Mapuche als Störfaktor des chilenischen Exportmodells

Es sind keine ruhigen Zeiten für die seit März diesen Jahres amtierende chilenische Präsidentin Bachelet. Zuletzt sorgten Chiles SchülerInnen mit wochenlangen Protesten für Unruhe. Ein Hungerstreik von vier politischen Gefangenen der Mapuche von März bis Mai kam hinzu. Patricia Troncoso, die Brüder Patricio und Jaime Marileo sowie Juan Huenulao verweigerten in den Gefängnissen von Temuco und Angol (Südchile) insgesamt 63 Tage die Aufnahme von Nahrung. Damit wehrten sie sich gegen die Verurteilung zu zehn Jahren Haft und Zahlungen von jeweils rund 750.000 US-Dollar Schadensersatz an das Unternehmen Forestal Mininco. Die Vier sollen für das Abbrennen von 100 Hektar Pinienwald des Holzunternehmens im Dezember 2001 in Ercilla verantwortlich gewesen sein.
Die Inhaftierten verlangten ihre Freilassung, die Wiederaufnahme der Verfahren und die Abschaffung des Antiterrorgesetzes.
Das während der Pinochet-Diktatur verabschiedete Antiterrorgesetz, auf dessen Grundlage die vier Mapuche wegen „terroristischer Brandstiftung“ verurteilt wurden, wird selbst nach der Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen immer wieder angewandt und erlaubt unter anderem Aussagen von „Zeugen ohne Gesicht“. Anonyme Zeugenaussagen führten auch im Falle der vier Hungerstreikenden zur Verurteilung. Die Abschaffung des Ley Antiterrorista wird seit Jahren von VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen gefordert.

Proteste und internationale Solidarität

National wie international hatte der Fall ein breites Echo gefunden. Persönlichkeiten wie José Saramago, Noam Chomsky und Juan Guzmán (Richter im Fall Pinochet) forderten Präsidentin Bachelet zur Freilassung der politischen Gefangenen auf. In Santiago und Temuco fanden große Demonstrationen statt, und selbst während der Europareise Bachelets wurde bei Empfängen und Veranstaltungen in Madrid sowie am Rande des EU-Lateinamerikagipfels in Wien auf die Situation der Hungerstreikenden aufmerksam gemacht. Michelle Bachelet musste daraufhin erklären, dass die Regierung zukünftig nicht mehr auf die Anwendung des Antiterrorgesetzes im Mapuche-Konflikt bestehen würde. Eine endgültige Abschaffung des Gesetzes steht jedoch bislang nicht zur Debatte.
Während des Hungerstreiks bildete sich eine Vermittlungsgruppe um Mapuche-Autoritäten, den Bischhof von Temuco und den sozialistischen Senator Alejandro Navarro. Mitte Mai meldete sie einen ersten Erfolg: Im Gegenzug für die Beendigung des Hungerstreiks versprach die chilenische Regierung einem Gesetzentwurf des Senators Navarro – genannt Ley Navarro – höchste Priorität im legislativen Verfahren einzuräumen. Das Ley Navarro würde für Mapuche-Gefangene, die nach dem Antiterrorgesetz verurteilt wurden, eine Freilassung auf Bewährung ermöglichen. Diese könnte nach einem Jahr Haft gewährt werden. Voraussetzung ist allerdings, dass es sich nicht um Straftaten gegen Personen handelt. Außerdem müssten die Gefangenen schriftlich erklären, künftig auf politisch motivierte Gewaltaktionen zu verzichten. Neun politische Gefangene der Mapuche könnten derzeit von einem solchen Gesetz profitieren. Anfang Juli wird mit der Verabschiedung des Gesetzes im Kongress gerechnet. Sollte es nicht dazu kommen, drohen die Gefangenen mit der Wiederaufnahme des Hungerstreiks.

Begrenzter Integrationswille

Während des Hungerstreiks demonstrierten die Mapuche auch für die Anerkennung ihrer kollektiven und individuellen Rechte als Volk, für ihre Selbstbestimmung und für die Rückgabe ihrer einst kollektiv bewirtschafteten Ländereien in Chile und Argentinien, die vom Staat enteignet wurden. Die Mapuche-Politik der chilenischen Regierung stand schon in den Jahren zuvor im Kreuzfeuer der Kritik. „Das Vorgehen der Forstwirtschaft und des Staates ist eine klare Verletzung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der Mapuche“, resümierte der Sondergesandte der Vereinten Nationen, Rudolfo Stavenhagen, nach einem Besuch der Mapuche-Gebiete.
Der Erfolg des Hungerstreiks in Verbindung mit den zahlreichen Protestaktionen zeigt die Stärke der indigenen Bewegung. Die chilenische Regierung setzte von Beginn des Konfliktes an auf eine harte Linie. Sie tat dies vor allem, um die in der Forstwirtschaft tätigen Konzerne und deren Angst vor Enteignungen zu besänftigen. Denn Zweifel am Privateigentum dieser Unternehmen gelten als Angriffe auf das erfolgreiche chilenische Rohstoff-Export-Modell. An dieser Stelle enden die Integrationsbemühungen der chilenischen Präsidentin Bachelet. Bei der traditionellen Regierungserklärung am 21. Mai erwähnte sie den Mapuche-Konflikt mit keinem Wort.

KASTEN:
Mapuche – Eine Geschichte des Widerstands

Die Mapuche sind mit fast einer Million Menschen eines der größten indigenen Völker Amerikas und bewohnen Gebiete im Süden Chiles und Argentiniens. Jahrhundertelang wehrten sie sich erfolgreich gegen die Eroberung ihres Landes durch Inkas und spanische Kolonisatoren. Seit der Besetzung des Mapuche-Landes Ende des 19. Jahrhunderts – beschönigend die “Befriedung von Araukanien” genannt – leben sie unter schwierigsten Bedingungen. Die Besetzung und Aufteilung ihrer Gebiete und die Errichtung von Reservaten führten zur Verarmung der Mapuche. Insgesamt 30 Millionen Hektar ihres Landes wurde enteignet. Während der Pinochet-Diktatur verloren die Mapuche weitere kollektiv bewirtschaftete Ländereien, ihr verbliebenes Reservatsterritorium wurde parzelliert. Holzkonzerne, vor allem die Unternehmen Arauco und ihre Tochterfirma Mininco, nutzen die enteigneten Ländereien als Holzplantagen für die Zellstoffproduktion.
In den 1990er Jahren gab es mehrere Landkonflikte mit dem spanischen Energiekonzern ENDESA (und dessen Tochterfirmen), der Mapuche-Ländereien für den Bau von mehreren Staudämmen enteignen und Mapuche- Familien umsiedeln ließ. Seit Ende der 90er Jahre verfolgen mehrere Mapuche-Gruppen eine konfrontativere, auf Autonomie orientierte Politik, zu der auch die Rückgewinnung von enteigneten Ländereien gehört.

Rebellische Erinnerung

Was für eine Rolle spielt Punto Final in der Medienlandschaft Chiles?

Punto Final ist eine unabhängige Zeitschrift, die nur den Interessen der breiten Öffentlichkeit verpflichtet ist. Deshalb können wir frei und immer zur richtigen Zeit über Themen berichten, die die anderen Medien lieber umgehen, um keine Akteure, von denen sie finanziell abhängig sind, in Schwierigkeiten zu bringen. Punto Final ist offen genug, um über Prozesse in den lateinamerikanischen Gesellschaften zu berichten, die von anderen Medien entweder entstellt oder sogar ganz ignoriert werden.
Welchen Themen widmete sich Punto Final in seiner Anfangszeit und mit welchen Themen beschäftigt sich die Zeitschrift heute?
Generell wurden die Fortschritte der aufsteigenden sozialen Bewegungen abgedeckt, wie zum Beispiel die Bauern- und Arbeiterbewegung. Es wurde über die kubanische Revolution berichtet und wie sie sich auf die lateinamerikanische Linke auswirkte. Auch der Vietnam-Krieg war ein großes Thema.
Heute variieren die Themen sehr. Auf internationaler Ebene berichten wir vor allem über Prozesse und Schwierigkeiten in Kuba, Venezuela, Brasilien, Bolivien, Argentinien und Uruguay. Was Chile betrifft, gibt es Reportagen über die Auswirkungen des neoliberalen Systems, aber auch über Umweltschäden und ausgeschlossene soziale Gruppen. Insbesondere über den Widerstand der Mapuche, die ihre Kultur und ihr Land verteidigen. Des Weiteren nehmen der Kampf gegen Straflosigkeit und die Menschenrechtsbewegungen sowie die Analyse der ideologischen Debatte der Linken einen zentralen Platz in Punto Final ein.

Was bedeutet für Dich das Projekt „Punto Final – Memoria Histórica online“? Was für Auswirkungen kann der freie Zugang zu den alten PF-Ausgaben im Internet Deiner Meinung nach für die chilenische Gesellschaft haben?

Ich weiß, dass die gesamte Redaktion des PF mit diesem Geburtstagsgeschenk einen Schub Dynamik bekommen wird, denn wir werden dieses Archiv nutzen können, um uns besser den Herausforderungen der Gegenwart zu stellen. Ich war sehr beeindruckt, dass der Kampf gegen die Diktatur auch heute noch junge Menschen motivieren kann, in einer Geste der Solidarität diese historisch wichtigen Dokumente der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Dank des Online-Archivs werden diese Materialien, die in Chile in den Bibliotheken oder Archiven nicht vorhanden sind, wieder öffentlich zugänglich sein und so für viele Menschen eine wichtige Etappe der chilenischen Geschichte besser verständlich machen.

Du hast neben der Entgegennahme des Online-Archivs außerdem Dein Buch 119 de nosotros vorgestellt. Was genau war der Plan Colombo?

Der Plan Colombo stellte einen Höhepunkt der Repressionspolitik der Diktatur dar. Er diente sozusagen als Versuch für die spätere Operation Cóndor, das Abkommen über die Zusammenarbeit zwischen den Militärdiktaturen des Conosur. Von Mai 1974 bis Februar 1975 wurden 119 Personen entführt. Der Plan Colombo wurde mit einer massiven Medienstrategie inszeniert, um das Verschwindenlassen von Personen zu leugnen: Tagespresse und Radio verbreiteten falsche Informationen über die revolutionären Bewegungen. Die MIR wurde als eine Organisation dargestellt, die in der Lage sei, ihre eigenen Leute umzubringen. In der Tageszeitung Segunda hieß es zum Beispiel: „Exterminado como ratas“ – „Ausgelöscht wie Ratten“, ein wirklich Gänsehaut erzeugender Titel! Es wurde über Leichen in Argentinien berichtet, die mit Schildern behängt waren, auf denen stand: „Als Verräter getötet. MIR“. Später stellte sich heraus, dass es Körper von argentinischen Verschwundenen waren.
Zusätzlich wurden Zeitschriften zu Propagandazwecken erfunden, die in Argentinien und Brasilien zwei Listen mit insgesamt 119 Namen von Kameraden veröffentlichten. Daher kommt der Name „Liste der 119“, so wie die Linke sie bezeichnet hat. Diese gefälschten Meldungen wurden dann über die nordamerikanische Nachrichtenagentur UPI in Chile verbreitet. Es war also eine perfekt geplante und durchgeführte Operation. Innerhalb des Militärs hieß sie Plan Colombo. Diese interne Bezeichnung wurde natürlich erst viel später bekannt.

Was hat Dich dazu bewegt, speziell die Geschichten dieser 119 Menschen in Deinem Buch zu rekonstruieren und sie so wieder in Erinnerung zu rufen?

Ich wollte diese Namen aus der gefühllosen Kälte der Statistik herausnehmen und der heutigen Jugend die Generation von Revolutionären der 70er Jahre näher bringen. Wenn in der chilenischen Öffentlichkeit überhaupt mal die Verschwundenen thematisiert wurden, dann blieb die Liste der 119 unerwähnt. Unter den Angehörigen machte sich große Wut breit und wir gründeten die Organisation Familienangehörige und Freunde der gefallenen MIRisten. Ich war in der Kommunikationsabteilung und begann mit meiner Kollegin Sonia Cano, Informationen für Pressemitteilungen zu den 119 Verschwundenen zusammenzutragen. Das war der Beginn meines Buches. Wir hatten natürlich auch die Hoffnung, dass unsere Arbeit zu einer schnelleren juristischen Lösung beitragen würde. Dem war nicht so. Es ist nichts passiert. Nur in fünf Fällen gibt es überhaupt ein Verfahren.

Du willst also zur Aufklärung der Vergangenheit beitragen?

Das Anliegen meines Buches ist nicht allein, den Plan Colombo anzuklagen. Ich wollte die Lebensgeschichten dieser Kameraden darstellen, weil sie bis heute als Terroristen gezeigt werden und nicht als die politischen und sozialen Vorkämpfer, die sie waren. Ihre Lebensgeschichten zu kennen heißt, die Vielfalt des Kampfes der chilenischen Linken dieser Zeit kennen zu lernen. Es sind Menschen, die in den Umwälzungsprozess, den Chile damals erlebte, zutiefst involviert waren.
Diese 119 waren nicht nur physisch, sondern auch aus der Erinnerung verschwunden. Es wurde nie von ihnen gesprochen. Die Absicht des Buches ist, diese Geschichten der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, vor allem den Jugendlichen.

Dein Buch richtet sich also vor allem an die heutige Jugend?

Ja. Denn es gibt einen großen Unterschied zwischen den Generationen in Chile. Die Jugend im Jahr 2000 hatte keine Ahnung, was vor der Diktatur in Chile geschehen ist. Von der Diktatur kannten sie nur, was jedes Jahr zum 11. September im Fernsehen gezeigt wird: die Bombardierung des Präsidentenpalastes La Moneda. Natürlich ist das auch wichtig, stellt dieser Tag doch das Ende eines Traumes, eines Prozesses in Chile dar. Aber von den Gründen für den Putsch gegen die Regierung der Unidad Popular ist nie die Rede! Die Jugendlichen heute haben keinen Zugang zu der Zeit vor der Diktatur, sie wissen nicht wie ihre Altersgenossen in den 60er und 70er Jahren waren. Und das führt dazu, dass sie nicht verstehen können, was in dieser Zeit wirklich passiert ist. Es gibt zwar eine Absage an die Repressionspolitik der Diktatur, aber keine wirkliche Anerkennung des Widerstandskampfes in Chile. Das wird vollkommen ignoriert.

In Deutschland hat man eher das Bild einer desinteressierten chilenischen Jugend. Du bist also der Meinung, dass sie langsam wieder zu politischem Bewusstsein erwacht?

Ja, mir scheint, dass sich die Jugendlichen heute mehr zu politischen Themen hingezogen fühlen, vielleicht auch als Gegenreaktion auf den Rest der Gesellschaft. Zum Beispiel haben wir im September dieses Jahres ein Seminar über den Sozialismus im 21. Jahrhundert abgehalten, und im Publikum waren hauptsächlich Jugendliche! Was die Erinnerungskultur zur jüngsten Geschichte Chiles angeht, glaube ich, dass es ein grundsätzliches Interesse gibt. Vorausgesetzt, sie wird mit den aktuellen Problemen verbunden und nicht aus purer Nostalgie zelebriert.

Wie manifestiert sich diese Erinnerungskultur?

Das Thema Erinnerung wurde noch nicht genügend diskutiert und die Vergangenheit wartet noch immer auf eine tiefer gehende Aufarbeitung. Es gibt nur sehr kleine Organisationen, die sich intensiv mit dem Thema Erinnerung auseinander setzen und versuchen, die historischen Tatsachen zu rekonstruieren. Dieses Jahr jährt sich die Veröffentlichung der „Liste der 119“ zum 30. Mal und es hat sich ein neues Kollektiv aus Künstlern und ehemaligen Genossen gegründet, die sich für eine andere Art der Erinnerung einsetzen. In Santiago haben wir eine sehr schöne Gedenkfeier veranstaltet. Es beteiligten sich viele junge Leute, Schüler und Studenten. Ausgehend von Fotos, die die Verschwundenen in alltäglichen Situationen zeigen, haben wir ungefähr zwei Meter große Figuren gemalt. Es sollten wirkliche Abbilder sein und nicht diese schwarzen Silhouetten, die früher verwendet wurden, um das Verschwindenlassen anzuprangern. Diesmal ging es darum, die Verschwundenen zum Leben zu erwecken, sie als die Jugendlichen zu zeigen, die sie einmal waren.

Interview und Übersetzung: Katharina Severin und Olga Burkert

Rocks on the Gold

Es ist die Legende überliefert, dass Pedro de Valdívia, den spanischen Eroberer Chiles und Stadtgründer von Santiago, ein grausamer Tod ereilte. Als seine Truppen eine empfindliche Niederlage gegen die Mapuche erlitten, wurde er gefangen genommen und zu einem symbolträchtigen Tod verurteilt: Man goss ihm flüssiges Gold in den Rachen. Die Konquistadoren stießen nie auf größere Goldvorkommen.
Fast 500 Jahre nach dem Eintreffen der Spanier glaubt die kanadische Firma Barrick Gold nun doch das mythische El Dorado gefunden zu haben. Ihre Suche gestaltete sich vergleichsweise einfach. Durch moderne Satellitentechnik wurden die größten Goldkonzentrationen im Gestein an einem Ort ermittelt, der für die spanischen Reiter nur schwer zu erreichen war: auf über 5000 Meter Höhe, mitten in den Anden, auf der heutigen Grenze zwischen Chile und Argentinien. Die Fundorte heißen Pascua und Lama. Barrick gibt die Menge des Goldes mit insgesamt 17,6 Millionen Unzen (knapp 500 Tonnen) an. Außerdem sollen jährlich ca. 30 Millionen Unzen Silber und 5000 Tonnen konzentriertes Kupfer abgebaut werden. Das Unternehmen will ca. 1,6 Milliarden Dollar in das Projekt investieren. Die Bodenschätze befinden sich in einer Region, die eine der höchsten Arbeitslosenzahlen im Land aufweist und bisher fast ausschließlich von Landwirtschaft und Tourismus lebt.

Das Versetzen der Gletscher
Doch genau das ist einer der Hauptkritikpunkte von Lucio Cuenca, dem nationalen Koordinator des Observatoriums für Umweltkonflikte in Lateinamerika (OLCA). „Das Projekt soll insgesamt nur 17 Jahre laufen, und was ist danach?“ OLCA befürchtet, dass das ökologische Gleichgewicht für immer zerstört und der Region damit auch die Grundlage für Landwirtschaft und Tourismus entzogen wird. Den stärksten Widerspruch erfährt der Plan der Minengesellschaft, größere Teile dreier Gletscher zu verlegen, um die Bodenschätze im Übertagebau ausbeuten zu können. Insgesamt sollen 20 Hektar entfernt und an einem anderen Ort wieder „artgerecht“ platziert werden.
Cuenca versucht seinen Ärger hinter einer Reihe von Argumenten zu verbergen. Nüchtern und sachlich widerlegt er alle Behauptungen von Barrick. „Das Unternehmen gibt an, Erfahrung im Versetzen von Gletschern zu haben. Doch es gibt weltweit kein einziges Beispiel, in dem ein Gletscher ohne größere Verluste oder sogar dessen Verschwinden erfolgreich versetzt wurde.“ Außerdem arbeite Barrick mit gefährlichen Techniken, die höchst giftige Substanzen wie Zyankali oder Arsen freisetzten. Früher oder später verseuchten diese das Grundwasser. Dieselben Techniken sind in Europa verboten.
Auch das 1,6 Milliarden-Dollar-Argument will Cuenca nicht gelten lassen. „Barrick arbeitet seit fast 20 Jahren in Chile und hat bisher noch nicht einen Dollar Steuern gezahlt!“, erläutert er. Die chilenischen Gesetze ermöglichen Buchhaltungstricks, die vor allem ausländische Investoren begünstigen.
Ein weiteres Produkt der neoliberalen Gesetzgebung ist die De-Facto-Privatisierung des Wassers. Offiziell gilt das Wasser als nationales Gut, das geschützt werden muss. Doch die Kontrolle über das Wasser hat im Huascotal die Junta de Vigilancia, die Vereinigung zur Überwachung des Wassers. Die Junta funktioniert wie eine Aktiengesellschaft, in der regionale Unternehmer und Großgrundbesitzer die größten Anteile halten. Im Juli hat Barrick mit Vertretern der Junta ein Protokoll unterschrieben, das dieser eine Zahlung von 60 Millionen Dollar garantiert und im Gegenzug die Verantwortung für die Kontrolle und die Qualität des Wassers auf die Junta überträgt.
Barrick entschloss sich zu diesem Schritt erst, als die chilenische Umweltkommission CONAMA die Realisierung des Projekts Pascua-Lama an die Bedingung der Umweltverträglichkeit knüpfte. Allerdings geschah dies erst nach dem Protest der Talbewohner. Landwirte hatten die Behörde darauf aufmerksam gemacht, dass in dem Abbaugebiet der Mine Gletscher in Gefahr seien.
In Vallenar, der mit 44.000 Einwohnern größten Stadt des Huascotals, organisieren sich Menschen, die vorher nie etwas mit Politik zu tun hatten, im Rat zur Verteidigung des Tals – dem Consejo de Defensa. Astrid Llanos ist Hausfrau und aktives Mitglied des Consejo. Sie klagt an: „Barrick kommt, zahlt und hinterlässt ein zerstörtes Umweltsystem.“ Mirna Inostroza, eine junge energische Frau, ist Vorsitzende des Rats. Hauptberuflich arbeitet sie als Fremdenführerin für Ökotourismus. Sie sieht das zentrale Problem in der Desinformation der Talbewohner. Niemand wisse, was das Projekt wirklich für Konsequenzen habe, und alle wollten der Verheißung Glauben schenken, dass Barrick Arbeitsplätze und Wohlstand in die Region bringe.

Unternehmen im staatlichen Niemandsland
Um der Desinformation zu begegnen, haben sich die Kritiker in die Einzelheiten des Projektes eingearbeitet. Sie erfuhren zum Beispiel, dass das Projekt auf einem bilateralen Vertrag zwischen Chile und Argentinien beruht, der auf das Betreiben von Barrick hin entstanden ist. Dieses Abkommen soll es ermöglichen, Bodenschätze, die im Grenzgebiet liegen, ohne Schwierigkeiten abzubauen. Für Mirna Inostroza ist klar: „Das Gebiet Pascua-Lama ist jetzt ein virtuelles Land, das dem Unternehmen erlaubt, dort seine eigenen Rechte durchzusetzen! Es ist nicht mehr unser Land!“ Tatsächlich kann sich Pascua-Lama zu einem Präzedenzfall entwickeln. Denn es ist zu erwarten, dass entlang der Grenzlinie der Kordilleren zahlreiche weitere Bodenschätze entdeckt werden. Nationale und internationale Unternehmen beobachten den Fall daher mit großem Interesse.
Doch nicht überall im Tal sind die Aktivisten mit ihren Informationen willkommen. Arbeitslose erhoffen sich eine Anstellung, Kleinunternehmer einen generellen Anstieg der Nachfrage. Der Besitzer eines Restaurants in Alto de Carmen, einem verschlafenen Dorf, das an einer wichtigen Weggabelung im Tal liegt, meint, es sei „sowieso egal. Das Tal ist schon längst verschmutzt!“

Kampf um Wasser
Im Tal herrscht ein vielschichtiges Mikroklima. An den Ausläufen der Flüsse im mittleren Norden Chiles baden sich Pinguine und auf Plantagen werden hauptsächlich Weintrauben für den Export angebaut. Die kleineren Bauern in den wärmeren Gegenden des Tals produzieren Bananen, Avocados, Mangos oder Passionsfrüchte. Die Kritiker des Projekts sehen dieses Mikroklima bedroht und fühlen sich von den Politikern im Stich gelassen. Besonders schmerzlich erfährt das Sergio Campusano. Er ist Sprecher der Huascoaltino-Indígenas. Die Huascoaltinos sind – anders als etwa die Mapuche oder die Aymara – bisher nicht offiziell von der Regierung als Ethnie anerkannt worden.
Während zahlreiche Küken zwischen seinen Beinen umherirren, malt Sergio Campusano mit einem Stock Linien in den sandigen Boden, die die Besiedelung des Tals durch seine Vorfahren veranschaulichen sollen. Er kennt die Paragraphen der Verfassung auswendig, die seinem Volk diesen Boden zusprechen. Dennoch werden nun – ohne dass das Projekt endgültig genehmigt ist – bereits Straßen mitten durch das Territorium der Huascoaltinos gezogen, die den schweren Lastwagen den Zugang zu Pascua-Lama erleichtern. Angeblich wurde sogar bereits eine Landepiste für Privatflugzeuge über einem archäologischen Friedhof der Huascaltinos errichtet. Campusano klingt verbittert: „Valle de Huasco ist das einzige Tal im Norden Chiles, das noch nicht von den Minengesellschaften verseucht wurde. Es gibt hier einmalige Bedingungen, da der Grundwasserspiegel sehr hoch ist. Wenn die Mine erst in Betrieb ist, dann wird der Wasserspiegel sinken und wir können nichts mehr anbauen.“ Tatsächlich gibt Barrick an, 42 Liter Wasser pro Sekunde zu benötigen. Auf der argentinischen Seite werden es sogar 370 Liter pro Sekunde sein. „Mit dem Projekt Pascua-Lama sterben wir. Wir werden verschwinden wie die Azteken“, befürchtet Campusano.
Bereits im Jahr 2001 haben die Huascoaltinos Barrick wegen illegaler Besetzung ihres Territoriums verklagt. Im Moment können die Anwälte die Klage jedoch aus Geldmangel nicht weiter verfolgen. Sollten die Indígenas Recht bekommen, und man erklärte das Territorium offiziell zu schützenswertem Eigentum der Huascoaltinos, wäre das Projekt der
Minengesellschaft gescheitert.

Widerstand gegen das Projekt
So gibt es noch zwei Hoffnungsfunken für die Gegner des Projekts: Sollte es Barrick nicht gelingen, schlüssig zu erklären, wie es die Teile der drei Gletscher umweltverträglich versetzen will, könnte man dem Unternehmen die bereits erteilte Erlaubnis zum Abbau der Bodenschätze wieder entziehen. Allerdings weist Barrick schon jetzt auf die Möglichkeit hin, in diesem Fall eine milliardenschwere Klage gegen den chilenischen Staat anzustrengen. Zunächst jedoch hat Barrick sich eine weitere Frist erbeten: Die Antwort an das Umweltministerium – ursprünglich fällig bis zum 1. September – will das Unternehmen jetzt bis zum 11. November vorlegen. Bis dahin geben weder Barrick noch CONAMA öffentliche Stellungnahmen zu diesem Projekt ab.
Auf der anderen Seite könnte das transnationale Unternehmen über den Widerstand der 260 verbliebenen Huascoaltinofamilien stolpern. Sergio Campusano weiß, dass er damit fundamentalen Wirtschaftsinteressen in die Quere kommt. Trotzdem ist er bereit zu kämpfen und sucht dafür nach Bündnissen, die über die lose Vernetzung mit den anderen Talbewohnern hinausgehen: „Wir brauchen internationale Aufmerksamkeit, damit Druck auf die chilenische Regierung ausgeübt wird. Man soll wissen: Geld ist in Chile immer willkommen, auch wenn es auf Kosten der Indigenen geht!“ Bisher jedoch wird das Schicksal des Huascotals und seiner Einwohner kaum öffentlich diskutiert und aufgrund des Präsidentschaftswahlkampfes – im Dezember wird gewählt – stehen andere Themen auf der politischen Agenda.
Sollte den Indigenen Chiles dennoch eine späte Gerechtigkeit zuteil werden? Werden die Huascoaltinos an den Widerstand der Mapuche gegen die Spanier anknüpfen? Sergio Campusano muss über den Vergleich lächeln. Sicher wird diesmal niemandem flüssiges Gold in den Rachen gegossen.

“Uns bleibt nur der Staub der Lastwagen”

Carmen Colipi empfängt ihre BesucherInnen auf einer alten Holzbank im Schatten ihres Hauses. Nicht viel deutet darauf hin, dass die alte Frau eine Machi ist, eine traditionelle Heilerin. Vielleicht ihre ungewöhnlich grün gefärbten Fingernägel, auf alle Fälle aber der zu einer Treppe gearbeitete Holzstamm an der Stirnseite ihres Hauses. Auf seinen fünf Stufen stehen Tongefäße, einige Gläser und ganz oben ist eine Madonnen-Figur angebunden. Hinter dem Altar ragen lange Äste eines Canelo-Baumes hervor. Das kleine Gehöft, mit dem Pferch für die Schweine und den Kirsch- und Apfelbäumen liegt in einem Meer junger Kiefernsetzlinge, die sich wie Kohlköpfe in einem Beet in langen, ordentlichen Reihen über die Hügel ziehen. Auf über 500 Hektar erstreckt sich die Pflanzung des Unternehmens „Arauco“, die das Grundstück der Machi zu allen Seiten umgibt. „Als ich als junges Mädchen hergekommen bin, gab es hier überall Wald und ein paar Felder“, erinnert sich Carmen Colipi. Die alte Frau spricht langsam und mit einem in die Ferne gerichteten Blick. „Heute reichen die Pflanzungen fast bis ans Haus, selbst die Obstbäume dort drüben wollten sie fällen, aber mein Sohn hat sie davon abgehalten.“
2,1 Millionen Hektar Kiefern- und Eukalyptuspflanzungen zählte die chilenische Forstbehörde CONAF 1999 landesweit. Ein Großteil dieser fremden Arten befindet sich im historischen Siedlungsgebiet der Mapuche, im mittleren Süden des Landes, zwischen dem Bío-Bío Fluss und der Insel Chiloé. Der einheimische, temperierte Regenwald dieser Region wich in den letzten Jahrzehnten immer weiter zurück – und mit ihm einzigartige Baumarten.

Leben mit den fremden Bäumen

Für die Mapuche bedeutet dies der Verlust einer seit Jahrhunderten vertrauten und traditionell genutzten Umwelt, mit extremen Auswirkungen auf alle Bereiche des Gemeindelebens. Sie sehen die Ausbreitung der Pflanzungen daher als weiteren Angriff auf das Überleben ihrer Kultur – nach der gewaltsamen Annektierung des autonomen Mapuche-Territoriums Ende des 19. Jahrhunderts, der drastischen Reduzierung des Landes auf Reservate und der Privatisierung des Gemeindelandes.
„Vom Reichtum der Forstunternehmen sehen wir nur den Staub der Lastwagen“, sagt Hugo Parra, Beamter in der Kommunalverwaltung von Lumaco, Abteilung Soziales. Er holt einige Statistiken aus einer Schublade hervor, in der auch eine Kopie der Gesetzgebung für die indigene Bevölkerung von 1993 liegt. „Wir sind eine der ärmsten Kommunen des Landes.“ An die 40 Prozent der Bevölkerung lebt in Armut, die Böden sind von starker Erosion betroffen, Arbeitsmöglichkeiten gibt es kaum, über 40 Prozent der Fläche der Kommune ist von Kiefern- und Eukalyptusplantagen bedeckt. Die Holztransporter der Forstunternehmen fahren Tag und Nacht. „Die Unternehmen ziehen ihre Gewinne aus der Kommune, aber tragen in keiner Weise zu ihrer Entwicklung bei“, bestätigt auch Francisco Huircaleo von der Vereinigung der Mapuche-Gemeinden in Lumaco. „Sie zahlen ihre Abgaben in Santiago und stellen noch nicht einmal lokale Arbeitskräfte ein.“ Eine Studie der Internationalen Arbeitsorganisation zeigte, dass im Durchschnitt nur 15 Prozent der ArbeiterInnen in den Pflanzungen aus der entsprechenden Kommune kommen. Ohnehin ist der Arbeitskräftebedarf in der Forstwirtschaft wesentlich geringer als in der herkömmlichen Landwirtschaft. Mit der Ausbreitung der Pflanzungen auf ehemaligem Farmland schwanden so auch viele Arbeitsplätze und die jungen Leute wandern zunehmend in die großen Städte ab.
Neben der ökonomischen Lage beklagen die Mapuche-Gemeinden vor allem den Wandel der Umwelt. „In den Pflanzungen existieren kaum noch die Tiere und Pflanzen, die vorher ein Teil unseres Lebens waren“, sagt Huircaleo. Die Plantagen reichen oft bis an die Grenze der Gemeinden heran und bestimmen das tägliche Leben, einige sind von Plantagen regelrecht eingekreist. „Es ist, als ob wir in einer Ruine leben.“ Besonders gravierend sei der Rückgang der natürlichen Wasserläufe durch den erhöhten Bedarf der schnell wachsenden Kiefern und insbesondere der Eukalyptusbäume. Nur knapp 25 Jahre benötigen die Kiefern, rund zehn Jahre die durstigen Eukalyptus-Setzlinge, um eine stattliche Größe und einen ebenso stattlichen Preis auf dem weltweiten Holz- und Papiermarkt zu erreichen. „Im Sommer haben wir hier in Lumaco fast kein Wasser mehr, die Gemeindeverwaltung muss jedes Jahr Trinkwasser verteilen, weil die Bäche und Quellen versiegen“, berichtet Huircaleo. Die Machis sind von dem Wandel der Umwelt besonders betroffen. „Es gibt keine Heilkräuter mehr, nur noch Kiefern- und Eukalyptusbäume“, erzählt Carmen Colipi, „Ich muss weite Wege zurücklegen, um noch die Kräuter zu finden, die ich brauche.“

Ein Erbe der Diktatur

Das 1974 unter Augusto Pinochet verabschiedete Gesetz 701 subventionierte bis 1998 den großflächigen Anbau von Kiefern- oder Eukalyptusplantagen mit 75 Prozent der Investitionssumme. Zwischen 1976 und 1992 wurden so rund 110 Millionen US-Dollar an Subventionen zum Aufbau einer auf dem Weltmarkt konkurrenzfähigen Holzindustrie vom chilenischen Steuerzahler finanziert. Es entstanden große Unternehmensgruppen, unter anderem die Marktführer Arauco und CMPC, die heute zusammen 47 Prozent aller Pflanzungen des Landes kontrollieren. Die Ende der siebziger Jahre privatisierten Unternehmen konnten auf diesem Wege beinahe kostenlos Pflanzungen auf Land anlegen, das sie günstig vom Staat erhielten – zum Teil ehemaliges Mapuche-Land, das zuvor während der Agrarreform unter Salvador Allende an die Mapuche zurückgegeben worden war und nach dem Staatsstreich erneut enteignet wurde.
„Das Gesetz 701 ist eines der tragischsten Gesetze für die Mapuche“, sagt Pablo Huaiquilao, Forstexperte der übergreifenden Mapuche-Organisation Coordinación de Identidades Territoriales. „Es hat das primäre Ziel, die Exportzahlen im Forstsektor zu erhöhen, ohne dabei Rücksicht auf die lokale Situation zu nehmen.“ Mit Erfolg: 2004 stiegen die chilenischen Forst-Exporte um mehr als 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr, auf die Rekordsumme von fast 3,4 Milliarden US-Dollar. Ein weiteres Wachstum der Branche wird prognostiziert, obwohl die Unternehmen heute aufgrund ausbleibender Subventionen und der Probleme mit den Mapuche-Gemeinden kaum noch große Ländereien kaufen. „Die neue Strategie des Staates und der Unternehmen zur Erhöhung der Exporte, ist die Einbeziehung der vielen mittleren und kleinen Landbesitzer“, erklärt José Aylwin, Rechtsanwalt und Professor am Institut für Indigene Studien der Universidad de la Frontera in Temuco. 1998 übertrug eine Änderung des Gesetzes 701 nach fast 25 Jahren die Forst-Subventionen auch auf diese Gruppe. Unter ihnen befinden sich viele Mapuche, die aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Bedingungen und der oft für die Landwirtschaft ungeeigneten Böden die Subventionen erhalten wollen. „Hier beginnt ein neuer Kampf der Organisationen, um Mitbestimmung der Baumarten und gegen die forcierte Subventionierung von Monokulturen auf Gemeindeland“, sagt Aylwin.

Wenig staatlicher Schutz

Versuche der Mapuche-Organisationen, mit den Unternehmen direkt in Dialog zu treten, sind in fast allen Fällen fehlgeschlagen. „Die großen Forstunternehmen sind jeglicher Art von Dialog verschlossen“, sagt José Aylwin. „Viele haben an Stelle des Dialogs eine paternalistische Politik der guten Nachbarschaft entwickelt, sie spenden Dächer für Häuser oder Schulmaterialien für die Kinder.“ Auch der Staat trägt nicht bedeutend zur Lösung des Konfliktes bei, sondern fördert die Entwicklung des Forstsektors durch Gesetze und öffentliche Institutionen. Zwar existiert seit 1993 ein Schutzgesetz für die Interessen der indigenen Bevölkerung in Chile (Gesetz 19.253), aber dieses Gesetz erwies sich in der Praxis als schwach. „Jegliches ökonomisches oder politisches Interesse kann das Gesetz umgehen“, sagt Pablo Huaiquilao. Auch die daraus hervorgegangene Behörde für indigene Belange (CONADI) ist in der Realität oft machtlos. Sie kauft Ländereien in Konflikt, um sie an indigene Gemeinden zurückzugeben, aber mit nur sehr geringen finanziellen Mitteln. „Die CONADI löscht nur akute Brandherde, hat aber keinen Lösungsansatz für den Konflikt als Ganzen“, so Aylwin.
Aus Unzufriedenheit über fehlende Maßnahmen des Staates besetzen Gemeinden in Kooperation mit Organisationen immer wieder Land der Forstunternehmen, holzen Bäume ab, blockieren Zugangsstraßen und organisieren Protestmärsche. Besonders seit Ende der neunziger Jahre kam es zu vielen Demonstrationen und zu punktuellen Gewaltausbrüchen – 1997 gingen dabei in der Nähe von Lumaco drei Lastwagen des Unternehmens Arauco in Flammen auf. Die konservativen Medien beschworen ein zweites Chiapas herauf, mit Fotos von vermummten Bola-Kämpfern im Krieg gegen Recht und Ordnung. In diesen Tonfall stimmten auch die Unternehmen ein, die große Gewinnverluste durch Sabotageakte beklagten und die Regierung zum Schutz ihrer Investitionen und zur Durchsetzung des Rechtsstaates anhielten. Der Staat demonstrierte eine eiserne Hand mit Verurteilungen von Mapuche-Führern – teilweise unter einer Anti-Terrorismus-Gesetzgebung, die ihren Ursprung in der Diktatur hat und zu Demokratiezeiten leicht modifiziert weiter besteht.
„Ich denke, es ist die Pflicht des Staates zu intervenieren und die notwendigen Instrumente zu schaffen, um in diesem Konflikt zu vermitteln“, sagt Huaiquilao. Eine solche Initiative müsse mit der verfassungsrechtlichen Anerkennung der Mapuche als Volk und der Unterzeichnung der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation beginnen. „Beides sind notwendige Schritte auf dem Weg zur Anerkennung unserer Rechte in diesem Konflikt.“ Den Gemeinden gehe es vor allem um die Kontrolle der Auswirkungen auf lokaler Ebene, um Mitbestimmung über die Nutzung der Ressourcen und Anteile an den Gewinnen, die die Unternehmen aus der Kommune ziehen. Manche Gemeinden und Organisationen gehen allerdings weiter und fordern auf der Grundlage alter Landtitel die Rückgabe von Ländereien, die zu Diktaturzeiten enteignet wurden und heute Eigentum der Forstunternehmen sind.
Carmen Colipi scheint verzweifelt. „Sie wollen mich hier weg haben, nicht einmal Feuerholz lassen sie mich sammeln“, sagt sie mit hoher Stimme. „Mein Leben hier ist sehr trist, früher habe ich weiter unten Getreide angepflanzt, aber heute geht das nicht mehr.“ Ihre Augen unter dem bunten Kopftuch schweifen über die Hügel und über die nahen Reihen junger Kiefernbäume. „Nur durch mein Einkommen als Machi kann ich hier noch weiter leben“, sagt sie. Einen Eigentumstitel für ihr Land besitzt sie nicht. „Wenn ich doch nur Lesen und Schreiben könnte, wenn ich eine Schule besucht hätte, dann könnte ich mich wehren, dann wäre ich eine andere Frau.“

Chile sucht noch immer nach seinen Verschwundenen

Worin besteht die Aufklärungsarbeit der CINPRODH über die Menschenrechtsverletzungen, die während der Pinochet-Diktatur in Chile begangen wurden?

Wir kämpfen für die Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen. In Temuco, wo unsere Institution ihren Hauptsitz hat, gab es 106 verschwundene Gefangene (detenidos-desaparecidos). Bis jetzt haben wir die sterblichen Überreste von drei Personen ausfindig machen können. Es sind also noch 103 Fälle ungeklärt. Das heißt, die Aufgabe liegt im Grunde noch als ganze vor uns.
Der CINPRODH standen für ihre Ermittlungen weder finanzielle Mittel zur Verfügung noch wurde eine juristische Genehmigung erteilt. Wir arbeiteten ohne jegliche staatliche Unterstützung. Aber wir haben dem bürokratischen Staatsapparat einmal mehr gezeigt, dass mit einem starken Willen alles erreicht werden kann. Dieser hatte nämlich, zwar mit finanziellen Mitteln und sämtlichen Genehmigungen ausgestattet, aber eben ohne echten Willen, nichts gefunden. Nach anstrengenden Nachforschungen konnten wir nur durch das große Engagement unserer Mitarbeiter die Orte heraus finden, an denen sich die Überreste der Verschwundenen befanden.

Wie wurden die Orte denn schließlich gefunden?

Wir haben eine mühselige Ermittlungsarbeit auf den Friedhöfen der Region durchgeführt. Wir wussten, dass viele Opfer unter den Siegeln NN (Nicht Identifiziert) begraben wurden. Nachdem wir die Archive verschiedener Friedhöfe untersucht hatten, fanden wir die drei Personen, die auf der Liste der verschwundenen Opfer der Diktatur eingetragen waren, auf den Friedhöfen von Imperial und Lautaro. Beide Gegenden liegen in der Nähe von Temuco in der Neunten Region Chiles. Außerdem fanden wir die Begrabungskarteikarten, die nach dem 11. September 1973 angefertigt wurden. Auf ihnen wurde die Todesursache vermerkt: Bei den drei Opfern handelte sich es um Schädeltrauma und Schusswunden.

Hat eine Ausgrabung der Leichen stattgefunden?

Ja. Zunächst haben wir die entsprechenden Anzeigen vor den Gerichtshöfen, die in den Fällen von verschwundenen Gefangenen ermitteln, gemacht. Diese ordneten die Exhumierung der Leichen unter Aufsicht von Gerichtsmedizinern an. So konnten die Leichen der drei compañeros identifiziert werden. Auf dem Friedhof von Imperial handelte es sich um einen Studenten, auf dem in Lautaro um zwei Bauernführer. Alle drei waren Mapuche und wurden in dieser Gegend ermordet.

Habt Ihr nach diesen Funden eure Suche fortgesetzt, um weitere Gräber von Verschwundenen zu finden?

Wir haben mehrere Versuche unternommen, leider sind bisher jedoch alle misslungen. Wir bekommen immer wieder Hinweise und Informationen zu weiteren Fällen. Wir überprüfen zunächst alle bei uns eingegangenen Anzeigen, um die Ernsthaftigkeit ihrer Quellen zu bestimmen. Wenn sie sich als stichhaltig erwiesen haben, dann verständigen wir den entsprechenden Richter, der für den Fall zuständig ist. Bei einer der letzten Anzeigen, die wir gemacht haben, handelte es sich um einen Fall, wegen dem ich den Justizminister Guzmán in Santiago getroffen habe. Daraufhin fuhr der Minister persönlich zu dem Ort, wo sich angeblich die Überreste eines detenido-desaparecido befanden. Aber bei den Ausgrabungsarbeiten wurde leider nichts gefunden.

Woran liegt es, dass es immer wieder falsche Fährten gibt?

Dass immer wieder Versuche misslingen, zumindest die, bei denen wir die Überreste der verschwunden Gefangenen nicht ausfindig machen konnten, hängt mit einem wichtigen Ereignis im Jahr 1978 zusammen, als die „Öfen von Lonquen“ entdeckt wurden. In diesen Kalköfen wurden die Überreste zahlreicher Opfer der Diktatur gefunden. Das entfachte einen Skandal, der dem Ansehen der Diktatur zu schaden drohte. Woraufhin Pinochet beschloss, heimlich alle Beweise zerstören zu lassen, die Aufschluss über die Überreste der Opfer hätten geben können. Der Diktator gab den militärischen und polizeilichen Einheiten des Landes den Befehl, alle Spuren der detenidos-desaparecidos zu verwischen und sie endgültig verschwinden zu lassen. Daraufhin wurden ihre Leichen von den Orten, wo sie sich befanden, entfernt, und man begann sie zu verbrennen.

Gibt es Beweise für dieses makabere Unterfangen?

Natürlich! Die Operation hieß „Verlegung von Fernsehern“. Das geheime Dokument wurde in einem Archiv der Diktatur gefunden und veröffentlicht. Es ist von Pinochet höchstpersönlich unterzeichnet. Die Friedhöfe von Linares und Los Angeles waren zwei der wichtigsten Verbrennungszentren der ersten Opfer der chilenischen Militärdiktatur.

Glauben Sie, dass es unter diesen Umständen noch möglich sein wird, weitere Leichen zu finden?

Es wird sehr schwierig sein, aber nicht unmöglich. Mit dieser Operation, die ein „zweites Verschwindenlassen“ bedeutete, sollte die endgültige Auslöschung der Personen erreicht werden. Aber es gab und gibt immer noch Personen, die sich erinnern und uns mitteilen, wo sich Überreste von Opfern befinden könnten. Jedoch sind es meistens Informationen über die Orte, wo die Opfer ursprünglich begraben wurden. Die Leute wissen nicht, dass die Leichen auf Pinochets Befehl später entfernt wurden. Aber ihre und unsere Hoffnung, dass wir sie eines Tages finden werden, lebt weiter!

Ende der 90er Jahre gab es einen Runden Tisch, an dem VertreterInnen der Kirche, den Streitkräften und der Regierung, AnwältInnen und MenschenrechtlerInnen, sowie Angehörige der Opfer zusammen kamen. Dort wurde unter anderem vereinbart, dass sich die Militärs an der Aufklärung der Menschenrechtsverbrechen beteiligen würden. Die in ihrem Bericht veröffentlichten Daten erwiesen sich jedoch als falsch. Das Militär hatte also niemals die Intention, bei der Suche nach den Opfern zu helfen?

An diesem so genannten Mesa de Diálogo, der von Eduardo Frei (chilenischer Präsident 1994-2000, Anm. d. Red.) geschaffen wurde, wurde versucht, sich auf Grundprinzipien zu einigen, die die Suche nach den detenidos-desaparecidos ermöglichen würden. Das Ergebnis nach neun Monaten war ein sehr umstrittener Bericht.
Ein positives Ergebnis des Runden Tischs war, dass die Streitkräfte zum ersten Mal die Menschenrechtsverletzungen und die Existenz von verschwundenen Gefangenen öffentlich zugaben. Es kam zu dem Bekenntnis, dass bestimmte ‘undisziplinierte Kommandos’ der Streitkräfte, jedoch nicht das Militär als Institution, entgegen der hierarchischen Strukturen und nach eigenem Willen handelten und Menschenrechtsverletzungen begingen.
Das Militär gab vor, eine Lösung für das Thema der Suche nach den Verschwundenen finden zu wollen. Im Grunde wollten sie „das Problem“ jedoch endlich für beendet erklären. Es wurden also Namen von Personen veröffentlicht, die angeblich ins Meer geworfen wurden, die in Wahrheit jedoch an verschiedenen Orten begraben worden waren. Als herausgefunden wurde, dass sie gelogen hatten, fiel der ganze Bericht in sich zusammen. Der Runde Tisch war ein Misserfolg, das erhoffte Ergebnis wurde nicht erzielt. Die Weigerung der Militärs, bei der Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen zu kollaborieren, zeigte sich aufs Neue.

Wie sieht die Lage der Grund- und Menschenrechte heutzutage in Chile aus? Werden nach den schrecklichen Erfahrung unter der Diktatur und ihren Folgen die Rechte von Minderheiten wie der Mapuche oder von Frauen und Kindern geachtet und gewährleistet?

Zunächst gibt es natürlich einen großen Unterschied zwischen der Zeit der Diktatur und der heutigen Demokratie. Der Staat verhält sich jedoch unterschiedlich gegenüber verschiedenen sozialen Gruppen. Gegenüber den ethnischen Minderheiten zum Beispiel gibt es eine Politik, die existierenden Konflikte um Land zu unterdrücken. Es wird sehr repressiv gegen sie vorgegangen, zum Beispiel mit extremen juristischen Mitteln.
Außerdem wird gegen die Mapuche, die wegen Landkonflikten inhaftiert sind, das Antiterrorgesetz über Innere Sicherheit angewendet. Das ist das repressivste Gesetz, das es in Chile gibt. Es wurde von Pinochet gegen mutmaßliche Mitglieder von Untergrundbewegungen verabschiedet. Diejenigen, die nach diesem Gesetz verurteilt wurden, haben kein Recht auf Begünstigungen der Haftbedingungen, das jeder Verurteilte in einer Demokratie normalerweise hat. Eine der Forderungen der Menschenrechtsorganisationen ist die Anullierung dieses Gesetzes.
Im Gegensatz dazu wurden in Bezug auf die Lage der Rechte der Frau in Chile sehr gute Forschritte gemacht. Zum Beispiel gibt es ein neues Gesetz über die Arbeitsrechte der Frauen und über familiäre Gewalt. Außerdem wurde ein Nationaler Dienst für Frauen (SERNAM) auf ministerieller Ebene geschaffen. Auch bei den Rechten der Kinder, ihrem Schutz und der Erziehung wurden viele Fortschritte erzielt.

ZUR PERSON:

Víctor Maturana ist Direktor und Gründungsmitglied des chilenischen Zentrums zur Erforschung und Förderung der Menschenrechte (CINPRODH), das in Temuco, 800 Kilometer südlich von Santiago, seinen Hauptsitz hat. Wegen seinen Aktivitäten als Gewerkschafter wurde er selbst Opfer der Militärdiktatur von Augusto Pinochet. Viele Jahre verbrachte er im Gefängnis und wurde schließlich abgeschoben. Wegen “illegaler Einreise” in seine Heimat wurde er erneut inhaftiert.
CINPRODH wurde gleich nach dem Ende der Diktatur 1991 durch sechs ehemalige politische Gefangene, HeimkehrerInnen aus dem Exil und von Angehörigen der Opfer gegründet. Das erklärte Ziel der Institution ist die Aufklärung tausender Fälle von Verschwundenen, über deren Schicksal noch immer Ungewissheit herrscht und anderer Menschenrechtsverletzungen in Chile, besonders im Süden des Landes. Ein weiterer Schwerpunkt des komplett ehrenamtlich arbeitenden Zentrums bildet die Angehörigenberatung. Ihre Arbeit konzentriert sich auf vier Bereiche: die Systematisierung/Archivierung von Informationen, die Bewahrung der 17 Jahre währenden Diktatur im historischen Gedächtnis, die Suche nach den Verschwundenen sowie die juristische Unterstützung und Förderung der Menschenrechte.

Rassismus und Antirassismus in Lateinamerika

Rassismus entspricht der Unterstellung einer qualitativen Hierarchie zwischen den Menschen, die aufgrund bestimmter Körpermerkmale in verschiedene Gruppen aufgeteilt werden. Daraus ergeben sich sowohl sozioökonomische als auch soziokulturelle Folgen. Erstere beziehen sich auf die Entstehung einer ungleichen Chancenstruktur, da diejenigen, die in der unterstellten rassistischen Hierarchie schlecht da stehen, im sozialen Wettbewerb (Jobsuche, Zugang zum Schulsystem usw.) systematisch benachteiligt werden. Die kulturelle Dimension des Rassismus drückt sich im Alltag durch Verhaltensformen, Rituale (rassistische Beschimpfungen, Demütigungen) sowie räumliche und soziale Exklusion aus.
In verschiedenen Regionen Lateinamerikas lassen sich beide Dimensionen des Rassismus beobachten. Allgemein richten sich die rassistischen Vorurteile gegen Bevölkerungsgruppen, deren Aussehen einem idealisierten europäischen Menschentypus nicht entspricht. Generell erfolgt dies nach einer Diskriminierungsskala: Je mehr sich das Aussehen vom imaginierten Idealbild entfernt, desto härter ist der Rassismus. Etwa im Fall der Bevölkerungsgruppen mit indigenen Körpermerkmalen in Mexiko oder für die Afrobrasilianerinnen und Afrobrasilianer tritt diese perverse Regel ein.

Von „weißer“ Dominanz zum Konzept der Mestizaje
Rassistische Vorurteile haben tiefe historische Wurzel in Lateinamerika. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rezipierten die Gründungsväter der lateinamerikanischen Nationen die Theoreme des europäischen pseudowissenschaftlichen Rassismus, wonach die Dominanz der weißen Bevölkerung eine Voraussetzung für die Entstehung moderner und fortschrittlicher Gesellschaften darstellt. Davon ausgehend entwarfen die Nationsideologen in Lateinamerika unterschiedliche Konzepte für die „Europäisierung“ ihrer Gesellschaften: Während einige dieser Intellektuellen eine offensive Migrationspolitik befürworteten, die möglichst viele europäische EinwandererInnen ins Lande ziehen und durch „Vermischungsprozesse“ zu einem graduellen „Weißwerden“ der Gesamtbevölkerung führen könnte, plädierten andere für interne Maßnahmen, die die „Vermischungsprozesse“ stoppen sollten, damit eine intakt gebliebene weiße Elite die Führungsfunktionen übernehmen könne.
Erst in den 1930er Jahren konnte Lateinamerika das Vermächtnis des europäischen pseudowissenschaftlichen Rassismus überwinden. Zu dieser Zeit setzte sich in verschiedenen Ländern des Subkontinents die Ideologie der Mestizaje durch, welche die Nationen Lateinamerikas zu einem positiven Modell für die friedliche Verschmelzung von vielfältigen Kulturen und Menschentypen erklärte. Die Botschaft der Mestizaje ist allerdings ambivalent: Einerseits ermöglichte diese Ideologie die symbolische Inklusion von dunkelhäutigen, indigenen und als „Mestizen“ bezeichneten Bevölkerungsgruppen in die lateinamerikanischen Nationen, womit diese Gruppen nicht mehr die Rolle des „internen Anderen“ spielten. Gleichzeitig blendete das ideologische Lob der Verschmelzung die in der Gesellschaft tief verankerten rassistischen Hierarchien aus.

Antirassistische Bewegungen
Gegen derartige rassistische Vorurteile, die mit der Ideologie der Mestizaje historisch koexistierten, richten sich heute antirassistische Bewegungen in verschiedenen Ländern Lateinamerikas. Im Allgemeinen versuchen diese Gruppen, den Rassismus sowohl auf der sozioökonomischen Ebene durch die Forderung kompensatorischer Politiken, als auch in seiner soziokulturellen Dimension herauszufordern. Dazu zählen die Aufwertung bzw. die Rekonstruktion des kulturellen Erbes von indigenen und afroamerikanischen Bevölkerungen. Konkret lassen sich bereits im Rahmen der lateinamerikanischen Historiographie wichtige Veränderungen feststellen: Waren die nationalen Geschichten der Länder Lateinamerikas bis vor nur wenigen Jahren vornehmlich durch die Präsenz weißer Helden gekennzeichnet, die „barbarischen Einheimischen“ moderne und universelle Werte auferlegten, so vermitteln die Museen, aber auch die Schulbücher heute ein anderes Bild. Die Kolonisierung wird nicht mehr als eine altruistische Ausdehnung der europäischen Aufklärung, sondern als eine ökonomische und kulturelle Ausrottung dargestellt. Dabei werden indigenen Aufständen und Rebellionen gegen die Sklaverei ein positiver Stellenwert zugeschrieben.
Die antirassistischen Mobilisierungen, die sich derzeit in Lateinamerika beobachten lassen, sind heterogen und vielschichtig. Doch einige Charakteristika scheinen die unterschiedlichen Bewegungen gemein zu haben. Insgesamt bringen diese neuen antirassistischen Akteure einen wichtigen Innovationsimpuls in die lateinamerikanische Politik ein, da sie inhaltlich und anhand ihrer Handlungsformen Verbindungen zwischen Ebenen herstellen, die bislang als unvereinbar erschienen.

Über Grenzen hinweg
Diese neuen Mobilisierungen handeln gleichzeitig national und transnational. Sowohl die neuen indigenen, als auch die afroamerikanischen Bewegungen versuchen neue Räume in der jeweiligen nationalen Öffentlichkeit zu schaffen, um ihre Staatsbürgerrechte zu verwirklichen. Gleichzeitig artikulieren sie sich weltweit: Sie suchen die Unterstützung von Geldgebern aus dem Norden, wie transnationalen NGOs, Stiftungen und Entwicklungsagenturen; sie bilden aber auch neue transnationale Vernetzungen wie etwa die seit 1998 bestehende Alianza Estratégica de Afro-Latino-Americanos. Dabei verbinden sie Kultur und Politik.
Charakteristisch für den neuen Antirassismus ist der Rückgriff auf einen kulturellen Fundus, der sich von der nationalen kulturellen Landschaft vermeintlich abhebt. Hier lässt sich die Suche nach kulturellen Attributen und Produkten feststellen, welche die nationalistischen Assimilierungsstrategien überlebt haben. Damit wird das differenzierte Kulturerbe, wie etwa im Fall der Mapuche in Chile oder der Mobilisierungen der AfrokolumbianerInnen, zum politischen Mittel, um Zugang zur Öffentlichkeit zu erhalten und ihre politischen Forderungen zu begründen.

Performances als Politik
Mit der Koppelung von Kultur und Politik hängt ein weiteres Merkmal des neuen Antirassismus in Lateinamerika zusammen: Die Verknüpfung von Ethik und Ästhetik bzw. von Argumenten und Performance. Wer den öffentlichen Auftritt der Zapatistas in Mexiko oder die von der brasilianischen antirassistischen Bewegung Movimento Negro Unificado veranstalteten Demonstrationen ins Auge fasst, dem fällt der medienkonforme Charakter dieser Ereignisse auf.
Durch das Verstecken ihrer Gesichter im ersten Fall oder das Schminken und die Stilisierung des eigenen Körpers im zweiten Beispiel erinnern beide Bewegungen in unterschiedlicher Weise daran, dass sie Bevölkerungsgruppen vertreten, die historisch zur politischen Unsichtbarkeit verurteilt wurden. Es handelt sich hier doch um mehr als eine bloße symbolische Politik. In den neuen Formen des Antirassismus in Lateinamerika gehören Körperinszenierungen und öffentliche Performances zu einem integrierten politischen Programm, das fundierte und im Rahmen von Studien, Publikationen und öffentlichen Reden verbreitete Argumente ebenfalls miteinbezieht.

Politische Unzulänglichkeiten
Trotz seiner jüngsten Erfolge ist der neue Antirassismus in Lateinamerika natürlich noch weit davon entfernt, die rassistischen Spuren wegzufegen, die sich während mehrerer Jahrhunderte Kolonisierung, Sklaverei und Import europäischer rassistischer Ideen eingeprägt haben. Auch einige grundsätzliche politische Unzulänglichkeiten des neuen Antirassismus lassen sich bereits konstatieren. So konnten die antirassistischen Mobilisierungen – mit wenigen Ausnahmen wie zum Beispiel in Bolivien – noch nicht die breite Basis der Bevölkerung erreichen, die vom alltäglichen Rassismus betroffen ist. Oft vertritt nur eine kleine Minderheit einen dezidiert antirassistischen Diskurs, während die betroffenen Gruppen entweder noch auf die Ideologie der Mestizaje setzen oder politisch desinteressiert sind. Was die konkreten Maßnahmen zur Etablierung einer realen Gleichberechtigung anbelangt, ist eine ähnliche Einschränkung festzustellen. Bislang begünstigten Politiken – wie die bevorzugte Zuschreibung von Studienplätzen für dunkelhäutige BewerberInnen an einigen staatlichen Universitäten Brasiliens (affirmative action) – nur die etwas besser situierten Individuen im Rahmen der diskriminierten Gruppen. Schließlich sind universitäre Quotenprogramme einer kleinen Minderheit der AfrobrasilianerInnen vorbehalten, die es schafft, die Oberschule abzuschließen. Aufgrund ihrer schlechten sozialen Stellung müssen die meisten dunkelhäutigen BrasilianerInnen bereits in der Grundschule die schulische Bildung abbrechen. Überdies sind antirassistische Politiken darauf angewiesen, ihre Zielgruppen zu benennen und dabei auf die gleichen Kategorien zurückzugreifen, die die rassistischen Konstruktionen begründen. Mit anderen Worten: Maßnahmen, die eine reale Chancengleichheit erzielen, müssen die benachteiligten Gruppen erfassen und definieren, womit die bestehenden rassistischen Hierarchien diskursiv bestätigt werden. Gegen solche Paradoxien des Antirassismus gibt es allerdings kein theoretisches Patentrezept. Im Rahmen der politischen Praxis und in jedem spezifischen Kontext müssen Lösungsansätze gefunden werden, die den Rassismus und seine distributiven Folgen adäquat bekämpfen. Diese Tatsache ist den neuen antirassistischen Bewegungen längst bewusst.

“Es gibt noch Leute, die kämpfen”

1999 sprach man in Chile im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen mit den Mapuche im Süden bei dem Ralco Staudammprojekt (s. LN 342) von „unserem kleinen Chiapas“. Inwieweit kann man diesen Vergleich heute noch anstellen?

Sofía: Damals hat man nichts erreicht. Jetzt ist der Staudamm da und einmal gebaut kann man nichts mehr dagegen machen. Es war eine Demonstration des Widerstands, aber letztendlich haben zwei der fünf Mapuchefrauen, denen das Land gehörte, verkauft und die Front bröckelte.
Ivan: Heute hat jeder Einzelne seinen Besitz oder die Familie ist als Landbesitzer eingetragen. Aber es gibt keinen gemeinschaftlichen Boden mehr.
Raúl: Um es im größeren Zusammenhang zu sehen: Die neue indigene Bewegung begann sich 1997/98 herauszubilden. Es fing im Süden Chiles an, wo man versuchte, Land zurück zu gewinnen. Aufgrund des Vorgehens der Forstfirmen hatten sich die dortigen sozioökonomischen Bedingungen verschlechtert. Und wegen des Aufstandes war die Regierung gezwungen, ihre Politik gegenüber den Indigenen zu überprüfen. Daraufhin wurden verschiedene Kommissionen gegründet, von denen die letzte und wichtigste die „Kommission für Wahrheit und neuen Umgang“ von Präsident Lagos ist.

Gab es eine Fortsetzung des Widerstandes?
Sofía: Es gibt noch Leute, die kämpfen: um die Wälder und gegen Kiefern- und Eukalyptusmonokukturen. Diese schaden dem ökologischen Gleichgewicht, weil der Boden verödet. Das alles ist die Schuld dieser famosen Forstunternehmen, die den Mapuche ihr Land wegnehmen. Die Mapuche kämpfen dafür das Land zurückzubekommen, indem sie ungenutztes Land besetzen. Und dann kommt die Polizei und provoziert. Sie kommen mit Waffen und sogar mit Panzern und fangen an zu schießen. Die Mapuche dagegen haben nur Steine. Sie werden festgenommen und eingesperrt. Selbst das Obersten Gericht Chiles nennt uns Terroristen.

Wann war das?
Sofía: Das war 2002/03. Sie haben uns als Terroristen bezeichnet, die ihr Land wieder haben wollen (s. LN 335). Noch heute gibt es Mapuche, die im Gefängnis oder auf der Flucht sind (s. Kasten).

Wie hat sich die Situation der Indigenen in den letzten Jahrzehnten verändert?
Sofía: Auch unter Allende gab es Marginalisierung, aber man konnte Fortschritte für den Landbesitz der Mapuche sehen. Es gab Besetzungen. Unter Pinochet wurde uns dann wieder Land weggenommen. Seit dem Ende der Diktatur gibt es wieder ein wenig mehr Freiheiten und eine Wiederbelebung der Mapuche-Kultur. Sie suchen Räume – ihre Identität.
Raúl: Um die Diktatur zu überwinden haben die Indigenen damals dem Mitte-Links Regierungsbündnis die Hand gereicht. Man hat dem Demokratisierungsprozess den Rücken gestärkt und versucht, über die institutionellen Wege die Forderungen zu kanalisieren. Am 1.Dezember 1989 – als die Demokratie wiedererlangt war – kam es dann zum „Acto de Nueva Imperial“ (Abkommen von Nueca Imperial) [Stadt im Süden Chiles] unter Präsident Alwyin. In diesem ist das Verhältnis der Regierung mit den Indigenen geregelt und es wurden konkrete Maßnahmen geplant, wie beispielsweise das neue Indigenengesetz.

Heute sprechen die Mapuche von „Ahuincanación“ (Kulturverlust). Damit meinen sie, dass die Indigenen sich immer mehr der nicht ursprünglichen Bevölkerungsmehrheit anpassen….
Sofía: Ich sehe das ganz klar genauso – die Mehrheit ist „ahuincada“!

Woran kann man das im Alltag sehen?
Sofía: Bei einer kulturellen Zeremonie zum Beispiel. Im Stadion laden sie die Politiker ein, sie haben Mikrofone, es sprechen verschiedene Direktoren – man praktiziert die Spiritualität nicht richtig. Es ist nicht so, dass der Bürgermeister nicht zusehen kann, aber er braucht keine Rede zu halten, die überhaupt nichts damit zu tun hat. Ein anderes Beispiel sind Seminare. Dort reden alle Politiker spanisch, alle kommen in westlicher Kleidung, das Ambiente ist falsch. Die Sprache wird marginalisiert – die Kinder sprechen nicht mehr ihre eigene Sprache.

Es gibt also keine Förderung der indigenen Sprache in Chile?
Sofía: Doch, es gibt regionale Programme im Fernsehen und im Radio. Aber die haben keine große Reichweite. Und außerdem werden diese Programme vielleicht eine halbe Stunde am Tag gesendet – mit einem bisschen Kultur und etwas Information.

Die Tradition der Mapuche verliert sich demnach ebenso wie ihre Sprache?
Sofía: Ich muss zugeben, dass die Tradition sich verliert. Die Mapuche, die in den staatlichen Schulen erzogen werden, werden zu Chilenen herangezogen und nicht zu Mapuche. Sie verlieren ihr Wissen um die Kultur und die Traditionen – denn es gibt keine Erziehung, die dieses Wissen vermittelt.
Raúl: Auf der Grundlage des „Ley Indígena“ (Indigenengesetz) hat das Ministerium 1994 wenigstens zentrale Agenturen geschaffen: für Land und Wasser, für Entwicklung und viele Dinge. Dadurch konnten die Gemeinden zu juristischen Personen werden, sie bekamen einklagbare Rechte.

Welche Projekte wurden aufgrund dieser neuen Initiativen umgesetzt?
Raúl: Es wurden Lehrer ausgebildet und zweisprachige Texte wurden herausgegeben. In den öffentlichen Schulen ist man dabei, mit diesen Texten zu arbeiten und eine interkulturelle Ausbildung anzubieten. Aber es ist ein Finanz-Problem: Oft gibt es kein festes Ausbildungsprogramm, an den Schulen fehlt es an vielem.
Ivan: Wir als Gemeinde haben ein 30.000qm großes Grundstück für eine Schule gekauft. Wir wollen eine weiterführende Schule für Weiße und Indígenas gründen: eine polytechnische Schule für die ganze Küstenprovinz, an der die Sprache Mapuche, traditionelle Heilmethoden und verschiedene Kunsthandwerke sowie Gastronomie gelehrt werden.
Raúl: Die Effekte des Programms werden gerade erst deutlich. Es werden 635 indigene Gemeinden in fünf Regionen des Landes, mit Aymara, Atacameña und Mapuche Bevölkerung gefördert. Das staatliche Programm unterstützt die Produktion, das Gesundheitswesen, die Kultur sowie die Ausbildung von Führungskräften dort.
Ivan: Seit vier Jahren haben wir auf einem freien Gelände mit einem Ökotourismusprojekt begonnen: Es ist autochthon und sehr bescheiden: zehn Hütten, in denen echtes Mapucheessen gekocht wird – alles ist frisch und kommt aus der Gemeinde. Sonntags machen wir eine Führung, verkaufen lokales Kunsthandwerk, führen Volkstänze auf und vieles mehr.

Sind solch positive Beispiele auch auf nationaler Ebene zu beobachten?
Raúl: Der Präsident hat erst im April diesen Jahres in einer Verlautbarung auf die Verfassung und die Ratifikation von 1989 hingewiesen sowie auf deren Einhaltung bestanden. Es soll ein Sekretariat für indigene Angelegenheiten innerhalb des Ministeriums geben. Aber das muss durch das Parlament, was sehr schwierig werden wird. Denn dort gibt es keine Mehrheit, sondern eine Patt-Situation, die es sehr schwierig macht, das Gesetz zu verabschieden. Die Rechte ist sehr konservativ und hat bisher alle derartigen Initiativen abgelehnt.

Welche Perspektiven haben die indigenen Gemeinschaften?
Sofía: Sie müssen das chilenische Volk erreichen und ein Bewusstsein für die Probleme schaffen. Es gibt einige, die denken, wir wären generell schlecht und man sollte uns alle töten. Aber andere analysieren auch für sich selbst und sagen: Das sind keine Terroristen, die wollen nur ihr Land zurück.
Ivan: Ich bin nicht negativ eingestellt, man übersieht sonst das Positive. Wir haben an der Bildung, dem Kunsthandwerk und der Kultur gearbeitet. Wir haben einen kulturellen Reichtum, der viele Möglichkeiten bietet und uns viele Türen öffnet. Davon kann man in Zukunft profitieren.

Kasten:

Freispruch in Terror-Prozess
Die chilenische Justiz sprach eine Gruppe von Mapuche frei, die von der Regierung wegen “verbotener, terroristischer Vereinigung” angeklagt war, weil sie Felder in der Ortschaft Temuco abgebrannt haben soll. Die ihnen vorgeworfenen Delikte ließ man unter das Antiterrorgesetz fallen. Das Gericht von Temuco wies nun die Anklage gegen die sechs Mapuche aus der Region sowie die zwei SympathisantInnen ab. Es bemängelte, dass die Staatsanwaltschaft es nicht geschafft habe, “beweiskräftig zu belegen”, dass die Indígenas am Abbrennen der Felder beteiligt waren. Da der Fall Symbolcharakter bei der Anwendung des Antiterrorgesetzes hatte, wurden während des Verfahrens in Temuco die ZeugInnen der Staatsanwaltschaft gegen die Indígenas mit verhülltem Gesicht vernommen.
Die Amerikanische Juristenvereinigung (Asociación Americana de Juristas), die Organisation Internationale Verteidigung der Rechte der Völker (Defensoría Internacional de los Derechos de los Pueblos) sowie die Internationale Menschenrechtsvereinigung (Federación Internacional de Derechos Humanos) kritisierten die Anwendung des Antiterrorgesetzes – ein Vermächtnis der Pinochet-Diktatur – gegen die Mapuches. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat erst kürzlich einen ausführlichen Bericht über die Unrechtmäßigkeit der Prozesse gegen die Mapuche veröffentlicht.

Die Kultur des Schweigens überwinden

Mehr als 30 Jahre nach dem Militärputsch in Chile gibt es noch immer keine von staatlichen Institutionen unterstützte Erinnerungsarbeit. Erst in diesem Jahr wurde das ehemalige Folterzentrum „Villa Grimaldi“ als öffentlicher Erinnerungsort anerkannt und eine pädagogische Begleitung der BesucherInnengruppen konzipiert. Auch die Medien verweigern weiterhin die Erinnerung an die Diktatur, was zur Folge hat, dass sich bis 2003 kaum eine breitere öffentliche Debatte über die jüngere Geschichte entwickeln konnte. Erst durch die Gedenkfeiern „30 Jahre Militärputsch“ im letzten Jahr konnte die Kultur des Schweigens durchbrochen werden. Seither ist die Diskussion nicht mehr abgebrochen. Dennoch ist die Zahl derer, die sich mit der Vergangenheit auseinandersetzten immer noch klein. Die Menschenrechtsgruppen, die die Erinnerungsarbeit vorangetrieben haben, werden noch immer als parteilich, linkslastig stigmatisiert und kämpfen heute um ihr Überleben. Und das alles, obwohl die Archive der Akten über Menschenrechtsverletzungen von der UNESCO im Jahre 2003 zum Weltkulturerbe erklärt wurden. Diese Akten waren von acht chilenischen Organisationen über Jahrzehnte zusammengetragen worden. (siehe auch das Interview mit Paz Rojas auf Seite 51.)

Kurze Vorgeschichte

1997 wurde dem Paulo Freire Institut in Berlin der Auftrag erteilt, für das chilenische Erziehungsministerium ein innovatives Curriculum für die Fortbildung chilenischer LehrerInnen zu entwerfen. In den Jahren 1997-2002 wurden nach und nach 100 chilenische LehrerInnen in 5-8-wöchigen Kursen in Berlin ausgebildet. Das Thema „Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte“ musste in den ersten Jahren unter dem Titel „Deutsche Bildungsgeschichte“ firmieren. Erst durch die Reaktionen der zurückgekehrten chilenischen LehrerInnen wurde deutlich, wie wichtig die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit ist, um demokratische Bildungskultur zu fördern. Eine Verbindung wurde hergestellt zwischen der deutschen Gedenkstättenpädagogik und der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen in Chile.
Auch bei den Berliner LehrerInnen, an deren Schulen die ChilenInnen ihre Praktika gemacht hatten, entstand ein großes Interesse, die Schulwirklichkeit ihrer Gäste näher kennen zu lernen. Darum koordiniert das Paulo Freire Institut den Austausch seit 1998 beidseitig. Jährlich macht sich eine Gruppe von 12 bis 15 deutschen LehrerInnen auf den Weg, um in Chile von der Bildungsreform zu lernen und sich mit Bildung und Schule unter Armuts- und Globalisierungsbedingungen auseinander zu setzen.
In den vergangenen sieben Jahren der Bildungsarbeit in Chile und Deutschland hat sich gezeigt, dass die KursteilnehmerInnen dem Thema Erinnerungsarbeit eine wachsende Bedeutung beimessen. Fragen entstehen, nach dem eigenen Selbstverständnis, nach der Verstrickung in die Geschichte oder nach der sich verändernden LehrerInnenrolle angesichts von Exklusion und Globalisierung. Eine Auseinandersetzung mit der ethischen Grundlage von Bildung und Demokratie wurde möglich.
Die Erinnerungsarbeit beschränkt sich nicht nur auf eine Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus. Das Ziel ist vielmehr eine kritische Reflexion der Vergangenheit im Hinblick auf eine wünschenswerte Zukunft. Durch die Dialektik von „Erinnerung braucht Zukunft. Zukunft braucht Erinnerung“ werden von den TeilnehmerInnen Fragen des eigenen Engagements und eigener Sehnsüchte angesprochen. Jeder Kurs besuchte die Gedenkstätte ‚Haus der Wannsee-Konferenz’, setzte sich mit der Aufarbeitung gewaltvoller Vergangenheit in Ost und West auseinander und näherte sich speziell in Buchenwald mit Hilfe einer konstruktivistischen Methodik der Geschichte an, die sich nicht einfach, sondern komplex und ambivalent darstellt. Themen waren auch die beiden Geschichten Buchenwalds, die des ehemaligen Konzentrationslagers und die des sowjetischen Speziallagers, und die staatlich verordnete Erinnerungskultur der DDR in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. Dies führte oft zu Verunsicherungen bzw. ‚Verständigungsproblemen’, weil das herkömmliche Konzept von Geschichte als chronologischer Aufeinanderfolge von Ereignissen nicht mehr zutraf.
Da es in der chilenischen Geschichtsaufbearbeitung keinen vergleichbaren ambivalenten Erfahrungshintergrund gab, der zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit herausfordert, kam es bei vielen chilenischen KollegInnen zu einer Abwehr beziehungsweise zu einer deutlichen Identifizierung mit der einen oder der anderen Seite. In Deutschland ist eine mehrperspektivische, dekonstruktivistische Annäherung an Geschichte im Rahmen der Gedenkstättenpädagogik erst 50 Jahre nach Kriegsende möglich geworden. Ganz ähnlich zeigte sich bei den chilenischen Gästen häufig, dass die Annäherung an die eigene Geschichte zu schmerzhaft ist, zumal die „Vergangenheit“ erst 10 bis 20 Jahre zurückliegt. Aus Angst erneut mit der Gewalt konfrontiert zu werden, zogen es manche KollegInnen vor, zu verdrängen oder zu schweigen.

Kultur der Erinnerung

Heute weiß man, dass Erinnerungen nicht nur psychologische Phänomene sind, sie werden vielmehr entscheidend von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der politischen Kultur geprägt. Letztere werden in Chile heute immer noch durch die fortwährende Straflosigkeit und die Kultur des Schweigens der politisch Verantwortlichen charakterisiert. Bis auf wenige Ausnahmen hat der Staat die Menschenrechtsorganisationen allein gelassen und die Strafverfolgung der Täter behindert. Die Verteidigung der Menschenrechte musste weit gehend von der Zivilgesellschaft getragen werden. Die Angehörigenorganisationen ringen noch immer um die gesellschaftliche Anerkennung der erlittenen Gewalt und haben bis heute keine Lobby für eine Strafverfolgung der Täter. Aus der Defensive heraus haben die Betroffenen oftmals ihre Blickrichtung auf die Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit gerichtet und sich auf die Anklage des persönlichen Leides reduziert. Gesellschaftliche Ursachen der Gewalt, deren Folgen sowie die Verbindung zu aktuellen Fragen der Gesellschaft, insbesondere der Jugendlichen, wurden oft vernachlässigt. Zu diesem Prozess, die Kontinuitäten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu leugnen, trugen die Massenmedien in ganz entscheidendem Maße bei. Auch heute ist eine Wende in absehbarer Zeit nicht in Sicht, denn noch immer sind alle chilenischen Tageszeitungen in Händen der militärfreundlichen Eliten.
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die chilenischen KursteilnehmerInnen kaum eine Distanz zu ihrer jüngeren Geschichte haben. Erst durch die Anregungen in den Seminaren in Wannsee und Buchenwald begannen sie, ihre Selbstzensur aufzugeben, Erinnerungen zuzulassen und auszusprechen. Erst hier gelang es ihnen, die Komplexität und Ambivalenz der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihre persönliche Verstricktheit zu erkennen. Sie mussten erst von zuhause weggehen, um einen neuen Blick auf sich selber und das eigene Land zu erhalten.

Von Chile lernen

Ähnliche Erkenntnis, wenn auch mit anderen Vorzeichen, machten viele deutsche KollegInnen bei ihren Begegnungen in chilenischen Schulen und mit dortigen Menschenrechtsgruppen. In gemeinsamen Workshops mit chilenischen KollegInnen, erfuhren sie Grenzen und Möglichkeiten partizipativen Arbeitens in interkulturellen Zusammenhängen. Am Beispiel der Mapuche wurde einmal mehr klar, wie notwendig es ist, den Lebenshintergrund der SchülerInnen in den Unterricht einzubeziehen: „Die zweisprachigen Unterrichtsmodelle für Mapuche-Kinder bleiben Lippenbekenntnisse, wenn nicht die Vertreibung und strukturelle Diskriminierung des Mapuche-Volkes mitthematisiert wird. Ansonsten werden die Kinder Opfer der unverarbeiteten Leiden der Eltern.“ Indem die KollegInnen aus einer anderen Perspektive über sich und ihre Arbeit reflektieren konnten und gleichzeitig in vielen Gesprächen die Differenzen zwischen Ost- und Westerfahrungen verglichen, wurde deutlich, wie der Schulalltag und seine Anforderungen das Denken konditioniert und pragmatisch reduziert. In den Seminaren entstand durch inhaltlich-biographische Gespräche ein geschützter Raum. Durch das gegenseitige Zuhören entstand eine vertrauensvolle Atmosphäre und auf beiden Seiten wurden Ängste abgebaut. Erst in dieser Vertrauensatmosphäre konnte beispielsweise die Witwe eines ermordeten Arztes ihre Einsamkeit beschreiben, die sie als Angehörige einer Opfergruppe stets gespürt habe, sich aber nicht erklären konnte: “Opfer, wenn sie denn überlebt hatten, wurden von der Gesellschaft gemieden, keiner interessierte sich für ihr Leid. Erst durch die Gespräche in Anwesenheit der Deutschen wurde mir bewusst, dass die Abwehr der Menschen in meiner Umwelt nicht mir persönlich galt, sondern in der Begegnung mit dem „Anderen“ dem Opfer lag.“ Durch Erinnerungs- und Menschenrechtsarbeit kann es wieder zur Verständigung und Begegnung zwischen dem Opfer und der Welt kommen.

Ausblick

Die Begegnungen in Chile mit Menschenrechts- und Angehörigenorganisationen von politisch Verfolgten oder Verschwundenen machen deutlich, wie notwendig die Rolle von politisch nicht festgelegten ‚Katalysatoren’ sein kann, um das Schweigen zu brechen. Die Erfahrungen des Austausches zeigen die Schwierigkeiten auf, die mit der Annäherung an die jüngere Geschichte einhergehen. So stehen die GedenkstättenpädagogInnen in Deutschland und viele ‚Memoria’-Ansätze in Chile in der Gefahr, die Vergangenheit nach eigenem Geschichtsbild und politischen Interessen festzuschreiben und hierbei nicht die Kontinuitäten in der Gegenwart sowie Zukunftshoffnungen zu reflektieren. Die thematische Einschränkung der Gedenkstätte ‚Haus der Wannsee-Konferenz’ auf den Antisemitismus und die jüdische Verfolgung, ohne dabei Bezug zu nehmen auf aktuelle Formen des Antisemitismus und Rassismus, die Fixierung auf die deutsche Aufarbeitung in Buchenwald und die geringe Auseinandersetzung mit Ansätzen der Menschenrechtsverletzung in anderen Ländern sind ein Ausdruck davon, dass auch 60 Jahre nach Auschwitz eine Begegnung mit den Opfern in einer offenen, zukunftsorientierten Wirklichkeit schwierig ist. Zwar ist es verständlich, dass sich jede Gedenkstätte dem Ort und dessen spezifischen Formen der Menschenrechtsverletzungen verpflichtet fühlt, dieses sollte jedoch nicht zur Begrenzung auf eine bestimmte Opfergruppe führen, geschweige denn die Debatte der aktuellen Fragen von Gewalt und Zukunft verhindern.
Um sich mit der gewaltvollen Vergangenheit einer Gesellschaft auseinanderzusetzen, bedarf es Strategien, die helfen, über den eigenen Tellerrand zu schauen. Der Einsatz von ‚Katalysatoren’ aus anderen Gesellschaften/Ländern kann einen hilfreichen Zugang darstellen. Pure Vergleiche von totalitären und diktatorischen Systemen, in denen es nur um die Aufrechnung der Gewalt geht, reichen nicht aus, sondern verstellen das Denken. Stattdessen müssen Strukturen von Ausgrenzung, Unsichtbarmachung und Diskriminierung in der jeweiligen Kultur und dem spezifischen historischen Kontext benannt werden. Es geht nicht um Analogien, sondern um die Schaffung der strukturellen und pädagogischen Voraussetzungen für eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der jüngeren Vergangenheit. Erinnerungsarbeit und Menschenrechtsarbeit gehören eng zusammen. Wenn es gelingt, auf die Gemeinsamkeiten und die Bezüge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu schauen, können ethnozentrische Begrenzungen transparent werden. „Erinnerung braucht Zukunft. Zukunft braucht Erinnerung.“

Kasten:

„Erinnerung braucht Zukunft. Zukunft braucht Erinnerung“

Unter diesem Titel führte das Paulo Freire Institut in Kooperation mit dem chilenischen Erziehungsministerium vom 6. bis 10. August 2004 in Concepción ein internationales Seminar durch. KunstlehrerInnen, GeschichtslehrerInnen und MitarbeiterInnen von Ministerien der Region Bio Bio sowie BäuerInnen aus Valdivia (Südchile) nahmen daran teil. Ziel war, chilenischen LehrerInnen und Nichtregierungsorganisationen (NGO) eine Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschichte mittels biographischer Methoden zu vermitteln, um so das seit der Diktatur fortwährende Schweigen über die Gewalt in der jüngeren Geschichte zu brechen. Im Rahmen des Seminars haben am dritten Tag die KursteilnehmerInnen eine Spurensuche vor Ort gemacht:
Eine der Seminarteilnehmerinnen war in ihre ehemalige Grundschule gegangen, wo sie sich vor 30 Jahren während der Diktatur angstvoll abgewandt hatte, als ein gefolterter Lehrer an die Schule zurückgekehrt war, sichtbar gezeichnet von Brandwunden und körperlicher Gewaltanwendung. Da sie damals geschwiegen hatte – sie ist die Tochter eines Polizisten und Pinochetunterstützers – hatte sie heute das Bedürfnis, die Atmosphäre ihrer Schule wahrzunehmen, um festzustellen, ob sich seitdem etwas geändert habe. Als sie am Schulgebäude ankam, war der Unterricht bereits im vollen Gange, so dass sie ungestört durch die leeren Flure gehen konnte. Es herrschte eine ‚ganz normale Stimmung’ von Ruhe und Ordnung, so wie damals auch. Die Stille um sie herum kannte sie nur zu gut von ihrer eigenen Schule. Sie wurde und wird autoritär von den LehrerInnnen hergestellt, die sich angesichts der überfüllten Klassenräume nicht anders zu helfen wissen, als den SchülerInnen mit scharfen Disziplinarmaßnahmen zu drohen. Ein demokratisches Miteinander von LehrerInnen und SchülerInnen gibt es in Chile auch heute kaum.
Es war diese Totenstille, die bei der Kollegin die Erinnerungen von damals wachriefen. Wie mag es dem gefolterten Lehrer wohl ergangen sein? Was war aus ihm geworden? Wie wird es ihm heute im Chile der allgemeinen Straflosigkeit gehen? Immer mehr Fragen rasten der Kollegin durch den Kopf, so dass sie voller Beklemmung zum Schulsekretariat ging, um nach dem Namen des Kollegen zu forschen. Sie erfuhr, dass der Lehrer noch immer an der Schule unterrichtete und in seinem letzten Jahr vor der Pensionierung stünde. Er sei im benachbarten Klassenraum zu finden.
Mit wachsendem Herzklopfen ging die Kollegin zu der besagten Klasse und wartete das Pausenzeichen ab. 30 Jahre sind eine lange Zeit. Was könnte sie ihrem alten Lehrer sagen? Würde er es verstehen, wenn sie ihn auf die damalige Zeit anspräche? Könnte sie ihm vermitteln, wie sehr sie die Tatsache belastet habe, damals geschwiegen zu haben? Als sie ihm kurz darauf gegenüberstand und sie sich gegenseitig erkannten, waren alle Bedenken vergessen. Von den Erinnerungen übermannt, erzählten sie sich, wie die gewaltvolle Vergangenheit auch heute noch ihr Leben bestimmte. Endlich konnte die Schülerin von damals ihrem Lehrer sagen, dass sie seinerzeit aus Angst geschwiegen habe und dass sie, heute Mutter von fünf Kindern, sich bemühe, die Kultur des Schweigens zu überwinden. Viele Jahre habe sie die Erinnerung an das Grauen erfolgreich verdrängt, habe sich um die Familie gekümmert und sei Lehrerin in einem Elendsviertel in Talca geworden. Erst vor zwei Jahren, als sie im Rahmen einer internationalen LehrerInnenfortbildung für fünf Wochen in Deutschland war, sei ihr, 16.000 Kilometer entfernt von Chile, in Buchenwald, zum ersten Mal bewusst geworden, dass sie selber Teil dieser Kultur des Schweigens sei. Wie die meisten ihrer chilenischen KollegInnen habe auch sie strikt vermieden, mit ihren SchülerInnen über die Diktaturzeit Chiles zu sprechen. Seitdem engagiere sie sich für Erinnerungsarbeit und habe seit zwei Jahren mit einer Gruppe von Gewerkschaftsfrauen in Talca eine Forschung begonnen, um SchülerInnen und LehrerInnen zu befragen, wie schulische Bildung und ethische Fragen im Hinblick auf die jüngste Vergangenheit zu verbinden seien. Mehr zu sagen blieb die Zeit nicht, denn das Pausenzeichen unterbrach ihr Gespräch schroff und der Lehrer musste wieder in den Unterricht zurück. Sie konnten nur noch die Adressen austauschen und sich versprechen, sich bald einmal zu besuchen und sich zukünftig gegenseitig zu unterstützten.

(Ilse Schimpf-Herken ist zusammen mit Ingrid Jung Herausgeberin des Buches „Das Fremde als Chance. Wie entstehen Lernprozesse?“; IKO-Verlag für interkulturelle Kommunikation)

Shoppen und verschanzen in Santiago

Wir befinden uns in einer Übergangsphase zur Demokratie, die noch lange nicht abgeschlossen ist“, sagt Victor Hugo de la Fuente. Der Direktor der chilenischen Ausgabe von Le Monde diplomatique empfängt uns in einem Hochhaus im Zentrum von Santiago. Sein winziges Büro beherbergt eine beeindruckende Sammlung kleiner Pinguine, an den Wänden hängen Erinnerungsbilder. Eine Schwarzweißfotografie zeigt den Redakteur im Pariser Exil als Sprecher von Radio Frances International. 1988 kehrte de la Fuente nach Chile zurück. General Augusto Pinochet musste damals – nach fünfzehn Jahren Militärdiktatur – den Weg in die Demokratie freigeben.
Zuvor hatte der General sich und einige Getreue noch zu „Senatoren auf Lebenszeit“ ernannt. Die Putschisten schufen sich damit eine Art christlich-fundamentalistischen Wächterrat außerhalb demokratischer Normen, um jederzeit in die Geschicke des Landes eingreifen zu können. Auch die Armee funktioniert in vielen Belangen unabhängig von der Regierung: Die hohen Offiziere berufen die Generalität bis heute selber. Eine Mehrheit der BürgerInnen ist damit zwar nicht einverstanden, doch die Minderheit reicht fast an sie heran: Knapp die Hälfte der rund sechzehn Millionen ChilenInnen gab bei den letzten Wahlen den aus den Putschisten hervorgegangenen Parteien Renovación Nacional (RN) und Unión Demócrata Independiente (UDI) ihre Stimme.

La Vida Social
„Armee und Unternehmer haben eine brutale Macht in diesem Land“, sagt de la Fuente. Eine einzige Tageszeitung, die kleine La Nación, an der der Staat selber Anteile hält, sei nicht grundsätzlich gegen das regierende Mitte-Links-Bündnis von Präsident Ricardo Lagos eingestellt. In der Tat: Wer den hauptstädtischen El Mercurio aufblättert, könnte meinen, Lagos repräsentiere eine extreme Splittergruppe und sei gar nicht der Präsident. Im Mercurio tagt das Schattenkabinett. Dabei brütet es nicht nur nationale Direktiven aus, es lässt sich auch mit Freunden in täglichen Fotoseiten der Zeitung zur Schau stellen. „Vida social“ („Gesellschaftliches Leben“) heißt diese Rubrik im vorderen Teil der Tageszeitung. Die Bildralleys zeigen die bedeutenden Persönlichkeiten beim Empfang in der Bank von Chile, beim 187. Gründungstag der Militärschule oder beim Sekttrinken in einer Gemäldegalerie.
Dass die Rechte in Chile ein Imageproblem hat, war lange Zeit unübersehbar. Nach der Einlieferung Pinochets in eine Londoner Klinik und der anschließend medizinisch attestierten Senilität, die den Alten vor Strafverfolgung schützt, wurde dies auch für viele Angehörige der Oberschicht klar. In Anspielung auf Pinochets Krankenhausaufenthalt gründete sich in Chile die satirische Wochenschrift The Clinic. Die Zeitschrift ist wegen ihres respektlos subjektiven Tons gerade bei jüngeren LeserInnen sehr beliebt. Sie spricht für eine neue Generation, die sich eindeutigen Rechts-links-Zuordnungen zu entziehen versucht. Sie spottet bei jeder Gelegenheit über fundamentalistische Moralvorstellungen und den „Gran General“, der sich seit der Rückkehr aus London in eine seiner Privatvillen verkrochen hat.
Auch Joaquín Lavín, der schon 2000 als Präsidentschaftskandidat der Rechten gegen Lagos antrat, ist seit der vorübergehenden Festsetzung Pinochets in London auf Distanz zum ehemaligen Diktator und seinen alten Kameraden bedacht. Der Führer der UDI will 2005 endlich für die gewendete Rechte eine nationale Wahl gewinnen. Auf demokratische Weise ist dies seinem Spektrum seit den sechziger Jahren nicht mehr gelungen. Und seit der Rückkehr zur Demokratie regiert ununterbrochen die Concertación, das Bündnis der vier „antifaschistischen“ Parteien, das von den Sozialisten bis zu den konservativen Christdemokraten reicht. Lavín, zurzeit Bürgermeister von Santiago, der seine Mitgliedschaft zum rechtskatholischen Opus Dei gerne scherzend zur unpolitischen Privatangelegenheit erklärt, wird zumindest rechts der Mitte hoch gehandelt.

Kulturrevolutionierte Fußgängerzonen
„Im Kampf gegen das Verbrechen“ brachte Lavín gerade eine Säuberungskampagne im Zentrum der chilenischen Metropole erfolgreich hinter sich, seine Freunde sprechen gar von einer kulturellen „Revolution“. Ihre sichtbaren Zeichen sind Gauchokutschen nachempfundene Blumenkästen in der Fußgängerzone, privates Sicherheitspersonal und zentral gesteuerte Musikberieselung auf den Straßen. Die Menschen sollen sich so behütet wie in einer gut gesicherten Shopping Mall fühlen. Auf den ersten Blick scheint dies bei vielen gut anzukommen. Auch wenn es nicht ins Bild passt, dass der Rio Mapocho so dreckig wie früher durch Lavíns Santiago rauscht und die vom Bürgermeister versprochenen „Badestrände“ am Fluss weit und breit nicht zu sehen sind.
Die chilenische Hauptstadt mit ihren viereinhalb Millionen EinwohnerInnen wirkt ein wenig wie Los Angeles ohne Traumfabrik – ein etwas zu groß geratenes Dorf. Im Zentrum bestimmen die Wolkenkratzer der Dienstleistungs- und Finanzunternehmen das Bild. Wenn Büros und Einkaufsläden abends und am Wochenende schließen, leeren sich die Straßen. Viele der besser Verdienenden ziehen sich wieder stadtaufwärts Richtung Anden zurück; nach Osten in die bewachten Apartementgebäude, in die Einfamilienhäuser mit den Vorgärten und der frischeren Luft. Die von Verkehrslärm umtoste Plaza Italia, so schreibt der Schriftsteller Pedro Lemebel, ist die unsichtbare Grenze, die den bürgerlichen Osten von den populären Vierteln des Westens trennt. Hier thront General Baquedano auf einer imposanten Reiterstatue und hält seine einsame Wacht. Niemand soll sich im Weg irren, aufwärts beginnt das bürgerliche Providencia, abwärts das vom Mittelstand misstrauisch beäugte Zentrum.

Mein Heim ist meine Festung
Das Barrio Quinta Normal ist eines dieser populären ArbeiterInnenviertel westlich der Innenstadt. Man nimmt die U-Bahn bis zur Universidad de Santiago, durchschreitet das Universitätsgelände und steht plötzlich vor den großen modernen Blocks der Villa Portales. Sie wurden Anfang der sechziger Jahre errichtet, inspiriert von der sozialen Architektur Le Corbusiers. Ricardo Alvarez lebt schon seit vierzig Jahren hier. Er war stolz, als Arbeiter in eine „so schöne“ Siedlung zu ziehen, sagt er. Alles war grün, Autos gab es keine. Heute sind die großen Plätze zwischen den Wohnblöcken versandet und dienen als Parkplätze.
Sieben Kinder haben er und seine Frau in einer Vierzimmerwohnung der Villa Portales großgezogen. Die futuristisch anmutenden Betonkonstruktionen waren durch Fußgängerbrücken miteinander verbunden, die ganze Anlage machte einen offenen Eindruck. „Dann kam der 11. September“, sagt Alvarez in seinem typisch chilenischen Singsang und meint den Militärputsch von 1973.
Die Siedlung mit den vielen Gemeinschaftsanlagen galt fortan als medio complicado, als gesellschaftlich schwierig. Ein Ruf, der dem Viertel bis heute anhaftet. Offensichtlich auch in den Köpfen einer Mehrzahl der BewohnerInnen. Der alte Mann schüttelt den Kopf und deutet auf die vielen vergitterten Fenster und Eingangsbereiche. Sie waren, so sagt er, in der ursprünglichen Architektur nicht vorgesehen. Aber auch das „einfache“ Chile hat sich verbarrikadiert und pflegt nur noch, was im eigenen umzäunten Bereich liegt. Die Welt da draußen, ein einziges Sicherheitsproblem. Die Verbindungsbrücken zwischen den Häusern, auf denen Alvarez früher spazieren ging, sind heute zerstört. Einige enden bizarr und sinnlos in den Dächern kleiner Reihenhäuser, die nachträglich um diese Brücken errichtet wurden.
Dass noch die unscheinbarste Bude mit Draht und Gitter verhauen ist, bildet das Markenzeichen der heutigen chilenischen Gesellschaft. Manche Leute leben, so scheint es, am liebsten gleich in Käfigen. Eine direkte Leitung zur Polizei gehört schon in mittleren Wohnlagen genauso zum Standard wie der Autoabstellplatz. Dabei hat Chile eine im südamerikanischen Vergleich atemberaubend geringe Kriminalitätsrate. Die Rechte hält dies für einen Erfolg ihrer Prävention. Während die Militärs sich in die Kasernen zurückzogen, blieben ihre neurotischen Angst- und Bedrohungsdiskurse haften.
„Die autoritären Dimensionen waren in der politischen Kultur Chiles immer präsent“, sagt der Soziologe Tomás Moulián. Dieser „offensichtliche Autoritarismus“ manifestiere sich in einer „Besessenheit“, was die öffentliche Sicherheit anbeträfe. Und in einer konservativen Doppelmoral, wäre hinzuzufügen, die das private Leben zu kontrollieren sucht.
Doch fünfzehn Jahre nach dem Übergang zur Demokratie sind in der chilenischen Gesellschaft auch gewisse freiheitliche Gegentendenzen unübersehbar. Die diskriminierten Minderheiten sind selbstbewusster geworden. Die indigenen Mapuche fordern ihre Rechte, Landlose halten Brachen besetzt, und in Santiago hat sich eine offenere Schwulenkultur etabliert. Institutionell geht es zwar langsam, aber manches doch voran. So konnte die Regierung Lagos vor wenigen Tagen ein modernisiertes Ehegesetz im Parlament durchbringen, das ab November die Scheidung erlauben wird.

Schlammschlacht um Pädophilie
Die Macht der Linken in Chile ist begrenzt. Die außerparlamentarischen Bewegungen sind im Vergleich etwa zu Argentinien schwach, und im Parlament stellt Lagos’ Partido Socialista gerade mal 10 der 122 Abgeordneten. Lagos’ SozialistInnen sind in der „antifaschistischen“ Concertación bloß Juniorpartner, die Bürgerlichen sind weitaus stärker. Lagos mag als Persönlichkeit und Präsident über die Parteigrenzen hinaus beliebt sein. Und seiner amtierenden sozialistischen Verteidigungsministerin Michelle Bachelat werden allgemein gute Chancen eingeräumt, den rechten Herausforderer Lavín auch nächstes Jahr in die Schranken zu weisen, da Lagos selbst kein zweites Mal kandidieren darf. Doch als Kandidatin der Concertación ist auch eine Christdemokratin im Gespräch.
Bis letztes Jahr gab sich die Rechte um Lavín sehr siegessicher. Doch dann erholte sich die Wirtschaft und blieb vor allem im Gegensatz zu den meisten Nachbarländern stabil. Bei derzeit vier Prozent Wachstum und den hohen Deviseneinnahmen aus dem gestiegenen Kupferpreis lässt sich schwer über die Regierung meckern. Als noch schlimmer für Lavín und seine konservativen Saubermänner erwiesen sich die Vorwürfe, zwei ihrer UDI-Senatoren seien samt einem Christdemokraten in einen Kinderpornoskandal verwickelt. Sie sollen auf den Partys eines befreundeten Unternehmers minderjährige Drogenabhängige sexuell missbraucht und vergewaltigt haben. Die Beschuldigungen stammen ausgerechnet aus den Reihen des Bündnispartners RN. Seit vergangenem Oktober tobt darum in den beiden Rechtsparteien eine Schlacht, in deren Zentrum die RN-Abgeordnete Pía Guzmán steht und in deren Verlauf die Präsidien beider Rechtsparteien ausgewechselt wurden.
Guzmán brachte im Oktober als Vizepräsidentin der RN den Skandal öffentlich ins Rollen. Ihr Wahlkreis ist der wohlhabende Hauptstadtbezirk Las Condes. Sie hatte sich schon früher für missbrauchte Kinder eingesetzt. Offensichtlich lagen ihr konkrete Informationen vor, und offensichtlich befürchtete sie, dass die chilenische Justiz die Sache unter den Tisch kehren würde. Die UDI und rechte Medien schossen sich sofort auf Guzmán und die Belastungszeugen ein, darunter einen Pater, dem sich mehrere Jugendliche anvertrauten. Das Thema ist nach acht Monaten immer noch nicht vom Tisch. Lavíns Leute haben es aber mittlerweile geschafft, Guzmán in ihrer eigenen Partei, der RN, zu isolieren.

Etwas haften bleibt immer
„Es gibt kein einziges Video“, gab sich UDI-Generalsekretär Patricio Melero von Anfang an siegessicher. Und so mag es am Ende auch sein. Doch so manchen – auch konservativen – ChilenInnen dürfte die „Mauer des Schweigens“, welche die UDI-Männer errichtet haben, und die Kampagne gegen Guzmán sauer aufstoßen. Drei Monate nach Beginn der Kampagne gegen Guzmán glaubten nach einer Umfrage des konservativen Mercurio immer noch 75 Prozent der Bevölkerung an das, was nach Lavín einfach nicht sein darf.
Doch trotz der Glaubwürdigkeitskrise der Rechten: Links sind viele ermüdet von dem langsamen und stockenden Reformprozess in Chile. Die Verfahren um die Menschenrechtsverbrechen der Diktatur haben noch nicht einmal richtig begonnen. Und wirtschaftspolitisch sind keine großen Sprünge drin. Manche wünschen sich da, die SozialistInnen würden in die Opposition gehen. „Doch“, sagt Victor de la Fuente, „die Regierungsinstitutionen sind die einzigen Machtorgane in Chile, die nicht komplett von der extremen Rechten kontrolliert werden. Das kann man nicht einfach aufgeben.“

United Colors in Patagonien

Die Privatisierungspolitik der Präsidenten Menem (1989-1999) und De la Rúa (1999-2001) ermöglichte den massiven Kauf patagonischen Grund und Bodens. Ausländische Großunternehmer, wie beispielsweise auch Ted Turner, Sylvester Stallone oder die Benetton Brüder, kauften im Zuge dessen sehr günstig riesige Farmen, reiche Minen, wunderschöne Seen und viele, viele Schafe – nicht nur vom argentinischen Staat sondern auch von Mitgliedern der lokalen Oligarchie. Es interessierte dabei wenig, dass die Mapuche in vielen dieser Gebiete von ihren Vorfahren überlieferte Rechte besitzen. Und so kommt es, dass der italienische Großkonzern Benetton seit seinem jüngsten Grunderwerb im Besitz von fast 900.000 Hektar Patagoniens ist.
Benetton besitzt weltweit Banken, Immobilien, Restaurants und Tankstellen. In Italien hält das machtvolle Konsortium Konzessionen der Autobahnen und ist unter anderem Aktionär von Firmen wie Olivetti und Telecom.

Imagewerbung à la Benetton
Vor zwei Jahren veröffentlichte United Colors of Benetton in Zusammenarbeit mit dem Freiwilligenprogramm der Vereinten Nationen eine Werbekampagne. Diese zeigte, wie ein Transvestit Kondome an Prostituierte verteilt. „Mit unserer neuen Kampagne wollen wir Partei ergreifen für all die Freiwilligen, die sich ohne alle Vorurteile dafür entscheiden im Sinne all derer zu handeln, die Hilfe benötigen“, sagte Luciano Benetton damals in Bonn. Bereits 1996 hatte der Konzern eine Werbekampagne über die Hungerproblematik in Entwicklungsländern gestartet. Auch während der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Menschenrechtserklärung spielte Luciano Benetton eine zentrale Rolle. 1999 sammelte er Spenden für die Vertriebenen im Kosovo.
Gleichzeitig jedoch laufen gegen denselben Konzern in mehreren Ländern Prozesse: In der Türkei geht es um die Beschäftigung von elf- bis dreizehnjährigen Kindern, in Italien um die Entlassung zahlreicher schwangerer Frauen ohne die Zahlung von Abfindungen und in Rumänien um die unterlassenen Auszahlungen der ohnehin armseligen Löhne der Fabrikarbeiter. Auch die gewalttätigen Vertreibungen in Patagonien wollen da so gar nicht ins Bild des „humanitären Großkonzerns“ passen.
Seit einigen Jahren nun kauft der Konzern große Landstriche Patagoniens. Auf ihnen weiden circa 270.000 Schafe. Die Wolle der Schafe ist von außergewöhnlich hoher Qualität. Da sie zusätzlich mit Hilfe der neuesten Technologie weiterverarbeitet wird, kann mit ihr Wollkleidung der höchsten Qualitätsstufe hergestellt werden, sogar solche, die man selbst im Sommer tragen kann. Das Geschäft, das Benetton in Argentinien macht, ist hervorragend. Die Arbeiter in den Viehgroßfarmen verdienen nur rund 250 Peso (75 Euro) im Monat. Und mit den argentinischen Arbeitern haben die Benettons auch keine Probleme, denn die Menschen haben keine Alternativen, Fabriken gibt es in dieser Region nicht.
Große Konflikte gibt es jedoch mit all den Menschen, die es wagen sich in einem der Gebiete niederzulassen, die sich im Besitz des Großkonzerns befinden. Dies musste am 2. Oktober 2002 eine Mapuche-Familie aus Curiñaco am eigenen Leib erfahren: Sie wurde brutal vertrieben, ihr Hab und Gut wurde zerstört. Die Mapuche-Gemeinde von Curiñaco kommt ursprünglich aus Leleque, einem der Orte, dessen Besitztitel die Benettons besitzen.

Benetton macht krank
Die „humanitären Geschäftsleute“ gründeten das Museum in Leleque, angeblich um die Mapuche-Gemeinden zu würdigen. Die Kosten desselbigen geben sie mit knapp einer Milllion US-Dollar an.
Das Museum beherbergt archäologische Funde Patagoniens von vor bis zu 13.000 Jahren. Einige Spezialisten fragen sich jedoch, woher die Benettons diese Funde bekamen. Der Konzern selbst macht diesbezüglich keine Angaben. Weiterhin lässt es aufhorchen, wenn in den Prospekten des Museums in der Sprache der Mapuche die Worte von Ionko Foyel zu lesen sind: „Hier ist genug Platz für alle“ („Acá hay lugar de sobra para todos“). Denn ungeachtet dieses Spruchs versperrt Benetton mit einem Zaun den Zugang zum Fluss Lepá, der für die angrenzenden Gebiete eine wichtige Wasserquelle darstellt.
Zugleich ist der Fluss durch unverarbeitete Rückstände vergiftet. Diese werden auf den Gebrauch von starken Düngemitteln auf dem Weideland zurückgeführt. Die Mapuche der Region weisen vom Verzehr des verseuchten Wassers bereits ernst zu nehmende Krankheitsbilder auf. Seit Benetton in der Region agiert, hat sich hier alles verändert. Und als sei dem nicht genug, zahlt der Modegigant obendrein auch die Grundsteuer spät oder unzureichend, die der Gemeinde El Maitén für dessen Gebiete eigentlich zustünde.
Gerechtigkeit wird aber schwerlich herzustellen sein, solange der Staat die Angelegenheit in den Händen korrupter Richter belässt. Ein solcher ist beispielsweise José Colabelli, Richter in Esquel. Er urteilte in Chubut häufig über Fälle von Vertreibungen und ist dort für seinen verachtenden Umgang mit den Betroffenen bekannt.
Selbst die Weltbank hat bereits auf die massive Vertreibung von Mapuche-Familien und Gemeinden hingewiesen. Die Mapuche selbst beginnen nun sich zu vereinen und fordern gemeinsam ein definitives Ende der Vertreibungen, der wiederrechtlichen Aneignungen, die sofortige Rückgabe der Ländereien an die Familien und Gemeinden sowie ein Ende der Unterdrückung und Kriminalisierung ihrer Organisationen. Weiterhin sprechen sie sich deutlich gegen den Verbleib der nationalen und internationalen Unternehmen sowie anderer Großgrundbesitzer und repressiven Kräfte in den Gebieten ihrer Vorfahren aus.

Der Zug am Ende der Welt
Dass es durchaus alternative Verdienstmöglichkeiten geben könnte, zeigt La Trochita, der sich durch die wunderbare Unendlichkeit Patagoniens seinen Weg bahnt. Der Zug war lange Zeit stillgelegt. Der Bahnhof beherbergte die Schule No. 90. Verschiedene Anstrengungen von Seiten des Staates wurden nie umgesetzt, und so nahmen die Benettons schließlich von La Trochita Notiz.
Um zu vermeiden, dass die Benettons die gesamte Region in Besitz nehmen, müsste man erreichen, den uralten Bahnhof als „Kulturerbe“ auszuweisen. Darum bemühen sich nun die BewohnerInnen der Region. Das Nachbardorf Nahuelpan dient ihnen als Vorbild, denn mit Hilfe der Gemeindeverwaltung hat man es hier geschafft die alten Häuser zu restaurieren. Damit lockt man jährlich um die 12.000 TouristInnen an. Die so geschaffene Arbeit verteilt sich auf die EinwohnerInnen des Dorfes und ermöglicht es ihnen würdig zu leben – unabhängig von den „neuen Göttern Patagoniens“, den Benettons.

Übersetzung: Anna Schulte

„No a la mina” – „Nein zur Mine”

Im Januar 2001 brachte die Mapuchegemeinschaft Huisca-Antieco in der argentinischen Provinz Chubut zur Anzeige, dass eine Gruppe von Personen mit Autos ohne Befugnis in ihr Territorium eingedrungen war. Offensichtlich wurden Untersuchungen des Bodens betrieben, um ein Gold- und Silberabbauprojekt vorzubereiten. Es handelt sich um ein nahezu unberührtes Gebiet, nahe dem Nationalpark Los Alerces, das für die Mapuche eine seit Generationen überlieferte symbolische und rituelle Bedeutung innehat und über einen ungeheuren Schatz an Flora und Fauna verfügt.
Dieses Ereignis ließ die Bevölkerung des patagonischen Andenstädtchens Esquel aufhorchen. Sie wusste bis zu diesem Zeitpunkt nichts von dem 1997 fast im Geheimen geschlossenen Pakt zwischen Argentinien und Chile, der die Anden bis 2005 von Jujuy bis Santa Cruz (auf der argentinischen Seite) in einen der größten Minendistrikte der Welt verwandeln soll. Und sie wusste auch nichts von den Abmachungen zwischen dem multinationalen Unternehmen Meridian Gold IMA Exploration Inc. und der Provinzregierung von Chubut, die vorsahen, dass nur sieben Kilometer außerhalb der Stadtgrenze eine Goldmine ungeheuren Ausmaßes entstehen und für die nächsten zehn Jahre Dynamitdetonationen den Alltag der BewohnerInnen bestimmen sollten: ein Krater mit einer Länge von 2.100 Metern, 500 Meter Breite und einer Tiefe von 180 Metern.
Meridian Gold hatte das Gebiet der zukünftigen Mine gekauft und ließ 67 Hektar ursprünglicher Lenga und Nirewald abgeholzen. Unter Beschwörung des vermeintlichen Fortschrittes wurden Versprechungen gemacht, dass mit der Mine an die 2.000 direkte und indirekte Arbeitsplätze geschaffen und Millionen von US-Dollar ins Gebiet fließen würden.

Gold und Gift

Doch die Bevölkerung war mittlerweile alarmiert. Recherchen zeigten das wahre Gesicht von Meridian Gold, ein Unternehmen „berühmt“ geworden durch seine „effizienten“ Abbaumethoden im Tagebau. Wegen dieser Methoden operiert es fast ausschließlich in Ländern, in denen es keine gesetzlichen Einschränkungen oder Kontrollen gibt. Von nahezu allen Mauern schrien Plakate „No a la mina, si a la vida!“ – „Nein zur Mine, ja zum Leben!“. Zahlreiche Proteste der verschiedensten Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen und sieben Demonstrationsmärsche durch die Stadt zwangen die Provinzregierung zu einer Reaktion.
Am 23. März 2003 lehnte die Bevölkerung in einer Volksbefragung mit rund 85 Prozent der abgegeben Stimmen das Vorhaben ab. Beteiligt hatten sich 75 Prozent der Stimmberechtigten. Der Gouverneur der Provinz Chubut, José Luis Lizurume, legte in Absprache mit dem Vorstand von Meridian Gold das Goldprojekt auf unbestimmte Zeit auf Eis.
Mit den Auflagen das Projekt zu überarbeiten, zu garantieren, dass keinerlei Verseuchung des Grundwassers durch den Goldabbau stattfände und jegliches Risiko auszuschließen sei, bevor das Projekt weitergeführt werden könne.
Die Bevölkerung konnte noch mehr erreichen. In der Provinz Chubut wurde im April ein Gesetz beschlossen, dass das Betreiben von Minen im Tagebau verbot, ebenso die Verwendung von Zyanid im Produktionsprozess. Außerdem gibt es nun ein Transportverbot des toxischen Elementes im Stadtgebiet.
Allerdings gibt es immer noch Hinweise darauf, dass die Firma trotz anderslautender Zusagen weiter die Erkundung des Gebietes um Esquel betreibt. So ist mittlerweile ein zweiter Standpunkt für eine offene Mine in den Blickfang von Meridian Gold geraten. Diesmal nur vier Kilometer von Esquel entfernt.

Der Neoliberalismus weist den Weg

Die meisten PolitikerInnen in Chile machen in Optimismus. Das Land sei dabei, aus dem Schatten der Unterentwicklung herauszutreten. Grundlage ihrer Einschätzung ist der Bevölkerungszensus von 2002. Die dort für die letzten zehn Jahre ausgemachten enormen Veränderungen werden von vielen schon als der Eintritt Chiles in die Modernität (miss)verstanden. Chile hat heute eine Bevölkerung von etwas mehr als 15 Millionen Menschen. Die jährliche Zuwachsrate von 1,2 Prozent nähert sich der eines entwickelten Landes an. Nur noch 13 Prozent der ChilenInnen leben auf dem Lande. Trotz der in den letzten Jahren verschärften Auseinandersetzung über die Rechte der indigenen Bevölkerung erklären nur etwa fünf Prozent, einer ethnischen Gruppe anzugehören, der größte Teil davon sind Mapuche.
Im Bildungsbereich sind, zumindest quantitativ, erhebliche Fortschritte erreicht worden: Nur noch vier Prozent der ChilenInnen über zehn Jahre sind AnalphabetInnen und die Zahl der Kinder, die eine Vorschule besuchen, hat sich verdoppelt. Die “Investitionen in Neuronen”, wie es der Erziehungsminister Sergio Bitar (einst Bergbauminister unter Allende) ausdrückt, hat die Zahl der StudentInnen an den Hochschulen mehr als verdoppelt. Die Dauer des durchschnittlichen Schulbesuchs ist in den letzten zwanzig Jahren von 6,3 auf 8,5 Jahre gestiegen und liegt damit zwar über dem lateinamerikanischen Durchschnitt, aber noch deutlich unter der Schwelle von zwölf Jahren, die die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) für notwendig hält, um den Teufelskreis der von Generation zu Generation übertragenen Armut zu durchbrechen. Immerhin hat Präsident Lagos vor einigen Monaten angekündigt, diese zwölf Jahre Schulzeit gesetzlich verankern zu wollen.
Allerdings besteht trotz quantitativer Erfolge in der Armutsbekämpfung, im Wohnungsbau, in der Erziehung und in der sanitären und Gesundheitsversorgung weiterhin soziale Ungerechtigkeit, und die soziale Ausgrenzung hat sogar noch zugenommen. Weiterhin entscheidet die Höhe des Familieneinkommens, der Wohnsitz, die Schule (öffentlich oder privat) und sogar (immer noch) der Nachname über den sozialen Status einer Person und die Chancen, die sie und ihre Familienangehörigen haben, ihre Lebensbedingungen mehr als nur marginal zu verbessern.
Inzwischen haben mehr als die Hälfte der ChilenInnen einen Telefonanschluss, etwa die gleiche Anzahl hat ein Handy. Mehr als zwanzig Prozent der Haushalte besitzen einen Computer, fast 25 Prozent sind ans Kabelfernsehen und über zehn Prozent ans Internet angeschlossen. Fast 60 Prozent der Haushalte besitzen einen PKW. Diese Zahlen, deuten auf eine klare Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen hin.
Dennoch schätzt die Bevölkerung die Lage bei weitem nicht so positiv ein wie viele PolitikerInnen. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CEP vom Juli 2003 belegt: 48 Prozent der ChilenInnen halten die aktuelle wirtschaftliche Situation für schlecht oder sehr schlecht und nur neun Prozent halten sie für gut. Nur 34 Prozent der Befragten glauben, dass sich die wirtschaftliche Situation in den nächsten zwölf Monaten verbessern wird. Die wichtigsten Probleme, denen sich die Regierung annehmen solle, sind demnach die Arbeitslosigkeit und die Armut. Lediglich fünf Prozent der ChilenInnen zählen die Menschenrechtslage zu den wichtigsten Problemen.
Politisch interessant sind die Meinungen in Bezug auf die möglichen Alternativen, die die Befragten der Regierung Lagos zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation vorschlagen. 36 Prozent der Befragten meinen, die Regierung solle sich mehr auf die Vorschläge der Experten jeglicher politischer Couleur stützen, 30 Prozent sind dafür, den Unternehmern mehr Gehör zu schenken. Nur 17 Prozent glauben, dass die Regierung Lagos sich den Vorstellungen der Gewerkschaften annähern solle.

Schwerpunkte der aktuellen Regierungspolitik
Die Reform der Arbeitsgesetzgebung und die Beschäftigungspolitik, das Programm „Chile Solidario“ sowie die Freihandelsabkommen mit den USA, der Europäischen Union und Südkorea sind die drei zentralen Initiativen der Regierung Lagos – mit weit reichenden Konsequenzen auf die Lebens- und Beschäftigungsbedingungen der chilenischen Bevölkerung. Diese Initiativen haben zu intensiven, auch stark ideologisch geprägten Diskussionen unter allen Beteiligten geführt. Von diesen Regierungsvorhaben hängen Erfolg oder Misserfolg der Regierung Lagos entscheidend ab, und damit auch ihre Wahlchancen bei den Kommunalwahlen 2004 und bei den Päsidentschaftswahlen im Jahre 2005.
In der Beschäftigungspolitik führte Lagos zwei wichtige Reformen durch. Erstens wurde die Arbeitsgesetzgebung modifiziert. Unter der Diktatur waren die Arbeitsbeziehungen weitgehend liberalisiert und speziell die Rolle der Gewerkschaften stark beschnitten worden. Auch nach der Diktatur ging der gewerkschaftliche Organisationsgrad – mit Ausnahme der frühen Neunzigerjahre – weiter zurück. Zugleich wurde die Verhandlungsschwäche der Gewerkschaften durch die – gesetzlich geförderte – Konzentration auf Betriebsgewerkschaften gegenüber den Branchengewerkschaften noch verstärkt. Die Reform der Arbeitsgesetzgebung erleichtert die gewerkschaftliche Organisierung (mittels eines verbesserten Kündigungsschutzes und einer Absenkung des zur Gründung einer Gewerkschaft erforderlichen Quorums), fördert Verhandlungslösungen bei Tarifauseinandersetzungen, ermöglicht Tarifverhandlungen von SaisonarbeiterInnen und beinhaltet eine stufenweise Absenkung der Wochenarbeitszeit.
Die zweite Reform ist die Einführung einer Arbeitslosenversicherung. Das System besteht aus zwei Fonds, von denen der eine aus individuellen, durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge gespeisten Konten, der andere aus einem Solidartopf besteht, der mit weiteren Arbeitgeberbeiträgen und einem Staatszuschuss finanziert wird. Dieser sichert Arbeitslosen mit vorher geringem Einkommen (und folglich niedrigen Beiträgen auf dem individuellen Konto) fünf Monate lang ein Mindestniveau des Arbeitslosengeldes. Die Gelder werden von einem privaten Träger verwaltet, der sie auf dem Kapitalmarkt anlegt und Zuwächse den Konten gutschreibt, zugleich aber auch Gebühren kassiert.

Das Programm “Chile Solidario”

Trotz der schon erwähnten erheblichen Verringerung der Armutsrate in Chile auf etwa 20 Prozent der Bevölkerung (gegenüber 43 Prozent im lateinamerikanischen Durchschnitt), stagniert seit 1996 der Anteil der Bevölkerung in extremer Armut bei etwa 5,5 Prozent beziehungsweise 225.000 Familien (etwa 850.000 Menschen).
Mit dem Programm „Chile Solidario“ soll die extreme Armut in Chile bis 2006 abgeschafft werden. Das Programm wird vom chilenischen Planungsministerium (MIDEPLAN) verantwortet, die Kosten werden auf jährlich 100 Millionen US-Dollar geschätzt. Im Rahmen des Programmes werden über 2000 vom Ministerium angestellte BetreuerInnen (Monitores) die Familien über einen Zeitraum von zwei Jahren begleiten, sie psychologisch unterstützen und sie bei der Inanspuchnahme ihrer Rechte auf kostenlose Krankenversorgung, Zugang zum sozialen Wohnungsbau, Erziehung, Justiz, Beschäftigung, usw. beraten.
Bei einem Erfolg dieses Programmes wäre Chile das erste Land in Lateinamerika, das es geschafft hätte, dieses Problem zu lösen. Die Bereitstellung der finanziellen Mittel ist dabei wohl das kleinere Problem gegenüber den organisatorischen und institutionellen Herausforderungen. Die Ursachen der sozialen Ungerechtigkeit werden mit diesem Programm allerdings nicht angegangen. Der Erfolg von „Chile Solidario“ hängt stark davon ab, ob es gelingt, über einen rein assistenzialistischen Ansatz hinaus Instanzen der Beteiligung zu schaffen und die Betroffenen in die Gesellschaft zu integrieren.

Die Freihandelsabkommen

Die Verhandlungen über die Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union, den USA und Südkorea haben die wohl größte Aufmerksamkeit aller wirtschaftlichen Aktivitäten der Regierung der Concertación erhalten.
Der Vertrag mit der Europäischen Union hat zu einer Reduzierung der Einfuhrzölle auf beiden Seiten geführt. Schon im ersten Jahr ist es zu einer erheblichen Erhöhung des Außenhandels gekommen. Der Vertrag mit Südkorea muss noch vom südkoreanischen Parlament ratifiziert werden. Der bei weitem wichtigste Vertrag ist der mit den USA. Um zum 1. Januar 2004 in Kraft zu treten, muss er nurmehr vom chilenischen Parlament ratifiziert werden. Kaum ein Vorhaben der Regierung konnte mit einer so breiten Zustimmung von allen im Parlament vertretenen Parteien rechnen. Auch die Unternehmer stehen dem Abkommen in ihrer großen Mehrheit sehr positiv gegenüber. Kritik und Widerstand gibt es – über die Parteigrenzen hinweg – nur von Parlamentariern aus Regionen, die auf Grund ihrer Produkte wohl zu den Verlierern dieser Abkommen gehören werden, und von den Produzenten der traditionellen Landwirtschaft, deren Produkte mit den billigen Importen nicht konkurrieren können.
Die Freihandelsverträge sind gewissermaßen die Krönung einer Politik, die schon seit 1986 den Export und die Öffnung der Märkte als wichtigsten Motor für das wirtschaftliche Wachstums Chiles ansah – eine Politik, die von den demokratischen Regierungen der Concertación ohne größere Änderungen weitergeführt wurde. Durch die Diversifizierung der Exportpalette und durch eine intelligente und aggressive Erschließung neuer Märkte konnten die Einnahmen aus den Exporten deutlich gesteigert werden. Doch das Exportangebot Chiles besteht bis heute zu 86 Prozent aus Produkten, die auf der Ausbeutung der Naturresourcen beruhen – bei nur geringer oder gar keiner Weiterverarbeitung.
Die KritikerInnen der Freihandelsabkommen befürchten, dass sich Chile in eine noch größere Abhängigkeit begibt, aus der es kein Entkommen mehr gibt. Die meisten BeobachterInnen stimmen darin überein, dass das Abkommen mit den USA Chile noch stärker auf das aktuelle Entwicklungsmodell festlegen wird und es noch schwieriger sein wird, die jetzige Wirtschaftspolitik zu ändern.
Sicherlich gibt es eine Reihe von Personen, Unternehmen oder gar Branchen, die zu den Gewinnern der Freihandelsabkommen gehören könnten. Dies gilt aber kaum für die etwa 600.000 Arbeitslosen, die Klein- und Mittelbetriebe, die der größte Arbeitgeber sind und die hauptsächlich für den Binnenmarkt produzieren, oder das Fünftel der Bevölkerung, das unter der Armutsgrenze lebt.

Die Herausforderung bleibt bestehen

Die Maßnahmen und Reformen der jetzigen Regierung unter dem der Sozialistischen Partei angehörigen Präsidenten Ricardo Lagos sind sicher weit von einem Neoliberalimus in Reinform entfernt. Aber selbst AnhängerInnen der Concertación geben zu, dass die für die Wirtschafts- und Finanzpolitik zuständigen Politiker eine ausgeprägte Schwäche für das neoliberale Modell haben und sich durch eine besonders orthodoxe Ausführung ihrer Prinzipien auszeichnen.
Über die kritische Bewertung der aktuellen Politik hinaus bleibt es eine wesentliche Herausforderung, Antwort auf folgende Fragen zu geben: Hat ein Land wie Chile die Alternative, einen anderen Weg einzuschlagen? Wie sähe diese Alternative aus? Und was sind die Kosten?

Wald ist nicht gleich Wald

Wer den chilenischen Wald nicht kennt, kennt diesen Planeten nicht“ („quien no conoce el bosque chileno, no conoce este planeta“), schrieb Pablo Neruda. Der große chilenische Dichter, der selbst nahe den regenreichen, immergrünen Wäldern des chilenischen Südens aufgewachsen ist, hat diesen Wäldern zahlreiche Hymnen gewidmet. Immer wieder hat er den Wind, die Bäume und das Leben in ihnen besungen – und damit auf den drohenden Verlust aufmerksam gemacht.
Melancholische Verse Nerudas stehen bei der chilenischen Lobby der Forstwirtschaft – repräsentiert durch die Forstwirtschaftsvereinigung CORMA – aber nicht auf dem Programm. Vielmehr definieren die VertreterInnen des für die nationale Ökonomie bedeutendsten Devisenbringers den Begriff Wald einfach neu.
So soll die zum dritten Mal in den Medien lancierte Kampagne „Bosques para Chile“, die chilenische Öffentlichkeit davon überzeugen, dass die auf riesigen Flächen angelegten Monokulturen von Kiefern und Eukalyptus einen positiven Beitrag für die Umwelt leisten. Das Gegenteil ist der Fall: Die schnell wachsenden Baumarten, die für den Export von Cellulose und Holzchips bestimmt sind, bieten nicht die Bedingungen für ein Ökosystem mit einer hohen Artenvielfalt, wie es einem intakten Wald entspräche.
Entgegen der Angaben der CORMA stellten chilenische Ökoverbände wie das Nationale Komitee zum Schutz von Flora und Fauna, CODEFF, fest, dass vor der Anlage einer neuen, schnell rentablen Forstfläche häufig Primärwälder abgeholzt werden. Jährlich handelt es sich um 120.000 Hektar Urwald, der durch die Forstwirtschaft geschädigt oder vernichtet wird, 14.000 Hektar werden durch Monokulturen ersetzt. Die Folgen, erodierte Böden, durch Pestizide verseuchtes Grundwasser, Verringerung der Wasserläufe, Verlust von Heilpflanzen und sinkende touristische Attraktivität rufen soziale und ökonomische Probleme hervor.
Die transnationalen Unternehmen der Forstwirtschaft legitimieren ihre Machenschaften, indem sie vorgeben, damit neue Arbeitsplätze zu schaffen. Aber die Realität ist anders: denn neue Arbeitsplätze bietet der Sektor kaum. Die immer dichter an die hiesigen Ortschaften vordringenden Forstplantagen haben nicht nur gesundheitliche Folgen für die Bevölkerung, sondern beschränken auf drastische Weise die Wirtschaftsmöglichkeiten der Bauern – viele von ihnen gehören der indigenen Bevölkerung der Mapuche an. Eine stetig wachsende Zahl sieht sich gezwungen, in die Städte abzuwandern.

Gesetze des Waldes

Die Ursache dieser seit 25 Jahren anhaltenden, skandalösen Situation im Süden Chiles liegt in der Pinochet-Ära, genauer gesagt im Gesetz Nr. 701, das die massive Subventionierung der Holzwirtschaft mit bis zu 75 Prozent der Investitionen vorschreibt. In den 1970er und 80er Jahren stand ebenfalls die Privatisierung der bis dahin von der Corporación Nacional Forestal (CONAF) verwalteten Waldflächen auf der Agenda.
Heute sind es vor allem transnationale Konzerne wie Mininco und Bosques Arauco S.A., die im Zeichen von Entwicklung und Wachstum in den chilenischen Wäldern das Sagen haben. Sie stellen damit auch die stärksten Gegner der Mapuche im Konflikt um ihr angestammtes Territorium dar.
Seit Beginn der 1990er Jahre kommt es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Mapuche, den Sicherheitskräften der Forstunternehmen und der Polizei. Die Mapuche versuchen über Landbesetzungen ihren historischen Anspruch auf das Land geltend zu machen.
Zur Eindämmung des Konflikts wendet der chilenische Staat in jüngster Zeit immer häufiger das Antiterroristengesetz an. „Das Vorgehen der Forstwirtschaft und des Staates stellt eine klare Verletzung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der Mapuche dar“, sagt dagegen der Sondergesandte der Vereinten Nationen Rudolfo Stavenhagen.
Auf Grund der alarmierenden Situation trafen sich Mitte diesen Jahres um die 450 RepräsentantInnen von indigenen Gemeinden und KleinunternehmerInnen aus verschiedenen Regionen Temucos zu einem ersten nationalen Treffen und einer Demonstration. Die mehrheitlich indigenen TeilnehmerInnen diskutierten über den Schutz und die nachhaltige Nutzung der Wälder und verabschiedeten schließlich die Deklaration „Soziale Bewegung für die Wälder Chiles“ (Movimiento Social por los Bosques de Chile).
Ihre Hauptforderung: die chilenische Regierung solle das seit zwölf Jahren debattierte Urwaldgesetz (Ley de Bosque Nativo) endlich verabschieden.
Die Mapuche erhoffen sich davon einen stärkeren Schutz der Primärwälder und die Einführung von Restriktionen und Normen für die Anlage von Monokulturflächen für die Holzproduktion. Vom chilenischen Staat verlangen die Mapuche und ihre MitstreiterInnen auch, traditionelle Wirtschaftsformen anzuerkennen und endlich die Unterordnung von Indígena-Politik unter Wirtschaftspolitik sowie die Widersprüchlichkeit der Gesetze aufzuheben.

Holzlobby will Ausbeutung der Wälder legitimieren

Paradoxerweise fordert auch die Holzlobby, vertreten durch die CORMA, die schnelle Verabschiedung des geplanten Gesetzes. Nach ihrer Version des Gesetzestextes sollte aber die ökonomische Ausbeutung der chilenischen Wälder ungeachtet der Konsequenzen für Mensch und Umwelt endgültig legitimiert werden.
Dass das Gesetz für den Primärwald auch dieses Jahr wieder scheitert, ist unwahrscheinlich. Es scheint, als ob Chiles Regierung es sich nicht leisten kann, die Umweltschutzorganisationen im Land und die internationalen Abkommen, wie das Kyoto-Protokoll, völlig zu ignorieren.
An Konzepten zur nachhaltigen Nutzung und zum Schutz der Wälder mangelt es zudem nicht, denn viele Umweltschutzorganisationen wie das Nationale ökologische Aktions-Netzwerk, RENACE, Greenpeace Chile und das Institut für politische Ökologie, IEP, beschäftigen sich intensiv mit dem Thema. Sie hatten sich zumeist noch zu Zeiten der Militärherrschaft gegründet und mit Straßentheater und anderen Aktionen auf die desaströse Umweltpolitik Pinochets hingewiesen.
Auf die laufende Kampagne der Holzlobbyisten CORMA, „Wälder für Chile“, starteten CODEFF und RENACE nun eine Gegenkampagne unter dem Titel „Echte Wälder für Chile“. Ihr Ziel: sie wollen die chilenische Öffentlichkeit über den verklärenden Charakter der Prestigeaktion der CORMA aufklären.
Warum der chilenische Staat in naher Zukunft trotz anderweitiger Beteuerungen nicht von seinem Kurs abweichen wird und damit unausweichlich auf die Zerstörung der Wälder zusteuert, steht außer Frage: Die Forstwirtschaft ist der zweitwichtigste Wirtschaftssektor des Landes mit jährlich steigenden Exportzahlen. Allein im ersten Quartal 2003 konnte ein Wachstum von 7,2 Prozent an Exporten im Vergleich zum Vorjahr verzeichnet werden. Die Ausfuhr von Rohmaterial, Papier und Holzchips macht rund zwölf Prozent der gesamten chilenischen Exportwirtschaft aus, größte Abnehmer sind die USA und Asien. Die Regierung Lagos forcierte diese Entwicklung noch weiter, indem sie abermals die großen Forstunternehmen mit einem Förderprogramm bedachten.

Plastiktüten, Smog und Stau

Während Chiles Wälder den transnationalen Unternehmen zum Opfer zu fallen drohen, streiten die Umweltschutzorganisationen konsequent um eine neue Umweltpolitik. So existiert erst seit kurzem die einzige, nach modernen technischen Standards funktionierende Mülldeponie Chiles in Santiago.
Im Rest des Landes wird der Müll immer noch unsortiert zusammengeschoben und verbrannt. An abgelegenen Orten ohne die notwendige Infrastruktur kommt die Müllabfuhr nur selten oder gar nicht vorbei und deshalb graben die Leute tiefe Erdlöcher für den Müll. Das ist eine Form der „Problemlösung“ mit geringen Mitteln, denn für die Müllentsorgung ist jede Kommune selbst verantwortlich.
Um dem entgegenzuwirken, wird von Umweltgruppen und einzelnen Privatleuten Recycling propagiert und zentrale Sammelstellen wurden eingerichtet. Es handelt sich jedoch um eine kleine Minderheit, die dieses Angebot nutzt oder im Supermarkt mit schon gebrauchten Plastiktüten einkaufen geht.
Das Problem Müll ist für die meisten ChilenInnen kein Thema, sind doch Recycling- und Mülltrennsysteme eine jüngere Erscheinung, die sich ebenso wie die Aufkärungsarbeit der Umweltvereine oftmals auf die Viertel der Oberschicht beschränken.
Der permanente Smog in Santiago ist in der breiten Öffentlichkeit eher ein Thema, denn der beeinträchtigt sichtbar die Lebensqualität der HauptstädterInnen und hat bei vielen zu Atemwegserkrankungen geführt. Ursache ist in erster Linie der Verkehr. Die zu Hunderten durch die Straßen rasenden gelben Busse, wie zum Hohn heißen sie zum Teil „ecológico“, fahren oftmals halb leer, weil es zu viele von ihnen gibt, aber jede Linie einem anderen Unternehmen gehört, das auf der Jagd nach Fahrgästen ist.
Staus gehören durch sie und das Verkehrsvolumen zum Alltagsbild in der Stadt. Fahrrad zu fahren traut sich bei den dicht befahrenen Straßen kaum jemand, die Radwege in Santiago umfassen weniger als fünf Kilometer.
Da sind die Fahrverbote für Autos ohne Katalysator, die jeden Tag eine andere Gruppe von Autokennzeichen betrifft, zwar ein positiver Schritt, aber noch keine Lösung für das Problem. Der Direktor von RENACE, Alvaro Gómez, bezeichnete bei einer Veranstaltung zum Weltumwelttag im Juni die Luftverschmutzung in Santiago als ein strukturelles Problem, das nicht mit der Autorestriktion gelöst werden könne. Der Lagos-Regierung bescheinigte er einen fehlenden Willen, das Problem anzugehen.
Ebenso wenig erfüllt die staatliche Umweltbehörde Comisión Nacional del Medio Ambiente (CONAMA) was ihr Name verspricht. Sie dient vielmehr den Interessen der Unternehmen als der Umwelt. Deshalb möchte IEP-Direktor Manuel Baquedano wie Goméz die CONAMA zu einem Ministerium erhoben wissen, als eine unabhängige, starke Umweltbehörde. Seiner Meinung nach müsste zudem das 1992 verabschiedete Ley del medio ambiente (Umweltgesetz) neu aufgelegt werden, um endlich die Trennung von Umweltprüfungen und politischen Interessen zu gewähren.

Ex-Hippies und reiche Amerikaner

Reale Alternativen für die staatliche Umweltpolitik basieren meist auf privaten Initiativen. Denn um die chilenischen Grünen, die sich 1988 als erste grüne Partei Lateinamerikas Los Verdes gründete und dem seit 1995 existierenden Movimiento Ecológico herrscht Ruhe, seit Grünen-Kandidatin Sara Larraín bei den Präsidentschaftswahlen 1999 kandidierte und nur 0,44 Prozent der Stimmen einholte.
Eine weitere Bewegung ist die ökologische Gemeinschaft Peñalolen am östlichen Stadtrand von Santiago, die sich 1980 spontan gegründet hat. Die Häuser sind in Eigenbau aus recyclebarem Material entstanden, die natürliche Umgebung wurde in die Planung schonend miteinbezogen, heimische Bäume wurden angepflanzt.
Heute experimentieren die BewohnerInnen mit Solarstrom und wehren sich gegen eine von der Stadtverwaltung geplante exzessive Bebauungsmaßnahme in ihrer nächsten Nachbarschaft. Das gemeinsame Besitzrecht existiert zwar immer noch, aber aus der Kommune ist ein Ort geworden, der dem Ruf nach elitär geworden ist und so nur SchauspielerInnen und andere Menschen mit entsprechendem Geldbeutel anzieht.
Dass sich meist nur ChilenInnen mit größerem finanziellen Rückhalt die Sorge um die Umwelt leisten können, wird auch an anderen Ecken schnell klar. Eine der bekanntesten Persönlichkeiten in dieser Hinsicht ist sicherlich der 60-jährige Douglas Tompkins, Ex-Esprit-Inhaber und Millionär, der wie einige andere US-AmerikanerInnen Land kaufen will, um es unter Schutz zu stellen. Er allerdings hat daraus ein Projekt im großen Stil gemacht.
An der Carretera Austral, der Straße, die nach Ende der Panamericana in Puerto Montt in die grüne Wildnis der chilenischen Fjordlandschaft führt, befindet sich Tompkins privater Ökopark „Parque Pumalín“, der 756.000 Hektar umfasst. Sein Haus, 120 Kilometer südlich von Puerto Montt, inmitten des seit 1992 bestehenden Parks, erreicht der Ökoaktivist nur per Kleinflugzeug. In der Einsamkeit schreibt er Bücher, in denen er sich mit Globalisierung, Internet und Macht oder industrieller Landwirtschaft kritisch auseinander setzt.

Der Traum des Millionärs

Sein Traum ist ein maßvolleres Konsumverhalten, die Stärkung der Gemeinden und die Wiederbelebung der Subsistenzwirtschaft. Letzteres hat ihn oftmals in die Ecke eines Messias gerückt. An der Wirkung der von ihm und den beiden Umweltstiftungen Foundation for Deep Ecology und dem Conservation Land Trust initiierten Landkäufe im Sinne des Erhalts der Flora und Fauna besteht jedoch kein Zweifel.
Wahrscheinlich hätte Tompkins auch das nötige Kleingeld, um Alumysa zu verhindern, ein in seiner Nachbarschaft geplantes Megaprojekt zur Aluminiumverarbeitung eines kanadischen transnationalen Unternehmens an der Chacabuco-Bucht in Aysén.
Aber dies ist vielleicht gar nicht nötig, wenn die chilenische Regierung nach zahlreichen nicht bestandenen Umweltverträglichkeitsprüfungen und dem jahrelangen Protest von Bevölkerung und Umweltschutzorganisationen endlich einsieht, dass das Unternehmen die Wälder, Flüsse und Fauna der Region unwiederbringlich zerstörte. Lagos zieht seit seiner Reise in das Gebiet eine Verlagerung des Projektes in den Norden des Landes in Betracht, wo auch Umweltverbände eine umweltschonendere Umsetzung der Aluminiumverhüttung für möglich halten.
Dass es bald zu einer allgemeinen Kehrtwende der chilenischen Umweltpolitik kommt, ist trotzdem nicht absehbar. Neruda hatte eigentlich die „Ode an die Hoffnung“ angestimmt, um die Menschen zum Mitsingen zu bewegen.

Ohne das Land sind wir keine Menschen mehr

Der Raum ist spärlich eingerichtet: Ein Tisch, die Stühle, ein Herd und der eiserne Holz–ofen mit einem Kessel, in dem immer heißes Wasser blubbert. Rosario, die Frau des Hauses, serviert frische sopaipillas – runde, frittierte Teigfladen aus gelbem Kürbisteig. Dazu reicht sie den Becher mit Mate-Tee in die Runde — wie schon ihre Vorfahren, die am Feuer bei Mate-Tee ihre Geschichten erzählten und ihre Probleme beratschlagten. In einer sauberen Plastikhülle über dem Herd hängt wie eine Mahnung der Brief, der seit Wochen das Gesprächsthema in diesem Haus ist. Rosario liest mit ernster Miene einige Passagen daraus vor. Er kündigt die zwangsmäßige Vermessung ihres Landes an, um eine Entschädigungssumme zur Enteignung festzusetzen.
Denn das Haus der Familie Huenteao und anderer Pehuenche-Familien liegt im Überflutungsgebiet eines gewaltigen Staudammprojekts am Oberlauf des Bío-Bío Flusses im Süden Chiles – dem traditionellen Territorium der Mapuche-Pehuenche. Zwei von insgesamt nur noch sieben verbleibenden Pehuenche-Gemeinden in Chile sind vom Bau des Ralco-Staudammes direkt betroffen, 630 Hektar dieser Gemeinden würden durch den Bau des Dammes überflutet, über 80 Familien wurden bereits umgesiedelt. Die Betreiberfirma Endesa plant, die Bauarbeiten bis Dezember 2003 abzuschließen und den Staudamm Mitte des darauf folgenden Jahres in Betrieb zu nehmen.

LKWs gegen Erinnerungen

Sieben Familien sind es, die sich noch im–mer gegen eine Stauung des Bío-Bío wehren und auf ihrem Land bleiben wollen – sieben Familien gegen ein 500-Millionen-Dollar-Projekt. Für Rosario Huenteao bleibt die Sache dennoch klar, sie wird weiter in ihrem Haus sopaipillas backen und um ihr Recht kämpfen. Das Land ihrer Vorfahren zu verlassen, steht für sie und für die anderen Familien nicht zur Debatte: „Ohne das Land sind wir keine Menschen mehr, wir werden nie gehen – niemals“. „Nur tot“, fügt sie bestimmt hinzu.
Einige Kilometer flussabwärts: Vorbeidonnernde LKWs, dröhnende Baumaschinen, Zementfabriken und Dutzende Blechhütten am Straßenrand für die Arbeiter und Zulieferfirmen. Die Konstruktionsarbeiten am Staudamm haben vor Jahren begonnen und sind schon weit fortgeschritten – die Staumauer wächst täglich um 30 Zentimeter. Das Tal des wilden Bío-Bío Flusses hat im Gebiet des geplanten Stausees seine Ursprünglichkeit gänzlich verloren – sieben Tage in der Woche wird hier gearbeitet.
„Realistisch betrachtet wird es schwierig sein, den Bau noch zu stoppen, aber nicht unmöglich“, sagt Sara Imilmaqui. Sie kämpft seit 1997 zusammen mit den betroffenen Familien in der Organisation „Mapu Domuche Newen“ – „Frauen mit der Kraft der Erde“ gegen das Megaprojekt.
Die Frauen sind Wortführerinnen bei diesem Widerstand. Weil sie ihre Herkunft und die Tradition im Herzen stärker spüren würden, als die Männer, wie Sara meint.

Was sagt Herr Lagos?

Die Tradition der Pehuenche, ihre Kultur und die Zeugnisse ihrer Geschichte sind durch den Staudamm akut bedroht. „Mit der Über flutung würden nicht nur die Friedhöfe verschwinden, sondern auch zeremonielle Orte für das Nguillatún-Ritual und heilige Symbole wie der Stein der Machi, die seit Jahrhunderten respektiert wurden“, erklärt Sara. „Dieser Kampf ist ein Kampf aus dem Innern – aus der Erinnerung und aus dem Herzen. Wir haben so viel verloren und müssen kämpfen, um das, was wir noch haben, nicht auch noch zu verlieren“. Für sie steht Ralco als ein Beispiel, wie Regierungen in Lateinamerika mit indianischer Bevölkerung umgehen: „Wenn die chilenische Regierung eine korrekte Regierung wäre, müsste der Bau gestoppt werden“.
Doch die Interessen hinter dem Bau sind knallhart. Chiles Präsident Ricardo Lagos lässt kaum Zweifel am Kurs der Regierung, für ihn bedeutet ein „Nein“ zu Ralco eine unpopuläre Steigerung des Elektrizitätspreises.
Die Betreiberfirma Endesa, in den letzten Jahren der Pinochet-Diktatur privatisiert und heute mehrheitlich von der gleichnamigen spanischen Elektrizitätsfirma Endesa kontrolliert, rechtfertigt Ralco durch den jährlich steigenden Strombedarf der Chilenen. Ralco ist der Zweite und der größte von insgesamt sieben geplanten Staudämmen im Oberlauf des Bío-Bío.
Der erste, Pangue, liegt 30 Kilometer weiter flussabwärts und wurde vor fünf Jahren in Betrieb genommen. Nach Aussagen Endesas sind diese Staudämme unerlässlich, um Chiles Autonomie im Energiesektor für die Zukunft weiterhin gewährleisten zu können.

Kampf um Gesetze

Der Widerstandswille der Mapu–che, der über 300 Jahre lang die Spanier aus ihrem Territorium fern gehalten hat, zeigt sich heute in einem neuen Kleid. Die Waffen sind andere als damals, als der Bío-Bío die anerkannte Grenze zwischen dem spanischen Kolonialreich und dem Gebiet der Mapu–che war. Die Schlacht, die heute am selben symbolträchtigen Fluss geschlagen wird, wird nicht mit Bola und Lanze ausgetragen, sondern mit der Berufung auf die Menschenrechte und mit der Unterstützung internationaler Organisationen. Doch der langjährige Kampf der Frauen und ihrer Familien gegen das täglich wachsende Megaprojekt geht in die letzte Runde, die Möglichkeiten des Widerstandes werden immer geringer.
Roberto Celedón, Rechtsanwalt in Santiago de Chile, setzt sich auf nationaler und internationaler Ebene für die Rechte der Familien von Ralco ein. Sein Ton bleibt diplomatisch zurückhaltend, aber an seiner Position läßt er keinen Zweifel. Den Streit um das Megaprojekt sieht er als einen Test für die Regierung: „Wenn Ralco realisiert würde, wäre das ein sehr schlechtes Signal für alle indigenen Völker in Chile“. Und das, obwohl sich der chilenische Staat zu einer neuen Haltung gegenüber den indigenen Gruppen verpflichtet habe. Das 1993 verabschiedete chilenische Ureinwohnergesetz besagt, dass indianische Ländereien unter keinen Umständen an Nicht-Indianer verkauft werden können und nur unter „spontaner Freiwilligkeit“ der Familien gegen andere eingetauscht werden können.Nach diesem Gesetzestext ist die Lage klar: Von einer solchen Freiwilligkeit kann bei den widerständigen Familien kaum die Rede sein, ihr Land steht daher de jure zum Tausch oder Verkauf nicht zur Verfügung. Die Strategie von Endesa ist daher eine andere. Die Firma beruft sich auf ihre definitive Konzession für die Energieerzeugung am Oberlauf des Bío-Bío. „Nach dem Stromgesetz kann Endesa durch diese definitive Konzession Nutzungsrechte zur Überflutung auf das Land der Familien erzwingen“, erklärt Celedón die Lage. Das Ureinwohnergesetz wird dadurch umgangen, ein Tausch des Landes findet nicht statt. „Das kann man nicht mehr Nutzungsrecht nennen, das ist eine eindeutige Enteignung“, befindet Celedón.
Er und seine Kollegen sind daher vor das Berufungsgericht in Santiago gezogen. Das Ergebnis wurde vom Obersten Gerichtshof bestätigt: Endesa muss alle Gesetzgebungen respektieren, also auch das Ureinwohnergesetz. Trotz allem wurde im April dieses Jahres vom Wirtschaftsministerium ein Ausschuss mit dem Namen „Comisión de Hombres Buenos“ (Kommission der guten Männer) ein berufen, der im Oktober die Länder der sieben verbliebenen Pe–huenche-Familien für eine Zwangsentschädigung vor Ort vermessen sollte. Das wurde von Indianerorganisationen und den Familien selbst verhindert, den „guten Männern“ wurde der Zugang verwehrt und die Vermessung musste aus der Luft vorgenommen werden.
„Ralco zeigt, dass in Chile noch immer die wirtschaftlichen Interessen vor den Interessen indigener Völkern Vorrang haben und das darf nicht angehen“, sagt Celedón. „Wir sind heute so weit, dass wir beschlossen haben, vor die interamerikanische Kommission der Menschenrechte zu ziehen, die Klage wird Ende November eingereicht.” Eine Entscheidung dieser autonomen Kommission der Organisation Amerikanischer Staaten zu Gunsten der Pehuenche-Familien würde die Regierung verpflichten, entsprechende Maßnahmen gegen das Megaprojekt am Bío-Bío einzuleiten.

Enttäuschte Hoffnungen

„Wir sind seit drei Jahren hier in El Huachi“. José Dolores Gallina stützt die ineinander gefalteten Hände auf dem Tisch ab. Er und seine Familie haben ihr Haus am Fluss verlassen. Das neue Haus ist größer, die wenigen Möbel der Familie reichen nicht aus, um es auszufüllen. Im Tausch gegen die alten Ländereien in der Über–flutungszone hat Endesa den ver–handlungswilligen Familien neue Häuser und größere Felder angeboten. „Endesa hat nicht alles gehalten, was versprochen wurde“, beklagt José. „Anfangs hieß es, dass wir Strom und Wasser nicht zu bezahlen brauchten und jetzt müssen wir alles zahlen“. Den genauen Inhalt dessen, was er in dem Vertrag mit Endesa unterschrieben hat, kennt er nicht. „Wir haben hier alle die Befürchtung, dass wir nicht die rechtmäßigen Eigentümer des Landes sind. Vielleicht setzen sie uns ja nach zehn Jahren auf die Straße“.
Es wird kritisiert, dass bei den Vertragsunterzeichnungen der Fa–milien nicht alles mit rechten Dingen zuging. Obwohl Verträge zum Tausch indigener Ländereien laut Gesetz auf der Basis von Freiwilligkeit unterschrieben werden müssen, war dies oft nicht der Fall. Celedón bestätigt das: „Es gab einen brutalen Druck auf die indianischen Familien, damit diese die Verträge für den Tausch unterschreiben würden“. José Dolores ist verzweifelt: „Uns geht es schlecht hier auf dem neuen Land und zurück können wir auch nicht. Da wo unser Haus stand, ist jetzt alles voller Baumaschinen“.
Berta Quintremán ist die Älteste in diesem Kampf der Frauen und ihrer Familien. Mit 72 Jahren lebt sie allein in ihren zwei Holzhütten. Dahinter bestellt sie die Felder, arbeitet auf ihren Beeten und kümmert sich um die Hühner. In ihrer bunten Tracht sitzt sie an der Feuerstelle im fogón, der Hütte, die nur zum Kochen und zum Tratsch am Feuer dient. Die Entschlossenheit steht ihr ins Gesicht geschrieben, was sie verteidigt ist ihr heilig – es ist die Tradition ihres Volkes und die Welt ihrer Vorfahren, die sie im Herzen trägt. Wie die meisten alten Leute ist sie ihrer Kultur noch viel stärker verbunden, als die junge Generation.
„Ich bin sehr stark“, verkündet sie mit lauten Worten und man glaubt es ihr allein durch ihre Gestik. „Mein Mapu Ñuke, der da oben ist, gibt mir Kraft und daher werde ich bis zum letzten Punkt kämpfen. Nicht die Spanier, sondern Er hat das Wasser geschaffen und Er hat uns das Land gegeben“. Sie schlägt die Faust in die offene Hand. „Wie können die Spanier, die aus einem anderen Land kommen, hier bei uns diesen Schaden anrichten? Warum richten sie ihn nicht dort an, wo sie herkommen?“, sagt sie mit erregter Stimme, „am liebsten hätte ich, dass sie alle sterben“.
Sie bleibt allein zurück an der Feuerstelle im fogón. Draußen rattern die Baumaschinen und ihre Besitzer scheren sich nicht um das Weltbild der Menschen, in deren Lebensraum sie eingedrungen sind.

Eine weitere Chance verspielt

Am 12. Oktober waren in zahlreichen Städten Lateinamerikas tausende Menschen auf den Straßen und demonstrierten gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik. Anlass für die Demonstrationen vom Rio Grande bis nach Santiago de Chile war die Landung der Spanier vor 510 Jahren in Amerika und die darauf folgende politische und kulturelle Unterdrückung und wirtschaftliche Ausbeutung bis hin zur physischen Vernichtung der indigenen Bevölkerung.
Die DemonstrantInnen stellten einen direkten Zusammenhang zwischen der kolonialen Ausbeutung und den neoliberalen Großprojekten wie dem Plan Puebla-Panama oder der gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA her. In Santiago de Chile gingen die Mapuche auf die Straße und protestierten gegen die Besetzung ihres Landes seit mehr als 500 Jahren. In Kolumbien gedachte man der 500 indigenen Führer, die in den letzten 25 Jahren umgekommen sind. In den zentralamerikanischen Ländern Guatemala, Honduras, El Salvador, Costa Rica und Nicaragua schlossen sich verschiedene Gruppen für die Demonstrationen zusammen. GewerkschaftlerInnen, Bauern, Indígenas, Schwarze und GlobalisierungskritikerInnen brachten gemeinsam ihre Wut und Unzufriedenheit gegen die herrschende Politik zum Ausdruck. In der Hauptstadt von Chiapas im Süden Mexikos, Tuxtla Gutierrez, forderten die DemonstrantInnen die Erfüllung der Abkommen von San Andrés, dem Friedensabkommen zwischen der EZLN und der mexikanischen Regierung von 1996. Im Raum um San Cristobal besetzten AktivistInnen symbolisch verschiedene militärische Einrichtungen und blockierten die Panamerikana. In Chiahuahua tanzten und sangen die Indígenas aus der Sierra Tarahumara die ganze Nacht auf dem zentralen Platz der Landeshauptstadt und brachten auf diese Weise ihren Protest zum Ausdruck.

Worthülsen für ein gutes Image

An der Grenze zu den USA in Ciudad Juarez wurden internationale Grenzübergänge blockiert, um gegen die Nordamerikanische Freihandelszone zu protestieren. Diese regelt nur den Handel mit Gütern und legalisiert nicht die Arbeitsmigration aus dem Süden in die USA. Hier an der Grenze zwischen Mexiko und den USA war auch die Furcht vor einem bevorstehenden Krieg gegen den Irak ein zentrales Thema des Protests.
Der Präsident Mexikos Vi-cente Fox Quesada ließ es sich natürlich nicht nehmen, an diesem symbolischen Tag eine Erklärung abzugeben. Er sagte der indigenen Bevölkerung seine volle Unterstützung in ihrem Kampf um Gerechtigkeit zu. In seiner Ansprache betonte er, dass mit seiner Wahl zum Präsidenten und der Abwahl des PRI-Autoritarismus der Übergang zur Demokratie und der Wandel hin zur Gerechtigkeit bald für alle Mexikaner spürbar sein wird. Wann dieses „bald“ sein soll, ist unklar. Seit zwei Jahren ist er bereits im Amt.
Vor der Wahl hatte Fox noch großspurig getönt, er würde den Konflikt in Chiapas in einer Viertelstunde lösen, in einem Männergespräch unter vier Augen mit seinem Freund Marcos aus dem lakandonischen Urwald. Daraus ist nichts geworden. Glücklicherweise, muss man wohl sagen, denn das wäre nur wieder eine Wiederholung der altbekannten Politik gewesen: Große Männer lenken die Geschicke der Nationen und die Bevölkerung wird, wenn überhaupt, erst später darüber informiert.

Zapatisten fühlen sich betrogen

Aber Fox hatte bereits verschiedene Möglichkeiten, die indigene Bevölkerung in ihrem Anliegen nach Autonomie und Gerechtigkeit zu unterstützen. Er hat sie alle ungenutzt verstreichen lassen. Im letzten Jahr wurde das Gesetz zur indigenen Kultur und Autonomie von dem Kongress verabschiedet, nachdem die Zapatisten in einer Aufsehen erregenden Tour nach Mexiko-Stadt marschiert waren. Als die Zapatisten im Namen aller indigenen Völker Mexikos vor dem Kongress gesellschaftliche Gerechtigkeit einforderten, hatte der Präsident Wichtigeres vor und war bei seinem Nachbarn in Kalifornien. Das vom Kongress verabschiedete Gesetz zu den indigenen Rechten war vorher in zentralen Punkten verändert worden. In der vorliegenden Form widerspricht es aber dem Abkommen 169 der internationalen Arbeitsorganisation (ILO), das der mexikanische Staat längst ratifiziert hat. Die Zapatisten fühlten sich betrogen und haben daraufhin den Dialog mit der Regierung abgebrochen.
Seit Mai 2001 schweigen die Zapatisten. Die indigene Bewegung hat in dieser Zeit aber nicht geschwiegen. Über 300 indigene Gemeinden aus ganz Mexiko haben sich mit einer strittigen Frage an das oberste Gericht gewendet: Ist das Gesetz zur indigenen Kultur und Autonomie verfassungswidrig? Am 6. September diesen Jahres haben die elf Richter des Obersten Gerichts von Mexiko über die Streitfrage entschieden und sich für nicht zuständig erklärt. Es war das erste Mal, dass vom Obersten Gericht über eine Änderung der Verfassung ein Urteil verlangt wurde. Streng juristisch gesehen liegt es zwar nicht in seinen Aufgabenbereich, das Recht des Obersten Gerichts über Verfassungsänderungen zu urteilen, muss aber nicht explizit in der Verfassung aufgeführt sein. In der Rechtsgeschichte der USA, Vorbild für die Verfassung von Mexiko, hatte sich der Oberste Gerichtshof schon sehr früh für zuständig erklärt, Verfassungsänderungen zu bewerten, obwohl es nicht in der Verfassung verankert ist. In Mexiko haben sich acht der elf Richter für die strikte Einhaltung der Verfassung entschieden. Einer der drei Richter, die sich für zuständig erklärt hatten, sagte: „Das Urteil musste so ausfallen, ob es einem nun gefällt oder nicht, denn wir konnten uns nicht über die Verfassung stellen. Mit diesem Urteil bestätigt das Oberste Gericht seine Position als Garant der Verfassung.“ Der UNO-Beauftragte für die Rechte Indigener Völker und mexikanische Ethnologe Rodolfo Stavenhagen bezeichnete das Urteil als ein trauriges Resultat, „da der Oberste Gerichtshof zwar streng juristisch entschieden hat, aber nicht gerecht. Das juristische Argument, nicht-zuständig-zu-sein, wiegt natürlich schwer. Aber völlig vernachlässigt wurden die legitimen Beschwerden der indigenen Gemeinden, die sich durch die Verfassungsänderung vom letzten Jahr betrogen fühlen.“

Eine gute Nachricht?

Aber Stavenhagen weist auch auf positive Zeichen in Chiapas hin. Am 13. September wurden 25 Mitglieder der paramilitärischen Organisation Paz y Justicia festgenommen, die von Menschenrechtsorganisationen für verschiedene Massaker verantwortlich gemacht wird. Miguel Ángel de los Santos Cruz, Anwalt vom Netzwerk der gemeinschaftlichen Menschenrechtsverteidiger (Red de Defensores Comunitarios de los Derechos Humanos) ist hingegen nicht so optimistisch, denn die Paz y Justicia hat bereits eine Strategie entwickelt, um sich aus der Affäre zu ziehen. Nahezu tausend Mitglieder desertieren, um einer Verurteilung zu entkommen: „Die Generalstaatsanwaltschaft ermittelt zurzeit gegen Paz y Justicia, wenn die Organisation aber nicht mehr existiert, werden die Ermittlungen eingestellt.“, befürchtet er. Seit dem 13. September haben die Militärkontrollen stark zugenommen und unterschiedliche Polizeieinheiten bedrohen die Bevölkerung. Die Verhaftungen mutmaßlicher Mitglieder wurden dermaßen brutal vorgenommen, dass eine permanente Spannung im Norden Chiapas herrscht. Die Bevölkerung wird nun beschuldigt, Unterstützung für die Zapatisten zu leisten und die Verhafteten ungerechtfertigterweise angezeigt zu haben.

Kein gesellschaftlicher Dialog

Die Zapatisten haben den Dialog mit der Regierung unterbrochen, da sie sich mit dem verabschiedeten Gesetz betrogen sahen. Aber auch der Rest der Gesellschaft versucht nicht, über die unterschiedlichen Positionen einen Dialog zu führen. Ein Beschluss vom Obersten Gericht hätte ein neues Forum für unterschiedliche gesellschaftliche Akteure geschaffen, mit einer gewissen Ausdauer einen öffentlichen Diskurs anzustoßen. In Mexiko behindern mächtige Feinde die Anerkennung der indigenen Rechte. Auf der einen Seite fordern die indigenen Gemeinden, über die Bodenschätze ihres Territoriums frei zu verfügen.
Dem entgegen stehen transnationale, ökonomische Interessen, die das rohstoffreiche Chiapas zum Kerngebiet des Puebla-Panama-Plans erklären. In der mexikanischen Gesellschaft sehen rassistische Teile ihre „natürlichen“ Privilegien gefährdet, wenn Indígenas als gleichberechtigte Bevölkerungsteile anerkannt werden. Nationalisten fürchten um die Einheit der Nation, wenn man den Indígenas eine weit reichende Autonomie zugesteht und reaktionäre Kreise verstehen jegliche Zugeständnisse an eine Guerilla als eine Schwächung des Staates und des herrschenden Systems.

KASTEN:
Anspruch und Wirklichkeit

Die indigenen Gemeinden werden in der Gesetzesvorlage der parlamentarischen Friedenskommission (COCOPA) als Subjekte öffentlichen Rechts betrachtet, also Rechtspersonen mit der Möglichkeit zu unabhängigen Handlungen. Das verabschiedete Gesetz versteht sie jedoch als Objekte öffentlichen Interesses, um die sich wie eh und je ein paternalistischer Staat kümmert. Im Gesetzesvorschlag der COCOPA können die indigenen Gemeinden sich nach ihren eigenen Normen und Werten eine Verfassung geben. Im Gesetz können sie sich aber nur dann eine eigene Verfassung geben, wenn diese von einem staatlichen Gericht abgesegnet wird. Und das angestrebte Recht auf Vereinigung mit anderen indigenen Gemeinden kommt im Gesetz gar nicht mehr vor.

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