Kollektive Ignoranz

Die Farben des Regenbogens tauchten den zentralen Platz vor dem Kongress in Buenos Aires in buntes Licht. Indigene Organisationen hatten ihn am vergangenen 25. Mai mit ihren wiphalas, den traditionellen siebenfarbigen Fahnen, in Beschlag genommen, um mit ihrer Veranstaltungsreihe El otro Bicentenario (Die andere Zweihunterjahrfeier) daran zu erinnern, dass Argentinien nicht nur ein Einwandererland ist.
Un país con espacio para todos (Ein Land mit Platz für alle) war hingegen das Motto der ofiziellen Feiern zum argentinischen Bicentenario, bei dem mit großem Aufwand an den 200. Jahrestag der Unabhängigkeit Argentiniens von Spanien gedacht werden sollte. Die Geschichte der Indigenen, von denen es heute in Argentinien nur noch wenige gibt, hatte darin keinen Platz.
Die fast komplette Auslöschung der indigenen Bevölkerung wird im öffentlichen Geschichtsdiskurs Argentiniens kaum erwähnt. Stattdessen werden „Helden”, wie der ehemalige Kriegsminister Julio Argentino Roca gefeiert. Unter dessen Führung waren in einem Vernichtungskrieg gegen die argentinische Urbevölkerung, der sogenannten Wüstenkampagne, tausende Indigene ermordet worden. Aufgrund seiner „militärischen Erfolge” wurde Roca 1880 Präsident Argentiniens.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebten in den riesigen Gebieten Patagoniens und der Pampa, die von den weißen SiedlerInnen kurz nach der Unabhängigkeit Argentiniens noch kaum erschlossen waren, zahlreiche indigene Gruppen. Doch der damalige Präsident Juan Martín de Pueyrredón hatte beschlossen, die Wirtschaft Argentiniens durch intensive Fleisch- und Agrarproduktion für den Export voranzubringen. Und dafür brauchte er Land.
Pueyrredón sah die Indigenen als „Besetzer” von nationalem Boden, den es „zurück” zu erobern galt. So schickte er hunderte Soldaten gegen die Indigenen ins Feld. Auch 1.000 Indigene, die vorher gefangen genommen worden waren, wurden zu der Teilnahme an dem Feldzug gezwungen. Zusätzlich warb Pueyrredón Söldner aus Europa an. Unter ihnen war auch der junge Leutnant Friedrich Rauch aus Baden, der 1818 nach Argentinien kam und dort schnell Karriere machte. Bereits drei Jahre später war er um drei Ränge zum Major aufgestiegen, und nach einem aus Sicht der Eroberer glorreichen Sieg gegen die Indigenen 1827 wurde der „Schrecken der Wüste” als Held gefeiert. Dass er zwei Jahre darauf bei einem Scharmützel von dem Mapuche Arbolito („Kleiner Baum”) getötet wurde, vergrößerte nur den Mythos um ihn.
Der Historiker Jorge Charata schrieb damals, die Indigenen seien Räuber des Landes gewesen, das sie bewohnten. Zu ihrer Auslöschung gebe es keine Alternative, da sie nur nach einer sehr langen Evolution produktiv sein könnten. Das könne die Regierung nicht abwarten ohne Gefahr zu laufen, ökonomisch zu verarmen, so Charata weiter. Die Wissenschaftskommission Argentiniens erklärte 1881, bei den Indigenen handele es sich um eine „junge, (…) sterile Rasse”, die die fruchtbare Erde nicht angemessen nutzen könne, dafür sei eine „intellektuelle Überlegenheit” nötig. Sie müsse deshalb um jeden Preis und restlos ausgelöscht werden.
Allein in den Feldzügen zwischen Juli 1878 und Januar 1879 gab es insgesamt 26 Militäroperationen gegen Indigene, die von 6.000 modern bewaffneten Soldaten durchgeführt wurden. Die dort ansässigen indigenen Gruppen verloren 550.000 Quadratkilometer Land; 1.314 ihrer Krieger und sechs ihrer Anführer starben. Zudem wurden rund 11.000 Männer und Frauen gefangen genommen und nach Geschlecht getrennt. Die Männer wurden auf die Insel Choele Choel gebracht, wo sie später starben. Die Frauen mussten in Buenos Aires als Hausangestellte arbeiten. Viele Angehörige der Ethnie der Mapuche flüchteten über die Grenze nach Chile. Nur wenige Gruppen, angesiedelt in abgelegenen Regionen Patagoniens oder der nördlichen Berge, überlebten den Vernichtungsfeldzug. Im Kompendium Die Geschichte Argentiniens heißt es dazu: „Sie hatten nur drei Alternativen: Sich zu ergeben, zu fliehen oder zu sterben.”
Eines der wichtigsten Ziele der Feldzüge gegen die Indigenen wurde schnell erreicht: Noch in Julio Rocas erster Amtsperiode als Präsident wuchs der Außenhandel Argentiniens in nie gekanntem Ausmaß. Der Wohlstand im Land stieg an, zahlreiche Projekte zur Erweiterung der Infrastruktur wurden umgesetzt. Argentinien zählte zeitweise zu einem der reichsten Länder der Erde, Buenos Aires wurde zu einer modernen Weltmetropole. Außerdem wurde durch die Vertreibung der indigenen Bevölkerung Land für neue EinwanderInnen frei gesetzt. Allein zwischen 1880 und 1886 immigrierten fast eine halbe Million Menschen nach Argentinien. Juan José Cresto, der frühere Direktor des Nationalen Historischen Museums und Präsident der Academia Argentina schrieb dazu, dass das gesamte Gebiet der Pampa schon vor den Feldzügen in Parzellen zu 10.000 Hektar aufgeteilt worden war, die für 400 Silberpesos pro Landtitel verkauft wurden. Damit wurde das Fundament für den Großgrundbesitz im Land gelegt, auf dem viele Familien bis heute ihren Wohlstand aufbauen. Es war Platz für alle, die das nötige Kleingeld mitbrachten.
Heute hat Argentinien mit unter zwei Prozent den zweitniedrigsten Anteil an indigener Bevölkerung in Südamerika, nur Uruguay hat weniger. Nach den Gründen dafür fragen die NachfahrInnen der damaligen ImmigrantInnen heute kaum. Das wiederum liegt unter anderem an der Art und Weise, wie nationale Geschichte in Argentinien überliefert wird. Im Eingangsbereich des Historischen Museums in Buenos Aires hängen drei riesige Bilder, die die Schlachten während der Wüstenkampagne illustrieren – aus Sicht der Sieger, versteht sich. Ein Wand füllendes Gemälde mit dem Titel Militärische Besetzung der Provinz Río Negro – 1879 von Juan Manuel Blanes zeigt eine Gruppe von Feldherren auf Pferden, mit Roca im Zentrum. Rechts von ihm ist, ebenfalls zu Pferd, eine Gruppe von Wissenschaftlern zu sehen. Die meisten von ihnen sind Deutsche. Die Forscher begleiteten das Heer, um die von Weißen noch unerschlossenen Gebiete zu dokumentieren. Links neben den Reitern zeigt das Gemälde eine Gruppe von Indigenen zu Fuß. Die Informationstafel des Bildes nennt „die Eroberung des Río Negro, die zugleich die Eroberung von leerem Raum war” ein „historisches Paradigma”. Sie habe den „Triumph der Zivilisation über die Barbarei” erreicht, welche auf dem Bild „durch die Indios repräsentiert” sei. Das Gemälde sei zur Erinnerung an Rocas Sieg von ihm selbst in Auftrag gegeben und in das Historische Museum gebracht worden, an dessen Gründung er als Präsident beteiligt war. Die Namen der Dargestellten sind auf einer Tafel gewissenhaft dokumentiert – außer die der Indigenen.
Auf die Frage, warum man für die Eroberung von „leerem Raum” ein Heer braucht, lieferte Museumsdirektor Cresto eigenwillige Antworten. In seiner Logik war die Wüste tatsächlich menschenleer – jedenfalls zum Zeitpunkt der Ankunft Kolumbus’ in Südamerika. Erst im 18. Jahrhundert seien Indigene in die Gebiete eingezogen, die Roca kurz darauf eroberte. „El desierto”, ein Begriff, der auch „menschenleere Wüste” heißt, sei vollständig leer und unbewohnt gewesen, so Cresto. Zudem hätten die Eroberer den Indigenen ihre Kultur zugänglich gemacht und ihnen folglich langfristig einen Gefallen getan. „Für den Neanderthaler sind die modernen Menschen ja auch keine gewaltsamen Eroberer” schrieb Cresto in einem Artikel in der Tageszeitung La Nación vom November 2004 – und meint das noch nicht einmal polemisch.
Der Artikel löste unter HistorikerInnen und Indigenenverbänden eine hitzige Debatte aus. Linke HistorikerInnen kritisierten, die „Wüste” sei keineswegs unbewohnt gewesen – warum hätten die Indigenen auch unter Einsatz ihres Lebens Gebiete verteidigen sollen, die sie weder bewohnten noch wirtschaftlich nutzten? Zudem wurde Cresto dafür kritisiert, dass er die Existenz von Indigenen in Argentinien leugnete: „Sie sind keine Indigenen, sondern Argentinier wie alle anderen auch, ohne besondere Rechte.”
Der große Kontrahent Crestos in diesem Geschichtsstreit ist der Historiker und Journalist Osvaldo Bayer. In seiner Lesart der Geschichte hat Julio Roca einen Genozid begangen. Das Weltbild von HistorikerInnen wie Crespo, die Roca blind verteidigen, ist für ihn geprägt von maßloser kultureller Arroganz. Sein öffentlich vorgetragener Vorschlag, die nach Leutnant Friedrich Rauch benannte Stadt Rauch in der Provinz Buenos Aires in „Arbolito“ umzubenennen und damit den Kaziken zu würdigen, der den badischen General damals tötete, brachte Bayer 1963 für zwei Monate ins Gefängnis. Nach dem Militärputsch 1976 musste er wegen seines 1972 publizierten Buches Patagonia Rebelde (Aufständisches Patagonien) ins deutsche Exil fliehen.
Bis heute sind die Sieger der Vernichtungskriege gegen die indigene Bevölkerung weiter in der Geografie des Landes präsent – in unzähligen Straßenamen und historischen Denkmälern. Rocas Statue oder die nach ihm benannten Straßen und Plätze, sind in jeder argentinischen Stadt mehrfach zu finden. Eine kritische Einordnung seiner Person von offizieller Seite sucht man hingegen vergeblich.
Osvaldo Bayer weist darauf hin, dass es in der Hauptstadt keine Straße gibt, die an die Indigenen des Landes erinnert, hingegen viele, die Eroberern Ehre erweisen. Für ihn ist all das Teil eines großen Geschichtsrevisionismus, der dazu dient, die Schattenseiten des Nationalisierungsprozesses Argentiniens zu verschleiern. Gemeinsam mit Indigenenverbänden hat er Initiativen zur Umbenennung der Straßen und Plätze ins Leben gerufen. Roca-Statuen werden von kritischen AkteurInnen immer wieder mit Graffitis und Sprüchen in roter Farbe versehen, die eine andere Geschichtsschreibung im Stadtbild sichtbar machen sollen.
Im August 2008 wurde im Nationalkongress ein Thema verhandelt, das Bayer schon seit Jahren beschäftigt: das Portrait Julio Rocas, das den 100-Peso-Schein ziert, durch das Bild der Unabhängigkeitskämpferin Juana Azurduy zu ersetzen. Es sei nicht gut, auf dieser wichtigen Banknote „einen Mann abzubilden, der tausende Indigene ermordet hat, um ihnen Patagonien zu rauben” so die Abgeordnete Cecilia Merchán, die den Vorschlag einbrachte. Der Vorschlag wurde als Polemik diskreditiert und abgelehnt.
Bayer wird indessen von jungen ArgentinierInnen als Landesverräter beschimpft. Für eine/n Teilnehmer/in eines historischen Diskussionsblogs mit dem Nickname „M Paris” waren Feldzüge gegen die Indigenen in der Geschichte Argentiniens beispielsweise eine historische Notwendigkeit. M Paris bedankt sich inständig bei „all den Männern und Frauen, die so viel für ihr Vaterland opferten“. So sehen viele Nachkommen der EinwanderInnen ihre Vergangenheit: Als Errungenschaft ihrer Vorfahren.

Richtungswechsel im Zeichen des Wiederaufbaus

Die Anspannung stand Sebastián Piñera ins lachende Gesicht geschrieben. Nur noch Minuten trennten ihn am Mittag des 11. März von der Verwirklichung seines größten Projekts. Doch dann hatte die Erde schon wieder stark gebebt, kurz vor Beginn der Zeremonie, bei der der 60-Jährige die rotweißblaue Präsidentenschärpe von Michelle Bachelet überreicht bekommen sollte. Dann bebte es noch einmal. Die Gäste im Nationalkongress blickten nervös zur Decke, aber vorne unter dem großen Staatswappen ging die Amtsübergabe unbeirrt weiter. Als es zum dritten Mal bebte, vereidigte der neue Präsident gerade sein Kabinett. Draußen in Valparaíso herrschte derweil Panik – die Marine hatte eine Tsunami-Warnung ausgegeben, und die Bilder der Verwüstungen, die das Mega-Erdbeben der Stärke 8,8 und die darauffolgende Flutwelle zwei Wochen zuvor angerichtet hatten, waren noch frisch.
Piñera kalkuliert kühl und hat seine Widersacher fest im Blick. Dass aber eine Naturkatastrophe seinen Antritt als chilenischer Präsident überschatten würde, damit konnte auch er nicht rechnen. Bis zu jenem verhängnisvollen 27. Februar war ja alles gut gegangen: die schnittige Wahlkampagne gegen den drögen Eduardo Frei, seinen Herausforderer vom Mitte-Links-Bündnis Concertación, ein solides erstes Wahlergebnis im Dezember, ein Kopf-an-Kopf-Rennen zur Stichwahl am 17. Januar und schließlich ein mit 51,6 Prozent der Stimmen ausreichend deutlicher Sieg. Im Wahlkampf hatte Piñera, einer der reichsten Männer Chiles, vollmundig eine Million neue Arbeitsplätze versprochen, aber jetzt zählte man an die 500 Tote und 200.000 ganz oder teilweise zerstörte Häuser. Dazu Schäden an Straßen, Brücken, Häfen, Schulen. Schätzungen des Finanzministeriums beziffern den volkswirtschaftlichen Schaden auf 30 Milliarden US-Dollar. Vom Durchstarten mit der versprochenen „neuen Form des Regierens“ konnte keine Rede mehr sein.
Bei genauerem Hinsehen aber kommt all das dem neuen Präsidenten gar nicht so ungelegen. „Das Erdbeben und seine Folgen passen hervorragend zu Piñeras Stil“, findet Carlos Peña, Rektor der Diego-Portales-Universität. „Piñera ist ein ehrgeiziger Macher-Typ, der es gewohnt ist, schnelle Entscheidungen zu treffen.“ Der Wiederaufbau, der jetzt vor allem in den Regionen Maule und Bío-Bío ansteht, könnte damit zur Visitenkarte des Mannes werden, der sich rühmen darf, Chiles Rechte zum ersten Mal seit 50 Jahren durch demokratische Wahlen an die Macht gebracht zu haben. Die finanziellen Voraussetzungen dafür sind so gut wie lange nicht: Bachelets Regierung hatte dank des jahrelang hohen Kupferpreises über 20 Milliarden US-Dollar an Devisenreserven gespart und nur einen Teil davon zur Abfederung der jüngsten Wirtschaftskrise aufgewendet. Und das rote Metall, an dem der chilenische Staat immer noch viel verdient, wird seit dem Preisverfall im Jahr 2009 wieder stärker nachgefragt: Im Februar 2010 exportierten staatliche und private Unternehmen Kupfer für 2,7 Milliarden US-Dollar, fast das Doppelte des Vorjahresmonats.
Wiederaufbau und Wiederaufbau-Stimmung könnten auch für geraume Zeit verdecken, dass Piñeras Regierung eine von UnternehmerInnen – und für UnternehmerInnen – ist. Denn angesichts der besonderen Umstände kritisierte Innenminister Rodrigo Hinzpeter sachte den privaten Sektor. „Wir brauchen jetzt verständnisvolle und freigiebige Unternehmer“, sagte der Chef von Piñeras Ministerriege und deutete an, die mit Hilfe der Wirtschaft im Rahmen einer Spendenshow im Fernsehen gesammelten 60 Millionen US-Dollar reichten längst nicht aus: „Sollten die Unternehmen glauben, mit diesem Beitrag hätten sie ihre Schuldigkeit getan, dann haben wir ein Problem.“ Ein Problem für die Angesprochenen war die Hilfskampagne dabei sowieso nicht, sondern eine Gelegenheit, ihr Image für ein paar Peso-Millionen aufzupolieren. Und selbst diese Ausgaben hielten sich bei Kampagnen wie „Kaufen Sie eine Wolldecke für Erdbebenopfer, wir tun eine zweite dazu“ in Grenzen.
Betrachtet man Piñeras Kabinett, fallen zwei Dinge auf: Erstens, der Präsident hat die Posten tatsächlich nicht nur nach Proporz an verdiente Mitglieder der ultrarechten Unabhängigen Demokratischen Union (UDI) und der liberaleren Nationalen Erneuerung (RN) vergeben, sondern auch etliche Männer und einige Frauen mit akademischen Ehren rekrutiert. Gleich vier MinisterInnen kommen freilich aus dem Think-Tank der UDI, dem Institut für Freiheit und Entwicklung. Zweitens, so gut wie alle entstammen jenem Teil der chilenischen Gesellschaft, den viele in Anlehnung an Verteilungsstudien nur „ABC1“ nennen. In Santiagos reichem Osten aufgewachsen und beheimatet, mit klingenden Nachnamen und Studium an der Katholischen Universität, kinderreich, fromm – beinahe ein umgekehrtes Abbild der bisherigen Kabinette der Concertación: dort tummelten sich AbsolventInnen der laizistischen Universität von Chile, Verfolgte der Diktatur, MittelschichtlerInnen, Geschiedene, AgnostikerInnen. Mit Joaquín Lavín, seinem Erzkonkurrenten von der UDI, hat Piñera dagegen einen Mann des Opus Dei zum Erziehungsminister gemacht.
Noch ist es zu früh zu beurteilen, wie sich die kulturellen und programmatischen Unterschiede zwischen der alten und der neuen Regierung auswirken. Programmatisch lag man ohnehin nicht weit auseinander, denn Pinochets neoliberales Entwicklungmodell hatte die Concertación ja längst für sich entdeckt. Auch in anderen Politikfeldern dürfte sich wenig ändern, weder bei Mega-Energieprojekten wie HidroAysén, noch beim Umgang mit radikalen Mapuche-Organisationen im Süden des Landes, denen bereits Bachelet mit massiver Polizeigewalt begegnete. Richtig wehtun könnte es dagegen bei „Werte“-Themen: Im Wahlkampf hat sich Sebastián Piñera zwar mit einem schwulen Paar filmen lassen und in Aussicht gestellt, auch den ärmeren ChilenInnen eine Notfall-Verhütung (die „Pille danach“) zugänglich zu machen. Aber es bleibt abzuwarten, was die ultrakonservativen Bastionen der UDI davon übrig lassen, auf deren parlamentarische Unterstützung der Präsident angewiesen ist.
Überhaupt enttäuschte Piñera gleich zu Anfang in Sachen Ethik. Im Wahlkampf hatte der Dollarmilliardär noch fest versprochen, sich vor Amtsantritt von seinem Aktienpaket der Fluggesellschaft LAN zu trennen, um den Eindruck einer Interessenvermischung gar nicht aufkommen zu lassen. Aber auch zwei Wochen nach der Zitterpartie im Kongress war die Hälfte dieser Beteiligungen noch nicht verkauft. In seinem Blog spielt der Publizist Daniel Mansuy Piñeras Beweggründe durch: Entweder habe Piñera das Ganze einfach nicht ernst genommen oder nicht verkauft, weil die Aktien nach dem Erdbeben an Wert verloren hatten. Oder aber er habe ganz gezielt die öffentliche Reaktion abgewartet, „um zu sehen, ob er damit durchkommt. So oder so – keine dieser Erklärungen ist besonders erhebend“, schreibt Mansuy. „Sie zeigen, dass der Präsident nicht in der Lage ist, eine Trennlinie zwischen Privatem und Öffentlichem, zwischen seinen legitimen persönlichen Interessen und seiner Verantwortung als Staatsoberhaupt zu ziehen.“
Gerade noch rechtzeitig handelte Piñera bei einer Personalie, die seine Regierung in enormen Misskredit hätte bringen können. Kurz nach der Ernennung des stellvertretenden Vorsitzenden des Landwirtschaftsverbands SNA, José Miguel Stegmeier, zum Verwaltungschef der Bío-Bío-Region informierte die Internetzeitung El Mostrador über frühere Machenschaften des Mannes: Stegmeier soll an Dreiecksgeschäften beteiligt gewesen sein, um Gelder der ehemaligen Colonia Dignidad zu waschen. Mit diesen finanzierte der flüchtige Sektenführer Paul Schäfer seinen klandestinen Aufenthalt in Argentinien. Auch wurde gegen Stegmeier wegen des Vorwurfs ermittelt, 1997 eines von Schäfers Missbrauchsopfern versteckt zu haben. Der damit entfachte Eklat war Piñera offenbar zu heiß: Schon bald teilte Innenminister Hinzpeter mit, man habe die Vorwürfe geprüft. Weil diese „in Teilen zutreffend“ seien, ziehe man die Ernennung Stegmeiers zurück. Für den verhinderten Verwaltungschef wird die Affäre wohl keine weiteren Folgen haben: „Wir sind kein Gerichtshof“, erklärte Hinzpeter, „wir sind eine Regierung, die politische Entscheidungen trifft und nicht Urteile fällt.“
Trotz solcher Patzer richten sich derweil die Parteien der Concertación nach 20 Regierungsjahren auf eine lange und mühselige Opposition ein. Ob das einst so erfolgreiche Modell – ChristdemokratInnen und SozialistInnen machen gemeinsam sozialdemokratische Politik – überlebt, wird sich zeigen. Wahrscheinlich ist, dass erst einmal die Zentrifugalkräfte überwiegen. Piñera hofiert den rechten Flügel der ChristdemokratInnenen, aus dem er selbst vor vielen Jahren ausscherte. Der linke Flügel der SozialistInnen hingegen könnte sich mit den drei kommunistischen Abgeordneten verbünden, denen die Concertación durch ein Wahlbündnis nach über 35 Jahren wieder in den Kongress verholfen hat.
Überhaupt scheint die chilenische Linke eine Neuorientierung zu benötigen. Denn in den Tagen nach dem Erdbeben ging eine soziale Erschütterung durch das Land. In den zerstörten Gebieten kam es zu massiven Plünderungen, zuerst in Supermärkten und Warenlagern großer Firmen, dann in mittleren und kleinen Läden, irgendwann auch in zerstörten oder verlassenen Häusern. Die Angst griff um sich, Bürgerwehren wurden selbst in den ärmeren Vierteln gebildet, um sich vor der vermeintlichen oder realen Gefahr von Überfällen zu schützen. Die meisten fanden, dass die scheidende Bachelet-Regierung viel zu spät handelte, als sie am vierten Tag den Ausnahmezustand ausrief. Und in den letzten Tagen der Concertación standen plötzlich die Menschen an der Straße und applaudierten den einrückenden Soldaten – eine schwer verdauliche Ironie der Geschichte.
Viel wurde schon über die Ursachen des kollektiven Kontrollverlustes geschrieben. Konservative Kommentatoren beklagten die überbordende Kriminalität, an der selbstverständlich die laxe Politik der Concertación schuld sein soll. Andere erkannten in den Massen, die ungestört Plasma-TVs und Kühlschränke aus den Läden schleppten, das Ergebnis von vier Jahrzehnten der Konsumverherrlichung bei anhaltend großer sozialer Ungleichheit. Für Efrén Osorio, den Vorsitzenden der linken Humanistischen Partei, hat das gesellschaftliche Nachbeben bloßgelegt, wie wenig in Chile heute übrig ist von früheren sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, Parteien, Vereinen: „Gäbe es ein belastbares soziales Gewebe“, so Osorio, „das auch in einer Krisensituation weiterfunktioniert, würden die Chilenen wohl nicht nach dem Militär rufen, sondern ad hoc Überlebensstrategien und alternative Wirtschaftsformen entwickeln.“ Von Sebastián Piñera dürfen sie dabei wohl kaum eine Hilfestellung erwarten.

„Wir warten vergeblich auf Hilfe“

Die Küstenregion, in der die Lafkenche leben, ist durch das Erdbeben und den Tsunami stark betroffen. Was sind die schwersten Auswirkungen der Katastrophe?
Das Erdbeben richtete in den Regionen Bío-Bío, Araucania und de los Lagos großen Schaden an, am schwersten traf es die Küste in der Region Bío-Bío. Die schlimmste Folge sind immer Todesopfer. Aber viele Menschen haben auch ihre Häuser verloren, und damit auch die Möglichkeit, Nahrung zuzubereiten, ihre Heizung, die Werkzeuge für ihre Arbeit und alles, was für das Leben in der Gemeinschaft notwendig ist.

Ist auch die Infrastruktur beschädigt, und was ist mit der Gesundheitsversorgung?
Momentan sind die meisten Praxen außer Betrieb und einige Gesundheitsposten werden als Leichenhallen oder als Notunterkünfte benutzt.

Wie ist die Situation der dort lebenden Menschen jetzt? Mit welchen Problemen sind sie konfrontiert?
Die wichtigsten Probleme sind das Fehlen von Nahrungsmitteln, Strom, Trinkwasser, Unterkünften und Straßenverbindungen.

Der chilenische Staat und die großen Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz haben viele Spenden von ChilenInnen und aus dem Ausland erhalten und organisieren jetzt die Hilfe für die Erdbebenopfer. Haben Sie schon Unterstützung erhalten?
Diese Hilfen erhalten nur Personen, die in den Städten wohnen oder in den Gemeinden, in denen die Kommunalverwaltung ihren Sitz hat. Die Leute in den ländlichen Gebieten und den kleinen Fischersiedlungen bekommen nichts.

Wie verhalten sich Polizei und Militär? Helfen sie den Erdbebenopfern oder gibt es Konflikte?
In Mapuchegebieten gibt es immer Probleme wegen der Art und Weise, wie die Mapuche ihre Autonomie verstehen. Aber im Moment sind die Militärs nur damit beschäftigt, die Einhaltung der Ausgangssperre zu kontrollieren, um die Besitztümer der Mächtigen zu beschützen. Sie sollten besser beim Wiederaufbau mithelfen.

Es heißt, viele Menschen aus den Küstengebieten, die alles verloren haben, sind nun zu anderen Familien in die Berge geflüchtet, die selbst arm sind und von den Folgen des Erdbebens betroffen. Wie werden sie den Winter überleben?
Wir hoffen, dass sich die Lage bis zum Winter gebessert hat. Aber das kann nur funktionieren, wenn die Regierung dafür sorgt, dass Hilfe in diese Orte kommt, wenn sie die Ausgangssperre aufhebt und wenn die Streitkräfte mit den Leuten beim Wiederaufbau zusammenarbeiten.

Die Organisation Identidad Territorial Lafkenche hat auch eine eigene Hilfsaktion initiiert. Was machen Sie und was haben Sie bisher erreicht?
Seit dem ersten Tag arbeitet unsere Organisation daran, dass unseren Leuten geholfen wird, aber die Zeit vergeht und noch immer warten wir vergeblich auf Hilfe und die Regierung zeigt auch kein großes Interesse daran, uns Hilfe zukommen zu lassen. Deshalb wird es jetzt immer dringender, Nahrungsmittel, Holz, Zinkbleche, Nägel und Arbeitsmaterialien für den Neuanfang zu besorgen.
Ich glaube, wir kommen gut voran. Wir waren in allen Gemeinschaften und haben eine Bestandsaufnahme der Schäden gemacht, die wir an die Regierung gesendet haben. Wir haben das Nötigste beschafft, damit unsere Brüder und Schwestern überleben. Aber es ist nie genug und die Solidarität lässt auch schon nach – und der Winter steht vor der Tür.

Können wir von Europa aus helfen?
Ja, natürlich, auf verschiedene Art und Weise.Durch finanzielle Hilfe für den Kauf von Lebensmitteln, für Baumaterialien, um Häuser wiederaufzubauen und für Arbeitsgeräte. Freiwillige für Wiederaufbauarbeiten, Untersuchungen des Meeresbodens, um den Zustand der Muschelbänke zu stabilisieren, Untersuchungen in den Küstengebieten, um die geeignetsten Orte für den Wiederaufbau zu finden, Kinderbetreuung für die betroffenen Gemeinden, Schaffung von Systemen zur nachhaltigen Energieerzeugung, all das kann helfen.

Welches Fazit ziehen Sie? Was bedeutet das Erdbeben aus Sicht der Lafkenche?
Für uns, die Mapuche Lafkenche war das, was am 27. Februar geschehen ist, ein Rat, den uns das Meer gab, wegen der großen Verschmutzung und Ausbeutung, die die Menschheit dem Meer angetan hat. Wir als eine antike Kultur, die laut der archäologischen Fundstätte von Monteverde dieses Gebiet seit mindestens 14.000 Jahren besiedeln, können diese Zeichen verstehen und deuten. Wir bedauern es nur, dass die unreife und grausame chilenische Gesellschaft nicht fähig ist, auf uns zu hören und nicht versteht, was wir sagen.

KASTEN:
Identidad Territorial LafkenchE
Lafkenche ist der Name der Mapuche, die in der Küstenregion leben. Die Organisation Identidad Territorial Lafkenche existiert seit 1992 und repräsentiert 1500 Mapuche-Reservate der Küstenregion vom Golf von Arauco in der Region Bío-Bío bis Puerto Aisen in der Region General Carlos Ibañez del Campo. // Eine ihrer wichtigsten Aufgaben ist der Versuch, Landnutzungsrechte und Fischereirechte zurückzugewinnen. Einer der größten Erfolge war das Gesetz Nr. 20.249, das den Lafkenche das Recht zurückgibt, das Meer zu nutzen. Diese wichtige Lebensgrundlage war ihnen durch das Fischereigesetz von 1991 weggenommen worden. // Die Wiedererlangung ihrer Landrechte und der Schutz der Küstenzone vor Umweltzerstörung sind zentrale Ziele der Identidad Territorial Lafkenche. Aktuell setzt sie sich für einen Gesetzentwurf ein, mit dem ein geschützter Küstenbereich der indigenen Völker errichtet werden soll. Mehr Information über die Organisation unter www.identidadlafkenche.cl

History is a battlefield

Ein riesiger Quader, in zahlreichen Facetten grünlich schimmernd, aufgebahrt auf zwei Betonfüßen und damit einen monumentalen Bogen bildend – so präsentiert sich das Museum der Erinnerung und Menschenrechte von Weitem. Auf einem ausgedehnten Platz erstreckt es sich mit 80 Metern Länge von Ost nach West. Die BesucherInnen müssen es zunächst unterlaufen, um den Eingang zu erreichen. Innen fällt das Tageslicht auf weiße Stahlträger, Trennwände und Holzfußböden und lässt die Räume hell erscheinen. Klarheit und Transparenz will diese Architektur in all ihren Teilen zeigen, ein Kontrast zu dem dunklen Kapitel chilenischer Geschichte, um das es in dem Bau geht.
Es war Bachelets persönliches Anliegen, dieses Museum, das sie erstmals im Mai 2007 als Projekt auf die Agenda rief. Ein Turbobau sollte es werden, um ihn noch in der Amtszeit Bachelets eröffnen zu können. Lediglich ein Jahr verstrich zwischen der Grundsteinlegung am 10. Dezember 2008 und der Einweihung des immensen Gebäudes im Januar.
Sichtlich bewegt zeigte sich die Präsidentin Michelle Bachelet in ihrer Eröffnungsrede, sie selbst war einige Monate zusammen mit ihrer Mutter im berüchtigten Foltergefängnis Villa Grimaldi inhaftiert gewesen, bevor sie 1975 unter anderem in die DDR ins Exil ging. „Die Einweihung dieses Museums ist ein mächtiges Zeichen der Stärke eines vereinten Landes,“ sagte die Präsidentin. Kritische Meinungen der Rechtskonservativen über die Ausblendung der Vorzeit des Putsches wehrte Bachelet mit den Worten ab, es könne für das, was damals passiert sei, viele Erklärungen, aber nicht eine einzige Rechtfertigung geben.
In ihrer Rede wurde Bachelet für einige Minuten unterbrochen, als zwei Mapuchefrauen die Präsidentin laut anklagten, die Menschenrechte gegenüber dem Volk der Mapuche zu verletzen. Eine der beiden Frauen war die Schwester von Matías Catrileo, der 2008 im Alter von 23 Jahren bei einer Landbesetzung von der Polizei erschossen wurde. Die Anwendung der Anti-Terror-Gesetze aus der Zeit der Diktatur gegen das Volk der Mapuche steht in der Tat in scharfem Kontrast zu dem Appell, welchen das Museum aussendet. Ein Makel auf der weißen Weste der Menschenrechtsrhetorik Bachelets.
Ein Museum der Erinnerung und der Menschenrechte soll es sein, schon in der Eingangshalle wird die Programmatik klar: Erinnern, um daraus zu lernen. Eine riesige Weltkarte ist da an einer Wand angebracht, ein Mosaik zusammengesetzt aus Fotos von Verbrechen und Unrecht überall auf der Welt. Darunter einzelne Schilder, welche Wahrheitskommissionen aus der ganzen Welt exemplarisch vorstellen. Gegenüber eine Vitrine, in der die Ergebnisse der chilenischen Wahrheitskommissionen ausgestellt liegen und darüber der Hinweis, dass die Ausstellung auf diesen Berichten fußt.
Die Wahrheit der Vergangenheit als Herausforderung für die Zukunft, so die Worte der Präsidentin, die zentral in dieser Halle prangen. Doch welche Vergangenheit wird in diesem Museum eigentlich erzählt?
Alles begann am 11. September 1973, diese Botschaft vermittelt die Ausstellung. In der ersten Etage setzt sie die Schau der der Diktaturzeit unmittelbar mit dem Putsch ein, das Davor wird nicht mit einem Wort erwähnt. Schon die Treppe in das Erinnerungsreich der Diktatur ist mit einer überdimensionalen Monumentalfotografie an der Wand gesäumt. Darauf Soldaten, welche die Moneda, den Regierungspalast stürmen.
Der Putsch als Zäsur, als negative Stunde Null. Der Tag, an dem die Demokratie verschwand. Minutiös im wahrsten Sinne des Wortes erzählt ein Zeitdiagramm den Verlauf des Tages nach, untermauert von einer Video-Audio-Installation, die Töne und Bilder dazu liefert. Zu sehen ist die Flotte vor Valparaíso, welche sich im Morgengrauen gegen die Regierung erhob. Helikopter über dem Regierungsviertel, Menschen, die in Panik flüchten. Soldaten mit Maschinengewehren. Die Worte Pinochets sind zu hören, der sich als Putschist zu erkennen gibt. Die letzte Radioansprache Allendes, in der er das chilenische Volk beschwört, nicht aufzugeben, er würde nicht weichen bis zum letzten Augenblick. Bilder des toten Allende in der Moneda. Auf anderen Bildschirmen sind die Meldungen der internationalen Tagespresse zu lesen.
Auf diese breite Darstellung des Putsches folgen Räume, welche die Konsequenzen des Putsches zeigen: Die Zeit der Dekrete, der vollkommenen Unterwanderung jeder demokratischen Institution wird in einem Bereich thematisiert. Von der Geschichte des Exils – für viele Chilenen der einzige Ausweg –erzählt ein weiterer Raum. Das düsterste Kapitel der chilenischen Diktatur wird im „Raum der Folter und des Todes“ aufgeschlagen, an einer Wand zeigen LED-Lampen auf einer Landkarte von Chile die zahlreichen Gefängnisse und Konzentrationslager, in den Vitrinen liegen die häufig letzten Zeugnisse der Gefangenen. Dem Schicksal der Kinder in der Diktatur ist ein spezieller Bereich gewidmet, in den Vitrinen liegen Zeichnungen mit Familien, in leuchtenden Farben, graue Schattenfiguren im Hintergrund.
Auf der nächsten Etage schließen sich weitere Stationen an: die Suche nach den Verschwundenen, die Gründung von Protest – und Hilfsorganisationen, die internationale Solidarität mit Chile und schließlich und endlich das Ende der Diktatur. Das letzte Kapitel endet mit der Kampagne des SÍ oder NO zum Verbleib Pinochets: 1988 plädierte das chilenische Volk mit fast 56% knapp für eine demokratische Nachfolge und gegen eine weitere Amtszeit Pinochets. Ein geteiltes Chile, bis auf den heutigen Tag. Eine letzte Videoinstallation führt das vor Augen: eine Landschaft, Felsen am Meer, geteilt in der Mitte und leicht verschoben ihre Teile in zwei verschiedenen Farbtönen. Weizenähren, die in der Mitte voneinander streben und nicht aufeinander passen wollen.
Geteilt waren auch die Meinungen zum Putsch als unmittelbarem Einstieg. Noch eine Woche vor der Eröffnung sorgte dies für Konfliktstoff innerhalb des Direktoriums im Museum selbst. Eine ausgebreitete Darstellung der Umstände vor 1973 sei nötig, wie der Direktor des chilenischen Instituts für Öffentlichkeitsstudien (CEP), Arturo Fontaine, durchsickern ließ. Eine Beschränkung auf die Terrorzeit der Diktatur forderten die anderen und pochten auf die Satzung des Museums, in welcher diese Zäsur festgehalten war.
Die Kritik kam nach der Eröffnung des Museums von vielen Seiten. Beispielsweise in dem offenen Brief des rechtskonservativen Abgeordneten Cristián Monckeberg, der darin die fehlende Kontextualisierung des Putsches bemängelte und stattdessen die Ursachen dargestellt wissen wollte, die zum politischen Chaos geführt hätten. Wer die Antworten auf diesen Leserbrief im Blog liest, dem stockt der Atem. Häufigster Vorwurf ist, das Museum erkläre nicht, wie und warum es zum Putsch 1973 kommen konnte, warum er gewissermaßen unvermeidbar war. Das Museum der Halbwahrheiten, kritisierte ein Blogger. Das Museum rufe nur Emotionen hervor, die den Hass nähren, die Vernunft und historische Wahrheit suche man vergeblich, schreibt ein anderer. Der Putsch wäre unvermeidbar gewesen. Bedrohungsszenarien von kommunistischer Unterwanderung werden heraufbeschworen, oder die Frage, was wäre gewesen, wenn das Militär nicht geputscht hätte. Bürgerkrieg? Kubanisches Modell?
Lieber habe man den Putsch und die Diktatur dafür in Kauf genommen. Von linker Seite wurde vorgebracht, dass es vor allem ein Museum der Opfer ist, die Geschichte des (organisierten) Widerstands würde darin kaum erwähnt, so Juana Aguilera Jaramilo, Gründungsmitglied und eine der Hauptfiguren der Ethischen Kommission gegen die Folter. Dies bleibe einem anderen Museum vorbehalten. Andere halten der Kritik des fehlenden Kontexts entgegen, das Museum wolle keine Interpretation der Ereignisse vornehmen, sondern sei in erster Linie dem Gedenken an die Opfer gewidmet. Nur geht das überhaupt – die Darstellung der Gewaltverbrechen, ohne eine Interpretation vorzunehmen? Es scheint so, als habe man dafür die konfliktreiche Betrachtung der Allendezeit umschiffen müssen.
Das zentrale Anliegen des Museums ist das Gedenken an die Opfer der Diktatur, dies spiegelt sich auch in seiner Architektur wider. Im Mittelpunkt des Gebäudes steht das Hauptschiff, ähnlich einer gotischen Kapelle. Darin erstreckt sich über alle drei Etagen eine riesige Wand des Gedenkens, an der 1600 Fotos von Verschwundenen hängen. Zwischen ihnen weiße und schwarze Rahmen, die sind leer. Sie verweisen auf das unbekannte Schicksal vieler Verschwundener. Gegenüber der Wand ein gläserner Raum, eine Gedenkkapelle, die am Boden ringsum mit flackernden Leuchtstäben versehen ist. In der Umgangssprache der Museumsmitarbeiter wird dieser Raum velatón genannt, in Analogie zu den in Chile praktizierten Kerzenmessen für die Verschwundenen.
Gedenken und Suche, das soll der Blick aus der Glaskapelle auf die Fotowand erreichen. Unterstützt wird die Suchbewegung durch den Computermonitor in der Mitte der Kapelle, in ihm sind die Namen von 3200 bekannten Verschwundenen gelistet. Angehörige und Bekannte können „ihren“ Verschwundenen ausfindig machen und ihn dann auf der Fotowand suchen.
„Manche Menschen kommen zu Besuch, sitzen dann hier auf dem Boden und tasten über Stunden die Fotowand mit den Augen ab“, so die Kuratorin der Ausstellung, Jimena Bravo. Das Ziel dieses Ensembles sei eine gemeinsame Konstruktion der Vergangenheit, die Suche nach dem Abwesenden. Denn wenn Angehörige den Namen eines Verschwundenen zwar im Computer finden, aber an der Wand sein Bild nicht entdecken, können sie ein Foto einreichen. Denkmal im Bau – das ist die Idee. In den ersten drei Wochen seit der Eröffnung sind bereits zehn Fotos eingegangen, um die Wand zu ergänzen. Jedes halbe Jahr sollen die eingereichten Fotos an der Wand installiert werden – Geschichte, die niemals enden wird. Vielleicht die passendste Symbolik im ganzen Museum, um die offene Wunde der Diktatur zu verdeutlichen.
Es stellt sich Frage, ob es einen Wandel im Museumskonzept geben wird, wenn Sebastián Piñera im März die Präsidentschaft antreten wird. In Piñeras Koalition mit ihren tendenziell pinochetnahen Parteien dürfte es viele Kritiker an der Darstellung der Diktaturzeit geben, soviel ist sicher. Und mit dem Regierungsantritt steht in Chile die Neubesetzung aller höheren Ämter zur Disposition. Davor ist das Museum insofern geschützt, als das es durch eine eigene Stiftung vertreten ist, die unabhängig von der Regierung Entscheidungen treffen kann. Niemand könne die Essenz der Ausstellung verändern, so Geschäftsführerin des Museums Maria Luisa Sepúlveda. Was zum Problem werden kann, ist die jährliche Neubestimmung des Etats in den staatlichen Ausschüssen.
Im Nachhinein wirkt die Eröffnung in Anwesenheit aller ehemaligen Präsidenten seit 1990 wie ein Schlussstein auf die zwanzigjährige Regierungsära der Concertación, insbesondere ihrer Vergangenheitsperspektive. Bleibt die Frage, ob die neue Regierungskoalition dieses Bollwerk concertacionistischer Geschichtsbetrachtung in den nächsten vier Jahren unbehelligt lassen wird. „Liebe Präsidentin“ – heißt es da im Besucherbuch – „hoffentlich müssen wir 2014 keinen weiteren Raum einweihen, einen der schlechten Erinnerungen an 2010.“

Kasten:

Die Erinnerungspolitik der Concertación
Unmittelbar nach dem Ende der Diktatur 1990 setzte der 1. demokratische Präsident Aylwin die Kommission für Wahrheit und Versöhnung (Rettig) ein, die in ihrem Bericht NUNCA MÁS! (Nie wieder!) 2296 Fälle von Verschwundenen auflistete. Der Bericht löste allerdings weder eine umfassende gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema aus, noch zog er juristische Konsequenzen nach sich. Mit dem 30. Jahrestag des Putsches 2003 fand erstmals eine breite öffentliche Debatte über den Putsch statt, in der vor allem die Vorzeit des Putsches und die Figur Allendes zu Streitthemen wurden. Im November 2004 brachte die zweite Wahrheitskommission gegen Haft und Folter (Valech) einen weiteren Bericht heraus, der 27.255 Fälle systematischer Folter feststellte. Mit dem Tod Pinochets flammte erneut die Debatte um den Putsch 1973 auf, den die Militärs und Konservativen als unvermeidbaren Ausweg aus der konfliktreichen Allendezeit sahen und die nachfolgende Diktatur als gesellschaftlich-wirtschaftliche Modernisierungsphase darstellten.

Der Unternehmerpräsident

Am Ende gab es doch keine Überraschung. Den letzten Umfragen zu Folge war der zeitweilig enorme Vorsprung von Sebastián Piñera zwar auf nur ein bis vier Prozent geschrumpft. Die Wahl entschied der Milliardär am Ende mit 51,61 Prozent der abgegebenen Stimmen dennoch für sich. Somit kann der Kandidat des rechten Parteienbündinsses Koalition für den Wandel, der bei früheren Wahlen schon zwei Mal gescheitert war, im März das Präsidentenamt übernehmen.
Piñera gilt als der viertreichste Chilene und besitzt neben Anteilen an der nationalen Fluggesellschaft LAN den beliebten Fußballverein Colo-Colo und den Fernsehsender Chilevisión. Diese unternehmerischen Umtriebe haben ihm auch die Bezeichnung „Berlusconi Chiles“ eingebracht. Den Grundstein für sein Vermögen legte er während der Militärdiktatur Augusto Pinochets, indem er das Kreditkartenwesen in Chile einführte. Piñera kündigte nun an, seine Anteile an LAN zu verkaufen. Seinen Fernsehsender wird er jedoch behalten.
Der unterlegene Kandidat Eduardo Frei der 48,39 Prozent der Stimmen bekam, erkannte noch in der Wahlnacht seine Niederlage an und sprach seine Hoffnung auf eine konstruktive Zusammenarbeit mit der neuen Regierung aus. Die meisten BeobachterInnen führen die Wahlniederlage der bisherigen Regierungskoalition Concertación vor allem darauf zurück, dass sie es in 20 Jahren nicht geschafft hat, die zentralen Problem des Landes zu beheben. Sogar die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der Chile erst kürzlich beigetreten ist, forderte das Land dazu auf, gegen die noch immer sehr großen sozialen Ungleichheiten vorzugehen. Dennoch ist es erstaunlich, dass die Concertación die Zustimmungswerte von über 80 Prozent, die die noch amtierende Präsidentin Michelle Bachelet erreichte, nicht in einen Wahlsieg umwandeln konnte.
Das mag auch daran liegen, dass deren Kandidat Eduardo Frei, der von 1994 bis 2000 bereits einmal Präsident in Chile war, nicht für den grundlegenden Wandel steht, den sich viele ChilenInnen trotz der Zustimmung zu Bachelet wünschten. Michelle Bachelet selber konnte nicht noch einmal antreten, da die chilenische Verfassung zwei direkt aufeinander folgende Legislaturperioden unter einem Präsidenten verbietet.
Ein weiterer Grund für die Niederlage der Concertación ist möglicherweise auch darin zu suchen, dass sich der unabhängige Kandidat Marco Enríquez-Ominami, der im ersten Wahlgang 20,14% der Stimmen auf sich vereinen konnte, erst spät eine Wahlempfehlung für Frei aussprach. Jorge Arrate, der Kandidat des linken Parteienbündnisses Junto Podemos („Zusammen können wir es“) hatte seine WählerInnen bereits unmittelbar nach dem ersten Urnengang dazu aufgerufen, in der Stichwahl für Frei zu stimmen. Im ersten Wahlgang hatte Arrate 6,21 Prozent der Stimmen bekommen. Ominami, ein ehemaliges Mitglied der Sozialistischen Partei Chiles, die auch der Concertación angehört, hatte eine personelle Verjüngung des Parteienbündnisses gefordert. Für eine solche Erneuerung hätten die Parteien nun Zeit, da sie die kommenden vier Jahre in der Opposition verbringen werden.
Außenpolitisch dürften sich unter Piñeras Führung die Beziehungen zu Venezuela am schwierigsten gestalten. Noch im Wahlkampf hatte er behauptet, Venezuela sei keine Demokratie. Im Gegenzug äußerte der venezolanische Präsident Hugo Chávez seine Zweifel, ob ein Unternehmer Präsident eines Landes sein sollte. Er betonte jedoch, dass er sich nicht in die inneren Angelegenheiten Chiles einmischen werde und dasselbe von der kommenden chilenischen Regierung erwarte. Als Präsident wird Piñera seine Rhetorik gegenüber der venezolanischen Regierung vermutlich abschwächen. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass der Unternehmer den Schulterschluss mit den USA und den rechten Regierungen Lateinamerikas suchen wird. So waren es auch die konservativen Präsidenten Perus und Kolumbiens, die Piñera als erste noch in der Wahlnacht zu seinem Triumph beglückwünschten.
Die Reaktionen innerhalb Chiles fielen je nach politischem Lager sehr unterschiedlich aus. Die nationale Handelskammer forderte nach der Wahl eine Senkung des Mindestlohns für 18 bis 21 Jährige, sowie eine arbeitsrechtliche Flexibilisierungen. Der zentrale Dachverband der Gewerkschaften CUT warnte hingegen vor Einschnitten bei ArbeitnehmerInnenrechten. In einem Interview mit der chilenischen Tageszeitung La Nación entgegnete der CUT-Vorsitzende Arturo Martínez: „Die Arbeitgeber trauen sich nun die Barbareien auszusprechen, die sie vorher nicht öffentlich zu machen wagten. Sie fühlen sich durch den Sieg eines der Ihren geschützt.“
Ebenso kritisch betrachten Menschenrechtsbewegungen den designierten Regierungschef. Die Vereinigung der Angehörigen von Verschwundenen (AFDD) wirft Piñera in Bezug auf den Umgang mit der Militärdiktatur Doppelzüngigkeit vor. Vor der Wahl betonte er, gegen die Diktatur gewesen zu sein. Und er kündigte an, wer Menschenrechtsverletzungen zu verantworten habe, werde vor Gericht gestellt. Mitglieder der Militärregierung, die sich keiner Verbrechen schuldig gemacht hätten, könnten hingegen Posten in der Regierung besetzen. Darüber hinaus habe der Unternehmer vor der Wahl zugesichert, die Prozesse gegen Angehörige der Militärdiktatur würden unter seiner Regierung zu Ende gebracht. Die AFDD sieht darin „eine Weichenstellung für die Straffreiheit“.
Auch der von der Vorgängerregierung geerbte Mapuche-Konflikt dürfte einiges an Sprengkraft besitzen. Im Wahlkampf hatte Piñera angekündigt, mit ihm werde es eine „erneute Befriedung der Araucania“ geben, womit er auf die Okkupation des Mapuche-Territoriums durch den chilenischen Staat 1881 anspielte..
Ansonsten hat Piñera im Wahlkampf zwar einerseits für einen Wandel plädiert, sich andererseits aber für eine Fortführung der Politik der Regierung Bachelet ausgesprochen. Eine grundlegender Politikwechsel ist mit Piñera somit nicht zu erwarten. Wie alle Präsidenten seit dem Ende der Diktatur ist er Anhänger des neoliberalen Modells. Dieses könnte lediglich noch konsequenter angewandt werden als unter der Concertación. So soll zum Beispiel der Anteil privater Investoren am größten staatlichen Bergbauunternehmen Codelco angehoben werden. Noch in der Wahlnacht hatte der frisch gewählte Präsident kundgetan, wohin die Reise seiner Meinung nach gehen soll. Chile brauche einen „effizienten Staat, mit viel Muskeln und wenig Fett“.

Einzelne Gewaltherde oder ein ganzer Bürgerkrieg

Irgendwann in den kommenden Wochen wird Jorge Luchsinger um eine Million Dollar reicher sein. Etwa so viel beträgt umgerechnet der Kaufpreis, den die chilenische Behörde für indigene Entwicklung (CONADI) dem Landwirt schweizerischer Abstammung für den Fundo Santa Margarita zahlen wird. Wenn Luchsinger sein Landgut endgültig räumt, geht zumindest auf diesen 230 Hektar ein jahrelanger Kampf zu Ende. Die Fläche im Osten der südchilenischen Stadt Temuco wird von der CONADI für die comunidad „Juan Catrilaf II“ erworben, eine Gemeinschaft von 50 Mapuche-Familien, die sich im Moment noch 113 Hektar teilen.
Neben einigen anderen Anwesen war Santa Margarita in den vergangenen Jahren immer wieder von Mitgliedern benachbarter Mapuche-Gemeinschaften besetzt worden, die das Land als angestammtes Siedlungsgebiet betrachten. Bei einer dieser Besetzungen am 3. Januar 2008, starb der 22-jährige Student Matías Catrileo durch einen Schuss in den Rücken. Die Kugel stammte aus der Waffe eines Polizisten. Seit diesem Ereignis ist die Kette aus Protesten und Besetzungen sowie teilweise brutalen Polizeieinsätzen nicht mehr abgerissen.
Dieser „Rückkauf“ von Land ist kein Sonderfall, sondern ein zentrales Handlungsfeld der CONADI. Seit ihrer Gründung im Jahr 1994 hat die Behörde fast 700.000 Hektar an mehr als 11.000 indigene Familien übertragen, teils aus staatlichem Besitz, teils durch den Erwerb von privaten Eigentümern oder Forstunternehmen. Trotzdem gerät der „Mapuche-Konflikt“, wie ihn die Medien nennen, immer mehr außer Kontrolle. Viele Indigene betrachten Umfang und Qualität der Flächen als unzureichend, der Prozess dauert ihnen zu lange. Ein zahlenmäßig kleine Fraktion radikaler Mapuche-AktivistInnen, allen voran die Gruppierung Coordinadora Arauco-Malleco (CAM), greift auch zu Mitteln, die die Symbolik einer Landbesetzung deutlich übersteigen: Auf der Panamericana-Autobahn, die die Araucanía, das Mapuche-Kernland, durchschneidet, werden immer wieder Lastwagen oder Mautstellen angegriffen. Im vergangenen Juli wurde ein Reisebus mit Waffengewalt gestoppt, die Fahrgäste eingeschüchtert und das Gepäck geraubt.
Auf der anderen Seite beklagen Mapuche-Gemeinschaften die Anwendung des unter Pinochet erlassenen Anti-Terror-Gesetzes gegen Aktivisten sowie die Brutalität der militärisch organisierten Polizei, die – durch Hundertschaften aus Santiago und anderen Regionen verstärkt – privaten Landbesitz in der Araucanía-Region schützt. Immer wieder kommt es zu Razzien in den comunidades, bei denen laut Berichten von Betroffenen auch Kinder und alte Menschen mit Tritten und Schlägen traktiert, beleidigt und bedroht werden.
Im Oktober baten die Indigenen den Vetreter des UN-Kinderfonds Unicef in Chile, Gary Stahl, um Unterstützung. Stahl bereiste die Araucanía und sprach mit VertreterInnen staatlicher Behörden sowie der Mapuche-Gemeinschaften. Sein Fazit: Vieles deute daraufhin, dass Chiles Polizei die Kinderrechtskonvention verletze. Allerdings, so Stahl, fehlten unabhängige Zeugenaussagen, die seiner Organisation ein formales Einschreiten ermögliche. Die Regierung präsentierte dem Unicef-Mann ihrerseits Videoaufnahmen, um zu belegen, dass radikale Mapuche ihre Kinder bei Auseinandersetzungen mit der Polizei als „menschliche Schutzschilde“ missbrauchen.
Einen weiteren traurigen Höhepunkt erreichte der Konflikt am 12. August: Bei einer Besetzung des Landguts San Sebastián in der Gemeinde Ercilla erschoss ein Mitglied polizeilicher Sondertruppen den 24-jährigen Mapuche Jaime Mendoza. Wie seinerzeit Catrileo traf die tödliche Kugel auch Mendoza in den Rücken. „In Selbstverteidigung“ habe er gehandelt, sagte der verantwortliche Polizist später aus. Tatsächlich war er von vielen Schrotkugeln getroffen worden – aber sein Opfer befand sich zweifelsfrei auf der Flucht.
Mit personellen Umbesetzungen und Dialogangeboten versucht die sozialdemokratische Regierung von Michelle Bachelet, der Wut und der Frustration unter den Mapuche etwas mehr als nur Gewalt entgegenzusetzen – mit bescheidenem Erfolg. Ihr neuer Sonderbeauftragter für „indigene Angelegenheiten“, Minister Antonio Viera-Gallo, bereist Woche für Woche die Krisenregion, um mit den Beteiligten zu sprechen. Am Ende stehen beschwichtigende Statements: „Wir müssen akzeptieren, dass es dieses Problem gibt, aber wir dürfen es nicht künstlich aufblasen“, so Viera-Gallo. „Es gibt in der Araucanía vereinzelte Gewaltherde, aber keinen Bürgerkrieg.“ Radikale Gruppen sehen das anders. Zuletzt rief eine mutmaßlich von der CAM unterzeichnete Erklärung zum „Krieg gegen den chilenischen Staat“ und zur „Rückeroberung“ von allem Land südlich des Bío-Bío-Flusses auf.
Der Bío-Bío markierte lange die Grenze zwischen dem spanisch-mestizischen Chile und dem Gebiet der Mapuche, die sich einer Usurpation erfolgreich widersetzten – bis in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ihr Territorium im Zuge der „Befriedung der Araucanía“ militärisch dem Staatsgebiet einverleibt und wirtschaftlich erschlossen wurde. Die rund 200.000 Mapuche, die damals hier lebten, wurden auf mehrere tausend sogenannte comunidades verteilt. Heute zählt die offizielle Statistik 600.000 Mapuche, von denen ein großer Teil in der Hauptstadt Santiago lebt. Die Zahl aus dem Jahr 2002 ist umstritten. Zehn Jahre zuvor hatten sich bei einer Volkszählung über 900.000 ChilenInnen als Mapuche bezeichnet, und manche Nichtregierungsorganisationen (NRO) sprechen sogar von 1,4 Millionen. Den Rückgang halten KritikerInnen für einen „statistischen Genozid“, der den Forderungen der Indigenen die Legitimität rauben soll.
Tatsächlich ist keineswegs abschließend geklärt, wer in Chile Mapuche ist und wer nicht. Sprache und Tradition pflegen nur noch wenige Hunderttausend, viele Mapuche-Namen sind im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen oder hispanisiert worden. Konservative HistorikerInnen behaupten gern, die meisten Mapuche seien in Wirklichkeit genauso Mestizen wie die übrigen Chilenen. Kein Zweifel kann allerdings daran bestehen, dass heute auch in der Araucanía die Nicht-Mapuche eine deutliche Bevölkerungsmehrheit stellen – weshalb der Sonderbeauftragte Viera-Gallo die immer lauter erhobene Forderung nach territorialer Selbstverwaltung für ein Hirngespinst hält: Da müsse vorher schon eine „ethnische Säuberung“ zugunsten der Mapuche stattfinden, so der Minister sarkastisch.
Radikale Indigenen-VertreterInnen orientieren sich aber in der Tat an den nationalistischen Gruppierungen Spaniens. Es bestehen Kontakte zur baskischen Batasuna und zur katalanischen Esquerra. „Wenn es in Spanien ein Baskenland gibt, warum dann nicht innerhalb Chiles ein Mapucheland?“, fragt der Vorsitzende der im vergangenen Jahr gegründeten Mapuche-Partei Wallmapuwen, Pedro Quilaqueo. Auch der Vorsitzende der CAM, Héctor Llaitul, der wegen mutmaßlicher Vorbereitung eines Attentats in Untersuchungshaft sitzt, beruft sich auf das baskische Autonomiemodell – weshalb rechte Medien gerne das Horrorszenario zeichnen, die CAM und andere Gruppen würden von der ETA trainiert oder gar ausgerüstet.
Aber auch UnterstützerInnen der Mapuche bietet der Konflikt eine Projektionsfläche: Mal wird die staatliche Gewalt gegen die Indigenen mit dem Naziterror gegen die Juden gleichgesetzt, dann wieder wird eine Parallele zum Nahost-Konflikt gezogen: Wenn die Regierung die Mapuche beschuldige, Kinder als Schutzschilde zu missbrauchen, „entspricht das genau dem Vorgehen der israelischen Streitkräfte gegen die Palästinenser“, so Alvaro Ramis, Vorsitzender des NGO-Netzwerks Acción. „Das Ziel ist es, die Opfer zu Tätern zu machen, ihnen die Schuld an der gegen sie gerichteten Aggression zuzuschieben.“
Solche Vergleiche sind leicht bis stark überzogen. Um die Wut zu verstehen, die sich bei vielen Mapuche aufstaut, reicht aber oft ein Blick in die Leserkommentare der Online-Zeitungen, in denen sich der immer noch präsente, heftige Rassismus gegen die Mapuche ausdrückt. Und auch wenn im derzeitigen Präsidentschaftswahlkampf alle Kandidaten versprechen, Chiles indigenen Völkern Verfassungsrang einzuräumen – eine Aussage wie die des rechten Bewerbers Sebastián Piñera, mit ihm werde es eine neue „Befriedung der Araucanía“ geben, stößt den Mapuche äußerst bitter auf.

„Der Staat schafft sich selbst ein schwerwiegendes Problem“
Interview mit José Llancapan vom Leitungsgremium der Nationalen
Gesellschaft für indigene Entwicklung (CONADI)

Herr Llancapan, Sie wurden vor zehn Jahren in die Leitung der CONADI gewählt. Haben Sie erwartet, dass der Land-Konflikt in Chile derart eskalieren würde?
Uns als Mapuche-AktivistInnen war klar, dass das kommen würde, es war nur eine Frage der Zeit. Viele Mapuche hatten früher Angst. Man hat ihnen Land gestohlen, man hat sie betrogen und bedroht, oft mit Billigung der jeweiligen Regierung. Das hat sich geändert. Auch die Kommunikation untereinander und der Zugang zu Medien ist viel einfacher geworden. Heute haben junge Mapuche die Chance, viel mehr über die eigene Geschichte zu erfahren. Etwa, dass die sogenannte Befriedung der Araucanía in Wirklichkeit ein Vernichtungskrieg war.

Und wenn Sie in die Zukunft blicken: Wird sich der Mapuche-Konflikt entschärfen oder noch weiter zuspitzen?
Betrachten wir mal die positiven Aspekte: Heute gibt es viele Mapuche, die studieren und Berufsausbildungen absolvieren. Das wird uns ermöglichen, unsere Interessen besser zu artikulieren und politisch sowie juristisch durchzusetzen. Auf der negativen Seite der Bilanz steht die Erfahrung von Gewalt, die viele Mapuche in der Araucanía tagtäglich machen. In vielen comunidades führt die Polizei regelmäßige Razzien durch. Die Kinder von heute erleben, wie ihre Eltern geschlagen und gedemütigt werden. Wie werden sich diese Kinder als junge Erwachsene verhalten? Der Staat schafft sich damit selbst ein schwerwiegendes Problem.

Was hätten die Regierungen der Concertación tun können, um diese Zuspitzung zu vermeiden?
Die Regierungen haben in erster Linie ein Finanzierungsproblem, das zum Teil auf ihre eigene Politik zurückgeht. Die Landkäufe durch die CONADI haben Spekulation und Preistreiberei ausgelöst. Ein Hektar Land in der Araucanía kostet heute bis zu zehnmal mehr, als in den 1990er Jahren. Weil die CONADI deswegen noch lange nicht mehr Mittel zur Verfügung hat, wird viel weniger Fläche an die Mapuche übertragen, als eigentlich notwendig wäre.

Wie werden die Indigenen heute von der Mehrheitsgesellschaft in Chile behandelt? Leiden sie unter demselben Rassismus wie früher?
Natürlich gibt es noch Rassismus, das lässt sich nicht bestreiten. Aber in den vergangenen Jahren hat sich die Situation etwas verbessert. Einerseits sind die Mapuche stärker in die Gesellschaft integriert, andererseits ist ihr Selbstbewusstsein gewachsen. Früher haben sich viele dafür geschämt, Indigene zu sein, heute sind sie darauf eher stolz. Es ist noch nicht lange her, da sprach man in Chile von den Mapuche wie von einem ausgestorbenen Stamm, einem historischen Phänomen. Heute sind wir präsent. In vielen Stadtteilen von Santiago werden heutzutage öffentlich nguillatunes, die religiösen Zeremonien unseres Volkes, gefeiert. Auch unser Volkssport, die chueca, wird in Santiago gespielt. Das wäre vor 15 Jahren noch undenkbar gewesen. Wir sind sichtbarer geworden.

Macht es aus Sicht der Indigenen einen Unterschied, wer Chile ab 2010 regiert?
Für uns Mapuche würde es mit einer rechten Regierung unter Sebastián Piñera noch schwieriger. Das Anti-Terror-Gesetz käme nach meiner Einschätzung noch häufiger zur Anwendung. Für Piñera ist der Mapuche-Konflikt darüber hinaus ein reines Armutsproblem. Aber letztendlich geht es hier um viel mehr als nur um Geld.

// Interview: Claudius Prößer

Blutroter Teppich für Investoren

Den eigenen Augen war nur schwer zu trauen. In einem Interview Mitte Juni mit der regierungsfreundlichen Zeitung El Comercio äußerte sich Premierminister Yehude Simon: „Hätten wir vom ersten Tag an mit wirklicher Stärke agiert, dann hätte es 500 Tote gegeben.“ Ein paar Tage zuvor, am 5. Juni, hatte eine mehrere hundert Mann starke Sondereinheit der Polizei im Norden des Landes, im Departamento Amazonas, eine friedliche Straßenblockade von tausenden Indigenen mit Tränengas und scharfer Munition brutal aufgelöst (siehe Kasten). Die offiziellen Zahlen der staatlichen Ombudsstelle (Defensoría del Pueblo) sprechen von insgesamt 33 Toten: 23 Polizisten, fünf Indigene und fünf Einwohner von Bagua Chica. Um die zweihundert Indigene und Polizisten trugen schwerste Verletzungen durch den Einsatz von Schusswaffen davon. Noch immer werden zahlreiche Angehörige indigener Gemeinschaften vermisst, die an den Protesten teilnahmen, bisher aber nicht in ihre Heimatgemeinden zurückgekehrt sind. Vermisst wird weiterhin auch ein Polizist.
Simon trat sein Amt erst im Oktober des letzten Jahres an. Noch im Juli will er es nach eigener Aussage wieder aufgeben. Die Geschehnisse in Bagua fordern dann doch Tribut. Seinen Ausstieg bereitet Simon kontrolliert vor, denn spätestens für den Wahlkampf der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2011 will er die politische Bühne wieder betreten. Die eigene Partei trägt den vielversprechenden Namen Partei Humanistische Bewegung.
Ein interessanter Satz fand sich am 5. Juni in einem Artikel der Tageszeitung La Republica: „Während das Amazonasgebiet kurz vor der Explosion steht, verschieben die Abgeordneten im Parlament jede Möglichkeit einer Lösung des Konfliktes.“ Was wie eine Prophezeiung für den Gewaltausbruch am selben Tag klang, war im Kern auf eine Sitzung des Parlamentes in Lima vom Vortag gemünzt. Teile der politischen Elite spielten mit den Interessen und Rechten der EinwohnerInnen des peruanischen Amazonasgebietes. Nach langen Verhandlungen zwischen Regierung, Parlament und den Verhandlungsführern von AIDESEP, der amazonischen Dachorganisation der Indigenen, sollte im Parlament über den Widerruf eines der zentralen Regierungsdekrete, dem Forst- und Wildtiergesetz, abgestimmt werden. Gegen dieses hatte sich seit Anfang April wieder massive Proteste im Amazonasgebiet geregt. Nach mehreren Monaten war die parlamentarische Kommission für Verfassungsfragen zu der Erkenntnis gekommen, dass dieses Dekret verfassungswidrig sei. Doch zur Debatte kam es nicht. Mit einer trickreichen Eingabe gelang es der Fraktion der regierenden APRA-Partei von Präsident Alan García, eine Entscheidung zu vermeiden. Die Mehrheit der Stimmen aus APRA und Fujimori-Block reichte aus, um das Gesetz an einen außerparlamentarischen Runden Tisch verweisen – erneut weg von der Entscheidungsebene des Parlamentes. Indigene Interessen wurden so erneut zum Spielball zwischen Exekutive und Legislative.
Der Streik und die Proteste in großen Teilen des peruanischen Amazonasgebietes blieben seit Anfang April weitestgehend friedlich. Zehntausende Angehörige indigener Gemeinschaften waren mobilisiert. Sie blockierten Straßen und sogar Flüsse, besetzten Förderstationen von Erdöl- und Erdgasleitungen. Große Teile des Landes waren dadurch lahm gelegt, die Versorgungslage gestaltete sich vielerorts schwierig. Im Mai erklärte die Regierung per Dekret für mehrere Gebiete den Ausnahmezustand. Damit sollten explizit auch wirtschaftliche Interessen von Unternehmen geschützt werden, während Grundrechte der Bevölkerung ausgehebelt wurden. Das Militär erhielt dadurch das Mandat zu intervenieren und löste unter anderem Flussblockaden gewaltsam auf, um den Ölunternehmen freie Fahrt zu ermöglichen.
Mit ihren Aktionen und Blockaden protestierten die indigenen Gruppen gegen jene Regierungsdekrete, die in der ersten Hälfte des Jahres 2008 von der Regierung direkt verabschiedet worden waren. Das Parlament hatte ihr Ende Dezember 2007 für einen Zeitraum von 180 Tagen direkte Gesetzgebungskompetenzen zuerkannt. Diese Möglichkeiten, Gesetze im Schnellverfahren zu produzieren, sollte die Regierung nutzen, um in verschiedenen Bereichen den nationalen gesetzlichen Rahmen entsprechend den Erfordernissen des Freihandelsabkommens mit den USA anzupassen. Unter anderem kam es so auch zur Gründung eines – allerdings chronisch unterfinanzierten – peruanischen Umweltministeriums. Doch die Regierung ging zuweilen über das erteilte Mandat und sogar über die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten hinaus, wie eine Studie des Verfassungsrechtlers Fernando Eguiguren aus dem August 2008 belegt.
Am Ende entstand ein Gesetzeswerk von mehr als 100 Dekreten. Viele von ihnen berührten indigene Territorien und die Rechte indigener Gemeinschaften, ohne dass diese zuvor konsultiert oder informiert wurden. Und dies obwohl Peru die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorgansiation (ILO) über die Rechte indigener Völker 1993 ratifiziert hat: Die Umsetzung in nationales Recht steht noch immer aus. Auch das Parlament wurde trotz einer bestehenden Vereinbarung mit der Regierung nicht wie geplant über die kreierten Gesetze informiert.
Eine Gesamtschau der Regierungsdekrete vermittelte den Eindruck, hier gehe es größtenteils um reine Investitionsförderung. Zustimmungsquoten für den Landverkauf bäuerlicher und indigener Gemeinschaften sollten reduziert, die Zustimmung von Gemeinden, die Firmen einholen müssen, wenn sie auf dem Gebiet der Gemeinden Rohstoffvorkommen erkunden oder Rohstoffe fördern wollen, sollte hinfällig werden. Das neue Forst- und Wildtierdekret wiederum bezog auch indigene Territorien mit ein und schloss dort den Nutzungswechsel von Wald- zu landwirtschaftlicher Nutzung explizit nicht aus, wenn es um Projekte nationalem Interesses geht. So liesse sich produktive Waldfläche beispielsweise für den Anbau von Agrokraftstoffen umnutzen.
Die Liste der beanstandeten Regierungsdekrete war lang. Die ersten Proteste flammten bereits im August des letzten Jahres auf. Es folgte ein elftägiger Streik im Amazonasgebiet, der einen Teilerfolg brachte: Zwei der Dekrete, die den Erwerb von gemeinschaftlichem Land – bäuerlicher und indigener Gemeinden – für Investoren erleichtern sollten, wurden vom Parlament zurück genommen. Nur war mit der Rücknahme von nur zwei Dekreten der Konflikt nicht gelöst. Die Forderungen wurden aufrecht erhalten, doch die Verhandlungen zwischen den Parteien stockten immer wieder oder wurden verzögert. Als Druckmittel wurde schließlich Anfang April der zweite Amazonienstreik aufgerufen, der Anfang Juni im Blutbad von Bagua seinen negativen Höhepunkt fand. Wenige Tage später wurde er nach hektisch angesetzten Verhandlungen zwischen Regierung und mehreren VertreterInnen regionaler indigener Organsationen Amazoniens beendet. Alberto Pizango, Vorsitzender von AIDESEP saß da übrigens nicht mehr mit am Verhandlungstisch. Nachdem gegen ihn ein Haftbefehl wegen angeblicher Anstiftung zum Aufruhr während des Streiks veranlaßt wurde, konnte er sich noch in die nicaraguanische Botschaft flüchten, um Tage später in das politische Asyl des mittelamerikanischen Landes zu fliehen. Ein Auslieferungsbegehren der peruanischen Regierung ist jedoch wahrscheinlich.
Wer dachte, dass der brutale Polizeieinsatz ein Umdenken bei Regierung und Präsident in Lima auslösen würde, sah sich getäuscht. Zwei Tage nach dem Massaker in Bagua legte diese vielmehr nach. In einem perfiden Fernsehspot wurden die protestierenden Indigenen masiv herabgewürdigt. Sie seien Extremisten und Wilde, die Polizisten umgebracht hätten und aus dem Ausland – gemeint waren in erster Linie Venezuela und Bolivien – gesteuert würden. Einen friedlichen Dialog würden sie weder praktizieren können noch wollen. Präsident Alan García verstieg sich in einem Fernsehinterview sogar zu der Formulierung, die indigenen EinwohnerInnen des Amazonastieflandes seien eben keine BürgerInnen erster Klasse. Perus Präsident führte damit seinen rassistischen Diskurs fort, den er im Namen der Investitionsförderung bereits Ende 2007 aufnahm. In drei langen Artikeln in seinem damaligen Hausblatt El Comercio legte er dar, wie die indigenen EinwohnerInnen geizig auf ihren Bodenschätzen hocken, nicht wollen, dass andere sie fördern und selbst nicht in der Lage sind, sie zu entwickeln oder Investitionen zu tätigen.
Ein Schuldeingeständnis des Präsidenten gibt es bis heute nicht. In seiner Rede an die Nation Mitte Juni sprach er von Fehlern und einem Neustart, der gemacht werden müsse. Aber da war auch wieder der präsidiale Finger, der auf vermeintliche ausländische Agitatoren und Demagogen verwies, die die Proteste angeheizt und den eigentlichen Sinn der Dekrete – den Schutz (!) des Amazonasgebietes vor Entwaldung (so nannte es Garcia wirklich) – verzerrt dargestellt hätten.
Die beiden Dekrete, Auslöser für den jüngsten Amazonienstreik, wurden mittlerweile vom Parlament zurückgezogen. Während Umweltminister Antonio Brack nun am Jammern ist, das man ein neues Forstgesetz entwerfen müsste und bis dahin das Freihandelsabkommen mit den USA gefährdet sei, meldete sich jüngst der neoliberale Hardliner und ehemalige Ministerpräsident, Pedro Pablo Kuczynski, auf überraschende Weise zu Wort. Er äußerte, dass sich das Blutvergießen in Bagua mit einer rechtzeitigen Rücknahme der Dekrete hätte vermeiden lassen. Das Freihandelsabkommen mit den USA, das seit dem 1. Februar in Kraft ist, sieht er zwar nicht gefährdet, mahnt die politische Klasse aber zur Einheit und neuen Gesetzesentwürfen. Man darf gespannt sein, denn die Liste kritisierter Regierungsdekrete aus dem letzten Jahr ist noch immer nicht vollständig abgearbeitet.
Die weiteren Beratungen über die noch in der Diskussion stehenden Dekrete werden nun von einer neuen Kommission bearbeitet. Beteiligt sind neben verschiedenen Ministerien die regionalen Strukturen indigener amazonischer Organisationen. Inwiefern diese Stuktur arbeitsfähig ist und eine wirkliche Einbeziehung der indigenen Interessen leisten kann, muss sich erst noch erweisen. Bisher hat die Regierung keinen Nachweris erbracht, dass sie die vielen sozialen Konflikte im Land wirklich nachhaltig lösen will und kann. Erst in den letzten Tagen reiste noch-Minister­präsident Simon von Konfliktherd zu Konfliktherd: Es brennt an anderen Orten nämlich lichterloh weiter. Und das Vertrauen in die mit der jeweiligen Regierungsdelegation geschlossenen Übereinkünfte von Seiten der betroffenen Gruppen ist sehr gering.
Der Popularitätsfanatiker García ist unterdessen auf einem neuen Tiefpunkt angelangt. Nur noch rund 20 Prozent der PeruanerInnen unterstützen infolge der blutigen Ereignisse in Bagua nach jüngsten Umfragen seinen Regierungsstil. Die peruanische Ökonomie, die García noch im letzten Jahr als unanfällig für die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise gepriesen hatte, ist im Abwärtstrend. So war der April von einer Rezession von zwei Prozent gekennzeichnet. Und gesunde Vorsicht ist angebracht, wenn Alan García Fehler eingesteht und einen Neubeginn verkündet: Es könnten nämlich sehr leicht wieder die alten Fehler werden.

Kasten:
Die Ereignisse vom 5. Juni im Überblick
Um die zweitausend Indigene hatten seit Ende Mai in Höhe von Kilometer 200 der Fernstraße Belaunde Terry eine Straßenblockade errichtet. Der Streckenabschnitt liegt im Departamento Amazonas unweit der Kleinstadt Bagua (Chica). Die Straße ist eine wichtige Transportroute, welche die nördliche Küstenzone um Chiclayo mit dem nördlichen Amazonastiefland verbindet.
Am 5. Juni rückte in den frühen Morgenstunden eine Sondereinheit der Polizei gegen die Blockade vor. Die auf der Straße und im angrenzenden Feld nächtigenden Menschen wurden überrascht, denn noch am Vorabend waren zwischen Polizei, Indigenen und lokalen Kirchenvertretern Absprachen getroffen worden. Die Blockade sollte gegen zehn Uhr von den Protestierenden aufgelöst werden.
Die circa 500 Mann starke Polizeieinheit setzte Tränengas aus Schusswaffen und von Hubschraubern aus ein. Verschiedene Zeugen sagten, dass scharfe Munition aus Maschinenpistolen zum Einsatz kam (und nicht etwa Gummigeschosse) als die Tränengasgranaten aufgebraucht waren. Unter den Indigenen kam es dadurch zu zahlreichen Verletzten und auch Toten. Viele der Protestierenden flüchteten sich in das hügelige Gelände jenseits der Straße. Dort setzten sich die Kämpfe fort. Auch Polizisten wurden erschossen, unter welchen Umständen ist unklar. Die Indigenen sagten aus, nur mit Speeren bewaffnet gewesen zu sein. Dies ließe darauf schließen, dass sie Polizisten entwaffnet haben und diese dann mit deren eigenen Waffen töteten. Die Polizei hingegen behauptet, die Indigenen hätten von Anfang an Schusswaffen gehabt. Entlang der Verbindungsstraße gingen die Kämpfe weiter: Die Polizei setze weiter Tränengas ein, verfolgte Menschen im Gelände, verhaftete und verprügelte sie. Die Auseinandersetzungen zogen sich bis in den Nachmittag des 5. Juni.
Im wenige Kilometer entfernten Bagua wandelten sich am selben Tag friedliche Proteste in gewalttätige Auseinandersetzungen, als die Menschen von den Geschehnissen an der Verbindungsstraße hörten. Fotos und Videos dokumentieren, dass eine Polizeistation umzingelt wurde. Polizisten sind zu sehen, wie sie vom Dach in die Menschenmenge schießen. Im knapp 100 Kilometer von Bagua entfernten Imacita spielten sich dramatische Ereignisse an der Erdölförderstation Nr. 6 von Petroperú ab. Die Station war seit April durch indigene Gruppen besetzt, während eine kleine Polizeieinheit die Anlagen vor Ort schützte. Zwischen Polizisten und Indigenen gab es ein Übereinkommen, dass die Anlage nicht angegriffen würde. Dieses wurde von den Indigenen aufgekündigt, nachdem sie von der blutigen Ereignissen an der Fernstraße Belaunde Terry erfuhren. Zwölf Polizisten wurden von einigen Indigenen mit Speeren getötet, während andere Indigene weiteren Polizisten zur Flucht verhalfen.
// Mathias Hohmann

IV. Gipfel der Indigenen Völker am Titicacasee in Puno
“Wir sind hier, um für die Verteidigung unserer Territorien zu kämpfen.” Die Aussage des kurzen Werbespots war unmissverständlich. Zum IV. Gipfel der Indigenen Völker der Amerikas strömten für fünf Tage Ende Mai rund 7.000 VertreterInnen indigener Völker und sozialer Bewegungen aus allen Ländern des Kontinentes auf das Altiplano nach Puno. Eröffnet wurde das Treffen mit einem Ritual für pacha mama (Mutter Erde) am Ufer des Titicacasees.
Im Jahr 1990 traf sich zum ersten Mal eine Allianz der Indigenen Völker der Amerikas im ecuadorianischen Quito. Anlass der damaligen Zusammenkunft war das Gedenken an 500 Jahre des Widerstandes, den indigene Völker seit der Conquista 1492 geleistet hatten. Zugleich sollte damit den 500 Jahr-Feierlichkeiten der UnterdrückerInnen etwas entgegengesetzt werden.
Selbstbestimmung und Autonomieforderungen waren bereits in Quito die Forderungen der indigenen Völker und sind es noch immer. Während des Gipfels in Puno ließ sich anhand des heftigen Konfliktes im peruanischen Amazonasgebiet beobachten, wie indigene Völker weiterhin ihrer Rechte beraubt werden und sei es durch die „eigene” Regierung. Doch das Selbstbewusstsein der indigenen Bewegungen ist mittlerweile deutlich gestiegen. Dabei helfen auch die gegenwärtigen diversen globalen Krisen des kapitalistischen Systems, die mehr als dringend Alternativen erfordern.
Miguel Palacín, Vorsitzender der Andinen Koordination der Indigenen Organisationen (CAOI), betonte in seiner Eröffnungsrede, dass „jetzt der Moment gekommen ist, die eigene Unsichtbarkeit gegenüber den Staaten aufzugeben und mit eigenen Vorschlägen unsere Rechte als indigene Völker zu wahren.” Im Kern ging es in den Sitzungen und zahlreichen Arbeitstischen um die zentralen Forderungen nach plurinationalen Staaten und einem Guten Leben (buen vivir).
Mit Hugo Blanco war auch eine Symbolfigur des Kampfes der peruanischen Kleinbauern und -bäuerinnen vor Ort. Der 73-jährige, der in den 1960er Jahren Bauernaufstände für Land in der Region Cusco anführte, äußerte: „Die Bedeutung des Treffens liegt nicht einmal so sehr in den Übereinkommen, die getroffen werden. Viel wichtiger ist es, dass Indigene aus allen Ländern der Amerikas hierher kommen, um ihre Erfahrungen auszutauschen.” So könne er durchaus noch sehr viel von jungen Mapuche und ihren aktuellen Kämpfen lernen.
Parallel zum großen Gipfel wurden weitere kleine Gipfel absolviert: für indigene Jugendliche, Kinder und Frauen. Letztere hielten zum ersten Mal ein eigenes Treffen ab. “Es ist wichtig hier zu sein, um die Stimmen der Frauen hörbar zu machen, ihre Perspektive einzubringen und ihre Rechte zu verteidigen”, so Blanca Chancoso von der Kichwa-Organisation Ecuarunari aus Ecuador. „Ohne Frauen gibt es keinen Wandel, ohne Frauen gibt es keine Demokratie”, ergänzte Leonilda Zurita, Vertreterin der Vereinigung der bolivianischen Kleinbäuerinnen. Ein wichtiges Ergebnis des Treffens ist die Gründung der Kontinentalen Koordination der indigenen Frauen.
Die gemeinsame Abschlusserklärung des IV. Gipfels, die Declaración de Mama Quta Titikaka vom 31. Mai, schließt mit den Worten „Die Erde gehört uns nicht, sondern wir gehören der Erde!” Sie fasst insgesamt 17 Übereinkommen zusammen. Gefordert werden unter anderem die Gründung einschließender plurinationaler Staaten, in denen die ursprünglichen indigenen Territorien wieder hergestellt werden und die Umsetzung internationaler Normen über indigene Rechte in jeweiliges nationales Recht. Auch die globale Klimadebatte fand Berücksichtigung: So fordert die Deklaration den Aufbau eines internationalen Tribunals zu Klimagerechtigkeit und die Einrichtung eines Internationalen Gerichtshofes über Umweltstraftaten. Parallel zum UN-Klimagipfel in Kopenhagen im Dezember 2009 soll es einen Alternativen Gipfel der Indigenen Völker geben. Für den V. Gipfel der Indigenen Völker der Amerikas geht es 2011 nach Bolivien.
Die Lage des Tagungsortes Puno unweit der Grenze zu Bolivien ließ erwarten, dass Präsident Evo Morales auftaucht. Der ließ sich jedoch wegen Arbeitsüberlastung entschuldigen. Vielleicht waren es aber auch die seit längerem angespannten Beziehungen mit der peruanischen Regierung, die ihn auf einen Auftritt verzichten ließen. Doch schon sein offener Brief an die TeilnehmerInnen des Gipfels löste paranoide Reaktionen und beschuldigendes Fingerzeigen bei Regierung und Präsident in Lima aus. Dabei äußerte Morales im Brief lediglich Kritik an Freihandelsabkommen – die peruanische Regierung sah jedoch schon darin eine Einmischung und Ansätze zur Aufstachelung der zehntausenden Indigenen, die im peruanischen Amazonasgebiet seit Anfang April protestierten. Wie bitte sollen diese denn ohne Unterstützung von außen ihre Forderungen entwickelt haben? So wird in Regierungskreisen in Lima sehr laut und geringschätzig über indigene Völker gedacht.
// Mathias Hohmann

“Es geht darum, den Erdölverbrauch zu reduzieren“

Wie kam es zu der Idee, Geld für die Nicht-Förderung von Erdöl zu verlangen?
Die Idee stammte von lokalen Gemeinden im Widerstand gegen die Erdölfirmen, anderen gesellschaftlichen Gruppen und Nichtregierungsorganisationen wie Acción Ecologica und Oilwatch. Sie alle sind schon seit langer Zeit der Meinung, dass die Entwicklung Ecuadors hin zu einem post-fossilen Energiemodell notwendig ist. Vor etwa zehn Jahren entstand der Vorschlag für ein „Moratoriums gegen die Ausweitung der Erdölfront“. Das zentrale Argument war, dass es nicht nötig sei, weiter nach Erdöl zu suchen, da man nicht einmal die bereits entdeckten Reserven aufbrauchen kann, ohne die ökologische Tragfähigkeit der Erde zu überschreiten. Auf der Basis des Prinzips der gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung wurde das folgende Konzept entwickelt: entweder eine Kompensation für die Nicht-Förderung des Rohöls einzufordern, oder – und das war die ursprüngliche Idee – das Erdöl unter der Bedingung zu verkaufen, dass es in der Erde belassen wird. Diesen Vorschlag für den Yasuní-Nationalpark durchzubringen war nicht einfach, denn wir sprechen hier von den wichtigsten Ölreserven des Landes. Zugleich war es jedoch sehr dringend, da es sich bei dem Projekt, dem so genannten „Ishpingo-Tambococha-Tiputini“-Projekt – kurz ITT – um ein besonders emblematisches Gebiet handelt.

Die ecuadorianische Regierung nahm den Vorschlag im letzten Jahr auf. Wurde die Grundidee seitdem verändert?
Der Teil des Projektes zum Klimawandel wurde im letzten Jahr sehr verändert: Bei der Suche nach Finanzierungsmechanismen wurden mit den carbon credits auf einmal neoliberale Marktmechanismen in Betracht gezogen. Diese Kommerzialisierung und generell der Verkauf von so genannten Umweltdienstleistungen treffen im Land jedoch auf eine sehr kritische Haltung. Denn diese Mechanismen stoppen keine Emissionen und verfehlen damit das zentrale Problem des Klimawandels. Es geht beim ITT-Projekt nicht darum, den Verschmutzerländern einen Freischein zu geben, damit diese weiter die Atmosphäre verschmutzen können. Die Idee soll vielmehr einen echten Versuch darstellen, den Erdölkonsum zu reduzieren. Die ursprünglichen Positionen von Präsident Correa und der Umweltministerin waren noch sehr kritisch gegenüber den Mechanismen des Kyoto-Protokolls und den carbon credits, da diese den Klimawandel zu einem Geschäft für die Verschmutzer machen. Als jedoch im Januar dieses Jahres begonnen wurde, die Finanzierungsmechanismen auszuarbeiten, verstummte diese Kritik plötzlich. Und der Vorschlag stellte sich auf einmal als Verkauf von Umweltdienstleistungen dar. Wir als VertreterInnen mehrerer NRO arbeiten jetzt daran, dass die Regierung wieder zur Ursprungsidee zurückkehrt.

Seit der Bekanntmachung des Konzeptes durch Rafael Correa ist mehr als ein Jahr vergangen. Wo steht das ITT-Projekt aktuell?
Ende Juni dieses Jahres wurde das Moratorium für die Ausschreibung der Konzession bis Ende Dezember 2008 verlängert. Eine wichtige Grundlage dafür war der Beschluß des Deutschen Bundestages, die ecuadorianische Regierung um diese Fristverlängerung explizit zu bitten. Ab Dezember ist jetzt eine doppelte Ausschreibung geplant. Einerseits sollen interessierte Erdölfirmen aufgefordert werden, ihre Angebote zur Förderung einzureichen. Gleichzeitig soll die internationale Gemeinschaft aufgerufen werden, seit dem letzten Jahr gemachte finanzielle Versprechen zu konkretisieren. Verbindliche Zusagen fehlen bisher, da noch immer nicht klar ist, welche Garantien die ecuadorianische Regierung für die Nichtausbeutung des Yasuní, für den Schutz der Biodiversität des Gebietes aber auch in Bezug auf das Projekt als Teil einer sozialverträglichen Politik letztlich bietet. Bisher gab es diesbezüglich widersprüchliche Signale. Jedoch hoffe ich, dass die Referenzbedingungen bis Dezember definiert sind.

Ist diese drohende doppelte Ausschreibung nicht ein sehr ungleicher Wettbewerb?
Für die gebotenen Summen gilt ein Verhältnis von 2:1. Die internationale Gemeinschaft müsste nur die Hälfte dessen aufbringen, was die Unternehmen bieten. Zudem denke ich nicht, dass das benötigte Geld von der Zivilgesellschaft oder den NRO kommen kann, da ihnen die finanziellen Mittel fehlen. In der Hauptsache müssen diese Mittel von den Regierungen kommen.

Die Ausschreibung zur Erdölförderung würde mehr Druck auf die internationale Gemeinschaft machen.
Wir würden uns von dieser Ausschreibung mehr Klarheit erhoffen. Es wäre eine Bestandsaufnahme, die sichtbar machen würde, wie groß das konkrete Interesse auf internationaler Seite und von Seiten der Ölunternehmen ist. Wie die geforderte Summe letztendlich zustande kommt, ist noch unklar. In Form von Bargeld, aber auch z.B. als Unterstützung zur Förderung erneuerbarer Energien.

Wie genau reagierten die Industrieländer auf den Vorschlag bisher?
Es gab bisher viele interessante Signale. In keinem Fall war jedoch von Emissionshandel die Rede. Das Interesse beruhte vielmehr auf dem Schutz der Biodiversität. So hat Norwegen einen Biodiversitätsfonds und überlegt, einen Teil des Geldes in den Yasuní zu investieren. Interessensbekundungen gibt es von Deutschland, Spanien, Italien und Schweden. Manche Länder erwägen einen Schuldenerlass zugunsten des Yasuní oder eine Kanalisierung von Entwicklungsgeldern in das Projekt. Selbst die OPEC hat Interesse an der Idee signalisiert. Auch viele NRO sind an dem Vorschlag interessiert, was sehr wichtig ist für die Bewusstseinsbildung.

Und wie fielen die Reaktionen aus Ländern des globalen Südens aus?
Wir arbeiten momentan mit verschiedenen Ländern, die Interesse gezeigt haben. In Argentinien versuchen beispielsweise die Mapuche eine ähnliche Kampagne zu starten. In Costa Rica, wo das bestehende Moratorium zur Ölförderung aufgehoben wurde, gibt es Pläne in diese Richtung. Auch in Osttimor, Bolivien, Mauretanien und in Nigeria gibt es Interesse. Wir sind dabei auszuarbeiten, was die jeweiligen lokalen Besonderheiten und Probleme sind. Wir in Ecuador sind in einer besonders günstigen Situation, denn die Bedingungen für einen solchen Vorschlag sind ideal. Es geht um ein Gebiet, das über eine extrem hohe Biodiversität verfügt und zugleich Territorium von indigenen Gemeinschaften in freiwilliger Isolierung und Biosphärenreservat ist. Und wir sind in einer politischen Situation, Periode des Übergangs, und es gibt eine Bereitschaft zum Wandel.

Damit auch zukünftige ecuadorianische Regierungen das Öl im Boden lassen, forderte die deutsche Regierung die Verankerung des Versprechens in der neuen Verfassung. Wie sinnvoll und realistisch ist diese Forderung?
Ein entsprechendes Gesetz wäre keine Garantie. Und schließlich könnte auch die Verfassung geändert werden. Aber das Garantiekonzept ist eigentlich ganz simpel: Durch den Verkauf des Rohöls geht dieses in privaten Besitz über. Es kann also nicht noch einmal verkauft werden. Auf dem internationalen Ölmarkt sind diese Mechanismen eindeutig definiert. Wenn der Staat sein Erdöl an Texaco verkauft, kann er es nicht gleichzeitig an ein anderes Unternehmen verkaufen. Es wird daher versucht, den Geldgebern dieselbe Garantie zu geben wie einem Unternehmen. Die Geldgeber erhalten Eigentumstitel über die Barrel Öl, das sie gekauft haben, und somit die Garantie, dass sie im Falle einer Förderung ausgehändigt werden, was das Fördern an sich unsinnig macht. Zudem gibt es internationale Abkommen mit den Geberländern, die sicherlich nicht gebrochen werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendeine ecuadorianische Regierung leichtfertig die Beziehungen mit Deutschland oder der UN gefährden würde. Es gibt eine Menge starker Zwischenakteure, die dafür sorgen werden, dass das Versprechen eingehalten wird.

Die neue ecuadorianische Verfassung beinhaltet Artikel zum Umweltschutz, zu „unberührbaren Zonen“ – wozu ein Teil des ITT zählt –, in denen der Rohstoffabbau verboten ist. Wie bewerteten Sie das im Hinblick auf den ITT-Vorschlag?
Es gibt ein großes Schlupfloch: Alles kann funktionieren, aber diese Verfassung steckt voller Ausnahmen. Kommt die geforderte Summe nicht zustande, und sollte sich die Regierung dazu entschließen, das Erdöl zu fördern, wird im Kongress darüber abgestimmt. Sollte es im Kongress zu keiner Einigung kommen, käme es zu einer Volksbefragung. Es ist ein demokratischer Prozess, in dem die Entscheidung in letzter Instanz wieder bei der Bevölkerung liegt. Zwar ist das ITT-Projekt in erster Linie ein Beitrag Ecuadors zum Klimaschutz. Doch ist es auch eine Bildungskampagne. Seit Juni 2007 machen wir von Acción Ecologica Bildungsarbeit und besuchen zum Beispiel wöchentlich zwei bis drei Schulen, um über das Thema des Yasuní, die indigenen Gemeinschaften und die Notwendigkeit eines post-fossilen Energiemodells zu sprechen. Es ist wichtig, den Menschen bewusst zu machen, dass es sich um ein Thema von wirtschaftlicher Bedeutung handelt, sich aber viele unersetzliche Dinge nicht in monetären Werten messen lassen. Denn in letzter Instanz ist es die ecuadorianische Gesellschaft, die mit ihrer Stimme in der Volksbefragung entscheidet, ob der Yasuní ausgebeutet wird oder nicht.
// Interview: Ines Thomssen

Kaste:

Das Ishpingo-Tambococha-Tiputini-(ITT)-Projekt
350 Millionen US-Dollar jährlich über den Zeitraum von 13 Jahren an den ecuadorianischen Staat und das Öl bliebe im Boden. Diese Zahlen entsprechen der Hälfte dessen, was bei der Ausbeutung des ITT-Feldes zu erwirtschaften wäre. So lautet der Finanzierungsvorschlag der ecuadorianischen Regierung für das ITT-Projekt. Die ITT-Konzession liegt im östlichen Teil des Yasuní-Nationalparkes, der zugleich UNESCO-Biosphärenreservat ist. Im Osten grenzt sie an das Nachbarland Peru, wo sich unmittelbar entlang der Grenze eine ganze Galerie von Erdölkonzessionen erstreckt. Mit 200.000 Hektar ist die ITT-Konzession ein wenig größer als die doppelte Fläche des Landes Berlin. In der Tiefe ruht schweres Öl, das allein um die 20 Prozent der Erdölvorkommen Ecuadors ausmacht. Die ITT-Zone gilt wie der gesamte Yasuní als eines der artenreichsten Gebiete der Erde und ist zugleich Territorium indigener Völker, die in freiwilliger Isolation leben. Durch die Nicht-Förderung des Erdöls würde verhindert werden, dass an die 400 Millionen Tonnen Kohlendioxid freigesetzt würden. Die Einnahmen aus dem Projekt sollen ausschließlich für soziale und Umweltschutzprojekte sowie zur Förderung erneuerbarer Energien eingesetzt werden.
Seitdem das Interview geführt wurde, hat sich das einfache Kompensationsmodell für die Finanzierung des ITT-Projektes sich als nicht durchführbar erwiesen. Jüngsten Informationen zufolge denken Regierung und Präsident Correa zur Zeit über die Ausgabe von Yasuní-Garantiezertifikaten nach, die gleichwertig zu den handelbaren Kohlenstoff-Emissionszertifikaten des Kyoto-Protokolls sein sollen. Nach jüngsten Aussagen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) wird unter der Federführung der bundesdeutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) bis Mitte Februar 2009 eine Machbarkeitsstudie zum ITT-Projekt erstellt. Damit verschiebt sich auch die Dezember 2008 auslaufende Frist für die Ausschreibungen; das Moratorium verlängert sich. Gegenüber der ecuadorianischen Presse sagte Ecuadors Präsident Correa, dass mit dem Beginn der parallelen Ausschreibungen im Januar 2009 zu rechnen ist.

Weitere Informationen unter: http://www.sosyasuni.org/de/index.php

Zeichen gegen die Arroganz

Für die einen ist sie eine Gewalttäterin ohne Respekt vor den Regierenden, gar vom Teufel besessen. Für die anderen ist sie eine Heldin, eine Mutige, die mit ihrer Aktion ein Zeichen gegen die Arroganz der Herrschenden gesetzt hat. Am 14. Juli versuchte die 14-jährige Schülerin María Música Sepúlveda der Erziehungsministerin Mónica Jiménez von ihren Erfahrungen mit dem chilenischen Bildungssystem zu erzählen und dem Kampf, dieses zu verbessern. Schließlich war sie während der Proteste für eine bessere Bildung mehrmals festgenommen und von Wasserwerfern durchnässt worden. Música wollte erzählen, wie sie 13 Stunden lang auf einer Polizeiwache festgehalten wurde, dass ihre MitstreiterInnen physische und psychische Narben davongetragen haben, weil der Staat die Demonstration mit Gewalt auflösen ließ, anstatt in einen offenen Dialog mit der jungen Generation zu treten.
Doch die Politikerin würdigte die Schülerin keines Blickes, nicht einmal eine ihrer berüchtigten ironischen Bemerkungen konnte diese ihr entlocken. Dann ging alles sehr schnell: Música sah eine Karaffe mit Wasser, griff beherzt zu und schüttete der Ministerin den kühlen Inhalt ins Gesicht. Nun muss Música sich demnächst vor Gericht verantworten, wegen eines „Attentats und der Bedrohung einer Autorität“. Ihre Schule hat sie rausgeworfen. Doch sie erfährt zugleich breite Unterstützung: Unter dem Slogan „Todos somos Música“ (Wir alle sind Música) werden Unterschriften gesammelt und Petitionen verfasst. Bei Gewerkschaften und Streikenden gilt sie als Idol, ihre Aktion wird bereits besungen. Selbst die Ministerin wollte sich auf einmal mit Música treffen, doch diese lehnte ab. Das sei doch nur eine „Show“, sagte die Schülerin in einem Zeitungsinterview. Entweder die Ministerin spreche mit allen SchülerInnen oder mit niemandem.
Der Teil der jungen Generation, der sich für soziale und politische Themen interessiert, fühlt sich von der Politik verraten und verkauft. Zwanzig Jahre nach dem Sieg der Opposition über Augusto Pinochet ist überdeutlich: Viele der Versprechen von einst sind unerfüllt geblieben. Das Mitte-Links-Bündnis Concertación, das seit bald 17 Jahren regiert, hat bei vielen das Vertrauen verspielt. Doch seit den großen Protesten der Schülerinnen und Schüler 2006 steht auch fest: Es gibt in der chilenischen Gesellschaft neue Akteure, die Resignation und Phlegma überwunden haben und nach eigenen Ausdrucksformen suchen. Die Concertación tut diese neuen Bewegungen bislang nur als Randgruppen und Minderheiten ab, wenn sie sie überhaupt wahrnimmt. Und das, obwohl es den SchülerInnen gelungen ist, die Regierung unter Präsidentin Michelle Bachelet zu Reformen des Bildungssystems zu zwingen.
Ganz offensichtlich hat die politische Klasse in Chile noch nicht begriffen, wie ernst die Lage im Land ist. Die Wahlbeteiligung der 18- bis 29-Jährigen hat einen historischen Tiefpunkt erreicht. Waren 1989 bei den Wahlen, die den Übergang zur Demokratie bedeuten sollten, noch 36 Prozent dieser Altersgruppe vertreten, so werden sich bei den aktuellen Kommunalwahlen nicht einmal mehr neun Prozent dieser Altersgruppe registrieren lassen, hat Manuel Salazar Salvo für das Magazin Punto Final ausgerechnet. Es gab verschiedene Studien, welche die Hauptgründe für die Wahlenthaltung untersuchten. Sie zeigten, dass Gleichgültigkeit gegenüber den demokratischen Institutionen und ein starkes Misstrauen gegenüber den Eliten zunehmen. Das Gefühl, dass das demokratische System seinen Zauber verloren hat, scheint weit verbreitet zu sein. Je ärmer das Stadtviertel, desto geringer ist die Wahlbeteiligung der jungen WäherInnen. Die Jugend wendet sich ab, ihre Abstinenz bei den Abstimmungen ist ein Zeichen: „Dieses Chile ist nicht unser Chile.“
Ein Grund für diese Einstellung ist das Wahlsystem in Chile, das anders lautender Ankündigungen und Versprechen zum Trotz bis heute nicht reformiert wurde. In diesem binominalen System können in jedem Wahlkreis nur die beiden KandidatInnen mit den meisten Stimmen gewinnen, die Stimmen für alle anderen KandidatInnen verfallen. Da dieses System ein Zweiparteiensystem begünstigt, gibt es de facto bei einer Wahl nur zwei Optionen: Entweder gewinnt die rechte Alianza por Chile (Bündnis für Chile) oder das Regierungsbündnis Concertación, das jedoch ebenso den neoliberalen Kurs fortführt, auf dem sich das Land seit Zeiten der Militärdiktatur befindet.
Die politischen Eliten des Landes haben sich offenbar mit dieser Pattsitutation arrangiert, die von vorne herein als Argument dafür herhalten muss, dass keine tiefgreifenden Reformen mehr angepackt werden (können). Eine linke Option gibt es nicht. Die neuen politischen und sozialen Initiativen, die in den vergangenen Jahren entstanden sind, werden nicht repräsentiert.
Dabei haben in den vergangenen Jahren soziale Bewegungen in Chile an Kraft gewonnen: So werden Ökologie- (die Ablehnung zerstörerischer Großprojekte) und Gender-Fragen verstärkt thematisiert, die Solidarität mit den indigenen Mapuche ist ein wichtiges Thema geworden. Gerade der Mapuche-Konflikt hat in den letzten Wochen an Schärfe zugenommen: In einer Erklärung vom 20. September bekennt sich eine Gruppe von Mapuche zu einem Angriff auf ein Quartier von Spezialeinheiten der Polizei. Mit dem bewaffneten Anschlag am 18. September, dem Nationalfeiertag Chiles, so die Erklärung, solle eine neue Etappe im Kampf um das Territorium eingeleitet werden, das die Mapuche beanspruchen. GroßgrundbesitzerInnen und die Holzindustrie sollen vertrieben werden, zudem sei der Angriff eine Antwort auf die zunehmende Militarisierung der Region.
Bei all diesen Bewegungen geht es nicht nur um die Erweiterung der Themenpalette, sondern auch um neue politische Ansätze linker Politik, die sich bislang eher an den klassischen Interpretationen von Marx und Lenin orientierte und sich schwer tut, die Auswirkungen der komplexen gesellschaftlichen Veränderungen zu begreifen, die die Globalisierung auch für die chilenische Gesellschaft mit sich gebracht hat.
Auch wenn das Wahlbündnis Juntos Podemos Más (Gemeinsam erreichen wir mehr), ein Sammelbecken 17 sehr unterschiedlicher Gruppierungen und Organisationen, darunter die Kommunistische Partei und die Humanisten, bei den Präsidentschaftswahlen 2009 wieder antreten wird (siehe Interview mit Tomás Hirsch in dieser Ausgabe). Oppositionelle Politik wird in naher Zukunft nicht im Parlament, sondern weiterhin auf der Straße und in besetzten Schulen stattfinden. Schließlich haben die machtvollen Demonstrationen der SchülerInnen 2006 und die der Kupfer-LeiharbeiterInnen 2007 gezeigt, dass sich mit Hartnäckigkeit und Vehemenz die politische Agenda beeinflussen lässt. Bis allerdings die Entfremdung der jungen ChilenInnen zum politischen System überwunden wird, dürfte noch viel Wasser in Karaffen gefüllt werden.

Schönreden und einsperren

Es geht um Land. Die Mapuche in Südchile sehen es als ihre Lebensgrundlage an, internationale Holzfirmen als lukrative Einnahmequelle. Immer wieder besetzen die Mapuche das Land, auf dem die Großkonzerne Eukalyptus und Kiefern in Monokultur anbauen, um das Holz zur Papierherstellung nach Japan zu verkaufen. Immer wieder werden sie mit massiver Polizeigewalt zurückgedrängt.
Die Regierung von Präsidentin Michelle Bachelet behauptet, die Indigenen zu unterstützen, wendet aber zugleich Anti-Terroristen-Gesetze gegen diese an, die noch aus der Zeit des Diktators Pinochet (1973-1990) stammen. Ende April traten deswegen fünf Mapuche-Gefangene in den Hungerstreik.
Pascual Catrilaf Curiche, Patricio Catrilaf Curiche, Jesús Curiche Prado, Moisés Curiche Curiqueo und Damian Curiche Curiqueo verweigern im Gefängnis von Nueva Imperial in der Neunten Region im Süden des Landes die Nahrungsaufnahme. Alle fünf sind traditionelle Autoritäten. Sie sind seit November 2007 in Untersuchungshaft und protestieren mit dem Hungerstreik gegen die Langsamkeit und fehlende Transparenz der Justiz.
Ein paar Tage zuvor, am 24. April, hatte die Staatsanwältin Vania Aranciabia entschieden, sie nicht frei zu lassen. Sie stellten eine „Gefahr für die Gesellschaft“ dar, so ihre Begründung. Die Angeklagten, die sich seit Jahren in ihren Gemeinden für die Rechte der Mapuche engagieren, sind des „gewalttätigen Raubes“ angeklagt, bestreiten jedoch, ein solches Verbrechen begangen zu haben.
Die fünf sind nicht allein: In Südchile gilt jegliches soziales oder politisches Engagement schnell als Straftat. In vielen Gemeinden existiert eine permanente Polizeipräsenz und Staatsbedienstete helfen nicht selten privaten GroßgrundbesitzerInnen beim Bewachen ihres Landes. Mit Straßensperren und willkürlichen Verhören wird die Bewegungsfreiheit der Menschen eingeschränkt. Immer wieder berichten Mapuche-AktivistInnen von nächtlichen Hausdurchsuchungen ohne die erforderliche Anwesenheit von zivilen ZeugInnen und von Blanko-Durchsuchungsbefehlen, die der diensthabende Befehlshaber der Polizeieinheit nach Ermessen und sozialen Kontrollansprüchen ausfüllen kann. Es kommt immer wieder zu willkürlichen Festnahmen, Folterungen, Schlägen mit Waffen, rassistischen Beleidigungen und Vergewaltigungen. Polizeimaßnahmen werden oft von Warnschüssen begleitet.
Die Symbolik, mit der die Polizei im Mapuche-Gebiet auftritt, macht deutlich, wie die chilenische Regierung die Angelegenheit sieht: Sie befindet sich im Krieg. Großkalibrige Waffen und Helikopter kommen zum Einsatz. Die in exzessiver Anzahl in den Süden Chiles entsandten Polizeikräfte treten in militärischer Kampfformation auf. Von diesem permanenten Kriegszustand zeugt auch die Militärgerichtsbarkeit, die gegen die Mapuche angewandt wird. Sie führt in der Regel zur Verhängung höherer und härterer Strafen. Ein besonderer Skandal ist die Anwendung des 1984 unter Pinochet erlassenen Anti-Terroristen-Gesetzes (Ley 18.314) gegen die Mapuche. Entgegen jeglicher internationaler Rechtsnormen stuft der chilenische Staat mit der Anwendung dieses Gesetzes Straftaten gegen fremdes Eigentum als „Terrorismus“ ein.
Da sie kein Vertrauen in die Justiz haben, ist Hungerstreik für die Mapuche-Häftlinge oft das einzige Mittel, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Im Februar begann die Mapuche Patricia „La Chepa“ Troncoso nach 112 Tagen wieder begonnen, zu essen. Troncoso ist wegen „terroristischer Brandstiftung“ zusammen mit vier Mapuches zu zehn Jahren und einem Tag Gefängnis verurteilt worden. Sie sollen 2001 auf dem Grundstück Poluco Pidenco, in Besitz des großen Forstbetriebs Forestal Mininco, Feuer gelegt haben. Die Mapuche betrachten das Land als ihr Eigentum. Verurteilt wurden Troncoso und ihre Mitangeklagten nach dem Anti-Terrorismus-Gesetz. Dieses ermöglicht nicht nur hohe Strafen, es hält auch jeglichen Anforderungen an einen fairen Prozess nicht stand: Zeugen treten vermummt auf, ändern während des Prozesses ihre Aussage, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Verurteilte „TerroristInnen“ dürfen zusätzlich zu ihrer Haftstrafe fünfzehn Jahre lang keine öffentlichen Ämter, Funktionen im Erziehungs- oder Kommunikationswesen, in Nachbarschafts-, StudentInnen- oder politischen Organisationen sowie in Gewerkschaften übernehmen.
Der Hungerstreik Troncosos machte über Chile hinaus Schlagzeilen und durchbrach das Schweigen der Regierung Michelle Bachelet und der großen Medien des Landes. Diese berichten seit Jahren nur sehr wenig über die politischen Forderungen der Mapuche. Troncoso verlangte ihre Verlegung in eine Haftanstalt mit Resozialisierungsmaßnahmen, das Arbeits- und Ausbildungszentrum CET in der Stadt Angol, Ausgang am Wochenende sowie letztlich die Freilassung der politischen Mapuche-Gefangenen und die Entmilitarisierung des chilenischen Südens.
Der Tod des jungen Mapuche Matías Catrileo verstärkte das Medieninteresse an dem Fall. Am 82. Hungerstreiktag der Chepa, dem 3. Januar, wurde Catrileo bei einer friedlichen Landbesetzung durch einen Schuss aus einer Polizeiwaffe in den Rücken getötet. Catrileos MitkämpferInnen nahmen den Leichnam mit sich, um ihn vor Manipulationen durch die chilenische Nationalpolizei zu bewahren. Ihre Flucht wurde teilweise live im Radiosender Bío Bío übertragen und erreichte damit eine gewisse Öffentlichkeit. Währenddessen trat in der Hauptstadt Santiago der Unterstaatssekretär des Innenministeriums, Felipe Harboe, vor die Mikrofone und bestritt den gesamten Vorfall. Seine Erklärung: Es gäbe keinen Leichnam. Ohne Leichnam folglich kein Delikt, so die zwingende Logik dieser Erklärung.
Die Aussagen der PolitikerInnen zu Mapuche-Belangen passen oft nicht recht zu ihrem Handeln. Das zeigte sich auch im Fall Patricia Troncoso: Während die Regierung öffentlichkeitswirksam ein Entgegenkommen verkündete und den Hungerstreik für nicht mehr nötig erklärte, weigerte sie sich tagelang, ein rechtlich verbindliches Dokument zu unterzeichnen, das die Umsetzung der Zusagen an Troncoso garantieren sollte. Chiles Innenminister Edmundo Pérez Yoma wälzte die Verantwortung auf Alejandro Goic, den Vorsitzenden der chilenischen Bischofskonferenz, ab. Der hatte in dem Konflikt vermittelt und sollte nun garantieren, dass Zusagen umgesetzt werden, deren Verwirklichung einzig und allein von der Bereitschaft staatlicher Stellen abhängt.
Auch auf internationaler Bühne ist auf das Engagement der Regierung wenig Verlass. Im März hatten nach jahrelanger Blockade auch die chilenischen Senatoren den Weg für eine Ratifizierung der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation IAO, einer UN-Sonderorganisation, durch Präsidentin Bachelet frei gemacht. Die Konvention bestimmt wichtige Grundrechte indigener Völker, etwa das Recht auf das eigene, traditionell bewohnte Territorium oder auf die eigene Lebensweise, Kultur, Religion und Sprache. Mindeststandards legen fest, dass indigene Gruppen über alle Projekte, die sich auf ihre Lebensverhältnisse auswirken, vorab umfassend informiert werden und diesen zustimmen müssen.
Die internationale Presse war nach der Senatsentscheidung voll des Lobes, auf manchen Internetseiten (zum Beispiel www.ilo169.de) wurde gar vermeldet, Chile habe das Abkommen bereits bei der IAO ratifiziert. Dies behauptete auch der Direktor der Nationalen Agentur für Indigene Entwicklung Chiles CONADI, Wilson Reyes, am 24. April vor dem Ständigen UN-Forum für indigene Angelegenheiten – und erntete umgehend scharfe Kritik. Bartolomé Clavero, Mitglied des Ständigen Forums, stellte klar, dass Chile das Abkommen noch nicht ratifiziert habe, denn der IAO läge keine diesbezügliche Akte vor. Er bezeichnete Reyes‘ Rhetorik vor dem Forum als „trügerisch“. Doch weitaus trügerischer als die Behauptung, man habe die Konvention schon ratifiziert, ist der Versuch der chilenischen Regierung, die Konvention nur mit einer „interpretierenden Zusatzerklärung“ unterzeichnen zu wollen. „Diese Einschränkungen zielen gegen eine umfassende Wirksamkeit der Konvention“, so Clavero. Verschiedene indigene Organisationen hatten am 26. April in einem offenen Brief an das Ständige Forum darauf hingewiesen, dass die Ratifizierung einer so „verkrüppelten“ Konvention 169 nicht nur gegen die Statuten der Konvention selbst verstoße. Dabei kritisierten sie auch den nicht eindeutigen Widerstand der IAO gegenüber dem Ansinnen der chilenischen Regierung. Sie machten zudem deutlich, dass eine „interpretierende Zusatzerklärung“ sich auch gegen die Bestimmungen der im September 2007 von der UN-Vollversammlung verabschiedeten Erklärung über die Rechte indigener Völker wende. Ob es das ist, was Reyes vor dem Forum als „vorbildhafte“ chilenische Politik im Umgang mit den Indígenas bezeichnete? Laut Reyes gehört Chile im Bereich indigene Politik weltweit gar zur „Avantgarde“.
Patricia Troncoso wies in einem Interview während ihres Hungerstreiks mit einer Delegation des Amerikanischen Juristenverbandes AAJ und der Ständigen Versammlung für die Menschenrechte APDH darauf hin, dass sich die Anwendung des Anti-Terroristen-Gesetzes seit dem Plan Paciencia (Operation Geduld) unter Chiles Ex-Präsident Ricardo Lagos (2000-2006) verschärft habe. Damals seien detaillierte Informationen über die Gemeinden, ihre Konflikte, AktivistInnen, Vorgehensweisen und Ressourcen gesammelt worden. Auf dieser Grundlage komme das Gesetz jetzt vor allem gegen die sozialen FührerInnen und Gemeindeautoritäten der Mapuche zum Einsatz – obwohl Präsidentin Bachelet verkündet hatte, das Gesetz nicht mehr anwenden zu wollen.
Immerhin wurden Patricia Troncosos Forderungen inzwischen zum Teil erfüllt: Sie wurde in das CET in Angol verlegt und hat an den Wochenenden Freigang. Die massive Militärpräsenz in Südchile bleibt jedoch bestehen, und der nächste Hungerstreik ist im Gange.

Hüh und Hott mit den Menschenrechten

MapucheaktvistInnen leben gefährlich. So wurde der 23-jährige Mapuche Matías Catrileo am 3. Januar dieses Jahres durch einen Schuss in den Rücken getötet, als er gemeinsam mit anderen versuchte, angestammtes indigenes Land zurückzuerobern. Aufgrund dieses Landkonfliktes werden MapucheaktivistInnen in Chile tendenziell als TerroristInnen angesehen. Die Mapuche-Aktivistin Patricia Troncoso wollte mit einem mehr als hundert Tage dauernden Hungerstreik die Freilassung von zehn nach dem Antiterrorgesetz verurteilten politischen Gefangenen erreichen. Durch diesen Hungerstreik wurde der Mantel des Schweigens über der staatlichen Repression etwas gelüftet. Seitdem wird über das Thema Menschenrechte wieder mehr berichtet. Zudem haben die Mapuche-Organisationen bei den Vereinten Nationen und der Interamerikanischen Menschenrechtskommission die Entsendung einer Beobachtermission beantragt.
Zur andauernden Unterdrückung der indigenen Gemeinschaften im Süden des Landes kommt nun der Tod zweier weiterer junger Männer in Santiago. René Palma, 26 Jahre alt und Johnny Cariqueo, ein 20-jähriger Mapuche, starben am 29. beziehungsweise 31. März in Armenvierteln von Santiago, nachdem sie an Aktionen zum „Tag des jungen Kämpfers“ teilgenommen hatten. Mitverantwortlich für die Todesfälle sind die miserable medizinische Versorgung in diesen Vierteln, die wachsende Polizeigewalt sowie das Einschleusen von Spitzeln und Folter. Stunden nachdem man ihn gefoltert hatte, starb Cariqueo, Mitglied einer Hip-Hop-Band, an einem Herzinfarkt. Ungeklärt ist bislang der Tod von René Palma. Die tödlichen Schüsse wurden abgegeben aus einer Gruppe von Unbekannten, die ihm vorwarfen, ein Polizeispitzel zu sein.
Ebenfalls anlässlich des „Tag des jungen Kämpfers“ spielten die baskischen Rockgruppen „Distorsión” und „Puente Romano” in Villa Francia, einem Viertel von Santiago mit kämpferischer Tradition, das heute viele autonome Jugendliche anzieht. Das Ergebnis: Die Gruppen wurden ausgewiesen. Manche RechtsanwältInnen vertreten die Ansicht, dass Fälle wie dieser das Ergebnis einer Verselbstständigung der Polizei sind, die bei ihren Vergehen mit dem Wohlwollen der Presse und der rechten Opposition rechnen kann.
Die Repression trifft nicht nur die Mapuche. Bei einem Streik in einem Forstunternehmen im vergangenen Jahr wurde der Arbeiter Rodrigo Cisternas (26) von der Polizei ermordet, die ganz offen die Interessen der Firma verteidigte. Dasselbe tun PolizistInnen und MarinesoldatInnen in der Bucht von Mehuín, gut 800 Kilometer südlich der Hauptstadt, wo Fischer und Indigene auf verlorenem Posten gegen den Bau einer Leitung kämpfen, die das Meer mit Abwässern der Zellulosefabrik Celco verschmutzen wird. Die Militärjustiz bestraft die Verantwortlichen nicht, und der chilenische Staat missachtet die Empfehlung der Interamerikanischen Menschrechtskommission, diese Situation zu korrigieren.
Auch Frauen sind vor Gewalt nicht gefeit. Mit Tränengas und Chemikalien, die Hautreizungen hervorrufen, lösten Einsatzkräfte im April eine friedliche Kundgebung von Frauen im Zentrum von Santiago auf. Sie hatten gegen die Entscheidung des Verfassungsgerichts protestiert, die kostenlose Abgabe der „Pille danach“ durch Einrichtungen des staatlichen Gesundheitswesens zu untersagen. Mit dieser diskrimierenden Maßnahme wird Frauen aus armen Bevölkerungsschichten, in denen ungewollte Schwangerschaften von Jugendlichen am häufigsten vorkommen, der Zugang zu diesem Medikament verwehrt.
Auch der juristische Umgang mit den Verbrechen der Pinochet-Diktatur lässt zu wüsnchen übrig. Die christliche Menschenrechtsorganisation FASIC bezeichnete in ihrem Jahresbericht das Verhalten der RichterInnen als „erratisch.” Diese Einschätzung kommt nicht von ungefähr. So erklärte die zweite Strafkammer des Obersten Gerichtshofs im vergangenen November den Mord an drei Bauern im September 1973 für verjährt und ersparte so dem Angeklagten Claudio Lecaros Carrasco, einem ehemaligen Heeresoberst, eine Verurteilung. Dagegen entschied sich dieselbe Kammer in einem anderen Fall gegen eine Verjährung und verurteilte sieben ehemalige Agenten des „Comando Conjunto“, einer Unterorganisation der Luftwaffe, wegen Mordes an dem kommunistischen Politiker Carlos Contreras Maluje im Jahr 1976. Auch im Januar 2007 hatten die RichterInnen keine Verjährung geltend gemacht und den ehemaligen Marineoffizier Héctor Rivera Bozzo wegen Mordes an dem Mapuche José Matías Ñanco im Oktober 1973 zu fünf Jahren Haft verurteilt.
Die juristische Menschenrechtsbilanz aus dem Jahr 2007 hat weitere positive Posten zu verzeichnen: Der Oberste Gerichtshof ratifizierte die lebenslängliche Haftstrafe für den ehemaligen Chef des Geheimdienstes CNI, Hugo Salas Wenzel, zu der dieser wegen seiner Verantwortung für die „Operación Albania“ verurteilt wurde. Bei dieser Aktion wurden zwölf Mitglieder der Frente Patriótico Manuel Rodríguez ermordet, einer Guerilla-Orgnisation, die mit Waffengewalt gegen die Diktatur kämpfte. Die Strafe für den ehemaligen Major Alvaro Corbalán Castilla wurde auf 20 Jahre, die für den Offizier Emilio Neira auf acht Jahre angehoben.
Auch der Fall „Calle Conferencia“ wurde durch den Untersuchungsrichter Víctor Montiglio endlich aufgeklärt, der 74 Mitglieder der bis dato unbekannten „Lautaro“-Brigade des Geheimdienstes DINA verurteilte. Gegen sie war Anklage wegen der Entführung von Jorge Muñoz – dem Ehemann der 2005 verstorbenen langjährigen KP-Vorsitzenden Gladys Marín.
Der Oberste Gerichtshof bestätigte auch vier neue Urteile gegen DINA-Chef Manuel Contreras und weitere Mitglieder dieser Geheimpolizei in den Fällen María Teresa Bustillos Cereceda, Jacqueline Binfa Contreras und Luis San Martín Vergara.
Milde erfuhr dagegen Paul Schäfer, der Anführer der „Colonia Dignidad“. Seine Strafe im Fall der in der deutschen Siedlung entdeckten Waffenlager wurde von sieben auf drei Jahre gesenkt.
Diese widersprüchliche Rechtsprechung ist nach Ansicht von FASIC auf das Mitspracherecht des Senats, des parlamentarischen Oberhauses, bei der Auswahl der RichterInnen zurückzuführen. Die Concertación, das Parteienbündnis, das die Regierung trägt, teilt sich das RichterInnen-Kontingent mit der Rechten, die ein Interesse an der Verjährung der Verbrechen hat. Laut FASIC kommt es nur in wenigen Fällen zu abschließenden Urteilen. Gerade einmal bei einem Drittel aller Opfer, die der Rettig-Bericht auflistet, ist es zur Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens gekommen. Der Rettig-Bericht aus dem Jahr 1991 war der erste Menschenrechtsbericht nach der Pinochet-Diktatur.
Die mit Menschenrechtsprozessen befassten RichterInnen müssen sich nach geltender Gesetzeslage auch mit allen anderen Arten von Verfahren befassen. FASIC fordert deshalb den Obersten Gerichtshof und die Regierung auf, im ganzen Land RichterInnen einzusetzen, die sich ausschließlich mit Menschenrechtsverletzungen befassen. Das wäre die einzige Möglichkeit, die Prozesse zu einem Ende zu bringen und neue Klagen zu erheben, die sich aus der Wiederaufnahme der Valech- und Rettig-Kommission ergeben würden – eine noch nicht bestätigte Maßnahme, die von Menschenrechtsorganisationen sehnlichst erwartet wird.

„Scherben Poesie“ zum Zusammensetzen

„Selbstredend ist es vermessen, ein umfassendes Panorama der aktuellen Poesie Lateinamerikas einfangen zu wollen“, schreiben die beiden künstlerischen LeiterInnen und InitiatorInnen der Latinale, Rike Bolte und Timo Berger, in der von ihnen herausgegebenen Anthologie zum Festival „Scherben Poesie und Zwittertöne“. Schon im Titel spielen sie auf die Vielfalt, die poetischen Brüche und kulturellen Hybridisierungsprozesse innerhalb der jungen Lyrik aus Lateinamerika an. So wie die AutorInnen zwischen dem südlichen Argentinien und der nördlichen mexikanischen Grenze aus ganz unterschiedlichen geografischen und kulturellen Kontexten heraus schreiben, unterscheiden sich auch ihre ästhetischen Ansätze, Formen und Themen.
So scheint die Auswahl für die zweite Latinale eher subjektiv und fragmentarisch, setzt darin aber dennoch klar ihre Schwerpunkte auf zwei aktuelle Tendenzen in der lateinamerikanischen Poesie: die neoindigenistische Dichtung aus den Andenländern und die performative Poesie, die den Vortrag durch gestische, mimische, sonorische und schauspielerische Elemente belebt.
Zu spüren und zu erleben war diese Poesie am zweiten Leseabend im Berliner Instituto Cervantes, dem Veranstalter des Festivals. Hier widmet Paúl Puma (Ecuador) dem Chronisten der Neuen Welt, Pomo de Ayala, ein epenhaftes, lebendig vorgetragenes Gedicht, dort sinniert Washington Cucurto (Argentinien) über ein Fotokopiergerät. Hier evoziert Andrea Cote Botero (Kolumbien) die Stadt mit ihren Gerüchen und verfallenen Häusern, dort lässt Paula Ilabaca (Chile) in ihrer Videoperfomance die Verse sich vor dem Hintergrund der Stadt tranceartig vermehren. Hier bekämpft Angélica Freitas (Brasilien) Einsamkeit, Schlaflosigkeit und Herzschmerz mit einem „Rilke-Shake“, dort vergleicht Carlito Azevedo (Brasilien) die Welt mit einer schwarzen Kuh auf rosa Grund. Alles „Scherben“, die sich zu einem wunderbar vielschichtigen Mosaik der lateinamerikanischen Gegenwartslyrik zusammenfügen.
Die Veranstaltung am Vorabend stand ebenfalls unter dem Motto der poetischen Scherben und literarischen Zwischenräume. Miguel Ildefonso lässt westliche und indigene Kulturen innerhalb Perus in einen Dialog treten, kreuzt Lou Reed, Hölderin, Bukowski und Borges mit der Pachamama, der Mutter Erde, und anderen Elementen der Quechua-Kultur.
Um eine mitunter satirische Reflexion aktueller Geschlechterrollen geht es bei Jessica Freudenthal (Bolivien), die, durchaus selbstironisch, die Scheinwelt des Glanz und Glamours aufs Korn nimmt. Damián Ríos (Argentinien), einer der Hauptvertreter des realismo sucio, eines Schmutzigen Realismus, wartet mit fragmentierten Szenen aus dem urbanen Alltag in Buenos Aires auf.
Und Hector Hernández Montecinos (Chile) sucht schließlich in seiner kritischen Wasch-Performance eine Metapher für seine Poesie, sein Leben und sein Land: Während er seine poetische, universelle „Publikumsbeschimpfung“ vorträgt, wäscht er als Mapuche-Frau verkleidet seine eigene schmutzige Wäsche auf der Bühne.
Zwei Abende zuvor war der erste Lektürestopp des mobilen Lyrikfestivals Köln gewesen, wo die DichterInnen im Literaturhaus ihre Texte vortrugen und die Übertragungen ins Deutsche von den Kölner DichterInnen gelesen wurden. Während der beiden Abende in Berlin dagegen konnte das Publikum die deutschen Übertragungen als Projektion im Hintergrund mitlesen. Einige der gut gelungenen deutschen Versionen entstanden sogar erst während des Festivals, nämlich im Rahmen des Übersetzungsworkshops am Lateinamerikainstitut der FU Berlin. An dieser Auftaktveranstaltung der Latinale nahmen neben einigen der DichterInnen professionelle ÜbersetzerInnnen sowie Studierende verschiedener Universitäten teil. Weitere poetische Haltestellen auf der Reise stellten das KuZe Potsdam (Literaturnacht e.V.), das Kulturhaus 73 in Hamburg sowie das Literaturhaus Leipzig dar.
„Lateinamerikanische Poesie“ – diese Bezeichnung sei nicht an geopolitischen Merkmalen festzumachen, sondern habe zum Beispiel auch spanischsprachige Literatur aus den USA und Kanada mit einzuschließen, gab Amaranta Caballero Pradozu aus Mexiko zu bedenken beim abschließenden Poesie-Gespräch im Ibero-Amerikanischen Institut in Berlin. Das Internet als virtueller, grenzüberschreitender öffentlicher Raum scheint diese Einschätzung zu bestätigen. Viele der gehörten Texte wurden zuerst in Blogs oder virtuellen Zeitschriften publiziert, wie etwa auf der zweisprachigen Plattform latinlog.com. Das Internet dient den DichterInnen dabei zugleich als Bibliothek und direktes, unmittelbares Verbreitungsforum, jenseits von Zensurbeschränkungen.
„Scherben Poesie und Zwittertöne“ – dieser Titel mag einerseits als ein Bild für die Vielstimmigkeit und die vielfältigen Grenzüberschreitungen innerhalb der jungen Lyrik aus Lateinamerika verstanden werden, andererseits verweist er vielleicht – paradoxerweise – auch wieder auf ein verbindendes Element der vorgestellten Texte. So sind viele der Gedichte durch die poetische Fragmentierung der Erfahrungswelten gekennzeichnet. Es sind oft Momentaufnahmen, die von der Brüchigkeit des Ichs und den sich auflösenden Gewissheiten innerhalb der (post)modernen Gesellschaften erzählen.
In Scherben liegen dabei vielmals auch traditionelle ideologische, literarische und politische Deutungsmuster. Die jungen AutorInnen distanzieren sich von den großen lateinamerikanischen Boom-Autoren genauso wie von stereotypen politischen Einteilungen. Die Ablehnung eindimensionaler Interpretationsmodelle mündet jedoch keinesfalls in politische Beliebigkeit. Vielmehr reflektieren die DichterInnen aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen wie zum Beispiel Phänomene der postindustriellen Warengesellschaft, indem sie diese einerseits kritisch beleuchten und sich andererseits ihrer Zeichen und Symbole gleichzeitig bedienen. Sie sich diese also zu ihren poetischen Zwecken aneignen und verwandeln.

Rike Bolte, Timo Berger (Hg.) // Scherben Poesie und Zwittertöne. Zwölf Dichterinnen und Dichter aus Lateinamerika // SuKulTur // Berlin 2007 // 8 Euro

Der Kampf um Land als Terrorismus

Seit 500 Jahren kämpfen wir Mapuche und dieser Kampf wird nie aufhören.“ Das rief Pascual Pichún jenen rund 100 Menschen zu, die ihn bei seiner Freilassung vor dem Gefängnis in Traiguén, in der südchilenischen Region Araucanía, begrüßten. Das ungleiche Kräfteverhältnis in der Auseinandersetzung um die Verteilung von Grundbesitz gibt allen Anlass, Pichúns Prophezeiung Glauben zu schenken. Verarmte Mapuche, die von kaum mehr als einem Hektar Land mehrere Familien ernähren müssen, sehen sich einflussreichen GroßgrundbesitzerInnen und großen Forstunternehmen gegenüber, die für den Weltmarkt produzieren. Der Fall von Aniceto Norín und Pascual Pichún, in ihrer Sprache Lonkos (Oberhäupter) zweier Gemeinden der Araucanía ist beispielhaft für dieses Machtgefälle.
Wenige Tage nach einem Brandanschlag auf Haus und Forstbestand eines Großgrundbesitzers im Dezember 2001 waren Norín und Pichún als mutmaßliche Täter ausgemacht und verhaftet worden. Weil die Brandstiftung von der Staatsanwaltschaft als „terroristisches Delikt“ eingestuft wurde, kam ein Antiterror-Gesetz zur Anwendung, das die Rechte von Angeklagten im Prozess massiv einschränkt. Im April 2003 wurden die Beiden jedoch zunächst freigesprochen. „Trotz aller angebrachten Zweifel“ an der Unschuld der Angeklagten hätten die vorgebrachten Beweismittel nicht ausgereicht, um die RichterInnen von deren Schuld zu überzeugen, gab Richter Waldemar Koch bei der Bekanntgabe des Urteils zu verstehen. Ein Freispruch der Staatsanwaltschaft überraschte NebenklägerInnen und Angeklagte gleichermaßen. So wurde das Urteil von den FürsprecherInnen der Mapuche als „historisch“ gefeiert. Doch die Freude währte nicht lange. Auf den Freispruch folgte wenig später die Annullierung des Urteils. Der Oberste Gerichtshof verwies auf „formale Mängel“, entscheidende Beweise seien nicht angemessen überprüft worden. Für die Revision des Verfahrens gab es plötzlich neue ZeugInnen, deren belastende Aussagen unter Berufung auf das Antiterrorismus-Gesetz anonym aufgenommen wurden. Im September 2003 wurden Aniceto Norín und Pascual Pichún zu einer Haftstrafe von jeweils fünf Jahren und einem Tag verurteilt, wegen terroristischer Brandstiftung und illegaler Vereinigung. Seit dem Ende der Diktatur war das Antiterrorismus-Gesetz kaum angewandt worden.

Mächtige Nachbarn

Dass Pichún und Norín bereits ein halbes Jahr nach dem Freispruch in denselben Anklagepunkten für schuldig befunden wurden, führen BeobachterInnen des Falles, wie Luis Narvaéz und Maria Alonso von der Online-Tageszeitung Azkintuwe, auf den enormen Einfluss von Juan Augustín Figueroa zurück. Sie bezeichnen den Besitzer des abgebrannten Anwesens als den „unantastbaren Patron des Südens“. Der Verdacht, dass Figueroa im Laufe des Verfahrens nicht vollkommen untätig geblieben ist, scheint nicht so weit hergeholt. Als Ex-Agrarminister der Aylwin-Regierung (1990-1994) und zu Zeiten des Verfahrens Mitglied des chilenischen Verfassungsgerichts, pflegt er berufliche und private Kontakte zu vielen hohen VertreterInnen des chilenischen Justizapparates. Figueroa weist den Vorwurf, den Prozess beeinflusst zu haben, weit von sich. Seine Verbindungen zum Justiz- und Staatsapparat machen ihn jedoch zu einer Reizfigur in den Auseinandersetzungen um das Land südlich des Flusses Bío-Bío. Dass er zudem als Großgrundbesitzer, der seinen Besitz unter Pinochet noch erweiterte, gleichzeitig Präsident der Fundación Pablo Neruda ist, wird in der chilenischen Linken als Groteske empfunden. Die Witwe Pablo Nerudas hatte Aída Figueroa, eine Freundin des Dichters, und ihren Bruder, den Anwalt Juan Augustín als Mitglieder der Stiftung bestimmt. Letzterer leitet die Stiftung seit nunmehr 20 Jahren. Und so verwaltet der Großgrundbesitzer, der so vehement und mit allen Mitteln seine Eigentumstitel an Mapuche-Territorium verteidigt, bis heute den Nachlass eines Schriftstellers, der Zeit seines Wirkens für die Rechte der Indigenen einstand.

Kritik am Antiterrorgesetz

Doch dies ist nicht der einzige Widerspruch, den sich Figueroa leistet. „Als Agrarminister hat er sich gegen das Antiterrorismus-Gesetz ausgesprochen, später war er der Erste, der dafür sorgte, dass es wieder angewandt wird“, empört sich Pascual Pichúns Sohn Rafael, der ebenfalls eine Haftstrafe wegen „terroristischer Bedrohung“ absitzt.
Internationale Organisationen kritisieren das Antiterrorismus-Gesetz mit aller Schärfe. Human Rights Watch sieht darin einen klaren Verstoß gegen die Internationale Konvention über zivile und politische Rechte der UNO und gegen die Menschenrechtskonvention der Organisation Amerikanischer Staaten. Verträge, die auch Chile unterzeichnet hat.
Mitte der 80er Jahre hatte Pinochet das Gesetz erlassen, um die politische Verfolgung von RegimegegnerInnen zu legitimieren. Unter Präsident Patricio Aylwin wurde es reformiert, um das Gesetz, so das vorgebliche Ziel, an internationale Menschenrechtsstandards anzupassen. Dabei wurde Brandstiftung neu in den Anwendungsbereich des Gesetzes übernommen. Seither kann selbst das Anzünden von unbewohnten Gebäuden oder gar Wäldern, Büschen und Zäunen als terroristischer Akt gewertet werden.
Die Anwendung des Gesetzes hat schwerwiegende Folgen für Angeklagte wie Verurteilte. Am schärfsten kritisieren Menschenrechtsorganisationen die Aushöhlung des Rechtes auf ein ordentliches Verfahren, insbesondere durch die Anhörung von „Zeugen ohne Gesicht“, die Angeklagte anonym belasten können. Auf solche Zeugenaussagen stützen sich große Teile der Urteilsbegründung im Fall von Norín und Pichún. Darüber hinaus können des Terrorismus Verdächtigte wesentlich länger festgehalten werden, ohne einem Richter vorgeführt zu werden, als im Normalfall möglich. Die gesamte Kommunikation der Angeklagten darf zudem überwacht und abgehört werden, mit Ausnahme der Kontakte zu den AnwältInnen.
Über das Gesetz hinaus beklagen Mapuche und Menschenrechtsorganisationen vor allem das brutale Vorgehen der staatlichen Sicherheitskräfte. Landbesetzungen werden oft mit äußerster Gewalt und unter Einsatz schwerer Waffen aufgelöst. Höhepunkt dieser Gewaltexzesse war die Ermordung des siebzehnjährigen Mapuche Alex Lemún im November 2002, der während einer Landbesetzung gegen ein Forstunternehmen von einem Polizisten erschossen wurde.
Im Fall der beiden Lonkos kam sogar Kritik von UN-Seite: Taten, die im Zusammenhang mit sozialen Auseinandersetzungen um Land begangen würden, dürften nicht als terroristische Akte gewertet werden, so UN-Menschenrechtsbeobachter Rudolfo Stavenhagen im Jahr 2003. Das Urteil gegen Norín und Pichún müsse revidiert werden.
Der chilenische Staat hat seinen Umgang mit den Konflikten im Süden des Landes jedoch kaum geändert. Hatte der ehemalige Präsident Ricardo Lagos im Jahr 2002 noch gefordert, den Rechtsstaat „mit harter Hand“ zu verteidigen (s. LN 335), versprach die heutige Präsidentin Michelle Bachelet noch im Mai letzten Jahres, das Antiterrorismus-Gesetz würde unter ihrer Regierung nicht mehr angewandt. Auch konventionelle Gesetze böten ausreichend Möglichkeiten gegen Gewaltakte vorzugehen. Eine Annulierung des Gesetzes stellte sie hingegen nicht in Aussicht.
Auch noch gegen Ende seiner Haft hatte Pascual Pichún seine Unschuld an der Brandstiftung des Hauses Figueroas beteuert. Er gab jedoch zu verstehen, die Armut der Mapuche ließe ihnen „keine andere Wahl als den Kampf“ und kündigte an, weiterhin für ihre Rechte zu streiten, „koste es was es wolle“.

Spiel des Lebens

Das junge Mapuche-Mädchen mit den langen schwarzen Haaren versucht sich zu konzentrieren. Geübt bedient sie die beiden Joysticks des Spielautomaten in dem modernen Shoppingcenter in Santiago de Chile. Kurze Zeit später sieht man den virtuellen Gegner des Computerspiels, wie er bewusstlos am Boden liegt. Über Cristinas Gesicht huscht ein schwaches Lächeln. Sie freut sich über ihren Sieg. Mit ihren großen, dunklen Augen blickt Cristina durch die Spielhalle. Niemand der anwesenden Computerspieler bemerkt sie, da jeder auf den eigenen Bildschrim starrt.
Mit dieser Szene beginnt der chilenische Film PLAY. Die Regisseurin und Drehbuchautorin Alicia Schersom zeigt in ihrem Spielfilmdebüt eine Facette des modernen Großstadtlebens in Santiago de Chile. Die Protagonistin Cristina stammt aus dem Süden Chiles. Sie ist fremd in der Großstadt und hat weder Freunde noch Verwandte in Santiago. Fern der Heimat kümmert sie sich als private Krankenpflegerin um einen alten Mann. In ihrer Freizeit spielt sie „Streetfighter II“ oder streift durch die Straßen Santiagos.
Beim Müll raustragen entdeckt Cristina eine Aktentasche in der Abfalltonne. Sie nimmt diese mit auf ihr Zimmer. Akribisch untersucht sie den Inhalt, der ihr intime Details über das Leben des Besitzers verrät. Cristina taucht in eine andere Welt ein. Sie raucht die Zigaretten des Besitzers und hört mit seinem MP3-Player Musik.
Tristán ist der Besitzer der Aktentasche. Er ist ein junger Architekt aus der Oberschicht, der gerade von seiner Geliebten Irene verlassen wurde. Aufgrund eines Streiks der Bauarbeiter ist er vorrübergehend arbeitslos. Ruhelos wandert er durch Santiago. Detektivisch dringt Cristina immer tiefer in sein Leben ein. Anfangs beobachtet sie ihn nur. Dann folgt sie Tristán, ohne dass er diese Annäherung bemerkt. Doch irgendwann wird er auf sie aufmerksam.
Einsamkeit ist das bestimmende Gefühl des Films. Mit sehr viel Feingefühl nähert sich Alicia Scherson diesem Thema. Verschiedene Formen des Alleinseins werden behandelt. Der Film zeigt Menschen, die kaum soziale Kontakte besitzen, also von der Außenwelt isoliert sind. Aber auch in Begleitung oder sogar in einer Liebesbeziehung kann man sich einsam fühlen. Zwischenmenschliche Kommunikation findet in dem Film kaum statt. Wenn doch, verliert sie sich in Oberflächlichkeiten.
Zwar leben die dargestellten Menschen in der gleichen Stadt, aber sie leben nicht gemeinsam, sondern bewegen sich in separaten Parallelräumen. Ihre Lebenswelten kreisen in Umlaufbahnen aneinander vorbei. Doch trotz aller sozialer und kultureller Unterschiede haben sie eine Gemeinsamkeit: Sie befinden sich auf der Suche nach Liebe und Glück.
Auch Cristiana ist auf der Suche. Tausende Kilometer von ihrer Heimat entfernt versucht sie in der Großstadt ein neues Leben zu führen, vielleicht sogar ihre heterogene Identität zu entschlüsseln. Mit der Zeit beschattet sie nicht nur Tristán, sondern ebenfalls seine Ex-Freundin Irene. Die selbstbewusste Frau entwickelt sich für Cristina zu einer Art Vorbild. Wie der Titel schon andeutet, sehen die Protagonisten das Leben als Spiel. Für Cristiana bedeutet dieses Spiel immer weniger ihr eigenes Leben zu leben, sondern Irene nachzuahmen.
Bei der filmischen Umsetzung überzeugt Alicia Scherson mit ihrer Sensibilität für Bild- und Sounddesign. Sie bringt einzelne Momentaufnahmen mit Soundeffekten in einen neuen Bedeutungszusammenhang. Mancherorts verschmilzt die Wirklichkeit mit der magischen Traumwelt. Während Cristina ihrem kranken Patienten Geschichten über exotische Völker vorliest, hört der Zuschauer indigene Musik.
Zugleich offenbaren die fantastischen Elemente die individuellen Wirklichkeitserfahrungen der Protagonisten, so dass sich für den Zuschauer die Frage nach dem Verhältnis von Realität und Fiktion stellt. Bei aller Melancholie und Fantasie ist der Film aber auch streckenweise lustig. Exemplarisch dafür steht der junge Gärtner Manuel. Während er die Hecken der städtischen Parkanlagen stutzt, sehnt er sich nach einem ursprünglichen Leben in der Natur, hört aber über Kopfhörer lautdröhnende Technobeats.
Alicia Scherson hat mit PLAY einen Spielfilm geschaffen, der sich nicht in ein bestimmtes Genre einordnen lässt. Der Zuschauer sollte sich dem Film hingeben und die intensiven Bilder und Klänge auf sich wirken lassen, ohne jede einzelne Szene zu hinterfragen. Das Leben ist ein Rätsel. PLAY spielt mit seinen Geheimnissen.

Play, Chile 2005, Buch und Regie Alicia Scherson, 105 Minuten, Kinostart: 15. März 2007.

„Wir fordern die Transformation Argentiniens“

Dem nationalen Mythos nach ist Argentinien ein „europäisches“ Land, bevölkert von Nachkommen der EinwanderInnen. Wie äußert sich in diesem Klima Diskriminierung gegenüber der indigenen Bevölkerung?

Ich glaube es ist eine systematische Diskriminierung – sie exisitiert und ist Teil des alltäglichen Lebens aller. Aber es ist schon wahr, dass sich einiges geändert hat. Die pueblos indígenas, die „indigenen Völker“, stellen heute nicht mehr nur billige Arbeitskräfte dar. Die Mädchen haben jetzt andere Zukunftsaussichten als bloß Hausangestellte zu werden. Wir sind inzwischen Protagonisten im sozialen Leben in jenen Regionen mit hohem Bevölkerungsanteil an indigener Bevölkerung, und das ist ein großer Fortschritt.
Ich glaube trotzdem, dass wir bei der Betrachtung der staatlichen Politik von systematischer Diskriminierung sprechen können: die argentinische Politik weigert sich die kulturelle Vielfalt anzuerkennen; traditionelles Wissen, wie beispielsweise im medizinischen Bereich, wird nicht anerkannt. Es gibt keine interkulturelle bilinguale Erziehung, der indigenen Bevölkerung wird das Recht, in ihrer Muttersprache zu lernen, abgesprochen.

In Lateinamerika und auch international scheinen ethnische Identifikationen seit geraumer Zeit Hochkonjunktur zu haben. Warum ist die indigene Bewegung in Argentinien verglichen mit anderen Ländern Lateinamerikas, so spät auf den Plan getreten?

Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen ist die Art der Auseinandersetzung mit der indigenen Bevölkerung in Argentinien anders als beispielsweise in Bolivien oder Peru. Dort gab es zwar immer Bestrebungen, die indigenen pueblos zu vernichten, man hat jedoch nie ihre Existenz bestritten. In Argentinien war der Genozid an den Indigenen nicht bloß kultureller Art, sondern ein Genozid im wörtlichen Sinne. Bestes Beispiel dafür ist die sogenannte Wüstenkampagne, die campaña del desierto, gegen die Mapuche. Man hat sie bekämpft und gleichzeitig ihre Existenz geleugnet.
Zum anderen wurde die indigene Bevölkerung sehr rasch und nachhaltig kulturell assimiliert. Das wichtigste Instrument war hierbei natürlich die Bildung. Dieser Verlust der kulturellen Werte hat dazu beigetragen, dass die indigene Bevölkerung Argentiniens erst spät begann, ihre historischen Rechte einzuklagen. Hinzu kommt natürlich, dass wir keine Mehrheit ausmachen – es gibt etwa 2 Millionen Indígenas und 24 pueblos (von etwa 39 Millionen ArgentinierInnen, Anm. der Redaktion).
In Argentinien ist die indigene Bewegung schon vor Anbruch der 70er Jahre entstanden, aber sie wurde in den großen Städten geboren, in Córdoba, Buenos Aires oder Rosario, und nicht dort, wo größere Teile der Bevölkerung Indigene sind. In den Städten sehen die Migranten sich der Diskriminierung ausgesetzt, sie bekommen zu spüren, dass sie anders, nicht „gleich“ sind. Und einige begeben sich auf die Suche nach ihren Wurzeln. Die Bewegung entsprang also Forderungen kultureller Art, die dann in die Provinzen getragen wurden. Hieraus entwickelte sich ein politischer Prozess.

Du sprichst damit die Rolle der urbanen Zentren an. Wie funktioniert denn die Identifikation als indígena in der Stadt?

Das hat viel mit unserem Verständnis der Welt zu tun. Jeder indígena, egal, wo er ist, hat ein bestimmtes Verhältnis zur Natur, zur Pachamama. Er weiß, dass er die Möglichkeit hat, auf sein Land, seine tierra zurückzukehren. Die Indigenen zeichnen sich durch ihre Lebensform aus, und dazu gehört auch das Prinzip der indigenen Reziprozität, der Respekt vor Älteren. Ich denke, ein Kolla (indigene Gruppe aus dem Nordosten Argentiniens, dem Norden Chiles und dem Süden Boliviens. Anm. der Redaktion) der lügt, egoistisch handelt und intrigiert, ist kein Kolla mehr . Das ist eine Person, die ihre Identität verloren hat. In der Stadt ist man indígena, wenn man sich trotz der räumlichen Entfernung und dank der Bindung an die Pachamama kulturell auszudrücken vermag. Ein fundamentales Element ist zum Beispiel, die Muttersprache an die Kinder weiter zu geben.
Natürlich ist es Besorgnis erregend, dass viele städtische Indigene, die auf tierra indígena geboren wurden, sich nicht als Indigene sehen. Wir wollen in nächster Zeit verstärkt an einer Organisation der urbanen Indigenen arbeiten, aber immer mit denen, die sich auch als indígenas identifizieren. Wir können daran arbeiten, dass ihre Identifikation noch stärker gefestigt wird. Ich glaube, die Zukunft der pueblos indígenas entscheidet sich an der Frage der urbanen Indigenen. Diesem Thema müssen wir uns als Organisation und auch als pueblo verschreiben.

War der indigene Diskurs von vornherein an die Gemeinsamkeiten der indigenen Bewegungen gerichtet, oder sind die einzelnen pueblos erst in der Bewegung zusammengewachsen?

Die Arbeit in den Provinzen war lokal sehr begrenzt. „Wir, die Kollas“, „wir, die Guaraníes“ etc. – nach wie vor stehen wir vor der Herausforderung, eine nationale Einheit zu bilden, was wir über die Organisation der indigenen Völker Argentiniens (ONPIA) versuchen. In Wahrheit befinden wir uns in einer Phase der eigenen Stärkung, wir bauen die indigenen Nationen wieder auf.
Es ist nicht unwichtig, dass der Prozess mit den Bestrebungen nach Wiederaneignung unserer Kultur begann und sich erst Anfang der 90er zu einem gemeinsamen, reell politischen Prozess entwickelt hat. Ich betone das Politische deswegen, weil man in Argentinien weiterhin meint, wir beschränkten uns darauf, unser Recht auf Land und Bildung einzufordern. Aber wir fordern die Transformation Argentiniens in einen multikulturellen Staat. Wir fordern, dass dieser homogene Staat juristische Diversität akzeptiert, dass er die Interkulturalität als Prinzip der Gesellschaft anerkennt. In Argentinien sieht man uns zwar nicht mehr als Museumsstücke, wie man es lange getan hat – aber man sieht uns auch nicht als politische Subjekte, sondern beschränkt sich auf den kulturellen Aspekt. Aber was wir fordern sind Modelle: Lebensmodelle, Modelle politischer Organisation, Modelle von Arten, die Welt zu sehen.

Wie gestaltet sich denn die lokale Arbeit, von der du sprachst? Welche Grenzen und welche Verbindungen bestehen?

Die indigenen Nationen befinden sich im Prozess der Restrukturierung. Wir, die Kollas aus Jujuy, versuchen, die Provinzgrenzen zu überspringen und uns mit den Kollas aus der Nachbarprovinz Salta zu vereinigen. Die Guaraníes der Provinz Jujuy arbeiten eng mit den Guaraníes der Provinzen Misiones und Salta zusammen – es geht also gerade darum, die Provinzgrenzen zu überschreiten.
Auf nationaler Ebene ist der Prozess noch nicht sehr homogen. Im Norden haben wir starke Organisationen, starke Führungspersönlichkeiten und können effizient unsere Rechte als pueblos einfordern. Im Süden ist die indigene Bevölkerung dank der Präsenz der Mapuche ebenfalls sehr politisiert. Im Nordosten jedoch, wo es ebenfalls viele Indigene gibt, stockt der Organisationsprozess. Wir versuchen also gerade, die Bewegung im ganzen Land auf den gleichen Stand zu bringen, um so Veränderungen auf höherem Niveau erreichen zu können.

Eine der wichtigsten Forderungen der indigenen Bewegungen Lateinamerikas ist die nach einem multikulturellen oder „multiethnischen“ Staat. Hat sich in dieser Hinsicht unter der Regierung Kirchner etwas geändert?

In Argentinien ist, was die Durchsetzung der Menschenrechte angeht, viel erreicht worden. Das hat natürlich unsere Erwartungen wachsen lassen. Den internationalen Anforderungen der indigenen Rechte wird der argentinische Staat jedoch nicht gerecht.
Im Juni hat der Rat für Menschenrechte der UN, nach 20 Jahren Debatte, die Universelle Deklaration der Rechte der indigenen Völker verabschiedet. Die argentinische Regierung hat sich in der Abstimmung der Stimme enthalten. Eine Regierung, die sich nach innen für die Durchsetzung der Menschenrechte einsetzt und die Neuverhandlungen der Menschenrechtsverbrechen der Militärdiktatur ermöglicht, diese Regierung enthält sich international bei der Abstimmung über diese Deklaration, die ein großer Wunsch und großes Ziel der indigenen Bewegung war und ist. Ich sehe das Problem darin, dass die Regierung sich mit den indigenen Völkern nicht verständigt.

Pueblos, Autonomía, Territorio – „Völker, Autonomie und Land“, das sind drei Schlüsselbegriffe der indigenen Bewegung. Wie sind sie zu verstehen?

Was das Konzept der pueblos betrifft geht es zunächst um die Anerkennung unserer politischen Organisationsformen als gleichberechtigt gegenüber dem Staat. Außerdem muss von seiner Seite anerkannt werden, dass wir schon vor ihm da waren.
Die Anerkennung des Konzeptes der pueblos ist in Argentinien sehr umstritten. Das hat damit zu tun, dass wir nicht einfach eine Gruppe von Leuten sind, die sich zusammensetzen und sagen: wir sind Kollas. Wir sind Teil eines historischen Prozesses, der eine mehr als 10.000 Jahre alte Geschichte vorzuweisen hat. Und wir haben eine politische Vision.
Das Prinzip der pueblos ist untrennbar vom Prinzip des territorio. Als pueblo haben wir eine Geschichte in einem bestimmten Raum, der viel mehr ist als bloß der physische Raum oder der Boden. Es bedeutet auch die Souveränität über die Bodenschätze, ein wichtiges Thema in der Auseinandersetzung mit dem Staat.
Mit autonomía fordern wir das Recht ein, frei über das zu bestimmen, was wir tun wollen und wie wir uns darstellen möchten. Insofern ist unser Kampf weder ein rein kultureller, noch einfach ein Kampf um Eigentumsanspruch auf Ländereien. Es ist ein politischer Kampf, für politische Veränderung. Dem argentinischen Staat zu sagen, „Ich, die Nation der Kolla, bin dir gleich, ich will mit dir auf Augenhöhe in Dialog treten“, wirkt auf einen Argentinier, der sich nicht für indigen erachtet, wahrscheinlich belustigend. Aber für uns ist das der Weg, den wir gehen.

Der bolivianische Präsident Evo Morales wird international, besonders von den indigenen Bewegungen, als „erster indigener Präsident Lateinamerikas“ gefeiert. Hat denn die Indigenität Morales politische Konsequenzen?

Evos Regierung muss große Herausforderungen bewältigen. Sie muss die Frage beantworten, wie man Macht aus indigener Perspektive begreift und ausübt. Was wir „Entwicklung mit Identität“ nennen, muss Evo jetzt verwirklichen. Es ist an ihm zu zeigen, dass ein multikultureller Staat möglich ist. Alle, die wir den Kampf Evos kennen wissen, dass es ein Kampf für die Ärmsten ist. Das ist es, was uns am Herzen liegt. Es liegt in der Verantwortung aller Indigenen Amerikas, die Regierung von Evo zu unterstützen. Für uns ist dies die Möglichkeit zu zeigen, dass der multikulturelle Staat machbar ist, dass man Macht ausüben kann, auch indem man unsere Weltsicht respektiert und akzeptiert. Und dass man über den Staat Wege eröffnen kann, um die historische Schuld zu begleichen, die die Staaten den indigenen Völkern gegenüber haben.

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