Opposition im virtuellen Niemandsland

Die Situation in Venezuela ist nicht nur politisch brisant, sie gibt auch medientheoretisch einiges her. In dem südamerikanischen Land scheint Baudrillards Satz von den Bildern, die nur noch auf sich selbst verweisen, Wirklichkeit geworden zu sein. Die Berichterstattung der privaten Medien hat sich losgelöst von der Realität, wie sie die Bevölkerungsmehrheit erlebt und wie sie auf der Straße zu beobachten ist. Eine komplette Ober- und Mittelschicht scheint eingetaucht in einen Raum des Simulacrums, lebt also in einem medial produzierten Trugbild. Anders als bei Baudrillard sind der Virtualität jedoch enge Grenzen gesetzt. Immerhin sind die Wohlstandsenklaven der venezolanischen Eliten ökonomisch ja weiterhin von jener „dunkelhäutigen, irgendwie schmutzigen“ Gesellschaft abhängig, zu der man eigentlich nicht dazugehören möchte. Die völlige Selbstreferenzialität medialer Bilderwelten wird auf Dauer zum Problem, denn deren Produktion findet in einer ganz realen Gesellschaft mit handfesten sozialen Konflikten statt.
Tatsächlich erinnert die Berichterstattung der venezolanischen Medien auch vier Wochen nach dem gescheiterten Referendum gegen Präsident Chávez am 15. August immer noch an eine absurde Fassung von „Matrix“. Weil die Wahlen mit 59,25 Prozent Zustimmung für den Präsidenten aus Sicht der bürgerlichen Opposition katastrophal ausgegangen sind, verweigert diese schlichtweg die Wahrnehmung der Realität. Das Ergebnis wird als gefälscht bezeichnet. Die automatischen Wahlmaschinen, die erstmals eingesetzt wurden, um Manipulationen bei Stimmabgabe und Auszählung zu verhindern, seien manipuliert worden. Da es neben dem elektronischen Zählverfahren auch einen Kontrollmechanismus mit Stimmzetteln gab, die die WählerInnen ausgedruckt bekamen und in die Usrnen werfen mussten, behaupten die Bürgerlichen ergänzend, Tausende von Urnen seien ausgetauscht worden. Und weil dies wiederum von den WahlbeobachterInnen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und des Carter Centers, die der Regierung Chávez bis dato nicht gerade wohlgesonnen gegenüberstanden, für unmöglich gehalten wird, wirft die Opposition den beiden internationalen Einrichtungen vor, mit dem Präsidenten unter einer Decke zu stecken. Diese eigenwillige Argumentationskette stützt sich auf eine einzige Grundlage: auf die Meinungsumfragen der oppositionellen Initiative Súmate. Das aus den USA finanzierte Kampagnenbüro zählte am 15. August eine Ablehnung von 59 Prozent der Bevölkerung gegen den Präsidenten. Wenn das Wahlergebnis nun genau andersherum aussehe, so die Opposition, könne es sich nur um einen Betrug handeln. Was für eine Logik: Die Wirklichkeit – das sind die Fernsehberichte, Meinungsumfragen und Zeitungsartikel. Alles, was davon abweicht, ist „Manipulation“ oder gar – wie ein oppositionsnaher Leitartikel in der spanischen Tageszeitung ABC im August verlautbarte – „virtuelle Realität“. Absurder geht es kaum.
Die wichtigste Erkenntnis nach dem Referendum dürfte damit darin bestehen, dass Venezuela in den vergangenen Jahren keineswegs, wie in Medien stereotyp verbreitet wird, in erster Linie von Präsident Chávez polarisiert worden ist. Der soziale Bruch der venezolanischen Gesellschaft reicht mindestens zwei Jahrzehnte weiter zurück und auch für die politische Eskalation ist die Opposition ungleich stärker verantwortlich. Seit 1999 verteufeln die Bürgerlichen eine von fast 90 Prozent der WählerInnen bestätigte Verfassungsreform, die immerhin die Mitbestimmungsmöglichkeiten stark erweitert hat, als „undemokratisch“. 2001 rief sie zum Generalstreik gegen eine Landreform auf, die brachliegenden Großgrundbesitz in die Hände von KleinbäuerInnen überführen soll. Wenige Monate später inszenierte sie im April 2002 einen Putschversuch, nachdem die Umstrukturierung des staatlichen Erdölunternehmens PDVSA angekündigt worden war. Als dieser scheiterte, versuchte sie zur Jahreswende 2002/2003 mit Sabotageakten und Aussperrungen den Zusammenbruch der Regierung herbeizuführen. Der innenpolitische Konflikt in Venezuela hat eine sehr schlichte Ursache: Eine ökonomisch privilegierte Minderheit will nicht zulassen, dass eine demokratische legitimierte Regierung mit Sozialreformen an der Macht- und Reichtumsverteilung im Land rüttelt.

Chávez und sein Transformationsprojekt

Dass Präsident Chávez das Referendum so deutlich gewinnen konnte, hatte vor allem mit den Misiones, den Sozialprogrammen der Regierung, zu tun. Die Erfolge der Kampagnen sind bemerkenswert. Innerhalb weniger Monate sind Hunderte von Gesundheitsposten, Schulen und Mercal-Läden (zur Verteilung subventionierter Grundprodukte) neu entstanden. Überall im Land trifft man auf Klassen von Erwachsenen, die im Rahmen der Misiones Robinson und Ribas Lesen und Schreiben lernen oder den Schulabschluss nachholen. Mehr als 10.000 kubanische Ärzte und Ärztinnen sind mit dem Programm Barrios Adentro in die Armenviertel gegangen und gewährleisten dort die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung.
Das Hervorhebenswerteste an diesen Programmen ist, dass die Misiones nicht einfach als paternalistische Sozialmaßnahmen des Staates daherkommen. In vielen Stadtteilen und Dörfern ergänzen sich Selbstorganisierungsbemühungen und Unterstützung durch die Regierung auf ziemlich produktive Weise. Dass die Misiones wesentlich von Nachbarschaftsorganisationen getragen werden, dürfte mit zwei Ursachen zu tun haben: zum einen mit der Unfähigkeit der Staatsbürokratie und dem Fehlen einer klassischen linken Avantgardepartei, die den sozialen Bewegungen einen enormen Raum verschaffen. So ist das venezolanische Transformationsprojekt bislang im besten Sinne von Improvisation geprägt.
Zum anderen ist für den Protagonismus der Basisorganisationen aber durchaus auch ein politisches Konzept verantwortlich. Die ‚bolivarianische Verfassung’ von 1999 sieht den Übergang von einer repräsentativen zu einer „partizipatorischen, protagonistischen Demokratie“ vor. Tatsächlich werden, was international bisher kaum wahrgenommen wird, Bürgerbeteiligung und Selbstverwaltung auf allen Ebenen gefördert. Das Konzept, politische Repräsentation durch Formen der Selbstregierung zu ersetzen – unterscheidet die Entwicklung in Venezuela auch grundlegend von den Prozessen in Nicaragua, El Salvador oder Kuba. Dort war in der Vergangenheit zwar auch viel von poder popular („Volksmacht“) die Rede, diese Macht wurde aber wesentlich von linken Parteien und ihren sozialen Unterabteilungen ausgeübt. Eher als am sandinistischen Nicaragua oder am staatssozialistischen Kuba orientiert sich das venezolanische Projekt, zumindest bislang, an Bewegungserfahrungen. Die neu gegründeten Consejos de Planificación Local (Lokale Planungsräte) etwa haben die BürgerInnen-Mitverwaltung der Kommunalhaushalte im südbrasilianischem Rio Grande do Sul zum Vorbild. Und die nach wie vor überaus dynamische Stadtteilbewegung Venezuelas ähnelt in ihrer horizontalen Struktur viel eher der brasilianischen Landlosen-Bewegung als den nicaraguanischen oder kubanischen „Komitees zur Verteidigung der Revolution“.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Präsident Chávez, der – was das wichtigste Argument gegen den Vorwurf des Populismus sein dürfte – die Bevölkerung immer wieder zur Selbstorganisierung aufruft, selbst die Kampagne zum Referendum in die Hände solcher Netzwerke gelegt hat. Ausdrücklich rief er die Bevölkerung im Sommer 2004 dazu auf, nicht auf die politischen Parteien zu warten, sondern sich selbstständig als Initiativen für das Nein zu konstituieren. Man kann das für eigennützig halten – immerhin ging es um den Verbleib von Chávez’ im Amt –, ganz konkret lässt es sich aber auch als Stärkung der Bewegungen gegenüber den Parteien als klassischen Trägern politischer Repräsentation interpretieren.

Die Basis ist derSchlüsselfaktor

Der Trend zur Basisorganisierung weist jedoch auch auf mögliche Bruchlinien innerhalb der ‚bolivarianischen Revolution’ hin. Bislang ist das venezolanische Projekt eine bunte Mischung aus Denkansätzen. Was Bildungswesen und Antiimperialismus angeht, orientiert man sich an Kuba. Hinsichtlich der kommunalen Selbstverwaltung blickt man nach Brasilien, bei der Kritik des Neoliberalismus zitiert man gern die linkskeynesianischen RedakteurInnen von Le Monde Diplomatique. Symbolik und Diskurs der ‚Revolution’ schließlich schöpfen gleichermaßen aus dem christlichen Messianismus, der Tradition der Guerillagruppen der sechziger und siebziger Jahre sowie den von der französischen Revolution beeinflussten ProtagonistInnen der antikolonialen Befreiungskriege des frühen 19. Jahrhunderts.
Von einem theoretischen Standpunkt aus betrachtet, muss ein solches Projekt eigentlich eher mittel- als langfristig an seiner Heterogenität zerbrechen. Doch glücklicherweise haben gesellschaftliche Veränderungen mit Theorie in der Regel wenig zu tun. Unmittelbar vor dem Referendum äußerte Gonzálo Gómez, einer der linken Wortführer und Medienaktivist beim Nachrichtenportal www.aporrea.org, die Ansicht, es werde nach dem Referendum zu einer Klärung des politischen Projekts kommen. Gómez unterschied dabei ganz klassisch zwischen denen, die gewisse Reformen, und jenen, die eine radikale Veränderung der Gesellschaft anstreben. Doch bei genauerer Betrachtung erweist sich die Angelegenheit als weitaus komplizierter. Immerhin scheiden sich die Geister nicht nur an der Frage, ob man neben Reformen für Verteilungsgerechtigkeit, auch eine Umgestaltung von Arbeit und Wirtschaft anstrebt, sondern auch daran, welche Rolle Basisorganisationen respektive politischen Repräsentationen dabei zukommt.
Bisher gibt es keine eindeutigen politischen Lager, in denen sich die AnhängerInnen von Basismacht oder Staatlichkeit, reformiertem Kapitalismus oder Sozialismus sammeln könnten. Mit den Parteien und vielen PolitikerInnen um Chávez ist auch das Gros der Chávez-WählerInnen unzufrieden. Man weiß zu gut, wie schnell sich politische Eliten verselbständigen. Eine wachsende Zahl von KritikerInnen weist darauf hin, dass es nicht reicht, bessere Leute in Führungspositionen zu bringen, sondern Strukturen aufgebaut werden müssen, in denen Politik und Verwaltung permanenter sozialer Kontrolle und Mitbestimmung unterworfen sind. Auch für viele FührerInnen der Regierungsparteien dürfte diese Art der demokratischen Aneignung von unten unangenehm werden. Dementsprechend groß ist das Konfliktpotenzial. Paradoxerweise ist der Erfolg der Demokratisierungsbewegung wesentlich von einer Person abhängig: Chávez. An sich müsste er, der in der Bewegung die unangefochtene Rolle des Heroen einnimmt, einer solchen Entwicklung ebenfalls mit geteilten Gefühlen gegenüber stehen. Doch andererseits hat er sich seit dem Putschversuch im April 2002 – wohl auch aus Ernüchterung über die ihn stützende Parteienkoalition – immer deutlicher für die Stärkung der Bewegungen ausgesprochen.
Venezuela bleibt für Überraschungen gut. Hoffentlich auch weiterhin für erfreuliche.

Dehnübungen vor dem Endspurt

Über dieses Thema werde ich nicht sprechen“, antwortet der Vorsitzende des linken Parteienbündnisses Frente Amplio (FA) Tabaré Vázquez während eines Aufenthalts in der Provinzhauptstadt Minas Cecilia Manzione, als sie ihn um ein Gespräch über seine Bildungspolitik bittet. Die Lehrerin und langjährige Aktivistin wollte von ihm wissen, ob er nach einem Wahlsieg bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober bereit sei, eine von der FA abgelehnte Bildungsreform der konservativen Vorgängerregierung rückgängig zu machen. Derart abgewiesen, wendet sie sich an Tabarés Begleiter Pepe Mujica. Der war in den 60er Jahren Mitbegründer der uruguayischen Stadtguerrillabewegung Tupamaros, in den 70ern Gefangener der Militärdiktatur und in den 90ern als erster Ex-Guerrillero der FA Abgeordneter im Parlament. Heute ist er Senator, Liebling der Massen und Medienstar. „Die da oben werden schon wissen, was sie tun“, ist Mujicas Antwort. Cecilia Manzione ist enttäuscht. Seit vielen Jahren wählt sie Mujicas Organisation, die Movimiento de Participación Popular (MPP), die einst als Linksaußen der FA galt und inzwischen zum stärksten Sektor innerhalb des breiten Bündnisses avanciert ist. Der Erfolg der MPP beruht vor allem auf der Popularität Mujicas. Denn der genießt den Ruf, keine Rücksicht auf angebliche Sachzwänge der Politik zu nehmen und immer ein offenes Ohr für die Belange der Basis zu haben. Doch selbst bei der ehemaligen Fundamentalopposition sorgt die greifbar nahe erscheinende Regierungsübernahme für neue Töne.

Ein Land wartet auf den Wechsel
Uruguay hat sich bereits seit einiger Zeit auf einen Wechsel eingestellt. Knapp sechs Monate vor den Präsidentschaftswahlen im Oktober zweifelt niemand mehr ernsthaft daran, dass die Frente Amplio in diesem Jahr die nur durch eine Militärdiktatur (1973-1985) unterbrochene Herrschaft der beiden traditionellen Parteien, Partido Colorado (Colorados, PC) und Partido Nacional (Blancos, PN), beenden wird. Bereits beim letzten Urnengang 1999 hatte die FA mit 40 Prozent die Mehrheit der Stimmen im ersten Wahlgang auf sich vereinen können. Durch eine kurz zuvor beschlossene Verfassungsreform war jedoch ein Stichwahlsystem eingeführt worden, welches es Colorados und Blancos ermöglichte, in der zweiten Runde einen Sieg der Linken zu verhindern, indem sie gemeinsam den Präsidentschaftskandidaten Jorge Batlle (PC) unterstützten. Heute gilt ein Sieg der FA in der ersten Runde der Wahlen nicht mehr als ausgeschlossen: in den Umfragen liegt die Partei zwischen 50 und 60 Prozent. Die Regierung von Batlle ist weitestgehend diskreditiert. Die vergangenen vier Jahre an der Macht waren durch eine verheerende Bankenkrise im Jahr 2002, interne Streitigkeiten, Korruptionsskandale, verschiedene peinliche Auftritte des alternden Präsidenten und zunehmende Isolierung im von Lula und Kirchner dominierten Mercosur geprägt. Auch die Blancos konnten sich troz ihres Ausstiegs aus der Regierungskoalition im Jahr 2002 nicht von ihrem Image als Repräsentanten des alten Systems befreien.
Im Juni stehen in Uruguay die so genannten internas an, in denen alle Parteien in einer offenen landesweiten Abstimmung ihre Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen bestimmen. Bereits jetzt stehen zwei der drei wesentlichen Konkurrenten für die diesjährigen Wahlen so gut wie fest. Nachdem Danilo Astori von der Asamblea Uruguay – dem reformistischsten Sektor innerhalb des breiten politischen Spektrums, das die FA unter ihrem Dach vereint – angekündigt hat, dass er angesichts der zu erwartenden Niederlage nicht antreten wird, steht einer erneuten Kandidatur von Tabaré Vázquez nichts mehr im Wege.

Wer traut sich gegen Tabaré?
Für die Colorados wird nicht wie erwartet der ehemalige Präsident Julio María Sanguinetti (1985-1990 und 1995-2000) antreten. Ende vergangenen Jahres hatte er sich vor einem Referendum über die Zukunft des staatlichen Brennstoffunternehmens ANCAP für dessen Privatisierung stark gemacht, die mit großer Mehrheit abgelehnt wurde. Der Ausgang des Referendums wurde nicht nur als richtungsweisender Triumph der FA, die als einzige der großen Parteien gegen eine Privatisierung war, sondern auch als persönliche Niederlage Sanguinettis gewertet. Die Parteistrategen haben wohl registriert, dass sein polemisierender antikommunistischer Diskurs, der in altbewährter Manier das Schreckgespenst eines drohenden totalitären Regimes bei einer Machtübernahme der FA bedient, nicht mehr der Stimmung in der Bevölkerung entspricht. Aus diesen Gründen wird der Kandidat der Colorados aller Voraussicht nach der jetzige Innenminister Guillermo Stirling sein. Der ist weitaus gemäßigter und integrativer als der Ex-Präsident. Bis jetzt hat kein weiterer Colorado-Politiker Ansprüche angemeldet, die undankbare Aufgabe zu übernehmen.
Bei den Blancos ist das Rennen noch nicht entschieden. Auch in dieser Partei könnte es zu einer Überraschung kommen. Das Vorhaben des Partei-Patriarchen Luis Alberto Lacalle, der zwischen 1990 und 1995 Präsident war, erneut für seine Partei zu kandidieren, ist in Gefahr. Der jüngere, vorteilhafterweise an keiner vorherigen Regierung beteiligte Senator Jorge Larrañaga wird von einem großen Teil der Parteiprominenz unterstützt und hat gute Chancen, die internas für sich zu entscheiden. Larrañaga produziert sich als Erneuerer und pflegt eine oppositionelle Rhetorik, die die Mitverantwortung der Blancos für die gegenwärtige Krise vergessen machen soll. In Bezug auf die Sozialpolitik und die Stärkung der nationalen Produktion ähneln seine Positionen teilweise denen der Linken.
Sollten sich also nach den Colorados auch die Blancos an Stelle eines ehemaligen Präsidenten für einen Kandidaten der Mitte entscheiden, so wird der FA ihre Wahlkampfstrategie ändern müssen, die darauf ausgerichtet war, Tabaré Vázquez als linken Hoffnungsträger zwei verbrauchten Figuren der uruguayischen Rechten gegenüberzustellen. Der Sieg von Tabaré ist jedoch selbst unter diesen Bedingungen nicht wirklich in Gefahr.

Kröten schlucken oder untergehen
Innerhalb der Linken ist aus der Hoffnung, 33 Jahre nach der Gründung der Frente Amplio endlich den Machtwechsel herbeizuführen, bereits eine Gewissheit geworden. Die internen Auseinandersetzungen um Posten und Prinzipien sind bereits in vollem Gange. Selbst Mujica und seine MPP, die in der Vergangenheit als vehementeste Gegner von Zugeständnissen an die herrschende Gesellschaftsordnung galten, ordnen mittlerweile ihre Programmatik dem strategischen Ziel des Regierungswechsels unter. Die Nachfolgeorganisation der Movimiento de Liberación Nacional/Tupamaros (MLN/T) passt sich diesem Trend nicht nur an, sondern übernimmt durch ihre ideologische Öffnung eine Vorreiterrolle, die alte Genossen schlucken lässt. Mujica erklärte kürzlich in einem Interview mit der Wochenzeitung Brecha die neue Strategie seiner Organisation: „Wir haben ein klares Motiv: Wir wollen im Oktober die Wahlen gewinnen. Wenn wir sie verlieren, bricht die Linke auseinander. Deswegen können wir nicht auf unseren revolutionären Positionen beharren und das Bürgertum verschrecken. Wir müssen alle Sektoren der Gesellschaft mit einbeziehen, auch wenn wir dabei die eine oder andere Kröte zu schlucken haben.“ Dieser neuen Orientierung entsprechend hat die MPP zu Beginn des Jahres den so genannten Espacio 609 gegründet – ein ideologisch offenes Auffangbecken für unabhängige Linke und enttäuschte Colorados und Blancos. Diese Organisation erschließt mit zunehmendem Erfolg neue Wählerschichten für die FA.

Der sozialistische Baum
Leicht fällt es den Basismitgliedern der MPP nicht, dem von ihrer Ikone eingeschlagenen Weg in die Mitte und an die Macht zu folgen. Doch die Mehrheit steht weiter hinter Mujica.
Hebert Clavijo, in den 60er und 70er Jahren Führungsmitglied der Tupamaros in Minas und lange Jahre politischer Gefangener, ist heute im Basiskomitee der MPP aktiv. Er wird nachdenklich bei der Frage, ob seine Organisation ihre revolutionäre Identität dem übergeordneten Ziel des Wahlsiegs geopfert habe.
Doch dann greift er zu Papier und Stift und skizziert einen Baum. Die Wurzeln sollen die MLN/T symbolisieren, die Baumkrone steht für den neu gegründeten Espacio 609. Sie besteht aus vielen Blättern, den neu gewonnenen Verbündeten von Colorados und Blancos. Den Baumstamm als verbindendes Element zwischen den beiden Ebenen soll die MPP darstellen.
Clavijo erläutert: „Der gemeinsame Ausgangspunkt ist für alle Teile des Baumes das Ziel der nationalen Befreiung von Ausbeutung und ausländischer Dominaz. Dort holen wir die neu gewonnenen Mitstreiter ab, denen wir in der Zusammenarbeit unser marxistisches Denken nahe bringen. Dann beschreiten wir gemeinsam den Weg zum Sozialismus. Um dieses Projekt zu verwirklichen, müssen wir die Wahlen gewinnen.“ So einfach ist der Weg zu einer Gesellschaft ohne Ausbeuter und Ausgebeutete.
Doch auch Clavijo merkt man sein Unwohlsein über den atemberaubenden Wandel der MPP an, die in Abkehr von basisdemokratischen Prinzipien den Verlautbarungen ihres Vorsitzenden Mujica hinterher galoppiert. Bereits sechs Monate vor der Wahl plagen die Frente Amplio die Probleme aller emanzipatorischen Bewegungen, die innerhalb des vorgegebenen institutionellen Rahmens die herrschenden Verhältnisse grundlegend verändern wollen.
Pepe Mujica und die MPP, Tabaré Vázquez und die FA machen sich schon jetzt daran, den von Lula vorgeführten Spagat zwischen ökonomischen Sachzwängen und ideologischen Überzeugungen einzustudieren. Das Vorbild im Norden zeigt, wie schmerzhaft eine solche Dehnübung werden kann.

Aus den Bergen des mexikanischen Südostens

Die Rebellion ist wie dieser Schmetterling, der auf das Meer ohne Insel oder Felsen zuhält. Das Tier weiß, dass es keinen Platz zum Landen hat, doch zögert es nicht zu fliegen. Aber nein, weder der Schmetterling noch die Rebellion sind dumm oder selbstmörderisch. Es ist nur so: Sie wissen, dass sie doch etwas haben werden, wo sie landen können, weil es in dieser Richtung eine kleine Insel gibt, die noch kein Satellit entdeckt hat. Mit diesen gewohnt polit-poetischen Worten beginnt Marcos seinen Kalender des Widerstandes. Literarische Stilmittel wie Tierfabeln und Momentaufnahmen ziehen sich durch alle 13 Kapitel. In jedem wird eine Region in Mexiko beschrieben. Marcos prangert die dortigen Missstände an.
Der Aufstand der Zapatistas zum Beginn des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) 1994 richtete sich gegen Ausbeutung, Rassismus und Marginalisierung der indigenen und ländlichen Bevölkerung durch die Herrschaft der Großgrundbesitzer und der politischen Funktionäre. Die EZLN lehnt das mexikanische Parteiensystem (PAN, PRD, PRI) ab.
Der Kalender beschreibt Absprachen, Skandale und Vetternwirtschaft, die immer wieder auftreten.
Die EZLN versteht sich als konsequent basisorientierte Bewegung. Eine radikale Demokratisierung der mexikanischen Gesellschaft ist ihr Ziel. Marcos bezeichnet seine Texte als Stelen. Damit nimmt er auf die Darstellung alter Herrschafts-Geschichte der Maya Bezug.
Der Vorspann des Kalenders erklärt, warum Marcos sein langes Schweigen gebrochen hat. Der Grund ist das Scheitern der Verfassungsreform von 2001, die der indigenen Bevölkerung Mexikos lange geforderte Rechte zugestehen sollte.
„Wenn die Damen und Herren, die sich selber Denker nennen, mit unseren Augen gesehen hätten“, schreibt Marcos über die damalige Chance der Regierung, „dann hätten sie unser späteres Schweigen und unsere derzeitigen Worte verstanden. Aber nein. Sie denken, dass sie denken. Und sie denken, dass wir ihnen etwas schulden. Aber wir schulden ihnen gar nichts.“
Das Buch zeigt eine von Korruption, Diskriminierung und Repression gezeichnete Gesellschaft sowie den Kampf der Campesinos und Campesinas für die Anerkennung indigener Rechte und einen Autonomiestatus innerhalb Mexikos. Die Bildung zivilgesellschaftlicher Versammlungen in Form der „Caracoles“ wurde von der Regierung begrüßt. Sie ist auch Teil der Öffentlichskeitsarbeit.
Die Anmerkungen der B.A.S.T.A Redaktion an dieser Stelle sind teilweise unpassend und verstärken das Schwarz-Weiß Bild einer bösen mexikanischen Regierung.
Eine Landkarte, eine Zeittafel zum zapatistischen Aufstand und ein Glossar sind hilfreiche Ergänzungen. Auf der politischen und geschichtlichen Reise durch Mexiko verwirren selbst blanke Zahlen oder Aufzählungen von Namen nicht: Die LeserIn erhält durch so ein umfassendes Bild. Dank vieler Anekdoten und Situationsschilderungen wird auch die Hoffnung, die die EZLN in die Menschen setzt, vermittelt. Die Publikation des Kalenders in Deutschland zeigt einmal mehr, dass sich die EZLN auf den Rückhalt einer breite Öffentlichkeit verlassen kann.

Gruppe B.A.S.T.A (Hg): Der Kalender des Widerstandes, Verlag Edition AV; Frankfurt/M 2003, 220S., 13 Euro. Bezug: Buchhandel oder Email an: basta@gmx.de

Bolivien wartet auf den Wandel

Zehn lange Jahre musste die Fußballmannschaft von The Strongest in La Paz warten, um die bolivianische Meisterschaft überraschend im vorletzten Match für sich zu entscheiden und den „Himmel mit den Händen zu fassen“. 2003 – das Jahr der gelb-schwarzen starken Raubkatze aus dem reichen Stadtviertel Achumani.
Tatsächlich haben sich im Jahr 2003 auch noch andere, wichtigere Ereignisse in Bolivien abgespielt. Im so genannten Jahr des Wandels gab es zwei Mal – im Februar und im Oktober – heftige Unruhen mit Toten. Der seit 2002 regierende Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada von der MNR (Movimiento Nacional Revolucionario) trat zurück und machte dem parteilosen Vizepräsidenten Carlos Mesa Platz, der „Krieg um das Gas“, soziale und politische Probleme stürzten das Land zusätzlich zu den anhaltenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten in eine tiefe Krise. Wird der neue Präsident die Geschicke des Landes als starker Tiger lenken? Oder wird die Katze von den anderen „starken Tieren“ auf dem politischen Spielfeld in die Enge getrieben?

Carlos Mesas Zukunftsplan
Am 4. Januar 2004 hielt Präsident Carlos Mesa eine mit Spannung erwartete Rede an die Nation, in der er die wichtigsten Themen und Herausforderungen aus Sicht der aktuellen Regierung – mit überwiegend parteilosen Ministern – darlegte. Neben der Frage des Gas-Exports beziehungsweise des Gas-Referendums schnitt er als wichtiges Thema die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung an, die während der Unruhen gefordert wurde. Diese soll nach dem Willen Mesas ab dem ersten Halbjahr 2005 zusammen eine Verfassungsreform in die Wege leiten.
Mesas ökonomisches Zukunftsmodell baut auf dem neoliberalen Modell der letzten 20 Jahre auf. Allerdings plädierte der Präsident in der Wirtschaftspolitik für eine aktivere Rolle des Staates: Gemeinsam mit Privatunternehmen sollen Arbeitsplätze und Einkommen geschaffen werden. Es soll eine Wachstums- und Produktivitätsstrategie erarbeitet werden, die sich auf wichtige Sektoren wie Produktion von Fertigwaren, Tourismus, Bau und Agroindustrie konzentriert und gleichzeitig eine Erhöhung der Exporte anstrebt.
Was den im vorletzten Jahrhundert verlorenen Meereszugang des Landes angeht, so appellierte Mesa an Chile, Bolivien wieder einen Meerzugang zuzugestehen. In Sachen Koka soll die von den USA geforderte Koka-Vernichtungspolitik nicht aufgegeben werden.
Der Präsident legte in seiner Rede zudem offen, dass Bolivien theoretisch bankrott ist. 15 Milliarden Bolivianos (= circa 1,8 Milliarden US-Dollar) Ausgaben hätten im Jahr 2003 Einnahmen von 9,6 Milliarden. Bolivianos (= circa 1,15 Milliarden US-Dollar) gegenübergestanden. Das hohe Budgetdefizit könne nur zu einem geringen Teil über ausländische Hilfsgelder gedeckt werden. Bis Ende Januar wolle er daher einen Austeritätsplan vorlegen, das Volk müsse in diesem Falle zu Einschränkungen bereit sein.Erörtert werden momentan eine Einkommenssteuer für Besserverdienende, eine Erhöhung des Benzinpreises sowie der Steuern der Erdölfirmen und höhere Abgaben auf Luxusimmobilien. Zudem will Mesa einen Fiskal- und Sozialpakt mit allen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gruppen schaffen. Eine schwierige Aufgabe angesichts zu erwartender Widerstände gegen unbequeme Maßnahmen seitens der Regierung.

Das umstrittene Thema Gas
Mit den Verteilungsspielraum erhöhenden zusätzlichen Einnahmen aus dem Gasexport kann Mesa nicht mehr rechnen. Zwar würden die Gasvorräte Boliviens sowohl für den Export als auch für den Eigenbedarf sowie die Industrialisierung im Land ausreichen. Mangelnde Information darüber hatte neben dem geringen Betrag, der beim Verkauf im Land bleiben sollte, in den letzten Monaten die Konflikte geschürt. Fatal ist momentan, dass sich die potenziellen Abnehmer – USA und Mexiko – zurückgezogen und andere Lieferanten (zum Beispiel Indonesien) gesucht haben, denn dies bedeutet, dass die zusätzlichen Staatseinnahmen, mit denen in den nächsten Jahren kalkuliert wurde, nicht anfallen werden. Ein Dilemma für Carlos Mesa – er steht mit leeren Händen da. Das Referendum, wie nun mit den Gasvorräten verfahren wird – Export oder nicht, über Chile oder Peru – soll am 28.März 2004 stattfinden, hat aber dadurch an Bedeutung verloren. Vor dem Referendum soll (voraussichtlich Mitte Februar) ein neues Gesetz über Bodenschätze verabschiedet werden, in dem die Höhe der Tantiemen, die staatliche Souveränität über die Gasvorkommen sowie die Stärkung der staatlichen Erdgasfirma festgeschrieben werden sollen.

Das Modell Mallku
Über einen Mangel an politische Gegenspieler braucht sich Carlos Mesa nicht zu beklagen. Felipe Quispe, im Volksmund Mallku (Aymara für König, Kondor) genannt, ehemaliger Guerrillero, jetzt Abgeordneter und Führer des MIP (Movimiento Indígena Pachacuti), schwebt ein indigenes Gesellschaftsmodell vor, eine Aymara-Nation etwa in der Art, wie sie die Inka vor 500 Jahren hatten mit einer Grundversorgung für alle und eher Tausch- als Geldwirtschaft als ökonomischem Prinzip. Die jetzige weiße Oberschicht soll ganz aus den Entscheidungsgremien verschwinden. Felipe Quispes Basis ist überwiegend das Hochland zwischen La Paz und dem Titicaca-See. Am von Mesa skizzierten Modell kritisiert Quispe, dass keine klaren Antworten auf die Probleme des Landes gegeben wurden – wenn dies nicht bis zum 20. Januar 2004 geschehe, gäbe es seitens seiner Gruppierung erneut Blockaden.

Der Plan von Evo Morales
Neben Felipe Quispe war Evo Morales, ehemaliger Minenarbeiter und Kokabauer, heute Abgeordneter und Führer des MAS (Movimiento al Socialismo) sichtbarster politischer Führer und Hauptgewinner der Proteste im Oktober 2003. Evo, wie der Vertreter der Kokabauern hier im Allgemeinen genannt wird, strebt ein sozialistisches Staatsmodell an, in dem die jetzige politische Klasse natürlich nichts mehr verloren hätte. Es gäbe unter Evo Morales keine weitere Koka-Ausrottung beziehungsweise das Zugeständnis einer bestimmten Anbaufläche an Kokabauern in allen Regionen Boliviens. Damit stünden vermutlich die internationalen Gelder der Entwicklungszusammenarbeit in Frage, die in Bolivien mit über 700 Millionen US Dollar momentan zehn bis zwölf Prozent des BIP und rund 30 Prozent des Haushalts ausmachen.
Evo Morales lag bei den Wahlen im Jahr 2002 mit über 20 Prozent der Stimmen knapp hinter Sánchez de Lozada auf Platz zwei. Er scheut keinerlei soziale, ethnische und politische Konflikte und gibt deutlich zum Ausdruck, dass Carlos Mesas Zeit beim kleinsten Fehler, den er sich erlaubt, abgelaufen sein würde. Morales trat in der letzten Zeit zunehmend als Moderator zwischen den verhärteten Fronten auf. Er hält die von Mesa in seiner Rede dargelegten Punkte für zu gemäßigt und zurückhaltend und bedauert, dass es keine konkreteren Vorschläge zur Änderung des Wirtschaftsmodells gebe.
Zwei weitere Protagonisten der Opposition, Roberto de la Cruz, Führer der Gewerkschafter von El Alto sowie Jaime Solares, Chef des Gewerkschaftsdachverbands COB (Central de Obreros Boliviana) haben Carlos Mesa nach seiner Rede den Krieg erklärt. Auf die Forderungen der ärmeren Sektoren sei überhaupt nicht eingegangen worden, ebenso wenig hätte es Vorschläge für eine Bekämpfung der Armut, der Korruption und der exzessiven Ausgaben der öffentlichen Verwaltung gegeben, daher würden in Kürze wieder die ArbeiterInnen zu diversen Aktionen mobilisiert werden.

Wie stabil ist das Land?
Gerüchte kursieren, dass es im Falle eines Funktionsverlustes der bisher existierenden politischen Organe und Institutionen zu einem Militärputsch kommen könnte. Die Militärs wären demnach die „letzte Instanz“, um Recht und Ordnung aufrecht zu erhalten. Unklar ist momentan, ob es innerhalb des Militärs potente Führungspersönlichkeiten gibt, die das Machtvakuum füllen würden. Unklar ist auch, in welcher Form eine Militärregierung agieren und ob sie internationale Unterstützung erhalten würde.
Sicher ist, dass das bisherige Entwicklungsmodell in der stark polarisierten Gesellschaft brüchig ist. Große Teile der Bevölkerung identifizieren sich nicht mit der Nation Bolivien, wie sie 1825 gegründet wurde, geschweige denn mit dem daraus entstandenen – in den Augen vieler – ineffizienten, korrupten, zentralisierten Staat. Sie fühlen sich mit ihren Bedürfnissen und Interessen nicht integriert und verlangen nach einem föderalistischen Modell mit mehr Autonomie für einzelne Regionen und deren Interessen. Tief greifende politische und soziale Umbrüche stehen auf alle Fälle noch bevor.
Das „Jahr des Tigers“ hat nur die schwarz-gelben Kicker im siebten Himmel schweben lassen, alle anderen Spieler in Bolivien, allen voran die diversen Regierungsmitglieder, mussten im Jahr 2003 eher frustriert in die Kabinen zurückkehren. Wer sich 2004 die Oberhand verschafft, wird sich in den nächsten Monaten herausstellen.

Gefangenenaustausch bleibt Utopie

Es sollte ein Paukenschlag der Armee werden und entwickelte sich zu einem blutigen Fiasko. Nachdem Soldaten des kolumbianischen Militärs das verlassene Camp der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens FARC in dem nordwestlichen Dschungelgebiet Urrao betraten, fanden sie zehn Leichen vor.
FARC-Guerilleros erschossen am 5. Mai ihre Geiseln, um vor der anrückenden Armee zu fliehen. Unter den Toten befanden sich neben acht Militärangehörigen der Gouverneur der Provinz Antioquia Guillermo Gaviria und der ehemalige Verteidigungsminister Gilberto Echeverry. Offenbar wollten die Rebellen mit der Erschießung deutlich machen, dass mit ihnen nur eine verhandelte Freilassung der Geiseln möglich sei und keine mit militärischen Mitteln.
Denn bereits im April verdichteten sich die Anzeichen für eine mögliche Vereinbarung zwischen Uribe-Regierung und den FARC über einen Gefangenenaustausch. Bogotá stellte ein Abkommen in Aussicht, das vier Kernpunkte erfüllen müsse: im Gefängnis sitzende Guerilleros hätten das Land zu verlassen, während alle Geiseln frei gelassen werden müssten, eine von der Guerilla geforderte entmilitarisierte Zone wäre kein Thema und alle Kontakte müssten unter Vermittlung der UNO stattfinden. Noch als Uribe den Medien diese Punkte diktierte, flogen die Helikopter bereits in Antioquia ihre erfolglose Operation. Das Interesse an einem Abkommen schien beim Präsidenten nicht groß gewesen zu sein.

Uribe streitet Kenntnisse über Kontakte ab

„Man muss mit der Guerilla aufräumen, keine Rücksicht mehr mit Marulanda und seinen Leuten“, zürnte Uribe kurz nach der Hiobsbotschaft. Geschickt verkaufte der Präsident in den Medien das Massaker als Alleinverantwortung der FARC, ohne von den Kontakten zu berichten, die es auf regionaler Ebene mit der gleichen Guerillagruppe gab, um eine friedliche Freilassung der Gefangenen auszuhandeln.
Mit Wissen Uribes, wenn man den Aussagen der Witwe des ermordeten Gouverneurs, Yolanda Pinto, Glauben schenkt. Demnach gab es von Regierungsseite regen Kontakt mit den FARC, die sich in Hilfslieferungen für die Gefangenen ausdrückten. „Das erste Mal, dass wir Sachen zu ihnen schickten, war über das Internationale Rote Kreuz. Ich habe darüber den Präsidenten informiert und er sagte mir, dass das in Ordnung geht, aber die UNO dazu eingeschaltet werden soll“, so die Witwe. Der Höhepunkt: Nur einen Tag vor der Militäroperation landete nach Recherchen der Zeitschrift Cambio ein Helikopter der Provinzregierung im Guerillalager, um elf kranke Rebellen auszufliegen und behandeln zu lassen. Weitere Flüge soll es in den Monaten zuvor gegeben haben.
Doch Uribe konnte sich nach dem 5. Mai nicht daran erinnern, jemals etwas über solche Serviceleistungen gewusst zu haben. Offenbar gab es auf regionaler Ebene fruchtende Kontakte zu einer Freilassung der Gefangenen, die jedoch durch die Militäroperation zunichte gemacht wurden. Dass Uribe seiner Kenntnisse über die Kontakte abstreitet, hat seinen Grund. Sollte er davon gewusst haben, hätte er den Tod der Geiseln und ein Scheitern der Annäherung zwischen Guerilla und Regierung billigend in Kauf genommen.

Eine Armee auf Raubzug

Ein Skandal anderen Stils wurde Mitte Mai publik. 147 Soldaten einer Antiguerilla-Einheit hatten einen Monat zuvor sechs Tage im Süden Kolumbiens die Erde durchgepflügt. Nach Armeeinformationen sollten in der Provinz Caquetá nach heftigen Bombardements der Luftwaffe Dutzende tote Guerilleros verscharrt worden sein, welche die Eliteeinheit finden wollte.
Doch statt der Leichen holten die Soldaten am 18. April zehn große Plastiktonnen aus dem Boden, prall gefüllt mit Banknoten. Nachdem diese durchgezählt wurden, entschloss sich die Einheit kurzerhand, den Schatz aufzuteilen und nicht ans Hauptkommando zu melden. Umgerechnet mindestens 14 Millionen US-Dollar, die offenbar den FARC-Rebellen aus dem Drogengeschäft gehörten, gingen lautlos in die Hände der Soldaten und Kommandeure über.
Galten diese vergrabenen Schätze bisher als Mythos, den desertierte Guerilleros verbreiteten, wurde dieser für die Soldaten zur Realität und für das kolumbianische Hauptkommando zum Alptraum. Der Vorfall gilt als bisher größter Korruptionsskandal innerhalb der kolumbianischen Armee und wiegt besonders schwer, da es sich um eine kollektive Tat einer ganzen Kompanie handelte.
Besonders peinlich für das Hauptkommando: bisher konnten nur gegenüber 40 der Haftbefehl vollzogen werden, weitere 107 Militärs sind vom Erdboden verschwunden.

Rücktritte und Urlaubsverlängerung

Nach dem unerwarteten Fund kam es zu ungewöhnlichen Vorgängen. Das komplette Antiguerilla-Bataillon wurde überraschend kurzfristig in einen anderen Landesteil verlegt. Nur drei Tage später traten dort 42 Soldaten und Militärs mittleren Ranges ohne größere Erklärungen von ihren Ämtern zurück. 15 kehrten nicht mehr aus dem Urlaub zurück und weitere neun desertierten spurlos.
Daraufhin leitete die Armee eine Untersuchung ein, die eine tiefere Verstrickung des ganzen Bataillons aufzeigte, aber dennoch nicht das Verschwinden weiterer Soldaten verhindern konnte. Neben den Dieben die einzigen Glücklichen: Puffs, Autohändler und Schmuckverkäufer der kolumbianischen Provinzstadt Popayán, die Dank dem Bataillon im April nach eigenen Aussagen den besten Geschäftsmonat hatten.

Antiterror-Statut vor der Verabschiedung

Während anderswo eine striktere Kontrolle des Militärs zur Diskussion stünde, kann sich die kolumbianische Armee stattdessen auf eine deutliche Erweiterung ihrer Rechte stützen. In der zweiten Mai-Woche gab das kolumbianische Abgeordnetenhaus einem Antiterror-Statut grünes Licht, das der Armee künftig juristische Befugnisse per Verfassungsreform einräumen soll. So darf diese jegliche Kommunikationskanäle auf eigenen Verdacht anzapfen, ohne auf eine richterliche Erlaubnis angewiesen zu sein.
Auf gleicher Basis würden Hausdurchsuchungen sowie Festnahmen möglich werden, die bereits in den achtziger Jahren verfassungsrechtlich verankert waren. „Die haben schon damals nichts genützt und konnten nicht mit der Guerilla aufräumen“, so der linke Abgeordnete Gustavo Pérez. „Im Gegenteil, die Menschenrechte wurden massiv verletzt.“
Andere Stimmen stellten das Antiterror-Statut zynisch mit dem Geldraub in Bezug und erwarten in Zukunft mehr solcher Vorfälle, wenn Sicherheitskräfte unkontrolliert Häuser, Wohnungen und Ländereien durchsuchen dürfen.
Als „ein Mittel mit katastrophalen Auswirkungen auf die Menschenrechte“ bezeichnete amnesty international die Regierungsinitiative. Anschuldigungen gegen vermeintliche Terroristen würden ausschließlich auf Militärquellen beruhen, eine Kontrolle von Menschenrechtsverletzungen sei nicht mehr gewährleistet.
Ähnlich scharfe Kritik kam aus den Reihen der UNO. Laut dem Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen ist das Antiterror-Statut, das Ende Mai nur noch durch den Senat gehen muss, nicht vereinbar mit internationalen Normen. „Kolumbien verletzt den internationalen Pakt über Zivil- und Politikrechte und die Amerikanische Menschenrechtskonvention “, so der UNO-Menschenrechtsbeauftragte Michael Frühling.
Statt eine Korrektur der harten Linie vorzunehmen, attackierte die Uribe-Regierung die Vereinten Nationen. Die kolumbianische Verteidigungsministerin wies die UN-Kritik mit dem lakonischen Argument zurück, dass die Kommunikationsmittel der Kriminalität dienten und hinterfragte gleichzeitig das Engagement der UNO im Land für eine Neuauflage von Gesprächen zwischen Regierung und Rebellen. „Eine Verteidigung im Sinne der Terroristen“, brandmarkte die Ministerin ein Interview des UNO-Sonderbeauftragten James Lemoyne, in dem dieser den Kern der FARC-Guerilla als politisch tief gebildet bezeichnete. Statt den „Terroristen“ sollte laut der Ministerin den demokratischen Institutionen des Landes internationale Hilfe zuteil werden.
Lemoyne bemühte sich 2001 erfolglos als UNO-Sondergesandter um eine Reaktivierung der Friedensgespräche und gilt als Kenner der FARC-Guerilla. Im Interview mit der Tageszeitung El Tiempo machte er ausdrücklich klar, dass mit den FARC politische Abkommen getroffen werden können. Was im Präsidentenpalast nicht gern gehört wird, schwört man das Land doch auf einen Kriegskurs gegen eine rein terroristische Vereinigung ein.

Menem gegen Duhalde

Die Macht fiel der
justizialistischen Partei quasi über Nacht in den Schoß. Am 20. Dezember 2001 um 19 Uhr war es so weit: Präsident Fernando De la Rúa floh aus dem Präsidentenpalast und reichte sein Rücktrittsgesuch ein, nachdem Plünderungen, Demonstrationen und gewaltsame Zusammenstöße mit der Polizei 30 Todesopfer gefordert hatten. Das vorzeitige Scheitern von De la Rúa ebnete der Justizialistischen Partei (JP) die Rückkehr an die Macht. Eduardo Duhalde, Intimfeind von Carlos Menem, setzte sich durch und wurde am 2. Januar 2002 als Präsident vereidigt, nachdem Übergangspräsident Rodriguez Sáa wegen neuer Proteste und schwindenden Rückhalts in der eigenen Partei aufgegeben hatte.
Für Anfang November wurde ein Parteitag einberufen, der in Abwesenheit der AnhängerInnen Menems stattfand. Dort wurde der Termin für die internen Vorwahlen eines Präsidentschaftskandidaten auf Mitte Januar 2003 verschoben und die Zusammensetzung der Wahlkommission zu Ungunsten von Menem verändert. Der Parteitag wurde nach Protesten der Getreuen Menems durch die Richterin María Servini de Cubría annulliert. Eine Woche später bei der Wiederhohlung wurden die getroffenen Maßnahmen bestätigt.

Eine gewachsene Rivalität
Der Parteitag war ein taktischer Schachzug von Präsident Duhalde gegen seinen ärgsten Rivalen Menem, um die internen Vorwahlen zu verschleppen. Menem hatte noch im Oktober als Parteichef der JP mit seinen im Parteirat vertretenen AnhängerInnen die Vorwahlen für den 15. Dezember angesetzt und in Abstimmung mit Rodríguez Sáa eine parteiinterne Wahlkommission bestimmt. Doch das taktische Bündnis mit Sáa war zu schwach, um gegen Duhalde zu bestehen. Menem musste sich den Beschlüssen des zweiten Parteitages beugen, die die Vorwahlen mit der notwendigen Mehrheit auf den 19. Januar verlegten. Somit hat Duhalde Zeit gewonnen, um einen ihm genehmen Präsidentschaftskandidaten aufzubauen. Denn der frühere Präsident und Vorkandidat Menem ist fest entschlossen, seine Ankündigung von 1999 wahr zu machen und bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 30. März 2003 anzutreten.

Zwei Populisten am Werk
Duhalde gilt ähnlich wie Menem als Populist, der sich gemäß der Tradition der Peronisten gerne als Freund der Unterprivilegierten gibt. Sein sicherer Machtinstinkt und sein pragmatischer Politikstil haben ihn politisch weit gebracht. Als Gouverneur der Provinz Buenos Aires hat er häufig die Gelegenheit genutzt, bei der Essensausgabe für Arme werbewirksam in Erscheinung zu treten. Ähnlich wie Duhalde verstand es auch Menem, durch die Gewährung von Pfründen an kooperationswillige PolitikerInnen und GewerkschafterInnen Mehrheiten zu schaffen und durch sein charismatisches Erscheinungsbild den Wohltäter für die Armen zu spielen. Bei der Wahl 1989 setzte sich das Duo Menem-Duhalde durch, Menem wurde Präsident, Duhalde sein Vize.
Das Spiel der Politik über informelle Gremien verstehen beide nur allzu gut. So gut, dass Duhalde, oft auch „cabezón“ (Dickkopf) genannt, auf Wunsch von Menem 1991 zum Kandidaten für den Gouverneursposten der Provinz Buenos weggelobt wurde. Nach seinem Wahlsieg und der Wiederwahl blieb er Gouverneur der Provinz bis 1999.
Die nach Menems Wiederwahl 1995 angemeldeten Ansprüche von Duhalde auf die Präsidentschaftskandidatur 1999, verknüpft mit einer Abgrenzung von der Politik Menems, verschärften die Gegensätze. Zum offenen Konflikt kam es 1997 nachdem die JP bei den Parlamentswahlen besonders in der Provinz Buenos Aires verloren hatte und die AnhängerInnen von Menem dies zum Anlass nahmen, eine dritte Amtszeit anzustreben. Menem ging die Kritik an der Korruption während seiner Präsidentschaft und am neoliberalen Wirtschaftsmodell zunehmend auf die Nerven. Er versuchte deshalb schon seit längerem eine frühzeitige Präsidentschaftskandidatur Duhaldes zu verhindern.
Der Konflikt nahm immer groteskere Züge an: Menem strebte eine weitere Verfassungsreform für eine dritte Amtszeit oder eine Interpretation der geltenden Verfassung in seinem Sinne an. Duhalde wollte eine Volksbefragung zur Wiederwahl Menems starten, beließ es jedoch bei dem Boykott des Parteitages von 1998. Bis zu den Präsidentschaftswahlen 1999 drohte der Konflikt Menem-Duhalde die JP zu spalten. Nachdem die Wiederwahl von Menem unmöglich erschien und seine ins Spiel gebrachten Kandidaten wie Carlos Reutemann oder Rodríguez Saá verzichteten, sicherte sich Menem den Parteivorsitz der JP vorzeitig bis 2003. Der „cabezón“ Duhalde erlitt bei den Präsidentschaftswahlen Schiffbruch und musste sich vor dem Radikalen De la Rúa geschlagen geben. Dennoch schaffte es der Verlierer von 1999 im Januar 2002 nach De la Rúas Rücktritt in die Casa Rosada.

Duhalde taktiert

Am 19. Januar soll nun die Vorwahl für die Präsidentschaftskandidatur in der JP stattfinden. Seitdem sicher erscheint, dass die Präsidentschaftswahl von Dezember 2003 auf Ende März vorgezogen wird, hat in den verschiedenen Fraktionen der Regierungspartei ein politisches Taktieren begonnen, um für die Vorwahlen ein breites Bündnis hinter sich zu bringen. Nachdem der Wunschkandidat von Duhalde, der Gouverneur der Provinz Santa Fé, Carlos Reutemann, wiederholt kein Interesse bekundet hat und wohl aus politischer Dankbarkeit gegenüber seinem Ziehvater Menem als Vorkandidat nicht zur Verfügung steht, bastelt Duhalde an einem Bündnis für die JP-Gouverneure José Manuel de la Sota (Córdoba) oder Néstor Kirchner (Santa Cruz).
Noch wartet Duhalde ein Gerichtsurteil ab, denn juristisch ist über die Zulässigkeit von offenen Vorwahlen noch nicht endgültig entschieden. Für den Fall einer Ablehnung hat Duhalde ein alternatives Wahlsystem für die allgemeinen Wahlen vorbereitet: Alle Parteien werden in einem einmaligen Ausnahmefall berechtigt, mehrere KandidatInnen zu präsentieren. Die Partei mit den meisten Stimmen ist der Sieger der Präsidentschaftswahlen und schlägt aus ihren KandidatInnen, die mit den meisten Stimmen für die Präsidentschaft vor. Auf diese Weise würde nach der Vorstellung von Duhalde Menem ausgeschaltet, da dieser in Umfragen schlecht abschneidet. Der Weg wäre frei für einen Präsidenten Kirchner oder De la Sota, sollten diese kurz vor der Wahl noch für die JP zur Verfügung stehen. Im Fall Kirchner ist ein Zerwürfnis mit Duhalde aber nicht ausgeschlossen, da dieser seit einiger Zeit den politischen Kurs der JP kritisiert und Bündnisse außerhalb der Partei plant. Kirchner wird bis zuletzt abwarten.

Menem setzt auf Vorwahlen

Für Menem hängt viel davon ab, ob die internen Vorwahlen in der JP durchgeführt werden oder nicht. Sein Widersacher Duhalde hat kein Interesse an Vorwahlen, da durch die Popularität, die der Ex-Präsident Menem noch in der JP genießt, nur ein von Duhalde geschmiedetes Bündnis die Präsidentschaftskandidatur verhindern könnte. Das Problem hierbei ist, dass sich sowohl De la Sota als auch Kirchner selbst noch Chancen ausrechnen und somit eher Rivalen sind. Rodríguez Sáa, in Umfragen vorn, jedoch in der JP ohne großen Rückhalt, fällt als Bündnispartner ebenfalls aus, da er sich bis zuletzt offen hält, auch außerhalb der Partei anzutreten. Für Menem wäre es das Beste, wenn für sämtliche Parteien interne Vorwahlen stattfinden müssten. Ansonsten wird er viel politisches Gespür für die Durchsetzung seiner Kandidatur brauchen.

Die Welt mit anderen Augen sehen

Wenn von indigener Literatur die Rede ist, herrscht meist der Plural vor. Muss das literarische Schreiben von Indigenen stets zugleich als kultureller Widerstand gelesen werden?

Tatsächlich waren am Anfang die Indio-Bewegungen der Siebzigerjahre diejenigen, die gegen die „Zwangskastellanisierung“ zweisprachige Bildung forderten. In den Achtzigern wurden die ersten Akademien für indigene Sprachen gegründet, 1990 begannen wir Schreibenden uns zu treffen, es gab die ersten Symposien, Stipendienprogramme und Literaturpreise. Einerseits sollten dabei die prähispanischen Traditionen wiederbelebt werden, wie etwa der legendäre Nahua-Dichter Nezahualcóyotl, andererseits ging es um zeitgenössische Manifestation. Zweifellos hatte die indigene Literatur zuerst die Funktion politischer Poesie, die dem Kampf um die eigene Existenz und Anerkennung Ausdruck verleiht. Mit der Zeit und in den neuen Generationen, also denjenigen, in denen die heute zwischen 30- und 40-jährigen sind, wird diese Lyrik reifer. Sie befreit und löst sich von diesen Aufträgen und wird experimentierfreudiger. Die Wunden vernarben allmählich. Diejenigen, die nach uns kommen, sind längst nicht mehr so verletzt, machen nicht mehr so fordernde Literatur und haben die Last des Politischen ein wenig hinter sich gelassen.

Dabei weicht offenbar der Idee einer homogenen Kollektivstimme einer sozial unterdrückten Gruppe zunehmend die Diversität einzelner Stimmen. Ist indigene Literatur überhaupt auf einen Nenner zu bringen?

Wenn überhaupt, sollten wir von einer mesoamerikanischen Literatur sprechen, ausgehend davon, dass wir – über die Sprache hinaus – dem gemeinsamen Nenner der Kulturen Mesoamerikas entstammen. Der Begriff indigen hat diese koloniale Konnotation. Je reifer und souveräner wir werden, desto eher werden wir in der Lage sein, diesen kulturellen Wurzeln auf je eigene Weise in Bilder, Rhythmen, Metaphern und Stilen Ausdruck zu verleihen. Aber das braucht Zeit. Wir haben über 500 Jahre der Leugnung hinter uns und sogar von linguistischer Verfolgung, während derer die Kinder dafür bestraft wurden, die Sprache ihres Dorfes und ihrer Eltern zu sprechen. Da wuchsen Generationen heran, die voller Ressentiments gegenüber ihrer Muttersprache waren. So mussten wir die Dinge lange Zeit hinausschreien. Das muss man heute noch ab und zu, aber nicht ständig. Wir dachten immer, wir befinden uns am Rande der Gesellschaft. Dabei sind wir mitten im Zentrum. Während der nächsten 10, 20 Jahre werden wir eine Blüte indigener Literatur erleben.

Diese wird in Dutzenden verschiedener Sprachen verfasst. Was bedeutet diese Vielsprachigkeit, die sich paradoxerweise meist nur über das Spanische verständigen kann?

Über Jahrhunderte gab es von oben ein Projekt der Homogenisierung und Standardisierung. Dabei sind die einzelnen Regionen immer schon multikulturell und mehrsprachig gewesen. In meiner eigenen Heimat, der Sierra Huasteca, hätten wir als Nahuas in der Schule Otomi oder auch Huasteco lernen müssen, um mit unseren Nachbarn reden zu können. Diese Mehrsprachigkeit galt lange als Nachteil, mittlerweile sehen wir sie als enormen Reichtum. Denn Diversität ist das Paradigma des 21. Jahrhunderts, nicht nur für Mexiko, für die ganze Welt. Ich denke, die nachfolgenden Generationen werden automatisch in einem mehrsprachigen Kontext aufwachsen. Die Kinder in meiner Gemeinde benutzen heute schon mit sechs oder sieben ganz selbstverständlich, wenn auch mehr im Dorfleben als in der Schule, Spanisch und Náhuatl. Sie wertschätzen ihre Sprache und Kultur, von da aus greifen sie auf das Spanische zu und später wird sich auch das Englische für sie nicht mehr als aufgezwungene Fremdsprache anhören. Sondern als weitere Sprache, die die Welt mit anderen Augen zu sehen erlaubt. Und so wird es einen multilingualen Kontext geben, in dem ein horizontaler Dialog möglich wird – lokal aber ebenso international, also auch mit Englisch, Französisch oder Deutsch.

Sie selbst sind ja Ihr ganzes Leben lang zweisprachig gewesen.

Aber ich selbst habe etwa 45 Jahre gebraucht, um wahrhaft und bewusst bilingual zu werden, denn das Spanisch kann ich erst seit rund zehn Jahren wirklich genießen. Vorher war die Zweisprachigkeit aufgezwungen. In unseren Dörfern mussten Kinder und Frauen, die in ihrer Muttersprache redeten, sich noch zur Strafe mit Steinen in den Händen hinknien. Náhuatl und Spanisch haben immer in mir gekämpft. In den Achtzigerjahren sollte alles in Náhuatl sein. Ich sah gar nicht ein, dass das auch in Spanisch erscheinen sollte, es war schließlich mein Ureigenes. Bis zu meinem ersten Mestizen-Buch, darin gibt es Gedichte, die in Náhuatl zu mir gekommen sind und solche, die in Spanisch kamen. Letztes Jahr habe ich dann einen zweiten Durchbruch erlebt, als einige meiner Gedichte – teilweise sogar direkt – ins Englische übersetzt wurden. Das Buch heißt „Der Kolibri der Harmonie“, und es gibt darin Texte in Náhuatl, in Englisch und Spanisch. Ich will jetzt selber Englisch lernen, das hätte ich schon in der Sekundarschule tun müssen. Und dann muss ich auch Otomi noch besser sprechen lernen. Ich will die Vielfalt endlich leben und genießen.

Ist das Schreiben als einsamer Akt ein Risiko oder auch eine Herausforderung – oder vielleicht sogar eine Art Befreiung vom kommunitären Kollektiv?

Eine Herausforderung ist es auf jeden Fall. Und zwar genau die, die die indigenen Völker heute angesichts der Globalisierung leben. Als man mich vor zwanzig Jahren mit der Frage des Weltbürgertums konfrontierte, habe ich noch gesagt: “Wie grässlich! Ich bin doch kein Weltbürger, ich bin aus einem Dorf in Veracruz.” Heute ist mir klar, dass ich ein Bürger der Welt bin, mit einem eigenen Antlitz, einer Geschichte und einer Sprache. Das ist die Herausforderung für den Schriftsteller: wie kann er das Eigene im globalen Dorf bewahren?
Ich habe von den Banden gesprochen: Seit etwa zwanzig Jahren beteilige ich mich an der traditionellen Zeremonie, die wir Jahr für Jahr in meinem Heimatdorf machen, um den Göttern zu danken, die ihren heiligen Platz in der Huasteca haben. Und da bin ich Lehrling und Helfershelfer der Alten, ich nehme ihre Anweisungen entgegen. Viele sagen zu mir, wie kannst du das machen, wenn du doch längst ein internationaler Mensch bist. Aber das eine schließt das andere nicht aus. Wenn ich alle paar Monate in mein Dorf fahre, werde ich zu einem von ihnen, zum Allerkleinsten und Bescheidensten dieser Gemeinschaft.

Auf diese Differenz, und das Plädoyer für Diversität, wird immer wieder in den Reden der Zapatistas verwiesen. Welche Bedeutung messen Sie diesen bei der Verbreitung dieses Paradigmas bei?

Die zapatistische Armee hat nicht nur die sozialen und politischen Strukturen erschüttert sondern die Strukturen des Bewusstseins, bis in die intellektuellen und akademischen Sphären hinein. Hier ging es um mehr, um einen anderen Diskurs: das hegemoniale Modell ist 1994 wirklich gebrochen worden, die EZLN wird zum Katalysator für diese Reflektion und schafft Räume, für indigene und nicht-indigene Denker, Akademiker und Aktivisten. Die Idee stammt jedoch schon, wenn auch nicht mit diesen Worten, aus den Siebzigerjahren: auf dem ersten Indígena-Kongress 1974 haben wir auch schon Zeitungen in unseren Sprachen gefordert und eine Ausbildung, bei der wir das Spanische lernen, aber eben auch Tzeltal, Tzotzil und Tojolobal.

Seit dem Frühjahr 2001 ist kein öffentliches Wort von den sonst so wortgewaltigen Zapatistas zu vernehmen. Wie lesen Sie dieses Schweigen?

Das ist kein stummes Schweigen, sondern eines, das klingt. Ich denke, dass diese Gesellschaft lernen muss, die Arten von Stille zu entziffern. Das Schweigen der Völker seit vier- oder fünfhundert Jahren ist keine Stille, die nicht erklingen würde, die Menschen sind da, mit ihren Mechanismen des Überlebens und des Widerstands. Auch Chiapas schweigt ja nicht, im Innern gärt es doch. Es reicht nicht, darauf zu warten, dass Marcos spricht, um zu verstehen, was los ist. Man muss sich den Eingeweiden nähern, um dem Lärm dieses Schweigens zu lauschen. Und auch das, was daraus an Vorschlägen entsteht.

Schuld am Schweigen ist die Verfassungsreform über indigene Rechte und Kultur, die im April 2001 vom Kongress – im Vergleich zum ursprünglichen Entwurf der parlamentarischen Friedenskommission COCOPA – so extrem verwässert wurde, dass die Zapatistas und viele indigene Gruppen das Reformpapier als Verrat bezeichneten und jede weitere Verhandlung mit Kongress oder Regierung ablehnen. Sie sind nun einer der Unterstützer der Gesetzesinitiative über „Linguistische Rechte“, die dem Parlament seit ein paar Jahren vorliegt. Widerspricht sich das?

Überhaupt nicht. Die so genannte COCOPA-Initiative ist eine Verfassungsreform, unser Entwurf ist auf einer anderen Ebene angesiedelt, nämlich als Ausführungsgesetz zu der 2001 beschlossenen Reform. Dazu muss man ein bisschen ausholen: Seit den Siebzigerjahren hinterfragt die indigene Bewegung das Modell einer homogenen und hegemonialen Kultur und Sprache. In den Achtzigerjahren tritt das etwas in den Hintergrund, Ende der Achtziger gewinnt die Forderung wieder an Gewicht und wird in der Mobilisierung um 1992 (der 500. Jahrestag der so genannten Entdeckung Amerikas, A.H.) unüberhörbar. Das mündet dann in den Verfassungsreformen von 1992, in der Mexiko erstmals als plurikulturelle Gesellschaft festgeschrieben wird. Doch dieser Paragraph bleibt zunächst folgenlos, nicht so sehr als totes Papier denn als Keimzelle, die auf ihre Zeit wartet, wie der Mais, der auch nicht stirbt, sondern auf fruchtbaren Boden wartet. Es gibt also keine Gesetze zu dieser Reform. Bei dem 1996 mit der EZLN unterzeichneten Abkommen von San Andres wird noch einmal ganz klar festgelegt, dass es ein Gesetz zur Förderung indigener Sprachen und Kulturen geben muss. 1997 gibt es dann einen Aufruf indigener SchriftstellerInnen über ethnische, linguistische und kulturelle Diversität und 1998 beginnen wir, die Initiative für eine multilinguale Staatspolitik auszuarbeiten. Die liegt erstmal in der Schublade, wie auch die COCOPA-Initiative, und erst in dieser Legislaturperiode wird sie wieder aufgegriffen. Es gab 10 Anhörungen zum Thema und gegenwärtig liegen dem Kongress immerhin drei Initiativen vor, eine davon von uns, dem indigenen SchriftstellerInnenverband. Wir gehen davon aus, dass spätestens in ein oder zwei Jahren das Gesetz verabschiedet wird.

Das klingt bei Ihnen alles recht optimistisch, im Unterschied zu den Stimmen, die seit dem Sturz des alten Regimes weit und breit kein „neues Mexiko“ entdecken können. Wie beurteilen Sie den Grad der Erneuerung aus indigener Perspektive?

Es ist nicht einfach, einen Jahrhunderte währenden Prozess der Beherrschung und Diskriminierung umzukehren. Im Kampf zwischen Konservativen und Liberalen im 19. Jahrhundert existiert die Urbevölkerung gar nicht, dasselbe passiert bei der Revolution Anfang des 20. Jahrhunderts. Und ein Wandel hängt heute nicht vom Präsidenten, sondern von der gesamten Gesellschaft ab. Aber ich glaube, dass es unter Fox Bemühungen und Signale gibt. Zum Beispiel unsere Abteilung: wir unterstützen Projekte, die von den Dörfern, ihren SchülerInnen und LehrerInnen, selbst konzipiert und verwaltet werden. Zwei, drei Jahrzehnte lang ging der Kampf nur um die Grundschulen. Heute geht es auch darum, dass indigene Sprachen an den Gymnasien gelehrt werden, dass die Universitäten multilinguale Fachbereiche eröffnen, dass es universitäre Lehrerausbildungen gibt. Und zweisprachige Bildung wurde lange Zeit nur als Angebot für die Indios verstanden – und nicht, wie heute vorgeschlagen wird, als interkulturelle Erneuerung für das gesamte Land. Der größte Widerstand dagegen kommt nicht vom Präsidenten, sondern von den Parteien. Da sind viele noch in den Denkstrukturen des 19. Jahrhunderts verhaftet, und zwar quer zu den politischen Lagern.

Einschließlich der Linken?

Durchaus. Die Parteilinke hat einen sehr ideologischen Diskurs, der die Fähigkeiten indigener Völker noch gar nicht verinnerlicht hat. Nehmen wir die Hauptstadt: dort regiert die Linke und hat kein Bewusstsein für kulturelle Diversität. Vielleicht ein bisschen für Sozialpolitik, aber in der Kulturpolitik handelt sie, als gäbe es die Indigenen gar nicht. Im neu gegründeten Kultursenat gibt es keinen einzigen Zuständigen für indigene Kultur. Und Forderungen nach linguistischen Rechten wird als etwas indio-spezifisches gesehen und nicht als Vorstufe zu einer wirklich plurikulturellen Gesellschaft.

Interview: Anne Huffschmid

Ein Land bewegt sich

Mit fast 21 Prozent der Stimmen hat der Chef der Cocabauern-Gewerkschaft, Evo Morales, völlig überraschend den zweiten Platz bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom 30. Juni dieses Jahres belegt. Erstmals in der Geschichte Boliviens stellen indígenas ein Viertel der ParlamentsvertreterInnen. Zum ersten Mal werden im Parlament Reden auf Quechua und Aymara, den beiden großen einheimischen Sprachen, gehalten. Die für die damit notwendig gewordene Übersetzungs-Infrastruktur musste in aller Eile beschafft werden, denn viele der traditionellen PolitikerInnen sind nur des Spanischen mächtig.
Das Wahlergebnis war für alle eine große Überraschung, nicht zuletzt auch für den Kandidaten selber. Es dauerte einige Zeit, bis der Anführer der Cocabauern des Chapare und Kandidat der „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS – Movimiento al Socialismo) begriffen hatte, dass er praktisch an der Schwelle zum Präsidentenamt stand – und dies, nachdem das alte Parlament ihn erst vor wenigen Monaten wegen „ethnischer Verfehlungen“ in einem Aufsehen erregenden Amtsenthebungsverfahren aus den eigenen Reihen entfernt hatte.
Bei weiten Kreisen der städtischen Bevölkerung führte der Ausgang der Wahlen zunächst zu großer Verunsicherung. Aus Angst vor einem Wahlsieg von Evo Morales bei der nach bolivianischem Wahlrecht notwendigen Stichwahl unter den beiden Erstplatzierten durch das Parlament, wurden dem Bankensystem kurzfristig Millionen von US-Dollar entzogen.

Öffnung des politischen Systems

Auch wenn es zunächst zu einem Schulterschluss der traditionellen Kräfte kam und sich eine Regierungskoalition aus MNR (Movimiento Nacionalista Revolucionario – Nationalistische Revolutionäre Bewegung), MIR (Movimiento de la Izquierda Revolucionaria – Bewegung der Revolutionären Linken), ADN (Acción Democrática Nacionalista – Nationalistische Demokratische Aktion) und UCS (Unión Cívica Solidaridad – Bürgerunion Solidarität) zusammenschloss, so kann von einer Abschottung nicht gesprochen werden. Vielmehr wurde der Versuch unternommen, weniger radikale Persönlichkeiten aus den Reihen der indígenas mit Stellvertreterposten auf die eigene Seite zu holen. Am weitesten geht die Öffnung bei der MIR, die sich bereits in der Vergangenheit stärker für die städtischen MigrantInnen der zweiten und dritten Generation geöffnet hat.
Und trotz der vereinzelten Arroganz ob des Geruchs gekauter Cocablätter oder des Gebrauchs von Bauernsandalen sind sich die PolitikerInnen aller relevanten Parteien einig: Die ländliche Indígena-Bevölkerung kann und darf vom politischen Leben des Landes nicht weiter ausgeschlossen bleiben; konkrete Schritte zur Öffnung des politschen Systems sind dringend notwendig.

Wahlerfolg statt Wahlboykott

Die „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) von Evo Morales ist eine relativ junge Partei, die in den 90er Jahren von den Cocabauern des Chapare als deren politische Vertretung und Schutz vor staatlicher Repression gegründet wurde. Ihr Einfluss begrenzte sich bisher auf die Coca-Anbauregion des Chapare. Auch die „Indigene Bewegung Pachakuti“ (MIP – Movimiento Indígena Pachakuti) von Bauerngewerkschaftsführer Felipe Quispe, ist auf eine spezifische Region begrenzt, in diesem Fall das nördliche Altiplano-Hochland zwischen Andenkette, Titicacasee und La Paz.
Der „Mallku“ Felipe Quispe hatte bei den Bauernprotesten der vergangenen Jahre versucht, sich als nationaler Führer der ländlichen Bevölkerung zu profilieren. Die Wahlen machen jedoch zwei Dinge deutlich: Mit landesweit sechs Prozent der Stimmen ist die MIP eine kleine Partei geblieben; ein achtbares Ergebnis sicherlich, doch weit entfernt von nationaler Bedeutung. Interessant jedoch die Tatsache, dass fünf der sechs Parlamentsvertreter ein Direktmandat gewonnen haben. Es gilt also andersherum gesprochen: In der nördlichen Altiplano-Region verfügt die MIP über eine solide Vorherrschaft.
Anders jedoch die MAS: Über Nacht ist sie zu einer der vier großen Parteien des Landes geworden, die mit Evo Morales um ein Haar den Präsidenten gestellt hätte. Im departamento La Paz beispielsweise wurde sie die deutlich stärkste Partei. Die Migrantenstadt La Paz/El Alto hat einmal mehr den Ausgang entscheidend mitbestimmt. Damit wird deutlich, dass die links-nationalistische Rhetorik von Evo Morales weit über den Kreis der Coca-Anbauer hinaus auf offene Ohren trifft, anders als dies beim radikalen Aymara-Diskurs von Felipe Quispe der Fall ist.
Zum Erfolg der Cocaleros beigetragen hat sicherlich auch der US-amerikanische Botschafter, als er die bolivianische Bevölkerung unmittelbar vor der Wahl in unmissverständlicher Weise vor Evo Morales warnte. Dies war dann vielen BolivianerInnen der Einmischung zu viel. In der Presse wurde der Botschafter daraufhin als „Wahlkampagnenchef von Evo“ bezeichnet.

Die Zukunft der Modernisierung

Im Chapare gibt es bereits wieder die ersten Konfrontationen. Während die Cocaleros weiterhin die Entmilitarisierung der Region fordern, besteht die Regierung auf einer Coca-Vernichtung „wie sie gesetzlich gefordert ist“. Allerdings signalisieren beide Seiten Gesprächsbereitschaft und man ist sich einig darüber, dass die bisherigen Projekte zur „alternativen Entwicklung“ des Chapare versagt haben.
Die weiteren Themen auf der politischen Agenda zu Beginn der zweiten Präsidentschaft von „Goni“ Sánchez de Lozada sind zunächst die Festlegung der Parlamentskommissionen und deren Vorsitzenden, die Diskussion um die Verfassungsreform sowie der Streit um den Erdgas-Export.
Bei der Festlegung der verschiedenen Kommissionsvorsitze vergibt die Regierung traditionsgemäß einen gewissen Anteil an die Opposition. Auffallend ist jedoch die Bevorzugung der drittplatzierten NFR (Nueva Fuerza Republicana – Neue Republikanische Kraft), von der offensichtlich weniger politischer Gegendruck erwartet wird als von MAS und MIP.
Die Frage nach einer Verfassungsreform ist weiterhin ein heißes Eisen, handelt es sich doch hierbei um die zentrale Forderung der Indígena-Protestmärsche vor den Wahlen. Hatte Ex-Präsident Tuto Quiroga noch der Einsetzung einer verfassunggebenden Versammlung zugestimmt, möchte der neue Präsident Goni eine Reform auf Grundlage der aktuellen Verfassung. Es droht die Gefahr, dass über den Streit um das Prozedere die Auseinandersetzung um die Inhalte der Reform aus dem Blickfeld geraten.
Der Export des bolivianischen Erdgases droht unterdessen zu scheitern. Während von Perus Präsident Toledo das wenig ernste Angebot kommt, den Gasexport über einen peruanischen Hafen ohne die großen Unternehmen, das heißt staatlich in die Wege zu leiten, traut sich niemand einen Vertrag mit dem Erzfeind Chile zu unterschreiben. Evo Morales hatte bereits den Ex-Präsidenten Jorge „Tuto“ Quiroga gewarnt, als die Verhandlungen mit Chile recht weit vorangeschritten waren: „Wenn Tuto das Gas den Chilenen übergibt, gräbt er sein politisches Grab. Die Bolivianer werden ihm diesen Verrat niemals verzeihen.“ Ein Ausweg ist derzeit nicht in Sicht.

Fünf Jahre Bewährungsfrist für beide Seiten

Auch wenn es für einen Cocalero-Präsidenten nicht gereicht hat, so hat sich doch das traditionelle Machtgefüge stark verschoben. Die VertreterInnen des politischen Establishments sind geblieben und zusammengerückt und haben die eigenen Reihen mit moderaten VertreterInnen der Gegenseite aufgefüllt. Noch geht alles weiter wie gehabt, doch allmählich wird es zunehmend eng für die Minderheit, die traditionell allein die Geschicke des Landes bestimmt.
Fünf Jahre haben sie nun Zeit um zu zeigen, ob sie unter dem MNR-Präsidenten und Staatsmodernisierer der 90er Jahre, Sánchez de Lozada, in der Lage sind, aus der Regierungsposition heraus die soziale und politische Modernisierung des Landes zu bewerkstelligen. Andernfalls gilt, was der politische Beobachter Roberto Uzquiano prophezeit: „Wenn den regierenden Parteien das nicht gelingt, dann sind sie in vier Jahren komplett weg vom Fenster“.
Ebenfalls fünf Jahre haben die indigenen Vertreter von MAS und MIP im Parlament Gelegenheit, die Geschicke des Landes als starke und radikale Opposition mitzugestalten, konkret Einfluss zu nehmen, die eigenen Fähigkeiten auf parlamentarischer Ebene unter Beweis zu stellen und sich als regierungsfähige Alternative zu präsentieren – einer Alternative insbesondere zum allseits herrschenden Wirtschaftsmodell aus Neoliberalismus, Privatisierung und US-Dominanz.

Kampf für einen neuen sozialen Pakt

Dies ist eine große Chance, die die indigene Bewegung zwar überraschend, aber nicht unvorbereitet trifft, denn seit der Verabschiedung des Gesetzes zur Volksbeteiligung (Ley de Participación Popular) von 1994 gibt es auf lokaler Ebene vielfach die Gelegenheit, sich an politischen Prozessen aktiv zu beteiligen. Der Kampf für einen neuen sozialen Pakt ist nun von der Straße ins Parlament getragen worden. Mit einer zahlenmäßig eindrucksvollen Präsenz haben sich die „Ausgeschlossenen“ und Protagonisten von Straßenblockaden im Zentrum der bolivianischen Demokratie eingefunden. Man darf gespannt sein.

Indigene Autonomie vor Gericht

Die Indígenas stehen wieder einmal im Rampenlicht der Medien. In ihrem Kampf um ein selbstbestimmtes Leben in Würde und ihre Autonomie haben die indigenen Organisationen ein neues Kapitel aufgeschlagen. Zusammen mit dem Gouverneur von Tlaxcala und VertreterInnen des Kongresses von Chiapas bringen über 300 VertreterInnen von indigenen Gemeinden aus verschiedenen Bundesstaaten ihre Argumente gegen das Gesetz zur indigenen Kultur und Autonomie vor. Vor der Tür des Obersten Gerichts in Mexiko City nimmt der Protest bunte For-men an. Ein gesellschaftliches Ereignis wird mit indigener Musik und indigenem Tanz dort inszeniert. Im Gebäude des Obersten Gerichts laufen derweil die Anhörungen. Jede dauert nur knappe 30 Minuten, gerade einmal genug Zeit für die Anwesenden Personen Platz zu nehmen und ein paar Dokumente vorlegen zu können. Am 18. Juni werden die Anhörungen enden. So haben es die elf Richter des Obersten Gerichtshofes beschlossen. Warum die Richter diesen Beschluss ge-fasst haben, der die Anhörungen unter einen enormen Zeitdruck setzt, bleibt im Dunkeln. Vor diesem Beschluss hat keine öffentliche Diskussion über diesen Punkt stattgefunden.

Mexikanischen Gerichte auf dem Prüfstand

Nun ist die Neugier geweckt, und nicht nur die der Mexikaner sondern auch die von internationalen Organisationen: Ist das mexikanische System der Rechtsprechung korrupt oder schaffen sich die Gerichte, Anwälte und Staats-anwälte einen unabhängigen Raum, in dem Rechtsprechung möglich wird? Ein Bericht der UNO bezeichnet die Hälfte der mexikani-schen Gerichte als korrupt. So sehen viele BeobachterInnen diese Anhörungen als eine erste Prüfung für das juristische System nach dem Machtverlust der ehemals allmächtigen Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI).

Nur wertloses Papier

Die VertreterInnen der indigenen Gemeinden berufen sich in ihrer Argumentation auf das Abkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO: International Labour Organization), eine Unterorganisation der UNO. Dieses Abkommen über die Rechte indigener Völker, wurde von der mexikansichen Regierung unterschrieben und ratifiziert. Danach muss jedes Gesetz, das die Belange von indigenen Gemeinden berührt, in den Gemeinden breit diskutiert und der Standpunkt der Betroffenen in die Gesetzgebung mit einbezogen werden. Eine Tatsache, die bei dem Gesetz zur indigenen Kultur und Autonomie nicht berücksichtigt wurde.
Die indigenen VertreterInnen wurden zwar gehört, aber ihre Haltung zu der Verfassungsreform wurde nicht mit einbezogen. Dreh und Angelpunkt für die indigenen VertreterInnen ist das Abkommen von San Andrés Larainzar aus dem Jahr 1996, das zwischen den ZapatistInnen und der mexikanischen Regierung geschlossen, aber nie wirklich in die nationale Gesetzgebung aufgenommen wurde. In diesem Abkommen wurden indigene Gemeinden als Subjekte öffentlichen Rechts verstanden. Dadurch wurde es ihnen ermöglicht, ihre Interessen auch juristisch durchzusetzten. In der Verfassungsreform aus dem letzten Jahr versteht der Staat die indigenen Gemeinden aber wie jeher: als Objekte öffentliches Interesses, denen so ein eigenverantwortliches Handeln verwehrt wird.

Verwirrende Koalitionen

Die mexikanische Verfassung besagt, dass ein nationales Gesetz von den einzelnen Bundesstaaten ratifiziert werden muss, ehe es auf nationaler Ebene bindenen Charakter bekommt. Das ist nicht geschehen.
Verschiedene Bundesstaaten haben das Gesetz abgelehnt, aufgrund unterschiedlicher Zusammensetzungen der einzelnen Parlamente. Die rechtskonservative PAN stimmte in den meisten Bundesstaaten für das Gesetz. Die sozialdemokratische PRD stimmte in den meisten Fällen gegen das Ge-setz und die PRI hatte keinen eindeutigen Standpunkt. In einigen Bundesstaaten votierte die PRI für eine Ratifizierung des Gesetztes in anderen dagegen. In Oaxaca zum Beispiel war die Sache schon lange klar. Das Gesetz wurde mit den Stimmen der PRI, die den Gouverneur stellt, und den Stimmen der PRD abgelehnt. Bereits kurz nach der Verabschiedung des Gesetzes im Nationalen Kongress 2001 legte der Gouverneur von Oaxaca Klage gegen das Gesetz beim Obersten Gerichtshof ein. Diese Klage wurde jedoch aus formalen Gründen abgewiesen, da das Gesetz weder von Präsident Fox ausgefertigt und unterschrieben, noch im offiziellen Blatt der Regierung veröffentlicht war. Eine ausgesprochen formale Argumentation des Obersten Gerichtshofs, die den Eindruck bestärkt, dass dieser keine unabhängige Gewalt im Staat darstellt.

Inhaltlich breiter Protest

Die gegenwärtigen Proteste richten sich nicht nur gegen die Verfassungsänderung aus dem letzten Jahr. Auf dem fünften nationalen Konvent der indigenen Ver-treterInnen Anfang Mai wurde ein inhaltlich sehr viel breiterer Protest formuliert. Sauberes Trinkwasser und die Nutzung des Bodens einschließlich seiner Ressourcen stellen zentrale Punkte im Kampf der indigenen Gemeinden gegen den alles vereinnahmenden Staat dar. Außerdem wandten sich die VertreterInnen auf dem Nationalen Konvent gegen ein Gesetz aus dem Jahre 1999, das den Gebrauch von fast achtzig medizinischen Pflanzen verbietet. Eine Gefahr für Mensch und Natur sehen die VertreterInnen in der massiven Ausbreitung von Versuchsfeldern mit genetisch verändertem Mais und Tomaten . Besonders das Megaprojekt des Plans Puebla-Panamá wurde auf dem Indigenen Konvent als eine Ausbeutung des Menschen und der Natur abgelehnt (siehe vorheriger Artikel zum Plan Puebla-Panamá).
Viele BeobachterInnen fragen sich, wo denn die ZapatistInnen auf der Medienbühne bleiben und der wortgewandte Subcommandante Marcos mit seinen herzerfrischenden Kommunikees. Aus Berlin ist das schwer zu beurteilen, es sei aber daran erinnert, dass die ZapatistInnen bei ihrer Rückkehr vom Marsch für die indigene Würde nach Mexiko City im letzten Jahr von der chiapanekischen Bevölkerung mit Sprechchöhren begrüßt wurde: „Marcos ruh dich aus, das Volk holt auf!“ Und das hat die Zivilgesellschaft getan, was die offiziellen Anhörungen vor dem Obersten Gericht zeigen.

Die Beherrschten nutzen das herrschende Recht

Nach dem beachtlichen Medienerfolg der ZapatistInnen Anfang letzten Jahres war es still geworden um die vermummten FreiheitskämpferInnen aus dem südmexikanischen Urwald. Enttäuschung und Frustration hatten sich in der mexikanischen Gesellschaft breit gemacht.
Zur Erinnerung: Im Februar und März letzen Jahres waren die ZapatistInnen zusammen mit den am Nationalen Indígena-Kongress teilnehmenden Organisationen nach Mexiko-Stadt marschiert, um ein Gesetz zur indigenen Autonomie und Kultur durchzusetzen. Die Verabschiedung eines Gesetzes auf der Basis der Verhandlungsergebnisse zwischen Regierung und EZLN in San Andrés 1996 stellte eine Forderung der Zapatisten für die Rückkehr zum Friedensdialog mit der neuen Regierung dar. Am 28. März 2001 sprachen die ZapatistInnen vor dem nationalen Kongress. Der Präsident Vicente Fox war nicht zugegen, sondern unterwegs in den USA.
Was jedoch schließlich als Gesetz zur indigenen Autonomie und Kultur verabschiedet wurde, war eine herbe Entäuschung und führte zur Aufkündigung der Dialogbereitschaft der EZLN. Der Passus zur regionalen Selbstverwaltung und gemeinschaftlichen Nutzung der natürlichen Ressourcen war ersatzlos gestrichen worden. In dem Gesetzestext wurden die indigenen Völker nicht als Subjekte öffentlichen Rechts, sondern als Subjekte öffentlichen Interesses verankert – um die sich ein paternalistischer Staat zu kümmern habe.

Revision des Gesetzestextes?

Damit jedoch das Gesetz in Kraft treten konnte, musste es die Parlamente der einzelnen Bundesstaaten passieren. Und nun ist das passiert, was noch nie in der mexikanischen Verfassungsgeschichte geschehen ist. Zehn Parlamente haben gegen das Gesetz gestimmt. Zudem sprechen sich immer mehr Abgeordnete des Bundeskongresses gegen das Gesetz aus, das sie selbst vor einem Jahr noch verabschiedet haben. 168 Abgeordnete haben sich für eine Revision des Gesetzes ausgesprochen. Ende Februar reichten mehr als 150 VertreterInnen indigener und sozialer Organisationen beim Obersten Gerichtshof ein Gesuch zur Überarbeitung des Gesetzestext ein. In öffentlichen Anhörungen legten die AnwältInnen der Indígenas Beweise für die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes dar. In der Öffentlichkeit wird dem Thema der indigenen Autonomie nun wieder mehr Interesse entgegengebracht. Nur die ZapatistInnen halten sich mit Stellungnahmen zurück. Seit ihrem Kommunikee in Reaktion auf die Verabschiedung des Gesetztes, das sie als „verfassungsmäßige Anerkennung der Rechte und Kultur von Grossgrundbesitzern und Rassisten“ darstellten, haben sich die ZapatistInnen und ihr „Sub“ Marcos zu diesem Thema nicht mehr in die mediale Öffentlichkeit begeben.

Alte Positionen neu formuliert

Die politische Debatte dreht sich im Kreis. Alte Argumente zu der Frage, wer den ersten Schritt zur Wiederaufnahme des Dialogs machen solle, werden wieder neu aufgelegt. Xóchitl Gálvez, Leiterin des Büros für indigene Angelegenheiten, spricht von der Möglichkeit, sich der historischen Schuld an den Indígenas anzunehmen, und betont, dass die Initiative vom Kongress ausgehen müsse, da das verabschiedete Gesetz eine Verballhornung der Forderungen der Indígenas darstelle. Der Regierungsbeauftragte für den Frieden in Chiapas Luis H. Álvarez sieht die Verantwortung für die Aufnahme des Dialogs dagegen bei den ZapatistInnen. Sie hätten sich aus dem Dialog zurückgezogen. Álvarez forderte deshalb von den ZapatistInnen zuerst Eindeutigkeit in ihren Botschaften. Generell signalisierte er zudem Dialogbereitschaft seitens der Regierung.
Manuel Bartlett, Präsident der Verfassungskommission des Senats und rechter Hardliner, bezeichnete eine neue Gesetzesinitiative als absurd. „Sollen wir etwa in ein paar Monaten für etwas stimmen, gegen das wir uns damals ausgesprochen haben?“ Er erinnerte daran, dass die BefürworterInnen eines neuen Gesetzes über keine Mehrheit im Kongress verfügen. In der Tat sind 168 Abgeordnete noch keine Mehrheit. Aber der Gouverneur von Chiapas Pablo Salazar bezeichnet die bröckelnde Front der GesetztesbefürworterInnen als einen Beweis dafür, dass das Gesetz die Erwartungen, die es erfüllen sollte, enttäusche.
Die Koalition der Autonomen Organisationen aus Chiapas (Coaech) verweist auf den viel beschworenen Geist des Abkommens von San Andrés aus dem Jahr 1996 und ließ verlauten: „Die indigenen Völker warten weiter auf eine Antwort hinsichtlich der Forderungen, die von den Zapatisten vor dem Kongress gestellt wurden. Denn die verabschiedete Reform hat unsere Forderungen nicht erfüllt.“

Ein Erfolg in der Niederlage

Noch nie wurden in Mexiko rechtliche Schritte auf nationaler Ebene eingeleitet, um das Missfallen gegenüber einer Verfassungsreform auszudrücken. Bei der Änderung des Artikels 27, der den Landbesitz regelt, wurden Anfang der neunziger Jahre zwar Demonstrationen und Mahnwachen gegen die Aufhebung der Unverkäuflichkeit von Kommunalland organisiert, aber keine rechtlichen Schritte eingeleitet. Die indigenen Völker zeigen heute, dass das Recht benutzt werden kann, um in den Gesetzgebungsprozess einzugreifen, ein Mechanismus, den die ZapatistInnen zu etablieren versuchen.

„Wir Frauen konnten die Veränderungen nach dem Krieg am besten nutzen“

Viele Organisationen der Frauenbewegung sind innerhalb der FMLN zu Kriegszeiten entstanden. Wo siehst Du den Ursprung der Frauenbewegung und wie hat sie sich zu Kriegszeiten entwickelt?

Für mich ist ein wichtiger Bezugspunkt die dritte internationale Frauenkonferenz 1985 in Kenia, an der viele Kämpferinnen und Comandantes der FMLN teilnahmen. Hier wurde über die Notwendigkeit diskutiert, spezifische Fraueninteressen in die stattfindenden Kämpfe einzubeziehen. In der Folge wurden Frauenorganisationen mit eigenen Büros gegründet. Denn bis dahin gab es innerhalb der FMLN vor allen Dingen Frauenorganisationen, die primär für Solidarität und Geld für den Krieg geworben haben oder Menschenrechtsorganisationen. Ab 1986 sind also verschiedene Organisationen entstanden, die eine frauenspezifischere Arbeit machten und mit internationalen Geldern Projekte durchführten. Es begann eine Zeit, in der die Frauen weiter aktiv an den Kämpfen für Frieden und soziale Gerechtigkeit teilgenommen haben, dabei aber einen anderen Schwerpunkt hatten. Mit dem Abschluss der Friedensverträge ging diese Phase zu Ende. Der Einfluss der Frauen in der FMLN war nicht sehr groß. Bei den Friedensverhandlungen gab es keinen Kampf um Fraueninteressen, es wurde lediglich ein sozial-ökonomisches Forum vereinbart, innerhalb dessen eine Arbeitsgruppe zur Situation der Frauen eingerichtet wurde. Aber das Forum existierte nur vier Monate und damit starb auch der Frauentisch.

Wie entwickelte sich die Frauenbewegung nach den Friedensverträgen weiter?

Im Jahr 1994 fanden die ersten Wahlen mit Beteiligung der Linken statt. Wir Frauen der Organisation „Mujeres 94“ haben in den zwei Jahre davor einen Forderungkatalog erarbeitet und diskutiert, der uns als Instrument für den Wahlkampf dienen sollte. Ziel war es, die Beteiligung von Frauen in politischen Ämtern zu erhöhen und spezifische Frauenthemen in der Agenda der politischen Parteien zu verankern.

Welches waren die wichtigsten Themen dieses Forderungskatalogs?

Es wurden sehr grundlegende Themen angesprochen: Armut, Arbeitslosigkeit, Gesundheitsversorgung, Bildung, Zugang zu Landbesitz, die ökologische Situation in Bezug auf ihre Auswirkungen auf das Leben von Frauen. Für jedes Thema haben wir eine Bestandsaufnahme gemacht und Lösungsvorschläge präsentiert. Am 8. März 1994 hatten schließlich sowohl ARENA als auch die FMLN ein Minimalprotokoll unterzeichnet, das 14 Punkte beinhaltete und eine Art Zusammenfassung des Forderungskatalogs war. Mit der Unterschrift haben sich die beiden wichtigsten politischen Kräfte zur Umsetzung der Forderungen verpflichtet.

Ist die Strategie aufgegangen?

Nein. Zumindest hat der Forderungskatalog die ARENA-Regierung nicht interessiert, auch wenn sie die ganzen Dokumente unterschrieben hatten. „Mujeres 94“ hatte sehr darauf gesetzt, dass die FMLN gewinnt. Viele Frauen engagierten sich stark in der Kampagne „Mujeres 94“ und haben durch ihre Arbeit dazu beigetragen, dass einige Frauen Abgeordnete der FMLN oder Bürgermeisterinnen wurden. Wir dachten, dass es einfacher würde, unsere Interessen vertreten zu sehen, wenn mehr Frauen in wichtigen politischen Ämtern sind. Aber dann hatten diese Frauen keine Zeit mehr, sich mit uns zu treffen. Es gibt sogar Frauen aus der Bewegung selbst, die den Dialog abgebrochen haben. Verantwortung tragen dafür beide Seiten, sowohl die Politikerinnen, vereinahmt von den Regeln und Aufgaben des parlamentarischen Lebens, als auch wir in unseren Insitutionen. Wir sind einfach davon ausgegangen, dass die Vereinbarungen durchgesetzt würden, und haben nicht mehr darauf gedrängt. Ich sehe darin eine Schwäche dieser Bewegung. Wir haben so viel Kraft in die Formulierung der Forderungen und in die Auseinandersetzung mit der Regierung gesteckt, aber als es schwierig wurde, haben wir uns kampflos zurückgezogen.

Ihr habt also an den Themen des Forderungskatalogs nicht mehr intensiv weitergearbeitet?

Doch. In den folgenden drei Jahren haben wir auf der Ebene von NRO vereinzelt Themen weiterverfolgt. Eine NRO hat sich dem Bildungssektor gewidmet, eine andere den Landfrauen, wieder andere dem Gewaltthema. Auch die Konzertationen orientierten sich thematisch.

Was hat diese Entwicklung ausgelöst?

Wir sind uns darüber klar geworden, dass der Forderungskatalog zu breit angelegt war. In ihm waren einfach alle strukturellen und zeitweiligen Probleme von uns Frauen berücksichtigt. Nun definierte jede Organisation ihr eigenes Arbeitsfeld.

Haben die folgenden Wahlen in der Arbeit noch eine Rolle gespielt?

Für die Parlaments- und Kommunalwahlen 1997 haben wir den Forderungskatalog einer Revision unterzogen und erneuert. Wir wollten uns während der gesamten Legislaturperiode stärker für die Umsetzung der Forderungen einsetzen. Ebenso wichtig für die Frauenbewegung war 1998 die Kampagne für Victoria Marina de Avilés als Präsidentschaftskandidatin der FMLN. Wir wollten sie als Kandidatin, und das nicht nur, weil sie eine Frau ist, sondern wegen ihres hohen Ansehens. Doch die FMLN stellte einen anderen Kandidaten auf. Frauen, die vorher als Wahlhelferinnen gearbeitet hatten, legten ihre Arbeit nieder und haben am Ende nicht einmal gewählt. Nach diesen Erfahrungen beschlossen wir 1999, nicht mehr so viel Kraft auf Vereinbarungen mit der FMLN zu verwenden, nur weil sie angeblich die politische Kraft sei, die unsere Interessen vertrete, sondern wieder unabhängiger zu arbeiten.

Bewertet ihr eure Erfahrungen mit der Einmischung in offizielle Politik als ernüchternd?

Nein. Es muss anerkannt werden, dass Staat und Regierung sich dem Thema der Diskriminierung von Frauen angenommen haben. Zum Beispiel wurde das staatliche Fraueninstitut ISDEMU gegründet, die Geschlechterthematik wurde in die Politik aufgenommen. Ein weiterer wichtiger Schritt war die Verabschiedung des Gesetzes über innerfamiliäre Gewalt, sexuelle Belästigung wird nun als Straftat behandelt. Gesetze zu den Arbeitsrechten in den Freihandelszonen wurden reformiert. Bei der staatlichen Menschenrechtsstelle wurde eine Anwaltschaft für Frauen angesiedelt. Es gibt also viele Veränderungen. Vielleicht bedeutet das noch keinen drastischen Wandel der Lebensbedingungen der Frauen, aber der institutionelle Kontext hat sich sehr verändert. Um Veränderungen in der Regierungspolitik zu erreichen, musst du verhandeln können. Aber wir haben gemerkt, dass der erste Schritt darin besteht, untereinander zu diskutieren, uns an einen Tisch zu setzen, auch mit anderen sozialen Bewegungen. Wenn ich also Landzugang für Frauen fordern will, dann muss ich das gemeinsam mit den Bäuerinnen tun. Als NRO ist unsere Aufgabe nicht, die Leute auf dem Land zu vertreten, sondern Prozesse zu fördern, die die Frauen auf dem Land in die Lage versetzen, sich selbst zu vertreten.

Wie sieht die Situation auf dem Land denn aus? Siehst Du da Fortschritte?

Die Arbeit der städtischen NRO findet zu 80 Prozent mit Landfrauen statt. Deswegen finden wir als IMU es wichtig, Organisationsprozesse und Bewusstseinarbeit zu unterstützen, die zum Aufbau einer ländlichen Frauenbewegung beitragen. In den letzten Jahren haben die Landfrauen sehr viele Möglichkeiten und Fähigkeiten dazugewonnen. Das führte auch dazu, dass sich der Frauenanteil in politischen Ämtern enorm erhöht hat. Doch auch hier haben wir etwas versäumt: Wir haben diesen Frauen zwar die Möglichkeit verschafft, öffentliche Ämter zu übernehmen, aber wir haben die Frauen nicht in der Ausführung ihrer Ämter so begleitet und fortgebildet, dass sie feministische Politik machen können. Gerade nach den Erdbeben stecken die Frauen bis zum Hals in Aufgaben des Notstands und Wiederaufbaus und brauchen dringend Begleitung, Beratung und Fortbildung.

Auf der lateinamerikanischen Ebene gab es in der Frauenbewegung immer Auseinandersetzungen zwischen den institutionell organisierten Frauen und den Frauen, die in autonomen Strukturen arbeiten. Gibt es die auch in El Salvador?

Nein, weil es in El Salvador die autonomen Frauen in diesem Sinne nicht gibt. Es ist vielmehr so, dass wir Frauen als Angestellte von Frauenorganisationen nebenher in der Bewegung aktiv sind. Die Frauen aus den kommunalen Gruppen wiederum sind oft von NRO mit der Durchführung von Projekten beauftragt. Das ist also ein gemeinsamer Sektor von Frauen, die abhängig sind von der Verwirklichung von Projekten, die aus dem Ausland finanziert werden. Auch die Stärke der Bewegung hängt davon ab. Das ist eine sehr große Begrenzung – stell dir vor, du hängst von externen Leuten ab, um selbst etwas aufzubauen, da bist du aufgeschmissen. Und auf der anderen Seite sind wir ja auch davon abhängig, welche Entwicklungskonzepte den internationalen Organisationen gerade in den Sinn kommen.

Zudem habt Ihr mit wachsendem Einfluss durch konservative Frauenorgansationen zu kämpfen, oder?

Ja, die Situation verschlechterte sich mit der Enstehung rechter Frauenorganisationen, die sich öffentlich sämtlichen sexuellen und reproduktiven Rechten widersetzen, die wir mit sehr viel Vorsicht nach und nach in die öffentliche Diskussion eingebracht hatten. Nie haben wir uns als salvadorianische Frauenbewegung öffentlich für die Abtreibung eingesetzt, wir haben lediglich darauf bestanden, dass es die Möglichkeit der Abtreibung bei medizinischer Indikation gibt, aber das war nicht möglich. Wir haben verloren und diese Frauen haben eine Verfassungsreform und die Reform der Strafprozessordnung erreicht.

Kannst Du das Thema der sexuellen Freiheit und des Rechts, über den eigenen Körper zu bestimmen, nochmal in den Kontext der Geschichte der Frauenbewegung stellen. Waren diese Freiheiten Deiner Erfahrung nach in der Guerilla größer?

Für die Guerillaorganisationen war es sehr schwierig, wenn Frauen schwanger wurden. Deswegen schwebte über den moralischen Vorstellungen die Anforderung, die Kampfstärke zu erhalten. In diesem Sinne wurde sehr wohl dafür geworben, Schwangerschaften zu vermeiden und wenn es trotzdem dazu kam, auch abzutreiben. Aber das hatte nichts mit einem Umdenken, dass die Frau das Recht haben sollte, selber zu entscheiden, zu tun.

Wie hat sich die Realität für die ehemaligen Kämpferinnen nach dem Krieg weiterentwickelt?

Einige Jahre nach dem Krieg wurden anhand von Interviews Untersuchungen gemacht, die aufzeigen, dass die meisten Frauen wieder direkt in ihre alten Rollen zurückgekehrt sind. Als IMU arbeiten wir in einer Zone mit ehemaligen Kämpferinnen und stellen fest, dass es sehr schwierig ist, mit ihnen zu reproduktiver Gesundheit zu arbeiten. Sie wissen genau, dass sie nicht Mutter von sehr vielen Kindern sein wollen, sie wollen Verhütungsmittel nehmen, aber die Männer, ehemalige Guerilleros, verbieten es. Für uns ist die Situation heute also so, dass wir hinter den Männern herschleichen müssen und sie bitten, dass sie doch an unseren Veranstaltungen über Verhütungsmittel und Kondome teilnehmen mögen. Die Doppelmoral funktioniert auch in diesen Sektoren wieder vollständig. Ich glaube, dass es wenig wirkliche Bewusstseinsprozesse während des Krieges gab. Es war auch kein Anliegen, Frauen über ihre Rechte aufzuklären, damit sie ihre eigene Freiheit vergrößern und selber über ihren Körper entscheiden können.

Wie bewertest Du den Friedensprozess und die Zeit der Transformation aus der Perspektive von Frauen?

Die Friedensverträge haben zunächst einmal einen wichtigen politischen Spielraum eröffnet, vor allen Dingen durch die Möglichkeit freier Meinungsäußerung und die Organisationsfreiheit. Wir Frauen haben das von Anfang an verstanden und haben überall Kontakte geknüpft, um unsere Themen auf die politische Tagesordnung zu bringen. Ich glaube, dass die Frauenbewegung der Sektor ist, der die Veränderungen nach dem Krieg am besten nutzen konnte. Auf der anderen Seite sind wir uns bewusst, dass die Friedensverträge zwar den bewaffneten Kampf beendeten, nicht aber die Kriegsursachen lösten. Gegen Ende des Krieges haben wir begriffen, dass jeder Befreiungskampf, jede Demokratie sehr begrenzt ist, wenn es darin nicht auch um die spezifischen Interessen von Frauen und um Geschlechterverhältnisse geht. Das hat mich vor der Frustration über die Entwicklung der Partei bewahrt, weil ich die Perspektive hatte, mich als Aktivistin einer Bewegung zu sehen, die einen zweigleisigen Kampf geführt hat: gegen den Kapitalismus und gleichzeitig gegen das partriarchale System. Wir kämpfen gegen zwei Systeme, die eng miteinander verbunden waren und sich gegenseitig ergänzten. Wir haben neue Formen des politischen Kampfes entwickelt. Wir haben auch Fehler gemacht und mussten viel lernen. Wir wussten ja nicht, wie es ist, in einer Gesellschaft ohne Diktatur zu leben. Wie lässt sich eine Demokratie aufbauen, wenn die Bevölkerung keine demokratischen und partizipatorischen Werte kennt? Für diese Lernprozesse sind zehn Jahr eine kurze Zeit.

Kasten #1:
Die Feministische Konzertation Prudencia Ayala
Für die Unterstützung der ehemaligen Menschenrechtsbeautragten Victoria Marina de Avilés als Präsidentschaftskandidatin der FMLN wurde die Kampagne Prudencia Ayala gegründet. Seit 1999 besteht die gleichnamige Konzertation mit 14 Mitgliedsorganisation als Koordinationsinstanz der Frauenbewegung.

Kasten #2:
Seit 1999 herrscht in El Salvador die repressivst mögliche Abtreibungsgesetzgebung. Mit den Stimmen der FMLN wurde das bereits bestehende Abtreibungsverbot um das Verbot von Abtreibungen bei gesundheitlicher Gefährdung der Mutter sowie nach einer Vergewaltigung erweitert, und der Schutz ungeborenen Lebens vom Moment der Befruchtung an wurde dem ersten Artikel der Verfassung beigefügt. Für eine Veränderung der Verfassung sind mindestens zwei Legislaturperioden nötig.

Die Verteidigung der PRI-Hochburg

Nachdem die über 70 Jahre regierende Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) im vergangenen Jahr erstmalig seit ihrem Bestehen den Präsidentenstuhl räumen musste, gelang es ihr weiterhin, in der Mehrzahl der Bundesstaaten ihre Macht zu sichern.
Auch im Bundesstaat Oaxaca, wo am vergangenen 5. August die Abgeordnetenwahl für das Parlament durchgeführt wurde, hat die PRI eine festgefügte Regierungstradition. In der letzten Legislaturperiode stellte sie sowohl die Mehrheit der Abgeordneten als auch den Gouverneur des Bundesstaates, José Murat Casab.
Gerade erst war die Verfassungsreform über die indigenen Rechte und Kulturen beschlossen worden, was zu einer breiten und durchaus kritischen Diskussion geführt hatte. Doch es zeigte sich nur sehr geringes Interesse für die Wahlen in Oaxaca, einem Bundesstaat mit einem der größten Anteile indigener Bevölkerung. Die bundesstaatliche Wahlbehörde registrierte für die diesjährigen Wahlen deutlich weniger nationale BeobachterInnen als bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000. Internationale BeobachterInnen erhielten trotz Anfrage und internationaler Protestbriefe keine offiziellen Akkreditierungen. Anscheinend ist man in Mexiko – wie andernorts auch – zu der Auffassung gekommen, dass der politische Wechsel auf nationaler Ebene gleich bedeutend ist mit einem Demokratisierungsprozess im ganzen Land.

Der PRI auf die Finger schauen

Das Ergebnis der Abgeordnetenwahlen war ein altbekanntes. Die PRI ging als Siegerin in 24 von 25 Wahlbezirken hervor. Die stärksten Wahlbezirke der Partei befinden sich in den ländlichen Gebieten, wo sich im Laufe vieler Jahrzehnte die Parteistrukturen in die lokalen Verhältnisse der Gemeinden eingefügt haben. Die traditionellen Herrschaftsstrukturen des Kazikentums wurden vereinnahmt und festigten so das Machtgefüge der Partei, welches in Oaxaca ungebrochen ist.
In Oaxaca haben sich nun unterschiedliche Menschenrechtsorganisationen zum Netzwerk Red Oaxaqueña de Derechos Humanos (RODH) zusammengeschlossen. Wahlbeobachtung, Dokumentation und Aufklärung von Wahlbetrug: Diese Aufgaben hat sich das Netzwerk gestellt. Die Liste der dokumentierten Unregelmäßigkeiten ist lang. Sie beschreibt die Einflussnahme auf den Wahlprozess, und die Entscheidung der WählerInnen, zum Beispiel durch direkte Drohungen. Das RODH berichtet von Stimmenkauf, Einschüchterungen, Androhung von Gewalt bis hin zu Morddrohungen, sollten die Betreffenden nicht für die PRI stimmen. In der Woche vor der Wahl verteilten PRI-KandidatInnen Grundnahrungsmittelpakete, Düngemittel, Matratzen und Mühlen. In anderen Fällen drohten PRI-FunktionärInnen bei Nicht-Wahl ihrer Partei mit dem Ausschluss von Entwicklungsprogrammen der Regierung, wie PROGRESA oder PROCAMPO, obwohl diese Programme längst außerhalb ihrer Entscheidungsbefugnis liegen. Die PRI sorgte somit durch ihre Aktivitäten in den Gemeinden bereits im Vorfeld der Wahlen für ein Klima der Angst und Gewalt.
Am Tag der Wahl selbst wurde in einigen Gemeinden, in denen die oppositionelle Partei der Demokratischen Revolution (PRD) eine Aussicht auf den Sieg hatte, der Aufbau von Wahlurnen verhindert. In abgelegenen Gemeinden organisierten PRI-AnhängerInnen LKW-Transporte zu den Wahlurnen, die an die Bedingung geknüpft waren für die PRI zu stimmen. Ganze Dörfer wurden auf diese Weise zu den Wahllokalen gekarrt.
Vor den Wahlurnen konnte beobachtet werden, wie PRI-KandidatInnen direkt vor der Stimmabgabe auf WählerInnen einredeten. In einigen Fällen gab es Proteste der Oppositionsparteien. Meist jedoch waren von allen RepräsentantInnen der Partei nur die der PRI an den Wahltischen anwesend. Allein an dieser Tatsache lässt sich die Stellung der Opposition in der Parteienlandschaft ablesen. Nur in den wenigsten Gemeinden ist es ihr gelungen, sich wirkungsvoll zu entfalten.

Struktureller Teufelskreis

Die langjährige Einparteienherrschaft wirkt nachhaltig. Sie hat in der Bevölkerung tiefe Spuren in Form von politischem Misstrauen und Apathie hinterlassen. Die wenigsten glauben an eine Veränderung durch politische Partizipation. Nur 31 Prozent der im Wahlregister Eingetragenen haben bei dieser Wahl die Urnen aufgesucht. Wahrscheinlich ist, dass ein Sieg für eine der Oppositionsparteien in der Zukunft nur dann möglich sein wird, wenn es ihr gelingt, die Wahlbeteiligung zu erhöhen.
Den Umfragen nach war ein Großteil der Bevölkerung vor der Wahl noch unentschieden, wo er sein Kreuzchen machen sollte. Einige WählerInnen wollten angeblich ihr Kreuzchen der PRI geben, weil deren Parteisymbol die Farben der mexikanischen Flagge enthält. Die allerwenigsten wussten über die Funktion und Aufgabe der zu wählenden Abgeordneten Bescheid.
Das RODH sieht in der politischen Aufklärung der Bevölkerung eine wichtige Voraussetzung für die Veränderung der herrschenden politischen Lage. Es hat seine Aufklärungs-, Öffentlichkeits- und bewusstseinsbildenden Kampagnen trotz des diesjährigen Rückschlages erneut aufgenommen, in der Hoffnung, dass die kommenden Wahlen in drei Jahren freier und demokratischer verlaufen können.

KASTEN:
Das Netzwerk Red Oaxaqueña de Derechos Humanos (RODH) besteht zur Zeit aus sechs in der Menschenrechtsarbeit tätigen Organisationen. Dazu gehören: ACAT (Acción de los Cristianos para la Abolición de la Tortura), Centro de Derechos Humanos „Tepeyac“ del Istmo de Tehuantepec, Comisión Regional de Derechos Humanos Mahatma Gandhi, Centro de Derechos Humanos Ñu_u ji kandií, Centro de Derechos Indígenas „Flor y Canto“ und das Centro Regional de Derechos Humanos „Bartolomé Carrasco“. Hauptziele des Netzwerkes sind der Kontakt mit anderen Menschenrechtsorganisationen auf nationaler und internationaler Ebene, sowie die Koordination der Lobbyarbeit und die Durchführung von Protestaktionen gegen Menschenrechtsverletzungen.
Infos: www.laneta.apc.org/rodh

Ein Schlag ins Gesicht der Indígenas

Nachdem die Zapatisten mit dem Marsch nach Mexiko-Stadt für die Würde der Indígenas die Zivilgesellschaft mobilisiert und begeistert hatten, verabschiedete der mexikanischen Kongress Ende April eine Verfassungsänderung, die die Rechte der Indígenas neu regelte. Hohe Erwartungen waren an die Parlamentarier gestellt worden. Umso größer waren Wut und Entäuschung bei den Vertretern der indigenen Völker und den Sympathisanten der Zapatisten, als sie erfuhren, dass der Gesetzesvorschlag der Komission für Eintracht und Frieden (Cocopa), der den Parlamentariern zur Abstimmung vorlag, in zentralen Punkten verändert worden war. Der Geist des Abkommens von San Andrés aus dem Jahr 1996, auf den dieser Vorschlag zurückging, wurde nicht beachtet, obwohl von verschiedenen politischen Parteien immer wieder gefordert worden war, sich an diesem einzigen Konsens zu orientieren. Aber nichts dergleichen passierte. In der Verfassungsreform wurde die Möglichkeit für die indigenen Völker, ihre Autonomie zu gestalten, auf die Gemeinde-Ebene beschränkt. Der Passus zur Eigenverwaltung des Territoriums wurde ersatzlos gestrichen, aus Furcht vor einer „Balkanisierung“ des mexikanischen Staates. Es sind aber nicht die Indígenas mit ihren selbstverwalteten Territorien, die zu einer Balkanisierung führen, sondern die Großgrundbesitzer und Caciques mit ihrer eigenen Hausmacht, den Paramilitärs. Das Konzept der Territorialität spielt eine zentrale Rolle im Denken der Indígenas. Ist das Territorium doch die materielle Grundlage für die gesellschaftliche Reproduktion und Ausdruck der unauflöslichen Einheit von Mensch-Erde-Natur. Der kollektive Nutzen an den natürlichen Früchten wie zum Beispiel Ernte, Holzeinschlag und Fischereirecht wurde zu Gunsten der Rechte Dritter, insbesondere der Großgrundbesitzer und Caciques, eingeschränkt. Im Gesetzesvorschlag der Cocopa wurden die indigenen Völker als Subjekt öffentlichen Rechts mit Rechten und Pflichten begriffen. In der Verfassungsreform werden sie wieder als das gehandelt, was sie immer waren: Subjekte öffentlichen Interesses, um die sich ein paternalistischer Staat kümmern soll. Das bedeutet, dass die Rechte an den natürlichen Früchten nur noch von einzelnen Betroffenen eingeklagt werden können und nicht mehr durch eine Gemeinschaft der Indígenas.
Die Antwort der Zapatisten auf die Verfassungsreform ließ nicht lange auf sich warten: „ Diese Verfassungsreform behindert die Ausübung der indigenen Rechte und bedeutet einen Schlag ins Gesicht der Indígenas und der nationalen und internationalen Zivilgesellschaft. Mit dieser Reform wird die Tür zum Dialog und zum Frieden geschlossen. Sie verhindert die Lösung der Probleme, die zum Aufstand der Zapatisten geführt haben und gibt den verschiedenen bewaffneten Gruppen Recht, da diese Reform den Prozess des Dialogs und der Verhandlungen entwertet. …“

Geheime Verhandlungen im Parlament

Verschiedene Parlamentarier der sozialdemokratischen PRD bezeichneten den Tag der Verabschiedung als den schwärzesten Tag der jüngsten mexikanischen Geschichte. Wohl auch deshalb, weil ein Großteil ihrer eigenen Partei für diese Verfassungsreform im Abgeordnetenhaus stimmte. Dass die alte Regierungspartei PRI und die konservative PAN für die Reform stimmten, verwunderte niemanden. Warum aber stimmte die PRD mehrheitlich für die Reform? An fehlender Information lag es jedenfalls nicht. Der Experte zu indigenem Recht, Gilberto López y Rivas, ein ehemaliges Mitglied der Cocopa, informierte vor der Abstimmung die Fraktion der PRD, dass die vorliegende Reform nicht im Interesse der indigenen Bewegung sei. López y Rivas äußerte später seine grobe Verärgerung darüber, dass viele Abgeordente der PRD für die Reform stimmten, und dass die parlamentarischen Verhandlungen zu der Verfassungsreform fast ausschließlich im Geheimen abliefen.
Damit die Verfassungsreform gültig wird, muss sie von den einzelnen Bundesstaaten verabschiedet werden. Die Cocopa hofft auf eine zweite Chance für ihren Reformvorschlag, falls die Reform in den Parlamenten der einzelnen Bundesstaaten scheitert.
Dass die Zapatisten in ihrem Kommuniqué zur Verfassungsreform explizit die anderen bewaffneten Gruppen in Mexiko erwähnten, ist neu. Hatten die Zapatisten sich doch bis jetzt von den anderen Guerillas in Guerrero und Michoacan abgegrenzt und sich als eine Guerilla präsentiert, die nicht im herkömmlichen Sinn die Regierung stürzen, sondern einen Bewusstseinswandel in Politik und Zivilgesellschaft bewirken wollte.
Das mexikanische Militär wurde aus Chiapas nie abgezogen, sondern dort nur in andere Stellungen verlegt. Sieben Stellungen wurden, wie von den Zapatisten gefordert, vom Militär aufgegeben. Doch kommt es neuerdings wieder zu Truppenbewegungen. Verschiedene Beobachter gehen davon aus, dass das Militär in Alarmbereitschaft versetzt wurde.Der militärische Druck auf die Zapatisten wurde wieder erhöht, nachdem die EZLN den Dialog aufgekündigt hatte.
Freigelassene Paramilitärs begriffen die Verfassungsreform als eine Niederlage der Zapatisten und als ihren Sieg. Sie drangen in zapatistische Dörfer ein und marschierten triumphierend durch die Straßen.

Die große Enttäuschung

Die Hoffnung der indigenen Völker auf Autonomie und eine Integration ihrer Rechte in Verfassung und nationales Recht wurde durch diese Verfassungsänderung völlig entäuscht. Die militärische Situation in Chiapas und die Freilassung von Paramilitärs kann zu einer Eskalation der Gewalt führen und die niedrige Intensität des Krieges im Süden der Nordamerikanischen Freihandelszone Nafta wieder steigern. Selbst Bill Clinton hatte während seiner Amtszeit nicht mäßigend auf die mexikanische Regierung eingewirkt. Der Hardliner Bush wird dies noch weniger tun. Die EU forderte die Zapatisten auf, wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren und schob die Verantwortung für die Situation der EZLN zu. In diesem Jahr haben Mexiko und die EU ein Freihandelsabkommen unterzeichnet, insofern werden die transatlantischen Beziehungen enger. Präsident Fox versteht es gut, sich international als Hoffnungsträger zu stilisieren, der die Vorherrrschaft der PRI gebrochen und die Demokratie nach Mexiko gebracht hat. Am Ende ihres langen Marsches sieht es heute wieder so aus, als ob die Zapatisten noch einmal von vorne beginnen müssten, unter neuen, aber gleichbleibend schlechten Ausgangsbedingungen.

Cumbia Cocopana

Der März und April, bevor die Regenzeit in Chiapas beginnt, sind die Zeit der Aussaat. Die Zapatisten sind vielmehr Bauern als Politiker oder Guerilleros. So waren sie etwas besorgt um ihre Felder, nachdem sie sechs Wochen in der Republik unterwegs waren. Aber als sie bemerkten, dass die Regenzeit noch nicht eingesetzt hatte, verflogen ihre Sorgen. Begeistert wurden die Comandantes begrüßt, als die Autokarawane in La Realidad, Chiapas, gegen Mitternacht des 5. Aprils ankam. Tausende von Männern und Frauen standen an der Straße nach Aguascalientes und applaudierten den vorbeifahrenden Zapatisten. Sprechchöre waren zu hören: „Marcos, ruh dich aus, das Volk macht Fortschritte!“ Auf einen Schlag wurden alle Lichter im Dorf angeschaltet, eine Band spielte Cumbia und die Party begann.
Marcos beendete den Marsch mit einer Rede in der er sich für die breite Unterstützung bei den unterschiedlichen Akteuren bedankte. Dass die Sympathie und Solidarität mit den Zapatisten solche Ausmaße annehmen würde, hatte auch er nicht erwartet. Er äußerte die Hoffnung, dass die letzten gefangenen Zapatisten aus den staatlichen Gefängnissen frei gelassen, die Militärbasen der mexikanischen Armee in Chiapas aufgelöst und dass die Verfassungsreform zu den Rechten und Kultur der Indígenas verabschiedet würden. Dann wurde gefeiert.
Der Sub und die Comandantes feierten bis früh in den Morgen. Marcos gab in dieser Nacht keine Interviews: „Im Moment kann ich gar nichts sagen, der Ball ist auf einem anderen Spielfeld.“

Comandanta Esther vor dem Kongress in Mexiko

Nachdem die vier Comandantes der Zapatisten am 28. März vor dem mexikanischen Kongress gesprochen haben, sind nun die politischen Institutionen des mexikanischen Staates gefordert. Es war die Kommandantin Esther, als Frau und Indígena doppelt marginalisiert, die zur Überraschung aller die zentrale Botschaft der EZLN für das politische System verkündete und nicht wie erwartet der Subcomandante.
„Wir sind nicht gekommen um zu betteln, um jemanden zu besiegen oder jemanden von seinem Platz zu verdrängen, sondern wir sind gekommen um zuzuhören und gehört zu werden.“
Sie entwarf ein ideales Bild von der mexikanischen Gesellschaft, in der die Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen nicht dazu führten, das eine Gruppe unterdrückt werde, sondern gerade die Differenz zwischen Indígenas und Nicht-Indígenas die Möglichkeiten für einen Dialog darstellten, in dem die Normen des gemeinsamen Miteinanders verhandelt würden.
Besonders die indigenen Frauen würden in der mexikanischen männerdominierten Gesellschaft am Rand stehen und weniger Rechte haben. Land dürften zum Beispiel nur Männer besitzen. Somit seien Frauen auch von den Versammlungen der Bauern ausgeschlossen. Aber vor allem seien sie von der Armut betroffen, die bei ihren Kindern zur Unterernährung und zum Tod führe. „Ich erzähle ihnen dass nicht, damit sie uns bemitleiden oder uns aus dieser Situation erlösen, nein, wir kämpfen um diese Lage zu ändern, und wir werden weiter kämpfen. Aber es ist notwendig, dass dieser Kampf Eingang in die Gesetzte findet. Der Moment ist gekommen, den Gesetzesvorschlag der Cocopa zur indigenen Autonomie im Kongress zu verabschieden.“

Bedingungen für einen Dialog

Dieses Gesetz sieht eine Anerkennung der kulturellen und politischen Autonomie der indigenen Gemeinden vor. Konkret bedeutet das, dass die politische Organisation einer Gemeinde, die Organisation der Arbeit und die Verteilung des Landes die Gemeinde selbst bestimmt. Ihre eigenen Ausdrucksformen religiöser, sprachlicher und medizinischer Art werden in diesem Gesetz anerkannt. Den Frauen werden die gleichen Rechte zu gesprochen wie den Männern. Die Verabschiedung dieses Gesetzes ist eine Bedingung der Zapatisten für die Wiederaufnahme des Dialogs zwischen der Regierung und EZLN.
Die zweite Bedingung ist der Rückzug des Militärs aus Chiapas. Am 20. April wurden drei Stellungen in der Selva Lacandona vom Militär verlassen, was die Zapatisten als ein ehrliches Friedensangebot interpretierten. Auch zur dritten Forderung der EZLN, der Freilassung der zapatistischen Gefangenen, scheint die Regierung aktiv zu werden. In seiner abschließenden Rede bei der Ankunft in La Realidad sagte Marcos, dass die meisten der Gefangenen bereits freigelassen worden sein.
Im Kongress und seinen Ausschüssen wird seit dem Marsch der Zapatisten nach Mexiko-Stadt über den Gesetzesvorschlag der Cocopa diskutiert. „Die politische Logik verlangt es, dass der Vorschlag verabschiedet wird, damit ein Frieden in Chiapas erreicht und die Situation der indigenen Völker und der mexikanischen Gesellschaft gelöst wird. Nun ist der Moment gekommen, in dem gehandelt werden muss, um das Begleichen der sozialen Schuld nicht weiter zu verzögern.“ So erklärte der Regierungssekretär Santiago Creel die Position von Präsident Fox. Als “zu vage und zu unpräzise“ kritisierte Jesús Ortega von der sozialdemokratischen PRD die Position der Regierung und meinte, der einzige Zweck einer solchen Äußerung sei das positive Echo in den Medien.
Wie nun dieser historische Moment genutzt werden kann, darüber besteht bei den politischen Technokraten Mexikos Uneinigkeit.

Hektischer Aktivismus im Senat

Eine Mehrheit von PRI, PAN und Grünen setzte sich im Senat durch und machte Nägel mit Köpfen. Am 24. April wurde das Gesetz zur indigenen Autonomie verabschiedet und zur ersten Lesung in das Abgeordentenhaus gegeben.
Dass der Gesetztesvorschlag der Cococpa bis zur bevorstehenden Parlamentspause ab dem 30. April unbedingt durchgebracht werden musste, kann als Versuch interpretiert weden, eine eingehend Diskussion zum Thema der indigenen Rechte zu vermeiden. So kam es zu einem solchen hektischen Aktivismus, nachdem die Zapatisten nach Mexiko-Stadt marschiert waren, wohlgemerkt ganz ohne Eile. Seit sechs Monaten liegt der Gesetzesvorschlag dem Senat zur Abstimmung bereits vor. Die Inhalte um die es geht, die Rechte der indigenen Völker wurden bereits 1996 in San Andrés verhandelt und stehen außerdem seit 500 Jahren auf der Agenda der Menschenrechte. Einzig und allein die PRD vertrat den Standpunkt, man könne das Gesetz auch nach der Parlamentspause verabschieden. Für die PRD ist es wichtig, dass in diesem Gesetz der Geist des Abkommens von San Andrés nicht verletzt wird, doch gegen eine Koalition von PRI und PAN ist im Kongress keine Entscheidung möglich. Von Vertretern der beiden größten Parteien wird die Gefahr der Balkanisierung des mexikanischen Staates befürchtet. Die Möglichkeit einer Vereinigung der indigenen Völker wurde daher aus dem Gesetzestext gestrichen.
Auf die Frage eines Journalisten an Präsident Fox nach der Entscheidung des Senats, ob er eine Nachricht an die Zapatisten habe, antwortet dieser: „Nein, nein, nichts, alles läuft hervorragend!“

Eine Autonomie, die keine ist

Dieser schnelle Beschluss des Senats ermöglicht es dem Präsidenten das Bild einer handlungsfähigen Demokratie zu präsentieren und auf den enormen Medienerfolg der Zapatisten zu antworten.
Der Gesetzesvorschlag ist im Senat nur mit grundlegenden inhaltlichen Änderungen verabschiedet worden. So wurde der Pasus zur Territorialität und dem gemeinschaftlichen Nutzen der natürlichen Ressourcen ersatzlos gestrichen. In dem neuen Gesetzestext werden die indigenen Völker nicht mehr als Subjekte öffentlichen Rechts bezeichnet, was zur Folge hat, dass sie nicht als eine juristische Einheit auftreten können.
„Das ist keine Autonomie. So wird den indigenen Völkern die Möglichkeit genommen, als Subjekte öffentlichen Rechts eigene Entscheidungen zu fällen.“ Der Anwalt Adelfo Regino Montes vom Congreso Nacional Indígena (CNI) äußert sich sehr besorgt zu der Version, die vom Senat verabschiedet wurde. Das Konzept eines gemeinschaftlichen Territoriums und der gemeinsamen Nutzung werde durch das neue Gesetz ausgehölt. Genau das ist einer der zentralen Kritikpunkte der Zapatisten an der politischen Sprache Mexikos: Sie ist inhaltsleer und ohne Seele.
Wer gehofft hatte, dass der Marsch der Zapatisten die Betonköpfe der konservativen Politikern dazu bewegt hätte, wirklich zuzuhören, der wird von der Eile mit der dieses Gesetz in wenigen Tagen durchgepeitscht werden soll, enttäuscht.

mehr Infos im Internet unter:
www.ezlnaldf.org
www.narconews.com/zapatistacarvan.html

“Hier sind wir und Spiegel sind wir”

Das zapatistische Befreiungsheer EZLN hat Mexiko-Stadt mit friedlichen Mitteln eingenommen. Unbewaffnet gelangen die 23 Comandantes an ihr Ziel. 3000 Kilometer haben sie auf ihrem Marsch, den sie den „Marsch der Würde“ tauften, zurückgelegt. Zwei Wochen haben sie dafür benötigt. Sie selbst sagen, es seien sieben Jahre gewesen, und dass sie keine Eile gehabt hätten, weil sie diese nicht kennen würden. Sie sagen, sie hätten gelernt zu warten und Widerstand zu leisten, denn dieser dauere nun schon 500 Jahre.
Ein wenig mehr als sieben Jahre ist der Aufstand der Zapatisten her, sieben Jahre auch, dass Zehntausende von Menschen den Zócalo füllten, um für einen Waffenstillstand und eine politische Lösung des Konflikts zu demonstrieren. Fast 200 000 Personen finden sich an diesem 11. März auf dem Hauptplatz der Stadt ein, um den Guerilleros zuzuhören und mit ihnen eine Verfassungsreform auf Grundlage der Beschlüsse von San Andrés zu fordern. Für ein Mexiko, in dem viele Mexikos Platz haben.

Die Reise beginnt

An jedem Ort, an dem die Zapatisten auf ihrer Reise halt machen, sind die Reaktionen unterschiedlich. Zum Teil begleitet ein Fanatismus wie bei den Backstreetboys die Rundreise. Subcomandante Marcos war es selbst, der vor kurzem sagte, er entwickele sich unfreiwillig zu einem „Ricky Martin der Armen“. Auf dieser Reise versucht er, dem ein wenig Abhilfe zu schaffen. In seinen Reden hält er sich kurz, seine Sprache ist meist konkret und schlicht.
Auf der anderen Seite ist die Unterstützung zahlreicher indigener Gemeinden und Organisationen immens. So zum Beispiel in Oaxaca, dem Nachbarstaat von Chiapas und der ersten Etappe der Reise. In der dort verlesenen Stellungnahme danken sie bewundernd der großen Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wurde und dem Kampfgeist der Compañeros. Der Öffentlichkeit erklären sie: „Wir wollen nicht in die Vergangenheit zurück. Aber wir wollen auch nicht in ihr weiterleben und weitersterben. Wir wollen die Wissenschaft und die Technik, aber nicht um die Erde und das gute Denken zu zerstören, sondern um beide besser und reicher zu machen. Wir wollen aus der Sklaverei heraus, in die uns der Mächtige zwingt, aber nicht, um ihm gleich zu werden, dumm also und pervers. Wir wollen in der Gegenwart leben und uns allen gemeinsam eine Zukunft aufbauen. Was wir aber nicht wollen, ist aufhören Indígenas zu sein…“

Das große Treffen der Indígena-Organisationen

Nach einer Woche treffen die Guerilleros in Michoacán ein, um am Nationalen Indígena Kongress (CNI) teilzunehmen und gemeinsam über die Anerkennung ihrer Rechte zu debattieren.
Zur selben Zeit übertragen fünf Fernsehkanäle ohne Werbepausen das vierstündige Megakonzert „für den Frieden“ in Mexiko-Stadt. Seit Wochen sammeln die Sender zusammen mit einigen Supermarktketten Unterschriften „für den Frieden“ und vertreiben grüne Schleifen zum Anstecken als „Erkennungszeichen für den Frieden“. Das Konzert ist der wichtigste Moment in der Medienkampagne, um den „Marsch der Würde“ für die Öffentlichkeit in einen „Marsch für den Frieden“ umzudeuten.
„Heute wollen sie uns zur Mode machen. Heute wollen sie aus uns ein Spektakel machen. Eine vorübergehende Nachricht. Heute wollen sie uns vergänglich, flüchtig, verwerflich vorhersehbar, entbehrlich machen“, so die Zapatisten zeitgleich auf dem CNI jenseits der Scheinwerfer.
Während die eine Seite des Konfliktes die öffentliche Meinung als den Ort der Politik versteht, begreift die Andere ihn als einen Ort des politischen Kampfes, aber als Einen unter vielen.
Die Abschlussrede des EZLN auf dem Kongress ertönt wie eine Legende: „Und so ist es, dass uns unsere ältesten Häuptlinge sagten: Es ist die Zeit des Wortes. Verwahre also die Machete, und schärfe die Hoffnung… Lerne mit dem Herzen zu sprechen, das in dem Anderen pocht. Sei klein gegenüber dem Schwachen und mach dich groß mit ihm. Sei groß gegenüber dem Mächtigen und willige nicht stumm ein in die Erniedrigung, die uns widerfährt.“

Weiter nach Guerrero

Einen Tag später, am vierten März setzen die Zapatisten den Marsch fort, der ab jetzt auch der Marsch des CNI ist. Und sie gelangen nach Guerrero, einem der ärmsten Bundesstaaten, wo in den siebziger Jahren bedeutende Guerillagruppen agierten, die samt ganzer Dörfer ausgelöscht wurden. Die Bauern haben Tagesreisen zu Fuß zurückgelegt, um den Zapatisten zuzuhören, ohne Verherrlichung, aber mit ernsthafter Aufmerksamkeit. Hier, wo die politische und militärische Repression mit am schlimmsten war und ist, formierten sich seit 1994 zwei neue Guerillagruppen. Die Erfüllung der drei Forderungen für die Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen (Räumung von Militärstützpunkten, Freilassung aller zapatistischen Gefangenen, Verfassungsreform auf Grundlage der Beschlüsse von San Andrés) sei die Möglichkeit, eine weitere Unterdrückung und Radikalisierung dieser bewaffneten Gruppen zu verhindern. Sie sei “die Tür für einen wahrhaftigen Dialog, ohne Militarisierung und politische Gefangene“, so die Zapatisten in Guerrero.
„Vicente Fox steht vor einer Herausforderung“, spricht der Subcomandante Marcos, „einer Herausforderung für die er eine Vision für den Staat braucht.” Aber nicht nur er, sondern auch die Legislative stehe vor dieser weitsichtigen Herausforderung, die beinhalte, „mit den Abgeordneten des Kongresses ernsthaft zu diskutieren und die höchste Bühne der Republik zur Verfügung zu stellen, damit sie alle miteinander reden und sich gegenseitig zuhören könnten.“

Einzug in die Hauptstadt

11. März: Der CNI und das EZLN erreichen den Zócalo der Hauptstadt. Die Versammlung wird bezeichnender Weise nicht im Fernsehen übertragen. Die Anwesenden hören die Namen der 52 indigenen Ethnien des Landes. In absoluter Stille lauschen sie den Guerilleros: „Hier sind wir und Spiegel sind wir. Nicht das Licht, sondern gerade einmal der Funken. Nicht der Weg, sondern gerade einmal ein paar Schritte. Nicht der Wegweiser, sondern lediglich ein paar Richtungen, die ins Morgen führen. Wir sind nicht gekommen, um dir zu sagen, was du machen sollst, auch nicht, um dir den Weg zu weisen. Wir sind gekommen, um dich bescheiden und respektvoll zu bitten, dass du uns hilfst. Dass du nicht zulässt, dass es Tag wird, ohne dass diese Fahne (die Nationalflagge) auch für uns einen würdigen Platz hat.“

Übersetzung: Anne Becker

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