu entmilitarisieren.
Seit den 40er Jahren verfolgt die Regie­rung eine aggressive Kolonisierungspoli­tik im Gebiet entlang des Rio Zamora. Sie vergibt Kredite und verkauft abschnitt­weise Land für die Viehzucht, ohne sich um Gewohnheiten und Ansprüche der dort le­benden Shuar zu kümmern. Zwar wer­den in dieser Region reiche Gold- und Öl­vorkommen vermutet, aber in erster Linie soll eine Infrastruktur für Siedler und Mi­li­tärposten geschaffen werden.
Die Shuar leben traditionell in einem erweiterten Familienverband, in dem die Ehe­frauen meist Schwestern sind. Sie zo­gen in einem etwa 10-jährigen Zyklus zu verschiedenen Gebieten im Regenwald, wo sie sich für einige Zeit niederließen, ohne anderen Familienverbänden ins Ge­hege zu kommen. Durch diese ursprüng­lich nomadische Lebensform hatten die Shuar der gezielten Invasion seitens der Re­gierung nichts entgegenzusetzen und lange Zeit auch auf gesetzlicher Ebene nicht die geringste Möglichkeit, ihre ter­ritorialen Ansprüche geltend zu machen.
Die sagenumwobenen Schrumpfköpfe werden heute nur noch aus bestimmten Affenschädeln hergestellt, die kultische Bedeutung der Tsantsa, wie das Ritual der Herstellung der Köpfe genannt wird, ist je­doch nach wie vor sehr groß. Als exo­tisch-makabere Mitbringsel grinsen Schrumpf­kopfimitate in Quito von den Regalen jedes zweiten Souvenirladens.
Mittlerweile nimmt die Viehzucht ne­ben der traditionellen Jagd und dem Fisch­fang bei den Shuar eine wichtige Rolle ein. Viele von ihnen leben heute in Sied­lungen und kooperieren mit den dortigen SiedlerInnen vor allem bei der Goldsuche. Die vermuteten Goldvorkommen werden bislang ausschließlich von ecuatoriani­scher Seite erschlossen, allerdings nur in sehr geringem Maße.
Im Brennpunkt
Der inzwischen wieder aufgeflammte Konflikt um die Sierra del Condor zwi­schen Ecuador und Peru hat die Shuar und die BewohnerInnen der vereinzelten Siedlungen zwar schlagartig in die Mitte des nationalen Interesses katapultiert, aber Solidaritätsbekundungen aus der weit ent­fernten Hauptstadt nützen wenig, wenn die eigene Haut und eventuell auch noch ein wenig Hab’ und Gut in Sicherheit ge­bracht werden sollen. Die meisten Frauen und Kinder flüchteten aus dem Kriegsge­biet in größere Dörfer am Rande der Kor­dillere. Die nicht an den Scharmützel be­teiligten Shuar zogen sich tiefer in den Regenwald zurück. Langsam kehren die BewohnerInnen. Sie sind die eigentlichen Leidtra­genden dieses Krieges. Die Interessenver­tretung der Shuar wandte sich mittels der CONAIE mit einem Pro­testschreiben und gleichzeitigem Spen­denaufruf an die Weltöffentlichkeit, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen.
Einige der ecuatorianischen Shuar mel­deten sich freiwillig zur Unterstützung des Militärs. Ihre genaue Kenntnis der Region war von entscheidendem Vorteil für die EcuatorianerInnen gegenüber dem schwe­ren, aber in diesem Gelände unbrauch­barem Militärgerät der Peruaner. Der As­similierungsprozeß scheint Früchte zu tra­gen, stolz verkündete ein Shuar, bis ans Ende für sein Vaterland zu kämpfen. Zu den jenseits der Grenze lebenden peruani­schen Shuar besteht nur noch wenig Kon­takt. Hin und wieder mal ein Besuch, aber die politische Narbe hat auch in den Köp­fen des früher zusammengehörigen Volks eine Bresche geschlagen. Die weitver­breitete Ansicht, die peruanischen Shuar seien zwangsrekrutiert worden und dien­ten nur als Kanonenfutter, paßt in das von der ecuatorianischen Presse verbrei­tete Feindbild.
Die ecuatorianische Bevölkerung beju­belte die Unterstützung durch die Shuar als Wendepunkt und neue Hoffnung. Die Presse berichtete vom Stützpunkt D561 am Rio Santiago, in dem sich neben Sol­daten von der Küste, dem Hochland und der hauptsächlich von Farbigen bewohn­ten nördlichen Provinz Esmeraldas nun auch Shuar in ecuatorianischer Uniform tummelten, um in Eintracht und voller Begeisterung dem Feind standzuhalten.
Remigio Cayap, ein 19-jähriger Shuar, wird in seinem – gebrochenem – Spanisch zitiert: “Ich bin in einem Gefecht noch nie zurückgewichen, ich gehe nur vorwärts. Ich kenne den Krieg, und werde an der Seite meiner Brüder kämpfen.”
In der zweiten Woche nach offiziellem Ausbruch des Krieges durch den Abschuß eines peruanischen Hubschraubers, be­suchte die Präsidentengattin Josefina die abgelegenen Stützpunkte, um den Solda­ten Mut zuzusprechen und um die in allen Regionen des Landes als Solidaritätsbe­kundungen gesammelten Medikamente, Le­bens­mittel und Decken zu verteilen. Das Fernsehen übertrug Bilder von verlas­senen Dörfern, von armseligen Behausun­gen und spartanisch eingerichteten Klas­senzimmern, woraufhin die Regierung Verbesserungen der sanitären Einrichtun­gen, Krankenhäuser sowie Gelder für Schulen und bessere Straßen versprach. Doch jetzt, nachdem die Inszenierung ei­ner nationalen Bedrohung durch die am 17. Februar in Brasilia unterzeichnete Friedenserklärung, in der die Schaffung einer entmilitarisierten Zone vorgesehen ist, erst einmal von der Tagesordnung zu sein scheint, und Quito in seine Normali­tät zwischen Parteiintrigen und Korruption zurückkehrt, sind auch die akuten Gründe für bessere Infrastruktur in der Amazonas­region erst einmal wieder vom Tisch.
Elisabeth Schumann

“Digo que estoy “integrado”
porque en este momento
no estoy hablando en lengua shuar,
mi lengua,
sino en la de ustedes que es
el castellano.
los pueblos indios estan integrados
por medio de la lengua.
Nos preguntamos
ソCuando se integran los
hispanohablantes
a la realidad nacional,
hablando nuestras lenguas?”

Ampam Karakras, Shuar, 1984

Ich sage, daß ich “integriert”bin,
weil ich jetzt gerade
nicht in der Sprache der Shuar spreche,
meine Sprache,
sondern in Eurer Sprache,
dem Spanischen.
Die indianischen Völker sind integriert
durch die Sprache.
Wir fragen uns,
wann werden die Spanischsprachigen
sich integrieren
in die nationale Realität,
in dem sie unsere Sprachen sprechen.

Editorial Ausgabe 249 – März 1995

Ein Gast fehlte zur Geburtstagsfeier: Alberto Fujimori, peruanisches Staats­oberhaupt. Am 3. Februar hatten sich die Präsi­denten der Staaten Venezuela, Pa­nama, Kolumbien, Ecuador und Bolivien im ve­nezolanischen Städtchen Cumaná ge­troffen, um des 200. Geburtstags Anto­nio José de Sucres zu gedenken. Sucre war ein Untergebener und enger Ver­trauter Simon Bolívars, des Gran Li­bertador, an dessen Seite er für die Unab­hängigkeit von Spanien und den großen Traum eines vereinten Amerikas kämpfte. Ohne Angabe von Gründen hatte der pe­ruanische Präsident sein Kommen in letzter Minute abgesagt. Da­bei waren die Gründe offensichtlich. Schließlich war nur eine Woche zuvor mit dem Abschuß eines peruanischen Militär­hubschraubers in der Sierra del Condor der Grenzstreit der beiden “Brudervölker” Ecuador und Peru in einen Grenzkrieg umgeschlagen.
Knapp einen Monat zuvor hatten sich die Präsidenten der “Bolívar-Erben” schon einmal in Cumaná, der Geburts­stätte Sucres, getroffen. Es ging um den 1969 ins Leben gerufenen Andenpakt, der wie kaum ein anderer Wirtschaftsverbund der Welt an chronischer Lethargie krankt. Die meisten Planungen wurden wieder ver­worfen oder schlicht nicht umgesetzt. Kaum eine einzige der beschlossenen wirtschaftlichen Kooperationsmaßnahmen wurde in die Tat umgesetzt. Das letzte Treffen hatte 1991 stattgefunden. Danach verabschiedete sich Peru unter Berufung auf interne Schwierigkeiten zunächst ein­mal von den Andenpaktverhandlungen. Jetzt, vier Jahre später, wagt man einen erneuten Anlauf. Doch die Begeisterung hält sich in Grenzen. Kolumbien und Ve­nezuela schielen gen Norden nach Me­xiko, Peru hält sich zurück und Bolivien entdeckt seine Sympathie für den Mer­cosur.
Die Einheit, von der Bolívar und Sucre geträumt hatten, ist damit so weit entfernt wie nie zuvor. Zumal Peru und Ecuador bei genauerem Hinsehen nicht die einzi­gen Staaten der Region sind, in denen unterschwellig alte Gebietsansprüche be­stehen, die früher oder später zu einem ähnlichen Grenzkonflikt eskalieren könn­ten. Bolivien träumt vom erneuten Zugang zum Pazifik, Peru von Wüstengebieten im heutigen Chile, usw. Weit entfernt sind die betroffenen Länder von der Einheit, die Bolívar als Ideal entworfen hatte. Einer Einheit, die auch da­mals mit der Realität wenig gemein hatte. So wurde schon Sucre, den Ecuador als eigenen National­held beansprucht, da er die meiste Zeit seines Lebens in der Hauptstadt Quito verbrachte, von den ei­genen Leuten ver­raten, als er in Peru ge­gen den gemein­samen Feind Spanien kämpfte.
Heute ist die Unabhängigkeit Perus und Ecuadors erneut gefährdet. Die Be­dro­hung kommt aus den Zentralen der Welt­bank und des Internationalen Wäh­rungs­fonds, von wo aus immer neue Struk­tu­ranpassungen zu Lasten der Be­völke­rungsmehrheit verordnet werden. Die Re­gie­rungen verkommen auf diese Weise zu bloßen Ausführungsorganen. Um ihre ei­gene Machtlosigkeit zu kaschieren, set­zen die herrschenden Politiker und Mili­tärs auf Nationalismus und beschwören die in­nere Einheit durch chauvinistische Parolen.
So ging es dem peruanischen Schrift­steller und früherem Präsidentschafts­kandidaten Mario Vargas Llosa an den Kragen, der als einer der wenigen In­tellek­tuellen seines Landes das Blut­vergießen verurteilte: Er wurde als “vater­landsloser Verräter” gebrandmarkt und aus dem na­tionalen Schriftstellerver­band aus­ge­schlossen. Im Säbelgerassel der letzten Wochen wurden vernünftige Stim­men leicht über­hört. So etwa, als Ge­werk­schaftsführer beider Länder den Krieg kri­ti­sierten und darauf hinwiesen, daß Hunger und Elend der eigentliche Feind seien, den es zu be­kämpfen gilt.

Tierra: Umwelt und Mitwelt indigener Völker

Auf der zweiten Weltkonferenz für Menschenrechte, die im Juni 1993 in Wien stattfand, wurden wichtige Ver­pflichtungen für die Vereinten Natio­nen vereinbart: eine Dekade für Indi­ge­ne Völ­ker zu starten und ein vor­aus­sichtlich permanentes Forum ein­zu­richten. Parallel dazu veranstaltete das öster­reichische La­teinamerika-In­stitut ein Symposium zu der Frage nach den Rech­ten indigener Völker, um einen Dialog zwischen Wissen­schaft­lerInnen, indi­genen VertreterIn­nen und Expert­Innen aus Entwick­lungsprojekten zu er­möglichen. In 14 Beiträgen dieses Bu­ches werden die Er­gebnisse dieses Treffens dargestellt.
Der Titel des Sammelbandes greift die zentrale Frage der internationalen Aus­einandersetzung um die Rechte der indi­genen Völker auf. “Tierra”: For­derung nach Land. Tierra, wird uns im Vor­wort erklärt, sei die “Lebens­grundlage eines je­den indiani­schen Vol­kes”, und entspre­chend sei die Forderung nach einer lega­len Basis für territoriale Ansprüche und politi­sche Auto­nomie eng mit der Ökolo­gie und den indigenen Land- und Nut­zungs­rechten verbunden.
Reale und formelle Politik
Seitdem die UNO 1982 die “Arbeitsgruppe für Indigene Völker” ein­setzte, gibt es formelle und regel­mäßige Kontakte mit VertreterInnen indigener Völker. Die Aufgabe dieser UN-Gruppe ist es, wie es im Beitrag von Julian Burger erklärt wird, “Entwicklungen, die die in­digenen Völ­ker beeinträchtigen, zu beob­achten und Standards für den Schutz ihrer Rechte auszuarbeiten”. Wie die Um­setz­ung dieser Standards auf interna­tionaler Ebene vorangeht, zeigt die Tat­sache, daß der Deklarationsentwurf der UN über die Rechte der indigenen Völ­ker, erst im Fe­bruar 1995, zwei Jahre nach seiner Verab­schiedung, von der Menschenrechtskom­mission der UN angenommen wird. Ob diese De­klaration auf die verschiedenen Re­gierungen einwirken wird bleibt noch abzuwarten.
Der tägliche Kampf der indigenen Völ­ker wird in den Beiträgen der Ex­pert­Innen aus Entwicklungsprojekten dar­gestellt. Berichte über Venezuela und Ecuador zeigen, wie die rechtliche Stellung ihrer Reservate den Indígenas keinen Schutz vor der Ausplünderung ihrer Boden­schätze seitens des Staates gibt. Durch die Militarisierung der Zone und die Zerstö­rung ihrer Le­bens­grundlage sind sie stark bedroht. Andere Beispiele dagegen zei­gen, wie in Guatemala und Brasilien sich die Indígenas gegen die Interessen des Staates wehren. In Guatemala erobern die Kekchí-Indianer die Region Petén mit Bauernsiedlungen, in denen ihre tradi­tionellen Strukturen und ihre Identität auf­rechterhalten werden. In Brasilien ist das Gebiet der Zuflüsse des oberen Rio Negro eine der weni­gen Regionen des Ama­zonasbeckens, in dem seit Jahrhunderten verschie­dene indianische Völker nahezu die ein­zigen ständigen BewohnerInnen sind. Wie die 19 Volksgruppen dieses Ge­biets zusammenleben und ihre kul­tu­relle Vielfalt aufrechterhalten, könnte ein Vor­bild für andere Gesellschaften werden…
Menschenrechte und Indianität
Ethnische Rechte der indigenen Völ­ker als speziell begründeter Anspruch inner­halb der Menschenrechte zu be­trachten, erfordert eine Definition der Indianität. Bei Rodolfo Stavenhagen wer­den die konzeptuellen Problem­fel­der, die dadurch entstehen, benannt: Individuelle und kol­lektive Rechte, ethnische Minderheiten und indigene Völ­ker auf der ganzen Welt. Als Ge­gengewicht steht der Beitrag von Leo Gabriel über die “Indianisierung” der Volksbewegungen in Lateinamerika. Er vertritt die These, daß durch die neu­en Transformationsprozesse in diesem Kon­tinent Begriffe wie Ethnie, Rasse und Klasse nicht mehr gültig sind. Als Folge der neoliberalen Wirt­schaftspolitik orga­nisiert sich die Zivil­gesellschaft in Volks­organisationen, um die Armut zu bekämp­fen. Darin ist die indianische Identität der gemeinsame Nen­ner, unter dem sich auch Mestizen und andere benachteiligte Grup­pen finden.
Natur als Mit- und Umwelt
Aus ökologischer Sicht zeigen die Be­richte der Experten über die indige­nen Auseinandersetzungen mit dem Staat eine alternative Lebensweise, in der die Natur als Mit- und Umwelt erlebt wird. Es ist beeindruckend zu er­fahren, wie in den zwei Vorträgen, die von Indianer-Vertre­tern in Wien gehalten wurden, der Kampf um die Um­welt gleichgesetzt wird mit dem Kampf um das eigene Leben. Dieses Natur­konzept ist Gegenstand der Menschen­rechtsdiskussion, weil es ein anderes Rechtsverständnis darstellt als das von Europa in die Kolonien über­tra­gene und heute international gültige. Eine Al­ternative zu diesem juristischen Problem wird von Wolfgang Dietrich analysiert, sowie im Beitrag von Otmar Höll, in dem die juristischen Hinder­nisse zu einer nachhaltigen Entwick­lung gezeigt werden.
Ob die Internationale Dekade der Indi­genen Völker, die im Dezember 1994 be­gonnen hat, dazu beitragen wird, die Lage der Indígenas zu ver­bessern, bleibt noch offen. Was der Sammelband zeigt, ist die Vielschich­tigkeit eines Problems, das durch den europäischen Kolonialismus vor 500 Jahren in den Trikont-Ländern in Gang gesetzt wurde.

Tierra: Indigene Völker, Umwelt und Recht./ Doris Cech u.a., Frankfurt a.M. 1994,. ISBN 3-86099-131-0 (Brandes und Apsel), 180S.,ca 28DM.-

Zwischen Privatisierung und Korruption

In der Tat hat die seit 1992 amtierende Regierung ihr Modernisierungsvorhaben mit zahlreichen Privatisierungen deutlich unter Beweis gestellt. Mit der Modernisie­rung sollen in Ecuador die Marktkräfte gestärkt werden, um das Land auf die glo­balen Veränderungen vorzubereiten und die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern.
In Wirklichkeit handelt es sich hierbei nicht gerade um eine neue Strategie, wird doch lediglich der bereits 1982 initierte und seitdem von den nachfolgenden Re­gierungen praktizierte neoliberale Kurs beschleunigt und vertieft. Eine Verdopp­lung der Auslandsschulden von 6,6 Milli­arden auf 12,9 Milliarden US-Dollar und ein den Verfall der Währung ausdrücken­der Anstieg des Wechselkurses von 49,8 auf 2118 Sucres pro US-Dollar sind die vorläufigen Ergebnisse der zweijährigen Regierungszeit.
Der Maßnahmenkatalog der ecuatoriani­schen Regierung, der 1994 vom Interna­tionalen Währungsfonds (IWF) gebilligt wurde, betont die Notwendigkeit, Staats­vermögen in private Hände zu überführen und stellt die Inflationsbekämpfung als Sozialpolitik dar – obwohl der Regierung gerade in dieser Hinsicht jegliche Per­spektive fehlt. So soll die Inflationsrate, die Anfang 1992 bei 56 Prozent pro Jahr lag, bis Ende 1994 auf 20 Prozent pro Jahr gesenkt werden. Sind diese Ziele erst einmal erreicht, bleibt die Hoffnung auf ausländische Investitionen, die dem wirt­schaftlichen Wachstum den entscheiden­den Impuls geben sollen.
Im Bemühen um höhere Steuereinnahmen und größere Liquidität zur Tilgung der Auslandsschulden bediente sich die Re­gierung eines komplizierten Systems stei­gender Kraftstoffpreise. In diesem System sind drei Elemente vereinigt: der Preis von auf Erdöl basierenden Produkten, der Preis des ecuatorianischen Rohöls auf dem Weltmarkt und der Wechselkurs zum US-Dollar. Im Falle, daß die ersten beiden steigen, bezahlt der ecuatorianische Kon­sument weniger, aber sollten sie fallen, trägt die Bevölkerung die Kosten. In die­sem Zusammenhang sei darauf hingewie­sen, daß der Preis für Benzin seit 1992 um 432 Prozent angestiegen ist, womit er noch über den Preisen auf dem nordame­rikanischen Markt liegt.
Der propagierte Modernisierungsprozeß zeichnete sich von Anfang an durch eine Reihe von Unschlüssigkeiten, Verzöge­rungen und Widersprüchlichkeiten seitens der Regierung aus. Dies hatte im ersten Jahr nach ihrem Amtsantritt den Konkurs einiger staatlicher und für die Privatisie­rung vorgesehener Betriebe zur Folge. Im zweiten Jahr kam der Prozeß besser in Gang, wurde aber von mehreren Korrupti­onsanschuldigungen sowie fragwürdiger Verwendung der Privatisierungserlöse stark beeinträchtigt.
Geprägt waren die letzten zwei Jahre von Mißtrauen, dem Fehlen einer einheitlichen Führung, der institutionellen Schwäche und der Unfähigkeit der Regierung breite gesellschaftliche Bündnisse einzugehen. Die zunehmende Verarmung großer Teile der Bevölkerung, steigende Arbeitslosig­keit und die Kürzung der Sozialausgaben fügen sich in dieses Panorama ebenso ein, wie die Nichtexistenz einer Sozialpolitik, die die Auswirkungen der neoliberalen Politik mildern könnte.
Modernisierung oder Fetischismus?
Das Projekt der Modernisierung des Staates, versuchte die Regierung den EcuatorianerInnen mittels einer geschickt aufgezogenen propagandistischen Kam­pagne zu verkaufen. Staatliche Institutio­nen wurden verleumdet und die Vortreff­lichkeit von Privatbetrieben gepriesen. Sehr bald bildete sich jedoch in den unter­schiedlichsten Bereichen eine Opposition. Besonders die extreme Vereinfachung des Privatisierungsansatzes wurde kritisiert. Tatsächlich weist das Gesamtprojekt starke Mängel in der Finanzierung auf.
Die Erfahrungen anderer lateinamerikani­scher Länder mit Privatisierungen erlau­ben die Prognose, daß es besonders in drei Bereichen zu Problemen kommen wird: Bei der angemessenen Wertbestimmung des zu privatisierenden Bestands, bei der transparenten Gestaltung des Privatisie­rungsprozesses und bei der konkreten Verwendung der Privatisierungserlöse. Im Fall von Ecuador ist keines dieser drei Probleme gelöst worden. Ganz im Ge­genteil.
Die Zuckerfabrik AZTRA ist einer der bekanntesten Fälle. Sie wurde zu einem symbolischen Preis von 100.000 US-Dol­lar verkauft, nachdem anfangs zwischen 40 und 50 Millionen US-Dollar geboten worden waren. Um Einzelinteressen ent­gegenzukommen, wurde eine Krise mani­pulativ erzeugt, lauten diverse Anschuldigungen. Auch der Verkauf der Zementfabrik “Selva Alegre” paßt in die­ses Bild, bei dem der Staat laut Aussagen von Spezialisten ungefähr 30 Millionen US-Dollar verloren hat.
Ein weiterer Skandal erschütterte das Vertrauen in den Präsidenten auf breiter Ebene. So wurde enthüllt, daß die Regie­rung sich mittels des Finanzministeriums heimlich hunderte Millionen von Sucres von den Konten öffentlicher und staatli­cher Banken, sowie von halbstaatlichen Unternehmen angeeignet hat. Zu letzteren zählt auch die Corporación Financiera Nacional, die die Betriebe AZTRA und Cemento Selva Alegre verkauft hat. An­scheinend hat die Regierung das Geld verwendet, um den Schuldendienst zu lei­sten und damit den vierteljährlichen Überprüfungen des IWF standzuhalten. In jedem Fall ist der Verbleib der Privatisi­erungserlöse bis zum heutigen Tag von keiner einzigen Behörde offengelegt wor­den.
Obwohl der Direktor des Nationalen Rats für Modernisierung (CONAM) die Berei­che Sozialversicherung, die Telekommu­nikation, die Seehäfen, die standesamtli­che Registration, die Flughäfen und Zölle zu den Bereichen äußerster Priorität in seinem weiteren Vorgehen erklärt hat, liegt dem IWF eine Absichtserklärung vor, die Wasserkraftwerke, Telekommu­nikation, elektrische Energie und die So­zialversicherung als Hauptobjekte für mögliche Privatisierungen definiert. Das würde die Privatisierung strategisch wich­tiger Sektoren der ecuatorianischen Öko­nomie bedeuten.
Was die Verringerung der Staatsquote an­geht, so konzentriert sich die Regierung auf den Abbau von Stellen im öffentlichen Sektor. Bis zum August dieses Jahres wurden 30.000 Stellen abgebaut. Anstelle von Kündigungen ist die Politik der er­kauften “freiwilligen” Rücktritte vom Ar­beitsplatz eine weitverbreitete Praxis.
Unterdrückung der Ökonomie?
Nach Auffassung vieler Sozialwissen­schaftler ist die derzeitige Modernisierung in Wahrheit nichts anderes als eine “modernisierte Unterdrückung der Öko­nomie”, da durch die Politik der derzeiti­gen Regierung die Primärgüterproduktion, insbesondere die Landwirtschaft und die Agroindustrie begünstigt wird. Die Manu­fakturbetriebe, plötzlich mit dem Wegfall der aus vorangehenden Dekaden ge­wohnten Anreize und Schutzzölle kon­frontiert, sahen sich gezwungen, ihre Pro­duktion einzuschränken und/oder umzu­stellen. Das einzig Moderne an der der­zeitigen Situation ist der juristische und institutionelle Rahmen, sowie das Auf­kommen von neuen landwirtschaftlichen Exportprodukten wie Blumen, Pflanzen und tropischen Früchten.
Alltägliche Korruption
Korruption ist in Ecuador nicht nur eine hin und wieder auftauchende Rander­scheinug, sondern eine strukturelle Reali­tät. In dieser Amtszeit erreichte sie ein be­sonders starkes Außmaß. Das von der Op­position immer wieder aufgebrachte Bild des Präsidenten Sixto Durán Ballén als wehrloser, alter Greis mit guten Absich­ten, der keinerlei Ahnung davon hat, was um ihn herum passiert, kommt der Reali­tät tatsächlich sehr nah. So blüht um ihn herum die Korruption, angefangen in sei­ner eigenen Familie.
Die Beschuldigungen eines sozialdemo­kratischen Abgeordneten im letzten Au­gust, daß die Nichte des Präsidenten in einen Bestechungsgelderskandal verwik­kelt sei, stellt dabei den Höhepunkt dar. Sixto protestierte entschieden und forderte eine sofortige Untersuchung der Angele­genheit bis zur letzten Konsequenz, damit sein Ruf und der seiner Familie gewahrt bleibe. Die Anschuldigungen erwiesen sich als gerechtfertigt. Seine Nichte hatte bewirkt, daß dem Unternehmen “Flores y Miel” seitens der Corporación Financiera Nacional (CFN) ein Kredit von 800.000 US-Dollar gewährt wurde. Und dies, ob­wohl “Flores y Miel” die Kriterien für einen Kredit nicht erfüllte und bereits Schulden bei privaten Banken hatte. Wäh­rend der endgültigen Enthüllung aller die­ser Verstrickungen befanden sich die Hauptpersonen dieser Affäre – die Nichte des Präsidenten, die Nutznießer des Kre­dits und der Vorsitzende der CFN – in Miami, um sich vom Streß dieser ganzen unbegründeten Anschuldigungen und an­derer Wehwehchen zu erholen.
Die Policía Nacional, ebenfalls von Kor­ruptionsvorwürfen stark bedrängt, mußte im Juli ihre gesamte Führungsspitze neu konstituieren, nachdem sieben ihrer Ge­neräle wegen illegaler Bereicherung aus­geschieden waren. Die Hauptanklage richtete sich gegen den Exkommandanten Guido Nuñez. Die Anklage offenbarte die Ausmaße der existierenden Korruption und war der Ausgangspunkt weiterer Nachforschungen, ohne daß es bisher zu konkreten Verurteilungen gekommen ist.
Mit dem Vertrauen der Bevölkerung in die Glaubwürdigkeit der verschiedenen öf­fentlichen Institutionen ist es nun wohl endgültig vorbei. Innerhalb des Polizei­korps kommt es jetzt auch zu ersten Pro­zessen hinsichtlich der Menschenrechts­verletzungen vor einigen Jahren, unter denen der Fall der 1988 verschwundenen Brüder Restrepo besonderes Aufsehen er­regte.

Kasten 1:

Die neun Leben des Präsidenten
Im November 1994 mußte der ecuatorianische Präsident Sixto Durán Ballén, genannt “el viejito” (immerhin schon über achtzig Jahre alt) zweimal innerhalb von zwei Wo­chen sein eigenes Ableben, über das hartnäckige Gerüchte kursierten, dementieren. Der ehemalige Architekt bemerkte dazu nur, er habe offensichtlich die neun Leben ei­ner Katze, und er sei froh, daß ihm auf diese Weise noch sieben Leben blieben…
Nicht gerade zur Stärkung des allgemeinen Respekts gegenüber dem Präsidenten weiß Vizepräsident Dahik, der starke Mann im Hintergrund, seine Position zu nutzen. So hat er auch ein gewisses Talent entwickelt, beim Inkrafttreten neuer von ihm propa­gierter Gesetze im Ausland und damit außerhalb der Schußlinie des Bevölkerungs­protests zu sein. So kommt es inzwischen beispielsweise zu grotesk langen Schlangen an Tankstellen und anderen Panikkäufen, sobald erste Gerüchte einer Staatsreise des Vizepräsidenten in der Luft liegen.
Aber auch andere reisen gerne. Das Magazin Vistazo wählte den Abgeordneten Rubén Vélez der Democrácia Popular zum meistgereisten Parlamentsvertreter des Jahres. Allerdings konnte er seinen Vorsprung gegenüber den Kandidaten aller ande­ren Parteien nur knapp behaupten. Was das konkrete Interesse für ecuatorianische An­gelegenheiten bei Reisen nach zum Beispiel Nordkorea und Kamerun war, bleibt in der Statistik offen.
Elisabeth Schumann

Kasten 2:

Die Farbe unserer Gefängnisse
“Wenigstens lassen sie uns die Farbe unsere Gefängnisse wählen…” steht auf einer Hauswand in der Nähe der Universidad Central in Ouito. Auch wenn die Tageszeitun­gen die Ergebnisse des Ende August durchgeführten Plebiszits euphorisch mit “Ja zum Wechsel” und ähnlichem betitelten, so kommt das Graffiti der in der Bevölkerung vor­herrschenden Meinung wohl näher.
Eine eigentlich überhaupt nicht vorhandene Informationspolitik seitens der Regierung zum Thema Volksabstimmung wirkte Mißtrauen und Nichtbeachtung nicht gerade entgegen. Bei einer Umfrage zwei Wochen vor der Befragung zeigte sich, daß zwar die meisten davon gehört hatten. Was aber genau gefragt werden sollte, war dem Großteil der Bevölkerung völlig unklar. Und immerhin besteht Wahlpflicht. Es schien, daß das an diesem Wahlwochenende verhängte Ausschankverbot mehr Diskussionen verursachte als das Plebiszit selbst.
Nach der Auszählung der sieben zum Teil unklar formulierten Fragen interpretierte die Regierung Durán Ballén diese Folgerungen:
Erstens: Das Volk hat sich klar für eine Reformierung der Konstitution entschlossen. Zweitens: Die Wiederwahl eines Präsidenten wird prinzipiell befürwortet. Bisher be­deutete in Ecuador jede Wahl automatisch einen neuen Präsidenten. Diese Änderung könnte bei den in zwei Jahren anstehenden Wahlen interessante Folgen haben, da sämtliche Präsidenten der letzten Jahrzehnte – angefangen mit Osvaldo Hurtado über León Febres Cordero und Rodrígo Borja bis hin zu Sixto persönlich – theoretisch eine Wiederwahl anstreben könnten. Und drittens können in Zukunft auch Parteilose im politischen Geschehen mitwirken.
So weit, so gut. Böse Stimmen behaupten, die Regierung hätte nun endlich eine kon­krete Aufgabe für die nächsten zwei Jahre: die Auslegung und Wiederneuauslegung der Volksabstimmung…
Elisabeth Schumann

Öko-Zuschüsse als entwicklungspolitische Neuerung

Was ist von der noch relativ jungen GEF zu halten? Handelt es sich tatsächlich nur um ein weiteres Kreditangebot im Menü von IWF und Weltbank, wodurch sich die beiden einen grünen Touch geben können? Oder steckt diesmal vielleicht mehr als nur ein Lippenbekenntnis dahin­ter?
Wie alles anfing
Die GEF wurde 1990 auf Initiative der deutschen und französischen Regierung in erstaunlichem Tempo eingerichtet: bereits 1992 erfolgten die ersten Auszahlungen. Sie hat – trotz des IWF-typischen Begriffs “Fazilität” – nichts mit diesem zu tun; da­für aber ist die Weltbank als Durchfüh­rungsorganisation beteiligt – neben dem Nuten Nations Development Pro­gramme (UNDP) und dem United Nations Environment Programme (UNEP). Diese Konstellation ist grundsätzlich neu, da ge­rade Weltbank und UNDP ansonsten in vielen Bereichen konsequent aneinander vorbeiarbeiten. Zwar sind auch bei der GEF die Aufgaben nach dem üblichen Muster – Weltbank für finanzielle und UNDP für technische Projekte – getrennt, immerhin aber unter einem Dach zusam­mengefaßt. Die UNEP darf in einer Ne­benrolle einen Wis­sen­schaftlichen und Tech­nischen Bei­rat einsetzen, der die Kriterien für die Mit­tel­vergabe er­ar­bei­tet. Diese werden als reine Zu­schüsse, also nicht als Kredite, vergeben.
Da in den meisten Fällen staatliche Orga­nisationen die Empfänger dieser GEF-Zu­schüsse sind, wurde von Anfang an ein Programm für Klein(st)zuschüsse über die UNDP für Projekte auf kommunaler, nichtstaatlicher Ebene als Gegengewicht etabliert. 10-15 Mio. US-Dollar bei Pro­jekten in über 30 Ländern machen aus diesem Programmteil aber höchstens ein Fliegengewicht.
In der Pilotphase wurden insgesamt 750 Mio. US-Dollar für die genannten Berei­che verwendet, davon allein 42 Prozent für die Erhaltung der Artenvielfalt. (Zum Ver­gleich: Die Weltbank zahlt jährlich ca. 20 Mrd. US-Dollar aus.) Dieser Topf ist für Lateinamerika besonders interessant, da aus ihm die meisten Gelder nach Latein­amerika fließen, allen voran nach Mexiko und Brasilien mit jeweils 30 Mio. US-Dollar.
Kritische Stimmen und Reform
Die GEF wurde seit ihrer Einrichtung von vielen Seiten scharf kritisiert, insbeson­dere auch von internationalen Natur­schutzorganisationen, die über die GEF Zuschüsse erhalten. Eine 1993 vom World Wildlife Fonds veröffentlichte Studie von über 100 Nichtregierungsorganisationen (NRO) in Lateinamerika, Afrika und Asien kommt zu den folgenden Ergebnis­sen:
– Die GEF wurde von einigen wenigen Nord-Ländern unter Mißachtung jeglicher Süd-Perspektive (Umweltprobleme durch Armut, Bevölkerungsentwicklung, Ver­schuldung und mangelhaften Zugang zu Ressourcen) gegründet. Mit dem Stichwort “global” versuchen die Länder des Nor­dens in die Politik der Entwicklungsländer hineinzuregieren, wobei sie gleichzeitig von ihrer Verantwortung ablenken wollen.
– Die Weltbank, UNDP und UNEP sind für die GEF-Aufgaben ungeeignet. Die Bank hat bisher grundsätzlich soziale und Umweltaspekte von Projekten beflissent­lich übersehen und ist nicht gerade für Transparenz und demokratische Konsul­tationen bekannt. UNDP und UNEP sind zu bürokratisch, um effektiv arbeiten zu können.
– Die GEF konzentriert sich auf kurzfri­stige Projekte, obwohl gerade der Um­weltbereich langfristige Investitionen und Programme erfordert.
– Der Schwerpunkt der GEF liegt im Be­reich staatlicher Unterstützung und läßt NRO fast überall außen vor.
Zu besonders heftigen Kontroversen hat die Beteiligung der Weltbank an der GEF geführt. Während einige NRO die Beteili­gung der Weltbank an der finanziellen Verwaltung der GEF akzeptieren, bezwei­feln die meisten die allgemeine Kompe­tenz der Bank im Bereich Umwelt. Die Kompetenz einzelner MitarbeiterInnen aus der Weltbank wird hingengen hoch gelobt.
Die Kritik an der GEF hat dazu geführt, daß sie nach der Pilotphase im März 1994 restrukturiert wurde bzw. werden soll. Um den Entwicklungsländern mehr Mitspra­che zu verschaffen, wurde der GEF-Auf­sichtsrat tatsächlich paritätisch besetzt: 16 Sitze gehen an die Entwicklungsländer, 14 an Industrie- und zwei an osteuropäische Transformationsländer. Für die Projekt­durchführung bleiben allerdings weiterhin die drei genannten Organisationen ver­antwortlich, so daß von einer “grund­sätzlichen Reform”, wie es die Ge­ber­län­der gerne darstellen, bisher nicht die Rede sein kann.
Artenvielfalt: wann gibt’s Geld wofür?
Die von der UNEP aufgestellten Vergabe­kriterien für GEF-Zuschüsse sind sehr vage und werden teilweise recht fragwür­dig gehandhabt.
Die GEF finanziert grundsätzlich nur Projekte, bei denen die Kosten für das Land gegenüber dem Nutzen zu hoch sind, als daß das Land das Vorhaben durchführen könnte. Einfaches Beispiel: Der Aufbau eines Nationalparks zum Schutz bedrohter Tierarten wird von der GEF als förderungswürdig eingestuft. Komplizierter wird es, wenn dieser Park für den Tourismus attraktiv sein könnte und das Land dadurch höhere Einnahmen (= höheren Nutzen) besäße. Aufgrund die­ser Annahme finanziert die GEF nur die “Zusatzkosten”, die ihrer Ansicht nach nicht aus nationaler Tasche bezahlt wer­den können. Daraus ergeben sich so ab­surde Situationen wie die in Costa Rica: Durch den vom IWF-Programm aufge­zwungenen Sparkurs mußte Costa Rica zwei Drittel des Personals für die Natio­nalparks entlassen. Dies erschwerte die Erhaltung des erreichten Parkstandards. Überdies sanken die Einnahmen durch den Ökotourismus, da nicht mehr ausrei­chend ReiseführerInnen zur Verfügung standen. Gleichzeitig finanzierte die GEF lediglich zwei Projekte zur “biologischen Forschung und Training des Parkmana­gements”, da potentiell Einnahmen aus dem Ökotourismus vorhanden wären.
Die Vergabe von Geldern richtet sich weiterhin danach, ob das Projekt innovativ ist. Großvaters Lehren über den Umgang mit natürlichen Ressourcen sind nicht ge­fragt: neu ist gleich gut. Daß bei moderner Technologie oftmals die Kostenkontrolle aus den Augen verloren wird, liegt auf der Hand. Viele Pilotprojekte haben sich als so teuer erwiesen, daß sie nach Vergabe der GEF-Gelder nicht weitergeführt, ge­schweige denn auf andere Gebiete über­tragen werden können.
In Lateinamerika werden neben den ge­nannten in Costa Rica, folgende Projekte im Bereich Artenvielfalt gefördert:
Weltbank:
– Bolivien: Stärkung des Schutzzonen-Managements und der nationalen Institu­tionen über bolivianischen Treuhand­fonds. (5 Mio. US-Dollar)
– Brasilien: noch kein Projekt festgelegt. (30 Mio. US-Dollar)
– Ecuador: Schutz der Artenvielfalt durch Stärkung der legalen Rahmenbedingungen und des Parkmanagements. (6 Mio. US-Dollar)
– Mexiko: Unterstützung des Manage­ments von 20 Schutzgebieten. (30 Mio. US-Dollar)
– Peru: Etablierung eines Treuhandfonds für Management, Training, Ausbildung usw. im Bereich Artenschutz. (4 Mio. US-Dollar)
UNDP:
– Amazonasregion: Strategien zur Erhal­tung natürlicher Ressourcen. (5 Mio. US-Dollar)
– Argentinien: Entwicklung eines regio­nalen Managementplans für Patagonien. (3 Mio. US-Dollar)
– Belize: Forschung und Beobachtung so­wie Entwicklung eines Managementplans für das längste Felsenriff Lateinamerikas. (3 Mio. US-Dollar)
– Costa Rica: Finanzierung von biologi­scher Forschung und Training von Park­management (8 Mio. US-Dollar)
– Dominikanische Republik: Protektion von Samana Bay, incl. wissenschaftliche Basisstudien. (3 Mio. US-Dollar)
– Guayana: Programm für nachhaltiges Tropenwaldmanagement. (3 Mio. US-Dollar)
– Kolumbien: Bewahrung der Artenvielfalt im Chocó. (9 Mio. US-Dollar)
– Kuba: Schutz und nachhaltige Entwick­lung des Sabana-Camaguey Archipels. (2 Mio. US-Dollar)
– Uruguay: Schutz der Artenvielfalt in den östlichen Feuchtgebieten. (3 Mio. US-Dollar)

Bemerkenswert ist zunächst einmal die vage Formulierung der meisten Projekte und insbesondere auch der Fall Brasilien. Gerade dieses Beispiel zeigt, daß die Auswahl der Länder und Schutzgebiete eher aus politischen als aus ökologischen Gründen erfolgte.
Die oben genannte Kritik an kurzfristiger Finanzierung gilt auch für die aufgeliste­ten lateinamerikanischen Projekte: sie machen nur Sinn, wenn sie auch nach der GEF-Projektperiode (2-5 Jahre) weiterge­führt werden. Die meisten Länder sind aber zur Zeit nicht in der Lage (oder auch nicht willens), für Projekte zum Schutz der Artenvielfalt Geld bereitzustellen. Ein geplanter Treuhandfonds wie in Peru oder die Unterstützung eines bereits existieren­den wie in Bolivien ist unter diesen Um­ständen besser als stark eingegrenzte Pro­jekte, da hierdurch Zahlungen über einen langen Zeitraum garantiert werden kön­nen. Eine Weiterfinanzierung der meisten anderen Projekte ist unwahrscheinlich, da bei der bisherigen Projektfinanzierung Länder mit großer Artenvielfalt wie Gua­temala, Indien, Madagaskar, Malaysia, Tansania und Zaire ausgelassen wurden, die sich bei einer weiteren Runde stark zu Wort melden werden.
Die Projekte decken zudem sehr unter­schiedliche Ökosysteme ab, vom tropi­schen Regenwald über Meeresbiotope, Feucht- und Trockengebiete. Wenn man sich die zur Verfügung stehenden Gelder ins Gedächtnis ruft und bedenkt, daß mehr oder weniger zu jedem Projekt intensive Studien aufgestellt und ausländische Ex­perten bezahlt werden, dann entsteht der Eindruck, die GEF wolle ihre Vielfalt be­weisen und übernimmt sich ganz ordent­lich. Viele der genannten Projekte wurden unter – politischem – Zeitdruck bereits Ende 1993 eingeführt; Diskussionen und Evaluierungen von unabhängigen Gut­achter oder NRO haben so gut wie gar nicht stattgefunden bzw. wurden mit der Entschuldigung “Mittelabflußdruck” un­terbunden. Die meisten lateinamerikani­schen Projekte fallen in die Kategorie der “wenig beeindruckenden Mittelabfluß­druckprojekte”, allen voran Brasilien und auch Mexiko.
Erstaunlich ist auch die mangelhafte Aufmerksamkeit gegenüber politischen Zwängen. Selbst bestens geplante Projekte können scheitern, wenn Wirtschaftspoli­tik, Handelsabkommen, Strukturanpas­sungsprogramme und Gesetze über Bo­deneigentum einen dauerhaften Schutz der Artenvielfalt behindern. Hinzu kommen noch Entwicklungsprojekte, die den Um­weltschutz konterkarieren und oft von derselben Durchführungsorganisation stammen. Eine Aufstockung der GEF-Gelder, wie sie von allen Seiten berech­tigterweise gefordert wird, wird unter die­sen Umständen keine erhebliche Verbes­serung des Artenschutzes bringen.
Scheitern an alten Strukuren
Nach dem bisher Gesagten verlief die GEF-Pilotphase nicht sehr beeindruckend. Auch in Zukunft wird sich daran nicht viel ändern, da insbesondere die Weltbank an ihrer üblichen Praxis festhalten wird: Auswahl nach politischen Gesichtspunk­ten, fast nur öffentliche Organisationen als Ansprechpartner, mangelnde Flexibilität bei Projektdesign und -durchführung, keine sozioökonomischen Studien, kurze Projektzyklen, Einsatz ausländischer Ex­pertInnen und rein symbolische Beteili­gung der lokalen Bevölkerung. Bei der GEF können diese Probleme allerdings wenigstens abgemildert werden, wenn die beteiligten NRO – und gerade die großen – ihren Einfluß so stark wie möglich geltend machen. Die Weltbank läßt sich sonst normalerweise nicht in die Karten sehen, daher sollte jede Möglichkeit der Einflußnahme ausgenutzt werden. Bei der derzeitigen fi­nanziellen Ausstattung ist die Auswirkung der GEF auf globale Umweltschutzmaßnahmen jedoch nur von marginaler Be­deutung. Die GEF bleibt ein Trostpflaster, das die eigentlichen Ursachen der Um­weltzerstörung nicht angeht.

Alles paletti

Bis zum Vertragsabschluß war es ein weiter Weg: der BGI hatte ein ‘Gütesiegel für kolumbianische Blumen’ schon zum Muttertag 1993 angekün­digt. Allerdings erwiesen sich die weiteren Schritte – allen voran das Einver­ständnis der kolumbiani­schen Exporteure – schwieriger als ge­dacht, so daß noch einige Zeit verging, bis endlich zu­mindest das grundlegende Ver­tragswerk der Öffent­lichkeit vorgestellt werden konnte. Nach den bisherigen in­haltlichen Ausführungen bleibt jedoch Skepsis angebracht, ob sich damit die Verhältnisse auf den Blu­menplantagen tatsächlich verbessern. Die kolumbiani­sche Blumenindustrie, welt­weit zweit­größter Schnitt­blumenexporteur, hat auf­grund der Produktions- und Arbeitsbedin­gungen in ihren Betrieben in den letzten Jahren vor allem in Europa zunehmend Negativschlagzei­len gemacht. Eine allzu kri­tische Presse und Öffent­lichkeit, dazu Debatten bis ins Europaparlament hinein sind nicht gut für einen Bereich, in dem täglich neue Anbieter auf den interna­tionalen Markt drängen.
Alter Hase im Blumengeschäft
Für Kolumbien sind Blumen ein wichtiges Geschäft: schon in den 60er Jahren wur­den die ersten Betriebe in der Hochebene rund um die Hauptstadt Bogotá ge­gründet. Die Sabana de Bo­gotá bot günstigste Voraus­setzungen für den Blumen­anbau, die diesem Wirt­schaftszweig schon bald traumhafte jährliche Zu­wachsraten be­scherten: ein hervorragendes Klima mit hoher Sonneneinstrahlung, fruchtbarer Boden zu gün­stigen Preisen, ausreichend Wasser, eine gute und schnelle Anbindung an den Flughafen von Bogotá, nur wenige Stunden entfernt vom Importmarkt der USA, Miami. Und nicht zuletzt gab es ausreichend billige Arbeits­kräfte, deren Entlohnung um ein vielfaches niedriger lag als in den industrialisierten Ländern: Betrug der durch­schnittliche Tageslohn im landwirtschaftlichen Bereich der USA 1966 18 US-Dollar und 1970 21,25 US-Dollar, waren es in Kolumbien gleichblei­bend nur ganze 82 Cent, die ein/e Blumenar­beiterIn im Durchschnitt pro Tag verdiente.
Heute sind Blumen das drittwichtigste landwirt­schaftliche Exportprodukt Kolum­biens nach Kaffee und Bananen, mit dem immerhin noch 4 – 5 Prozent des Ge­samt­exportvolumens des Landes erwirtschaftet wer­den. Im letzten Jahr wurden über 130.000 Tonnen Blumen im Gesamtwert von über 380 Millionen US-Dollar expor­tiert. Etwa drei Viertel des Exports gehen in die USA, jedoch kommt auch den Märkten Westeuropas eine wichtige Rolle bei der Ver­marktung inmitten einer im­mer größer werdenden Kon­kurrenz von ande­ren ‘Drittweltlän­dern’ zu.
Steigender Konkurrenzdruck – Suche nach der Nische
Trotz Wirtschaftskrise und Rezession sind die hiesigen Märkte noch ausbaufähig, und Blumen werden immer gekauft. Spitzen­reiter im Konsum ist die Bundesrepu­blik, in die Kolumbien bisher nur etwa ein Viertel seiner EU-Exporte liefert. Das ent­spricht jedoch nur zwei Prozent des jährlichen deut­schen Blumen­umsatzes. Mög­lich ist da noch viel: nir­gends sonst wird pro Kopf so viel Geld für Blumen ausgegeben wie in Deutsch­land, dem weltweit größten Importmarkt für Schnittblu­men mit einem Jahresumsatz von 8 Milliarden Mark. Etwa 80 Prozent der Blumen sind Importware. Diese wird zwar zum größten Teil aus Holland eingeführt, aber es bleibt immer noch ge­nügend Spiel für Zuwachsraten anderer Produzentenländer wie etwa Kolumbien. Zudem ist der Export nach Europa vor al­lem im hiesigen kalten Winter ein wichti­ges Geschäft, wenn auch die beste Heiz­anlage in niederländischen Gewächshäu­sern nicht mehr das rechte Resultat bringt und umsatz­starke Feiertage wie Weih­nachten, Silvester, Valen­tins- und Mut­tertag ins Haus stehen.
Auch die anderen westeuro­päischen Län­der sind wich­tige Exportmärkte: In den englischen Handel geht etwa die Hälfte der EU-Trans­porte, den Rest teilen sich die übrigen Mitgliedsländer. Nimmt man die Fast- und -Im­mer-noch-nicht-EU-Staaten Norwegen, Schweden, Öster­reich oder die Schweiz hinzu, werden insgesamt etwa 20 Prozent der gesamten ko­lumbianischen Blumenproduk­tion in die EU impor­tiert. Zudem können Blumen seit dem 1990 im Rahmen der ‘internationalen Drogenbekämpfung’ geschlos­senen Zoll­präferenzabkommen mit den Andenlän­dern (Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Peru) zollfrei in die EU einge­führt wer­den. Die Ver­längerung dieses bis Ende 1994 befristeten Abkommens um weitere 10 Jahre wird gerade in den Gre­mien der Europäischen Union innerhalb des Allge­meinen Zollpräfe­renzsystems diskutiert.
Blühende Landschaften – ausgelaugte Menschen
Gerade in Westeuropa je­doch, und hier vor allem in der Bundesrepublik, Öster­reich und der Schweiz, nah­men in den letzten Jahren die Stimmen derer zu, die die Produktionsbedingungen auf den Blumenplantagen und die Lebens- und Arbeitsbe­dingungen der Blumenarbei­terInnen kritisieren und ih­ren Klagen über die zahl­reichen Verletzungen mini­malster Grundrechte auch in den Verkaufsländern öffent­liches Gehör verschaffen. In Ko­lumbien arbeiten heute etwa 80.000 Men­schen, in der Mehrzahl Frauen, direkt in der Blumenindustrie. Weitere 50 – 60.000 sind in ange­gliederten Produktionszwei­gen beschäftigt, in der Zu­lieferung, dem Transport, der Herstellung von Ver­packungsmaterial und Pla­stikplanen usw. 600.000 Per­sonen sind, so die Schät­zungen, insgesamt von der Arbeit auf den Blumenplan­tagen abhängig. Der Preis, den sie und vor allem die Arbeiter und Arbeiterinnen bezahlen, ist hoch: Der Ar­beitsalltag ist lang mit nur kurzen Pausen, um sich von den körperlichen Strapazen stundenlangen Stehens oder Arbeitens in der Hocke und auf den Knien zu ‘erholen’. Kommen längere Anfahrwege hinzu, sind die Frauen und Männer schon an norma­len Arbeitstagen häufig 12 Stunden und länger außer Haus. Vor allem zur Haupterntezeit, die im Ok­tober beginnt, kommen Über­stunden hinzu, die die ge­setzlich erlaubten Maximal­zeiten oft weit überschrei­ten und häufig auch noch den einzigen arbeitsfreien Tag, den Sonntag, ein­schließen. Bezahlt wird dabei gerade einmal der gesetzlich vorgeschriebene Mindestlohn. Der liegt im Moment bei etwa 120 US-Dollar im Monat – was bei weitem zu wenig ist, um eine Familie auch nur mit dem Notwendigsten zu ver­sorgen.
hire and fire
Die Anstellungsverhältnisse sind unsicher. Immer mehr ArbeiterInnen sind nicht fest beim Betrieb ange­stellt, sondern arbeiten über Leihfirmen und mit Zeitarbeitsver­trägen. Dies ermöglicht es beispielsweise, Sozialversicherungspflichten oder Ver­pflichtungen zu Lohnfortzahlungen bei Kün­digung zu umgehen. Auch das 13. Monatsgehalt wird auf diese Weise einge­spart. Die Beschäftigung über Kurzzeit­verträge ermöglicht es den Unternehmern auch, aus­schließlich nach dem aktuel­len Bedarf und den gerade anfallenden Ar­beiten einzu­stellen und zu entlassen. Zu­dem werden Zeit-, bezie­hungsweise Leih­arbeits-“verträge” oft nur mündlich ge­schlossen. Entspre­chend er­schwert ist der Gang vor ein Ar­beitsgericht, um vor­enthaltene Rechte einzukla­gen. Die mit den kurzfristi­gen Verträgen und der großen Arbeitsplatzunsi­cherheit verbun­dene hohe Rotationsrate unter den Arbei­terInnen macht zudem eine gewerkschaft­liche Or­ganisierung schwierig. Ein ausge­sprochen positiver Effekt aus Sicht der Un­ternehmer, die alles daran­setzen, eine un­abhängige Organisierung in ihrem Be­trieb zu vermeiden. Dabei reicht die Pa­lette von Re­pressionen über Prämien für Wohlverhalten bis hin zu Entlassungen. Ausnahmen gibt es lediglich dort, wo eine arbeitgeberfreundliche Be­triebsgewerk­schaft existiert, auch wenn in Kolumbien das Grundrecht auf freie Organi­sierung und gewerkschaftli­che Be­tätigung gesetz­lich garantiert ist.
Ein weiteres großes Pro­blemfeld ist der permanente und intensive Pestizidein­satz im Blumenanbau – 120 bis 230 kg Pesti­zid-Wirk­stoff, so Schätzungen, wer­den pro Jahr und Hektar auf den Plantagen aus­gebracht, etwa das Doppelte der hol­ländischen Mengen. Der Blu­menanbau er­fordert im Schnitt 14 verschiedene ma­nuelle Arbeitsschritte, bei denen die Pflan­zen direkt angefaßt und berührt wer­den – mehr als in allen anderen landwirt­schaft­lichen Produk­tionsbereichen. Man­gelhafte Arbeits- und Schutzkleidung, die Nicht­ein­hal­tung von Wiederbetretungsfri­sten nach Ausbringung von Schädlings­be­kämpf­ungsmitteln, unter­lassene Ausbil­dung der Ar­beiterInnen, mangelnde hygieni­sche Einrichtungen… all das heißt, jeden Tag aufs Neue die Gesundheit zu gefährden und zu ruinieren. Vergif­tungs­erscheinungen wie Schwindel, Kopf­schmer­zen, Übelkeit, Hautausschläge und Aller­gien sind alltäglich und “nur” die “leichteren” Ge­sundheitsschäden. Ar­beits­unfälle mit Todesfolge kommen im­mer wieder vor.
Ein erhebliches Problem für die Gemein­den der Sabana ist der Wasserverbrauch der Blumenplantagen, die oftmals direkt bis an die Häuser der Ortschaften heran­reichen oder sie teilweise vollstän­dig ein­schließen. Drei Vier­tel des gesamten Wasser­verbrauchs in den Hauptan­bau­gebieten gehen auf das Konto der Blumen­unterneh­men. Der Grundwasser­spiegel fällt jährlich um ca. 3,5 bis 5 Me­ter. Infolgedessen sind Trinkwasserpro­bleme inzwi­schen weit verbreitet. Viele Ge­meinden haben nur noch stundenweise am Tag Wasser – sofern sie es sich über­haupt leisten können, immer tiefere Brunnen­bohrungen vorzunehmen. Wer das nicht kann, muß eben das noch vor­handene Oberflächenwas­ser nutzen – oft genug eine schillernde Brühe zweifel­hafter Qua­lität.
Der Blumenboykott
Die vielen Berichte über diese Lebens- und Arbeits­verhältnisse führten dazu, daß im Frühjahr 1991 in der Schweiz, in Österreich und der Bundesrepublik ver­schiedene Organisationen und Hilfswerke mit einer Infor­mations- und Öffentlich­keitskampagne begannen. Diese war ver­bunden mit dem Versuch, in einem konstruk­tiven Dialog mit den ver­schiedenen Verantwortlichen eine Verbes­serung der Si­tuation der ArbeiterInnen zu erreichen. Sie stießen dabei nicht nur auf taube Ohren: der Verband der deutschen Blumenimporteure BGI kün­digte schließ­lich im Frühjahr vergangenen Jahres an, eine ‘Colombian Clean Flower De­claration’, wie sie zunächst hieß, zusam­men mit den ko­lumbianischen Exporteu­ren verabschieden zu wollen, die die Ein­haltung der gesetzli­chen Grundlagen in Kolumbien innerhalb der Bereiche Ar­beitsrecht, Sozialbestim­mungen, Umwelt­schutz und Einsatz von Pestiziden ga­rantieren sollte. Die Organi­sationen der deutschen Blu­men-Kampagne begrüßten die­sen Schritt, bedeutete er doch eine indi­rekte Aner­kennung der immer wieder ge­äußerten Kritik an den Zu­ständen in der kolumbiani­schen Blumenindustrie auch durch die Unternehmer. Und könnte tatsächlich durchge­setzt werden, daß die ge­setzlichen Vorschriften eingehalten würden, wäre dies in einem Land wie Ko­lumbien, in dem massive Men­schenrechtsverletzungen an der Tagesord­nung sind, doch schon ein erster Erfolg, auch wenn die Blumen damit noch lang nicht ‘sauber’ sind und ein wirkliches ‘Güte’-Siegel sicher mehr erfüllen muß als die Einhaltung der nationalen Gesetzge­bung.
Ob mit dem jetzt in Frank­furt vorgestell­ten Siegel tatsächlich Verbesserungen er­reicht werden können, bleibt abzuwarten und muß bislang noch mit einiger Skepsis betrachtet werden. Das Abkommen zwi­schen BGI und Asocolflores sieht vor, daß die kolumbianischen Betriebe, die das Siegel benutzen wollen, sich zunächst kontrollieren las­sen müssen. Fällt diese Kontrolle zufriedenstellend aus, werden die Unternehmen auf eine ‘Weiße Liste’ ge­setzt und erhalten das Recht, ein Em­blem auf ihren Verkaufskartons zu führen. Bisher liegen für das Siegel des ‘Colombia Flower Council, Germany’ allerdings le­diglich Richtlinien für den biolo­gisch-ökologischen Bereich vor, mit denen der Pesti­zideinsatz gesenkt, die Handhabung der Agrochemika­lien ungefährlicher ge­macht und die Einhaltung der Si­cherheitsvorschriften und Wiederbetre­tungsfristen er­reicht werden sollen. Dazu, wie die schwierigen Bereiche des Sozial- und Arbeits­rechts in das Siegel einge­bunden werden können, was von diesen Bereichen sinn­vollerweise wie kontrolliert und von wem überprüft wer­den soll, gibt es bislang al­lerdings keine genaue Vor­stellung, obwohl kolumbiani­sche und deutsche Gruppen immer wieder Vor­schläge hierzu gemacht haben.
Die deutschen Unternehmer möchten mit dem Siegel schnell auf den Markt kom­men, möglichst schon Anfang nächsten Jahres. In Frank­furt kündigten sie an, daß schon im Oktober die ersten Betriebe dazu ‘gecheckt’ werden sollten – aufgrund der geschilderten Situation bislang nur für den biologi­schen Bereich. Wie die feh­lenden Aspekte so schnell integriert werden kön­nen, so daß der ins Auge gefaßte Zeitplan eingehalten werden kann, ist unklar. Reine ‘Öko-Blumen’ aber aus Betrieben, die nicht bereit sind, Ge­werkschaften zuzulas­sen und ihren sozial- und arbeits­rechtlichen Verpflichtungen nachzukom­men, können kei­nesfalls das Ziel der Be­mühungen sein.
Für die deutsche Blumen­kampagne gibt es einige weitere zentrale Punkte, die bei der Einführung eines Blumensiegels grundle­gend sind: 1. Eine Trennung zwi­schen Umwelt- und sozialen Rechten oder auch eine Vernachlässigung letzterer ist nicht durchführbar. Wie soll beispielsweise gewähr­leistet werden, daß die Vor­schriften eingehalten und Sicherheitsvor­kehrungen bei der Handhabe von Pestizi­den beachtet werden? Oder die Arbeits­kleidung komplett und funktionstüchtig ist? Wer könnte den Arbeitsalltag in den Betrieben besser und kompetenter kon­trollieren als die Arbeiter und Arbei­terinnen, die dort beschäf­tigt sind? Wie aber sollen sie dies tun und sich auch äu­ßern können, wenn grund­legende soziale Rechte wie das Recht auf Koalitions­freiheit nach wie vor miß­achtet werden? Vorausset­zung ist, daß es den Arbei­terInnen möglich ist, ihre eigenen unab­hängigen Ge­werkschaften aufzubauen, und zwar ohne damit ihre Entlas­sung zu riskieren oder Repressalien im Betrieb fürchten zu müssen.
2. Den Berichten und Be­schwerden der ArbeiterInnen muß ein besonderes Ge­wicht eingeräumt werden – und hierzu ist mehr notwendig als die Möglich­keit, sich bei den Be­triebsbesichtigungen an eine Kontroll­kommission zu wen­den, die möglicher­weise ein­mal pro Jahr im Un­ternehmen vorstellig wird. Es muß eine dauerhafte neutrale Mög­lichkeit für die ArbeiterIn­nen geben, sich zu ihren Ar­beitsbedingungen zu äu­ßern, ohne daß sie negative Folgen für sich befürchten müs­sen. Gleichzeitig muß ein Modus gefun­den werden, der gewährleistet, daß den Be­schwerden der ArbeiterInnen über die Situation in ihren Betrieben auch nachge­gangen wird.
3. Für eine Glaubwürdigkeit des Siegels muß auch die Unabhängigkeit der Kommis­sion garantiert sein, die die Ein­führung und Einhaltung des Siegels und der Dekla­ration in den Betrieben kontrol­lieren soll. Bisher ist vorgesehen, daß über die Besetzung der Kontrollkom­mission nur von Unterneh­merseite entschieden werden soll, während andere betei­ligte Gruppen keinerlei Mit­spracherecht haben. Die Ge­fahr einer reinen Eigenkon­trolle durch eine Kommis­sion, die größtenteils den Wünschen der Unternehmer ent­spricht, liegt so auf der Hand. Die kolum­bianischen Unternehmer haben es bisher immer wieder abgelehnt, sich mit kolum­bianischen Gruppen, den ArbeiterInnen und selbst mit WissenschaftlerInnen der staatlichen Nationaluniver­sität von Bogotá zusammen­zusetzen, die an einem in­terdisziplinären For­schungsprojekt zur Blumen­industrie arbeiten. Eine auch für die Öffentlichkeit nachvollziehbare Unabhän­gigkeit der Kommission, die das Vertrauen aller am Konflikt beteiligten Gruppen genießt, ist jedoch unab­dingbare Voraussetzung da­für, daß das Siegel auch glaubwürdig ist. Nicht zu­letzt für die hie­sigen Ver­braucherInnen, die schließ­lich die kontrollierten Blu­men auch kaufen sollen.
4. Ein weiterer kritischer Bereich ist die Check- oder Kontrolliste, anhand derer die Betriebe in Kolumbien überprüft werden sollen. Auch hier liegt ein Konzept für den arbeits- und sozi­alrechtlichen Bereich nach Aussagen der deutschen Blu­menimporteure noch nicht vor, obwohl es in Kolumbien an kompetenten Personen nicht mangelt, auf die bei ihrer Erstellung zurückge­griffen werden könnte.
Alle vorgenannten Punkte müssen zunächst einmal in zufriedenstellender und für alle Seiten überzeugender Weise gelöst sein, damit das in Frankfurt vorge­stellte Siegel zu einem Instrument werden kann, mit dem eine Verbesserung der Si­tuation für die kolumbianischen Blu­menarbeiterInnen erreicht werden kann.
Unterschrieben –
aber auch umgesetzt?
Doch zunächst einmal ist das geschlos­sene Abkommen ein Vertrag zwischen zwei Ver­bänden, das für sich genom­men noch keinerlei Auswir­kungen und Ver­pflichtungen für die, den Verbänden ange­schlossenen Betriebe mit sich bringt. Das heißt, in Kolumbien muß sich nach der Unterschrift von Asocolflo­res noch kein einziges Un­ternehmen in Zukunft kon­trollieren lassen, so lange nicht die Besit­zer selbst noch einmal der Deklaration beitreten. Daß die Unterneh­mer nicht ge­rade euphorisch reagierten, kann daran ab­gelesen werden, daß bislang nur sechs oder sieben der über 400 kolumbianischen Blumenbe­triebe ein Interesse an dem Sie­gel gezeigt haben. Und selbst für den eher unwahr­scheinlichen Fall, daß alle Mitgliedsbe­triebe Asocolflo­res’ sich dem Abkommen an­schließen, sind die Blumen­betriebe Kolumbiens noch nicht vollstän­dig erfaßt. ‘Interessant’ ist das Abkom­men ohnehin zunächst nur für diejenigen Be­triebe, die in die Bundesrepublik expor­tieren. Wenn der deutsche Einzelhandel sich aber ver­pflichten würde, nur noch Blumen von Betrieben der ‘Siegelliste’ zu vermarkten und zu verkaufen, wäre es ein Instrumen­tarium , das die kolumbiani­schen Unter­nehmer dazu bewegen könnte, dem Ab­kommen beizu­treten.
Der deutsche Blu­menimporteursverband (BGI) hat in Frankfurt angekün­digt, in ei­nem nächsten Schritt seinen Mitgliedern eine entspre­chende Empfeh­lung geben zu wollen und fügte hinzu, der deutsche Flo­ristenverband habe das Abkommen bereits begrüßt. Eine Möglichkeit, die Einzel­händler über eine eigene freiwillige Ent­scheidung hin­aus zu einer Unterstützung des Siegels zu bewe­gen, hat der BGI al­lerdings nicht. Kom­men vom hiesigen oder anderen Märkten nicht ent­sprechende ‘Anreize’, wird sich wohl kaum ein Unterneh­mer finden, der freiwillig und ohne damit verbundene Vorteile eine Umstrukturie­rung seines Betriebes vor­nehmen wird.
Natürlich sind hiermit noch längst nicht alle Verantwort­lichen erfaßt, die – nicht nur im Falle der Blumen – in der Verpflich­tung stehen, wenn es um die Durchsetzung menschenrecht­licher Min­deststandards und sozialer Grundrechte geht: der ko­lumbianische Staat, weit ent­fernt davon, alles ihm Mögliche zur Durchset­zung und Garantie der Men­schenrechte zu tun und seine Kontroll­pflichten wahrzunehmen, die (deutsche) chemische Industrie, die alljährlich Rie­sengeschäfte mit dem Ex­port hochgiftiger Pestizide macht, die deut­sche Regierung, gerade jetzt in der EU-Präsidentschaft mit einer ‘besonderen’ Chance zum Handeln, natio­nale wie inter­nationale Verbände und Regierungen… Auch die deutschen Konsu­mentInnen werden es mit ih­rer ei­genen Verantwor­tung nicht dabei bewen­den lassen können, sich mit ‘kontrollierten’ und ‘besiegelten’ Blumen ein reines Ge­wissen zu (er)kaufen. Bis zu einer echten ‘Sozio-Öko-Blume’ ist es noch ein weiter Weg.

Eine Materialliste zum Thema ‘Blumen’ ist erhältlich bei: FIAN, Overwegstr. 31, 44625 Herne.

Indígenas legen das Land lahm

Der Streik, der am 12. Juni begonnen hatte, nahm rasch an Intensität zu und hatte schließlich die vollkommene Isolie­rung von neun der 21 Provinzen des Lan­des zur Folge, in den Bergregionen der Sierra ebenso wie im Amazonasgebiet. Einige regionale Hauptstädte waren voll­ständig von der Versorgung mit Treibstoff und Grundnahrungsmitteln abgeschnitten. Autostraßen und Brücken wurden ge­sperrt, öffentliche Gebäude besetzt und Nahrungsmittel, deren HaupterzeugerIn­nen die Indígenas sind, zurückgehalten. Damit gelang es ihnen, Schritt für Schritt eine chaotische Situation herbeizuführen und die ecuatorianische Gesellschaft auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen.
Die mangelnde Kenntnis und die wenig fortschrittliche Auffassung der Regierung vom Gewicht und der Bedeutung der In­dígena-Bewegung, die diese spätestens seit dem Aufstand im Jahre 1990 gewon­nen hat, traten offen zu Tage, als der Landwirtschaftsminister, Mariano Gonzá­lez, von “Manipulationen gegen die Re­gierung” sprach, denen die “Indios” er­legen seien. Derartige Aussagen bestäti­gen nach der Auffassung eines Kommen­tators “ein in Vorurteilen und obsoleten Wertvorstellungen wurzelndes Bewußt­sein, das nicht einmal in der Lage ist, den Indígenas selbstverantwortliches Handeln und eigenständigen Protest zuzugestehen”.
In der Tat war die sogenannte “verlorene Dekade” im Lateinamerika der achtziger Jahre für die Indígena-Bewegung Ecua­dors ein “gewonnenes Jahrzehnt”. Wer ih­ren Organisierungsprozeß mitverfolgt hat, muß anerkennen, daß die Indígenas an Selbstbewußtsein gewonnen haben und auch in der Öffentlichkeit stärker präsent sind. Die heutige Bewegung hat politische Bedeutung auf nationaler Ebene erlangt. Sie nimmt Stellung, erarbeitet Vorschläge, sie ist nicht von den politischen Parteien abhängig und befindet sich auf dem besten Wege, ihr Selbstbild auf der Grundlage indigener Kultur, Sprache und eines ei­genständigen Weltbildes neu zu definie­ren.
Selbstbewußt und offensiv
Die Regierung sah sich schließlich aus zweierlei Gründen genötigt, den Dialog mit den leitenden Persönlichkeiten der CONAIE aufzunehmen: einerseits die Wucht der Proteste, zu denen die Indí­genas unter der Bezeichnung “Mobil­machung für das Leben” aufriefen; ande­rerseits die Kritik von weiten Kreisen der politischen Mitte und der Linken am Vor­gehen der Regierung, einen unnötigen Konflikt heraufbeschworen und die Kritik im Vorfeld der Gesetzesverabschiedung nicht ernst genommen zu haben. Dennoch: bislang haben die Gespräche keine er­kennbaren Erfolge erzielt.
Der tiefsitzende Rassismus der mestizi­schen Bevölkerungsmehrheit trat offen zu Tage, als EinwohnerInnen der Stadt Canar Gewalt gegen Indígenas anwandten, das Gebäude einer Landwirtschaftskoopera­tive und Fahrzeuge dieser Organisation in Brand setzten. Die Polizei begnügte sich damit, die Ereignisse zu beobachten, ohne einzugreifen, während die zuständigen Militäreinheiten des nächstgelegenen Stützpunktes sich “zu Fuß” zum Tatort begaben. Zur gleichen Zeit fand in Riobamba, der Hauptstadt der Provinz mit dem höchsten Indígena-Anteil, ein Pro­testmarsch statt, an dem über 40.000 Bau­ern und Bäuerinnen teilnahmen. Ihr An­liegen war ebenfalls die Aufhebung des neuen Agrargesetzes; die Proteste sollten so lange anhalten, bis auf ihre Forderun­gen eingegangen werde.
Bis zum 22. Juni waren alle Verständi­gungsversuche zwischen Indígenas und Regierung gescheitert. An diesem Tag ordnete die Regierung die militärische Mobilmachung als Radikalmaßnahme an, die Zeugnis von ihrer Unnachgiebigkeit ablegen sollte.
Angesichts der klaren Übermacht der Truppen, die in einigen Orten sogar mit Panzern ausrückten, begannen die Bauern und Bäuerinnen, sich friedlich in ihre Gemeinden zurückzuziehen. Wenig später wurde bekannt, daß maskierte Sonderein­heiten Razzien in drei Radiosendern durchgeführt hatten, die dem Netzwerk der “Radio Popular Educativa” ange­schlossen sind. Sie wurden beschuldigt, “das gewalttätige und hetzerische Klima im Land anzuheizen”, Aufzeichnungen und Informationsmaterial wurden konfis­ziert und mehrere Personen festgenom­men, darunter die Leiterin von “Radio Latacunga”, die Ordensschwester Alma Montoya.
Immerhin nahm die Regierung einige Tage später, unter dem anhaltenden Druck von Seiten der CONAIE, den Vorschlag an, eine Vermittlungskommission einzu­richten, die über Reformen am Agrarent­wicklungsgesetz beraten soll. Dieser Kommission werden der Präsident von Ecuador, der Vorsitzende des Kongresses, ein Vertreter der katholischen Kirche, VertreterInnen von Menschenrechtsorga­nisationen und Mitglieder der wichtigsten Indígena-Organisationen angehören.
Knackpunkte des “Agrarentwicklungsgesetzes”
Die Verabschiedung des “Agrarentwick­lungsgesetzes” ist kein iso­liertes Phäno­men, sondern reiht sich in eine Serie von Reformen ein, die die ge­genwärtige Re­gierung vorantreibt. Diese haben unter an­derem zum Ziel, den größ­ten Teil der staatlichen Betriebe zu priva­tisieren, um so in- und ausländische Inve­storen anzu­locken.
Die Landwirtschaftskammer bemängelte schon seit geraumer Zeit die “ineffiziente Bodenausnutzung in Ecuador” und for­derte eine Aufhebung des seit 1974 gel­tenden Agrarreformgesetzes, das den heu­tigen Ansprüchen nicht gerecht werde. Auch die Indígenas wiesen wiederholt auf die Reformbedürftigkeit dieses Gesetzes hin.
Am 17. Mai diesen Jahres lehnte der Kon­greß eine erste Gesetzesvorlage der Regie­rung zur Agrar-Neuordnung ab, vor allem auf den Druck hin, den die Bauern-, bzw. Indígena-Organisationen auf den Gesetz­geber ausübten. Das Parlament einigte sich darauf, einen neuen Gesetzesentwurf zu erarbeiten, der sowohl die Vorschläge der Regierung, als auch die der oppositio­nellen Partido Social Cristiano und der die Indígena-Interessen vertretenden Coordi­nadora Nacional Agraria aufnehmen sollte.
Dennoch verabschiedete der Kongreß zwei Wochen später überraschend ein Ge­setz, das zwar Regierungs- und Oppositi­onsentwürfe, nicht jedoch die Position der Indígenas in sich vereinigt. Mehr noch: es unterscheidet sich nur in Details von dem vorher gekippten Gesetzesentwurf.
Ein wichtiger Punkt des neuen Gesetzes stellt die verstärkte Eigentumsgarantie für LandbesitzerInnen dar. Durch diese Ver­fügung werden die bisher meist still­schweigend geduldeten Landbesetzungen ausdrücklich kriminalisiert. Diese stellten für die Indígenas eine der wenigen Mög­lichkeiten dar, an Grund und Boden zu gelangen. Polizei- und Militäreinsätze sind vorgesehen, um LandbesetzerInnen zu vertreiben.
Gleichzeitig schränkt das Gesetz die Möglichkeit für Enteignungen ein. Konnte nach dem ursprünglichen Agrargesetz eine Bodennutzung von weniger als 80 Prozent der jeweiligen Fläche mit Enteignung und öffentlicher Vergabe des Landes geahndet werden, so sieht das neue Gesetz – von Wiederholungsfällen abgesehen – nur noch eine Geldstrafe vor. Enteignungen durch den Druck der Bevölkerung, der bislang von den Indígenas am meisten zum Erhalt von Land geltend gemacht werden konnte, verschwinden vollständig in der neuen Regelung.
Zerstörung indigener Wirtschaftsformen
Weiterhin wird die Liberalisierung des Marktes für Agrarland vorangetrieben, in­dem es jedem Eigentümer freisteht, sein Grundstück ohne jedwede Genehmigung zu verkaufen. Auch wird die Teilung der gemeinschaftlichen Grundstücke von Ko­operativen und comunas ermöglicht. Die comunas waren aus Zusammenschlüssen von Indígena-Familien entstanden, die gemeinsam Grundstücke für die landwirt­schaftliche Nutzung kauften. Wenn auch jeder comunero über ein eigenes Stück Land verfügt, gibt es auch Gemein­schaftsland, das traditionell an einem Tag in der Woche von allen Mitgliedern der comuna zusammen bestellt wird (“la minga”). Bis jetzt konnte kein comunero seinen Anteil an diesem Land verkaufen. Das neue Agrargesetz könnte für die in comunas lebenden Indígenas eine Auflö­sung ihrer Gemeinschaften bedeuten, die in der Vergangenheit nicht nur Gebiets­körperschaften, sondern auch Zentren ei­ner politischen, sozialen und kulturellen Selbstorganisation waren.
Vom Standpunkt einiger Sozialwissen­schaftlerInnen aus betrachtet, zielt das nun verabschiedete Gesetz auf eine “Zerset­zung der physischen und territo­rialen Grundlagen der indigenen Gemein­schaften und Wirtschaftsformen” ab. Auch sei die Nahrungsmittelversorgung des Landes gefährdet, da die Indígenas die hauptsächlichen Hersteller der im Land konsumierten Produkte seien. Die Lände­reien der Indígena-Gemeinschaften stün­den im Visier internationaler Investoren, versichern diese BeobachterInnen; vor al­lem am Holzexport interessierte Forstun­ternehmen hätten ein Auge darauf gewor­fen.
Darüberhinaus verfügt das Gesetz die Wasserversorgung durch private Anbieter. Für die Indígena-Bevölkerung vor allem in den trockenen Regionen der ecuato­rianischen Sierra stellt das Ende der öf­fentlich garantierten Wasserverteilung ein ernstes Problem dar.
Außerdem geht das neue Regelwerk nicht auf die Realität der indigenen Bevölke­rung des Amazonas-Gebietes ein, die schon seit Jahren auf eine gebietsrechtli­che Anerkennung der von ihnen seit Jahr­hunderten bewohnten und bewirtschafte­ten Territorien drängen. Auch die schwerwiegenden ökologischen Probleme dieser Zone fanden keine Berücksichti­gung. Das alte “Kolonisierungs- und Agrarreformgesetz” hatte hier die spezifi­schen Bedürfnisse einer westlichen Pro­duktionsweise ermöglicht, deren Form der extensiven Rohstoffausbeutung keine Rücksicht auf die Empfindlichkeit dieses Ökosystems nimmt.

Lateinamerika im Fußballfieber

Kolumbien – auf leisen Sohlen zum Titel?

Die Vorstellung mit Kolumbien zu begin­nen, rührt aus der schlichten Tatsache, daß die Kolumbianer als einzige Mannschaft die Qualifikation ungeschlagen überstan­den. Zu zwei Siegen über Peru und zwei Unentschieden gegen Paraguay gesellten sich zwei Siege gegen den Topfavoriten und Südamerikameister Argentinien. Nach dem 2:1 Heimsieg gelang den Kolumbia­nern im Rückspiel in Buenos Aires Histo­risches. Mit 5:0 wurde Argentinien die höchste Heimniederlage in seiner Ge­schichte verpaßt. Kurz nach Schlußpfiff füllten sich in Kolumbien landesweit die Straßen mit fünf Finger zeigenden, enthu­siastisch feiernden AnhängerInnen. Über­schäumende Begeisterung mit tödlichen Folgen für Dutzende. Gewalt als Begleit­erscheinung des Massenspektakels Fußball ist leider auch in Kolumbien an der Tagesordnung.
Dem hohen Stellenwert des Fußballs im allgemeinen und dieses Triumphes über Argentinien im besonderen, trug auch Prä­sident Gaviria Rechnung. Alle Spieler und der Trainer wurden mit dem höchsten Or­den des Landes dekoriert. In Kolumbien träumen viele vom Titel, auch die Fußball­fachwelt traut den Supertechnikern den Coup zu. Unbestritten der populärste und schillerndste Fußballer des Landes ist der Kapitän und Mittelfeldregisseur Carlos Alberto Valderrama. Nach einer Kniever­letzung Ende Februar bangte eine ganze Nation um seine Teilnahme. Tausende von Kerzen wurden angezündet, tausende von Gebeten gesprochen. Unerwartet schnell wurde “El Pibe” (der Kleine) wie­der fit und die Träume vom Titel erhielten mit seinem Comeback neue Nahrung.

Der Kopf Kolumbiens: “El Pibe” – “Ich liebe das Leben in seiner ganzen Buntheit”

Schon äußerlich fällt Carlos Valderrama mit seinem blonden Afro-Look aus dem Rahmen. So eigenwillig wie seine Haar­tracht, die er als Ausdruck seiner Lebens­freude beschreibt, so eigenwillig zeigt er sich auf dem Spielfeld. Der Ball als Spiel­zeug und nicht als schnöder Arbeitsgegen­stand. Dieser Spielauffassung zu Folge “streichelt” Valderrama erst ausgiebig den Ball, bevor er ihn zu einem Mitspieler weiterpaßt. All dies mit ausgefeilter Tech­nik, die den ÄsthetInnen unter den FußballanhängerInnen das Herz höher schla­gen läßt. Brillant seine Spielübersicht, die exakten Pässe, die nahezu Ausgang jedes Angriffes seiner Mannschaft sind. Als Kopf von seinen Mitspielern unum­schränkt anerkannt, wird er als Anspiel­station permanent gesucht und meist auch gefunden. Zumindest so lange die Kondi­tion von “El Pibe” reicht. Laufen war vor allem zu Beginn seiner Karriere nicht sein Ding. “Ich bin keiner, der anderen hinter­herrennt. Ich muß das Spiel machen und Tore schießen, sonst nichts.” Im reifen Alter von knapp 33 Jahren hat er sich scheints doch noch besonnen. Bei der “Copa America” (Südamerika­meister­schaft) im letzten Jahr zeigte er neben den ge­wohnten techni­schen Kabinettstückchen auch unge­wohnten kämpferischen Einsatz. Der dem Nationaltrainer Francisco Matu­rana vor Jahren zugeschriebene Satz: “Ein Län­der­spiel ohne Carlos ist wie ein Tag ohne Sonne”, gewinnt so gesehen zusätz­liche Berechtigung. Die Wertschätzung ist in­des nicht auf Kolumbien beschränkt. Sowohl 1987, als Valderrama bei der “Copa America” erstmals international in Erscheinung trat, als auch 1993 wurde er zum südamerikanischen Fußballer des Jah­res gewählt.

Europäische Effizienz und lateinamerikanisches Genie

In Europa gehen die Meinungen bezüglich Valderrama auseinander. Bei den deut­schen Fans ist er durch seine Schauspiel­einlage im WM-Spiel 1990 gegen die deutsche Elf unrühmlich in Erinnerung geblieben. Mehrere Minuten lang spielte er den “toten Mann”, ließ sich mit der Bahre vom Platz tragen, um Sekunden später, wie von Geisterhand genesen, wie­der quicklebendig auf dem Platz aufzutau­chen und zu allem Überfluß mit einem genialen Paß das kolumbianische Aus­gleichstor vorzubereiten.
Als erster Kolumbianer suchte Valder­rama 1988 das lukrative Legionärsdasein in Europa. Seine Leistungen während der drei Jahre im französischen Montpellier und dem halbjährigen Aufenthalt im spa­nischen Valladolid waren aber eher durchwachsen. Seine lateinamerikanische Spielauffassung vertrug sich nicht recht mit europäischem Effizienzdenken. Rich­tig glänzen konnte Valderrama nur bei seinen Auftritten im Nationaltrikot. Folg­lich kehrte er 1992 nach Kolumbien zu­rück. Seit 93 spielt er nun in Barranquila, unweit entfernt von seiner Geburtsstadt Santa Marta an der kolumbianischen Ka­ribikküste. Mit dem dortigen Klub Atlé­tico Junior wurde er erstmals in seiner Laufbahn kolumbianischer Meister. Viel­leicht doch von europäischem Effizienz­denken beeinflußt oder etwa nur ein Aspekt des Lebens in seiner ganzen Bunt­heit?

Mexiko – Heimvorteil im Gringoland

An der Qualifikation zur letzten WM durfte Mexiko nicht teilnehmen. Der Grund: Bei einer Junioren-WM hatte Me­xiko diverse ältere Spieler mit getunten Pässen eingesetzt. Nachdem die Verfeh­lung ruchbar wurde, folgte die empfindli­che Strafe durch den Weltfußballverband (FIFA) auf dem Fuß. Nach achtjähriger WM-Abstinenz war die Freude nun um so größer, daß Mexiko seiner Favoritenrolle in der Nord- und Mittelamerika-Ausschei­dung gerecht wurde und somit neben dem automatisch qualifizierten Veranstalter­land USA als einziges Land diese Region vertritt. Die Spiele der mexikanischen Mannschaft werden wohl die stimmung­vollsten der WM werden – zumindest, was die Atmosphäre auf den Rängen betrifft. Hauptspielort für Mexiko ist Washington. Die riesige mexikanische Gemeinde in den USA wird zu Tausenden in die Hauptstadt pilgern.
Zwei Niederlagen in der Qualifikation in Costa Rica und El Salvador konnte das mexikanische Team verkraften, da der Hauptkonkurrent Kanada zweimal ge­schlagen wurde. In zwölf Spielen nur acht Gegentore. Nicht zuletzt ein Verdienst des Ausnahmetorwarts Jorge Campos, der als populärster Spieler dem in Spanien spie­lenden Hugo Sanchez den Rang abgelau­fen hat.

Der komplette Spieler:Campos – “Ich liebe grelle Farben und verrückte Kleider­kombinationen”

Der jetzige US- und ehemalige mexikani­sche Nationaltrainer Bora Milutinovic hält ihn für den kompletten Spieler der letzten hundert Jahre. Einfach deshalb, weil Jorge Campos auf den zwei gegensätzlichsten Positionen, die es im Fußball gibt, zumin­dest nationale Spitzenklasse darstellt. Sowohl in der Nationalmannschaft, als auch vor allem im Verein, spielt er je nach Lage Torwart oder Mittelstürmer, mitunter gar in einem Spiel. Den Höhepunkt seiner Doppelrolle zelebrierte er 1992 bei einem Erstligaspiel. Zuerst vom Tor in den Sturm gewechselt, sorgte er für den Aus­gleich, um kurz vor Ende der Partie bei einem Elfmeter für die gegnerische Mannnschaft ins Tor zurückzukehren und mit seiner Abwehrparade das Unentschie­den zu sichern. “Das Ganze ist keine in­szenierte Show von mir. Ich kann mich einfach nicht entscheiden, ob ich nur Tore verhindern oder nur Tore schießen soll.” Aber Entscheidungen über die Aufstellung trifft im Fußball ja gemeinhin der Trainer, womit Campos aus seinem Dilemma be­freit wäre. Seinem Spieltrieb gibt Campos mit Billigung seiner Trainer auch als Tor­wart nach. Da sowohl die mexikanische Nationalmannschaft als auch seine Ver­einsmannschaft UNAM Mexiko ohne letzten Mann (Libero) spielen, bekleidet Campos diese Position ersatzweise.
Seine für einen Torhüter geringe Größe von 175 cm gleicht er mit einem enormen Sprungvermögen aus. Entwickelt hat er diese Sprungkraft nach eigenen Angaben beim Fußballspiel am Strand seiner Hei­matstadt Acapulco. Andere Berichte kol­portieren indessen, daß er seiner Tätigkeit als Hühnerfänger auf der großväterlichen Farm einen Gutteil seiner Fangtechnik und Sprungkraft verdankt.

Kleider machen Leute

Seine Position als Torwart verleiht ihm alle Freiheiten bei der Kleiderwahl. Haben Feldspieler ob des einheitlichen Trikots nur geringen Spielraum, mit ihrer Kluft auf sich aufmerksam zu machen, so sind der Phantasie des Torhüters keine Gren­zen gesetzt. Kein Torhüter nützt dies so weidlich aus, wie Jorge Campos. “Das meiste Geld gebe ich für meine ausgefal­lenen Torhüterausrüstungen aus, ich liebe grelle Farben und verrückte Kleiderkom­binationen.” Wenn er auch verrückte Kleiderkombinationen bevorzugt, verrückt ist er keineswegs, sondern mit einer guten Portion Realitätssinn ausgestattet. Nach Europa will er auf keinen Fall wechseln. Er befürchtet wohl zu Recht, daß er mit seinem Stil im nüchternen Europa nicht ankommen würde.

Bolivien – Höhenflug in dünner Andenluft

Bolivien hatte nun wahrlich bei der Pro­gnose der WM-Teilnehmer niemand auf der Rechnung. Während ihrer zweier WM-Teilnahmen 1930 und 1950 gelang ihnen weder Punkt noch Tor. Einer der “Fußballzwerge” schlechthin. Die Fuß­ballgrößen Brasilien und Uruguay galten vor Beginn der Qualifikation als haushohe Favoriten, Ecuador als Außenseiter und Bolivien als Punktelieferant. Aber es kam ganz anders. Seine Heimspiele trägt Boli­vien auf 3800m Höhe in La Paz aus. Folglich geht den gegnerischen Mann­schaften in La Paz im wahrsten Sinne des Wortes gegen Ende des Spiels die Luft aus. Dies ist nicht neu, doch noch nie schlug Bolivien soviel Kapital daraus wie diesmal. Brasilien mußte in den letzen drei Minuten zwei Gegentore hinnehmen und verlor 0:2. Uruguay bekam in den letzten zehn Minuten gar drei Eier ins Nest gelegt und verlor 1:3. Daß Bolivien in Brasilien mit 0:6 unter die Räder kam, konnte verschmerzt werden. Der zweite Platz hinter Brasilien blieb dank der impo­santen Heimbilanz gewahrt. Die erste WM-Teilnahme seit 44 Jahren war ge­schafft. Der Verkehr brach zusammen. Nicht nur in La Paz, auch in den Exil­gemeinden Washington-Georgetown, Bu­enos Aires, Santiago und Lima.
Sechs aktuelle Nationalspieler entstam­men der berühmten Academia Tahuichi Aguilera (Fußballnachwuchsschule) in Santa Cruz, die 1978 vom jetzigen Staats­sekretär für Sport Rolando Aguilera ge­gründet wurde. Auch der Stürmerstar Marco Antonio Etcheverry erlernte dort sein fußballerisches Rüstzeug.

“El diabolo”: Ein teuflischer Dribbler

Seine Ausbildung an der Tahuichi-Aka­demie verdankt Marco Etcheverry der Antidrogen-Organisation “Seamos”. “Sea­mos” kam für den Monatsbeitrag von 16 DM auf, da dieser die finanziellen Mög­lichkeiten seiner Eltern überstieg. Mit 17 Jahren unterschrieb “El diabolo” (der Teufel) seinen ersten Profivertrag bei Bo­livar La Paz. Mit 21 Jahren feierte er 1991 sein Debüt in der Nationalmannschaft. Im gleichen Jahr glänzte er mit spektakulären Dribblings bei der “Copa America” (Südamerikameisterschaft) so sehr, daß er ins All-Star-Team der besten 11 Spieler des Turniers gewählt wurde. Der Weg ins lukrative Europa war geebnet. Der spani­sche Erstligist Albacete sicherte sich flugs die Dienste des umworbenen Stürmers. Doch alles Geld konnte das überhand­nehmende Heimweh nicht kompensieren. Etcheverry wurde mehr in Kneipen als auf dem Trainigsplatz gesehen. Nach einem halben Jahr brach “El diabolo” seine Zelte im europäischen “Paradies” wieder ab, um nach La Paz zu seinem Stammverein Bo­livar zurückzukehren. Die in Bolivien für einen Fußballprofi kärglichen Verdienst­möglichkeiten von im Schnitt 1700 DM, ließen ihn aber nach einem Jahr das chile­nische “Exil” bei Colo Colo Santiago su­chen. Mit diesem Club wurde er 1993 auf Anhieb Meister, wenngleich eine schwere Knieverletzung im November sein Mit­wirken in der Schlußphase der Meister­schaft verhinderte. Bei der WM soll er aber wieder fit sein und kann somit im Er­öffnungsspiel dem deutschen Team die Hölle heiß machen.

Argentinien

Bei den letzten zwei Weltmeisterschaften jeweils Endspielgegner der deutschen Mannschaft, war der Weltmeister von 1978 und 1986 und amtierende Südamerika­meister (1993) natürlich Top­favorit in seiner Gruppe. Doch Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Das unterentwickelte Kolumbien könne in Ar­gentinien doch gar nicht gewinnen, soll Diego Maradona vor dem Rückspiel in Buenos Aires geäußert haben. Mit dem schon erwähnten 5:0 Sensationssieg gaben die Kolumbianer auf dem Spielfeld eine deutliche Antwort. Das ruhmreiche Ar­gentinien mußte so eine interkontinentale Zusatzqualifikation gegen Australien be­streiten, um das Ticket für die USA zu er­halten. Mit diesen beiden Spielen kehrte auch Argentiniens bester Fußballer aller Zeiten, Diego Armando Maradona nach dreijähriger Abstinenz wieder ins Natio­nalteam zurück. Trotz mangelhafter Fit­ness trug Maradona mit seiner Vorlage zum 1:1 in Australien und beim knappen 1:0 in Buenos Aires mit seinem Mythos entscheidend zur Qualifikation bei. Wenn auch im Moment ohne Verein und von seiner Höchstform weit entfernt, hofft Ar­gentinien, daß Maradona auch bei der WM mit Genieblitzen die Mannschaft führen und inspirieren kann.

“Dieguito”: “Fußballgott” und “Kokain­sünder” – der Mythos Maradona

Neben dem Brasilianer Pelé gilt er als weltbester Spieler aller Zeiten. Schlag­zeilen produziert er im Privatleben ebenso ausgiebig wie auf dem Spielfeld. Seine Größe als Fußballer ist ebenso unumstrit­ten, wie seine Persönlichkeit umstritten. Politisch zeichnet sich Maradona durch wechselnde Positionen aus. Einst Verehrer von Menem, schenkte er als Zeichen sei­ner Wertschätzung unlängst dem máximo líder Fidel Castro sein Trikot. Bei den kürzlichen Kommunalwahlen in Argenti­nien sprach er sich für das Mitte-Links­Bündnis Frente Grande aus.

Teures Wunderkind

Seine von zahlreichen Rekorden und Er­folgen gekrönte Profikarriere begann Diego Armando Maradona schon zehn Tage vor seinem 16. Geburtstag als Ein­wechselspieler der Argentinos Juniors Bu­enos Aires. Vier Monate später feierte das Supertalent als jüngster Nationalspieler des Landes aller Zeiten seinen Einstand in der Nationalmannschaft. Mit 21 Jahren wechselte er für die damalige Rekordablö­sesumme von ca. 20 Millionen DM zum spanischen Club FC Barcelona; 1984, mit 23 Jahren, für die neue Rekordablöse­summe von ca. 24 Millionen DM an den Vesuv zum SSC Neapel. Größere sportli­che Erfolge hatte “Dieguito” bis dato überhaupt noch nicht errungen. Allein sein Ruf als weltbester Fußballspieler ließ die Ablösesumme in ungeahnte Höhen schnellen. Mit der Zeit in Neapel (84 bis 91) ist der Aufstieg zum verehrten “Fußballgott” wie auch der Fall zum “Kokainsünder” verbunden.

Eine Stadt und ihr Spieler – die Symbiose

Schon zu seiner Vorstellung pilgerten 80.000 ZuschauerInnen ins Stadion San Paolo. Maradona, einer, der den Aufstieg geschafft hat, als Symbol der Hoffnung für die Armen. “Bienvenuti a Italia” – so wurde das Afrika zugeordnete Neapel in Genua oder Mailand hämisch empfangen. Maradona als Symbol eines neuen Selbst­bewußtseins gegenüber den reichen Städ­ten des Nordens.
Maradona gab die Sympathien, die ihm in Neapel entgegenschlugen, zurück. Auf dem Spielfeld ließ er mit seinen Tricks Alltagssorgen verblassen. Privat lud er des öfteren Kinder für ein Wochenende in seine Prunkvilla ein. Wenn überhaupt, dann wurde in Argentinien der Gewinn der Weltmeisterschaft 1986 enthusiasti­scher gefeiert als in Neapel. Auch Neapel war Weltmeister geworden, schließlich war es ihr “Dieguito”, der als überragen­der Spieler dem Turnier seinen Stempel aufgedrückt hatte. Unsterblich machte sich Maradona im Jahr darauf. Der Begriff scudetto (italienischer Meistertitel) war aus dem neapolitanischen Vokabular ent­fernt worden, schien doch ein Fluch auf ihm zu lasten oder wie anders konnte er­klärt werden, daß Neapel noch nie Meister geworden war. Maradona, der Magier, lö­ste auch diesen Fluch. Meisterschaft und Pokal in einem Jahr. Maradona war auf dem Höhepunkt seines Ruhms angekom­men. Eine ganze Stadt lag “Dieguito” zu Füßen, umarmte ihn – und hätte ihn fast erdrückt.

Maradona auf der Flucht – die Tragik

Maradona, der sich anfangs in seiner un­antastbaren, gottähnlichen Rolle gefiel, wurde es zuviel. “Ich fühle mich wie ein Gefangener” äußerte er 1989. Er wollte weg, obwohl der sportliche Erfolg immer noch gegeben war. 1990 wurde die Mei­sterschaft ein zweites Mal errungen. Maradona gehen lassen, Neapel ohne Gott und Hoffnung? Wie sollte ein Präsident das verantworten? Maradona im Käfig. Im Februar 91 wurde Maradona mit ersten Drogenvorwürfen konfrontiert. Im März wurde es amtlich. Nach einem Ligaspiel wurde ihm der Kokaingenuß nachgewie­sen. Er habe zu den Drogen gegriffen, um dem Rummel um seine Person zu entflie­hen. Er floh weiter. Zunächst vor der ita­lienischen Justiz nach Argentinien. Dort wiederum in die Drogen. Nach seiner Festnahme wegen Drogenbesitz bewahrte ihn nur sein Name und die Bereitschaft, sich einer Entziehungskur zu unterziehen, vor einer Haftstrafe. Seine Karriere schien beendet.
Nach Ablauf seiner 15monatigen Spiel­sperre wegen Dopings wollte er seine Kar­riere bei Boca Juniors Buenos Aires fort­setzen. Neapel gab seinen Sohn preis – für 11,3 Millionen DM. Nie war er so billig und dennoch für Boca zu teuer. So hieß der glückliche Erwerber Sevilla. Mit Ma­radona setzte ein Zuschauerboom ein. Der Mythos Maradona hatte an Zugkraft nichts eingebüßt. Glücklich wurde Diego in Sevilla jedoch nicht. Die Eskapaden häuften sich. Im Sommer 93 hatte Mara­dona sein Ziel erreicht. Er wurde entlassen und kehrte nach Argentinien zurück. Sein neuer Club hieß Newell’s Old Boys aus Rosario – bis zum 1. Februar. “Maradonas Vertrag mit unserem Klub ist beendet, weil Diego psychisch nicht in der Lage ist, mit Anstand und Würde in einer ihm ge­mäßen Art zu spielen.” Mit diesen Worten beendete der Vereinspräsident die Zu­sammenarbeit mit dem enfant terrible. Die WM ist Maradonas neuer Fluchtpunkt. “Die Argentinier können beruhigt sein. Ich werde bei der WM dabei sein und in den USA wie um mein Leben spielen” ließ er kurz nach seiner Entlassung verlauten. Wohin sein Weg oder seine Flucht danach führen wird, ist noch offen. Der Mythos lebt weiter. Nur so ist zu erklären, daß dem bald 34jährigen Maradona auch für die Zeit nach der WM schon wieder An­gebote vorliegen. Darunter eins vom SSC Neapel.

Brasilien

Brasilien ist das einzige Land der Welt, das an allen 14 Weltmeisterschaften teil­genommen hat. Brasilien ist das einzige Land, das auf einem fremden Kontinent Weltmeister wurde (1958 in Schweden). Die glorreiche Zeit des dreifachen Welt­meisters liegt indessen weit zurück. Seit 24 Jahren kein Weltmeistertitel mehr. Dennoch gilt Brasilien immer noch als In­begriff für Fußballkunst und Fußballzau­ber. Wenngleich auch die Kolumbianer inzwischen als “die letzten Brasilianer” tituliert werden, gilt Brasilien wie immer als einer der Topfavoriten auf den Titel. Daran ändert auch die erstmals in einer Qualifikation erlittene Niederlage gegen Bolivien nichts. Gruppensieger wurden die Brasilianer trotzdem. Im letzten und entscheidenden Spiel gegen Uruguay be­rief der Nationaltrainer Parreira nach neunmonatiger Verbannung den Stürmer­star Romário wieder ins Aufgebot. Dieser bedankte sich mit zwei Toren. Unbestrit­ten als Torjäger, ist er innerhalb der Mannschaft ob seiner Starallüren jedoch ständiger Unruheherd.

Heirat im Strafraum: Romário: “Training ist Kalorienverschwendung”

“Ich wollte schon seit frühester Jugend immer ganz vorne spielen und Tore schie­ßen.” Romário hat sein Vorhaben ein­drucksvoll umgesetzt. Von 89 bis 91 wurde er dreimal in Folge holländischer Torschützenkönig. Auch in seiner ersten Saison beim FC Barcelona wurde er die­ses Jahr souveräner Schützenkönig. In Eu­ropa zog er als Torschützenkönig bei den Olympischen Spielen 1988 erste Auf­merksamkeit auf sich. Sein darauffolgen­der Wechsel zum Philips-Sport-Verein (PSV) Eindhoven sorgte durch die unge­wöhnliche Finanzierungsart für Schlag­zeilen. Philips hatte von der brasiliani­schen Zentralbank mit einem Abschlag Schuldentitel in Höhe von 2,8 Millionen US-Dollar aufgekauft, der Verein Romá­rios (Vasco da Gama) erhielt im Gegen­zug von der Zentralbank Cruzados zum Tageswert von 3,91 Millionen US-Dollar (siehe LN 176). Zum ersten Mal wurde so ein Fußballspieler zum Zwecke staatlicher Schuldentilgung verwendet.

Der launische Strafraumkönig

Der Strafraum ist Romários Lebensfeld. Nicht nur, daß er seine Tore fast aus­schließlich aus kurzer Distanz im selbigen erzielt, nein selbst geheiratet hat er in ihm. Zu seiner Trauung wurde eigens ein Altar auf dem Elfmeterpunkt eines Fußballplat­zes aufgebaut. Launisch zeigt er sich auch bei der Wohnungssuche in Barcelona. Nach knapp einem Jahr wohnt er immer noch in einem Luxushotel, weil er sich für kein Appartement entscheiden kann. Mal hat’s keinen Meeresblick, mal ist’s zu klein, mal ist’s zu weit vom Trainingsplatz entfernt. Ansonsten mißt er dem Training eher weniger Bedeutung bei. Training sei “Kalorienverschwendung” ließ er einmal verlauten. Dementsprechend häufig blieb er ihm fern. Tore schießen läßt sich nun­mal nicht trainieren. “Ich glaube, daß ich mit diesem Talent auf die Welt gekommen bin”, äußerte er sich zu seinen Torjäger­qualitäten. An Selbstvertrauen mangelt es Romário wirklich nicht. Dem brasiliani­schen Nationalheiligen Pelé unterstellte er kürzlich sogar in aller Öffentlichkeit “Schwachsinnigkeit” und “Museums­reife”. Seinen Stürmerkollegen in der Na­tio­nalmannschaft, Muller, kriti­sierte er hef­tig und kündigte an, daß er nicht mit ihm zusammenspielen wolle. Pelé rea­gierte gelassen: “Manchmal sagt man in Eu­ropa eine Sache und sie wird in einer anderen Art und Weise in Südame­rika be­richtet”. Er bezeichnete sich sogar als Fan Romários und erwartet ihn als einen der Super­stars bei der WM. Die Mitspieler des Torjägers reagierten gar nicht. Der Grund: Nationaltrainer Parreira verhängte ei­nen “Maulkorberlaß”. Keiner darf sich in der Öffentlichkeit negativ über den Hoff­nungsträger der Nation äußern. Vor neun Monaten noch hatte Romários For­derung nach einem Stammplatz zu sei­ner Ver­bannung geführt. Jetzt hält ganz Bra­silien in der Hoffnung still, daß Romá­rio Bra­silien zum Weltmeistertitel schießt. Wehe Romário, wenn er nicht trifft.

Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes

“Er warf noch einen Blick in den Spiegel, in sein hageres, fast blutleeres Gesicht. Dann brach er auf, ohne Eile. War nicht der Nebel tiefer und dichter? […] Schließlich bog er ab und kam auf den Platz des schönen Todes. Geduldig wartete er, bis die Fußgänger sich zerstreut hatten und das Mysterium wieder auftrat. Er wußte genau, daß es eine überwältigende Stärke erlangen würde. Und so kam es auch.” An diesem Abend noch gleitet José María de Alesio hinüber in das Reich des Todes. In der Hand “eine üppige, schöne Blume, in der später jemand eine Amazonasblume” erkennt.
Edgardo Rivera Martínez erzählt in “Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes” eine Geschichte vom Sterben. Melancholisch, poetisch, jedoch nicht traurig.
“Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes”, so heißt auch die jetzt im Verlag edition día erschienene Anthologie peruanischer ErzählerInnen. Sie wurde von Luis Fayad und Kurt Scharf für das Berliner Haus der Kulturen der Welt herausgegeben. Siebzehn AutorInnen haben ihre in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren entstandenen Geschichten hier veröffentlicht.
Die LeserInnen werden in Lima umhergeführt: von den Oberschichtsvierteln zu den Mittelstandsdiscos, von einem Café im Zentrum in eine Penthousewohnung, in die Vorstädte. Von der Grenze zu Ecuador nach Ayacucho, Arequipa und schließlich nach Europa. So unterschiedlich wie diese Orte, so vielseitig sind auch die Erzählungen selbst.
In “Ein harter Knochen” von Cronwell Jara Jiménez geht es um die Ehre, um Rivalität zwischen Männern und um eine Frau. “Celodonio, du weinst wie ein Weib. Und du stirbst aus Todesangst. Du verdienst, in Weiberröcken zu sterben.” Schlimmer kann eine Beleidigung nicht sein. Schon blitzt der Dolch. Der Junge, der diese Vorgänge erzählt, tut dies als scheinbar Unbeteiligter – selbst wenn er von seinen Tränen spricht. Jara Jiménez beschreibt die Welt der Indígenas ohne Schwarzweißmalerei und ohne Pathos.
Ehre und Rache stehen im Mittelpunkt der beiden Erzählungen “Die Kleider einer Dame” von Alonso Cueto und “Hinter der Calle Toledo” von Teresa Ruiz Rosas. Hier sind es jedoch die Frauen, die die Männer strafen – berechnend und ruhig. Das Aufbegehren gegen die Willkür und Überheblichkeit des anderen Geschlechts findet dabei seinen Ausdruck in Lima ebenso wie im kleinstädtischen Arequipa. Beide Male wählt die Frau die radikale Lösung, die in ihren Augen die einzige ist.
Auch in “Arachne” von José Alberto Bravo de Rueda ist es eine Frau, die sich von ihrem Geliebten verraten fühlt und sich an ihm rächt. Wie in “Hinter der Calle Toledo” spielt bei der Disharmonie der Partner auch der Konflikt zwischen städtischem und ländlichem Lebens eine Rolle.
Durch ihre expressive Sprache zeichnen sich die beiden sehr kurzen Erzählungen von Carmen Ollé und Miguel Barreda Delgado aus. Hier wird deutlich, wie sich Zusammenhänge in der Großstadt auflösen. In “Lince und der letzte Sommer” reiht die Autorin Gedankenfetzen aneinander, setzt mit fast lyrischen Ausführungen an, um sich dann selbst ironisch zu unterbrechen: “Leider haben mich meine Freunde samt meiner Schwermut satt”.
“Ein Telefon ist für mich gefährlicher als ein Maschinengewehr; es tötet leise” – Barreda Delgados Erzählung “Alle Welt liebt dich, wenn du tot bist” drückt die Einsamkeit in der anonymen Großstadt aus, die hier schließlich in den Tod führt. Die Überlagerung von Erinnerung und Gegenwart prägt Julio Ramón Ribeyros Geschichte “Die Jakarandabäume”. Es gelingt ihm, der Stadt Ayacucho einen mystischen, ehrwürdigen, aber auch kleinbürgerlichen Charakter zu verleihen, obwohl die Stadt nur als Bühne für die Erinnerungswelt erscheint.
Träume und Phantasien lassen in “Der schwarze Pianist” von Carlos Calderón Fajardo reale und irreale Welten ineinanderfließen. “Es war an einem Oktobertag im Jahre 1976, ich war ein einsamer Südamerikaner, der in einer Welt lebte, zu der er zwar gehörte, der er aber dennoch völlig fremd war.” Schauplatz ist Europa, Belgien. Ein Student erzählt von den merkwürdigen Jobs, mit denen er sich über Wasser hält. Die zufällige Begegnung mit einem schwarzen Mitreisenden und ein Plakat beflügeln seine Vorstellung von einer geheimen Seelenverwandtschaft der Fremden. Den Herausgebern ist es gelungen, viele Facetten der aktuellen peruanischen Literatur zusammenzustellen und dabei auch AutorInnen zu berücksichtigen, die in Deutschland unbekannt sind. Ein besonderes Lob verdient auch das Vorwort, das, ohne schulmeisterlich zu sein, einen kurzen Überblick über die peruanische Literatur gibt. Natürlich bleibt dieser Überblick sehr oberflächlich, unterliegt dabei aber nicht der Gefahr, einfach nur flach zu wirken. Die Erzählungen sind jede für sich ein kleines Lesevergnügen (obwohl es natürlich “Lieblingsgeschichten” gibt), alle zusammen sind besonders für diejenigen, die nicht mit der peruanischen Literatur vertraut sind, ein guter Einstieg.

“Eine Blume auf dem Platz des schönen Todes. Erzählungen aus dem peruanischen Alltag”; hrsg. v. Luis Fayad und Kurt Scharf im Auftrag des Hauses der Kulturen der Welt, edition diá 1994, 191 Seiten; 34 Mark

Indígenas, Ölkonzerne und der Regenwald

Die Geschichte des Erdöls und ihrer Ölmultis

Ecuador gehört zu den erdölexportierenden Staaten und war von 1971 bis 1992 Mitglied der OPEC. Zwischen den Anden und der östlichen Landesgrenze zu Peru ist es zu finden, das schwarze Gold. Dieses Gebiet, genannt “Oriente” oder “Amazonasregion”, war bis Anfang der 70er Jahre von der “Zivilisation” verschont geblieben. Besiedelt vom Indígena-Volk der Huaorani (auch unter dem Namen Aucas bekannt) hatte der Regenwald und die dort lebenden seltenen Tiere nichts zu befürchten. Nach der Entdeckung des Erdöls in der Amazonasregion vergab die damalige Militärregierung die Konzessionen zur Ausbeutung vor allem an die US-amerikanische Gesellschaft Texaco. Straßen wurden gebaut, SiedlerInnen zogen nach, breitangelegte Rodungen begannen und somit die Natur und damit der Lebensraum der Indígenas zerstört. Texaco unterlag kaum einer Kontrolle und dementsprechend ist auch heute der Zustand des Gebietes. Texaco, City (eine Gesellschaft mit Sitz auf den Bahamas) und die staatliche PETROECUADOR sind die Hauptakteure im Ölgeschäft Ecuadors und auch die Hauptverantwortlichen der entstandenen Umweltschäden. 1992 lief die Ölförderkonzession von Texaco aus. Mittlerweile wird der Multi verklagt, und inzwischen fordern nicht nur Ökologie- und Indígenagruppen Schadensersatz, sondern auch die ecuadorianische Regierung.
Der Ölexport hat eine große Bedeutung für Ecuador. Er macht 60% der Exporterlöse aus und finanziert zu 48% den Staatshaushalt. In dem Amazonasgebiet operieren heute außer PETROECUADOR etwa ein Dutzend ausländischer Ölkonzerne. Die Umweltauflagen und Gesetze zum Schutz des Regenwaldes sind nicht ausreichend oder werden umgangen. 30% des ecuadorianischen Amazonasgebietes wurden schon zerstört. Naturreservate und Nationalparks werden nicht ausgenommen, die letzten Bioreservate Ecuadors werden geopfert. Ein kleiner Hoffnungsschimmer besteht allerdings: die Ölreserven Ecuadors im Amazonasgebiet werden im Jahre 2010 erschöpft sein.

MAXUS und der Yasuni-Nationalpark

MAXUS operiert schon seit 20 Jahren im Yasuni-Nationalpark. Der Ölmulti hat nicht nur die Förderrechte von CONOCO übernommen, sondern auch den “Plan ambiental de CONOCO para el Bloque 16 dentro del Parque nacional de Yasuni” (Umweltrichtlinien für den Block 16 im Yasuni-Nationalpark). Das Vorlegen eines derartigen Planes ist für alle ausländischen Ölkonzerne zwingend vorgeschrieben. Nach einer Studie des Comité Ecológico-ESPOL ist der besagte Plan allerdings völlig unzureichend für den Schutz des Nationalparks, der von der UNESCO zur “Reserva Mundial de la Biosfera” deklariert wurde.
Die von CONOCO begonnene Zubringerstraße (vgl. LN 235) wird von MAXUS weitergebaut und soll im Jahre 1998 beendet sein. Nach dem offiziellen Plan wird mit dem Bau der Straße eine Waldfläche von 1050 ha zerstört werden. Das entspricht etwa einem Sechstel des gesamten Nationalparks.
Der Ölmulti MAXUS operiert außer in seiner Heimat Dallas/Texas noch in weiteren zwölf Ländern. In der Vergangenheit benutzte er den Namen “Diamond Shamrock Corporation” (Sitz: New Jersey) Nach Angaben der ecuadorianischen Zeitschrift “Infotrop” produzierte die Firma zwischen 1951 und 1969 Herbizide und Entlaubungsmittel, die im Vietnamkrieg eingesetzt wurden. 1984 wurden er zu einer Schadensersatzzahlung an die sogenannten “Agent Orange”-Opfer von 23 Millionen Dollar verklagt. Nur fünf Jahre später “verdienten” er allerdings bei der Reinigung und Entgiftung der Produktionsstätten 26 Millionen Dollar. Die Negativschlagzeilen in diesem Zusammenhang veranlaßten die Manager, eine Namensänderung vorzunehmen. Der Yaruni-Nationalpark wird bei dieser Firma, ob nun MAXUS oder “Diamond Shamrock Corporation” keine großen Überlebenschancen haben.

Anmerkung: In den LN 235 gaben wir die Adresse von CONOCO an, wohin ihr Protestschreiben senden solltet. Da dieser Ölmulti aus dem Amazonasölgeschäft ausgestiegen ist, erledigt sich natürlich das diesbezügliche Protestschreiben. Protestschreiben daher bitte jetzt an:
MAXUS
717 N.- Harwoodstreet

75202 Dallas
USA

Kasten:

Indígenas wehren sich gegen Ölverseuchung

Auf dem Internationalen Kongreß zur Situation indigener Völker in Lateinamerika, der im Dezember 1993 in Berlin stattfand, berich¬tete Galo Villamil von der Verseuchung der Gewässer von 18 indiani¬schen Gemeinschaften. Die Gemeinschaften, die sich im Amazonasgebiet, in der Provinz Pastaza be¬finden, müssen nun Regenwasser sammeln, um nicht zu verdursten. Dort bohrt seit nunmehr einem Jahr die US-amerikanische Firma ARCO nach Öl. Mitglieder einer Indígena-Organisation von Pastaza namens OPIP besetzten nun dieses Erdölfeld, den Block 10 (siehe Schaubild). Ihnen war ein Gespräch mit der Firma ARCO zugesagt worden, um die sozialen und ökologischen Bedingungen der Ölförde¬rung abzuklären. Dieses Gespräch war jedoch in dem Moment abgesagt worden, als große Ölfunde gemacht wurden. Seit 1967 – als erstmals Öl im ecuadoreanischen Amazonasgebiet gefunden wurde – hat dort eine zunehmende Zerstörung um sich gegriffen. 1972 wurde eine 500 km lange Pipeline zu den Raffinerien an der Pazifikküste fertiggestellt. Durch sie floß bisher der Inhalt von eineinhalb Mil¬liarden Fässern Rohöl zum Pazifik. Mehr als die Hälfte des Staatshaushaltes wird durch die Einnah¬men aus dem Ölgeschäft bestritten. Die Folgen für die Umwelt sind immens: Zwischen 1972 und 1989 sind insgesamt 16,8 Millionen Gallonen Öl aus der Pipeline ausgetreten, d.h. die dreifache Menge des beim Exxon-Valdez-Unglück ins Nordmeer geflossenen Öls. Und die Erschließung neuer Ölfelder geht weiter. Gegenwärtig werden auf einer Fläche von 3 Millionen Hektar Probebohrungen vorge¬nommen. Des weiteren werden mit Probesprengungen lohnende Gebiete seismologisch ausfindig ge¬macht. Dafür hat mensch 1300 Hubschrauberlandeplätze im tropischen Regenwald angelegt.

Indígenas, Ölkonzerne und der Regenwald

Der US-amerikanische Ölkonzern CO­NOCO, in der Bundesrepublik durch die Tochterfirma “Jet” bekannt, hat mit der Zerstörung des ecuadorianischen Regen­waldes begonnen. Im Osten des Landes, in der Provinz Napo, soll Erdöl gefördert werden, der Bau von Zubringerstraßen in dem bisher unerschlossenen Wald ist an­gelaufen. Damit wird das Gebiet der Huaorani-Indianer zerschnitten, die als die letzten Indianer Ecuadors ohne Kontakt zu den “Weißen” gelten. Die begonnene Straße wird 175 Kilometer durch den Yasuni-Nationalpark führen, der eigent­lich eine Fläche von 679.730 Hektar Re­genwald schützen soll und in dem noch seltene Tiere wie das Ozelot und der Ur­vogel Hoazin leben.

Texaco vor Gericht?

Einen Einfluß auf die weiteren Bauvorha­ben in dem Regenwaldgebiet könnte eine Klage haben, die verschiedene indigene Gruppen gegen die US-Ölkompanie Texaco anstrengen. Der Ölfirma wird vor­geworfen, während ihrer mehr als 20jährigen Tätigkeit in dem unter dem Namen Oriente bekannten Gebiet die Umwelt in unverantwortlicher Weise ver­schmutzt zu haben. Die aus dem ecua­dorianischen Amazonasgebiet kommen­den Gruppen klagen 1,5 Milliarden US-Dollar als Wiedergutmachung für die ent­standenen Schäden ein. Ihre Begründung: Texaco habe in Ecuador minderwertige Technologie eingesetzt. Hochgiftige Ab­fallstoffe wurden einfach in die Wasser­läufe der Flüsse gepumpt oder es wurden Müllhalden angelegt, wo die toxischen Abfälle lagerten. Die Gesundheit der in dem Gebiet lebenden Menschen wurde damit auf das Fahrlässigste gefährdet.
Verschiedene Studien von Umweltorgani­sationen und indigenen Organisationen belegen die Anklagen. So erarbeitete zum Beispiel die Forscherin Judith Kimerling in Zusammenarbeit mit der indigenen Or­ganisation FCUNAE (Federación de Nacionalidades Indígenas de la Amazonia Ecuadoriana) einen detaillierten Report über die Aktivitäten von Ölgesellschaften im Jahre 1990. Danach ist die Gesundheit der Bevölkerung durch giftige Abfälle – speziell verursacht durch Texaco – stark beeinträchtigt. Das vermehrte Auftreten von Hautkrankheiten, Atemwegsbe­schwerden, Krebs und sogar Mißgeburten bei der Bevölkerung sind die Folge der Vergiftung durch die Ölgesellschaft.
Anfang November machten sich Vertrete­rInnen indigener Gruppen nach New York auf, um gegen den Ölmulti Texaco vor Gericht zu gehen. Es wird damit gerech­net, daß es ungefähr sechs Monate dauern wird, bis die US-Gerichtsbarkeit entschei­det, ob die Klage zulässig ist oder nicht.

Protestschreiben in Hinblick auf die oben genannten Umweltzerstörungen durch CO­NOCO bitte zahlreich an die folgende Adresse senden:
CONOCO
Überseering 27
22297 Hamburg 60

Kreative Unruhe inmitten des ökonomischen Desasters

Es ist eine seltsame Sturmnacht. Wind und Regen peitschen von der Karibik her gegen das kolumbianische Festland. Krebse krabbeln aus der Gischt und retten sich an Land. Ein Baby wird unruhig. In Windeseile bedeckt das glitschige Getier den Boden der Strohhütte. Das Baby schreit. Draußen hat das Unwetter ein anderes verstörtes Wesen an den Bootssteg gespült: “Un señor muy viejo con unas alas enormes” – einen sehr alten Herrn mit enormen Flügeln. Ein Geschenk des Himmels?
Fernando Birri, Kuba, 1989

Wie jeden Tag sitzt sie in der Küche und weint beim Zwiebelschneiden, als sie spürt, daß es soweit ist: Der gewölbte Unterleib krampft sich zusammen, die Fruchtblase platzt, und ein Meer von Tränen ergißt sich über die Holzdielen, schwappt bis zur Türschwelle. Das Mädchen, das in diesem Moment das Licht der Küchenfunzel erblickt, wird den Großteil seines Lebens in diesem Raum verbringen und als Köchin kleine Wunder vollbringen. Tief im Inneren wird sie sich nach den samtigen Schlafzimmeraugen ihres Geliebten und späteren Schwagers verzehren. Sie gehören zueinander “como agua para chocolate” – wie das Wasser und die Schokolade, die sie ihm täglich in emsiger Fürsorge zubereitet…
Alfonso Arau, Mexiko, 1992

Mexikanische Knäste sind nicht besonders angenehm, dieser ist keine Ausnahme: Die Mittagshitze brennt aufs Wellblechdach, apathisch hängt die Wärterin hinterm Schreibtisch und zählt Schmiergeld. Auch der einzige Insasse langweilt sich – und sinnt auf Rache: Er weiß, wessen Verrat er diesen Aufenthalt verdankt. Da ist das Schlagen einer Autotür zu hören. Breitbeinig, die Knarre im Anschlag, betreten sie die Baracke. Damit der Chef die neue Freiheit auch genießen kann, haben sie ihm gleich was mitgebracht: einen schwarzen Gitarrenkoffer – drinnen eine kleine Waffensammlung. Der Weg ist frei für die Revanche – wenn da nicht ein unschuldiger “Mariachi”-Sänger mit einem ähnlichen Koffer wäre…
Roberto Rodriguez, Mexiko, 1992

Von einem Tag auf den anderen beschließt er, das wenige zu verkaufen, was er sich in all’ den Jahren als Sargtischler erarbeitet hat. In La Paz begreift niemand, warum er zurück will in sein Aymara-Dorf. Vor Jahren hatte ihn die Gemeinschaft verstoßen: Er hatte Geld unterschlagen. Eine rituelle Tanzmaske auf den Rücken geschnallt, macht er sich zu Fuß auf den Weg, um dort zu sterben, wo er hingehört: zur “nación clandestina” – der geheimen Nation.
Jorge Sanjinés, Bolivien, 1991

Bloß raus aus dem feuerländischen Winter, weg vom spießigen Stiefvater, der resignierten Mutter, den Schikanen in der Schule und der verwickelten Liebesaffäre. – Wohin? Mal sehen: erst mal mit dem Rad durch Patagonien, dann weiter nach Norden… Quer durch den unbekannten lateinamerikanischen Kontinent, auf den Spuren des Vaters, der vor Jahren das Weite suchte: “El viaje” – die Reise – vielleicht ist der Weg schon das Ziel?
Fernando Solanas, Argentinien, 1992

Eingangsquenzen von fünf lateinamerikanischen Filmen, die in den letzten Jahren entstanden: Ein Panoptikum unterschiedlicher Geschichten und Bildsprachen. Nicht alle haben eine klare “mensaje”, eine politische Botschaft. Im Gegenteil: “El Mariachi” und “Como agua para chocolate” stehen eher in der Tradition populärer Unterhaltungsgenres, treiben sie auf die Spitze, lavieren zwischen parodistischer Brillianz und schnöder Trivialität hin und her.
Ganz anders dagegen Filme wie “La nación clandestina” und “El viaje”. Auf sehr unterschiedliche Art und Weise befassen sie sich mit der Suche nach einer persönlichen und kollektiven Identität: “La nación clandestina” des Bolivianers Sanjinés hält sich als künstlerisches Werk zurück. Der Film, der mit Aymara-Indígenas in ihrer Sprache gedreht wurde, paßt sich in Tempo und Schnittfolge der Lebensphilosophie dieses Volkes an. Ganz anders dagegen der abenteuerliche Trip von Solanas Protagonisten, einem Jungen aus dem weißen Mittelstand: “El viaje” ist vom ständigen Wechsel der Verkehrsmittel, der Umgebung, der Eindrücke geprägt: Ein surreal-dekadentes Argentinien, von Wassermassen überschwemmt und in seiner eigenen Scheiße erstickend. Ein postkartenschönes Machu Picchu, das inmitten des touristischen Rummels Ahnungen von der präkolumbianischen Vergangenheit aufsteigen läßt. Ein von grotesken Gegensätzen zerrissenes Brasilien, in dem es futuristische High-Tech-Metropolen gibt, während gleichzeitig im Amazonasgebiet Minenarbeiter sich zu Tode schuften müssen wie schon zu den Zeiten der Conquista. – Zwei Filme, der eine von stoischer äußerer Ruhe und Verschlossenheit, der andere opulent, teilweise überladen mit Eindrücken und Metaphern – Porträts der widersprüchlichen Gesichter eines Kontinents.

Filme zur Conquista: Jubiläumsspektakel oder kultureller Dialog?

Pünktlich zum Jahr 1992 entstanden auch einige Filme, die sich direkt mit der Geschichte der Eroberung Amerikas auseinandersetzen: Im Gegensatz zu den US-amerikanischen Mammutschinken “1492” und “Columbus”, die sich auf die Heldengestalt des “Entdeckers” bezogen, erzählen “Jericó” (Luis Alberto Lamata, Venezuela, 1991) und “Cabeza de vaca” (Nicolás Echevarría, Mexiko, 1991) andere Versionen vom “Aufeinandertreffen zweier Welten”, die ebenfalls auf historische Quellen zurückgehen: In beiden Fällen sind die Protagonisten spanische
Conquistadoren, die von ihrer Armee getrennt werden, nach und nach immer mehr vom alten Ich abstreifen, in die fremde Umgebung und Kultur eintauchen – bis sie gegen ihren Willen von den Spaniern “gerettet” und in die “Alte Welt” zurückgeholt werden.
Das Paradoxe ist, daß die meisten dieser “500 Jahre”-Filme nur mit Hilfe von Geldern aus Europa realisiert werden konnten. Besonders der staatliche spanische Fernsehsender TVE ließ sich das historische Gedenken schon einiges kosten und trat als Koproduzent bei der Finanzierung einiger Filme auf – unter anderem bei “La nación clandestina” von Sanjinés und “Un señor muy viejo con unas alas enormes”, den Fernando Birri nach einer Kurzgeschichte von Gabriel García Márquez verfilmte.

Allgemein konnte im letzten Jahr durchaus der Eindruck enstehen, als ob die europäische Medienöffentlichkeit ganz wild darauf sei, die koloniale Vergangenheit durch eine hohe Durchlaufzahl von lateinamerikanischen Filmproduktionen aufzuarbeiten. Sowohl auf den Leinwänden der Filmfestivals als auch in der ersten Reihe bei ARD und ZDF waren so viele amazonische Ureinwohner und großstädtische Straßenkinder zu sehen wie nie zuvor. Jetzt, wo der Jahrestag der Betroffenheit abgefeiert worden ist, scheinen sich die Bedürfnisse des Marktes und das Angebot in den Massenmedien erst mal wieder in andere Weltregionen verlagert zu haben.

Zwischen “Ästhetik des Hungers” und Happy End für “Juliana”

Und wie sieht es in Lateinamerika selbst aus? Mehr als 30 Jahre sind seit der Entstehung des Neuen Lateinamerikanischen Films vergangen. Beeinflußt von der kubanischen Revolution und linken Bewegungen anderswo auf dem Kontinent, versuchten in verschiedenen Ländern FilmemacherInnen, neue Wege zu gehen. Stilistisch waren sie unter anderem vom italienischen Neorealismus oder vom Surrealismus Luis Buñuels beeinflußt, der damals im mexikanischen Exil lebte. Das Kino sollte keine illusionistische Traumfabrik sein, sondern Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse und gleichzeitig Motor politischer Veränderungen. Entsprechend programmatisch waren die Namen: “Cine Imperfecto”, “Cine de Liberación”, “Ästhetik des Hungers”. Regisseure wie Fernando Solanas und Octavio Getino (Argentinien) propagierten ein “Drittes Kino” in Abgrenzung sowohl von der kommerziellen Filmindustrie als auch vom individualistischen Autorenkino.
Ziel war die “Entkolonialisierung der Köpfe” – Film als politisches und pädagogisches Instrument: Entsprechend groß war auch die Bedeutung, die dem Kino in Kuba und auch im sandinistischen Nicaragua beigemessen wurde. Einige dieser Filme beeindrucken nicht nur durch die “Botschaft”, sondern auch durch die expressive Bildsprache: Zum Beispiel “Lucía” von Humberto Solás (Kuba, 1968), der die Geschichte Kubas anhand dreier Frauen aus unterschiedlichen Epochen dieses Jahrhunderts zeigt. Andere Filme arbeiteten dagegen vorwiegend mit dem didaktischen Zeigefinger: Die Charakterisierung der Personen wurde dem vereinfachenden Pinselstrich des “sozialistischen Realismus” untergeordnet.
Einige RegisseurInnen oder Filmkollektive versuchten, nicht nur die Inhalte zu “revolutionieren”, sondern auch die Entstehung eines Films zu einem Gemeinschaftsprojekt zu machen: In den achtziger Jahren arbeitete Grupo Chaski in Peru fast ausschließlich mit LaiendarstellerInnen, die aus ähnlichen Lebensverhältnissen stammten wie die Personen des Films. Ihre Erfahrungen sollten in die Handlung einfließen. Dieser Anspruch wurde allerdings nur begrenzt realisiert – unter anderem, da es nicht gelang, mit gruppeninternen Hierarchie- und Machismo-Konflikten fertigzuwerden. Bei den Filmen von Grupo Chaski flossen Realität und Fiktion ineinander. Und auch Wunschträume hatten ihren Platz, beispielsweise bei dem Film über das Straßenmädchen “Juliana” (Peru 1989), der auf Wunsch der Kinder, die mitspielten, ein Happy End bekam. – Dies löste übrigens bei der Präsentation des Films in Europa bei vielen BetrachterInnen Befremden aus, wurde angesichts der Situation in Peru als unpolitisch und naiv angesehen…

Vor dreißig Jahren: Aufbruch trotz wirtschaftlicher und politischer Zwangsjacken

Das Neue Lateinamerikanische Kino sah sich natürlich von Anfang an mit großen ökonomischen Problemen konfrontiert. Nur in wenigen Ländern, wie etwa Argentinien, Brasilien und Mexiko, gab es eine funktionierende Infrastruktur im Filmbereich, die in erster Linie der Herstellung kommerzieller Unterhaltungsspektakel diente. In den siebziger Jahren begannen Länder wie Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Peru und Venezuela, Gesetze zur Förderung der nationalen Filmindustrie zu verabschieden. So schreibt beispielsweise seit 1972 ein Gesetz in Peru vor, daß in den Kinos vor jedem ausländischen Spielfilm ein peruanischer Kurzfilm gezeigt werden muß und ein Teil der Kinoeinnahmen seinen ProduzentInnen zufließt. Dies führte immerhin dazu, daß zwischen 1972 und 1990 mehr als 800 Kurzfilme entstanden.
Während der Zeit der Militärdiktaturen in Argentinien, Chile, Bolivien und anderen Ländern waren viele FilmemacherInnen gezwungen, ins Exil zu gehen. Erst die Rückkehr der Länder zur formalen Demokratie brachte wieder Impulse für den Film, der zum Sprachrohr der progressiven Bewegungen wurde: In Argentinien entstanden ab Mitte der achtziger Jahre eine Reihe von Werken, die sich mit der Zeit der Diktatur auseinandersetzten, so etwa “La historia oficial” von Luis Puenzo (“Die offizielle Geschichte”, 1985), “La noche de los lápices” (“Die Nacht der Bleistifte” 1986) von Héctor Oliveira und “Sur” (Süden, 1987) von Fernando Solanas.

Ökonomische Krise und Videoboom: schlechte Zeiten fürs Kino

Die neunziger Jahre sind für das lateinamerikanische Kino nicht gerade die Zeit der großen Hoffnungen, und das hat in erster Linie ökonomische Ursachen: Die in den meisten Ländern ohnehin nicht sehr stabile Filmindustrie leidet zum einen unter der immer größeren Konkurrenz durch Fernsehen und Video. Die ökonomische Krise der letzten Jahre und vor allem die neoliberale Wirtschaftspolitik haben gleichzeitig die Kaufkraft so weit geschwächt, daß ein Kinobesuch auch für Leute aus der Mittelschicht zum Luxus geworden ist.
Als Konsequenz des Publikumsschwundes mußten in den vergangenen sechs Jahren mehr als die Hälfte der Kinosäle in Lateinamerika schließen. Die übrig gebliebenen Lichtspielhäuser setzen vorwiegend auf US-amerikanische Massenware. Oft werden sie auch von den Verleihfirmen dazu verpflichtet, mehrere Streifen en bloc einzukaufen, was es schwer macht, unabhängig produzierte in- oder ausländische Filme ins Programm zu nehmen.
Anders als in der Fernsehindustrie gibt es im Filmbereich kaum Strukturen für den Vertrieb und Austausch lateinamerikanischer Produktionen. Mit paradoxen Folgen: Die Wahrscheinlichkeit, einen kolumbianischen Film in einem Programmkino in Köln oder einem Dritte Welt Zentrum in Münster zu sehen, ist weitaus größer als die Möglichkeit, das Werk im Nachbarland Ecuador zu Gesicht zu bekommen. Das gilt auch für viele Filme, die internationale Preise erhalten haben.
Insbesondere die brasilianische Filmindustrie wurde von den Privatisierungen unter Collor de Mello stark getroffen. Dieser löste nach seinem Amtsantritt die staatliche Filmförderungsbehörde Embrafilm auf und schaffte das Gesetz ab, das den brasilianischen Filmen eine Abspielmöglichkeit garantierte. – Mit dem Ergebnis, daß das Land, das zeitweise bis zu 90 Filme pro Jahr produzierte, seit Anfang der neunziger Jahre nur noch durchschnittlich 3 Filme herstellt. Die Programmlücken, die so im Kinoangebot entstanden, wurden rasch mit US-Produktionen gefüllt.
Lediglich Mexiko gelingt es nach wie vor, seine – größtenteils recht kommerziell orientierte – Filmproduktion relativ stabil zu halten. Dies liegt zum einen an der vergleichsweise sicheren politischen und ökonomischen Situation des Landes. Wichtig für die künstlerische Filmproduktion sind die Aktivitäten des staatlichen “Instituto Mexicano de Cinematografía” (IMCINE), das unter anderem gezielt junge FilmemacherInnen fördert. Einige Filme wurden sogar kommerzielle Erfolge im Ausland, zum Beispiel “Como agua para chocolate”: In den USA wurde das Küchendrama überraschend zum Kassenschlager und spielte allein in den ersten 16 Wochen 8,5 Millionen Dollar ein.
Und wie steht es mit Kuba? In den drei Jahrzehnten nach der Revolution entstand auf der Insel unter Federführung des nationalen Filminstitutes ICAIC eine Filmindustrie, die zwischen 1984 und 1990 ungefähr 10 Spielfilme pro Jahr sowie zahlreiche Kurz- und Dokumentarfilme produzierte. Entscheidend ist allerdings nicht die Anzahl der Filme, sondern die politischen Impulse, die vom kubanischen Film ausgingen, sowie die Infrastruktur, die der kubanische Staat aufbaute und auch Filmschaffenden anderer Länder zur Verfügung stellte.
So wurde 1986 auf Kuba die “Filmschule der drei Welten” gegründet – ein weltweit einmaliges Projekt, das jungen Leuten aus Lateinamerika, Asien und Afrika die Möglichkeit bietet, gemeinsam zu studieren und sich auszutauschen. Das Internationale Filmfestival von Havanna, das seit 1980 jährlich stattfindet, entwickelte sich schnell zum wichtigsten Forum des lateinamerikanischen Films.
Die ökonomische Krise, unter der Kuba seit dem Zusammenbruch der Länder des Warschauer Paktes leidet, hat natürlich auch Auswirkungen auf die Filmindustrie: So konnten im vergangenen Jahr nur zwei Spielfilme fertiggestellt werden. Folglich fand das Filmfestival in Havanna in den letzten beiden Jahren in einer Atmosphäre der Widersprüche statt: Inmitten des immer größer werdenden Mangels gelang den OrganisatorInnen zwar das Kunststück, einen reibungslosen Ablauf des Festivals zu organisieren. Gleichzeitig sorgte 1992 die de-facto-Zensur des kubanischen Films “Alicia en el pueblo de las maravillas” (“Alice im Wunderland”), einer systemkritischen Satire von Daniel Díaz Torres, für einen Skandal.

Lateinamerikanische Filmkooperation – erste zaghafte Schritte

Was ist aus der kontinentalen Vision der Väter – und wenigen Mütter – des Neuen Lateinamerikanischen Films geworden, die sich 1967 im chilenischen Badeort Viña del Mar zum ersten lateinamerikaweiten Treffen versammelten?
1986 wurde von Filmschaffenden aus verschiedenen Ländern die “Fundación del Nuevo Cine Latinoamericano” (“Stiftung des neuen lateinamerikanischen Kinos”) ins Leben gerufen, die sich zum Ziel gesetzt hat, “die nationalen und kulturellen Werte Lateinamerikas wiederzubeleben” und die bereits bestehenden Bewegungen auf kontinentaler Ebene zu verknüpfen. Auf Initiative der Stiftung, die ihren Sitz in Havanna hat, wurde beispielsweise 1989 die “Conferencia Iberoamericana de Autoridades Cinematográficas” CACI (“Iberoamerikanische Konferenz der Filmbehörden”) gegründet. Ziel ist, die Zusammenarbeit staatlicher Institutionen und der Filmindustrien auf dem Kontinent zu verbessern und verstärkt Koproduktionen herzustellen. Mittlerweile haben 13 Länder eine “Ibero-amerikanische Film-Vereinbarung” unterzeichnet, die unter anderem die Einrichtung einer jährlichen internationalen Filmkonferenz vorsieht. Auch soll ein Exekutivorgan geschaffen werden, das die gesetzliche und praktische Umsetzung der Vereinbarung in den verschiedenen Ländern überprüft. – Ein gemeinsamer lateinamerikanischer Filmmarkt – die Patentlösung gegen die erdrückende Dominanz der US-amerikanischen Medienindustrie? Gabriel García Márquez, einer der Gründer der “Stiftung des neuen lateinamerikanischen Films”, betont, das Ziel sei nicht, die US-Konzerne aus dem Geschäft zu drängen, sondern lateinamerikanischen Filmen die gleichen Vertriebs- und Präsentationschancen zu verschaffen.
Der lateinamerikanische Film, ein schillernder Vogel, zur Zeit ziemlich gerupft, versucht, ökonomisch fliegen zu lernen. Ein schweres Unterfangen in einer Zeit, in der die wirtschaftliche Krise eine solch beklemmende Schwerkraft entwickelt wie in den neunziger Jahren.

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