”Unser Ziel ist es, zu überleben!”

In Kolumbien spürt man ausgeprägte antiamerikanische Tendenzen in der Bevölkerung. KritikerInnen sprechen vom politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ausverkauf Kolumbiens an „die Gringos”. Diese Kritik scheint in ganz Lateinamerika widerzuhallen. Meinen Sie, dass die politische und soziale Landschaft Lateinamerikas ohne den US-Imperialismus anders aussehe?

Es gibt seit der Überwindung der Pinochet-Diktatur in Chile vielfältige demokratische und soziale Bewegungen in ganz Lateinamerika. Doch überall, wo solche Bestrebungen Reformen und einen friedlichen Wandel einleiten wollen, schreiten die USA zusammen mit der jeweiligen Oligarchie des Landes ein. Dazu gehört die aktive Unterstützung der Destabilisierungsstrategie in Venezuela, der Staatsstreich in Haiti und vor allem der Plan Colombia – den übrigens auch Spanien bislang massiv unterstützt hat. In Venezuela wiederholen die USA im Moment ihr Eingreifen in Chile in den Siebzigern – was 20 Jahre Terror zur Folge hatte.

Wie beurteilen Sie die europäische Lateinamerikapolitik?

Es ist klar, dass die Politik der USA weitaus agressiver und imperialistischer ist als die Europas. Jedoch zeigt die Haiti-Krise, dass europäische Länder macht- und wirtschaftspolitische Bestrebungen haben und dass sie sich im Ernstfall ebenso wenig um das Völkerrecht und die Menschenrechte scheren wie die USA. Grundsätzlich ist eine Abkopplung der Menschenrechte von der Außenwirtschaftspolitik der europäischen Regierungen zu erkennen. Die heutige Sicherheitspolitik, die ja die Menschenrechte in Europa zu schützten vorgibt, hat im Rest der Welt, also auch in Kolumbien, schlimme Folgen. Dennoch fühlt sich Kolumbiens Regierung belästigt durch den Menschenrechtsdiskurs der EU. Und das ist auch gut so.

Was muss man sich unter einer „Abkopplung der Menschenrechte von der Außenwirtschaftspolitik“ vorstellen?

Europa verfolgt zwar weltweit einen Diskurs, in dem die Menschenrechte verhältnismäßig wichtig sind. Jedoch überwiegen die ökonomischen Interessen, die nicht immer mit den Menschenrechten übereinstimmen. Spanien spielt in Kolumbien zum Beispiel eine große Rolle im Finanzsektor und bei der Privatisierung der Staatsbetriebe. Das gilt vor allem für die Telekommunikation, die Medien und die Strom- und Wasserversorgung. Die Menschenrechte spielen bei diesen spanischen Aktivitäten ebenso wenig eine Rolle wie bei Grossbritanniens Engagement im Ölsektor. Im Gegenteil. Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen multinationalen Konzernen und dem Paramilitarismus. Traditionell sind zum Beispiel die Regionen mit Ölvorkommen auch die Hauptkonfliktgebiete des Landes. Wo früher noch Guerillaaktivitäten waren, wüten heute die Paramilitärs. Beispielsweise sind die Verbindungen zwischen BP und diesen Paramilitärs evident.

In Spanien hat kürzlich die sozialistische Partei einen überraschenden Wahlsieg errungen. Ist nun ein politischer Kurswechsel in Bezug auf die spanische Kolumbienpolitik abzusehen?

Mit Aznar hat Präsident Uribe einen fundamentalen Partner verloren. Aber für uns ist das noch kein Grund zur Entwarnung. Denn wir erinnern uns nur zu gut an die Rolle der letzten sozialistischen spanischen Regierung im Kolumbienkonflikt. Sie haben zum Beispiel Staatsstreiche gegen die kolumbianische Regierung verhindert. Sie haben eng mit dem damaligen Botschafter Kolumbiens in Europa, Carlos Arturo Marulanda, zusammengearbeitet, obwohl dieser ein Hintermann der Paramilitärs war. Das Europaparlament hat zudem seinerzeit eine Kommission beauftragt, welche die schweren Menschenrechtsverbrechen in Kolumbien dokumentierte. Dieses Papier wurde auf Druck der sozialistischen spanischen Europaabgeordneten nie zum offiziellen EU-Papier. Für uns ist die Zusammenarbeit mit den spanischen Sozialisten also eine ambivalente Angelegenheit.

Der Polo Democrático ist eine der zwei wichtigen Oppositionsparteien gegen die rechts-autoritäre Uribe-Regierung. Macht ihn das zu einer „linken“ Partei?

Der Polo sieht sich als Verteidiger des demokratischen Rechtsstaates und der Verfassung von 1991, die diesen postuliert. Dafür werden wir als Revolutionäre angesehen. Aber es ist der Staat, der in seinen mafiösen Strukturen erstickt. Und der soziale Rechtsstaat existiert in Kolumbien nur auf dem Papier. Der Paramilitarismus kontrolliert heute einen Großteil des Landes und einige große Städte. Und zwar deswegen, weil er von der Regierung und ihren internationalen Verbündeten erlaubt und gefördert worden ist. Heute ist es sogar so, dass die größten Gefechte unter verfeindeten Paramilitärs stattfinden und dabei die meisten Opfer zu beklagen sind. Wir sehen die Zukunft des Polo so: Entweder vernichten die Paramilitärs zuerst sich selbst, oder sie vernichten uns. Deshalb haben wir für eine demokratische Partei ein etwas seltsam anmutendes Ziel: Zu überleben!

Sie waren Guerillero der M-19. Heute sind sie Kongressabgeordneter. Was unterscheidet den Gustavo Petro von einst von dem Senator heute?

Wenig! Die M-19 entstand 1970 nach den von der Opposition gewonnenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Wir waren vorher eine politische Volksbewegung. Wir hatten eine Vielzahl von Abgeordneten und Senatoren auf den verschiedensten Ebenen. Unser Wahlsieg wurde uns durch den massiven Wahlbetrug genommen. Daraufhin haben viele Aktivisten und Abgeordnete eingesehen, dass der friedliche, politische und demokratische Weg eine Sackgasse ist. Deswegen hat sich mit der M-19 eine Guerillabewegung gegründet, die aber von Anfang an anders angelegt war als die FARC. Die FARC steht nicht auf einem demokratischen Fundament, sondern ist eher eine despotische Bewegung nach kambodschanischem Vorbild. Das Ziel der M-19 war es, den Wahlsieg von 1970 mit Waffen zu verteidigen und durchzusetzten. Der bewaffnete Kampf war aber immer nur die zweite Option. Daraus sind dann 20 Jahre geworden.

Das Grab des 1990 ermordeten Präsidentschaftskandidaten der M-19, Carlos Pizarro, ist heute eines der meist besuchten auf dem Friedhof in Bogotá. Dennoch scheint die M-19 das Kind längst vergangener Tage zu sein, ein abgeschlossenes Kapitel, das heute allenfalls Melancholie in Teilen der Bevölkerung hervorruft. Wenn man bedenkt, dass sich der schmutzige Krieg in Kolumbien eigentlich stetig verschärft hat seit sich die ersten Paramilitär- und Guerillagruppen bildeten – was hat die M-19 denn tatsächlich bewegt und wo sind die Ideale und Konsequenzen der Aktivisten von damals geblieben?

Als Kollektiv gab es im bewaffneten Konflikt wie in der friedlichen Auseinandersetzung durchaus Erfolge. Da ist an erster Stelle unser Wahlsieg von 1970 zu nennen. Aber auch im bewaffneten Kampf gab es Erfolge. Wir hatten in unseren besten Zeiten eine Popularität von 80 Prozent unter der Bevölkerung. Wir haben Schlachten gewonnen und den Staat zu Verhandlungen bewegen können. Aus diesen Verhandlungen ist die Verfassung von 1991 entstanden, die durch Volksentscheid angenommen wurde. Diese Verfassung ist unser Erfolg und unser Kind, denn sie definiert den modernen, demokratischen Rechtsstaat. Der Staat muss heute, wenn er rechtmäßig sein will, im Einklang mit dieser Verfassung handeln. Dieser riesige Erfolg ist aber ein Phyrrussieg, weil die Verfassung so oft ausgehebelt worden ist, dass sie nur noch Makulatur ist. Aber immerhin besteht sie und man kann heute der Regierung anhand dieser Verfassung Rechtsbruch nachweisen. Das alles waren Erfolge der M-19.

Contra gegen Venezuela

Anfang April eröffnete die kolumbianische Politikerin Gloria Gaitán der venezolanischen Öffentlichkeit in der Interview-Sendung „La Lámpara de Diógenes“ überraschende Informationen. Die linksliberale Politikerin aus Bogotá erklärte erstens, dass der venezolanische Staat über die so genannten Mercal-Läden, in denen Lebensmittel zu Vorzugspreisen verkauft werden, ungewollt die kolumbianischen Paramilitärs mitfinanziere. Die dort angebotene importierte Milchmarke Colanta gehöre nämlich den rechten Todesschwadronen ihres Heimatlandes. Zweitens wies Gaitán darauf hin, dass es konkrete Interventionspläne der Regierung Uribe gegen Venezuela gebe. Die Grenzübertritte kolumbianischer Paramilitärs erfolgten mit Rückendeckung sowohl der kolumbianischen Armee als auch der US-Militärberater. Und drittens schließlich kündigte Gaitán an, nicht in ihr Heimatland zurückkehren, sondern in Venezuela politisches Asyl beantragen zu wollen. Auf Grund ihrer Äußerungen, so Gaitán, müsse sie in Kolumbien mit Verfolgung rechnen.
Nun ist Gloria Gaitán sicherlich nicht die beste Kronzeugin, die man sich vorstellen kann. Die Tochter des charismatischen liberalen Parteiführers Jorge Eliecer Gaitán, dessen Ermordung 1948 zum Ausbruch des kolumbianischen Bürgerkriegs führte, gilt in Oppositionskreisen als schwierig und profilierungssüchtig. Dass die Staatsanwaltschaft gegen sie wegen der Veruntreuung von Geldern ermittelt, kann man wahrscheinlich noch mit politischen Motiven erklären. Das politische Establishment Kolumbiens hat schon öfter Korruptionsvorwürfe gegen KritikerInnen lanciert, um auf diese Weise deren Glaubwürdigkeit zu unterminieren. Doch auch in der Linken wird über die Politikerin wegen ihres selbstverliebten Stils häufig geklagt. So schüttelte man in Bogotá nur den Kopf, als Gloria Gaitán beim „Solidaritätsforum mit der bolivarianischen Revolution“ im vergangenen Jahr in Caracas kurzerhand eine neue gaitanistische Massenbewegung gründete und sich selbst zu ihrer Sprecherin aufschwang.

Grenzübertritte
Dass Gaitáns Erklärungen in den kolumbianischen und internationalen Medien völlig unbeachtet blieben, muss dennoch überraschen. Denn dass sich das Klima zwischen beiden Ländern in letzter Zeit rapide verschlechtert hat, ist offensichtlich. Seit Jahren wirft die regierungsnahe kolumbianische Presse den Streitkräften Venezuelas vor, kolumbianisches Territorium zu verletzen. Die Berichte der Bäuerinnen und Bauern aus der Grenzregion besagen jedoch ziemlich genau das Gegenteil. Ihnen zufolge sei das Verhalten der venezolanischen Armee in der Grenzregion seit dem Amtsantritt von Chávez respektvoller geworden, Grenzübertritte nach Kolumbien fänden nicht mehr statt. Gefahr gehe vielmehr von den paramilitärischen Einheiten aus, die immer wieder Dörfer und Kooperativen im venezolanischen Bundesstaat Zulia überfielen, und BewohnerInnen oder Flüchtlinge ermordeten. So mussten im vergangenen Sommer Dutzende von Familien ihre Ortschaften verlassen, bis die venezolanische Armee die paramilitärischen Gruppen wieder aus dem Land vertrieb.
Mit ihrer Haltung gegen den Plan Colombia hat sich die Regierung Chávez 1999 die kolumbianische Rechte zum Feind gemacht. Seitdem hat sich die Situation an der Grenze grundlegend verändert. Während sich FARC- und ELN-Guerilla verpflichtet haben, die Souveränität Venezuelas zu respektieren und die Grenze nicht mehr mit ihren Einheiten zu überqueren, sind nun rechte kolumbianische Todesschwadrone in vielen Regionen im Westen Venezuelas aktiv. Ihre Aktionen konzentrieren sich bisher auf die Bundesstaaten Zulia und Táchira, wo die Paramilitärs in der Serranía de Perijá die Ausbreitung von Schlafmohnpflanzungen vorangetrieben haben. Zudem forcieren sie offensichtlich in Zusammenarbeit mit rechten venezolanischen Großgrundbesitzern den Aufbau paramilitärischer Gruppen im Nachbarland. Schon im Jahr 2002 hatte der Kommandant der kolumbianischen Paramilitärs, Carlos Castaño, die Unterstützung seiner Organisation beim Aufbau der so genannten Autodefensas Unidas de Venezuela verkündet. Wie weit diese Pläne fortgeschritten sind, lässt sich schwer beurteilen. Fest steht allerdings, dass ein Großteil der politischen Morde der letzten drei Jahre in Venezuela von rechten Todesschwadronen verübt worden sind. An die 100 Kleinbauernführer wurden Opfer der rechten Verbände.
Die Entwicklung, die sich in diesem Zusammenhang abzeichnet, deutet in Richtung einer Contra-Armee, wie sie in Nicaragua in den 1980er Jahren mit Unterstützung der US-Regierung von Honduras aus operierte. Die verstärkten Aktivitäten kolumbianischer Paramilitärs im Grenzgebiet sind nämlich tatsächlich nicht isoliert zu betrachten. Sie gehen einher mit einer zunehmend offen feindlichen Haltung des kolumbianischen Staates und der US-Administration. In Venezuela wird schon länger gemunkelt, der Plan Colombia ziele nicht nur auf die Bekämpfung der kolumbianischen Guerilla ab (und schon gar nicht auf Drogenbekämpfung), sondern diene vielmehr der geostrategischen Kontrolle der Anden- und Amazonasregion. Dass dem Erdölland Venezuela dabei eine besondere Rolle zukommt, liegt auf der Hand.

Militärhilfe aus den USA
So hat sich Kolumbien, das historisch Grenzstreitigkeiten mit Venezuela am Maracaibo-See unterhält, mit Hilfe von mittlerweile zwei Milliarden US-Dollar aus den USA, in die unangefochtene Militärmacht der Andenregion verwandelt. Weiter verschärft hat sich die Lage durch den Kauf von 40 spanischen AMX-30-Panzern durch das Uribe-Regime, die für ihren offiziellen Zweck, die Guerillabekämpfung, gänzlich ungeeignet sind. Und angeheizt wird der Konflikt schließlich auch durch PolitikerInnen beider Länder. Die venezolanische Linke Iris Valera, die im September 2002 einen Anschlag kolumbianischer Paramilitärs überlebte, bezeichnete die Regierung Uribe unlängst als Marionetten-Regime der USA, während der kolumbianische Vizepräsident Francisco Santos den venezolanischen Präsidenten Chávez als „größte Gefahr Lateinamerikas“ beschimpfte. Wie schlecht die Beziehungen sind, zeigte sich Mitte April diesen Jahres, als der kolumbianische Kongress ohne jeden sichtbaren Anlass eine Intervention der Organisation Amerikanischer Staaten im Nachbarland forderte. Gegen das Votum des Mitte-Links-Bündnisses Polo Democrático Independiente richtete das kolumbianische Parlament die Bitte an die Regierung Uribe, sich bei der OAS für die Anwendung der so genannten Carta Democrática einzusetzen. Diese besagt, dass die amerikanischen Staaten mit Hilfe von Sanktionen und Repressalien intervenieren müssen, wenn die Demokratie in einem der Mitgliedsländer in Gefahr ist. Der Beschluss des Parlaments in Bogotá kann nur absurd anmuten, wenn man berücksichtigt, dass das venezolanische Privatfernsehen Präsident Chávez täglich ungestraft als „Schwulen“, „Kommunisten“, „Guerilla-Unterstützer“ oder „Taliban“ bezeichnen kann, während gleichzeitig der kolumbianische Staat seit Anfang der 1980er Jahre eine gnadenlose Repressions- und Vernichtungspolitik gegen linke Oppositionsparteien, Gewerkschaften und soziale Organisationen zu verantworten hat.
Nicht ganz zu Unrecht wies deshalb der linkssozialdemokratische venezolanische Vize-Präsident José Vicente Rangel den Beschluss des kolumbianischen Parlaments als Unverschämtheit zurück. Rangel zufolge könne man die kolumbianische Initiative nur verstehen, wenn man sie im Zusammenhang mit dem wachsenden Druck Washingtons gegen das Reformprojekt in Venezuela betrachte. Tatsächlich wird der Ton der politischen Klasse der USA in den letzten Monaten wieder schärfer, wobei der demokratische Präsidentschaftskandidat John Kerry seinem Widersacher Bush in nichts nachsteht. Kerry warf Bush unlängst sogar vor, Chávez nicht genug zu bekämpfen.

Zerfall der
Anti-Chávez-Koalition
In Venezuela selbst hingegen sieht die Lage für die bürgerliche Opposition im Moment nicht besonders gut aus. Die Wahlaufsichtsbehörde CNE hat unlängst das offizielle Ergebnis des oppositionellen Referendumbegehrens (siehe LN 357) vorgelegt. Demnach kann die Rechte bislang nur auf 1,9 Millionen UnterstützerInnen zählen. Weitere 1,1 Millionen Unterschriften werden wegen Unklarheiten auf den Formularen im Verlauf der nächsten Wochen noch einmal zur Bestätigung ausgelegt. Zwar hat die CNE das Referendum bereits auf den 8. August terminiert, doch ob die fehlenden 560.000 Unterschriften bis dahin zusammenkommen werden, steht in den Sternen. Mehrere Parteien des Oppositionsbündnisses Coordinadora Democrática haben offensichtlich jede Hoffnung aufgegeben und wollen das Verfahren sabotieren. Aus diesem Grund hat die alte oligarchische Partei Acción Democrática, die sich gute Chancen bei den anstehenden Gouverneurswahlen ausrechnet, ihren Austritt aus der Oppositionskoalition verkündet. Damit zerfällt, wie es scheint, die Anti-Chávez-Koalition.

Raul Zelik ist Schriftsteller. Von ihm erschienen zuletzt made in venezuela. Notizen zur „bolivarianischen Revolution“ und der Roman bastard, beide bei Assoziation A

Der Meister der Metamorphose

Der einst rebellisch auftretende ecuadorianische Präsident Lucio Gutiérrez hat in den ersten 13 Monaten seiner Amtszeit einiges von seinen Amtskollegen aus den Nachbarländern Peru und Kolumbien abgekupfert. Von dem Peruaner Alejandro Toledo die miserablen Umfragewerte und von Kolumbiens Präsident Uribe Vélez die tiefe Ergebenheit gegenüber den USA und ihrer Regionalpolitik. Mit gerade einmal 15 Prozent Zustimmung innerhalb der Bevölkerung schloss Gutiérrez sein erstes Jahr ab, was ihn zu einem der unbeliebtesten Präsidenten auf dem Kontinent macht.
Wie das? Gutiérrez nannte Ecuador gegenüber US-Präsident Bush den „kleinen Bruder der USA“ und strengte wie Uribe bilaterale Verhandlungen über eine Freihandelszone an, statt die südamerikanischen Handelsblöcke zu stärken. Mehrere öffentliche Ämter hat Gutiérrez mit Familienangehörigen besetzt, mit den einst verbündeten Indígena-Organisationen gebrochen und die neoliberalen Rezepte seiner gestürzten Vorgänger unbeirrt weiterverfolgt. Kurz gesagt: Gutiérrez scheint wie viele Präsidenten vor ihm in die Galerie derer aufgenommen werden zu müssen, die Wahlversprechen links liegen gelassen und sich in Rekordzeit von einem Hoffnungsträger in eine herbe Enttäuschung verwandelt haben. Während diese jedoch meist aus dem konservativen Lager stammten, hat Gutiérrez in dreister Weise sein politisches Erbe Lügen gestraft.

Bruch der Linkskoalition
„Gutiérrez hat die Indígenas und alle EcuadorianerInnen getäuscht und verraten, die ihn in seiner Wahlkampagne unterstützt hatten“, so Humberto Cholango, Präsident der Vereinigung des Quechua-Volkes. „Er hat versprochen, sich nicht in den kolumbianischen Konflikt einzumischen, die sozialen Investitionen in den Vordergrund zu rücken und sich gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik zu wehren. Er hat genau das Gegenteil gemacht.“ Bereits beim Amtsantritt am 15. Januar 2003 legte Gutiérrez den Grundstein für den kommenden Bruch mit der indigenen Partei Pachakutik und der marxistischen Bewegung MPD (Demokratische Volksbewegung). Während die Linksparteien zwar die meisten Ministerämter übernahmen, besetzte Gutiérrez Schlüsselpositionen wie das Finanz- und Außenhandelsministerium mit Personen, die eher eine neoliberale Linie verfolgen. Dadurch wurde die Kontinuität der Umsetzung des vom Internationalen Währungsfonds (IWF) verschriebenen Fahrplans zur Finanzpolitik gewährleistet: Ausverkauf der natürlichen Ressourcen, um die seit 2000 eingeführte Dollarisierung und die hohen Schuldenzahlungen zu stützen.
Für den Soziologen und politischen Analysten Alejandro Moreno entstand somit eine Regierung, in der permanent Kämpfe ausgetragen wurden. „Ein Kräftemessen zwischen völlig gegensätzlichen Strömungen“, so Moreno. Letztlich ausschlaggebend war die Position von Gutiérrez, der sich dafür entschied, Distanz zu Pachakutik aufzubauen. Nach nur 204 Tagen Teilnahme an der Regierung verließen sowohl die linksorientierten Indígena-Vertreter als auch die MPD ihre Ministerposten, und die Koalition brach.

„Kleiner Bruder“ der USA
Die Metamorphose von Lucio Gutiérrez, der noch im Januar 2000 eine von Militärs und Indígenas geführte linke Revolte gegen die neoliberale Politik angeführt hatte (siehe LN 308), nahm ihren Lauf. „Der Präsident suchte sofort eine Allianz mit der rechtsorientierten Christlich-Sozialen Partei und begrüßte plötzlich die geopolitischen Visionen der USA und des kolumbianischen Präsidenten Uribe in Kolumbien“, so Moreno.
Wie weit sich Gutiérrez dabei von alten Positionen entfernt hat, zeigen seine vergangenen Stellungnahmen. Bei Interviews im Mai 2001 forderte er als Ex-Oberst und im Stile eines militanten Linken „eine zweite Unabhängigkeit“ und rief zum Kampf gegen den „Neokolonialismus der USA“ auf. Sein ideologisches Konzept würde „auf einer nationalistischen, progressiven, humanistischen, gerechtigkeitsorientierten und revolutionären Tendenz basieren“, so Gutiérrez.
Knapp drei Jahre später ist davon nicht viel übrig geblieben. Für innenpolitischen Wirbel sorgte die Festnahme des hohen Kommandanten der kolumbianischen FARC-Guerilla Ricardo Palmera alias „Simón Trinidad“ am 2. Januar im Zentrum der ecuadorianischen Hauptstadt Quito. US-amerikanische und kolumbianische Geheimdienstler hatten offenbar freie Hand im Land, um Guerilleros aufzuspüren und dingfest zu machen. Hatte sich Gutiérrez noch vor Monaten gegen den Plan Colombia und die länderübergreifende Guerilla- sowie Drogenbekämpfung gewährt, scheint er nun diesen Widerstand wie viele andere Positionen aufgegeben zu haben.
„Wir wollen nicht, dass unsere strategischen Firmen verkauft werden. Wir wollen nicht unsere Währungssouveränität verlieren. Wir sind gegen einen Kompromiss Ecuadors im Plan Colombia, gegen eine Verletzung unserer Souveränität durch die US-Militärbasis in der Küstenstadt Manta, gegen die riesige Korruption in unserer Regierung“. Gutiérrez 2003 auf dem Weltsozialforum im brasilianischen Porto Alegre.
Gutiérrez 2004: „Es ist notwendig, die öffentlichen Betriebe dem privaten Kapital zu öffnen und an der Dollarisierung festzuhalten.“ In Rekordzeit unterschrieb Gutiérrez mit dem IWF einen Vertrag, der die Schuldenzahlungen garantiert und den Staat als Agent für die internationalen Gläubiger einspannt. Dadurch hat die Regierung das „Länderrisiko“ für Ecuador auf internationalen Finanzplätzen zwar abstufen können, jedoch auf Kosten der Bevölkerung, die an den Folgen der Dollarwährung zu leiden hat. Die Handelsbilanz ist weiterhin negativ, einheimische Produkte sind im Ausland längst nicht mehr konkurrenzfähig. Der einzige „Glücksfall“ für das Land ist der nach wie vor hohe Erdölpreis, der den Staat vor der Zahlungsunfähigkeit bewahrt hat.

Schmutzige Spende im Wahlkampf
Dass die Zahlungsunfähigkeit von Gutiérrez selbst während seines Wahlkampfs kein Thema war, machte ein im November enthüllter Skandal deutlich. Der damals noch gegen Korruption und Vetternwirtschaft eifernde Gutiérrez unterhielt demnach enge Kontakte zu einem Familien-Clan, der in den Drogenhandel verwickelt war und ihm finanziell zur Seite stand. Wie der Präsident damit umging, steht symbolisch für sein erstes Amtsjahr.
Als ein Journalist ihn Ende November fragte, ob er zurück treten werde, wenn man ihm nachweisen würde, dass er sich mit Drogengeldern bezahlen ließ, zeigte sich Gutiérrez kategorisch. „Natürlich. So bestimmt es das Gesetz und ich werde mich danach richten“. Doch nur wenige Stunden später dementierte der Präsident seine Aussagen und attackierte scharf die einflussreiche Tageszeitung El Comercio, die ihn in Verruf gebracht habe. Das Blatt berichtete am 14. November, dass Gutiérrez Partei Patriotische Gesellschaft 21. Januar während des Wahlkampfs 30.000 US-Dollar von der Familie Fernández Cevallos entgegen genommen habe.
Der Skandal begann Ende Oktober, als die ecuadorianische Polizei in einer Großoperation das Familienmitglied César Fernández festnahm. Der Schmuggel von einer halben Tonne Kokain wurde dem ehemaligen Gouverneur der Provinz Manabí, der Wochen zuvor laut Gutiérrez noch „eine honorable Persönlichkeit“ war, zum Verhängnis. Und auch dem Präsidenten. Fotos, die ihn mit Fernández beim Wahlkampf zeigen sowie politische Veranstaltungen mit Angehörigen der Familie setzten Gutiérrez und sein Kabinett gehörig unter Druck. Der Tourismusminister Hernán Plaza trat zurück, nachdem er zugeben musste, das Flugzeug von César Fernández benutzt zu haben
Analysten sahen den Auslöser der Krise weniger in der Tatsache der nur teilweise bewiesenen Verstrickungen der Regierungspartei, sondern vielmehr im verbalen Schlingerkurs von Lucio Gutiérrez. „Der Präsident hat an Glaubwürdigkeit verloren, weil er die Kraft seines Wortes entwertet hat“, meint der politische Berater Luis Eladio Proano. „Er spricht jeden Tag und überall, widerspricht sich, macht die Presse für seine verbalen Ausrutscher verantwortlich und begeht den großen Fehler, zuerst zu sprechen und sich erst danach zu informieren.“
Hatte er den Vorwurf der Zeitung zunächst als absolut falsch bezeichnet und El Comercio mit juristischen Schritten gedroht, schaltete Gutiérrez einen Gang zurück, als bekannt wurde, dass der Informant der Zeitung aus seiner eigenen Partei stammte. „Es besteht die kleine Möglichkeit, dass jemand aus meiner Partei und hinter meinem Rücken Geld aus dem Drogenhandel angenommen hat“, gab der Präsident Ende November zu.
„Sollte bestätigt werden, dass während des Wahlkampfs Drogengelder geflossen sind, sind die Tage des Präsidenten gezählt“, meint Luis Torres von der Sozial-Christlichen Partei drohend. Zu einer ordentlichen Aufklärung des Falles kam es nie. Gutiérrez organisierte sich Anfang Januar eine Parlamentsmehrheit mit den Mitte-Rechts-Parteien. Damit waren die vorerst zufrieden und somit ruhig gestellt.

Die Macht der Waffen
Das funktionierte aber nicht bei den Indígena-Organisationen. Am 23. Dezember trafen sich im Sitz des Indígena-Dachverbandes CONAIE, der enger Verbündeter von Gutiérrez bei der Revolte im Jahr 2000 war, dutzende Gewerkschafter, Kleinbauernvertreter, Intellektuelle und linkspolitische Vertreter, um über mögliche Proteste gegen die Regierung zu beraten. Dabei wurde offen von der Möglichkeit gesprochen, den Präsidenten, wie schon etliche seiner Vorgänger, aus dem Amt zu jagen. Nach dem Austritt aus der Regierung hatten die indigenen Bewegungen zunächst ein halbes Jahr abgewartet und sich ruhig verhalten. In diesem Jahr scheint sich hingegen eine Protestbewegung gegen Gutiérrez zu formieren, die ihn zu Fall bringen könnte, wenn er seine Politik nicht grundlegend ändert.
Gutiérrez hat es geschafft, die Armut im Land auf einen Rekordwert von 80 Prozent steigen zu lassen, statt grundlegende Reformen einzuleiten. Hat der Mindestlohn im Jahr 2000 noch für einen halben monatlichen Warenkorb für eine Person ausgereicht, kann heute damit nur noch ein Viertel der Grundversorgung gedeckt werden. Die Folge: verbreiteter Hunger unter der Bevölkerung und eine explosive Stimmung im Land, die wie schon in den neunziger Jahren zu Revolten und Aufständen führen kann.

Auf Konfrontationskurs
Offenbar scheint Gutiérrez es aber auf eine Konfrontation anlegen zu wollen, mutmaßen die Indígena-Vertreter. So scheiterte etwa in der Nacht des 1. Februar ein Attentat gegen den CONAIE-Präsidenten Leonidas Iza, als dieser von einer Konferenz gegen das kontinentale Freihandelsabkommen ALCA in Havanna zurückkam. Zwei Männer versuchten ihn erfolglos umzubringen und verletzten dabei seine Söhne und die Ehefrau.
Die CONAIE machte die Regierung für das Attentat verantwortlich. Gilberto Talagua von der Pachakutik-Partei nannte „die diktatorischen und kriminellen Züge des Präsidenten“ als Ursache für den Mordversuch. „Gutiérrez selbst sagte, dass er allen Oppositionsgruppen die ganze Macht seiner Waffen zeigen werde“, so Talagua. Der Pachakutik-Abgeordnete Ricardo Ulcuango ging noch weiter und unterstellte Gutiérrez, paramilitärische Gruppen aufbauen zu wollen.
Demnach seien Napoleon Villa und Hernán Borba, Schwager und Cousin des Präsidenten, beauftragt worden, Sicherheitsfirmen und bewaffnete private Gruppen aufzubauen.

Protest ehemaliger Partner
Die Einschüchterungen zeigten keine Wirkung: Am 17. Februar riefen Indígena-Verbände zu landesweiten Straßenblockaden auf, die besonders im Tiefland den Verkehr lahm legten. Die Aktionen sollen solange weiter geführt werden, bis die Regierung eine Politikänderung einleitet oder Gutiérrez zurücktritt. Ansonsten – so Leonidas Iza – werden die Indígenas bis in die Hauptstadt vordringen und Quito zunächst symbolisch besetzen.
Gutiérrez dürfte wissen, was das für ihn bedeutet. Versöhnlich rief er an jenem 17. Februar zum Dialog auf und beschwor, seine „sozialpolitischen Schulden“ dieses Jahr noch zu begleichen. Vielleicht zu spät.

Soziale Netzwerke unter Generalverdacht

Jorge Gómez ist ein dünner, eher schüchtern wirkender Mann um die 45. Er erwartet uns in der holzverkleideten Kassen- und Schalterhalle des von ihm provisorisch geleiteten Betriebs Empresas Comunitarias de Agua y Alcantarillado de Saravena (ECAAS). Es ist drückend heiß. Seit drei Tagen gibt es keinen Strom mehr. Die Guerilla hat westlich von Saravena die Masten gesprengt. Normalerweise ist Jorge Gómez nur Ingenieur bei ECAAS, dem für Wasser, Kanalisation und Müllentsorgung zuständigen Unternehmen in der 40.000 Einwohnerstadt. Aber da die Verantwortlichen der Kooperative seit einiger Zeit in Haft sitzen, obliegt es ihm, Gäste zu empfangen und ihnen den Betrieb zu erklären. Man merkt schnell, dass Gómez das trotz seiner Zurückhaltung gern macht. Der Ingenieur ist stolz auf das Unternehmen, für das er arbeitet. „Wir versorgen Saravena und die Umgebung mit dem besten und billigsten Trinkwasser in ganz Ostkolumbien. Wir haben Sozialfonds, um arme KundInnen von den Zahlungen zu befreien, und es gibt keine Bürokratie bei uns. Alle, die hier arbeiten, haben konkrete Aufgaben: in der Produktionsüberwachung, der Buchführung, bei den Reparaturtrupps oder in der Müllabfuhr. Ein brasilianischer Besucher hat neulich gesagt, wir wären ein Beispiel für ganz Lateinamerika.“

Erfolgreiche kommunale Selbstverwaltung
ECAAS ist tatsächlich ein ziemlich einzigartiger Fall – zumindest für Kolumbien. Das Unternehmen entstand in den 70er Jahren als selbstverwaltetes Projekt der StadtbewohnerInnen und ist bis heute weder in private noch in städtische Hand übergegangen. Die Juntas de Acción Comunal, die basisdemokratischen Nachbarschaftskomitees in der Stadt, entsenden jeweils zwei VertreterInnen in den ECAAS-Aufsichtsrat, der den Geschäftsbetrieb kontrolliert und die Preise autorisiert. Auf diese Weise entscheidet die Bevölkerung über die Verwendung der Gelder. Und erstaunlicherweise funktioniert diese Struktur auch ökonomisch ganz gut: ECAAS arbeitet trotz verschiedener Sozialtarife wirtschaftlich.

…unter Terrorismusverdacht
An sich hätte man also allen Grund, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Doch so ermutigend die Existenz von ECAAS an sich ist – die aktuelle Situation für die Angestellten ist dramatisch. Jorge Gómez führt uns in den ersten Stock in einen zur Straße hinausgehenden Konferenzraum und zeigt an die Decke. Im Putz sieht man Einschusslöcher. „Wir stehen unter Generalverdacht. Mehr als zehn unserer 55 Angestellten sind in den vergangenen Monaten erschossen worden oder sitzen im Gefängnis. Die Armee und die Todesschwadronen bezeichnen uns als TerroristInnen. Aber ich weiß nicht, was das mit der Guerilla zu tun hat, wenn man in einem Unternehmen zu Gunsten der Allgemeinheit arbeitet.“
ECAAS ist in dieser Hinsicht kein Einzelfall. Schon im Gebäude der regionalen Gewerkschaftssektion CUT hat man uns darauf hingewiesen, dass die Militärs in der Kleinstadt immer mal wieder die Büros von Kooperativen und sozialen Organisationen unter Beschuss nehmen, um die wenigen verbliebenen AktivistInnen einzuschüchtern. Von den sechs im Haus der CUT in Saravena untergebrachten Organisationen unterhält beispielsweise nur noch eine einzige, das Menschenrechtskomitee Joel Sierra, ihren Bürobetrieb aufrecht.
Eine halbe Stunde später fahren wir auf einem Pickup an Viehweiden entlang Richtung Kordillere. Die Berge, die sich westlich von hier am Nevado de Cocuy bis auf 5000 Meter erheben, versinken im Dunst. Dunkler, dichter Bergwald erstreckt sich an den Hängen. In dieser Gegend gibt es noch große, völlig unbewohnte Dschungeltäler. Etwas oberhalb, an der Straße Saravena-Cúcuta beginnt außerdem das Siedlungsgebiet der U’wa-Indígenas, die in den vergangenen 15 Jahren einen heftigen und international viel beachteten Kampf gegen die Ausbeutung von Erdölvorkommen auf ihrem Land durch die Occidental Oil Company geführt haben. Der Fahrer des Wagens hält einige Male an, um am Wegrand stehende Bauernfamilien und indígenas einzusammeln. Die ECAAS-MitarbeiterInnen betrachten ihr Unternehmen auch in dieser Hinsicht als eine Art „volkseigenen Betrieb“.
„Ich glaube, dass es diese Zugehörigkeit von ECAAS zum sozialen Netz in der Region ist, warum das Unternehmen so vehement kriminalisiert und angegriffen wird.“ Enrique Robles ist ein ganzes Stück kleiner als Jorge Gómez und auf den ersten Blick ebenfalls recht unscheinbar. Möglicherweise ist genau das der Grund, warum er bisher unbehelligt in der Kleinstadt bleiben konnte. Immerhin gehört Robles zur Leitung von COAGROSARARE, dem ebenfalls unter starkem Druck stehenden regionalen Agrarkooperativenverbund.
„Seit der Amtsübernahme von Präsident Uribe ist die Situation in Arauca unerträglich. Die Bürgerrechte sind außer Kraft gesetzt, viele Leute mit Hilfe von Kronzeugen als GuerillasympathisantInnen verhaftet worden. Sogar der gewählte Bürgermeister sitzt im Knast. Der Ausnahmezustand wurde nur deshalb aufgehoben, weil das Oberste Verfassungsgericht ihn für illegal erklärt hat.“ Robles ist überzeugt, dass die Bekämpfung der im Departement mit etwa 2000 KämpferInnen präsenten FARC und ELN dabei nicht das Hauptanliegen der Regierung ist. Für viel wichtiger hält er die Tatsache, dass in Arauca ein Großteil des ökonomischen Lebens in Kooperativen organisiert ist: Taxis, Buslinien, Landwirtschaft, die Dorfläden. „Das sind praktische Alternativen zur Privatisierungspolitik, die das neoliberale Modell prinzipiell in Frage stellen.“

Zunehmender Druck
Doch ganz so losgelöst von der Existenz der Guerilla in der Gegend sind die Anstrengungen der Uribe-Regierung, die Arauca neben den nordkolumbianischen Departements Sucre und Bolívar nach ihrem Wahlsieg 2002 zum Hauptziel ihrer neuen Sicherheitspolitik machte, denn auch nicht zu betrachten. 300 Meter vor uns stehen Bewaffnete neben der Schotterpiste. Ich mache ein irritiertes Gesicht. Robles deutet auf die Viehweiden. In regelmäßigen Abständen sind camouflage-farbene Hängematten unter Bäumen aufgespannt. Durch das Gebiet verläuft die Trasse der Erdölpipeline Cano Limón-Covenas, über die die Occidental Oil Company kolumbianisches Öl auf den Weltmarkt befördert. ELN und FARC haben diese Pipeline in den vergangenen 10 Jahren mehrere Hundert Mal in die Luft gesprengt und der Regierung in Bogotá damit allein im Jahr 2001 geschätzte 445 Millionen US-Dollar Verlust zugefügt. Das wiederum veranlasste die Bush-Administration 2003, 98 Millionen US-Dollar allein zum Schutz der Ölleitung zur Verfügung zu stellen.
Die Präsenz der Guerilla in Arauca beschränkt sich nicht auf ökologisch fragwürdige Pipeline-Anschläge. Vor allem der Frente Domingo Laín hat im sozialen und politischen Leben des Departements in den vergangenen 20 Jahren eine zentrale Rolle gespielt. Diese örtliche ELN-Einheit wurde im Unterschied zu den meisten anderen kolumbianischen Guerillafronten nicht von bestehenden Verbänden gegründet , sondern ging 1980 aus den Reihen einer radikalisierten Bauernorganisation hervor. So hat die Guerilla in Arauca eine Landreform durchgesetzt, die politischen MandatsträgerInnen bei Korruptionsfällen zur Rechenschaft gezogen und in manchen Gegenden sogar gezielt Entwicklungspolitik betrieben.
Enrique Robles ist dennoch davon überzeugt, dass die Uribe-Regierung im Departement nicht in erster Linie eine Niederlage der Aufständischen anstrebt. „Sonst würden die Militärs mit der Guerilla kämpfen. Die größten Anstrengungen unternimmt die Armee jedoch bei der Verfolgung der sozialen Organisationen.“
Nach 20 Minuten Fahrt durch eine idyllisch anmutende Ebene am Fuß des kolumbianischen Bergwalds erreichen wir die Trinkwassergewinnungsanlage von Saravena. In großen Becken wird das aus einem Fluss entnommene Wasser mehrfach gefiltert und aufbereitet, bis es den gesetzlichen Anforderungen entspricht. Die drei Arbeiter, die auf der Anlage Schicht haben, zeigen sich freundlich, aber wortkarg. Die Morddrohungen richten sich pauschal gegen alle ECAAS-Angestellten. Man ist der Willkür der Todesschwadronen wehrlos ausgesetzt, die in Arauca unmittelbar Armee und Polizei zugeordnet sind. Die Menschenrechtsorganisation Joel Sierra hat mehrfach darauf hingewiesen, dass in dem Departement keine eigenständige Paramilitärstrukturen existieren. Die Folge ist ein traumatisiertes Schweigen.
Ein junger Ingenieur, der sich speziell für die Arbeit in der Trinkwasseraufbereitungsanlage hat ausbilden lassen, zeigt uns neu erworbene Messapparaturen im Labor. Durch das Fenster blickt man auf einen kurz gehaltenen Rasen und eine erst unlängst gestrichene Mauer. Eine betont gepflegte Anlage. Hinter dem ECAAS-Grundstück erstreckt sich der Wald. Wenn die Trinkwasseranlage nicht so laut brummen würde, könnte man hier Grillen und Käfer zirpen hören. Man spürt, wie kurz es her ist, dass der Krieg in das Leben dieser Menschen eingebrochen ist.
Für Enrique Robles ist es von Bedeutung, dass sich das Kooperativennetzwerk in Arauca nicht auf Produktion und Vermarktung beschränkt. COAGROSARARE, betont er, sei ein integrales Projekt. Um uns davon zu überzeugen, zeigt er uns am darauf folgenden Tag eine ländliche Agrarschule außerhalb Saravenas. Während der Fahrt auf der asphaltierten Überlandstraße herrscht nicht gerade entspannte Stimmung. Die Ein- und Ausgänge der Ortschaften werden von Elitesoldaten bewacht. Kurz nachdem wir die Straßensperre von El Fortul passiert haben, kreuzen Helikopter den Himmel. Die Armee hat unlängst mit Herbizideinsätzen gegen Koka-, aber auch Lebensmittelpflanzungen in der Region begonnen und begleitet die Besprühungen mit einer Militäroperation. Außerdem führt die Straße, auf der wir uns bewegen, nach Tame – einer 20.000 Einwohner-Gemeinde, in der rechte Paramilitärs seit 2002 an die 500 Personen ermordet haben und in die unsere Begleiter nicht mehr reisen können.
Doch bevor wir den von Paramilitärs kontrollierten südlichen Teil des Departements erreichen, biegt der Pickup von der Hauptstraße ab. Für einige Sekunden wird deutlich, dass dieser Krieg mehr ist als nur Anspannung und die Präsenz von Truppen. Am Straßenrand liegt ein Toter, dessen Existenz allerdings keinen der Einheimischen zu schockieren scheint. Wenig später gelangen wir auf eine Finca mit großem Geräteschuppen, Wohnhaus und einer geräumigen Kantine. Hier startete vor einigen Jahren ein Pilotprojekt der Bauernorganisation ADUC zur Weiterbildung von campesinos und campesinas. In den erst seit 30 Jahren kolonisierten ostkolumbianischen Llanos haben die meisten Menschen – wenn überhaupt – nur die Grundschule absolviert. Vor diesem Hintergrund entwickelte die Bauernorganisation mit Unterstützung einiger TechnikerInnen das so genannte bachillerato campesino, das Bauernabitur. Über mehrere Jahre, so Robles, seien die campesinos und campesinas der Gegend jeden Monat für vier Tage zusammen gekommen, um sich in landwirtschaftlichen Techniken und Betriebsführung weiterzubilden. Außerdem sei die Schule so etwas wie ein Organisationsansatz gewesen, um die Solidarität unter der Landbevölkerung zu stärken. Mittlerweile hat man das Programm an dieser Schule abgeschlossen und neue Projekte in anderen Teilen des Departements in Angriff genommen.
Die Finca dient seitdem als Versuchsfeld für die Rohrzuckerproduktion. Der Boden von Arauca ist nicht besonders gut für den Anbau der caña geeignet. Aber auf Grund der Kriegssituation hat man beschlossen, die Selbstversorgung mit Grundnahrungsmitteln zu organisieren.

Kooperativen bauen auf Autarkie
„Wir versuchen die Abhängigkeit von anderen Regionen zu verringern. COAGROSARARE stellt sogar eine eigene Trinkschokolade her.“ Enrique Robles lächelt. „Viele Leute finden die Schokolade zwar grässlich. Aber unsere Kooperativenläden müssen sie verkaufen. Und irgendwann wird die Kooperative das mit der Rezeptur auch besser hinkriegen.“
Wir werden eingeladen, die Felder der Finca zu besichtigen. Eine junge Frau begleitet uns. In Badelatschen schlappt sie neben uns her. Das Zuckerrohr steht nicht besonders hoch, doch die Frau, die sich als Lehrerin vorstellt, ist trotzdem zufrieden. „Wo sonst in Kolumbien hast du Kooperativen, die eigene Traktoren besitzen? Die Finca hier läuft nicht optimal, ist aber immer noch produktiv genug, um sich zu behaupten.“ Die Frau redet Dialekt. Sie stammt aus der Gegend um Medellín und ist eine von mittlerweile 3 Millionen kolumbianischen Vertriebenen. Bis Mitte der 1990er Jahre habe sie in einem Vorort der drittgrößten kolumbianischen Stadt gelebt. Bis ihr Lebensgefährte mit dem Tod bedroht wurde. „Wir sind hierher gekommen, weil wir dachten, dass wir hier unsere Ruhe haben würden. Na ja, da haben wir uns offensichtlich getäuscht.“ Es ist das Drama, das fast alle kolumbianischen Vertriebenen kennen: Repression und Krieg folgen ihnen überall hin. „Wenn wir auch hier weg müssen, bleibt eigentlich nur noch das Ausland. Wir könnten über den Fluss.“ Venezuela ist nur eine halbe Stunde von hier entfernt. Enrique Robles, der das Gespräch mitgehört hat, macht ein ablehnendes Gesicht. „Wir gehen hier nicht weg. Wir haben das alles aufgebaut und wir haben ein Recht darauf, dass man unsere Arbeit und unser Territorium respektiert.“

Schwarzes Wochenende für den Präsidenten

Es war nicht sein Wochenende. Als ob er es geahnt hätte, schleppte sich am späten Sonntag Morgen des 26. Oktober ein zerknirschter und übermüdeter Alvaro Uribe Vélez an die Wahlurne, um das Kreuz für die Bürgermeisterwahl bei seinem Kandidaten Juan Lozano zu machen. Traditionell läutet der Präsident mit seiner Stimmabgabe am frühen Morgen den Wahltag ein. Uribe schien jedoch die Lust an der Symbolik abhanden gekommen zu sein. In den Knochen des Präsidenten steckte noch der Schmerz über das Scheitern des von ihm so gepuschten Referendums am Tag zuvor und die Ahnung, dass nur wenige Stunden später der Linkskandidat Luis Eduardo Garzón das Rennen um das Bürgermeisteramt der Hauptstadt Bogotá gewinnen würde.
Tatsächlich stieg die gemäßigte kolumbianische Linke in einer Konjunktur rechter Kasernenpolitik am letzten Oktober-Wochenende wie Phoenix aus der Asche empor. In der Hauptstadt Bogotá gewann der Kandidat der linken Sammelbewegung „Unabhängiger Demokratischer Pol“ (PDI), Luis Eduardo Garzón – auch bekannt als „Lucho“ –, mit 47 Prozent das Bürgermeisteramt und hat somit die nächsten vier Jahre den zweitwichtigsten Posten in der kolumbianischen Politik. „Man muss vor uns keine Angst haben“, rief Garzón seinen AnhängerInnen entgegen und stellte klar, dass seine Politik „kein Kampf zwischen Armen und Reichen“ werden wird.
Auch in anderen Regionen des Landes verbuchten linke und unabhängige Kandidaten Erfolge. In der Provinz Valle del Cauca gewann der Ex-Arbeitsminister unter Präsident Pastrana und PDI-Angehörige Angelino Garzón den Gouverneursposten, in der Metropole Medellín konnte entgegen allen Umfragen der Mathematik-Professor Sergio Fajardo von der Sozialen Indigenen-Allianz das Bürgermeisteramt erringen.

Chance für den Machtwechsel
Der Erfolg ist laut dem Analysten Ernesto Cortes Fierro ein deutliches Zeichen dafür, dass die gemässigte Linke in Kolumbien nun die Chance hat, an die Macht zu kommen. Ein Novum in der blutigen Geschichte Kolumbiens, nachdem diese in den letzten Jahrzehnten durch Hunderte von Morden seitens rechter Todesschwadrone aufgerieben und in den Untergrund getrieben wurde. Doch auch innere Querelen und ideologische Konflikte machten Fortschritte in den letzten Jahren zunichte. Nach dem Achtungserfolg von „Lucho“ Garzón vor eineinhalb Jahren bei den Präsidentschaftswahlen stellten Zerwürfnisse innerhalb des „Demokratischen Pols“ die Hoffnungen auf eine stabile linke Bewegung in Kolumbien in Frage. Mehrere Abgeordnete des „Demokratischen Pols“ sagten sich von der Linie Garzóns ab, um radikalere Positionen gegenüber Uribe zu vertreten. Der konnte diese im Wahlkampf zum Bürgermeister jedoch wieder auf seine Seite ziehen. Laut dem Analysten Daniel Samper Pinzón kennt keiner besser als der ehemalige Gewerkschafter „Lucho“ die Gründe für die vielfache Selbstzerstörung innerhalb der Linken und wüsste diese zu vermeiden.

Ein kolumbianischer Lula?
Der 52-jährige Garzón könnte als Abbild des brasilianischen Präsidenten „Lula“ da Silva gelten. Aufgewachsen ohne Vater und in bitterer Armut, verdiente sich „Lucho“ während der Schulzeit Geld als Kofferträger, Aushilfe in Tischlereien und kleineren Nebenjobs. Nach dem Abitur stieg er als Bote bei der staatlichen Erdölfirma Ecopetrol ein, bei der er eine 30 Jahre andauernde Karriere als Gewerkschafter begann. „Lucho“ war mehrere Jahre Vizepräsident der Erdölarbeitergewerkschaft USO sowie Präsident des Gewerkschaftsdachverbandes CUT.
Als hoher Gewerkschaftsfunktionär ging auch an ihm die Welle von Mordanschlägen nicht spurlos vorüber. 1986 verlor er seinen besten Freund Leonardo Posada von der Linksbewegung Unión Patriótica, die in den folgenden Jahren Tausende Mitglieder durch Anschläge verlieren sollte. Im Oktober 1998 wurde neben ihm während eines Streiks der Präsident der CUT, Jorge Luis Ortega, erschossen. Morddrohungen nahmen Überhand und Lucho und weitere Gewerkschafter den Weg ins Exil in die Schweiz. Dort hielt er es jedoch nicht lange aus. Im letzten Jahr kandidierte er – als erster Linker seit Jahren – bei den Präsidentschaftswahlen und fuhr mit knapp 700.000 Stimmen einen beachtlichen dritten Platz ein.
Trotz Grabenkämpfen in der eigenen Bewegung und der kolossalen Wahlkampfmaschine Uribe Vélez konnte „Lucho“ 17 Monate später bei der Kommunalwahl triumphieren. „Ab jetzt können wir niemandem mehr die Schuld geben, ab jetzt müssen wir mit absoluter Transparenz regieren“, so Garzón vor seinen AnhängerInnen in der Wahlnacht, in der er ihnen die kommende Verantwortung klar machte, da alle Augen auf ihnen haften würden.
Garzón kündigte statt autofreier Tage, die von seinen Vorgängern gefördert wurden, Tage ohne Hunger an. Alle Kinder in der durch Flüchtlinge rasant anwachsenden Hauptstadt sollen in den Genuss städtischer Ernährungsprogramme kommen. In den weitläufigen Armenviertel will Lucho Garzón bei Amtsantritt den sozialen Notstand ausrufen. Wie und womit er sein Sozialprogramm umsetzen will, liess er im Detail offen. Sicher wird jedoch die Opposition im Stadtrat gegen ihn sein, wenn er die Strategien der Vorgänger, die eine Rückeroberung des öffentlichen Raums und verschärfte Sicherheitspolitik betrieben, antastet.
Ein weiteres Problem könnte ihn zukünftig quälen: zehn Tage vor dem Urnengang zog die traditionelle Liberale Partei ihren Kandidaten zurück und kündigte die Unterstützung von Lucho an. Der nahm dankend an und zog somit eine kriselnde, aber in der Struktur mächtige Traditions-Partei ins Boot, die ihn unter Druck setzen und allzu linke Vorstellungen vom Tisch fegen könnte.
Für den Historiker und Schriftsteller Arturo Alape gehen von den Wahlsiegen wichtige Signale aus. „Bei der FARC-Guerilla sollten jetzt die Alarmsirenen läuten, da ein politisches Projekt mit sozialem Hintergrund offenbar Platz in der Demokratie hat“, so Alape. Tatsächlich stellt der Erfolg linker Kandidaten die Guerilla de facto vor eine schwierige Situation. Sollten die politischen Ziele der gerade Gewählten fruchten, könnte dies die brüchige Existenzgrundlage der linken Rebellenbewegungen überholen.

Schlappe für Uribe
Der Verlierer des Wahl-Wochenendes war zweifelsohne der rechte Präsident Uribe. Mit den neuen Lokalpolitikern, die teils in scharfer Opposition zu seinem militärischen Konfrontationskurs gegen die Rebellen und der Sicherheitspolitik stehen, wird das Regieren für den bisher unangefochtenen Uribe, der noch immer mit einer 75-prozentigen Unterstützung seitens der Bevölkerung rechnen kann, unbequemer.
Doch weit schlimmer entpuppte sich das Scheitern des sicher geglaubten Referendums einen Tag vor den Kommunalwahlen, das tiefe Einschnitte in der Haushaltspolitik und Staatsreformen vorsah. Die Gehälter von knapp einer Million öffentlich Angestellter sollte per Volksentscheid die nächsten zwei Jahre eingefroren sowie der Kongress deutlich verkleinert werden. Das Ziel: Einsparungen von mehr als 2,5 Milliarden Euro in den nächsten Jahren. Uribe pokerte mit seiner hohen Popularität und streifte durch Fernseh- und Radioshows. Auch durch Besuche bei der kolumbianischen TV-Version von „Big Brother“ und zahlreiche Debatten und Interviews erreichte er nicht die notwendige Beteiligung von mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten.
So musste das Kabinett wenige Tage später den so genannten „Plan B“ aus dem Boden stampfen, der die Finanzpolitik des Landes stabilisieren soll. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 17 Prozent, neue Steuern auf Renten und Eigentum sollen den Schuldendienst und die erhöhten Militärausgaben nicht ins Stocken geraten lassen.
Auch wenn Uribe bei dem Haushalt die Niederlage im Referendum durch andere Maßnahmen wettmachen kann, wird er die bisher verlässliche Geschlossenheit im Kongress nicht wieder erlangen können. Die Verletzlichkeit Uribes hat einige Abgeordnete seiner Linie zur Kritik ermutigt, die der Präsident mit harschen Worten abbügelte. Das Ergebnis sollte folgen: Zunächst wurde der bereits im Referendum existierende, aber vom Verfassungsgericht entfernte Punkt einer möglichen Wiederwahl von Präsidenten und Gouverneuren im Parlament abgelehnt, wenige Tage später geschah das Gleiche mit dem so genannten Antiterror-Statut, das dem Militär erweiterte Rechte bei Festnahmen und Durchsuchungen erlauben soll. Nur der skandalöse Abbruch der Abstimmung im Abgeordnetenhaus konnte zunächst eine sofortige Niederlage hinausschieben.

Innenminister nimmt den Hut
Das Fass zum Überlaufen brachte jedoch der polemische und umstrittene Innenminister Fernando Londoño Hoyos, der am 5. September einen möglichen Rücktritt des Präsidenten Uribe als Druckmittel in die Diskussion brachte. Um der Regierung den Rückhalt der Konservativen Partei, die enorm an Einfluss eingebüßt hat, zu sichern, sprach Londoño gegenüber deren Vertetern von einem möglichen Rücktritt Uribes, sollten ihm zukünftig die Hände wegen mangelnder Unterstützung gebunden sein. Die Ankündigung wurde von jemandem aufgenommen, machte in den Medien die Runde und besiegelte das politische Ende Londoños. Dieser hatte bereits in der Vergangenheit mehrfach Abgeordnete als „kiffende Politiker“ beschimpft, die Opposition gegen Uribe in die Nähe der Guerilla gestellt und in der Vergangenheit krumme Geschäfte mit Aktien gemacht.

Uribe als Workingclass Hero?
“Mir bleiben weitere sechs Jahre”, versicherte Uribe auf einer Veranstaltung nach Bekanntwerden des Eklats, nachdem Abgeordnete mutmassten, dass Londoño die wahren Gedanken Uribes widerspiegelte. „Drei Jahre tagsüber, und weitere drei Jahre, wenn man die Nächte an Arbeit zusammenzählt“, so Uribe. „Arbeiten, arbeiten und arbeiten“, heißt das ewige Motto des Präsidenten, das er laut der Kolumnistin María Jimena Duzán nach der Niederlage lieber in „Nachdenken, nachdenken und nachdenken“ ändern sollte, um sich wieder der Realität des Landes anzunähern.
Eine Niederlage, die laut der Politikwissenschaftlerin Adriana Delgado das Ende der „Einstimmigkeit“ zugunsten Uribes bedeutet und „im kontinentalen Kontext“ steht. „Der Sieg von Garzón in Bogotá ist das Ergebnis der Neuorientierung der lateinamerikanischen Linken, einer moderaten Linken, die versteht, dass sie eine Machtalternative mit einem neu konzipierten Sozial- und Wirtschaftsmodell ist.“

Bürgerkrieg und Flucht: Vertreibung in Kolumbien

Die Motive der Landflucht haben sich in Kolumbien geändert. Heute fliehen die Menschen vor allem vor dem, in einigen Regionen des Landes allgegenwärtigen, Terror verschiedener bewaffneter Gruppierungen. Oder sie werden schlicht und einfach von ihrem angestammten Land durch Großgrundbesitzer vertrieben. Dann müssen sie ihren Wohnsitz zwangsweise verlegen.
Nach Angaben der Beratungsstelle Menschenrechte und gewaltsame Vertreibung (CODHES) sind für nahezu die Hälfte aller Vertreibungen paramilitärische Gruppen und für 35 Prozent Guerillagruppen verantwortlich. Bedrohungen, Morde, Massaker und Bombenattentate von Paramilitärs, der Guerrilla – vornehmlich den FARC und der ELN —, der Polizei, der Armee und sonstigen bewaffneten Gruppen veranlassen Tausende zur Flucht. Die vier größten städtischen Ansiedlungen Kolumbiens sind zugleich die vier wichtigsten Migrationsziele des Landes: Bogotá, Medellín, Cali und Barranquilla verzeichneten innerhalb der letzten 25 Jahre mit Abstand die meisten Zuwanderungen. Die großen Städte des Landes gelten nach wie vor als Fluchtorte vor der Gewalt des Bürgerkriegs.

Bogotá – Hauptstadt der Vertriebenen
Das könnte sich allerdings bald ändern, denn die Präsenz von Paramilitärs und Guerilleros in den Stadtgebieten nimmt zu. Auf jeden Fall verändern sich die Bevölkerungsstrukturen in den Städten: Große Bevölkerungsteile verarmen oder werden marginalisiert; entsprechend breiten sich Stadtviertel mit verfallener Bausubstanz und unzureichender Anbindung an die öffentliche Infrastruktur aus: Arbeitslosigkeit, Beschäftigung im informellen Sektor, Kriminalität und Umweltbelastungen wachsen. Die herkömmlichen Bevölkerungsstrukuren wurden transformiert. Besonders im Großraum Bogotá ist diese Entwicklung hautnah mitzuerleben. Dort haben sich vor allem im letzten Jahrzehnt informelle Landnahmen und die Bebauung unkontrolliert ausgebreitet. Wie CODHES berichtet, kamen allein zwischen Dezember 1997 und November 1998 rund 55.000 Vertriebene nach Bogotá. Das war mehr als ein Fünftel aller Flüchtlinge innerhalb Kolumbiens in diesen Jahren. Die Dunkelziffer dürfte noch weit höher liegen, denn längst nicht alle Vertriebenen werden administrativ erfasst.

Entsiedlung auf dem Land
Die Bevölkerungsverdichtung in den Ballungszentren Kolumbiens geht einher mit der Entsiedlung ländlicher Regionen. Allein im Jahr 2000 siedelten Schätzungen zufolge knapp 350.000 Vertriebene vom Land oder kleineren Städten in Großstädte um. Nachdem zu Beginn der 90er Jahre die Zahl der Vertriebenen zurückgegangen war, wuchs diese von 1994 bis heute wieder kontinuierlich an und erreichte in den letzten Jahren neue Rekordwerte. Auch künftig ist kaum mit einem Rückgang der Vertreibungen zu rechnen, da Präsident Uribe versucht, den auf sozialen Ungerechtigkeiten basierenden Konflikt im Land militärisch zu lösen. Die Kampfhandlungen haben in den letzten Monaten in weiten Teilen Kolumbiens zugenommen.

Vertrieben und ohne Chancen
Im Durchschnitt bestehen die vertriebenen Familien aus fünf Personen. In acht Prozent dieser Familien fehlt der Vater und ein Drittel der Familienmitglieder sind Kinder im Alter von vier bis dreizehn Jahren, 32 Prozent sind Personen zwischen 18 und 40 Jahren. Verglichen mit der hauptstädtischen Bevölkerung sind die Vertriebenen unterdurchschnittlich gebildet: Über die Hälfte von ihnen verfügt lediglich über einen Grundschulabschluß, 22 Prozent besitzen einen Realschulabschluss, und nur ein Prozent besuchte eine Universität. Die Aussicht auf Beschäftigung ist für diese Menschen gering. Staatliche Programme und insbesondere private Initiativen versuchen die gravierendsten Probleme der Neuankömmlinge abzufedern, doch angesichts des Zustroms der Vertriebenen sind diese Maßnahmen nicht ausreichend.
Die Konsequenz: Die hauptstädtischen Straßen füllten sich bis Juli 2003 mit bettelnden Vertriebenen. Danach wurden sie durch ein neues Gesetz kriminalisiert und wiederum aus dem Zentrum vertrieben. Die informellen Armenviertel vor allem im Süden und Südwesten der Stadt wachsen seit vielen Jahren kräftig. Das Problem: Aufgrund der Hilfsprogramme verschiedener Seiten für anerkannte Flüchtlingsfamilien sehen sich viele soziale Gruppen der angestammten, traditionell armen Bevölkerungsteile in den entsprechenden Vierteln der Hauptstadt übervorteilt. Der Neid auf die geringe finanzielle Unterstützung der Vertriebenen von staatlicher Seite wächst. Enorme soziale Spannungen und zum Teil gewaltsame Auseinandersetzungen unter den einzelnen Parteien sind die Folge. Dieses Konfliktpotential ist mittlerweile den meisten Akteuren bekannt, die sich mit der Vertriebenenproblematik beschäftigen. So hat das Netz der Sozialen Solidarität (RSS), ausführendes Hilfsorgan der kolumbianischen Regierung, bereits reagiert und erarbeitet Strategien zur Bewältigung dieses Problems. Oberste Priorität haben für das RSS vor allem die Verbesserung der Gesundheitsversorgung und der Bildungssituation sowie die Eingliederung der Vertriebenen in den städtischen Arbeitsmarkt. Mittelfristiges Ziel ist es, dass die Flüchtlinge eigenes Geld verdienen und nicht mehr auf staatliche Zuwendungen angewiesen sind. In Anbetracht einer gegenwärtigen Arbeitslosigkeit von etwa 24 Prozent im Stadtraum von Bogotá und einer informellen Beschäftigung von 50 Prozent aller städtischer Erwerbstätigen ohne jegliche soziale Absicherung dürfte das ein aussichtsloses Unterfangen sein.
Langfristige Zielsetzung aller staatlichen Bemühungen ist die Rückführung der vertriebenen Menschen in ihre Heimat nach Beendigung des Bürgerkriegs. Bis heute kehrten lediglich acht Prozent aller Vertriebenen in ihre Heimat zurück. Viele Vertriebene ziehen nach einer Weile das Leben in der Großstadt vor. Dabei spielen Migrationsnetzwerke eine entscheidende Rolle. Auch Familienangehörige, Freunde oder Bekannte – häufig zu einem früheren Zeitpunkt aus ähnlichen Gründen zur Migration gezwungen – erleichtern den Neuankömmlingen die Eingliederung ins hauptstädtische Leben.

Trübe Aussichten
Darüber hinaus sind viele der Herkunftsregionen der Vertriebenen traditionelle Kampfgebiete, in denen teilweise über Jahrzehnte hinweg gewaltsam ausgetragene Konflikte stattfinden. Dies macht eine Befriedung und damit eine sichere Rückkehr vieler Menschen nahezu unmöglich.
Durch die wachsende Bevölkerungsdichte kommt es zunehmend zum Kampf um Grund und Boden in der kolumbianischen Hauptstadt. Grundstückspreise und Mieten steigen: Teile der unteren Mittelklasse verlassen ihre traditionellen Stadträume unter dem Druck steigender Preise und siedeln sich im Zuge innerstädtischer Migrationsprozesse im Süden der Stadt an, was wiederum einen Anstieg der dortigen Preise nach sich zieht. So werden die Ärmsten der ohnehin schon Armen, unter ihnen auch sehr viele Vertriebene, aus der Stadt heraus in das Umland abgedrängt. Die meisten von ihnen finden sich in Soacha wieder, einer Stadt an der südlichen Grenze Bogotás. Es wird davon ausgegangen, dass über ein Viertel aller innerhalb Soachas vorgenommenen Baumaßnahmen illegal sind. Kürzlich wurde Soacha in einer Regionalstudie kolumbianischer Stadtplaner, Architekten und Soziologen als eines der deprimierendsten Zentren städtischer Armut im ganzen Land bezeichnet.
Prognosen zur Bevölkerungs- und Stadtentwicklung Bogotás lassen für die kommenden Jahre kaum einen Wandel dieser Zustände erhoffen. Angesichts eines nicht abzusehenden Endes des kolumbianischen Bürgerkriegs wird die Zivilbevölkerung in den Konfliktgebieten auch künftig leiden und in letzter Konsequenz ihre Heimat verlassen. Der Migrationsstrom der Vertriebenen wird nicht abreißen.

Hexenjagd gegen Menschenrechtler

Die Kulisse hätte nicht bedrohlicher sein können. Während eines militärischen Aktes vor Soldaten der Luftwaffe attackierte der kolumbianische Präsident Alvaro Uribe Velez in scharfen Tönen die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und machte diese für den „Terrorismus“ und die soziale Misere im Land mitverantwortlich. „Diese Theoretiker der Menschenrechte sprechen von Sozialpolitik. Sie selbst und die Terroristen, die sie verteidigen, haben die soziale Schieflage der Nation zu verantworten. Aber das haben sie vergessen!“, so der erzürnte Uribe gegenüber Hunderten Uniformierten.
Den verbalen Angriffen Uribes ging die Veröffentlichung eines Buches voraus, das über 80 NGOs am 9. September veröffentlichten und sich auf die Analyse der Sicherheitspolitik seitens der Regierung konzentriert. So habe zwar die Zahl der Toten bei Gefechten, Entführungen und Morden abgenommen, die Verletzung der Menschenrechte sei jedoch deutlich gestiegen. Für 1.510 Fälle werden die Paramilitärs verantwortlich gemacht, gefolgt von der Armee mit 1.246 Fällen. Vermehrt wird Folter angewandt. Zwischen Januar und Mai diesen Jahres wurden 140 Fälle registriert, das ist eine 150-prozentige Steigerung gegenüber dem Vorjahreszeitraum. „Die Kriegsstrategie der Regierung und die Repressionen richten sich immer mehr gegen die Zivilbevölkerung“, konstatiert das anerkannte Bildungs- und Forschungszentrum CINEP, das diese Zahlen veröffentlicht hat.

Die Armee soll sich selbst kontrollieren

Die Staatsreformen der Regierung zielen darauf ab, Kontrollmechanismen auszuschalten. Die Aktionsrahmen des Verfassungsgerichts, sowie der Generalklagevertretung sollen zukünftig eingeschränkt werden. Die Aufklärung von gravierenden Menschenrechtsverletzungen – so die Anwaltsvereinigung Jose Alvear Restrepo – werde behindert.
Uribe schlug Anfang Oktober vor, die Kontrolle von Armee-Operationen allein den Militärgerichten zu überlassen und zivile Organe gänzlich auszuschließen. Ausschlaggebend waren die Kenntnisse über eine möglicherweise schwer wiegende Verantwortung der Armee für den Tod der entführten Ex-Kulturministerin Consuelo Araujonoguera im letzten Jahr. Zunächst wurde offiziell die Guerilla für die Ermordung verantwortlich gemacht. Im September wurde dann eine Klage gegen vier hochrangige Militärs wegen gravierender Planungsfehler bei der Operation eingereicht, nachdem die Armee eine Befreiungsaktion lancierte. Solche Fälle sollen laut Uribe zukünftig nicht mehr an die Öffentlichkeit gelangen. Auf die Kritik mehrerer Juristenverbände konterte der Präsident mit der Anschuldigung, dass diese Kollektive und deren Anwälte „Sprecher der Terroristen“ und einige NGOs „Händler von Menschenrechten“ seien.

NGOs in Gefahr

Nach diesen Attacken von Uribe hagelte es Kritik. „Behauptungen wie diese können das Leben der Menschenrechtsaktivisten gefährden. Sie können als Signal verstanden werden, die NGOs zu attackieren“, so Susan Lee, Amerika-Direktorin von Amnesty International. Auch Gustavo Gallón von der Juristenkommission ist der Meinung, dass die Ansprache das Leben der AktivistInnen weiter in Gefahr gebracht habe. Seit Mitte der neunziger Jahre werden jährlich im Schnitt zwölf NGO-MitarbeiterInnen in Kolumbien ermordet. Uribe habe einen fahrlässigen Fehler begangen, da die Attacken das Verhältnis zu den Organisationen nachhaltig zerstört hätten. Erschreckend sei laut Gallón zudem gewesen, dass Uribe die Ansprache vor Sicherheitskräften gehalten habe, die für einen Großteil der Menschenrechtsvergehen verantwortlich gemacht werden.
Laut dem Sprecher des EU-Kommissars für außenpolitische Angelegenheiten, Diego de Ojeda, können die Beschuldigungen Uribes „tragische Konsequenzen“ nach sich ziehen. „Die EU teilt nicht die Anschuldigungen angeblicher Verbindungen zwischen Menschenrechtsaktivisten und terroristischen Bewegungen“, so Ojeda.
Sogar aus dem State Department in Washington, das den militärischen Kurs Uribes gegen die illegal bewaffneten Gruppen technisch und finanziell unterstützt, kamen missbilligende Töne. Die Ansprache sei „in keiner Weise hilfreich gewesen“, so die Stellungnahme eines Mitarbeiters.
Der demokratische Kongressabgeordnete Jim McGovern forderte Uribe auf, nicht die NGOs einzuschüchtern, sondern die wahren Menschenrechtsverletzer dingfest zu machen. „Es ist die Straflosigkeit, die die Chancen für einen Frieden in Kolumbien zunichte macht, nicht die NGOs“, so McGovern. Die Entgleisungen Uribes könnten weitreichende Folgen auch in Washington haben. Für die Verabschiedung zukünftiger Finanzhilfen ist Bogota auf die Unterstützung der Demokraten angewiesen, deren Bereitschaft zur Hilfe des Kriegskurses in Kolumbien immer geringer wird.
Eine Ansprache vor der UN-Vollversammlung und ein anschließendes Treffen mit US-Präsident Bush sollten die Wogen glätten. Dennoch kündigte die kolumbianische Regierung Mitte September eine genaue Untersuchung der rund 1.300 im Land aktiven NGOs an. Zwar soll es laut dem Innenminister Fernando Londoño keine Hexenjagd geben, doch der Staat und die Bürger müssten „vor denen geschützt werden, die sie attackieren.“

Unhaltbare Vorwürfe gegen Justicia y Paz

Die Hexenjagd hat jedoch offenbar bereits begonnen. Am 20. August veröffentlichten die kolumbianische Staatsanwaltschaft, Regierung und Armee gemeinsam eine Klage gegen mehrere Mitarbeiter der katholischen NGO Justicia y Paz, die unter Decknamen für die Guerilla tätig seien sollen. Laut angeblichen Aussagen von drei Personen, wird Justicia y Paz des Transportes und der Versorgung von FARC-Rebellen, der Hortung von Munition, bis hin zu Morddrohungen beschuldigt. Kein geringerer als Armeechef Jorge Enrique Mora präsentierte den kolumbianischen Medien die tief greifenden Verbindungen zwischen der NGO und den FARC. Daraufhin wurde Justicia y Paz öffentlich vorgeworfen, die internationalen Menschenrechte zu verletzen, Hilfsgelder zu veruntreuen und politischer Arm der Guerilla zu sein.
Die Beschuldigungen kennen keine Grenzen: Die NGO wird mit Kontakten zu den mexikanischen Gemeinden in Chiapas „belastet“. In einer anderen Aussage werden die humanitären Verbindungen zwischen Justicia y Paz, dem Internationalen Roten Kreuz, den Internationalen Friedensbrigaden, Oxfam und der Diakonie aufgeführt, was diese etablierten NGOs im Kontext der Beschuldigungen ebenfalls mit Guerilla-Gruppen verbindet.
Warum ausgerechnet Justicia y Paz? Diese Organisation formierte in den neunziger Jahren im Nordwesten Kolumbiens erstmals so genannte Friedensterritorien, in denen die BewohnerInnen die bewaffneten Gruppen aufforderten, ihr Leben zu respektieren und nicht ihr Territorium zu betreten. Diese Forderungen wurden weder von den illegalen Gruppen noch von der Armee akzeptiert. Besonders der Widerstand dieser Gemeinden gegen das kolumbianische Militär, das eng mit den Paramilitärs zusammenarbeitet, hat den Argwohn der Armee hervorgerufen. So wurden im Frühjahr diesen Jahres mehrere schwarze Gemeinden in der kolumbianischen Provinz Choco, in denen Justicia y Paz aktiv ist, militarisiert (siehe LN 335). Ein halbes Jahr später folgten die Beschuldigungen.
„Wir sind weder Guerilleros noch korrupt“, ließ die Organisation in einer Stellungnahme verlauten und beklagt, dass mit dieser Kampagne Opfer der kolumbianischen Gewalt zu Tätern gemacht werden. Zudem sei durch die Armee bereitgestelltes Filmmaterial gefälscht und ungeprüft von den Medien veröffentlicht worden. Darin erscheinen die Weiler, in denen die NGO arbeitet, mit Bildern patrouillierender Guerilleros aus völlig anderen Regionen. „Wie kann es möglich sein, dass die Gemeinden im Choco seit einem halben Jahr militarisiert sind, die Armee uns beschuldigt, Guerilleros aufzunehmen und es dennoch nie zu Gefechten kam?“, so Justicia y Paz. Die Organisation rief auf Grund der Beschuldigungen Institutionen und Organisationen auf, ihre Büros zu beobachten und zu beschützen und auf mögliche Festnahmen und Durchsuchungen zu reagieren.
Diese sind nicht ausgeschlossen. Bereits im letzten Jahr wurden mehrere NGO-Sitze in der Hauptstadt Bogota von Geheimdienst und Staatsanwaltschaft durchsucht. Mindestens fünf ausländische MenschenrechtsaktivistInnen, die Bauerngruppen unterstützten, wurden des Landes verwiesen.

Straffreiheit für Paramilitärs

Die Wurzeln des Konflikts zwischen Uribe und den im Land aktiven NGOs liegen nicht zuletzt im Ende letzten Jahres begonnenen Friedensprozess mit den Paramilitärs. Tiefe Entrüstung rief bei den MenschenrechtsvertreterInnen die Ankündigung hervor, den rechten Milizen statt langen Gefängnisstrafen eine Teilamnestie zu gewähren, um eine Wiedereingliederung der Kämpfer ins Zivilleben zu ermöglichen und somit dem Grauen mordender Todesschwadronen ein Ende zu setzen. „Wir wollen den Frieden jetzt! Wir sind für einen verhandelten Frieden bereit!“, so der Friedensbeauftragte Luis Carlos Restrepo Ende September vor dem Parlament. Der Vorschlag der Regierung: Mitglieder der Paramilitärs unter deren Dachverband AUC (Vereingte Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens) sollen sich zu ihrer Schuld bekennen und als „Strafe“ die Opfer der von ihnen angerichteten Massaker mit Geld oder Ländereien entschädigen, sowie auf politische Rechte verzichten.
Beunruhigend in diesem Zusammenhang war die Erläuterung dieses Vorschlags im Juli. Den hatte die Regierung auf den Tisch gelegt und nicht die Paramilitärs. Carlos Castano, Chef der AUC, übernahm diese Forderung daraufhin als wichtigste Bedingung für eine Entwaffnung der Paramilitärs. Dass die Regierung bei den bewaffneten Gruppen mit zweierlei Maß misst, beweist nicht nur dieses Angebot einer Teilamnestie. Die Paramilitärs hatten im November letzten Jahres einen Waffenstillstand angekündigt, der eine Vorbedingung für die Gespräche war. Davon ist jedoch nichts zu spüren, die Kämpfe und Morde halten an. Für die Regierung ist das dennoch kein Anlass, die Gespräche zu beenden oder zumindest zu unterbrechen.
Das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen in Bogota rief die Regierung auf, keine einheitlichen Strafen anzuwenden, sondern nach der Schwere der Verbrechen zu urteilen. Zudem solle der Staat bei Fragen der Opferentschädigungen ebenfalls aktiv werden, wenn die Täter nicht dazu in der Lage sind.
Selbst Uribe-treue Abgeordnete im kolumbianischen Parlament sprachen sich gegen die Regierungsvorlage aus, was einen Konsens unmöglich macht und die zukünftige Abstimmung des Entwurfs gefährdet. Ihr Vorschlag: Verantwortliche schwerer Menschenrechtsverletzungen sollten eine Mindeststrafe von fünf Jahren absitzen. In der Folgezeit sollten den Tätern politische Rechte abgesprochen, sowie der Besitz von Waffen untersagt werden.

Kein Schlupfloch für Drogenhändler

Einen weiteren Stein legten die USA Uribe in den Weg. Die Bush-Regierung werde nicht auf ihre Forderung nach Auslieferung von Drogenhändlern verzichten. Nahezu alle Kommandeure der AUC werden von Washington beschuldigt, in den Drogenhandel involviert zu sein. Kaum einer von ihnen wird unter diesen Umständen bereit sein, in die Legalität zurückzukehren.
Washington forderte von Uribe außerdem höhere Strafe gegen die Paramilitärs. Selbst fünf Jahre seien zu wenig. Zudem dürften die Aussagen der Paramilitärs nicht allgemein sein, sondern müssten konkrete Fälle detailliert aufzeigen. Washington will mit dieser Forderung unterbinden, dass gesuchten “Drogenhändlern” unter dem Banner der AUC eine Straferleichterung zugestanden wird. Während die Forderungen aus Washington und von der UNO eine Ablenkung der Regierungsvorschläge darstellen, sieht der Abgeordnete Jose Trujillo diese als Mittel, „um das Projekt zu schützen“. Schließlich bestehe die Chance, einen Verhandlungsfrieden zu erlangen.

Sammelpunkte für Paramilitärs

Unabhängig von dieser Entwicklung sollen sich bereits im Oktober die ersten 800 Paramilitärs in der Nähe der Metropole Medellín konzentrieren, um in den nächsten Monaten mit der Entwaffnung und Wiedereingliederung zu beginnen. Bis Ende des Jahres werden bis zu 4200 Kämpfer in sieben weiteren Punkten des Landes hinzukommen. Ihr Schicksal hängt vom Verlauf der kommenden Parlamentsdiskussionen um die Teilamnestie ab.
Von einem Ende des Paramilitarismus ist das Land laut dem Analytiker Alfredo Rangel Suarez dennoch weit entfernt. Solange es den Drogenhandel und die Guerilla im Land gibt, und solange der Staat nicht im ganzen Territorium präsent ist, wird es weiterhin private Milizen geben. Da die Paramilitärs von sich aus an die Regierung herangetreten sind, hätte diese eine bedingungslose Entwaffnung fordern müssen, um juristischen und politischen Spielraum gegenüber den Paramilitärs zu besitzen, so Rangel. Unter den jetzigen Umständen habe Uribe die Büchse der Pandora geöffnet und den Verlauf der Verhandlungen unvorhersehbar gemacht.

Gefangenenaustausch bleibt Utopie

Es sollte ein Paukenschlag der Armee werden und entwickelte sich zu einem blutigen Fiasko. Nachdem Soldaten des kolumbianischen Militärs das verlassene Camp der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens FARC in dem nordwestlichen Dschungelgebiet Urrao betraten, fanden sie zehn Leichen vor.
FARC-Guerilleros erschossen am 5. Mai ihre Geiseln, um vor der anrückenden Armee zu fliehen. Unter den Toten befanden sich neben acht Militärangehörigen der Gouverneur der Provinz Antioquia Guillermo Gaviria und der ehemalige Verteidigungsminister Gilberto Echeverry. Offenbar wollten die Rebellen mit der Erschießung deutlich machen, dass mit ihnen nur eine verhandelte Freilassung der Geiseln möglich sei und keine mit militärischen Mitteln.
Denn bereits im April verdichteten sich die Anzeichen für eine mögliche Vereinbarung zwischen Uribe-Regierung und den FARC über einen Gefangenenaustausch. Bogotá stellte ein Abkommen in Aussicht, das vier Kernpunkte erfüllen müsse: im Gefängnis sitzende Guerilleros hätten das Land zu verlassen, während alle Geiseln frei gelassen werden müssten, eine von der Guerilla geforderte entmilitarisierte Zone wäre kein Thema und alle Kontakte müssten unter Vermittlung der UNO stattfinden. Noch als Uribe den Medien diese Punkte diktierte, flogen die Helikopter bereits in Antioquia ihre erfolglose Operation. Das Interesse an einem Abkommen schien beim Präsidenten nicht groß gewesen zu sein.

Uribe streitet Kenntnisse über Kontakte ab

„Man muss mit der Guerilla aufräumen, keine Rücksicht mehr mit Marulanda und seinen Leuten“, zürnte Uribe kurz nach der Hiobsbotschaft. Geschickt verkaufte der Präsident in den Medien das Massaker als Alleinverantwortung der FARC, ohne von den Kontakten zu berichten, die es auf regionaler Ebene mit der gleichen Guerillagruppe gab, um eine friedliche Freilassung der Gefangenen auszuhandeln.
Mit Wissen Uribes, wenn man den Aussagen der Witwe des ermordeten Gouverneurs, Yolanda Pinto, Glauben schenkt. Demnach gab es von Regierungsseite regen Kontakt mit den FARC, die sich in Hilfslieferungen für die Gefangenen ausdrückten. „Das erste Mal, dass wir Sachen zu ihnen schickten, war über das Internationale Rote Kreuz. Ich habe darüber den Präsidenten informiert und er sagte mir, dass das in Ordnung geht, aber die UNO dazu eingeschaltet werden soll“, so die Witwe. Der Höhepunkt: Nur einen Tag vor der Militäroperation landete nach Recherchen der Zeitschrift Cambio ein Helikopter der Provinzregierung im Guerillalager, um elf kranke Rebellen auszufliegen und behandeln zu lassen. Weitere Flüge soll es in den Monaten zuvor gegeben haben.
Doch Uribe konnte sich nach dem 5. Mai nicht daran erinnern, jemals etwas über solche Serviceleistungen gewusst zu haben. Offenbar gab es auf regionaler Ebene fruchtende Kontakte zu einer Freilassung der Gefangenen, die jedoch durch die Militäroperation zunichte gemacht wurden. Dass Uribe seiner Kenntnisse über die Kontakte abstreitet, hat seinen Grund. Sollte er davon gewusst haben, hätte er den Tod der Geiseln und ein Scheitern der Annäherung zwischen Guerilla und Regierung billigend in Kauf genommen.

Eine Armee auf Raubzug

Ein Skandal anderen Stils wurde Mitte Mai publik. 147 Soldaten einer Antiguerilla-Einheit hatten einen Monat zuvor sechs Tage im Süden Kolumbiens die Erde durchgepflügt. Nach Armeeinformationen sollten in der Provinz Caquetá nach heftigen Bombardements der Luftwaffe Dutzende tote Guerilleros verscharrt worden sein, welche die Eliteeinheit finden wollte.
Doch statt der Leichen holten die Soldaten am 18. April zehn große Plastiktonnen aus dem Boden, prall gefüllt mit Banknoten. Nachdem diese durchgezählt wurden, entschloss sich die Einheit kurzerhand, den Schatz aufzuteilen und nicht ans Hauptkommando zu melden. Umgerechnet mindestens 14 Millionen US-Dollar, die offenbar den FARC-Rebellen aus dem Drogengeschäft gehörten, gingen lautlos in die Hände der Soldaten und Kommandeure über.
Galten diese vergrabenen Schätze bisher als Mythos, den desertierte Guerilleros verbreiteten, wurde dieser für die Soldaten zur Realität und für das kolumbianische Hauptkommando zum Alptraum. Der Vorfall gilt als bisher größter Korruptionsskandal innerhalb der kolumbianischen Armee und wiegt besonders schwer, da es sich um eine kollektive Tat einer ganzen Kompanie handelte.
Besonders peinlich für das Hauptkommando: bisher konnten nur gegenüber 40 der Haftbefehl vollzogen werden, weitere 107 Militärs sind vom Erdboden verschwunden.

Rücktritte und Urlaubsverlängerung

Nach dem unerwarteten Fund kam es zu ungewöhnlichen Vorgängen. Das komplette Antiguerilla-Bataillon wurde überraschend kurzfristig in einen anderen Landesteil verlegt. Nur drei Tage später traten dort 42 Soldaten und Militärs mittleren Ranges ohne größere Erklärungen von ihren Ämtern zurück. 15 kehrten nicht mehr aus dem Urlaub zurück und weitere neun desertierten spurlos.
Daraufhin leitete die Armee eine Untersuchung ein, die eine tiefere Verstrickung des ganzen Bataillons aufzeigte, aber dennoch nicht das Verschwinden weiterer Soldaten verhindern konnte. Neben den Dieben die einzigen Glücklichen: Puffs, Autohändler und Schmuckverkäufer der kolumbianischen Provinzstadt Popayán, die Dank dem Bataillon im April nach eigenen Aussagen den besten Geschäftsmonat hatten.

Antiterror-Statut vor der Verabschiedung

Während anderswo eine striktere Kontrolle des Militärs zur Diskussion stünde, kann sich die kolumbianische Armee stattdessen auf eine deutliche Erweiterung ihrer Rechte stützen. In der zweiten Mai-Woche gab das kolumbianische Abgeordnetenhaus einem Antiterror-Statut grünes Licht, das der Armee künftig juristische Befugnisse per Verfassungsreform einräumen soll. So darf diese jegliche Kommunikationskanäle auf eigenen Verdacht anzapfen, ohne auf eine richterliche Erlaubnis angewiesen zu sein.
Auf gleicher Basis würden Hausdurchsuchungen sowie Festnahmen möglich werden, die bereits in den achtziger Jahren verfassungsrechtlich verankert waren. „Die haben schon damals nichts genützt und konnten nicht mit der Guerilla aufräumen“, so der linke Abgeordnete Gustavo Pérez. „Im Gegenteil, die Menschenrechte wurden massiv verletzt.“
Andere Stimmen stellten das Antiterror-Statut zynisch mit dem Geldraub in Bezug und erwarten in Zukunft mehr solcher Vorfälle, wenn Sicherheitskräfte unkontrolliert Häuser, Wohnungen und Ländereien durchsuchen dürfen.
Als „ein Mittel mit katastrophalen Auswirkungen auf die Menschenrechte“ bezeichnete amnesty international die Regierungsinitiative. Anschuldigungen gegen vermeintliche Terroristen würden ausschließlich auf Militärquellen beruhen, eine Kontrolle von Menschenrechtsverletzungen sei nicht mehr gewährleistet.
Ähnlich scharfe Kritik kam aus den Reihen der UNO. Laut dem Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen ist das Antiterror-Statut, das Ende Mai nur noch durch den Senat gehen muss, nicht vereinbar mit internationalen Normen. „Kolumbien verletzt den internationalen Pakt über Zivil- und Politikrechte und die Amerikanische Menschenrechtskonvention “, so der UNO-Menschenrechtsbeauftragte Michael Frühling.
Statt eine Korrektur der harten Linie vorzunehmen, attackierte die Uribe-Regierung die Vereinten Nationen. Die kolumbianische Verteidigungsministerin wies die UN-Kritik mit dem lakonischen Argument zurück, dass die Kommunikationsmittel der Kriminalität dienten und hinterfragte gleichzeitig das Engagement der UNO im Land für eine Neuauflage von Gesprächen zwischen Regierung und Rebellen. „Eine Verteidigung im Sinne der Terroristen“, brandmarkte die Ministerin ein Interview des UNO-Sonderbeauftragten James Lemoyne, in dem dieser den Kern der FARC-Guerilla als politisch tief gebildet bezeichnete. Statt den „Terroristen“ sollte laut der Ministerin den demokratischen Institutionen des Landes internationale Hilfe zuteil werden.
Lemoyne bemühte sich 2001 erfolglos als UNO-Sondergesandter um eine Reaktivierung der Friedensgespräche und gilt als Kenner der FARC-Guerilla. Im Interview mit der Tageszeitung El Tiempo machte er ausdrücklich klar, dass mit den FARC politische Abkommen getroffen werden können. Was im Präsidentenpalast nicht gern gehört wird, schwört man das Land doch auf einen Kriegskurs gegen eine rein terroristische Vereinigung ein.

Vermintes Terrain

Die FARC werden einen hohen Preis zu zahlen haben“, prophezeite ein sichtlich beeindruckter Tom Davis. Der republikanische US-Abgeordnete suchte Ende Februar Bogotá auf, um einen der vielleicht einschneidensten Vorfälle unter die Lupe zu nehmen, der dem kolumbianischen Konflikt eine neue und unheilvolle Note geben könnte: die verstärkte Einmischung der USA in den innerkolumbianischen Konflikt.
Am 13. Februar machte eine US-amerikanische Kleinmaschine vom Typ Cessna in der südkolumbianischen Provinz Caquetá eine Notlandung. An Bord vier US-Amerikaner sowie ein kolumbianischer Pilot, die im Auftrag der US-Regierung und unter Leitung der kalifornischen Militär-Firma Microwave Inc. einen Spionageflug über der Region durchgeführt hatten. Ihre Aufgabe war das Aufspüren der Positionen von Guerilla-KommandantInnen, die danach in Armeeoperationen getötet oder gefangen genommen werden sollten.
Nach offiziellen Angaben hatte die Maschine einen technischen Schaden, der sie zur Landung zwang. Andere Darstellungen gehen von einem gezielten Abschuss durch die Guerilla der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC-EP) aus, die dieses Gebiet seit Jahrzehnten dominiert. Nur wenige Minuten nach der Bruchlandung erreichten diese das Wrack und fanden die Besatzung leicht verletzt vor. Weitere Minuten später lebten nur noch drei. Die RebellInnen töteten den Piloten und einen US-Amerikaner per Genickschuss, die anderen wurden verschleppt.

Bush: “Skrupellose Mörder“

Die Reaktion ließ nicht auf sich warten. US-Präsident George W. Bush nannte die FARC in einem Fernsehinterview „skrupellose Mörder“ und betonte, dass allein die Guerilla für das Wohlbefinden der verschleppten US-Amerikaner verantwortlich sei. Zwar haben die FARC seit Jahren mindestens zwei US-Amerikaner in Geiselhaft, doch keine besitzen solche Brisanz wie die drei Söldner. Schließlich handelt es sich um Militärpersonal im Auftrag der US-Regierung. Um die Bedeutung zu unterstreichen, wurden am 26. Februar 49 Marines der US-Armee auf den Weg nach Bogotá geschickt, um bei der Suche der Verschleppten mitzuhelfen.
Damit sind erstmals US-Soldaten direkt in den Konflikt involviert. Zwar spricht die US-Botschaft in Bogotá nur von Unterstützung der kolumbianischen Befreiungsoperationen – rund 5000 Soldaten wurden dafür abgestellt -, doch Beobachter wie der kolumbianische Historiker und ehemalige Friedenskommissar Daniel Garcia-Peña gehen von einer offensiveren Beteiligung aus. „Sollten in den nächsten Wochen weitere US-Amerikaner ums Leben kommen, haben wir bald 4.000 und nicht 400 US-Soldaten im Land“. Was erwartet er für die FARC? „Das Ende“, so Garcia-Peña. „Die USA werden in solch einem Fall nicht Ruhe geben, bis sie ihr Ziel erreicht haben“. Nach seiner Ansicht wäre das Schicksal der FARC durch die massive militärische Einmischung der USA in den innerkolumbianischen Konflikt besiegelt.
Überraschenderweise sehen diese das anders: Ein US-Botschaftssprecher nannte die FARC militärisch nicht besiegbar. So sei deren Beseitigung „nur durch eine fundamentale Schwächung zu erreichen, die sie am Verhandlungstisch bedingungslos machen würde“. Das Ziel der USA sei es, durch Militärhilfe die kolumbianische Armee und den Staat in diese Ausgangsposition zu bringen.

Dauerhafte US-Präsenz absehbar

Kein kurzfristiges Ziel, zieht man die Stärke der FARC mit rund 20.000 KämpferInnen in Betracht. Momentan ist im Rahmen des 1999 angelaufenen Plan Colombia die Präsenz von 400 regulären US-Soldaten in Kolumbien erlaubt, weitere 400 US-Amerikaner können über private Militärfirmen im Land aktiv sein. Während die Aufgabe der Soldaten – meist US-Spezialeinheiten – auf die Ausbildung der kolumbianischen Armee konzentriert ist, führen die Söldner von technischen Wartungsarbeiten bis hin zu Sprüheinsätzen gegen Kokafelder alles durch.
Auf Grund der prekären Situation durch die Verschleppung der US-Amerikaner bemüht sich Washington jedoch um eine Aufweichung dieser Begrenzung. Versucht wird nun eine flexible Handhabung der maximal 800 US-Amerikaner. Demnach sollen mehr Soldaten für weniger technische Söldner nach Kolumbien kommen dürfen. War Ende Februar die Entsendung von 150 US-Marines zur Freikämpfung geplant, musste diese Zahl auf 49 revidiert werden, um nicht das Limit zu überschreiten. Dennoch gehen BeobachterInnen davon aus, dass sich derzeit 411 reguläre US-Soldaten in Kolumbien aufhalten. Offizielle und gleichzeitig verlässliche Zahlen gibt es nicht. Der Vertrag des Plan Colombia lässt dafür auch genügend Spielraum in einer Fußnote zu. In Ausnahmen und Momenten eines Notfalls ist eine kurzzeitige Überschreitung der Maximalgrenze erlaubt. Auslegungssache.

FARC-Vorschlag abgelehnt

Die Meinungen in der kolumbianischen Öffentlichkeit gehen weit auseinander, ob mit der Verschleppung der US-Amerikaner neuerlich über einen Gefangenenaustausch diskutiert werden soll. Während Vereinigungen von Angehörigen Verschleppter auf ein solches Abkommen mit der Guerilla drängen, schließen kolumbianische und US-amerikanische Regierung diese Möglichkeit zunächst kategorisch aus. Diesem Vorschlag der FARC Anfang März wurde eine Absage erteilt, genauso wie der geforderten Einstellung der Armeeoperationen im Caquetá.
Ein Dilemma für die Regierung aber auch für die Guerilla, die trotz Verschärfung ihrer Operationen keinen Verhandlungsspielraum mit der Rechtsregierung von Präsident Uribe Vélez gewinnen konnte. Nachdem er keine Erfolge in der Bewältigung des bewaffneten Konflikts erreichen konnte, befindet sich dieser nach Monaten erstmals auf einem deutlichen Abwärtstrend in den Meinungsumfragen, .

Schlag ins Herz der Elite

Im Gegenteil: Am 7. Februar detonierte eine 250 Kilo-Bombe in dem hauptstädtischen Nobelclub El Nogal. An scharfen Kontrollen und Überwachungskameras vorbei, konnten die AttentäterInnen wahrscheinlich über Monate hinweg eine Autobombe präparieren, die bei ihrer Detonation 36 Menschen, darunter Kinder, in den Tod riss.Über 160 Menschen wurden verletzt.
Nur wenige Stunden danach deklarierte die Regierung die FARC für den Anschlag verantwortlich und startete eine diplomatische Offensive im Ausland, deren Ziel die politische Marginalisierung der RebellInnen beschleunigen sollte. Mehrere lateinamerikanische Staaten ließen sich dazu überzeugen, die Guerilla als „terroristische Vereinigung“ zu deklarieren. Venezuela und Brasilien sahen davon ab, um nicht die Tür für Verhandlungen endgültig zuzuschlagen.
Bereits Wochen zuvor verübten vermutlich die FARC in Bogotá mehrere Bombenanschläge, die auf eine Verbesserung ihrer urbanen Strukturen zurückgeführt werden. Der Anschlag auf den Club El Nogal gilt jedoch in vielerlei Hinsicht als Höhepunkt. In der Öffentlichkeit hat sich mit einem Schlag wieder die Gewissheit durchgesetzt, dass der Staat gegen solche Attentate ohnmächtig ist. Hatte Präsident Uribe mit seinem Konzept der „demokratischen Sicherheit“ – mehr Militär, Polizei und Überwachung – im letzten Jahr die Wahlen gewonnen, wurde dieses am 7. Februar innerhalb Sekunden ad absurdum geführt.
Der Club El Nogal galt als das bedeutendste Zentrum der politischen und wirtschaftlichen Elite Kolumbiens. Bis vor einem Jahr noch war der jetzige Innenminister Fernando Londono Präsident des Clubs. Galt die kolumbianische Oberschicht im Norden Bo-gotás zwar seit jeher als gefährdet, aber nicht ernsthaft bedroht, hat sich diese Situation nun geändert. Der Konflikt beschränkt sich nun nicht mehr nur auf das Land und die Armenvierteln der Städte.

FARC unschuldig?

Wie aus heiterem Himmel lancierten die FARC am 9. März, also gut einen Monat nach dem Anschlag, ein Kommuniqué, in dem sie die Verantwortung für den Anschlag auf den Club El Nogal abstreiten. Nur selten gibt die größte Guerillaorganisation des lateinamerikanischen Kontinents ein Statement zu ihren Aktionen ab. Umso mehr lässt sich deshalb vermuten, dass die TäterInnen tatsächlich anderswo zu suchen sind. „In den staatlichen Stellen“, so die FARC, die eine gründliche interne Untersuchung eingeleitet hatten, um die Schuld nachzuprüfen. In ihrem Schreiben machte sie Geheimdienststellen für die Tat verantwortlich, welche so versuchen wollten, die FARC international zu marginalisieren. Dennoch geben Regierung und Untersuchungskommissionen an, dass die Guerilla die Verantwortung für den Anschlag trage. Handfeste Beweise konnten sie aber nicht vorlegen.
Weit bedeutender für AnalystInnen ist jedoch der Charakter des Schreibens und dessen Deutung. Mehrere BeobachterInnen sehen in dem Kommuniqué einen Wechsel der FARC im Umgang mit der öffentlichen Meinung. „Sie wollen zeigen, dass sie als Organisation weiterhin politisches Interesse haben“, meint Teófilo Vasquez vom politischen Forschungsinstitut CINEP. So hob die Guerilla hervor, dass laut ihrer 8. Konferenz aus dem Jahre 1993 dem Terrorismus abgeschworen wurde und daran festgehalten wird. Wie erklären sich dann aber die vielen Anschläge der letzten Monate? Für Garcia-Peña ist klar, dass spätestens nach der Bombe in dem Club eine interne Diskussion eingesetzt habe. „Innerhalb der FARC sind Zweifel über die eigene Strategie aufgekommen”, so Garcia-Peña. Er hält es nicht für ausgeschlossen, dass das FARC-Oberkommando mit dem Bekennerschreiben die Tat verurteilen wollte und für den Fall, dass dieser Anschlag unbekanntermaßen durch die eigenen Leute verursacht wurde, diese frei agierenden Milizen zurück zu pfeifen.
„Denn die FARC werde in der Erinnerung nicht mit skrupellosen Mordanschlägen in Verbindung gebracht“, so der Ex-Präsidentschaftskandidat Lucho Garzón. Der Anschlag habe zudem solch starke internationale Auswirkungen gezeigt, dass das Image weiter beschädigt wurde. Zudem, so Garzón, sei der Anschlag gegen die politische Klasse gerichtet, mit der man einen zukünftigen Friedensprozess zu gestalten habe. „Möglicherweise sehen die FARC den politischen Horizont des Konflikts nicht mehr so klar und bemühen sich nun, Boden für einen Friedensprozess zu gewinnen“, meint Garzón.

“Großzügigkeit” mit den Paramilitärs

Schuldig oder unschuldig – auf Seiten der Uribe-Regierung besteht weiterhin kein Interesse, mit der Guerilla in Friedensverhandlungen zu treten. Weder mit den FARC, noch mit der kleineren Guerilla des Nationalen Befreiungsheers (ELN), mit der es in der Vergangenheit sporadische Verhandlungskontakte auf Kuba gab.
Anders dagegen mit den ultrarechten paramilitärischen Verbänden unter Carlos Castaño. Am 20. Januar begann eine Kommission unter dem Hochkommissar für Frieden, Luis Carlos Restrepo, Gespräche mit den Vereinigten Selbstverteidigungsgruppen AUC aufzunehmen. Geheim und mit einem kaum bekannten Verhandlungsplan. Mit Unterstützung der katholischen Kirche sollten bis Mitte diesen Jahres Konditionen ausgehandelt werden, deren Konkretisierung bis Ende 2003 in einer Entwaffnung der Paramilitärs münden sollten.
Es benötige „Großzügigkeit“, um zu einem Einverständnis zu kommen, so der Friedensbeauftragte Restrepo, Bezug nehmend auf die Forderungen politischer Organisationen, auf keinen Fall Straflosigkeit walten zu lassen. Die Paramilitärs werden für die schlimmsten Gräueltaten innerhalb des kolumbianischen Konflikts verantwortlich gezeichnet. Unzählige Massaker an der Zivilbevölkerung tragen den Namen der AUC. Waren die AUC in der Vergangenheit ein Tabu-Thema, was Verhandlungen betraf, nahm die Rechtsregierung unter Uribe sofort Kontakt auf. Dem Präsidenten werden beste Verbindungen zu den Para-Chefs nachgesagt.

Ausstieg aus Verhandlungen

Doch schon wenige Tage nach offiziellem Verhandlungsbeginn hinter verschlossenen Türen steckte der Prozess in einer Sackgasse. Zunächst forderte Castaño die Aufhebung des US-Auslieferungsantrags wegen Drogenhandels, um nicht juristisch belangt werden zu können. Im gleichen Atemzug stellte er die Bedingung, dass die AUC nicht weiter als terroristische Vereinigung tituliert werden. Und: Für Gespräche müsse die Regierung in der nordwestkolumbianischen Provinz Urabá, dem Kernzentrum der AUC, ein Territorium entmilitarisieren. Eine Forderung, die von der Regierung nicht abgewiesen wurde, obwohl eine entmilitarisierte Zone für die Guerilla nach den Erfahrungen aus der Vergangenheit unvorstellbar geworden ist und regelmäßig abgelehnt wird.
Aber den schwersten Rückschlag für eine heftig umstrittene Annäherung zwischen AUC und Regierung lieferten die Paramilitärs selbst. Seit gut einem Jahr strukturell und organisatorisch zerstritten, kündigten die zwei wichtigsten Blöcke der AUC ihren Ausstieg aus den Verhandlungen an, was Castaño de facto die Autorität entzogen hat. Am 30. Januar erklärte der Para-Kommandeur des Blocks Élmer Cardenas, Alfredo Berrío Alemán, der schätzungsweise 25 Prozent der AUC repräsentiert, dass die Konditionen nicht für einen erfolgreichen Friedensprozess gegeben seien. Kurz zuvor stieg der Block Metro, aktiv in der Region um die Metropole Medellín, ebenfalls aus.
„Nach dem 15. März haben die AUC die Möglichkeit, Protagonisten des Friedens zu sein“, so Castaño noch zuversichtlich im Januar. „Im gegenteiligen Fall könnten wir als die Gruppe in die Geschichte eingehen, die sich kaum noch von Kriminellen unterscheidet“. Daran zweifelt schon lange niemand mehr.

Gefangen im Kessel

Herr Mondragón, wie hat sich die Situation für die Bauernbewegung seit dem Amtsantritt von Präsident Uribe verändert?

Die Regierung Uribe setzt auf die repressive Karte. Im ganzen Land herrscht Ausnahmezustand, mehrere Gemeinden in den Departements Sucre, Bolívar und Arauca stehen unter Militärverwaltung. Die Regierung hat begonnen, eine Million Menschen als Armeespitzel anzuheuern, so dass die Zivilbevölkerung noch stärker in den Krieg verwickelt wird. Soziale Organisationen werden zudem kriminalisiert. Das hat dazu geführt, dass sich der Protest verschärft. Mitte September hat es Bauernproteste mit 200.000 Menschen gegeben, Ende Oktober einen gewerkschaftlichen Aktionstag. Die Bewegungen spüren, dass sie zusammenarbeiten müssen, wenn sie dem Druck Uribes standhalten wollen. Besonders leidet die Bevölkerung in den Gebieten, die unter Militärverwaltung gestellt worden sind.

Was hat sich dort konkret verändert?

In den so genannten “Rehabilitationszonen” hat die Regierung faktisch alle individuellen und kollektive Rechte außer Kraft gesetzt. Die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung ist eingeschränkt, Versammlungen sind verboten, die Menschen werden überwacht.

Saravena / Arauca ist als Ortschaft bekannt, die sich gegen die Regierung auflehnt. Dort soll die Armee die Bevölkerung jetzt mit Waffengewalt registriert haben. Sie hat die Bewohner mit nicht abwaschbarer Farbe gestempelt …

…ja, die Armee führt in den “Rehabilitationszonen” zurzeit zahlreiche Durchsuchungen und Razzien ohne richterlichen Beschluss durch. In Saravena wurde im November ein ganzer Ortsteil von der Armee abgeriegelt und die Bevölkerung dazu gezwungen, ihre Häuser zu verlassen. Die Leute wurden gestempelt und in Listen eingetragen. Das Farbzeichen dient dazu, dass man Auswärtige schon von weitem erkennt. Die Armee kann Fremde so gezielt kontrollieren und verschwinden lassen – das passiert leider sehr häufig.

Welche Gemeinden hat die Regierung zu Rehabilitationszonen erklärt? Warum hat sie Arauquita, Arauca und Saravena ausgewählt, nicht aber Tame?

Rehabilitationszonen sind in den Dorfgemeinschaften eingerichtet worden, die Widerstand leisten. Dort können die Paramilitärs noch keine vollständige Kontrolle ausüben. Ziel der Regierung ist es, das soziale und organisatorische Geflecht zu zerstören. Das gilt sowohl für die Gemeinden in Bolívar und Sucre als auch für die Araucas. Arauca interessiert die Regierung vor allem wegen des Erdöls. Durch die Pipeline Caño Limón-Covenas exportiert der US-Konzern Occidental das Erdöl aus der Region. Die US-Regierung hat vor kurzem ein Militärhilfepaket in Höhe von 100 Millionen Dollar zum Schutz der Erdölanlagen bewilligt. Laut US-Botschafterin Patterson gilt das Augenmerk der USA jetzt dem Erdöl – und nicht mehr dem Coca.

Im südlichen Teil des Küstendepartements Bolívar hat die Armee eine Art Kessel errichtet. Warum?

Die Serranía San Lucas, ein einige Tausend Quadratkilometer großes Gebiet, wird von Armee und Paramilitärs regelrecht belagert. Die Flüsse Cauca und Magdalena, die wichtigsten Verkehrsadern der Region, sind vollständig in ihren Händen. Sie kontrollieren jede Bewegung auf dem Wasser, unterbinden den Handel und sorgen dafür, dass niemand das Gebiet verlässt oder betritt. Ziel des Embargos: die Bevölkerung soll abwandern. Wir werden sozusagen ‚ausgehungert’: bei den Kontrollen stehlen sie uns unsere Arbeitswerkzeuge, Medikamente und auch Lebensmittel. Da es so schwierig ist, die Ware zu uns zu bringen, steigen die Preise. Vor allem bei Medikamenten gibt es daher eine fürchterliche Knappheit.

Sie sagen, der Kessel werde von Militärs und Todesschwadronen aufrecht erhalten.

Man kann das in allen Kriegsgebieten Kolumbiens beobachten: Paramilitärs sind dort, wo sie auf die Rückendeckung der Armee zählen können. Ihre Operationen sind immer mit dem Heer koordiniert oder zumindest von der Luftwaffe unterstützt. Deswegen ist es ja auch so absurd, dass die Uribe-Regierung jetzt unter Vermittlung der katholischen Kirche Verhandlungen mit den Todesschwadronen von Carlos Castaño aufgenommen hat. Das ist als verhandele er mit sich selbst.

Sie sind Genossenschaftler einer Kooperative im Süden Bolívars, die im Jahre 2000 zerstört wurde.

Mit der Kooperative in San Pedro Frío wollten wir den Goldabbau in der Region professionalisieren. Die Abbaumethoden in der Region sind mittelalterlich. Es gibt kaum Maschinen und damit keine geschlossenen Kreisläufe für die Goldgewinnung. Die mineros setzen dem Gestein Quecksilber zu, um das Gold herauszulösen und brennen dann das Schwermetall mit Bunsenbrennern aus. Dabei gehen nicht nur 60 Prozent des Goldes verloren, sondern es kommt vor allem zu schweren ökologischen Schäden. Deshalb haben wir 1999 effizientere Maschinen angeschafft. Bevor die Kooperative in Betrieb gehen konnte, kam jedoch die Armee. Rund 160 Berufssoldaten der Anti-Guerilla-Truppe Los Guanes (Nationales Befreiungsheer) und 40 Paramilitärs haben unser Dorf zwei Monate lang besetzt – bis ELN und FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) die Einheit schließlich vertrieben. Vor ihrem Abzug hat die Armee die Kooperative jedoch gebrandschatzt und alles zerstört.

Die Regierung rechtfertigt ihre Operationen mit der Präsenz von Guerilla in der Region. Wäre es für die Bewohner daher nicht besser, die Guerilla zöge sich zurück?

Wenn die Bevölkerung genug zum Leben hätte und die Reichtümer gerechter verteilt wären, würde die Guerilla automatisch ihre Grundlage verlieren. Sie wird aber nicht verschwinden, bevor der kolumbianische Staat seine verfassungsmäßen Aufgaben nicht wahrnimmt: Durchführung von Infrastrukturmaßnahmen, Finanzierung von Schulen und Gesundheitsposten, Förderung der Kleinbauern. Für uns ist die Situation noch komplizierter: Einerseits ist die Lage in der Region wegen des Armeekessels schwierig, andererseits ist es so, dass die Guerilla für Ruhe sorgt. Die ELN verhindert Überfälle und Kriminalität. Das heißt, sie macht das, was der Staat nie gemacht hat.

Welche ökonomischen Ziele verfolgt der Staat im Süden des Departements Bolívar?

Das wichtigste Ziel ist die Vertreibung von Kleinbauern und Goldschürfern aus der Region, um die Bodenschätze an transnationale Unternehmen verkaufen und Palmen-Plantagen anlegen zu können. Außerdem ist von einem großen Verkehrsprojekt die Rede, einer Straßenverbindung, die durch den Süden des Departements Bolívar führen soll. Auch diese Straße wird dazu dienen, die Gegend für die transnationalen Unternehmen zu erschließen.

In Ihrer Region gibt es auch Coca-Pflanzungen. Seit drei Jahren wird dort der Plan Colombia umgesetzt. Welchen Erfolg hat die Drogenbekämpfung?

Es gibt seit rund zehn Jahren Coca-Anbau im südlichen Bolivar, weil der Staat für die Kleinbauern nie etwas gemacht hat. Coca ist das einzige Agrarprodukt, mit dem sie allein überleben können. Bei der Drogenbekämpfung ist vor allem eines auffällig: Gegen die großen Pflanzungen im flachen Teil des Departements, der von den Paramilitärs kontrolliert wird, werden keine Herbizide eingesetzt. Besprühungen gibt es nur gegen die kleinen Pflanzungen weiter oben im Wald. Und dort werden auch Bananen – und Yucapflanzungen zerstört, die zur Lebensmittelversorgung der Bevölkerung dienen. Die Abwanderung vieler Kolumbianer aus dieser Region hängt folglich mit diesen Herbizideinsätzen zusammen. Der Plan Colombia hat die Ausweitung des Coca-Anbaus also nicht gebremst. Aber vielleicht war das auch gar nicht sein Ziel. Vielleicht geht es vielmehr um die Vertreibung von unliebsamen Kleinbauern aus wirtschaftlich oder strategisch interessanten Gebieten?

San Blas, Bolívar, gilt als eines der Zentren des Drogenhandels in Nordkolumbien. Führt die Armee dort Operationen durch?

Im Gegenteil: Die Militärs haben dort einen wichtigen Stützpunkt, kontrollieren den Drogenhandel und schützen die Händler. San Blas ist auch ein Zentrum der Paramilitärs. Dorthin verschleppen sie ihre Gefangenen und von dort koordinieren sie ihre Geschäfte.

Die Dörfer im Süden Bolívars haben sich zu Widerstandsgemeinden erklärt. Was bedeutet das?

Als Widerstandsgemeinden bezeichnen wir alle Produktions- und Organisationsformen, die die Bevölkerung in unserer Region entwickelt hat. Man muss sich ja vorstellen, dass alles, was es in der Region an Schulen, Gesundheitsposten, Gemeindeeinrichtungen gibt, von der Bevölkerung selbst aufgebaut worden ist. Und zwar oft nicht nur ohne Unterstützung von außen – sondern gegen das Embargo, das die Armee verhängt hat. Allein die Tatsache, sich in der Region zu behaupten, ist ein Widerstandsakt. Wir widersetzen uns der Vertreibung, und wir bitten hier um internationale Unterstützung.

Die Gemeinden im Süden des Departements Bolívar beteiligen sich an der Kampagne gegen Straflosigkeit “Kolumbien verlangt Gerechtigkeit”. Im Frühjahr soll in Europa ein internationales Meinungstribunal zu den Verbrechen des Staates in Südbolívar stattfinden.

In Kolumbien werden unsere Anzeigen von der Justiz nicht verfolgt. Deswegen haben wir und andere Organisationen beschlossen, die Menschenrechtsverbrechen vor internationale Foren zu bringen. Es gab bereits ähnliche Tribunale wegen der Massaker in der Erdölstadt Barrancabermeja 1998 und der Bombardierung von Santo Domingo, Arauca 1999. Das Tribunal 2003 zum Süden von Bolívar ist insofern etwas Neues, als dort nicht ein einzelnes Massaker, sondern eine ganze Reihe von Verbrechen und die systematische Vertreibungspolitik des Staates öffentlich angeprangert werden soll.

Wie wird das Meinungstribunal aussehen?

Vom 12. bis 14. März wird im Europaparlament in Brüssel eine Auftaktanhörung zu den Fällen in Südbolívar stattfinden. Das Urteil soll im Sommer in einer anderen europäischen Stadt gesprochen werden. Für das Tribunal sind vier thematische Blöcke geplant: erstens Kriegsverbrechen in Südbolívar, zweitens Verantwortung transnationaler Unternehmen für die Situation, drittens Vorstellung der Widerstandsgemeinden und ihrer Organisationsformen und viertens eine Diskussion zu alternativen Entwicklungs-, Dialog- und Verhandlungsprojekten.

Uribe spielt das Lied vom Tod

Sechs Schüsse schallen durch die Straßen. Es ist früher Abend in Arauca, der Hauptstadt der gleichnamigen kolumbianischen Provinz. Wenn die Sonne untergeht, ziehen sich die Menschen in ihre Häuser zurück. Denn fast täglich kommt es zu Anschlägen und Morden. Und die Sicherheitskräfte verhaften oft willkürlich irgendeinen der 340. 000 Einwohner.
Das Opfer an diesem Abend: Raúl Grass, bekannt als Mitarbeiter des kolumbianischen Innenministeriums und Berater in der Provinzverwaltung. Sein Mord am 14. Januar gilt als Höhepunkt der institutionellen Krise in der Provinz Arauca.
Wer Grass erschossen hat, weiß niemand. Anwohner erzählen von Killern auf einem Motorrad, andere von Polizisten. Sieben Monate arbeitete er an der Seite des Gouverneurs, der wenige Stunden vor dem Mord zurückgetreten war. Der Grund: mangelnder Erfolg bei der Durchsetzung der öffentlichen Ordnung. Grass hatte keinen Vertrag mit dem Ministerium. Arbeitete er für die Guerilla, die Paramilitärs oder die CIA? In Arauca ist alles möglich.
Ende September vergangenen Jahres erklärte der kolumbianische Präsident Uribe Vélez 15 Bezirke zu so genannten Konsolidierungszonen. Drei liegen in der nordöstlichen Provinz Arauca. Ziel ist dort die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung. Denn die Guerilla des Nationalen Befreiungsheeres (ELN) und der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) kontrollieren dort seit mehr als 15 Jahren weite Teile des Gebietes. Uribe schickte Hunderte Soldaten in die Region, um die Guerillastrukturen schnell zu zerstören. Sie sind mit justiziellen Rechten ausgestattet und eine zwingende zivilstaatliche Kontrolle gibt es nicht.
Was öffentlich und außerhalb der Zone als durchschlagender Erfolg gegen die „Drogenterroristen“ gefeiert wird, entpuppt sich vor Ort jedoch als Fehlschlag. In Arauca kommt auf 30 Einwohner mehr als ein Soldat. Mit der Ankunft neuer Sicherheitskräfte scheint sich die Gewalt proportional zu steigern. Autobomben, Morde und Brückensprengungen der Rebellen sollen den Operationen der Armee Einhalt gebieten. Allein in den ersten zwei Januarwochen fanden in der Provinz 26 politische Morde statt, die den Paramilitärs oder der Guerilla angehängt werden. Die Reaktion der Sicherheitskräfte: Massenverhaftungen, Durchsuchungen ganzer Viertel und Einschüchterung der Bevölkerung.

US-Macht über das Öl

Das Verhältnis des Staates zu den Bewohnern Araucas sei seit zwanzig Jahren gestört, erzählt Oscar Cañas von der ansässigen Ölarbeitergewerkschaft (USO).
1980 weitete die US-amerikanische Firma Occidental de Colombia (OXY) dort die Erdöl-Förderung aus. Von den Gewinnen werde jedoch nichts in die Region investiert. 20 Prozent der durch OXY geförderten Ölmengen gehen als so genannte „Schenkungen“ an den kolumbianischen Staat. Dieser lässt widerum nahezu alle infrastrukturellen Investitionen durch seine Erdölfirma Ecopetrol durchführen — und zwar fast ausschließlich zur Sicherung der Pipeline. Die Gewalt habe mit der Arbeit von OXY Einzug gehalten, sagt der Gewerkschaftler. Statt eine Politik des „guten Nachbarn“ zu pflegen, habe die Firma eine Militarisierung durchgesetzt. Darauf reagierte die Guerilla und rüstete ebenfalls in der Region auf.
Tatsächlich sind auf der Förderanlage Caño Limón seit einigen Jahren ein Armeebataillon und eine Hubschrauberstaffel stationiert, um auf Anschläge der Guerilla schnell reagieren zu können.
Im vergangenen Jahr konnte die Ölpipeline, die von Caño Limón zur Atlantikküste führt, im Schnitt nur jeden dritten Tag Erdöl fördern. Die Leitung wurden regelmäßig durch Anschläge zerstört. Armeeangehörige hohen Ranges haben sich auf dem Gelände von OXY in den firmeneigenen Häusern eingemietet und genießen das Luxusleben, das ihnen die US-Firma bietet. Fahrzeuge, die das Gebiet zwangsläufig passieren müssen, um in die Provinzhauptstadt Arauca zu kommen, haben dagegen langwierige Durchsuchungen zu ertragen. Jeder Passant wird registriert.
Von den 350 Angestellten in der Anlage sei fast niemand aus der Region, so Cañas. „Weil die Leute aus Arauca laut OXY alle Guerilleros sind“. Erst vor einigen Monaten sei ein 13-jähriges Kind vom Wachschutz erschossen worden, weil es einem Haustier hinterhergerannt sei und sich versehentlich in die Anlage verirrte. „Es hätte ja ein Spion der Rebellen sein können“, sagt Cañas spöttisch. Konsequenzen zog diese Tat nicht nach sich. Denn OXY besitzt in Arauca die Macht und damit Narrenfreiheit.

US-Soldaten führen Verhöre durch

Den Menschen in Arauca ist bewußt, dass die Ausrufung ihrer Provinz zur Konsolidierungszone eng mit dem Erdöl verknüpft ist. Die Öl-Förderungen durch OXY ist für die USA von großer Bedeutung. Konsequenz: Sie haben verstärkte Militärhilfe angekündigt.
Caño Limón liefert rund 120.000 Barrel Rohöl am Tag für den Export. In der Region werden weitere Erdölfelder vermutet, die wegen der Guerilla bisher aber nicht erforscht werden konnten. Im vergangenen Herbst kündigte Washington die Finanzierung eines Spezialbataillons in Arauca mit einem Umfang von 100 Millionen US-Dollar an.
Mitte Januar trafen die ersten 60 US-Soldaten in der 18. Armeebrigade Araucas ein. „Eine Provokation für die bewaffneten Gruppen“, sagt Teresa Cedeño, Anwältin und Mitglied des Menschenrechtskomitees in Arauca (siehe Interview). Sie vertritt Zivilisten, die Armee oder Polizei willkürlich festgenommen haben. Diese werden in der Regel in die Armeebrigade gebracht und dort verhört. „Es gab Fälle, bei denen US-Amerikaner die Verhöre durchgeführt haben“, so Cedeño.

Auf dem Land herrscht die Guerilla

Die Bezirkshauptstädte Araucas sind mit Armee und Polizei vollgestopft. Aber auf dem Land haben die Guerillas die Macht. Wenige Kilometer außerhalb der Ortschaften beginnt ihr Gebiet. Seit August letzten Jahres hat die Regierung dort keine Operationen mehr durchgeführt.
Am Wegesrand des Flachlandes steht ein neuer Opel Corsa verlassen auf einer Wiese. „Der ist geklaut und wurde wohl für andere Zwecke hier abgestellt“, sagt ein Passant und grinst. Die Guerilla nutzt diese Fahrzeuge. Sie platzieren sie als Autobombe vor Polizeistationen oder Kasernen.
In einem kleinen Dorf zwischen den Städten Atme und Arauquita werden Neuankömmlinge mit großen Wandbildern und Schildern der FARC begrüßt. „Nein zur Intervention der Gringos“ steht dort in Großbuchstaben. Ein Transporter mit ELN-Guerilleros rast durch die Ortschaft. Milizionäre und uniformierte FARC-Rebellen schlendern umher. Noch vor wenigen Monaten bekämpften sich die Rebellengruppen. Jetzt hat sie der verschärfte Konflikt mit Regierung und Armee verbündet.
Die Bewohner sind sich einig: unter der Guerilla leben wir gut. Die Guerilla vermuten Spitzel der Paramilitärs oder der Armee. Deshalb kontrollieren sie die Bewohner von Zeit zu Zeit. Aber dazu sagt keiner etwas. Viel wichtiger für sie ist: es gibt hier Geld. Während in den großen Ortschaften seit Wochen kein Benzin mehr zu normalen Preisen zu bekommen ist, gibt es dieses im Dorf tonnenweise.
Arauca hängt wirtschaftlich vom Nachbarland Venezuela ab. Dort beziehen die Bewohner ihr Benzin. Doch seit dem Streik gegen Chávez, bleiben die Tanks der kolumbianischen Autos leer.
Anders sieht es in den Gebieten der Guerillas aus: Vereinzelte Benzinlieferungen der Nationalregierung an die Provinz haben sie abgefangen. Jetzt verkaufen sie es an die Bauern. Und das nicht wenig. Stündlich passieren Lkws die Hauptstraße der Ortschaft, randvoll mit Benzintonnen.
Denn die Provinz Arauca ist seit geraumer Zeit Kokaanbaugebiet. Rund 6.000 Hektar liegen in dem von den FARC-Rebellen kontrollierten Gebiet. Das Geschäft der Guerilla: sie kontrollieren die Herstellung von Kokain. Und dafür braucht man sehr viel Benzin. Der Kokaanbau boomt. Mit wenig Aufwand lässt sich viel Geld machen. Dass das Bier hier fast doppelt so viel kostet wie anderswo, ist nebensächlich. Jeder hat hier Geld.
„Als vor einem halben Jahr die Armee in Hubschraubern in die Gegend kam, wurden wir als Guerilleros beschimpft. 20 Jugendliche wurden ins Bataillon gebracht und ihre Ausweise eingezogen“, erzählt ein Bauer, der am Kokain-Geschäft mitwirkt. Um seinen Hals hängt eine dicke goldene Kette. Die Namen der Jugendlichen seien in den Zeitungen des Landes veröffentlicht worden. Man habe sie als Guerilleros gebrandmarkt. Nur einen Tag später folgte die Freilassung, da es überhaupt keine Beweise gab. „Sollte eines Tages hier die Armee das Sagen haben, kommen die Paras. Dann werden wir hier einer nach dem anderen getötet“, sagt der Bauer und trinkt sein Bier. Seinen Namen will er nicht preisgeben.
Menschenrechtsorganisationen, Bauerngruppen und mittlerweile auch amtierende Politiker sind sich einig: nur soziale Investitionen sowie ein Dialog mit den bewaffneten Gruppen können dem Konflikt ein Ende setzen. Die Uribe-Regierung hatte die Förderung sozialer Projekte angekündigt. Doch was ist geschehen? Bisher hat sie ausschließlich die Armee in die umkämpften Zonen geschickt.

Soziale Investitionen bleiben leere Versprechen

Am 21. Januar drohte der Gouverneur der Provinz Bolivar an, die Konsolidierungszonen nicht mehr akzeptieren zu wollen, wenn Uribe seine sozialen Projekte nicht in Gang setzt. Grund: das Leben der Bevölkerung habe sich verschlechtert und die Gewalt hätte zu- statt abgenommen. Aber die Regierung setzt auf Krieg: Vizepräsident Francisco Santos erklärte, es werde an den Sonderzonen weiterhin festgehalten.

Das große Schweigen

Frau Cedeño, haben Militär und Polizei den Zivilstaat in Arauca ersetzt?

Auf jeden Fall nehmen die Sicherheitskräfte hier jetzt mehr Raum ein und besitzen mehr Einfluss – zum Beispiel in der Ziviljustiz. Die Verlegung der Gefangenen aus dem städtischen Gefängnis von Arauca unterliegt dem Willen des Militärs. Das ist rechtlich nicht erlaubt.

Was werfen die Sicherheitskräfte den Verdächtigen vor, die sie verhaften, und wie behandeln sie sie?

Sie verhaften die Menschen wegen politischer Vergehen wie Terrorismus oder Rebellion. Stichhaltige Beweise sind dabei nebensächlich. Polizei oder Geheimdienst gehen mit Denunzianten, die für ihre Anschuldigungen bezahlt werden, durch die Straßen. „Der ist einer“ oder „Der nicht“. Diese auch „Frosch“ genannten Spitzel entscheiden allein, ob jemand verhaftet wird. Sie leben unter der Obhut der Armee. Sie gehören zu dem Informantennetzwerk, das die Regierung Uribes geschaffen hat. Für ihre Anschuldigungen, die nahezu ohne stichhaltige Beweise bleiben, werden sie kräftig entlohnt.
Jeweils 20 Personen verfrachten sie in ein Flugzeug, bringen sie in die Armeebrigade in Arauca oder direkt in das weit entfernte Hochsicherheits-Gefängnis Cónvita. Dort sind die Gefangenen von ihrer Umwelt ziemlich abgeschnitten. Kaum einer schafft es, mit seiner Familie in Kontakt zu bleiben.
Die Zahl der Unschuldigen ist vermutlich sehr hoch, denn die Verdächtigungen beruhen ausschließlich auf Aussagen des Geheimdienstes. Danach werden die Fälle zumeist in der Hauptstadt Bogotá behandelt. Dabei ist das Verfahren nicht nachvollziehbar. Die Mehrzahl der Fälle wird ohne ersichtlichen Grund umgehend an weit entfernte Gerichte weitergereicht. Die Gefangenen müssen verlegt werden. Mitte Januar haben die Sicherheitskräfte über 50 Personen – meist Bauern – nach Cónvita verlegt.

Im November hob das Verfassungsgericht Kolumbiens eine Klausel auf, nach der die Armee juristische Aufgaben in der Konsolidierungszone durchführen darf. Hält sich das Militär daran?

Im Oktober und November führten die Streitkräfte Massenfestnahmen und Verhöre im Bezirk Saravena ohne richterlichen Beschluss durch. Kurz bevor eine ähnliche Operation in Arauca starten sollte, machte das Verfassungsgericht dem Militär einen Strich durch die Rechnung. Zwar kann die Armee nun nicht mehr justizielle Aufgaben durchführen, aber freigelassen hat sie die illegal Festgenommenen aus Saravena auch nicht. Die in Arauca ansässige 18. Armeebrigade dient weiter als Gefängnis.

Sie waren mehrfach im Hochsicherheitsgefängnis Cónvita im Hochland der Provinz Boyacá, um mit ihren Klienten zu sprechen. Wie werden die Inhaftierten dort behandelt?

Mit den Mitte Januar verlegten Gefangenen konnte ich bisher nur telefonieren. Sie erzählten mir, dass die Situation vieler Insassen kritisch sei. Das Gefängnis liegt auf über 3.000 Meter Höhe. Nachts gibt es dort Frost. Die Gefangenen sind im heißen Klima Araucas aufgewachsen. Die Armee hat sie aber ohne warme Kleidung ins Hochland verlegt.

In Kolumbien gibt es für die Verteidigung der Menschenrechte staatliche Institutionen, wie die „Defensoria“ als auch die „Personeria“, die Verstöße gegen die Menschenrechte aufnehmen und ahnden sollen. Wie arbeiten diese Stellen angesichts der angespannten Situation in Arauca?

Aus meiner Sicht kommen diese Institutionen ihren Aufgaben nicht nach. Sie lassen die Dinge passieren, ohne Einspruch einzulegen. Ein eindeutiges Beispiel ist die Verlegung der Gefangenen. Hier hat keiner eingegriffen. Ich weiß nicht, ob es Angst oder Desinteresse ist, was die Institutionen zum Schweigen bringt. Fakt ist, dass die Regierung die finanziellen Mittel für diese Institutionen drastisch gekürzt hat.

Wie arbeiten die Medien in den Zonen, die unter Sondervollmacht der Sicherheitskäfte stehen?

Der einzige Journalist, der per Radio die Menschenrechtsverletzungen in Arauca zur Sprache brachte, war Efraín Varela. Er wurde im Juni letzten Jahres ermordet. Alle anderen Journalisten halten seitdem den Mund oder haben die Provinz verlassen. Unsere Kommuniqués, die wir als Menschenrechtskomitee regelmäßig versenden, werden seit mehr als einem Monat nicht mehr in den Sendern verlesen. Die großen Medien wie TV Caracol oder RCN veröffentlichen nur noch Meldungen, die erfolgreiche Armee-Operationen oder Terroranschläge der Guerilla beinhalten. Sonst nichts.
Bis November war die Arbeit der Medien in den Konsolidierungszonen per Dekret eingeschränkt. Als Informationsquelle sollte demnach nur noch die Armee dienen. Obwohl auch diese Klausel vom Verfassungsgericht später gekippt wurde, hat sich daran kaum etwas geändert.

Mitte Januar sind 60 US-amerikanische Soldaten in Arauca angekommen, die rund 3.500 kolumbianische Soldaten ausbilden sollen, um ausschließlich die Ölpipeline Caño Limón und die US-Ölfirma Occidental de Colombia (OXY) zu schützen. Was bedeutet das für den Konflikt in Arauca?

Ohne Zweifel eine Verschärfung. Die Guerilla hat die US-Amerikaner zum militärischen Ziel erklärt, sie fühlt sich durch ihre Ankunft provoziert. Sollten diese in Zukunft in Kämpfe verwickelt werden und zu Tode kommen, wird sich hier einiges verändern. Schließlich gilt in den USA das Gesetz: Wenn US-Amerikaner in irgendeinem Staat verletzt oder getötet werden, schreitet die US-Regierung ein.

Den Bewohnern des Bezirks Saravena zufolge soll es im dortigen Bataillon US-Amerikaner geben, die persönlich die Verhöre von Bauern übernommen haben.

Schon bevor die 60 US-Soldaten gekommen sind, gab es einen Vortrupp. Da das Bataillon von Saravena zur 18. Brigade gehört, hielten sich auch dort US-Amerikaner auf. Es stimmt, dass sich diese in den Bereichen des kolumbianischen Armeegeheimdienstes B2 aufhalten und es stimmt, dass diese auch Verhöre mitgestalten. Mehreren Beschuldigten drohten die US-Amerikaner, sie an die USA auszuliefern, wenn sie ihre Verbrechen nicht gestehen. Als Druckmittel galt dabei der Mord an drei US-amerikanischen Indigenen, die die FARC-Guerilla vor vier Jahren in Arauca erschossen haben. So hat es mir einer meiner Klienten, der derzeit in Cónvita einsitzt, geschildert. Aus Angst gestand er Dinge, die er aber nicht getan habe. Er erzählte mir, dass die US-Amerikaner ihr Büro innerhalb des B2-Geheimdienstes in der Brigade von Arauca haben. Kurioserweise gemeinsam mit den so genannten Fröschen, die die mutmaßlichen Guerilleros denunzieren.

Die Paramilitärs sind in den vergangenen Monaten immer weiter nach Arauca vorgedrungen. Sind sie in der so genannten Konsolidierungszone aktiv?

Wir wissen nicht, ob sie in den Städten aktiv sind. Aber in den letzten Wochen gab es regelmäßig Morde, die ihnen zugeschrieben werden. Deshalb ist die Lage hier auch so angespannt. Am 15. Januar gab es allein acht Morde in der Stadt Arauca. Auf dem Land sind vor allem die Bauern dem Druck der Paramilitärs ausgesetzt. Die Paramilitärs fordern von jeder Person ein polizeiliches Führungszeugnis. Ohne dieses wird ihnen das Recht auf Weiterleben in der Provinz genommen. Was passiert? Die Leute gehen scharenweise zum Geheimdienst D.A.S., der für die Ausstellung der Papiere zuständig ist, und verlangen das Führungszeugnis. Statt dagegen etwas zu unternehmen, spielt die D.A.S. das Spiel der Paras mit.

Die ultrarechten Paramilitärs der Autodefensas Unidades de Colombia (AUC) hatten am 2. Dezember einen einseitigen Waffenstillstand ausgerufen, um mit der Uribe-Regierung in Friedensverhandlungen zu treten. Sie erzählen dennoch von Morden. Gibt es diesen Waffenstillstand überhaupt?

Völliger Unsinn. Die Paramilitärs haben niemals die Gewalt eingestellt. Es gab Massaker in mehreren Ortschaften des Bezirkes Arauca nachdem der Waffenstillstand ausgerufen wurde. Mit den so genannten „Entschuldbaren“ reden sie und verzeihen ihnen ihre Vergangenheit – etwa die indirekte Zusammenarbeit mit der Guerilla – wenn sie mit ihnen zusammenarbeiten und sie akzeptieren. Die so genannten „Unentschuldbaren“ dagegen werden umgebracht. Und das geht weiter so.

Wahl zwischen „Arm und Reich“

Die Überraschungen machen im südamerikanischen Superwahljahr auch vor Ecuador nicht halt. Bei 34 Prozent Wahlenthaltung – Rekord unter den Ländern, in denen Wahlpflicht herrscht – gewann am 20. Oktober der 45-jährige Ex-Oberst Lucio Gutiérrez in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen mit 20,5 Prozent der Stimmen. Eine Woche vor der Stichwahl am 24. November hatte er beste Chancen, seinen Siegeszug fortzusetzen. Umfragen sahen ihn mit rund 18 Prozent vor seinem Kontrahenten Alvaro Noboa, dem wahrscheinlich reichsten Mann des Landes.
Mit exzessiven Kampagnenausgaben, die derzeit von der Wahlkommission überprüft werden, kaufte sich der Bananenmulti Noboa regelrecht den zweiten Platz. Auf 1,2 Milliarden US-Dollar wird dessen Vermögen geschätzt, wovon er im Wahlkampf gönnerhaft einen Bruchteil unter die arme Bevölkerung verteilt hatte. Noboa ist Besitzer von 170 Firmen, unter ihnen der riesige Bananenkonzern Bonita. Ihm gehört eine Bank, eine Fluglinie und 34 Frachtschiffe. Dennoch wisse er zu unterscheiden, was seine Firmen sind und was dem Staat gehöre, erklärte der Bananenmulti gewissenhaft in Interviews. Recht glauben will ihm das niemand. Für den Einzug in die Stichwahl ließ sich Noboa von Anhängern und Angestellten in einer seiner Firmen feiern. Politik lässt sich halt nicht immer vom Geschäft trennen. Für Noboa ist Politik Geschäft. Dass auf seinen Bananenplantagen Kinder schuften müssen und er laut einem Bankkunden nicht Präsident aller EcuadorianerInnen sein könne, wenn seine eigene Banco del Litoral Kredite mit 19 Prozent Zinsen verleihe, sei nach Noboa eine Frage von Angebot und Nachfrage.

“Arm gegen Reich“

Mit Noboa und Gutiérrez treffen zwei Personen aufeinander, die unterschiedlicher kaum sein können: Noboa ist die Hoffnung der Eliten und Gewinner der Dollarisierung. Gutiérrez vertritt die Armen und stellt die sozialen Belange in den Vordergrund. Analysten proklamierten die Stichwahl daher nicht zu Unrecht als Urnengang von „Arm gegen Reich“. Wer die Mehrheit bildet, steht außer Frage. Von zwölf Millionen EcuadorianerInnen leben 71 Prozent unter der Armutsgrenze. Nur Bo-livien und Nicaragua stehen im kontinentalen Vergleich schlechter da. Ein verarmtes Potenzial, dass Gutiérrez als deren Hoffnungsträger nicht nur im Oktober nutzen konnte, sondern bereits vor zwei Jahren.
Aufmüpfige Militärs unter Führung von Gutiérrez und Indígenas des mächtigen Dachverbandes CONAIE zettelten am 21. Januar 2000 eine Rebellion gegen die Politik der Ausgrenzung und des Sparkurses bei Sozialausgaben an, die jedoch in einem Armeekomplott mündete (siehe LN 308). Zwar konnte der damalige Präsident Jamil Mahuad aus dem Amt gedrängt werden, doch sein Vizepräsident Gustavo Noboa wurde mit Hilfe einer elitetreuen Militärspitze in den Präsidentenpalast gehievt. Gutiérrez landete wegen Anstiftung zur Rebellion für mehrere Monate im Knast. Erst eine Amnestie ermöglichte ihm den Beginn seiner politischen Laufbahn. Umso bemerkenswerter war nun sein Etappenerfolg auf institutionellem Weg in so kurzer Zeit.

Wundermittel US-Dollar

Ecuador gilt laut einer Studie des Instituts „Internationale Transparenz“ nach Paraguay als das Land, das auf dem Subkontinent am stärksten unter der Korruption zu leiden hat. Rund zwei Milliarden US-Dollar verschwinden jährlich in den Kanälen staatlicher Institutionen. Bei einem Bruttosozialprodukt von rund 13,9 Milliarden US-Dollar laut Analysten genug, um den unterfinanzierten Haushalt bei Bildung und Gesundheit zu sanieren.
Als einzig probates Mittel zur Bekämpfung der seit 1998 anhaltenden Wirtschaftskrise, das vehement durch den Internationalen Währungsfond IWF gefordert wurde, galt die Einführung des US-Dollar. Dieser kursiert seit März 2000 als offizielles Zahlungsmittel in Ecuador. Die Rebellion unter Gutiérrez konnte ihn nicht verhindern. Wirtschaftsstrategen erhofften sich mit dem US-Dollar neue Anreize für Investoren, ein Stoppen der Hyperinflation und ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum durch Finanzmarktstabilität.
Von Erholung ist jedoch kaum etwas zu spüren: Zwar kann sich das Land auf ein statistisches Wachstum von knapp fünf Prozent berufen, doch die erdrückenden und steigenden Auslandsschulden von 14,3 Milliarden US-Dollar lassen keinen Raum für staatliche Investitionspolitik. Über 31 Prozent der Exporteinnahmen müssen für den Schuldendienst abgestellt werden. Das Land exportiert alle Rohstoffe, die es zu bieten hat, auf Kosten der Umwelt und Bewohner, um Devisen ins Land zu bekommen. Besonders Erdöl.
Die Inflation konnte gedrosselt werden, trotz Dollareinführung ist sie dennoch weit höher als in den USA. Mitte 2002 lag sie bei 10 Prozent. Die Folge: mehr Armut durch rasant steigende Preise, Abbau von Subventionen, keine Absatzmöglichkeiten für inländische Firmen im Ausland und weitere Verschuldung des Staates, um die Gehälter im öffentlichen Dienst zahlen zu können. Die Preise haben sich in den letzten zwei Jahren teils verfünffacht, die Lebenshaltungskosten entsprechen in bestimmten Sektoren bereits US-Niveau.
„Wir wollen, dass diejenigen, welche die wirtschaftliche Macht haben, verstehen. Wenn es keinen sozialen Ausgleich gibt, wird das Land wie ein sinkendes Schiff untergehen. Dann versinkt alles, davor werden sich auch die Reichen nicht retten können“, sagte vor gut einem Jahr Gutiérrez kämpferisch. Die Bevölkerung ergreift die Flucht. Monatlich, so wird geschätzt, kehren rund 20.000 EcuadorianerInnen ihrem Land den Rücken in Richtung Europa oder den USA. Rund 12 Millionen Menschen leben in Ecuador, auf rund zwei Millionen Menschen soll die Auslandsgemeinde, die sich mit Billigjobs durchschlägt, bereits angewachsen sein.
Dennoch gehört diese Gemeinde zum größten Wirtschaftszweig: Jährlich überweisen die AussiedlerInnen über 1,5 Milliarden US-Dollar ins Land, um ihre Familien etwas zu unterstützen. Für Gutiérrez ein soziales Desaster: „Kinder müssen ohne ihre Väter aufwachsen, weil sie im Ausland wie Sklaven schuften müssen. Die Familien werden zerstört. Dank der Ungerechtigkeiten, Korruption und fehlender Beschäftigung.“

Kontinentalbündnis gegen Auslandsverschuldung

Seine Ziele stellt Gutiérrez in einen internationalen Kontext. Denn die Probleme Ecuadors sind nicht hausgemacht, eher Folge internationaler Wirtschaftspoltik. Eine Lösung will er deswegen nicht nur im nationalen Rahmen suchen, sondern in einer kontinentalen Kraftanstrengung herbeiführen. Auf dem Ersten Weltsozialforum in Porto Alegre versuchte er Ideen zu sammeln, in Mexiko beobachtete er den Marsch der Zapatistas in die Hauptstadt. Gutiérrez setzt sich für ein kontinentales Bündnis ein, „das einen globalen Vorschlag gegen die Auslandsschulden der lateinamerikanischen Länder umfasst“. Dies würde Neuverhandlungen unter besseren Gesichtspunkten ermöglichen, so seine Anschauungen. Unterstützung wurde ihm aus Kolumbien zuteil. Die dortige linke parlamentarische Bewegung Polo Democrático forderte Gutiérrez, Lula und Chávez in einem Brief Anfang November auf, eine Schuldenbank einzurichten, welche die Zahlungs-modalitäten der drei Länder neu definieren soll. Auf rund 751 Milliarden US-Dollar werden die Schulden Lateinamerikas veranschlagt, knapp die Hälfte davon tragen Brasilien, Ecuador und Venezuela.
Obwohl er inzwischen hoffähig ist, deuten die politischen Aussagen und Ziele des ehemaligen Militärs Gutiérrez auf Konfrontation hin. Was unter den ärgsten Feinden bereits jetzt das Bild eines kubatreuen Kommunisten heraufbeschwört. Alvaro Noboa konzentrierte seinen Wahlkampf auf diese Angst: „Die Menschen haben die Wahl zwischen einem gefährlichen Kommunisten und mir, der Arbeitsplätze und Stabilität verspricht“, so der Multimillionär. Eine Schmutzkampagne sollte im November folgen: Der Sprecher von Noboa bezichtigte Gutiérrez der Misshandlung seiner Frau. Gutiérrez selber wies diese Anschuldigungen ab und klagte Noboa des Versuchs an, Dokumente zu fälschen, um ihn als Oberst des illegalen Waffenhandels mit der kolumbianischen FARC-Guerilla zu überführen.
Gutiérrez ruft mit einem „entpolitisierten Programm“, dessen Inhalt bisher reichlich wenig definiert ist, zwar zur Einheit auf, doch Konfliktpunkte kristallisieren sich heraus. Er gilt als klarer Gegner des Plan Colombia, der zur ernsten Gefahr für Ecuador werden könnte. „Ein großes Morden“ sieht er hinter den Militärplänen, die im Nachbarland Kolumbien mit US-Unterstützung durchgeführt werden. Eine Bekämpfung des Drogenanbaus kann er darin nicht erkennen, sondern allein eine Methode zur Erhaltung der US-Hegemonie. Die Folgen für sein Land seien weitreichend: „Neben den Tausenden Vertriebenen, welche durch die Besprühungen ihr Land Richtung Ecuador verlassen, kommen auch die Drogenhändler.
Wenn in Kolumbien die Bedingungen für Kokafelder und Labore nicht mehr gegeben sind, werden sie hier weiter machen. Deswegen bringt die Strategie der Drogenbekämpfung nichts als Tote und weitere soziale Verschärfung“, so Gutiérrez, der eine Einbindung seines Landes in den benachbarten Krieg strikt ablehnt. Die Gründe für den kolumbianischen Konflikt haben nach seiner Sicht einen sozialen Hintergrund, was ihm langfristig den Groll aus Washington im Falle eines Wahlsieges einbringen könnte. Dort gilt die Guerilla als terroristische Vereinigung.
Dennoch zeigte sich die US-Regierung nach dem Überraschungserfolg von Gutiérrez ungewohnt sprachlos, obwohl er auch die US-Militärbasis Manta, an der nördlichen Pazifikküste gelegen, in Frage stellt. Dort sind mehrere hundert US-Soldaten und private US-Söldner ansässig, die den Luftraum der Region überwachen und von dort Sprüheinsätze zur Kokafeldervernichtung an der kolumbianisch-ecuadorianischen Grenze fliegen. „Die Basis wurde unter nicht verfassungskonformen Bedingungen vereinbart. Weder der Präsident mit seiner Unterschrift noch das Parlament mit einer Abstimmung haben die Stationierung von US-Truppen legitimiert. Wir wurden damit in einen Krieg involviert, der nicht unserer ist“, so Gutiérrez.

Kredit oder Konfrontation

Ob er die Stärke besitzt, die USA im Falle der Militärbasis zu Neuverhandlungen zu zwingen oder sie gar schließen zu lassen, bleibt abzuwarten. Denn von den Beziehungen zu den USA, die den IWF und die Weltbank politisch dominieren, hängt das Schicksal Ecuadors ab. Das Land braucht dringend Geld, wenn es seinen Schuldenzahlungen und der Haushaltskonsolidierung nachkommen will. Der Rahmen für Gutiérrez in Sachen politischer Neuausrichtung ist daher äußerst eng. Anfang Oktober ließ der IWF Verhandlungen für einen neuen Kredit platzen, nachdem immer unsicherer wurde, wer die Wahlen gewinnen würde. Der Fonds erlaubte sich die Dreistheit zu fordern, mit allen Kandidaten Vorgespräche über wirtschaftliche Programme zu führen. Ein Wahltipp des IWF blieb aber aus, nachdem der bis dato treue Präsident Gustavo Noboa dem Ansinnen eine Abfuhr erteilte. Der IWF zog sich zurück, ein Kredit von 240 Millionen US-Dollar kam nicht zustande.
Für Gutiérrez bleiben nur wenige Alternativen. „Keine weitere Verschuldung“, ließ er allerdings nach dem Wahlsieg verlauten. So bliebe ihm jedoch nur ein Schuldenmoratorium, womit die bisher geleisteten Kredite nicht zurück gezahlt würden. Eine Konfrontation mit der internationalen Finanzwelt, an der Ecuador Ende der neunziger Jahre wirtschaftlich zerbrochen war, wäre vorprogrammiert.
Will er neue internationale Kredite, kommen die USA ohne Zweifel ins Spiel. Gutiérrez wird sich im Falle der US-Basis Manta und der Unterstützung des Plan Colombia die Zähne ziehen lassen müssen. Und dieses Szenario erscheint wahrscheinlicher, nachdem auch Gutiérrez eingestanden hat, dass in dem fragilen Moment des Landes an der Dollarisierung nicht gerüttelt werden dürfe. Es bedürfe ausländischer Investoren, deren US-Dollar und niedriger Produktionskosten im Land, meint Gutiérrez. Solange diese jedoch nicht kommen, müsste wohl auch er auf Anleihen zurück greifen. Bei einem Besuch in Washington und Miami Anfang November versuchte er, Vertrauen zu gewinnen. Er sei kein Kommunist, auch kein Chavist. Diese Bedenken wolle er ausräumen. Ob er auf einen Konfrontationskurs in Sachen US-Basis geht, ist daher ungewiss. Doch mit Lula in Brasilien, Chávez in Venezuela und Gutiérrez in Ecuador könnte eine neue Epoche beginnen, welche der permanenten Schuldenfalle lateinamerikanischer Länder einen Ausweg zeigt.

Politik aus dem Kanonenrohr

Tote mussten her. Tote Paramilitärs. Am 9. August meldete die kolumbianische Armee nach Gefechten in der Provinz Antioquia 22 gefallene sowie acht gefangene Paramilitärs. Erst zwei Tage im Amt, hatte sich Präsident Álvaro Uribe Vélez somit auf internationalem Parkett die Gelegenheit verschafft, sich nicht nur als Hardliner im Kampf gegen die Guerilla, sondern auch gegen die rechten Milizen zu beweisen. Sollte Uribe von denen falsch verstanden worden sein, die ihm regelmäßig Sympathien mit diesen Gruppen vorgeworfen haben? Wohl kaum. Nur sechs Wochen später packte ein Kommandant der Paramiltärs vor der Justiz aus, dass es sich bei diesem scheinbaren Gefecht um eine Falle gehandelt habe. Demnach habe die zweite Armeedivision unter der Führung von General Martín Carreño ein regelrechtes Massaker an den paramilitärischen Kämpfern verübt. Laut dem Paramilitär sei an diesem Tag eine gemeinsame Operation mit der Armee gegen ELN-Kämpfer geplant gewesen. Zuvor hatte die paramilitärische Gruppe bereits selektive Morde im Auftrag der kolumbianischen Streitkräfte durchgeführt. An einer Armeesperre nahe der Ortschaft Segovia wurden die Paramilitärs von einem Transporter abgeholt, mussten sich auf den Boden legen und wurden von den Soldaten per Kopfschuss hingerichtet. Weitere Kämpfer wurden durch Granaten getötet, um für spätere Untersuchungen keine Zweifel an einem Gefecht aufkommen zu lassen.

Lorbeeren für militärische Vergehen

Die Aussagen des damals anwesenden Paramilitärs gehören zu den schwerwiegendsten Anschuldigungen von Komplizenschaft der Armee mit den Paramilitärs und militärischer Willkür, die in den letzten Jahren an die Öffentlichkeit gedrungen sind. Ein Militärgericht wurde mit der Prüfung des Vorfalls beauftragt. Nun sollte man annehmen, dass dieser Fall weite Kreise ziehen würde. Doch weit gefehlt. Das Militärgericht behandelt derzeit die Anschuldigungen wie ein Sturm im Wasserglas. Personelle Folgen sind bis auf einen suspendierten Unteroffizier ausgeblieben. Im Gegenteil: um die Regierung Uribe im Kampf gegen aufständische und rechte bewaffnete Gruppen zu unterstützen, gab es Lorbeeren. Die US-Regierung ließ am 11. Oktober alle Begrenzungen der bisher gelieferten Militärhilfe fallen. Waren Kampfhubschrauber, Waffen und Ausbildungen unter US-Leitung der letzten zwei Jahre ausschließlich auf den Antidrogenkampf beschränkt, dürfen diese Mittel nun unbegrenzt gegen Guerilla und rechte Milizen angewendet werden. Über zwei Milliarden US-Dollar flossen im Laufe der letzten 24 Monate ins Land, die überwiegend der militärischen Aufrüstung dienten. Die 22 toten Paramilitärs – sei es nun eine Armeefalle gewesen oder nicht – galten bei dieser Entscheidung als Alibi. Uribe geht gegen alle illegal Bewaffneten vor, so der Eindruck, den Washington verbreiten will.

Armee ohne Kontrolle

Uribe Vélez, seit knapp drei Monaten im Amt, hält offenbar das, was er seinen Landsleuten versprochen hat. Zumindest bei denen, die das Ärgste befürchten. Er will das Land auf dem militärischen Wege befrieden und räumte der Armee in den ersten Wochen seiner Amtszeit mehr Rechte ein als je zuvor. Am 11. August rief die Regierung den inneren Notstand für zunächst 90 Tage aus, welcher der Armee Sonderrechte im Kampf gegen die Subversion zugesteht. Nur wenige Tage später deklarierte die Regierung 15 Bezirke in den nördlichen Provinzen Sucre, Bolívar und Arauca zu so genannten Wiederaufbauzonen. Dort wurde den zivilstaatlichen Stellen per Dekret weitgehend die Gewalt entzogen. Zwei Generäle bestimmen nun über die Politik in diesen Regionen, die wirtschaftlich wichtig sind. Durch diese Gebiete führt auch die Ölpipeline Caño Limón, auf die im Jahr 2001 über 170 Anschläge durch die Guerilla verübt wurden; ein Millionenverlust für den Staat und ansässige Ölmultis. „Wer wird jemals erfahren, was für Menschenrechtsverletzungen in diesen Zonen stattfinden, in denen ausschließlich die Armee die Kontrolle besitzt?“, fragte der linke Kongressabgeordnete Carlos Gaviria zurecht in einem Zeitungsinterview. Wahrscheinlich niemand. Zwar muss die Armee etwa bei Hausdurchsuchungen und Militäroperationen einen Richter konsultieren. Doch das sogenannte Dekret 2002, das diese Zonen und ihre Funktionsweise bestimmt, hält eine Fußnote parat. Demnach könne die Anrufung eines Richters auch nach der Operation erfolgen, sollte es zum Operationszeitpunkt nicht möglich sein. Ein Blankoscheck für die Armee, Spuren zu verwischen und Vorwände zu finden, um der Justiz die wahren Begebenheiten vorzuenthalten. Ähnliche Bedenken äußerte das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen in Bogotá. „Wenn keine Klarheit herrscht, die Regeln vage sind, und vor, während sowie nach bestimmten Operationen keine rechtliche Kontrolle stattfindet, besteht ein hohes Risiko von Menschenrechtsverletzungen“, so Amerigo Incalcaterra, Direktor des UN-Büros. Die UNO wirft der Regierung Uribe vor, dass das Dekret 2002 international verabschiedeten Menschenrechtsklauseln widerspreche. Die Bewohner der betroffenen Bezirke stehen unter Generalverdacht, willkürliche Festnahmen sind faktisch erlaubt.

Blaues Auge statt Blauhelm

Nicht nur diese Äußerungen der UNO haben Uribe erzürnt. Ende September forderte der kolumbianische Präsident einen Blauhelmeinsatz «a la colombiana» im Land. Seine Vorstellung: Mehrere tausend kolumbianische Soldaten sollen – im Auftrag der UNO und mit Blauhelmen ausgestattet – Flüchtlinge in ihren Heimatort zurück begleiten und dort beschützen. Dabei zielt Uribe klar auf eine Internationalisierung des Konflikts im militärischen Sinne ab, statt sich auf politische Verhandlungen zu konzentrieren. Er könnte der kolumbianischen Armee, die mit Menschenrechtsverletzungen vorbelastet ist, eine gewisse Immunität verschaffen, wenn sie im Rahmen eines Blauhelmeinsatzes agieren würde. Ein Angriff auf diese Soldaten würde dann einem Vergehen an der Weltgemeinschaft gleichkommen, die in der UNO vertreten ist. Diese zeigte jedoch die kalte Schulter. „Es gehört nicht zu unserer Arbeitsweise, Soldaten des betroffenen Landes für einen Blauhelmeinsatz einzusetzen“, so das UN-Büro. „Die internationale Gemeinschaft kritisiert und kritisiert, macht Studien und soziale Experimente. Sie ergreift aber keine effektiven Maßnahmen“, verteidigte sich Uribe in forschem Ton. Dass seine Initiative jedoch gescheitert war, konnte er kaum noch verbergen.

“Schmutziges Spiel“ mit Referendum

Auch auf heimischem Terrain schlug dem neuen Präsidenten unerwarteter parlamentarischer Widerstand entgegen. Hatte Uribe seine Wahl neben Säbelrasseln auch mit einem versprochenen Kampf gegen Korruption und Politikerklüngel gewonnen, entpuppt sich sein Programm mehr und mehr als Papiertiger. Im September war im kolumbianischen Kongress ein Streit um ein Referendum entbrannt, das laut Uribe wegweisend für die zukünftige Politik des Landes sein sollte. Der Fragebogen umfasst 17 Punkte und soll im März kommenden Jahres der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt werden. Oppositionelle Politiker im Kongress kritisierten das Referendum als genau das, was Uribe bekämpfen wollte: Politikklüngelei. So stelle die Regierung mit Hilfe einer millionenteuren Abstimmung Themen und Punkte zur Debatte, die im Parlament gelöst werden könnten. Sie werfen ihm Populismus vor. Uribe will unter anderem die Amtszeit der jetzigen Gouverneure und Bürgermeister bis Ende 2004 verlängern und den persönlichen Besitz von geringen Mengen Drogen wie Kokain und Marihuana wieder unter Strafe stellen. „Kampf gegen das Fieber statt gegen die Krankheit“, nannten es Abgeordnete, die sich zunächst gegen das vorgelegte Papier aussprachen, in dem von tief greifenden Änderungen keine Spur zu finden ist. Das Referendum sieht des Weiteren vor, die Löhne im öffentlichen Dienst in den kommenden zwei Jahren einzufrieren, um ein klaffendes Haushaltsloch zu stopfen. Das Defizit beträgt derzeit knapp vier Prozent. Davon ausgenommen sind jedoch die Pensionen der Abgeordneten. „Wir spielen ein schmutziges Spiel mit den Menschen“, meinte der unabhängige Abgeordnete German Talero, der der Regierung vorwarf, sich mit Hilfe des Referendums finanzielle Vorteile verschaffen zu wollen. Vorschläge, die in der Öffentlichkeit zu Empörung führten, stellte die Regierung als Pannen dar und strich sie aus dem Antrag. So sollte die staatliche Aus- und Weiterbildungseinrichtung SENA geschlossen werden, um Geld zu sparen. Rund zwei Millionen mittellose Kolumbianer haben in der SENA die Möglichkeit, mit staatlicher Unterstützung einen technischen Beruf zu erlernen oder sich weiterzubilden. Uribe plante, diesen Bereich zu privatisieren, was für diese Menschen finanziell unerschwinglich geworden wäre. Eine zunächst sicher geglaubte Mehrheit im Parlament, die das Referendum verabschieden sollte, schien in Gefahr. Uribe schickte seinen polemischen Innenminister Fernando Londoño ans Pult, der die Abgeordneten warnte. Sollten sie den Antrag nicht annehmen, würde die Regierung ein Anfang September aufgegebenes Wahlversprechen wieder aufgreifen, dass eine Reduzierung des Kongresses auf eine Kammer beinhaltet. Die Regierung drohte, mit einem Zusatzpunkt im Referendum die jetzigen Kammern auflösen zu lassen und vorgezogene Kongresswahlen anzusetzen. Am 15. Oktober verabschiedete der Kongress dann doch den Referendumsentwurf. Gewonnen wurde die Debatte mit populistischen Drohungen: Wenn der Kongress nicht mitziehe, würde die Straße über die Abgeordneten richten.

Generalstreik in der Probezeit

Jedoch war es Uribe selbst, der schon Mitte September ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik geraten war. Zwar gelten für neue Präsidenten im Normalfall Schonfristen von 100 Tagen, doch bereits nach 40 Tagen sah sich der kolumbianische Präsident mit einem ersten Generalstreik des öffentlichen Sektors konfrontiert. Eine geplante Anhebung des Renteneinstiegsalters und eine Flexibilisierung der Arbeitsrechte waren Stein des Anstoßes für den Streik, der am 16. September weite Teile Kolumbiens lahm legte. Was unter mitteleuropäischen Gesichtspunkten höchstens scharfe politische Debatten ausgelöst hätte, entwickelte sich in den Vortagen des Streiks zur regelrechten Diffamierung kolumbianischer Gewerkschaften. Die Regierung titulierte den Ausstand als Plan der linken Guerilla, das Land zu destabilisieren. So habe laut Innenminister Fernando Londoño die marxistische FARC-Guerilla im Vorfeld der Proteste Bauern zur Teilnahme am Streik gezwungen. Im südkolumbianischen Cauca seien rund 500 Menschen von der Guerilla in Bewegung gesetzt worden, um Straßen unpassierbar zu machen. Die Gewerkschaften widersprachen diesen Äußerungen und kritisierten die Haltung der Regierung zu einem legitimen Recht der Arbeitnehmer, die keine andere Möglichkeit hätten, gegen die neoliberale Politik Uribes zu protestieren. Rund 700.000 Angestellte des öffentlichen Dienstes beteiligten sich am Streik. Laut den Gewerkschaften sei der Aufruf mit bis zu 90 Prozent Beteiligung ein voller Erfolg gewesen. Mehr als 30.000 Bauern hatten den Ausstand über eine Woche weitergeführt, um eine Einstellung von billigen Nahrungsmittelimporten und eine tragfähige Substitutionspolitik für eine Alternative zum Kokaanbau zu fordern. Dutzende Demonstranten wurden illegal von der Polizei festgesetzt, um den Streik zu unterbinden, Protestmärsche von Studenten verhindert. In anderen Teilen des Landes hätten Paramilitärs die Bauern eingeschüchtert. Mehrere Organisationen sprachen von Verschleppungen von Bauernführern, die bis heute vermisst werden.

Konfrontationskurs erzeugt Widerstand

Erst nach einem Einlenken der Regierung und der Zusage, über neue Gesetzesentwürfe mit den Gewerkschaften verhandeln zu wollen, wurde der Streik aufgehoben. Zwar hat Uribe weiterhin mit rund 70 Prozent ein ungewöhnlich hohes Ansehen in der Bevölkerung. Doch bereits in den ersten Wochen ist deutlich geworden, dass der soziale und militärische Konfrontationskurs seiner Regierung viele benachteiligte Gruppen und nicht wenige unabhängige Parlamentarier gegen ihn auf den Plan gerufen hat. Mehrere Gouverneure des Landes opponieren bereits jetzt offen gegen seine Politik der harten Hand und weigern sich, militärische Zonen in ihren Regionen zuzulassen. „Dass mir keine militärische Autorität ankommt, um mich zu ersetzen! Das würde unsere Verfassungsrechte verletzen“, so der Gouverneur der Provinz Magdalena. Elf weitere Gouverneure schlossen sich dieser Meinung an. Sie befürchten, dass sich der Konflikt in ihren Zonen damit verschärfen würde; denn eine grundlegende Änderung fand in den Wiederaufbauzonen nicht statt. Dutzende Anschläge durch die Guerilla hatten dort im Oktober den Sinn dieser Politik in Frage gestellt. Dennoch plant Uribe eine Ausweitung dieser Maßnahme, die dem Militär mehr Macht einräumen wird.

KASTEN:
Auslieferung von Carlos Castaño?
Der Chef des Paramilitärverbandes AUC soll in den USA vor Gericht gestellt werden

Präsident Uribe Vélez und der Chef der paramilitärischen Selbstverteidigungsgruppen AUC hätten sich Mitte September beinahe in Washington getroffen. Die Nachrichtenagentur AP lancierte die Meldung, Castaño befände sich auf dem Flug in die USA, während sich der kolumbianische Präsident mit US-Präsident Bush traf. Wenige Tage zuvor beantragte ein US-Gericht die Auslieferung des Paramilitär-Chefs. Er wird in den USA des Handels mit über 17 Tonnen Kokain beschuldigt. Ihm droht im Falle eines Prozesses eine lebenslange Haft. Die Nachricht der Selbstauslieferung entpuppte sich jedoch als Ente. Dennoch sah sich Castaño zu der Stellungnahme bereit, sich vor einem US-Gericht zu verantworten. Ein Märtyrer? Zweifler ließen die Frage aufwerfen, ob es im Vorfeld Geheimverhandlungen zwischen Castaño und den USA gegeben hat. Bereits in der Vergangenheit soll der paramilitärische Verband enge Kontakte zur US-Drogenbehörde DEA unterhalten haben, in denen Castaño die Auslieferung von Drogenbossen verhandelt habe, um seinen eigenen Kopf zu schützen. Die AUC gelten als größte Drogenhändler in Kolumbien. Wenige Wochen zuvor schickte Castaño nach eigenen Angeben einen seiner Anwälte in die US-Botschaft, um nachzufragen, ob Anklagen gegen ihn vorlägen. Dort sagte man jedoch, dass man mit ihm keine Probleme hätte. Während Castaño im Mai die AUC offiziell auflösen ließ, um das Image einer Drogenhandelsorganisation zu bekämpfen, berief er Anfang September eiligst eine Neugründung des Verbandes ein. Offenbar hatte er sich verrechnet: Castaño glaubte sich als politischer Akteur in einem möglichen Legalisierungsprozess mit der Uribe-Regierung profilieren zu können. Der Auslieferungsantrag traf ihn wie der Blitz. Während er jahrelang als berechenbare und nützliche Figur seitens der kolumbianischen Regierung und US-Behörden akzeptiert wurde, soll er nun seinen Kopf hinhalten – zumindest für die Öffentlichkeit. „Ich werde mich nicht vor den USA verstecken. Hier bin ich“, sagte Castaño in einem Interview Mitte Oktober irgendwo im Norden Kolumbiens. Als „Kriegstrophäe“ wolle er sich jedoch nicht opfern lassen, von einer Selbstauslieferung war keine Rede mehr. Bestünde ein wahres Interesse, Castaño dingfest zu machen, wäre dies längst geschehen. Im September trafen sich rund 2000 Paramilitärs und ein Tross von Journalisten nahe der Ortschaft Mariquita in der Provinz Tolima, um die Reorganisation der AUC zu zelebrieren. Polizei und Armee griffen nicht ein. Zwar existieren auch vor der kolumbianischen Justiz Dutzende Anklagen wegen unzähliger Massaker und Drogenhandels, aber Castaño will niemand anrühren. Es könnten Kontakte zu Tage treten, die das Militär und Politiker lieber im Dunkeln lassen wollen (siehe Artikel).

(Über-)Leben in der Gesellschaft

Fernando, du bist Teil der Vorbereitungsgruppe der Karawane. Was bedeutet die Karawane für dich?

Die Karawane ist in einem sehr praktischen Sinn eine Bewegung. Sie zieht durch ganz Deutschland und bringt verschiedenste Gruppen und Menschen miteinander in Kontakt. Durch die Karawane werden wir Flüchtlinge sichtbar, wir zwingen die Menschen uns wahr zu nehmen. Der durchschnittliche Bundesbürger weiß nichts vom Leben eines Flüchtlings, von Residenzpflicht, von Kontrollen und von Essensgutscheinen. Die Karawane ist für mich ein
Medium, durch das wir Flüchtlinge und MigrantInnen für unsere Rechte und bessere Lebensbedingungen kämpfen können.

Wie sehen die Lebensbedingungen eines Asylsuchenden in Deutschland aus?

Ich wurde in ein Asylbewerberheim in einer kleinen sehr abgelegenen Stadt eingewiesen. Dort blieb ich sechs Monate, in denen ich praktisch nichts machen konnte. Jeder Tag gleicht dem andern. Du stehst morgens auf, isst und wartest auf die Nacht, damit du wieder schlafen kannst. Das gibt dir ein Gefühl absoluter Nutzlosigkeit. Im Heim hast du keine Möglichkeit, die Sprache zu lernen oder die deutsche Kultur zu verstehen. Die Menschen werden krank in den Asylbewerberheimen, weil sie nichts tun können. Die Atmosphäre ist ständig gespannt und du kannst dich dem nicht entziehen.

Wie begegnen dir die Menschen außerhalb des Wohnheims?

Viele Menschen in Deutschland hassen Flüchtlinge. Und in der näheren Umgebung des Wohnheims besonders. Sie sind der Ansicht, dass die Flüchtlinge hierher kommen, um sich auf Kosten der Deutschen zu bereichern, um sich im sozialen Netz auszuruhen, den Deutschen die Arbeit wegzunehmen. Es gibt viele rassistische Übergriffe. Glücklicherweise bin ich persönlich noch nie körperlich angegriffen worden, aber fast alle meine Freunde und Kollegen haben schlimme Erfahrungen gemacht, manche sind schwer verletzt worden. Die Bedingungen im Heim selber und in der näheren Umgebung sind nur schwer auszuhalten. Nach sechs Monaten entschied ich mich nach Hamburg umzuziehen, an einen Ort mit weniger Rassismus, an dem ich besser leben kann, wo ich Kontakt zu politisch arbeitenden Gruppen habe. Ich entschied mich praktisch für das Überleben in der Gesellschaft.

Als Asylbewerber unterliegst du der so genannten Residenzpflicht. Laut Gesetz ist es dir verboten, deinen Landkreis zu verlassen.

Das stimmt nicht ganz. Es besteht die Möglichkeit, den Landkreis zu verlassen mit einer ausdrücklichen Genehmigung der Behörden. Hier bei der Karawane übertreten viele ganz bewusst dieses Gesetz, weil sie sich das Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit nicht nehmen lassen. „Landkreis“ bedeutet für mich ein offenes Gefängnis. Dein Bewegungsraum ist total eingeschränkt durch eine unsichtbare Linie. Du wirst praktisch wie ein Tier in einem offenen Käfig gehalten. Die Residenzpflicht verstößt gegen die Menschenrechte. Ähnliche Beschneidungen der Bewegungsfreiheit gab es sonst nur im südafrikanischen Apartheidtregime. Wer sich nicht an die Auflagen hält, muss ein Bußgeld zahlen. Ich bekomme ein Taschengeld von 40 Euro. Wenn ich einmal außerhalb meines Landkreises kontrolliert werde, muss ich dafür eben diese 40 Euro zahlen. Dann bleibt nichts mehr, um etwa einen Bus zu bezahlen oder eine Telefonkarte zu kaufen.

Wie läuft so eine Kontrolle ab?

Die Polizei holt dich zum Beispiel aus dem Zug oder dem Bus heraus. Du wirst möglichst abgeschirmt von den anderen Passanten. Sie überprüfen deine Papiere. Manchmal nehmen sie dich mit, und du wirst für eine Nacht auf der Polizeiwache festgehalten. Sie nehmen dir dann alles ab, was du bei dir hast. Manchmal fordern sie dich auf, dich nackt auszuziehen. Es hängt von der Stimmung der Polizisten ab. Später wirst du in deinen Landkreis zurückgeschickt. Der Polizist übergibt dem Bahnpersonal deine Sachen, die dir erst wieder an dem Ort ausgehändigt werden, wo du aussteigen musst.

Was passiert wenn jemand wiederholt kontrolliert wird?

Ich habe von Fällen gehört, in denen Menschen fünf oder sechs Mal ohne Genehmigung außerhalb ihres Landkreises kontrolliert wurden. Und mit jedem Mal wird das Bußgeld erhöht. Wenn du oft genug kontrolliert wirst, kannst du eingestuft werden als „Gefahr für die innere Sicherheit“. Auf dieser Grundlage können sie dann, im schlimmsten Fall, dein Verfahren beschleunigen und dich abschieben. Mit der Weigerung das Bußgeld zu bezahlen, kommt die ganze Sache vor Gericht.

Gibt es zu Fällen wie diesem schon Urteile?

Die Fälle wandern von einer Instanz zur nächsten. Es sind enorme Bußgelder verhängt worden und sogar schon Haftstrafen von einem Jahr. Würde vom Verfassungsgericht ein für uns positives Urteil gefällt werden, wären sie gezwungen das Gesetz zur Residenzpflicht zu revidieren. Im Moment läuft auch eine Klage vor dem europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Aber es gibt noch kein Urteil.

Hat sich deine Situation hier seit den neuen Schily-Gesetzen verändert?

Es gibt mehr Kontrollen, die Polizei hat mehr Befugnisse als vorher. Vor allem aber hat sich das Ansehen der AusländerInnen und Flüchtlinge verändert, wir werden jetzt direkt mit Terrorismus in Zusammenhang gebracht. Als Nichtdeutscher steht man praktisch unter einem Generalverdacht. Für jegliches Engagement mit linker Politik, ob hier oder unser Herkunftsland betreffend, können wir als mögliche oder tatsächliche Terroristen eingestuft werden und als Gefahr für das deutsche Allgemeinwohl. Es sind erste Fälle bekannt, in denen Asylanträge unter Verweis auf die neuen Sicherheitsgesetze nach dem 11. September abgelehnt wurden.

Siehst du einen Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass die Europäische Union die kolumbianischen Guerillagruppen FARC und ELN als terroristische Vereinigungen eingestuft hat und deinen Bedingungen in
Deutschland als Asylsuchender?

Das hat auf jeden Fall einen Einfluss auf das Stereotyp des Kolumbianers. Vorher galt ein Kolumbianer als Drogenhändler oder Krimineller. Heute steht ein Kolumbianer in den Augen der Allgemeinheit direkt mit Terrorismus in Zusammenhang.

Denkst du, dass Aktionen wie die Karawane einen Einfluss auf die Lebensbedingungen von Flüchtlingen in Deutschland haben kann?

Natürlich werden wir die Bedingungen in Deutschland nicht von heute auf morgen verbessern. Aber wenn wir weiterarbeiten, wird sich eines Tages vielleicht etwas ändern. Wenn ich eine Wahl gehabt hätte und eine Vorstellung davon, wie die Situation eines Asylbewerbers hier in Deutschland aussieht, wäre ich vielleicht nie hierher gekommen. Aber jetzt geht es darum, das Beste daraus zu machen. Seit ich nach Hamburg umgezogen bin und ich bei der Karawane mitarbeite, sehe ich die Dinge mit mehr Optimismus. Wir haben uns zusammengeschlossen, wir tauschen uns aus, informieren uns und planen. Wir setzen uns mit einer möglichen Zukunft auseinander, wir tun etwas und das ist das wichtigste.

Weitere Informationen zur Karawane unter: www.basicright.de/caravan/

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