GEWALT UND GESETZ: DOMINIKANISCHE REPUBLIK

Das Patriarchat wird fallen! Auf machistische Gewalt folgt feministischer Widerstand.

Illustration: Agustina Di Mario, @aguslapiba

Das größte Risiko für eine Frau, ermordet zu werden, ist die bloße Tatsache, eine zu sein.” Diese Aussage der dominikanischen Feministin Susi Pola spiegelt die erschreckende Realität von Gewalt an Frauen und Femiziden in Lateinamerika wider. Nach El Salvador (6,8 jährliche Femizide pro 100.000 Einwohner*innen) und Honduras (5,1) weist die Dominikanische Republik (1,9) eine der höchsten Gewaltraten an Frauen in Lateinamerika auf. Zwischen 2000 und 2006 wurden 1.068 Frauen getötet. Zwischen 2017 und Oktober 2019 waren es bereits 484. Laut Amnesty International nahm die Gewalt gegenüber Frauen in der Dominikanischen Republik allein in der zweiten Hälfte des Jahres 2017 im Vergleich zum Vorjahr um 21 Prozent zu. Knapp ein Drittel der Frauen sind zwischen 20 und 29 Jahre alt.

Die hohen Ziffern verdeutlichen, dass die dominikanische Regierung den Frauen nicht genügend Schutz vor Gewalt bietet, obwohl es Gesetze wie etwa das Gesetz Nr. 24-97 aus dem Jahr 1997 gibt, das Gewalt an Frauen bestrafen sollte. Auch hat die Dominikanische Republik das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) im Jahr 1982 unterzeichnet und ratifiziert.

Nach Angaben von UN Women gab es 2019 bereits in 144 Ländern Aktionspläne, die sich für eine Reduzierung geschlechtsspezifischer Gewalt einsetzen. Auch die Dominikanische Republik hat vor Jahren solch einen Aktionsplan implementiert. Es bleibt festzuhalten, dass Friedenspädagogik und toxische Männlichkeitskonzepte kaum bis gar kein Bestandteil der Gegenmaßnahmen sind, was nach theoretischen Ansätzen jedoch eine gute Möglichkeit wäre, um die bestehende Problematik rund um geschlechtsspezifische Gewalt und einem gesellschaftlichen Wandel zu thematisieren. Im Aktionsplan „Planeg III: Landesweiter Plan für Geschlechtergleichheit und -gleichberechtigung” (2019-2030) herrscht Einigkeit darüber, dass die dominikanische Regierung trotz einer hohen Anzahl von Initiativen, die sich für die Bekämpfung geschlechterspezifischer Gewalt einsetzen, versagt hat.

In der Hauptstadt Santo Domingo demonstrieren seit Jahren zahlreiche Menschen am 25. November, dem internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, für ein Ende geschlechtsspezifischer Gewalt. An diesem Tag wird an die Schwestern Mirabal zurückerinnert, die am 25. November 1960 im Auftrag des damaligen Diktators Rafael Trujillo Molina durch den militärischen Geheimdienst ermordet wurden. Der Fall wurde so bekannt, dass die Vereinten Nationen 1999 nach einem Treffen mit lateinamerikanischen Feminist*innen den 25. November offiziell als internationalen Tag gegen die Gewalt an Frauen einführten. Neben immer öfter stattfindenden Demonstrationen im Land sind einige dominikanische Feminist*innen Teil der Ni Una Menos-Bewegung, die sich gegen Femizide einsetzt.

GEWALT UND GESETZ: DEUTSCHLAND

Illustration: Valeria Araya, @onreivni

In Deutschland werden Feminizide noch nicht staatlich anerkannt. Bisher vermied es die Bundesregierung in Antworten auf zwei kleine Anfragen der Parteifraktion DIE LINKE, die Tötung von Frauen als strukturelles Problem einzuordnen und als Feminizide zu benennen. Gleichzeitig hat Deutschland den größten finanziellen Anteil an der Spotlight Initiative, einer Kooperation zwischen EU und Vereinten Nationen (UN) zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Afrika, Asien, der Karibik, Lateinamerika und der Pazifik-Region. Für den lateinamerikanischen Raum wird der Schwerpunkt auf die Beendigung von Femiziden gelegt. Wegen fehlender Daten fordert die UN-Sonderberichterstatterin zu Gewalt gegen Frauen Dubravka Šimonovic die Etablierung eines „Femicide Watch“ in allen Ländern, der Statistiken zu geschlechtsspezifischen Tötungen und ihrer juristische Verfolgung erfassen und analysieren soll.

Im Unterschied zu 25 anderen Ländern ist Deutschland dieser Forderung bisher nicht gefolgt. Zwar wurden internationale Konventionen ratifiziert und in nationales Recht umgewandelt, es herrscht jedoch noch großer Nachholbedarf. So bemängelt die CEDAW-Allianz, ein Zusammenschluss zivilgesellschaftlicher Gruppen, die Unterfinanzierung von Hilfsangeboten, den Mangel effektiver Schutzmaßnahmen und, dass der Zugang zu Beratungsstellen etwa für Migrant*innen und geflüchtete Frauen oft nicht gewährleistet sei. Eine auf Grundlage der Istanbul-Konvention umzusetzende Monitoring-Stelle gegen Gewalt an Frauen befindet sich erst seit Januar 2020 im Aufbau.

Juristisch werden Feminizide nicht gesondert betrachtet, sondern als Mord, Totschlag oder gefährliche Körperverletzung mit Todesfolge erfasst. Lena Foljanty und Ulrike Lembke analysierten in einer Studie von 2014 dabei einen rassistischen Bias in der Rechtsprechung: Von Mehrheitsdeutschen begangene Taten wurden meist als Partnerschaftsverbrechen und Totschlag verurteilt, die von Nichtmehrheitsdeutschen mehrheitlich als Mord („Ehrenmorde”).

Aussagekräftige Statistiken fehlen bislang. Seit 2011 erfasst die Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts die Beziehung zwischen Opfern und Täter*innen. Seit 2015 veröffentlicht die Stelle jährlich eine kriminalstatistische Auswertung zu Gewaltdelikten in Partnerschaften. 2018 gab es demnach 324 Fälle versuchter oder vollendeter Tötung an Frauen, 122 Frauen wurden von (Ex-)Partnern getötet – eine weitere Analyse bleibt aber aus.

Aktivist*innen kritisieren, dass Morde außerhalb von (Ex-)Partnerschaften in der Statistik außen vor bleiben. Zudem werden ermordete trans Frauen, die keine Personenstandsänderung vorgenommen haben, in der Statistik als männlich erfasst. Aktivistische Gruppen wie Feminicide Map, der Arbeitskreis Feministische Geographie oder das #KeineMehr-Dokumentationsprojekt haben deshalb angefangen, auf Grundlage von Presseberichten selbstständig Statistiken anzufertigen. Dort werden Feminizide vor allem dann skandalisiert, wenn rassistische Ressentiments bedient werden, etwa bei sogenannten Ehrenmorden. Privatisierende Begriffe wie „Beziehungsdrama“ oder „Familientragödie“ verschleiern häufig die strukturelle Dimension von Feminiziden.

Erst seit wenigen Jahren findet eine größere öffentliche Sensibilisierung für die strukturellen Ursachen von Feminiziden statt. Gruppen wie die 2017 gegründete Initiative #Keine Mehr mobilisieren gegen Feminizide und rücken das Thema auch in Deutschland in den Fokus.

GEWALT UND GESETZ: COSTA RICA

In Flammen Sie wollten uns verbrennen, aber wir sind zu Feuer geworden (Illustration: Mora Gala, @mora.gala)

Von Januar bis Oktober 2020 sind in Costa Rica 53 Frauen ermordet worden, elf davon zählen offiziell als Femizide und sechs als Morde. In 38 Fällen ist der Status bisher noch ungeklärt. Elf Frauen wurden allein im Juli getötet, der damit kritischste Monat der diesjährigen Bilanz. In Costa Rica ist laut Artikel 21 des Gesetzes zur Bestrafung von Gewalt an Frauen (Nr. 8589) ein Mord an einer Frau nur dann ein Femizid, wenn Täter und Opfer verheiratet sind oder eine eingetragene Lebensgemeinschaft bilden. Die Beobachtungsstelle für geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen dokumentiert seit 2007 auch Fälle des „erweiterten Femizids“, hierzu zählen auch Tötungsdelikte an Frauen, bei denen es keine romantische Beziehung oder Ehe zwischen Opfer und Täter gab. Im vergangenen Jahr wurden sieben solcher Fälle registriert. In Costa Rica gibt es keine gesonderte Statistik über Transfemizide.

Feministische Gruppen fordern die strikte Durchsetzung des Strafgesetzes und die schnelle Aufklärung der Fälle. Sie beklagen, dass Urteile oft aufgrund fadenscheiniger Begründungen milder ausfallen oder zurückgenommen werden.

Diese Forderungen und die Wut über die Brutalität der Fälle sexualisierter Gewalt werden vor allem auf Demonstrationen zum Ausdruck gebracht. So auch im Fall der 18-Jährigen Allison Bonilla, die im März 2020 verschwand. Sie war von einem Nachbarn sexuell missbraucht und ermordet worden. Der Täter bekannte sich im September schuldig. Daraufhin gingen tausende Frauen und Unterstützer*innen auf die Straße. Der vermeintliche Täter zog wenige Tage später seine Aussage zurück und behauptet seitdem, er sei unschuldig. Ende September wurden die menschlichen Überreste Allison Bonillas gefunden, der Fall ist bisher noch nicht abgeschlossen.

Trotz Ausgangssperren gibt es auch während der Covid-19-Pandemie virtuelle und physische Demonstrationen von feministischen Organisationen. Gruppen wie Ni Una Menos Costa Rica oder Transvida haben Hilfe-Hotlines eingerichtet, die sie rund um die Uhr betreuen und bei denen betroffene Frauen Gewalttaten anzeigen können.

GEWALT UND GESETZ: CHILE

Mutig kämpfen Sie haben uns so viel weggenommen, dass sie uns auch unsere Angst genommen haben (Illustration: Magda Castría, @magdacastria)

Bis Anfang Oktober hat es im Jahr 2020 nach Angaben des Ministeriums für Frauen und Gleichstellung der Geschlechter in Chile 29 Feminizide und 102 versuchte Feminizide gegeben. Das Ministerium gibt jedes Jahr eine Liste mit Namen der Opfer von Feminiziden heraus, im vergangenen Jahr 46 Fälle. Diesen Angaben gegenüber stehen die Statistiken des chilenischen Netzwerkes gegen Gewalt an Frauen, die für den gleichen Zeitraum 2020 schon 38 Feminizide im Land zählen, im vergangenen Jahr 63. Die seit 30 Jahren aktive Organisation dokumentiert jeden Fall detailliert und betont die politisch-strukturelle Dimension von Feminiziden sowie die Verstrickung von sexualisierter und rassistischer Gewalt in Chile. Das Netzwerk zählt neben Feminiziden auch Fälle von sogenannten suicidios femicidas, also Suizide von Frauen, nachdem sie Gewalt erfahren haben. Transfeminizide werden an keiner dieser Stellen dokumentiert.

Der Tatbestand Femizid ist im chilenischen Recht seit 2010 mit dem Gesetz 20.480 als Mord an Frauen durch den Ehemann oder Partner etabliert. Zehn Jahre lang kritisierten feministische Bewegungen, dass dies andere Gewaltkontexte als den familiären völlig ausblenden würde. Im März dieses Jahres fand dann mit dem Gesetz Gabriela eine Erweiterung statt: Seitdem beschreibt der Tatbestand Femizid alle Tötungsdelikte an Frauen, die aus Hass-, Verachtungs- oder Missbrauchsmotiven in Bezug auf das Geschlecht geschehen. Hierfür können Gefängnisstrafen von 15 Jahren und einem Tag bis lebenslänglich verhängt werden. So fortschrittlich die Rechtslage sich auch gestaltet: In weiten Teilen der chilenischen Gesellschaft wird Gewalt an Frauen noch immer nicht klar verurteilt. Dazu zählt auch Präsident Sebastián Piñera: Als er das neue Gesetz vorstellte, betonte er ausdrücklich, dass es bei sexualisierter Gewalt nicht immer nur um den Willen von Männern ginge, sondern auch am Willen der Frauen, missbraucht zu werden. Organisationen wie das Netzwerk gegen Gewalt an Frauen betonen daher, dass neben der entsprechenden Gesetzgebung auch in Sachen Aufklärungs- und Präventionsarbeit Fortschritte nötig seien. Denn die Zahl der Feminizide bleibt auch mit den neuen Gesetzen konstant.

Ein Fall, der die mangelnde Durchsetzung der bestehenden Gesetze offenbart, ist der von Ámbar Cornejo. Im August 2020 wurde die 16-Jährige von ihrem Stiefvater ermordet. Der Täter war erst 2016 aus dem Gefängnis freigekommen, wo er nach elf von 27 Haftjahren für den Feminizid an seiner damaligen Partnerin und deren Sohn frühzeitig entlassen worden war. Gegen ihn galt außerdem eine einstweilige Verfügung, sich von Ámbar fernzuhalten. Nach deren Tod sitzt er nun erneut in Untersuchungshaft. Auch seine Partnerin, Ámbar Cornejos Mutter, wurde Anfang Oktober in Untersuchungshaft genommen und wird beschuldigt, an der Tat beteiligt gewesen zu sein.

Die feministische Bewegung im Land gilt als stark und wachsend. Und sie hat mit den breiten gesellschaftlichen Protesten seit November 2019 neuen Aufwind erhalten. So brachte der Internationale Frauentag im März 2020 zwei Millionen Frauen und Queers auf die Straßen der Hauptstadt Santiago. Zu den wichtigsten feministischen Gruppen gehört die Coordinadora 8M mit ihren landesweiten und regionalen Gruppen. Dazu kommen unzählige feministische asambleas (Nachbarschaftsversammlungen) im ganzen Land. Gegen Gewalt an Frauen engagieren sich unter anderem der Verein feministischer Anwältinnen (ABOFEM) und das chilenische Netzwerk gegen Gewalt an Frauen. Einen symbolischen Erfolg konnte die feministische Bewegung im Oktober verbuchen: Der Senat verabschiedete einstimmig ein Gesetz, nach dem der 19. Dezember in Zukunft landesweiter Gedenktag gegen Femizide wird.

GEWALT UND GESETZ: BRASILIEN

Schluss mit der Diskriminierung! Für ein Leben ohne Lesbophobie (Illustration: Producciones y Milagros, @produccionesymilagros)

In der durch ein extrem ungleiches Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen geprägten brasilianischen Gesellschaft wurde die Unterdrückung von Frauen lange Zeit unsichtbar gemacht, naturalisiert und gesellschaftlich toleriert. Durchschnittlich wird in Brasilien alle sieben Stunden eine Frau Opfer eines Feminizids. Im internationalen Vergleich ist Brasilien somit weltweit eines der Länder mit der höchsten Feminizidrate und das Land mit den meisten Morden an trans Personen.

Am 9. März 2015 wurde in Brasilien das Gesetz Nr. 13.104 ins Strafgesetzbuch aufgenommen. Es bestimmt die Merkmale, die ein Tötungsdelikt zum Feminizid machen, wie folgt: häusliche und innerfamiliäre Gewalt, Verachtung oder Diskriminierung der Frau. Es stuft den Feminizid als eine niederträchtige Tat ein, was wiederum eine Erhöhung der Strafe zur Folge hat. Eine ebenfalls wichtige Folge des Gesetzes ist, dass durch die Typisierung von Feminiziden in der Gesetzgebung allgemein eine größere gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf diese Art von Verbrechen gelenkt wird. Außerdem wird ein genaueres Verständnis seiner Dimension geschaffen, um eine Verbesserung der Politik zur Eindämmung von Gewalt gegen Frauen zu erreichen.

In Brasilien kommt es häufig zu Feminiziden, bei denen die Opfer von ihren Partnern oder Ex-Partnern im eigenen Zuhause ermordet werden. Diese Straftaten werden in der Gesellschaft, der Presse und sogar in der Justiz oft als isolierte Handlungen dargestellt, welche in unkontrollierten, intensiv emotionalen Momenten erfolgen würden. Zur Beschreibung der Morde finden sich in den Medien immer wieder Adjektive wie „eifersüchtig“, „unkontrolliert“ oder sogar „leidenschaftlich“, welche Feminizide als „Mord aus Liebe“ charakterisieren sollen. Die Typisierung solcher Verbrechen als Feminizid ist daher von großer Bedeutung. Denn auch häusliche und familiäre Gewalt ist kein privates, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem, das in dem strukturellen Machismo wurzelt, der tief in der brasilianischen Gesellschaft verankert ist.

Das 2006 in Brasilien erlassene Gesetz Maria da Penha (Nr. 11.340) soll Frauen genau vor dieser Art von Gewalt schützen, indem es unter anderem Kontakt- und Zutrittsverbote für Gewalttäter und verschiedene Formen der Unterstützung fördert. Dazu gehören auch auf häusliche Gewalt spezialisierte Polizeiwachen und Gerichte sowie die Einrichtung von Frauenhäusern. Das Gesetz wurde nach Maria da Penha benannt, einer Frau, die selbst sechs Jahre lang von ihrem Ehemann brutal misshandelt wurde, der zwei Mordversuche an ihr verübte, die sie querschnittsgelähmt zurückließen. Der Prozess wurde von der brasilianischen Justiz 18 Jahre lang verschleppt. Doch Maria da Penha setzte sich beharrlich für ihre Rechte ein: Nach einem langen zähen Kampf konnte sie letztendlich erreichen, dass ihr Ex-Mann zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde.

GEWALT UND GESETZ: BOLIVIEN

Selbstbewusst und selbtbestimmt In einer Welt, die uns zur Scham erzieht, ist der Stolz eine politische Antwort (llustration: Pilar Emitxin, @emitxin)

Seit 2013, als Feminizid als juristisches Werkzeug in Bolivien eingeführt wurde, wurden 678 Frauenmorde offiziell registriert – es muss jedoch davon ausgegangen werden, dass die wahre Zahl weitaus höher liegt. Im Jahr 2019 gab es 117 Feminizide, 2018 waren es 128. Das Land steht damit im lateinamerikanischen Vergleich an fünfter Stelle.

Das Gesetz Nr. 348 aus dem Jahr 2013 definiert unter dem Titel Integrales Gesetz, um Frauen ein Leben ohne Gewalt zu garantieren, 16 verschiedene Formen von Gewalt an Frauen, darunter auch erstmals explizit Feminizid mit einer Höchststrafe von 30 Jahren Gefängnis. Das Gesetz wurde als Meilenstein gefeiert. Es ist dem unermüdlichen Bemühen der bolivianischen Feminist*innen zu verdanken, dass das Gesetz nach sechsjähriger Debatte verabschiedet wurde und dass Gewalt an Frauen als solche definiert wird. Sowohl auf landesweiter als auch städtischer Ebene wurden spezifische Instanzen geschaffen, die im Kampf gegen die Gewalt an Frauen sowohl Prävention als auch Betreuung für Gewaltopfer bieten sollen.

Der Zugang zum Justizsystem ist jedoch sowohl im urbanen als auch im ländlichen Raum sehr schwierig. Von den 113.269 Strafanzeigen wegen Gewalt an Frauen, bei denen das Gesetz Nr. 348 zur Anwendung kam, und die in den Jahren 2015 bis 2018 registriert wurden, führten lediglich 1.284, also 1,13 Prozent zu einer Verurteilung des Straftäters. Die Straflosigkeit von mehr als 98 Prozent der Straftaten ist erschreckend.

Die Gesetzeslage ist zwar im internationalen Vergleich vorbildlich, ihre Umsetzung ist jedoch sehr kritikwürdig. Zahlreiche Studien belegen die Mängel sowohl auf individueller als auch systematischer Ebene. Die Interpretation der Fälle hängt von der persönlichen Einschätzung der Richter*innen, politischen und finanziellen Einflüssen, Sensibilisierung hinsichtlich der Problematik und vielen weiteren Faktoren ab.

Angesichts eines weit verbreiteten Misstrauens und der Korruption im Justizsystem ist die Orientierung und Unterstützung von Frau zu Frau ein wirksames Mittel, um aus einem gewalttätigen Umfeld auszubrechen. Eine wirksame Strategie des Widerstands ist der medienwirksame Einfluss feministischer Gruppen und Netzwerke, die vor allem das patriarchale Justizsystem anprangern, welches den Opfern den Zugang zu Gerechtigkeit systematisch verweigert. Frauenmorde sind lediglich die Spitze des Eisberges – die machistische Kultur und das patriarchale System durchdringen die bolivianische Gesellschaft bis in die Wurzeln. Dekolonisierung und Abschaffung des Patriarchats sind große Schlagwörter sowohl unter den feministischen Organisationen als auch in der politischen Debatte. Die Übergangsregierung erklärte 2020 als Jahr des Kampfes gegen die Gewalt an Frauen und Kindern, doch fehlt es von Seiten der Politik – egal welcher Partei, auch der nun wiedergewählten Bewegung zum Sozialismus (MAS) – an Substanz und echtem Kompromiss, um die feministische Agenda in die Tat umzusetzen.

GEWALT UND GESETZ: ARGENTINIEN

Illustration: Paulyna Ardilla, @paulyna_ardila

Im Jahr 2012 wurde der Femizid in Argentinien als erschwerender Straftatbestand zum Mord eingeführt, der die Haftstrafe auf lebenslänglich erhöht. Vor dem Gesetzesprojekt hatten einige gravierende Fälle Schlagzeilen gemacht. So auch der Mord an Wanda Taddei, die 2010 von ihrem Ehemann, dem damaligen Schlagzeuger der bekannten Band Callejeros, verbrannt wurde. In einem ersten Urteil wurde ihm wegen des Umstands der sogenannten emoción violenta („aufbrausendes Gemüt“) Strafmilderung zuteil, die aber in einem zweiten Verfahren aufgehoben wurde.

Unter anderem die Möglichkeit einer solchen Strafmilderung wurde nach der Gesetzesänderung von 2012 in Zusammenhang mit Femiziden gestrichen. Dennoch wurden die Täter in den ersten drei Jahren des Gesetzes nur in 6,3 Prozent der Fälle verurteilt. Schon zuvor hatte es Kritik an der mangelhaften Umsetzung des Gesetzes 26.485 zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen aus dem Jahr 2009 gegeben: So fehlten Gelder und Frauenhäuser, die Abstimmung der verantwortlichen Behörden zur Einhaltung der Schutzmaßnahmen für Betroffene sexualisierter Gewalt funktionierte nur unzureichend.

Da es bis dato keine öffentlichen Statistiken zu Fallzahlen von Femiziden gab, wurden diese ab 2008 von nichtstaatlichen Organisationen wie La Casa del Encuentro erhoben. Angesichts der anhaltenden Gewalt gegen Frauen entstand die feministische Bewegung Ni Una Menos und organisierte am 3. Juni 2015 die ersten Massendemonstrationen in verschiedenen Städten. Seitdem haben sich auf der ganzen Welt Ableger der Bewegung gebildet. In Argentinien erreichten die Proteste unter anderem, dass der Oberste Gerichtshof öffentliche Statistiken zu Fallzahlen von Femiziden anlegt. Für das Jahr 2019 zählte dieser 327 Fälle – fast alle 27 Stunden wurde eine Frau aufgrund ihres Geschlechts ermordet. Es wird angenommen, dass die tatsächliche Zahl noch höher liegt, da nicht alle Femizide rechtlich auch als solche klassifiziert werden.

Nachdem im Jahr 2016 drei Männer die 16-Jährige Lucía Pérez zu Tode vergewaltigten, wurde zum ersten Mal zu einem landesweiten Frauenstreik aufgerufen, der sich nun als Instrument des feministischen Widerstands etabliert hat. Dass die Angeklagten im Fall Lucía in einem Urteil von 2018 voller stereotyper machistischer Vorurteile von der Anklage des Femizids freigesprochen wurden, hat die patriarchalen Strukturen des Justizsystems einmal mehr offenbart. Die mediale Empörung auf das Urteil führte auch zur ausstehenden Verabschiedung des Gesetzes Micaela, das verpflichtende Schulungen für Staatsangestellte auf allen Ebenen vorsieht, um diese in Sachen Gender und geschlechtsspezifischer Gewalt zu sensibilisieren. Der Freispruch im Fall Lucía wurde auf den Druck der Bewegung im August 2020 revidiert, der Fall wird nun neu aufgerollt.

„AUSLÄNDISCHE AGENTEN“ MIT MAULKORB

Mit den Stimmen der Mehrheitsfraktion der FSLN (Sandinistische Nationale Befreiungsfront) verabschiedete die nicaraguanische Nationalversammlung am 15. Oktober 2020 das „Gesetz zur Regulierung ausländischer Agenten“. Dieses verlangt, dass sich alle nicaraguanischen Personen, Organisationen oder Unternehmen, die in irgendeiner Weise mit ausländischen Geldern in Berührung kommen, in einer von der Regierung geführten Liste als „ausländische Agenten“ registrieren müssen. Wer dies nicht tut, riskiert harte Strafen.

Ein besonders repressives und undemokratisches Detail dieser Regelung ist, dass „ausländische Agenten“ keine öffentlichen Ämter bekleiden und nicht im öffentlichen Dienst arbeiten dürfen. So wird die Bevölkerung in zwei Gruppen gespalten: Die Anhänger*innen der Regierung mit vollen staatsbürgerlichen Rechten auf der einen Seite und möglicherweise regierungskritische Menschen, deren verfassungsmäßig garantierte Rechte massiv eingeschränkt werden, weil ihre Projekte aus dem Ausland unterstützt werden, auf der anderen.

Ab sofort dürfen Organisationen wie Brot für die Welt, die zum Beispiel Trinkwasserprojekte in ländlichen Gemeinden in Nicaragua unterstützen, keine finanziellen Transaktionen durchführen, bis sich alle Mitarbeiter*innen als „ausländische Agenten“ registriert haben. Sie dürfen keine Gehälter auszahlen, keine Materialien kaufen und keine Rechnungen bezahlen. Auch die Bank, bei der sie ihre Konten besitzen, muss sich als „ausländischer Agent“ registrieren lassen. Selbst die Angestellten der Bank, die die entsprechenden Konten betreuen und die Organisationen finanziell beraten, müssen sich in die Liste der „ausländischen Agenten“ eintragen. Außerdem werden alle aus dem Ausland unterstützten Projekte dazu verpflichtet, sämtliche Tätigkeiten und Finanzen den nicaraguanischen Behörden vierwöchentlich zur Genehmigung vorzulegen. Diese Vorschrift kann angesichts der völlig verbürokratisierten Staatsverwaltung Nicaraguas gar nicht erfüllt werden. Die nicaraguanische Menschenrechtskommission CENIDH erklärte, dass die Regierung durch dieses Gesetz eine „totalitäre Kontrolle“ über alle Staatsbürger*innen, über die Kommunikationsmedien sowie die Organisationen der Zivilgesellschaft ausüben werde.

Gemeinnützige Organisationen werden auf die gleiche Stufe mit der organisierten Kriminalität gestellt

Das „Gesetz zur Regulierung ausländischer Agenten“ ist in weiten Teilen die Kopie eines Gesetzes, das 2012 unter Putin in Russland in Kraft gesetzt wurde. Auch dieses sieht vor, dass sich alle Nichtregierungsorganisationen, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten, als „ausländische Agenten“ registrieren lassen müssen. Die Regierung Ortega rechtfertigt die Gesetzgebung damit, dass so die Einmischung ausländischer Institutionen oder Personen in die inneren Angelegenheiten Nicaraguas unterbunden werde: So werden ausländische Regierungen und Unternehmen, Geheimdienste, Terrorist*innen, Stiftungen, Aktivitäten der Geldwäsche und des Waffenhandels sowie gemeinnützige Solidaritätsorganisationen auf die gleiche Stufe gestellt. In der Praxis kann damit jede unabhängige Regung der Bevölkerung staatlich erfasst, kontrolliert und verhindert werden.

Im Sekretariat der Internationalen Nichtregierungsorganisationen (SONGI) sind 32 Organisationen zusammengeschlossen, die sich seit mehr als 30 Jahren solidarisch für die Entwicklung Nicaraguas einsetzen. Diese Organisationen haben in den vergangenen Jahren Solidaritätsprojekte mit jährlich etwa 25,5 Millionen Dollar unterstützt, die rund 550.000 Menschen – bis in die entlegensten Winkel des Landes hinein – zugute gekommen sind. SONGI drückt in einem offenen Brief an die Regierung Nicaraguas seine Befürchtung aus, dass das Gesetz „diese solidarischen Aktivitäten paralysieren könnte“, weil es unmöglich sei, alle vorgesehenen Vorschriften in die Praxis umzusetzen. Ohne diplomatische Floskeln heißt dies, dass dieses Gesetz einen Frontalangriff auf alle gemeinnützigen Projekte darstellt, die von internationalen Nichtregierungsorganisationen unterstützt werden.

Die Gesetze stellen eine allumfassende Bedrohung für jegliche Äußerung oder Aktivität der Bevölkerung dar

Bereits zuvor, am 24. September, hatte Ortega den Präsidentenerlass zur „Cyber-Sicherheit“ verkündet, der die Verbreitung unerwünschter Äußerungen über das Internet verbieten soll. Dieser Erlass verpflichtet das dafür zuständige Außenministerium und die Telekommunikationsbehörde TELCOR, hierzu einen Gesetzesentwurf zu erarbeiten. Am 28. September brachten die Abgeordneten der FSLN eine entsprechende Initiative ins Parlament ein, welche die Verbreitung regierungskritischer Meinungen, Nachrichten oder Karikaturen über Facebook, E-Mail, Twitter, Instagram, WhatsApp, Nachrichtenportale, private Internetseiten oder sonstige elektronische Medien unter Strafe stellt. Das von Kritiker*innen als Knebelgesetz bezeichnete Gesetz wurde am 27. Oktober mit der sandinistischen Parlamentsmehrheit verabschiedet.

Schon am 15. September hatte Ortega den Obersten Gerichtshof Nicaraguas dazu aufgefordert, durch eine Verfassungsänderung ein „Gesetz gegen den Hass“ vorzubereiten, das die bisherige Höchststrafe von 30 Jahren auf lebenslange Haft ausdehnt. Als Begründung dient die brutale Vergewaltigung und Ermordung von zwei zehn und zwölf Jahre alten Mädchen. Aber es scheint, dass Ortega die neue Höchststrafe vor allem auf die politische Opposition anwenden will. In seiner Rede zum Unabhängigkeitstag am 15. September bezeichnete er die Opposition als „Kriminelle“, „Terroristen“ und „Söhne des Teufels“, die mit „dauerhafter Haft“ für „ihre Hassverbrechen bestraft“ werden müssten.

Alle drei Gesetze stellen allein wegen der Fülle der durch sie erfassten Vergehen und Verbrechen eine allumfassende Bedrohung für jegliche Äußerung oder Aktivität der gesamten Bevölkerung dar. Laut Menschenrechtsorganisationen erleichtern sie durch ihre schwammigen Formulierungen staatliche Willkür und sollen der bereits praktizierten Repression eine legale Basis verleihen. Angesichts der für November 2021 vorgesehenen Wahlen solle der internationalen Öffentlichkeit vorgegaukelt werden, dass in Nicaragua ein Rechtsstaat herrsche. In ihrem Kern haben die Gesetze jedoch das Ziel, die oppositionellen Kräfte einzuschüchtern, sie zur Selbstzensur zu zwingen und sich durch die Registrierung als „ausländische Agenten“ selbst zu kriminalisieren. Die angekündigten Strafen sind sehr ernste Drohungen, die von Geldstrafen über Konfiskationen von Privateigentum bis zu lebenslanger Haft reichen.

GEWALT UND GESETZ

Feministische Awareness Nicht die Polizei, sondern meine Freund*innen beschützen mich (Illustration: Pilar Emitxin, @emitxin)

Als feministische Bewegung, die global denkt und lokal agiert, lernen wir auch von den feministischen Erfahrungen und Kämpfen jenseits unserer eigenen Kontexte. Um Gerechtigkeit für Verbrechen gegen Frauen und Queers einzufordern, kommen wir nicht umhin, auch die Gesetzeslage in den Blick zu nehmen. So unterschiedlich die Gesetze zu sexualisierter Gewalt, Gewaltschutz und Feminiziden auch sind, findet man in lateinamerikanischen Länder oft progressive Gesetzgebungen. In Deutschland zeichnet sich zunehmend eine Debatte über Feminizide ab, die auch auf juristischer Ebene geführt wird. Mit der folgenden Übersicht wollen wir einen Beitrag dazu leisten, feministische Perspektiven auf Feminizide zu stärken.

Im Folgenden findet ihr eine Einführung zu Gesetzen, Urteilen und Statistiken, die den juristischen Umgang mit sexualisierter Gewalt, insbesondere Feminiziden, in lateinamerikanischen Ländern dokumentiert. Diese Übersicht kann nicht komplett sein, gibt aber die nötigen Anhaltspunkte zu involvierten Institutionen und Organisationen, um weiter zu recherchieren. Die schlechte Informationslage und unvollständigen Daten legen offen, dass oft keine systematischen Erhebungen hinsichtlich sexualisierter Gewalt existieren und bislang kein offizielles Interesse daran besteht, dies zu ändern.

Häufig ist es die mühsame Arbeit feministischer Kollektive, durch die überhaupt Statistiken öffentlich werden, auch wenn die reellen Zahlen vermutlich noch weit höher liegen. Dafür werden häufig Meldungen und Presseberichte systematisch ausgewertet. Welche Opfer es jedoch überhaupt in die Medien „schaffen“, hängt allzu oft von rassistischen und klassistischen Kriterien wie Wohnort, Familienstand, Beruf oder Hautfarbe ab.

Die Dokumentation von Gewaltverbrechen ist zu einer politischen Praxis geworden. Wenn die Gewalt derart in den Alltag eindringt und kaum Hoffnung auf Gerechtigkeit besteht, wie es die Artikel in diesem Dossier eindrücklich darlegen, wird die Dokumentation zu einem politischen Instrument, das das Ausmaß der Gewalt sichtbar macht.

Die Gesetze einiger Länder Lateinamerikas lassen (mittlerweile) die Kategorie „Gender“ oder „Genderzugehörigkeit“ als spezifisches Tatmotiv für Mord zu. Dies lässt ein Bewusstsein für die Systematik des Verbrechens erkennen, die sich nicht nur gegen Frauen, sondern auch gegen Queers richtet. Im Falle Kolumbiens und Chiles wird hierbei von binären und biologistischen Auffassungen Abstand genommen, oft bildet jedoch der Umgang mit sexualisierter Gewalt jenseits binärer Geschlechterkategorien noch eine große Leerstelle.

Fast immer veränderten sich die Gesetzgebungen auf Druck der Bewegung. Auch wenn die Interamerikanische Konvention über Prävention, Bestrafung und Beseitigung von Gewalt gegen Frauen 1994 im brasilianischen Belém do Pará von allen lateinamerikanischen und karibischen Staaten unterzeichnet wurde, sind die zentralen Errungenschaften auf feministische Kämpfe zurückzuführen. Meist muss erst eine besonders brutale Mordserie die nötige mediale Öffentlichkeit erzeugen, um ein Handlungsfenster zu öffnen. Nur so können Forderungen, die seit Jahren gestellt werden, für einen kurzen Moment die notwendigen politischen Mehrheiten erhalten, um zu Gesetzen zu werden. Was aber nützen Gesetze, wenn sie nicht angewendet werden?

In der folgenden Übersicht ist zu erkennen, dass die übergreifende Kritik an der Gesetzeslage die mangelnde Umsetzung ist. Denn Feminizide bleiben in den allermeisten Fällen straffrei. Dies verdeutlicht, dass Gerechtigkeit nicht von oben kommt, sondern auch von unten erkämpft werden muss. Die juristische Verankerung ermöglicht es jedoch, einen Bezugspunkt zu schaffen, um Maßnahmen gegen femizidale Gewalt auf allen Ebenen der Gesellschaft zu fordern. Ein gutes Gesetz gegen Feminizide kann dabei nur wenig ausrichten, wenn die so notwendige Sensibilisierung der Behörden und Entscheidungsträger*innen ausbleibt und patriarchale und misogyne Strukturen weiter die gesamte Gesellschaft und ihre Institutionen durchziehen. Forderungen richten sich daher nicht nur an den Staat, sondern auch an die Gesellschaft.

 

LÄNDERÜBERSICHT

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Costa Rica

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Dominikanische Republik

Ecuador

El Salvador

Guatemala

Honduras

Kolumbien

Kuba

Mexiko

Nicaragua

Panama

Peru

Uruguay

Venezuela

DAS SAUBERE WASSER BLEIBT UNVERHANDELBAR

Jubelnde Demonstrant*innen Gesetz 7722 gerettet (Foto: Martin Magallanes)

Einen Tag vor Weihnachten bescherte der neue Gouverneur von Mendoza, Rodolfo Suárez, der Bergbaulobby ein verfrühtes Geschenk: Ein neues Gesetz mit der Nummer 9209, das das bestehende Verbot von Blau- und Schwefelsäure, Quecksilber und weiteren Verbindungen im Metallabbau aufheben sollte. Das Verbot war seit 2007 im Gesetz 7722 geregelt. Dass dieses unter Druck geraten könnte, hatte sich bereits mit dem Wahlsieg von Suárez im September 2019 angekündigt. Der Politiker der sozialliberalen Partei UCR, der sich mit der Koalition Cambia Mendoza dem Block des damaligen Präsidenten Mauricio Macri angeschlossen hatte, forderte schon im Wahlkampf den Ausbau des Bergbaus. Seine Provinzregierung stellt die Liberalisierung der Regelungen als Chance auf Wirtschaftswachstum und eine diversifizierte Wirtschaft dar. Ein Bericht, der auf Rechnungen der Kammer der Bergbauunternehmer*innen von Mendoza beruht, prognostizierte mehrere zehntausend neue Arbeitsplätze in der Region. Auch würden im durch die Chemikaliennutzung intensivierten Bergbau bis zu 213 Millionen US-Dollar an Steuereinkünften für die Provinz entstehen.

Kritiker*innen der Maßnahme hingegen befürchteten die Verschmutzung der ohnehin knappen Wasservorräte der Provinz. Neben Gefahren für die Gesundheit der ansässigen Bevölkerung hätte die Verschmutzung auch verheerende Folgen für die lokale Wirtschaft: In der semi-ariden Region werden 80 Prozent des argentinischen Weines gekeltert. Seit beinahe zwölf Jahren besteht jedoch Wassernotstand. Bereits im Oktober 2019 warnte der Generalaufsichtsbeamte für Bewässerung, Sergio Marinelli, vor einer weiteren Verschlechterung der Lage. Bereits jetzt befände man sich unter dem durchschnittlichen Wasserpegel der letzten Jahre, für 2020 seien noch einmal 11 Prozent weniger prognostiziert. „Dies ist die neue Normalität. Der Klimawandel […]. Wir sind mit dieser Realität viele Jahre voraus und es könnte noch schlimmer werden“, sagte er in einem Fernsehinterview. Auch den Gletschern der Andenprovinz macht die anhaltende Dürre zu schaffen. Einer Studie des argentinischen Instituts für Schnee- und Gletscherforschung zufolge sind sie seit 2001 um sechs Meter zurückgegangen.

Kilometerlange Protestkarawane nach Mendoza

Die Regierung hatte zwar begleitende Maßnahmen angekündigt, etwa die Schaffung einer Umweltpolizei und die Qualitätssicherung durch internationale Prüfer*innen. Allerdings ist das Vertrauen in den Umweltschutz oder internationale Firmen aus gutem Grund nicht gerade hoch: Im September 2015 war es in der Mine Veladero in der Provinz San Juan, betrieben von der kanadischen Firma Barrick Gold, zum bisher größten Unfall im argentinischen Bergbau gekommen. Über eine Millionen Liter einer Lösung mit Blausäure und Schwermetallen verseuchte damals den Fluss Potrerillos. Die Mine, die nahe eines Biosphärenreservats liegt, ist heute wieder in Betrieb. Die Gefahren des Bergbaus sind also hinreichend bekannt.

Daher hat die Region eine lange Protestgeschichte: Das Wasserschutzgesetz von 2007 „[…] wurde auf der Straße geboren“, schrieb der argentinische UNESCO-Botschafter Pino Solanas im Dezember auf Twitter. Umweltschützer*innen, die sich in den Versammlungen in Mendoza für sauberes Wasser (AMPAP) organisieren, waren 2007 Wegbereiter*innen des Gesetzes 7722 gewesen. Auch wendeten sie sich gegen das 2018 legalisierte Fracking und jegliche Angriffe auf das Gesetz in den letzten Jahren.

Als mit Suárez ein erklärter Bergbauunterstützer zum Gouverneur gewählt wurde, waren die Umweltschützer*innen der Asamblea Popular por el Agua („Volksversammlung für das Wasser“) in Mendoza alarmiert. Seit den ersten Sitzungen der gesetzgebenden Organe nach dem seinem Amtsantritt am 9. Dezember mobilisierten sie zum Protest. Neben Umweltorganisationen und der Bevölkerung beteiligten sich auch die Weinbäuerinnen und -bauern der Region, die um ihre Zukunft fürchteten. Die Weinköniginnen der Provinz kündigten an, die Weinfeste zur Traubenlese im März zu bestreiken.

Ein Warnsignal für die Zentralregierung

Zu den größten Protesten kam es am 23. Dezember, drei Tage nachdem beide Kammern des Provinzparlaments das Gesetz mit großer Mehrheit  durchgewunken hatten. Aus dem 100 Kilometer südlich gelegenen San Carlos machte sich bereits am Vortag eine auf mehrere Kilometer Länge anwachsende Karawane in die Provinzhauptstadt auf. In mehreren Städten wurden die Zufahrtsstraßen nach Mendoza blockiert. „Mehr als 50.000 Menschen schlossen sich dieser Bewegung an“ sagte „Guni“ Cañas, Aktivistin bei den AMPAP im Interview mit der Online-Zeitschrift Almagro, „die Menschen haben sich sehr beteiligt gefühlt“. In Mendoza forderten sie den Gouverneur auf, das Gesetz per Veto aufzuhalten. Vor dem Regierungssitz kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei, die Tränengas und Gummigeschosse gegen die Demonstrant*innen einsetzte. In den sozialen Netzwerken wurden die Aktionen in Mendoza mit den Hashtags #ElAguaDeMendozaNoSeNegocia („das Wasser von Mendoza ist unverhandelbar“) und #La7722NoSeToca („Das [Gesetz] 7722 wird nicht angerührt“) aufgegriffen und erreichten internationale Aufmerksamkeit sowie prominente Unterstützung, etwa durch den puerto-ricanischen Rapper Residente. Als auch in den folgenden Tagen weiter mobilisiert wurde, sah sich Gouverneur Suárez letztlich zum Einlenken gezwungen. „Dieses Gesetz mag legal sein, aber es hat nicht die Legitimierung der Bevölkerung“, sagte er in einer Pressekonferenz am 27. Dezember. Drei Tage später nahmen auch das Regionalparlament und der Senat das Gesetz zurück.

„Die Verhinderung der Änderung des Gesetzes 7722 ist ein Triumph aller Menschen, die sich auf der Straße organisiert haben. Wir erkennen uns wieder in jedem Gesicht, in jeder Umarmung, in jedem Lächeln, in jedem Beitrag, der in diesen Tagen geleistet wurde“, feierte die Asamblea Popular por el Agua in einer Stellungnahme den Erfolg. Allerdings verwies sie auch auf ungelöste Fragen und die Notwendigkeit eines Dialoges, etwa über ein Frackingverbot und den Umgang mit dem Klimawandel.

Für die am 10. Dezember angetretene Zentralregierung sollte der massive Widerstand der Bevölkerung ein Warnsignal gewesen sein. Argentiniens neuer Präsident Alberto Fernández hatte Suárez‘ Projekt dezidiert unterstützt. Einhellig mit der Opposition planen er und Wirtschaftsminister Martín Guzman gegen die kriselnde argentinische Wirtschaft die Fortführung eines extraktivistischen Modells, welches auf Ausbeutung und Export von Primärgütern setzt. Das sind neben Gold, Silber und anderen Mineralien in den Andenregionen auch die Öl- und Gasvorkommen Patagoniens sowie der umfangreiche Anbau von Agrargütern wie Soja. Auch die Vorgängerregierungen von Mauricio Macri und Cristina Kirchner – nun als Fernández‘ Vize wieder an der Regierung – hatten dieses Wirtschaftsmodell gefördert.

Erkämpfte Gesetze gelten nicht selbst-verständlich, auch nicht in der economía popular

Diese Haltung schlägt sich auch in der Besetzung des neuen Kabinetts nieder. Mit Alberto Hensel als Staatssekretär für Bergbau wurde ein ausgewiesener Lobbyist in die Regierung geholt. Hensel, einst Minister für Bergbau in San Juan, setzte sich dort gegen das sogenannte Gletscherschutzgesetz ein, welches den Bergbau in Gletscherzonen und auf Permafrostböden untersagt. Es wurde 2010 trotz Veto der damaligen Präsidentin Kirchner im zweiten Anlauf durchgesetzt (siehe LN 437). Das Veto erhielt aufgrund vermuteter Lobbyarbeit des Konzerns Barrick Gold den spöttischen Beinamen veto barrick. Im Juni vergangenen Jahres wurde das Gesetz vom Obersten Gerichtshof bestätigt, nachdem Minenkonzerne und die Provinzregierung von San Juan dessen Verfassungskonformität beanstandet hatten.

In der patagonischen Provinz Chubut kam es infolge der Ereignisse von Mendoza ebenfalls zu Protesten. Auch hier wurde die Liberalisierung des Bergbaus forciert: vom Bergbaustaatssekretär Hensel und vom regionalen Minister für Bergbau, Martin Cerdá. Dessen Amt wurde erst wenige Wochen vorher vom Gouverneur Mariano Arcioni geschaffen. In der von der Ölförderung und dem Fischfang abhängigen Provinz ist seit 2003 die megaminería, der großflächige Tagebau unter Chemikalieneinsatz, vollständig verboten. Eine Anwohner*inneninitiative aus Esquel war damals gegen die dort geplante Goldmine vorgegangen. Bei einem Plebiszit stimmten über 81 Prozent der Anwohner*innen gegen den Bergbau, es folgte das Gesetz 5001 zum Verbot der megaminería – in dieser Form einzigartig in Argentinien. Der Erfolg gilt als Startschuss der Anti-Bergbau-Bewegung.

Als am 27. Dezember die Abgeordnetenkammer von Chubut zu einer Sondersitzung zusammenkam, mobilisierte die Bevölkerung zur Verteidigung des Wassers. Auch im über 1.000 Kilometer entfernten Mendoza solidarisierten sich die Protestierenden mit den Menschen in Chubut. Die befürchteten, dass die Regierung hinter ihrem Rücken das Gesetz 5001 kippen würde und organisierte bereits in der Nacht eine Mahnwache vor dem Parlamentssitz in der Provinzhauptstadt Rawson. Mit Erfolg, wie es schien. Nach einer knappen halben Stunde wurde die Sitzung beendet, ohne dass der Bergbau auch nur Thema gewesen wäre. Doch die Freude währte kurz. Bereits am 9. Januar kündigte Staatssekretär Carlos Relly an, dass es Bestrebungen geben werde, in der patagonischen Hochebene Gold- und Silber zu erschließen. Zwei Tage später argumentierte Gouverneur Arcioni, das Gesetz 5001 biete Ausnahmemöglichkeiten für die Ausweisung von Bergbauzonen. Man wolle  weder Minen in den Gebirgsketten der Anden genehmigen noch Blausäure benutzen.

Das einzige, auf das sich die Aktivist*innen verlassen können, ist, dass auch erkämpfte Gesetze nicht selbstverständlich gelten. Selbst nicht in der economía popular, der „Wirtschaft für alle“, die Präsident Fernández versprochen hatte. Dennoch gibt der historische Sieg in Mendoza Grund zur Hoffnung. „Wir haben noch nie den Aufstand einer ganzen Provinz zur Verteidigung des Wassers erlebt“ schätzte die Soziologin Maristella Svampa im Interview mit der Zeitung La Izquierda Diario die aktuellen Proteste ein, „Mendoza ist mehr als eine soziale Bewegung; es ist die Kraft der Gesellschaft in Bewegung“.

DER LANGE WEG ZUR ANERKENNUNG

Tanz vor dem Regierungspalast Eine Gruppe aus Arica zeigt den afrochilenischen Tumbe // Foto: Ricardo Amigo

Für Marta Salgado ist es ein großer Erfolg. Das im März vom Parlament verabschiedete Gesetz bedeutet für die Vorsitzende der afrochilenischen Organisation Oro Negro nichts weniger als „Gerechtigkeit und die Anerkennung eines historischen Erbes.“ Das Ziel, das sich Oro Negro bei seiner Gründung im Jahr 2001 gesteckt hatte, ist erreicht. Mit dem Gesetz Nr. 21.151 verpflichtet sich der chilenische Staat, in Zukunft die Kultur der Afrochilen*innen als nationales Kulturerbe zu schützen und in den nationalen Bildungsplänen Unterrichtseinheiten zu ihrer Geschichte zu verankern. Durch die begriffliche Anlehnung an das Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über die Rechte indigener Völker, geht damit außerdem das Recht für Afrochilen*innen einher, im Vorfeld zu Gesetzesvorhaben oder zu sonstigen Projekten, die sie betreffen könnten, befragt zu werden.
Dies ist vor allem ein Erfolg der afrochilenischen Bewegung, die seit fast 20 Jahren auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene Überzeugungsarbeit geleistet hat. Ein Schlüsselmoment hierbei war die Regionalkonferenz gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, die im Dezember 2000 in Santiago de Chile durchgeführt wurde. Neben Vertreter*innen von indigenen Völkern und Organisationen der Nachfahren versklavter Afrikaner*innen aus fast allen Ländern der Amerikas nahm daran auch eine kleine Delegation aus Arica teil. Auf der Eröffnungssitzung dieser Konferenz behauptete der damalige Präsident, Ricardo Lagos, dass es in Chile keine Nachfahren versklavter Afrikaner*innen gebe, da die versklavten Afrikaner*innen die rauen Temperaturen im chilenischen Winter nicht überlebt hätten. „Er wiederholte nur, was in den Schulen gelehrt wurde“, kommentierte Salgado. „In diesem Moment sind wir fünf Personen aus der Region Arica-Parinacota aufgestanden, und wir wurden als chilenische Nachfahren versklavter Afrikaner*innen vorgestellt“, erzählt sie. „Das war ein wichtiges Ereignis, denn die Vertreter von vielen Ländern dachten, dass es uns nicht gäbe! Wie sollten wir denn das einzige Land gewesen sein, in das keine Afrikaner*innen verschleppt wurden?“

Vertreter des Pueblo Tribal Afrodescendiente vor dem Kongress // Foto: Ricardo Amigo

Lange behaupteten auch Historiker*innen, dass nur wenige versklavte Afrikaner*innen das damals vergleichsweise arme Chile erreicht hätten. Und diejenigen, die in diesen peripheren Landstrich verbracht worden seien, hätten – wie von Präsident Lagos wiederholt wurde – dem Klima nicht standgehalten. Tatsächlich spielte Chile jedoch eine Schlüsselrolle in den Routen des Handels mit versklavten Afrikaner*innen, und dementsprechend verblieb hier auch eine beträchtliche Anzahl von ihnen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts machten ihre Nachfahren rund 10 Prozent der Bevölkerung aus. Auch ihre politische und kulturelle Bedeutung ist mittlerweile durch zahlreiche Studien belegt. So spielten Militäreinheiten, die aus ehemals Versklavten bestanden, in den Unabhängigkeitskriegen nach 1810 eine wichtige Rolle. Unter maßgeblichem Einfluss afrikanischer Musik entstand in dieser Zeit auch ein Tanz, der während der Pinochet-Diktatur in den Status eines Nationaltanzes erhoben wurde: die Cueca. Trotzdem spielen Afrikaner*innen und ihre Nachfahren in der nationalistischen Erzählung und Geschichtsschreibung, die Chile als weiß begreifen wollen, kaum eine Rolle. „Oft bin ich nur aufgrund meiner Hautfarbe und meiner lockigen Haare in meinem eigenen Land als Ausländerin durchgegangen“, schreibt Marta Salgado in der Einleitung zu ihrem Buch Afrochilenos. Una historia oculta, in dem sie der afrochilenischen Präsenz in Geschichte, Kultur und Musik nachspürt.
Wenige Monate nach der Konferenz gegen Rassismus in Santiago wurde unter dem Vorsitz von Martas Schwester Sonia die erste afrochilenische Organisation gegründet: Oro Negro. Schon früh begann die Organisation in Zusammenarbeit mit Abgeordneten Gesetzesentwürfe zu verfassen. Ein weiteres, wichtiges Werkzeug der beginnenden afrochilenischen Bewegung war die Durchführung von statistischen Erhebungen, die dem demographischen Gewicht der Afrochilen*innen in der Region um Arica Ausdruck verleihen sollten. Wie sich Cristian Báez, Mitglied der 2004 als Abspaltung von Oro Negro gegründeten Organisation Lumbanga, erinnert, wurde im Vorfeld zum Zensus 2002 eine erste Befragung in der Stadt und dem nahe gelegenen, landwirtschaftlich geprägten Azapa-Tal organisiert: „Wir haben eine Art Zensus durchgeführt, nur mit Papier und Bleistift ausgestattet haben wir an Haustüren geklopft. Aber wir hatten nichts an Fachwissen, keinerlei Methodologie, nur Fragen. Und damit haben wir ein Register erstellt, das dazu dienen sollte, die Menschen zur Teilnahme an der Bewegung zu ermuntern.“ 2013 folgte dann eine Befragung mit staatlicher Unterstützung, die den Anteil der Nachfahren versklavter Afrikaner*innen an der Bevölkerung der Region Arica y Parinacota auf knapp 5 Prozent bezifferte, was ca. 8400 Menschen entspricht. Auf nationaler Ebene steht eine Erhebung der Zugehörigkeit zur Bevölkerungsgruppe der Afrochilen*innen jedoch nach wie vor aus.
Mit der Erhebung statistischer Daten sowie überhaupt mit dem Entstehen einer sozialen Bewegung der Nachfahren versklavter Afrikaner*innen in Chile nimmt Arica bisher eine Ausnahmestellung ein. Ebenso wie das weiter südlich gelegene Iquique wurde die Stadt erst in Folge des Salpeterkriegs im ausgehenden 19. Jahrhundert Teil des chilenischen Staatsgebiets. Die Bevölkerung beider Städte wurde daraufhin Opfer einer gewaltsamen und teils staatlich geförderten Verfolgung, die vor allem die Nachfahren versklavter Afrikaner*innen traf. Diese „Chilenisierung“ war, wie Báez sie beschreibt, „ein Prozess, in dem die Bevölkerung ‚weiß‘ gemacht werden sollte. Als Arica an Chile überging, wurden alle Praktiken in Arica als peruanisch stigmatisiert, so zum Beispiel die Verehrung von San Martín de Porres. Aber wenn du dir diese Bräuche anschaust, dann siehst du letztendlich, dass es ‚schwarze‘, afrikanischstämmige Bräuche waren. Diese Chilenisierung war der wichtigste historische Moment, in dem unsere afrikanischstämmige Kultur verloren gegangen ist.“ Viele afrikanischstämmige Bewohner*innen der ehemals peruanischen Städte verließen das Land, und die, die blieben, sahen sich gezwungen, sich dem „weißen“ Ideal des neuen Souveräns anzupassen.

„Ein Thema, das innerhalb der Familien verborgen wurde“


In der Anfangszeit der afrochilenischen Bewegung musste demnach erst mühsam an die vor-chilenische Vergangenheit angeknüpft werden. „Wir waren uns immer bewusst, dass wir Schwarze waren, Nachfahren von Sklaven, so wurde das damals gesagt“, erinnert sich Báez. „Es war aber ein Thema, das innerhalb der Familien verborgen wurde, es wurde nicht viel darüber geredet. Nachdem wir beim Zensus nicht berücksichtigt wurden, hat dann ein Prozess der Aufarbeitung unserer kulturellen Identität begonnen, eine Wiederaufnahme von Bräuchen, da nimmt auch die Neuerfindung des Tumbe (einer afrochilenischen Trommelmusik, Anm. d. Redaktion) ihren Anfang.“ Mit seiner Organisation Lumbanga organisierte Báez Gespräche an einem runden Tisch mit älteren Afrochilen*innen, die zum ersten Mal über ihre Erinnerungen sprachen. „Es gab viele Dinge, die verborgen waren, über die aber unsere Großeltern Bescheid wussten“, berichtet Báez. „Und nach und nach begannen sie, sich an Geschichten zu erinnern, sich an vieles zu erinnern und sich bestimmte Kulturelemente vor Augen zu führen, die uns kennzeichneten.“ Die Lebensgeschichten vieler älterer Afrochilen*innen, von denen viele bereits verstorben sind, hat Báez in seinem Buch Lumbanga. Memorias orales de la cultura afrochilena herausgegeben, das eindrucksvoll von den traumatischen Erlebnissen dieser Bevölkerungsgruppe im 20. Jahrhundert Zeugnis ablegt.
Auch wenn die rechtliche Anerkennung der Afrochilen*innen einen wichtigen Meilenstein darstellt, ist mit der Verabschiedung des Gesetzes noch nicht alle Arbeit getan. „Jetzt muss an den Durchführungsbestimmungen gearbeitet werden, die dieses Gesetz erst mit Leben erfüllen“, sagt Marta Salgado. „Alle Rechte, die das Volk betreffen, müssen respektiert werden, und wir brauchen auch wirtschaftliche Entwicklung und Zugang zu Gütern um unsere Lebensqualität zu verbessern, zum Beispiel zu modernen Landwirtschaftsgeräten in den Tälern.“ Darüber hinaus fordert sie auch „die Erforschung von Krankheiten, deren genetisch bedingte Prävalenz vor allem Nachfahren versklavter Afrikaner*innen betrifft und die im Gesundheitssystem nicht behandelt werden. Außerdem fordert sie, „dass wir in nationalen Erhebungen wie dem Zensus, der 2022 ansteht, berücksichtigt werden.“
Cristian Báez stimmt mit Salgado darin überein, dass mit dem neuen Gesetz die historische Schuld des chilenischen Staates gegenüber den Afrochilen*innen noch nicht abgetragen ist: „Die Chilenisierung hat uns dazu gebracht, uns selber zu verneinen. Unsere eigenen Eltern haben uns beigebracht, uns zu verneinen, zu versuchen, ‚weiß‘ zu werden. Daher ist es wichtig, die Geschichte neu zu schreiben, zu zeigen, dass es einen afrikanischen Beitrag gab. Das ist eine bleibende Schuld.“ Auch Azeneth Báez, die Vorsitzende von Lumbanga, verlieh bei ihrer emotionalen Rede während der Feierstunde im Regierungspalast dem Wunsch nach einer Neuschreibung der Geschichte besonderen Nachdruck: „Die Geschichte der Nachfahren versklavter Afrikaner*innen, die wir heute kennen, ist eine Geschichte, von der wir uns nicht repräsentiert fühlen. Es ist eine Geschichte, die uns keine Würde verleiht. Wir sind diejenigen, die dazu aufgerufen sind, sie neu zu schreiben und ihr mehr Menschlichkeit zu verleihen.“

 

DAS GIFTPAKET

Eine Sojaplantage in Argentinien / Foto: Pedro Reyna

Die PL 6299 sieht zum einen vor, dass nicht mehr die jeweiligen Fachgutachten und Stellungnahmen des brasilianischen Bundesgesundheitsamts Anvisa, des Bundesumweltamts Ibama und des Bundesagrarministeriums entscheidend für Freigabe oder Verbot einer potentiell gesundheitsgefährdenden oder umweltschädlichen Substanz sind, sondern nur noch alleine das Agrarministerium. Anvisa und Ibama können dem Entwurf zufolge zwar noch Stellungnahmen abgeben, aber nicht mehr mitent­scheiden. Des Weiteren soll der Begutachtungs­zeitrahmen für Freigabe oder Verbot einer Substanz maximal zwölf Monate betragen. Sollten binnen dieses Zeitraumes die toxikologischen Untersuchungen nicht abgeschlossen sein, kann das Agrarministerium eine vorläufige Freigabe erteilen. Sollte es sich um eine Substanz handeln, die in mindestens drei OECD-Mitgliedstaaten registriert und freigegeben ist, kann eine Freigabe in Brasilien gar ohne eigene Untersuchungen erfolgen. Die Gesetzesinitiative sieht zudem vor, dass alle bisherigen Mitbestimmungsrechte von Landes- und Munizipalebenen beim Entscheidungsfindungsprozess zur toxikologischen Bewertung von Agrargiften wegfallen. Verpackt wird das „Gesetzespaket des Gifts“, wie es Kritiker*innen titulieren, mit einem Werbetrick: Der Begriff „Agrargifte“ soll demnach in Zukunft, wie auch in Deutschland schon lange üblich, durch die Wortwahl „Pflanzenschutzmittel“ ersetzt werden.

Der Gesetzestext wird nun im Plenum von allen Abgeordneten zur Abstimmung gebracht, dann muss noch der brasilianische Senat entscheiden. Aller Voraussicht nach würde dies aber erst nach den Präsidentschafts- und Kongresswahlen Ende dieses Jahres erfolgen. Da aber die parteiübergreifende Fraktion der Großgrund­besitzer­*innen und Farmer*innen, die bancada ruralista, einen Großteil der Abgeordneten im brasilianischen Nationalkongress stellt, steht Brasilien wohl eine weitere Ausweitung des Verbrauchs von Herbiziden, Insektiziden und Fungiziden bevor.

„Dieses Gesetzespaket des Gifts zertrümmert die letzte noch bestehende Gesetzeslage zum Schutz der Bevölkerung. Es wurde von Abgeordneten im Dienst der transnationalen Agrargiftkonzerne geschrieben und wird nur diesen Firmen Gewinne bringen“, sagt Alan Tygel von der brasilianischen Permanenten Kampagne gegen Agrargifte und für das Leben (Campanha Permanente Contra os Agrotóxicos e Pela Vida) im Gespräch mit LN. Tygel kritisiert vor allem die künftige alleinige Zuständigkeit des Agrarministeriums für den Prozess der Freigabe oder des Verbots eines Agrargifts. „Genau dieses Ministerium wird von den Großfarmern kontrolliert“, so Tygel. Hinzu kommt: „Das neue ‚Gesetzespaket des Agrargiftes‛ beschneidet nicht nur massiv die Rolle der Gesundheits- und Umwelt­behörden bei der Registrierung der Agrargifte, es würde auch die Vorschriften des Registers krebserregender Agrargifte abschaffen. Aktuell haben 250.000 Menschen eine Petition gegen dieses Gesetzesvorhaben unter­zeichnet!“, erinnert der Aktivist.

Aber die Aktivist*innen sind nicht untätig. „Aktuell haben wir eine Basisinitiative mit dem Ziel gestartet, gegen dieses Agrargiftpaket unsere eigene Politagenda der landesweiten Reduzierung der Agrargifte ins Feld zu führen, um so die Gifte zu reduzieren und gleichzeitig die Agrarökologie auszubauen“, sagt Tygel. Ein weiter Weg, der allerdings nun durch die Verabschiedung des Gesetzesentwurfs in der zuständigen Kommission im Kongress behindert wird.

Dabei sind es nicht nur die Aktivist*innen und Umweltschützer*innen, die gegen das Giftpaket des brasilianischen Nationalkongresses Sturm laufen. Sogar die Vereinten Nationen zeigten sich sehr besorgt. Bereits Mitte Juni sandten die fünf UN-Sonderberichterstatter*innen für Menschenrechtsfragen, Gesundheit, Ernährung, Wasser und Umweltfragen einen offenen Brief an Brasiliens UN-Botschafterin, in dem sie vor den Folgen des Gesetzesentwurfes warnten und sich um die Wahrung der Menschenrechte der Landarbeiter*innen, der lokalen Gemeinschaften sowie der Konsument*innen sorgten.

Der Aktivist Alan Tygel hatte im Mai auch in Bonn auf der Jahreshauptversammlung der Bayer AG einen kritischen Protestbeitrag vor den zu Tausenden anwesenden Kleinaktionär*innen verlesen. Er erinnerte an die oft zu wenig beachtete Seite der verdeckten Lobbyarbeit der Konzerne. Er warf den Konzernvorständen von Bayer vor, dass Vertreter*innen der Firma Monsanto, die Bayer nun für einen Milliardenbetrag übernimmt, allein im vergangenen Jahr an neun Lobby-Treffen mit dem brasilianischen Agrarministerium teilgenommen haben, und Bayer an sechs, wie die Daten des brasilianischen Transparenzregisters verraten. Einige von diesen Treffen waren direkt mit Brasiliens Landwirtschaftsminister Blairo Maggi.

Bayers herausragendes Interesse an Brasilien sei dabei klar, so Tygel. „Aus der Sicht von Bayer ist Brasilien ein sehr vielversprechendes Land. Brasilien ist das Land, das am meisten Agrargifte verbraucht, und dies weltweit“, so Tygel.

Es ist klar: Brasilien ist Weltmeister. Weltmeister im Spritzen von Agrargiften. 2009 wurden im Land erstmals eine Milliarde Liter Pestizide und Herbizide in der expandierenden Landwirtschaft auf die Äcker ausgebracht, Tendenz seither weiter ansteigend. Rechnet man die jährlich ausgebrachte Menge auf die Bevölkerung herunter, so kommen 7,3 Liter Agrargifte auf jede*n brasilianische*n Bürger*in.

„Und Brasilien ist das Land, in dem der Verkauf von Agrargiften voraussichtlich am meisten wachsen wird“, prognostiziert der Aktivist Tygel. „In Brasilien war Bayer im Jahr 2014 die Firma, die am zweitmeisten Agrargifte verkaufte. Nach dem Kauf von Monsanto wird Bayer auf Platz 1 landen, mit einem Marktanteil von rund 23 Prozent“, sagt Tygel.

Also alles einfach nur ein Geschäft? Ja, aber eines mit Folgen. Denn, so Tygel, in Brasilien müssten jedes Jahr 6.000 Menschen wegen Intoxikation durch Agrargifte medizinisch behandelt werden. „Aber wir wissen, dass die realen Zahlen mit Sicherheit zehnfach größer sind“, sagt Tygel. Denn die Mehrzahl der Vergifteten lebe auf dem Land, dort, wo es keinen oder kaum Zugang zu medizinischer Versorgung gibt. „Landwirte begehen Selbstmord, Kinder werden mit Schäden geboren, Babys weisen Anzeichen von Pubertät auf. Alles nachgewiesenermaßen wegen der Agrargifte“, so Tygel.

Diese Zahlen werden auch durch Brasiliens Gesundheitsministerium gestützt. Demnach erlitten im Jahr 2017 5.501 Menschen Vergiftungen durch Kontakt mit „Pflanzenschutzmitteln“. Im vergangenen Jahr sind dem Gesundheitsministerium zufolge 150 Menschen an den Vergiftungen in Brasilien gestorben.

Unklar sind indes die Langzeitfolgen. Niemand weiß, wie viele Menschen durch anhaltenden Konsum von Agrarchemikalien in Form von Rückständen in Nahrungsmitteln im Lauf der Jahre an Krebs erkrankten. Laut Zahlen der Nationalen Behörde für Gesundheitsüberwachung Anvisa weisen 15 Prozent der in Brasilien konsumierten Nahrungsmittel gesundheitsgefährdende Werte bei Rückständen von Pflanzen­schutzmitteln auf.

Das Beispiel des überwiegend ländlichen Bundesstaats Mato Grosso, dort, wo das meiste Soja und Getreide Brasiliens angebaut wird, macht die ganze Dimension des Problems deutlich. Eine Studie der Bundesuniversität von Mato Grosso stellte 1.442 Fälle von Magenkrebs, Speiseröhren- und Bauchspeicheldrüsenkrebs in 14 Munizipien fest, in denen zwischen 1992 und 2014 Soja, Mais und Baumwolle angebaut wurden. In Vergleichsmunizipien, wo nichts dergleichen angebaut wurde, lag der Wert der Krebsfälle bei 53. Die Todesrate bei Kindern im Alter zwischen 0 und 19 Jahren hat sich demnach von 2,97 Prozent im Jahr 2000 auf 3,76 Prozent im Jahr 2006 erhöht. Im Jahr 2006 wurde Krebs bei Kindern zur zweithäufigsten Todesursache, 8 Prozent aller Todesfälle bei Kindern in der Region waren auf Krebs zurückzuführen.

In der Boomregion des landwirtschaftlichen Agrobusiness in Mato Grosso, in der Gemeinde Lucas do Rio Verde, führten die Forscher*innen der Bundesuniversität von Mato Grosso gemeinsam mit der staatlichen Bundesstiftung Oswaldo Cruz eine Untersuchung der Auswirkungen dieser Anbaugebiete und des Agrargiftverbrauchs vor Ort durch. Das Ergebnis: Die Wissenschaftler*innen fanden in 88 Prozent der Blut- und Urinproben von untersuchten Lehrer*innen auf dem Land Rückstände von Agrargiften, vor allem Glyphosat und Pyrethroide – also synthetische Insektizide. In 83 Prozent der zwölf Trinkwasserbrunnen wurden mehrere Agrargifte gefunden. Dasselbe gilt für 56 Prozent der entnommenen Regenwasser- und 25 Prozent der Luftproben; in 100 Prozent der Proben der untersuchten Muttermilch von 62 stillenden Müttern wurden Rückstände von Agrargiften wie DDE, Endosulfan, Deltamethrin und DDT gefunden.

Auswertungen der letzten verfügbaren Daten des staatlichen Instituts für Agrarsicherheit des Bundesstaats Mato Grosso, Indea, zeigen, dass beispielsweise allein im Munizip Sapezal, ebenfalls in Mato Grosso, im Jahr 2012 neun Millionen Liter Agrargifte zur Anwendung gebracht wurden. Würde man diese Menge in olympische Schwimmbecken füllen, ergäbe dies acht bis oben mit Agrargiften gefüllte Becken. Rechnet man diese Menge auf die Bevölkerung in Sapezal herunter, kommt man auf einen Wert je Bürger*in, der 52 Mal höher liegt als der brasilianische Durchschnitt von den erwähnten 7,3 Liter je Person: In Sapezal liegt dieser Wert bei 393 Liter je Person. Brasilien ist Weltmeister.

// MEIN BAUCH GEHÖRT MIR

In den meisten Ländern Lateinamerikas und der Welt ist das Recht auf körperliche Selbstbestimmung für Frauen keine Selbstverständlichkeit. In Chile gibt es nun einen kleinen Hoffnungsschimmer. Am 22. August wurde das Totalverbot von Abtreibungen aufgehoben und ein Schwangerschaftsabbruch zumindest in drei Fällen legalisiert: Nach einer Vergewaltigung, bei akuter Lebensgefahr für die Mutter oder bei einer tödlichen Erkrankung des Fötus drohen nun keine Strafen mehr. Damit wurde ein Relikt aus der blutigen Vergangenheit abgeschafft, das uneingeschränkte Verbot war 1989 unter dem Diktator Augusto Pinochet eingeführt worden.

Die Lockerung ist ein Schritt in die richtige Richtung – mehr aber auch nicht. Was bei aller Euphorie in Vergessenheit gerät: Der Wille der Frauen, um die es geht, zählt nach wie vor nicht. Weiterhin muss erst ein Gewaltverbrechen nachgewiesen werden oder akute Lebensgefahr bestehen, damit Frauen über ihren Körper bestimmen können. Die leichten gesetzlichen Verbesserungen sind außerdem keine Garantie dafür, dass die betroffenen Frauen tatsächlich die nötige medizinische Versorgung erhalten. Immer wieder berichten Frauen davon, dass ihnen Abtreibungen verwehrt werden. Die gesellschaftliche Ächtung ist groß und viele Betroffene müssen Anfeindungen bis hin zu Morddrohungen über sich ergehen lassen.

Nur in Uruguay, Kuba, den Guyanas und Mexiko-Stadt ist ein Schwangerschaftsabbruch in den ersten Wochen straffrei. In Nicaragua und El Salvador sind Abtreibungen dagegen weiterhin gänzlich verboten und die betroffenen Frauen sowie das medizinische Personal müssen mit hohen Strafen rechnen. Der Fall von María Teresa Rivera sorgte vor einigen Jahren für großes Aufsehen. Die Salvadorianerin hatte eine Fehlgeburt erlitten. So weit, so normal. Nicht jedoch in El Salvador. Die damals 28-Jährige wurde verdächtigt, eine Abtreibung durchgeführt zu haben, sie wurde wegen Mordes angeklagt und zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt. Vier Jahre saß sie in Haft. 2016 wurde Rivera auf massiven Druck durch soziale Bewegungen entlassen. Doch die Tortur ging weiter. Die Staatsanwaltschaft drohte, die Entscheidung anzufechten. Ein Sturm der moralischen Entrüstung brach über die Mutter herein. Rivera musste das Land verlassen, im März dieses Jahres erhielt sie Asyl in Schweden.

Doch es regt sich Widerstand: Aktivist*innen von Tijuana bis Patagonien kämpfen gegen die katastrophale Situation und leisten den betroffenen Frauen Hilfe. Die geltenden Gesetze kriminalisieren vor allem arme Frauen, die meist nicht das Geld für eine Abtreibung oder medizinische Versorgung aufbringen können. Indigene Frauen aus ländlichen Gebieten werden besonders schlecht behandelt.

Die internationale Organisation Women on Waves umgeht das Abtreibungsverbot geschickt: Mit einem Boot umschiffen die Aktivist*innen Länder, in denen Abtreibungen verboten sind und führen in internationalen Gewässern Schwangerschaftsabbrüche durch. Eine gute Idee, dennoch keine Lösung für alle Frauen. Viele Betroffene leben fernab der Küsten, Abtreibungen finden stattdessen im Hinterzimmer statt: ohne professionelle Ärzt*innen, unter prekären hygienischen Bedingungen. Bei der Vielzahl der Frauen wirkt dieses Boot wie ein Tropfen in der blauen Weite des Ozeans.

Strenge Gesetze und der religiös-moralische Zeigefinger gefährden weiterhin das Leben von Frauen in Lateinamerika. Gesellschaftlicher Wandel ist allerdings immer von Fort- und Rückschritten geprägt.

Es besteht Hoffnung, solange sich Frauen weiterhin kritisch organisieren und das Patriarchat in Frage stellen, selbstbestimmt ihre Rechte einfordern und solidarische Werte vorleben.

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