22 Jahre Berichterstattung von unten

Das Geburtsdatum der unabhängigen Nachrichtenagentur CERIGUA fällt mitten in die schlimmste Phase des guatemaltekischen Bürgerkriegs. Am 8. August 1983 gründete ein Kollektiv von GuatemaltekInnen im nicaraguanischen Exil das Centro de Reportes Informativos sobre Guatemala (CERIGUA). Mit dabei war damals auch die heutige Vorsitzende Ileana Alamilla. Der Anspruch der Agentur: Über die gravierenden Menschenrechtsverletzungen und Morde zu informieren, die Todesschwadronen, Polizei und Militär systematisch an der Bevölkerung begingen. Über den Genozid an der indigenen Bevölkerung. Über die extreme Armut der Mehrheit der Bevölkerung und über die verbreitete Diskriminierung von Indígenas und Frauen. Themen, über die in Guatemala zu Zeiten der Militärdiktatur nicht publiziert werden durfte.
CERIGUA leistete einen wesentlichen Beitrag, dass die humanitäre Kathastrophe in Guatemala international bekannt wurde und begann bald, mit internationalen Nachrichtenagenturen zusammenzuarbeiten – so mit der französischen AFP und der deutschen dpa. Die Informationen wurden klandestin aus Guatemala herausgeschmuggelt und stammten von Gewerkschaften, MenschenrechtlerInnen, der katholischen Kirche und nicht zuletzt von der Guerilla URNG. Vor allem auf Grund der Guerillakontakte wurde CERIGUA in Guatemala, aber auch in konservativen Kreisen Lateinamerikas und in den USA als Presseagentur der URNG verunglimpft, zumindest international jedoch ohne Erfolg. Die Anklagen, die CERIGUA erhob und die das Militärregime als Guerillapropaganda abtat, wurden Ende der Neunziger Jahre durch die Wahrheitskommission bestätigt.
Der Friedensprozess wurde von CERIGUA seit Ende der Achtziger Jahre ausführlich begleitet. Ebenso wurde über das Schicksal hunderttausender Flüchtlinge berichtet, die sich vor dem staatlichen Terror und den Kriegswirren in die Hauptstadt oder ins benachbarte Mexiko in Sicherheit gebracht hatten. Schon 1994, zwei Jahre vor Unterzeichnung des Friedensabkommens, zog CERIGUA unter dem Schutz der UNO-Mission MINUGUA aus dem Exil nach Guatemala. Seither will die Agentur denjenigen Gruppen eine Stimme verleihen, die in 36 Bürgerkriegsjahren in ihrem eigenen Land kein Medium hatten und deren Anliegen auch heute noch in den großen Tageszeitungen, den Fernsehkanälen und den kommerziellen Radios kaum Platz erhalten.

Horizontal und dezentral

Auch heute steht CERIGUA für horizontale Information, die die Realität der Bevölkerung reflektiert. Auch die Dominanz der Hauptstadt, in der sich neben der politischen und wirtschaftlichen Macht auch fast alle Medien des Landes konzentrieren, soll mittels eines KorrespondentInnennetzwerks gebrochen werden. So konnte CERIGUA schon früh auf die Hungersituation in der Region Chiquimula hinweisen sowie auch auf die andauernden Umtriebe paramilitärischer Gruppen im Quiché.
Seit einigen Jahren ist CERIGUA keine reine Nachrichtenagentur mehr. Neben einem wöchentlichen Bulletin gestaltet CERIGUA inzwischen eigene Radiosendungen. Einmal pro Woche werden Reportagen und Interviews gesendet sowohl in kommerziellen, als auch in staatlichen und freien Radios. Hier stößt die immer noch kleine Agentur ein ums andere mal an ihre Grenzen: Geld für eine adäquate technische Austattung ist nicht da. Noch steht weder der Zentrale noch den KorrespondentInnen eine schnelle Internetverbindung zur Verfügung. Auch der Zugang zu den Radios ist nicht immer leicht: Kommerzielle Radios kündigen Sendeplätze und die freien Radios arbeiten mangels einer entsprechenden Rundfunkgesetzgebung immer noch illegal. Eines der Hauptanliegen CERIGUAs ist daher auch eine Reform des Mediengesetzes.
Die Arbeit CERIGUAs war und ist nicht ungefährlich: JournalistInnen sind in Guatemala bis heute Ziel von Einschüchterungen, willkürlichen Verhaftungen und physischer Gewalt bis hin zum Mord.
CERIGUA hat sich mit ihrem Anspruch, zunächst die Verbrechen der Diktatur aufzudecken und später die Verfehlungen der demokratischen Regierungen zu veröffentlichen, stets Feinde gemacht. „Unter den Regierungen Arzu und Portillo haben wir monatlich über Morddrohungen gegen unsere Reporter und Korrespondenten berichtet“, erklärt Alamilla. Das habe 2004, dem ersten Regierungsjahr von Präsident Oscar Berger, nachgelassen, aber „gerade unser Korrespondent Alfonso Guárquez in der Region Sololá ist auch in diesem Jahr bereits zwei Mal Ziel von Angriffen gegen die Pressefreiheit gewesen.“ Im Januar habe der Gouverneur von Sololá, Adalberto Urrea Ruiz, Haftbefehl gegen Guárquez erlassen, als dieser über Unruhen berichtete. Die Anschuldigung lautete, Guárquez habe die Unruhen mitorganisiert. Ende März erreichten den Korrespondenten Morddrohungen, die sich auch gegen seine Familie richteten.
Die fortlaufenden Angriffe gegen die Pressefreiheit haben CERIGUA bewogen, ein weiteres Projekt zu gründen: Mitte 2004 errichtete die Agentur das „Observatorium der Journalisten“, mit dem Ziel, Angriffe gegen die Pressefreiheit aufzudecken und zu dokumentieren. Neben „Notrufen“ an die internationale Öffentlichkeit im Falle aktueller Bedohungen erstellt CERIGUA ein Jahresregister über die Situation der Pressefreiheit.
22 Jahre nach ihrer Gründung bleibt CERIGUA in der guatemaltekischen Medienlandschaft höchst aktiv. Mit ihren Prinzipien, die kulturelle Vielfalt Guatemalas und die zahlreichen Probleme des Landes nah an der Basis zu beschreiben, bleibt CERIGUA wohl auch in Zukunft auf finanzielle Unterstützung aus dem Ausland angewiesen.

www.cerigua.org
www.npla.de

„Es gibt im Internet die Möglichkeit, alle Grenzen und Kontrollen zu überschreiten“

Wofür nutzen Sie als kritische Wissenschaftlerin aus Mexiko in Berlin das Internet?
Ich nutze es in erster Linie für Recherche und Kommunikation. Ich finde über das Internet sehr schnell Informationen zu sozialen Bewegungen, alternativen Wissensformen, Datenbanken und Zeitschriften, die früher nicht zugänglich waren. Ich gebrauche das Internet auch politisch als Werkzeug für Cyberaktivismus.

Was muss man sich unter Cyberaktivismus vorstellen?
Ein sehr interessanter Bereich, in dem ich tätig bin, ist die Schnittstelle zwischen Aktivismus und Hacktivismus. Hackers verfügen über technologisches Wissen, das wir AktivistInnen aus anderen Zusammenhängen nicht haben. Daher ist eine Zusammenarbeit sehr wichtig. Beispielsweise wird Software produziert, damit politische AktivistInnen mit geschützten Identitäten kommunizieren können, ohne dass die Zensur das verhindert. Der Bereich Hacktivismus wurde nach dem 11. September sehr nah an den Bereich Cyberterrorismus gebracht. Das ist nicht gerechtfertigt, weil es klare Unterschiede gibt. Aber Regierungen, wie die der USA, neigen dazu, diese Grenzen zu verwischen. Für sie wird leicht alles zum Terrorismus: ob jemand einen Virus programmiert oder aber eine Zensur umgeht oder Informationsgrenzen durchbricht.

Der Schwerpunkt unserer Ausgabe lautet „Alternative Medien“. Wie und wofür wird das Internet heute von sozialen Bewegungen genutzt?
Es gibt unendlich viel alternative Nutzung des Internets. Politische und soziale Bewegungen nutzen das Internet zur Organisation, Koordination und auch für Cyberaktivismus. Interessant ist, dass es gerade innerhalb der Indígena-Bewegungen eine immer stärkere Nutzung des Internets für Mobilisierung und Aktivismus gibt. Konkrete Aktivitäten werden online und auch offline organisiert, weil ja auch Leute erreicht werden sollen, die keinen Zugang zum Internet haben. Das Internet erlaubt es, einen größeren Radius an AktivistInnen zu erreichen und diese multiplizieren dann die Information über andere Kanäle an die nicht „Angeschlossenen“.
Ein etwas anderes Beispiel ist ein von der UNESCO unterstütztes Projekt aus Peru, in dem mehrere Indígena-Gemeinden zur Zeit einen virtuellen Raum der Erinnerung aufbauen, in dem sie Gewalterfahrungen der Vergangenheit aufarbeiten und auf unterschiedliche Form kommunizieren, sei es durch Texte, Bilder oder Foren.
Früher wurde vermutet, dass die Beziehungen, die sich im Netz entwickeln, oberflächlich bleiben. Aber das stimmt nicht. Bei Gruppen, die lange Zeit zusammen im Internet arbeiten, entsteht das Bedürfnis, sich kennen zu lernen. Gerade wenn Menschen ein gemeinsames Ziel teilen, an dem sie arbeiten, entwickelt sich ein Zugehörigkeitsgefühl, eine Art von Identität. Das beste Beispiel ist die Open Source Community, die eine Philosophie teilt und gemeinsam an der Entwicklung freier Software arbeitet. Es gibt in Lateinamerika verschiedene Provider, die nichts kosten, damit AktivistInnen ihre Seiten darauf stellen können.

Wie viele Menschen in Lateinamerika haben überhaupt Zugang zum Internet?
Der Zugang zum Internet bestimmt sich über zwei Faktoren: über die ökonomischen Möglichkeiten und über das erforderliche Wissen. Weltweit gibt es die meisten NutzerInnen in den USA, dann kommt Japan. Deutschland ist auf dem siebten oder achten Platz. Bei den lateinamerikanischen Ländern führt Brasilien, gefolgt von Argentinien und Mexiko. Aber weltweit liegt der Anteil der LateinamerikanerInnen insgesamt nur bei drei oder vier Prozent, Tendenz allerdings rapide steigend.
Die Politik der einzelnen Länder ist sehr unterschiedlich. Es gibt eine Verpflichtung von vielen Regierungen, dieses Medium zugänglich zu machen. Einige Länder haben das konsequent verfolgt. Zum Beispiel Peru hat überall öffentliche Kabinen aufgestellt, in denen ein Internetzugang umsonst angeboten wird. In Peru und Ecuador werden Schulungen durchgeführt – auch für die, die das nicht selbst finanzieren können. In Ecuador gibt es ein sehr interessantes Projekt namens chasquiNet, in dem technologische Unterstützung und Schulungen angeboten und auch die Server umsonst für AktivistInnen und soziale Bewegungen zur Verfügung gestellt werden. In Mexiko gibt es hingegen kein solches Engagement der Regierung.

Ist das Internet ein hierarchiefreier oder grenzenloser Raum? Oder haben sich durch das Internet die bestehenden Ungleichheiten vertieft?
Ich denke, das Internet kann demokratisch sein und man kann es alternativ nutzten. Gleichzeitig bezeugt die Wirklichkeit natürlich auch etwas anderes. Denn dort, wo die Armut groß ist, gibt es kein Internet. Wer schon arm ist, wird noch weiter ausgegrenzt. Da teilt sich die Welt. Neben diesem sogenannten digital divide gibt es auch einen gender divide. Immer noch nutzen viel mehr Männer das Internet als Frauen. Und es sind auch immer noch vorrangig Weiße.

Das liegt an ihrer marginalisierten Stellung in der Gesellschaft?
Einerseits ja, andererseits liegt es auch daran, dass die meisten lateinamerikanischen Regierungen ihren Auftrag nicht so ernst genommen haben. Auf Ebene der Vereinten Nationen haben sich alle Regierungen dazu verpflichtet, das Internet für alle zugänglich zu machen. Dafür müsste viel investiert werden. Das machen viele Regierungen nicht, weil sie andere Prioritäten setzen.

Gibt es überall in Lateinamerika staatliche Kontrolle im Internet?
Ich gehe davon aus, dass weltweit alle Staaten in irgendeiner Form eine Kontrollinstanz haben. Es gibt Staaten, die ungeheuerlich viel kontrollieren – wie China und Kuba. Sie haben die Macht über Knotenpunkte und es kommt nur rein, was sie wollen. Ich kann mir gut vorstellen, dass in Mexiko die Kontrolle über das Internet nicht so groß ist. Das Know-how ist da, aber bislang fehlt noch das Interesse. Andererseits gibt es die Möglichkeit, alle diese Grenzen und Kontrollen zu überschreiten für diejenigen, die über das Wissen verfügen. Das ist allerdings nicht leicht. Deshalb denke ich, dass die Zusammenarbeit zwischen hackers und AktivistInnen so wichtig ist für die politische Arbeit.

Wie wirkt sich der Trend der Kommerzialisierung im Internet aus?
Die privatwirtschaftliche Nutzung hierarchisiert das Internet und grenzt aus. Denn dadurch werden Netzbereiche geschlossen gehalten: Zeitschriften und Datenbanken sind teilweise nur noch gegen Geld zugänglich. Wissen, das früher umsonst war, wird jetzt merkantilisiert. Aber es gibt die Gegenbewegungen, wie beispielsweise Open Source, die das Wissen frei hält und publiziert. Dieser Kampf wird gerade geführt und er ist noch nicht entschieden. Obwohl diejenigen, die ein wirtschaftliches Interesse an der Nutzung des Internets haben, natürlich viel mehr sind und viel mächtiger. Ob wir noch offene Bereiche im Internet behalten, liegt natürlich auch an uns selber. Die Frage ist, wie lange wir bereit sind, für dieses freie Internet zu kämpfen.

Als ich 1997 an die Universität in Mexiko-Stadt ging, hatte ich noch nie das Internet benutzt. An der UNAM war es gang und gäbe. Ist das eine verallgemeinerbare Erfahrung? Verbreitete sich das Internet in Lateinamerika früher als in Europa oder Deutschland?
Tatsächlich hat sich das Internet früher in Lateinamerika verbreitet. Das liegt daran, dass die USA, die am meisten zur Technologie des Internets beigetragen haben, ein Interesse daran hatten, die eigenen Entwicklungen in Lateinamerika zu vermarkten. Die mächtigen industrialisierten Länder haben hingegen zunächst im Alleingang geforscht. Die lateinamerikanischen Länder konnten von vorn herein nicht konkurrieren. Daher waren sie bereit, die US-Entwicklungen einfach zu übernehmen.
Die mexikanische Universität, an der ich studiert habe, wurde bereits vor 20 Jahren vernetzt, noch bevor es das www gab – die Freie Universität Berlin erst vor fünf Jahren.
In Deutschland gibt es eine sehr komplexe Beziehung zur Technik. Viele haben Schwierigkeiten mit dem Internet und Computern und sind eher kritisch eingestellt. Hier gibt es außerdem eine sehr gute Kommunikations-Infrastruktur. Nach wie vor kann man hier ohne Probleme ohne Internet leben, weil man telefonieren kann. In Lateinamerika gibt es verhältnismäßig wenige Telefone und die Verbindung ist auch nicht so gut. So ist das Internet auch eine Alternative, weil es viel billiger und zugänglicher ist. In Lateinamerika herrscht zudem im Gegensatz zu Deutschland eine viel größere Begeisterung darüber, mittels Internet etwas zu erreichen, das über die Grenzen des Landes und der Region hinausgeht.

Und auch über die Grenzen der staatlichen Kontrolle der Massenmedien? Auf Grund von Zensur und Kontrolle war das Internet ja oft per se erstmal ein alternatives Medium. Dass die mexikanische Regierung beim Aufstand der Zapatistas 1994 ihre über die Massenmedien verbreitete Darstellung nicht aufrechterhalten konnte, lag ja zum großen Teil an der Internetnutzung der Zapatistas…
Ja, genau. Aber ich würde weiter gehen und sagen, dass das Internet generell auch heute noch ein alternatives Medium ist., denn man hat die Freiheit zu gestalten. Das ist beim Fernsehen oder bei Zeitungen nicht möglich. Dort muss man sich unterordnen unter das, was sie veröffentlichen und wie sie es darstellen. Dagegen hat man im Internet die Möglichkeit, selber zu gestalten, selber ganz schnell Information zu vermitteln. Das hat einen sehr starken Reiz für soziale Bewegungen in Lateinamerika und in der ganzen Welt.

Medien als zentrales Herrschaftsinstrument

In der Folge der kubanischen Revolution von 1959 wurde das Mediensystem der 1950er Jahre, das kommerziell und infrastrukturell auf die Hauptstadt Havanna konzentriert war und inhaltlich für die Interessen der USA eintrat, stark umstrukturiert. Die Medieninfrastruktur, vor allem der Hörfunk, wurde auf die ganze Insel ausgeweitet und die Presseinformationen so der gesamten Bevölkerung zugänglich gemacht.
Seit Mitte der 60er Jahre besteht in Kuba ein staatlich kontrolliertes Mediensystem. Dieses ist stark durch die Publikationen der Massenorganisationen geprägt, in denen die eigenen Organe veröffentlichen. Damit unterstehen alle Presseorgane – direkt oder indirekt – der Leitung der kommunistischen Partei (PCC). Seit 1968 die letzten kommerziellen Medien verstaatlicht wurden, gibt es keine legal freiberuflich arbeitenden JournalistenInnen auf Kuba mehr.
Nach dem Beginn der Krise 1990, die durch den Zusammenbruch der Sowjetunion entstand, wurde die Arbeit der Presse wegen der auftretenden Materialmängel massiv eingeschränkt. Viele Publikationen wurden komplett eingestellt, die Ausstrahlung der staatlichen Fernsehprogramme wurde auf Grund der andauernden Stromsperren zum Teil Tage lang unterbrochen. Zugleich sind aber in dieser Phase wesentliche Grundsteine für die Veränderung des nationalen Informationsnetzes gelegt worden. Zwar behielt der Staat die Pressegesetzgebung auch in der geänderten Verfassung von 1992 bei: „Das Recht der Bürger auf Redefreiheit und Pressefreiheit wird in Übereinstimmung mit den Zielen der sozialistischen Gesellschaft anerkannt. […] die Presse, das Radio, das Fernsehen, das Kino und andere Medien massiver Verbreitung [sind] staatlichen oder sozialen Eigentums und können unter keinen Umständen Objekt privaten Eigentums sein, was ihren exklusiven Nutzen im Dienst für das arbeitende Volk und die Interessen der Gesellschaft sichert.“
Damit bleibt das staatliche Informationsmonopol als zentraler Pfeiler der Herrschaftssicherung auch in den 1990er Jahren erhalten. Aber die extreme Geschlossenheit der Informationssysteme, die dazu führte, dass die Definitionshoheit über die Realität weit gehend in staatlichen Händen lag, ist seit Beginn des Massentourismus und der Verbreitung des Internets nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Anschluss ans Internet

Im Oktober 1996 wurde Kuba offiziell ans Internet angeschlossen. Zugang zum Internet wird allerdings nur juristischen Körperschaften wie Unternehmen und öffentlichen Institutionen gewährt. In einigen Ausnahmen können private Anschlüsse genehmigt werden. Diese müssen aufwendig beantragt werden, werden meist nur AusländerInnen oder hohen politischen FunktionärInnen erteilt und sind sehr teuer, was bereits einen großen Teil der kubanischen Bevölkerung von der legalen Nutzung ausschließt. Diese umgeht die daher aufgestellten Verbote auf vielfache Weise. Seit einem Hackerangriff auf eine staatliche Internetseite im Winter 2003 wird die Nutzung dieser illegalen Internetzugänge jedoch massiv geahndet.
Die kubanischen Behörden begründen den beschränkten Internetzugang mit mangelnden Kapazitäten. Angesichts der massiven inhaltlichen Kontrolle der Internetnutzung scheint aber die rein technische Begründung des Staats nicht glaubwürdig: Viele kuba-kritische Seiten sind von den Servern der Insel aus nicht, oder nur durch umständliche Verfahren, einzusehen, der Inhalt von E-Mails wird gelesen, die Nutzung der Computer an öffentlichen Orten überwacht, so dass der „Missbrauch“ auf Personen rückführbar ist. Das Motiv, neue Informationstechnologien zwar für die kontrollierte Verbreitung von Bildungsinhalten, gelenkte Informationen und die Außendarstellung zu nutzen, wird begleitet von der Furcht vor dem Verlust der Informationshoheit des Staates.

Die „schöne Konsumwelt“

Auch der Massentourismus untergräbt die selektive, informationelle Abschottung der Insel vom Weltgeschehen. Die Präsenz von mittlerweile rund zwei Millionen TouristInnen jährlich, die Zeitungen und Bücher mitbringen und die Möglichkeit, sich im Gespräch mit den BesucherInnen über eine andere Perspektive auf die Welt zu informieren, schafft Zweifel am Wahrheitsgehalt der staatlichen Presse. Oft ist es aber der bloße Eindruck der schönen Konsumwelt, die jenseits der Grenzen der Insel wartet, der überwiegt und viele den Traum eines Lebens in Reichtum in den USA oder Europa haben lässt.
Deutlich wird, dass sich kritische Medien in Kuba mit der Situation konfrontiert sehen, dass Basisinformationen für den Großteil der Bevölkerung nicht zugänglich sind: Als 2003/04 auf der Nachbarinsel Haiti Unruhen ausbrachen, dauerte es geraume Zeit, bevor sich die politische Führung dazu entschloss, die kubanische Öffentlichkeit darüber zu informieren. Die Informationsübermittlung ist davon abhängig, ob ein Ereignis politisch förderlich aufbereitet werden kann oder eine Gefährdung für die nationale Einigkeit darstellt.
Vor diesem Hintergrund stellt bereits der Zugang zu internationalen Mainstream-Medien eine Möglichkeit dar, sich unabhängig von den vom Staat verbreiteten Informationen eine Meinung zu bilden. Der Zugriff auf solche Medien ist aber extrem begrenzt und wird meist durch das Ausland politisch instrumentalisiert.
So versuchen US-amerikanische Radio- und Fernsehsender gezielt, anticastristische Informationen zu verbreiten. Der wohl bekannteste Sender ist Radio Martí, der stark von den Positionen kubanischer Exilanten in Miami geprägt ist. Sein Empfang wird in Kuba gestört, dennoch kann die Frequenz fast überall auf der Insel empfangen werden. Eine politisch wesentlich moderatere Linie als die oft aggressiv anticastristischen Erzeugnisse aus den USA verfolgt zum Beispiel die Zeitschrift Encuentro con la Cultura Cubana. Sie wurde vom faktisch ausgebürgerten kubanischen Schriftsteller Jesús Díaz in Spanien gegründet und behandelt neben kulturellen auch gesellschaftliche und politische Fragen. Seit Ende der 90er Jahre ist sie auch im Internet einzusehen. Der Zugriff auf die Seite ist von kubanischen Servern aus jedoch nicht möglich.

Abhängig vom Ausland

Seit Mitte der 90er Jahre existiert auf Kuba eine Reihe kleinerer, so genannter unabhängiger, das heißt nicht staatlicher und somit illegaler Presseagenturen. Diese haben keine Möglichkeiten zur Publikation im Inland. Zudem verlieren die MitarbeiterInnen auf Grund ihrer Tätigkeit oft ihre Arbeit und werden abhängig von der Bezahlung aus dem Ausland, vor allem den USA. So geraten sie, ob gewollt oder nicht, in das Netz der politischen Konfrontation zwischen den USA und Kuba. Eigentlich jedoch ist durch das 1999 erlassene „Gesetz zum Schutze der nationalen Unabhängigkeit und kubanischen Wirtschaft“ jede Kollaboration mit US-amerikanischen Medien unter hohe Strafen gestellt.
Zeitgleich mit dem Beginn des Irakkrieges 2003 wurden auf Grund dieses Gesetzes 75 so genannte DissidentInnen, davon 27 staatlich nicht zugelassene JournalistInnen, verhaftet und zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Weitere JournalistInnen wurden mit Repressalien und Haft bedroht. Die Tätigkeit der so genannten unabhängigen JournalistInnen ging danach auf Grund dieser Einschüchterungen stark zurück.
Innerhalb der inländischen unabhängigen Presse, die zugleich kaum Kontakte mit dem Exil sucht, sind die Publikationen der katholischen Kirche hervorzuheben, die seit Anfang der 90er Jahre erscheinen. Sie sind illegal, werden staatlicherseits aber toleriert. Viele dieser Publikationen verfolgen ein christliches Programm, das gesellschaftliche und politische Themen weitgehend ausspart. Heraus ragt die zweimonatliche Publikation Vitral. Sie wird seit 1994 mit einer Auflage von circa 3500 Exemplaren veröffentlicht und verfolgt als Programm die Schaffung von mehr Unabhängigkeit für die BürgerInnen vom Staat und die Förderung von mehr Verantwortung und Gestaltungsspielräumen in der Lebensführung. Artikel werden namentlich gezeichnet, ein jeder soll für seine Positionen gerade stehen. Oft greift die Zeitschrift Themen auf, die von der staatlichen Presse ausgeblendet werden, was mit einer nicht beschönigenden Darstellung von Alltagsproblemen beginnt. Vitral will ein Forum für Debatten sein, um ein „neues Zukunftsprojekt“ zu entwickeln, bevor die US-AmerikanerInnen dies tun. Das führt allerdings zu Spannungen mit dem Staat. Redaktionsmitglieder der Zeitschrift werden bedroht, mindestens einer von ihnen hat seinen Arbeitsplatz verloren, VerfasserInnen von Beiträgen werden aufgefordert, künftige Mitarbeit zu unterlassen, wenn sie Sanktionen vermeiden wollen.

Die Suche nach Alternativen

Räume für einen nichtzensierten Austausch zu entwickeln, ist für eine Reihe kleinerer politischen Gruppen gerade in Hinblick auf eine nachcastristische Zeit von immenser Wichtigkeit. Sie fürchten, dass andernfalls viele KubanerInnen dem politischen Geschehen weiter passiv gegenüber eingestellt bleiben könnten und autoritäre Tendenzen, beziehungsweise die USA, leichtes Spiel hätten sich durchzusetzen. Im Glauben, dass der karibische Realsozialismus nicht zukunftsfähig ist und gleichzeitig unwillig, einen Übergang in einen deregulierten Kapitalismus als einziges Schicksal zu begreifen, suchen sie nach Alternativen. Allerdings verfügen die wenigsten dieser Gruppen über eigene Organe, sondern treffen sich in Privathäusern und an einigen wenigen öffentlichen Treffpunkten. Sie sind eine kleine Minderheit, die toleriert wird, solange sie keine Massenwirksamkeit erlangt und keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt.
Was geschieht, wenn der Einfluss zu groß wird, zeigt das Beispiel des Zentrums für Amerikastudien (CEA) und seiner Quartalspublikation Cuadernos de Nuestra América. In diesem Zentrum wurden auf dem Höhepunkt der Krise zu Beginn der 90er Jahre zentrale Beiträge der einsetzenden Reformdebatte formuliert, die bald auch international stark rezipiert wurden. Das Zentrum wurde daraufhin 1996 komplett umbesetzt. Begründet wurde diese Entscheidung damit, dass das Zentrum begonnen habe, eigene Reformvorschläge zu machen, anstatt der kommunistischen Partei, der es direkt unterstellt ist, zu folgen.
Ein weiteres Beispiel auf niedrigerer Ebene sind die mehrfachen Versuche von Studierenden der Universität in Havanna, kleine unabhängige Zeitschriften zu gründen. Trotz ihres zum Teil fast auffällig unpolitischen Inhalts wurden diese immer wieder umgehend verboten, die Verantwortlichen in einigen Fällen von der Universität verwiesen.
Andererseits gab es in den 90er Jahren einige Neuerscheinungen, die der Reflexion über den gesellschaftlichen Wandel Raum geben. So erscheint seit 1995 die umfangreiche Vierteljahreszeitschrift Temas, die von Rafael Hernández, einem ehemaligen Mitglied des Zentrums für Amerikastudien, herausgegeben wird und sich in ausführlichen Artikeln inländischer wie ausländischer AutorInnen kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Themen widmet.
Ergänzt wird dieses Szenario durch alle Arten von Medien inländischer und ausländischer Herkunft, die gedruckt, elektronisch, als Videokassette oder CD unter der Hand und durch kommerziellen illegalen Verleih zirkulieren und einen größeren oder kleineren Rezipientenkreis erreichen.
Insgesamt ist es im letzten Jahrzehnt zu einer Diversifizierung der zugänglichen Informationen und der Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit dem Ausland gekommen, was vor allem auf die Verbreitung des Internets zurückzuführen ist. Trotzdem lässt sich festhalten, dass der kubanische Staat seine strenge Kontrolle der Medien und Informationsmöglichkeiten weiterhin aufrecht erhält. Die Rolle der staatskonformen Massenmedien wurde im Rahmen einer politischen Strategie für die eigene Herrschaftssicherung, die sich extrem auf Massenmobilisierungen und massenmedial getragene Kampagnen stützt, sogar noch gestärkt.

Die Freunde aus dem gelben Haus

Großformatig und im Vielfarbendruck kommen die „Werten Freunde“ aus Brasilien daher. Ganze 27×33 Zentimeter sind sie groß, dabei um die 50 Seiten dick und auch sonst nicht zu übersehen: Unter den Printmedien am Zeitungskiosk sticht Caros Amigos durch eine unabhängig-kritische Meinung und ein unkonventionelles Layout hervor. Doch dazu später. Zunächst einmal muss betont werden, dass es von den „Werten Freunden“ viele gibt. 38.000 Exemplare werden monatlich an AbonnentInnen verschickt oder gehen in ganz Brasilien über den Ladentisch an die LeserInnen. Die geehrten Freunde, das sind die Caros Amigos, Brasiliens größtes alternatives Printmedium.

Lesestoff statt Bilderbuch

Verlegt wird die Monatszeitschrift im hauseigenen Verlag Casa Amarela (gelbes Haus). Gelb ist das Verlagshaus in São Paulo‘s Szeneviertel Vila Madalena tatsächlich, ungewöhnlich für eine Stadt, in der grauer Beton den Ton angibt. Ungewöhnlich sind auch die elf RedakteurInnen der Casa Amarela – ungewöhnlich nett.
„Die Caros Amigos sind seit ihrer Gründung vor acht Jahren zu einer festen Größe avanciert“, macht Wagner Nabuco, geschäftsführender Vertriebsleiter, selbstbewusst klar. Dabei wurde anfangs noch nicht einmal eine Marktanalyse erstellt. Durch reine Mundpropaganda machten sich die Amigos schnell Freunde im ganzen Land. Angesichts der neoliberalen Politik des damaligen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso gab es innerhalb der Linken ein starkes Bedürfnis nach einem unabhängigen Medium: „Für alle die lesen können“, so der charakterträchtige Leitspruch der Zeitschrift.
Und hier liegt auch das Erfolgsrezept der Caros Amigos: „Wir sind – im Gegensatz zu den anderen Printmedien – nie dem Trend gefolgt, der den Text zugunsten der Illustrationen verdrängt. Die Caros Amigos sind kein Bilderbuch. Unsere KäuferInnen wissen zu schätzen, dass wir ihnen durchaus noch die Fähigkeit zum Lesen zutrauen“, so Nabuco.
Und das zu Recht: 91 Prozent der LeserInnen haben eine Universität besucht. Die Caros Amigos richten sich damit an eine intellektuelle Minderheit der brasilianischen Mittel- und Oberschicht, die Wert auf eine unabhängige und kritische Meinung legt – und bereit ist, dafür zu bezahlen. Mit umgerechnet zwei Euro pro Ausgabe sind die „Freunde“ nicht nur geehrte, sondern auch teure Zeitgenossen. Trotzdem halten 79 Prozent der KäuferInnen die Zeitschrift für „unentbehrlich“.

Prominente Freunde

Zu den hauseigenen AutorInnen, die regelmäßig publizieren, zählen prominente Größen wie der brasilianische Befreiungstheologe Frei Betto, der Journalist und Universitätsprofessor Emir Sader oder Heloísa Fernandes, Tochter des verstorbenen Soziologen Florestan Fernandes. Auch João Pedro Stedile, nationaler Leiter der Landlosenbewegung MST, der in den konservativen Medien oft verzehrt dargestellt wird, schreibt für die Caros Amigos.
Die kritischen und gut recherchierten Artikel, fundierte Analysen, sensible Porträts und bissige Kommentare sind es, die der Zeitschrift Charakter verleihen. „Die Caros Amigos sind keine Zeitung im klassischen Sinne“, erläutert Marina Amaral, Verlegerin der Zeitschrift, „Sie fungieren als Forum für die Linke in Brasilien. Uns erreichen Email-Zuschriften aus Dörfern im Hinterland, von denen wir selbst nicht geglaubt hätten, dass es sie gibt.“ Den Caros Amigos gelingt dabei eine interessante Mischung. So kann auf einen mehrseitigen Beitrag zu Themen wie Menschenrechte, Hungerbekämpfung oder Antisemitismus durchaus ein spontan verfasstes Gedicht oder ein lockerer Kommentar zu einer Banalität folgen.
Neben einer Fotostrecke ist das Highlight jeder Ausgabe das „Explosive Interview des Monats“ mit Personen wie der Tochter von Che Guevara, Aleida Guevara, oder Dom Tomás Balduíno, Präsident der Landpastorale CPT, die unter anderem die MST unterstützt. Berüchtigt sind die „Werten Freunde“ für ihre Randbemerkungen. Bezogen auf Lulas Null-Hunger-Programm schreiben sie: „Das Evangelium gemäß der Regierungspartei PT: Unser tägliches Brot gib uns im Jahre 2099.“
„Obwohl wir der PT nahe stehen: Ein Blatt wird deswegen schon lange nicht vor den Mund genommen“ konstatiert Amaral und zündet sich noch eine Zigarette an. Sie sieht die Funktion der Caros Amigos hauptsächlich darin, ein Gegengewicht zu den konservativen Mainstream-Medien zu bilden. Da haben sie keine leichte Aufgabe gewählt, denn Brasiliens Medienmarkt ist stark monopolisiert.

Mediale Latifundien

Die auflagenstärksten Printmedien gehören den großen Verlagshäusern Abril und Globo, die mit ihren hohen Marktanteilen auch politische Einflussnahme ausüben können. Zwei Drittel des Zeitschriftenmarktes werden allein von Abril kontrolliert. „Mit den Medien in Brasilien verhält es sich wie mit der Landkonzentration: Es gibt Latifundien so groß wie Belgien und es gibt Medienkonzerne die Kartellen gleichkommen“, bringt es José Arbex auf den Punkt. Arbex ist Hausautor und gilt als einer der Charakterköpfe bei den Caros Amigos.
Die Konzentration der Medien in den Händen Weniger führt zu einem Informationsmonopol über die öffentliche Meinung und einer Unterdrückung kritischer Stimmen. Laut Arbex ist Brasilien noch weit von einer Mediendemokratie entfernt. Ihre Vormachtstellung würde es den großen Verlagshäusern erlauben, eine regelrechte Zensur auszuüben, so der Autor. Das Privileg, sich unabhängig informieren zu können, sei bisher nicht jedem gegeben.
Kleinere Printmedien haben mit einer Reihe von Schwierigkeiten zu kämpfen, um sich zu etablieren. Nicht zuletzt, weil auch die Papierpreise in Brasilien von den wenigen Großkonzernen diktiert werden, die die Produktion in ihren Händen halten. Preise, die für die meisten Markteinsteiger schnell das finanzielle Aus bedeuten.
Einen besonderen Rückschlag musste Brasil de Fato (Das tatsächliche Brasilien) gleich zu Beginn ihrer Existenz hinnehmen. Die linke Wochenzeitung wurde 2003 auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre von verschiedenen sozialen Bewegungen auf den Weg gebracht, vor allem von der MST. Schon nach den ersten Ausgaben aber wurde die Zeitung von der zuständigen Verteilungsfirma nicht mehr an die Kioske geliefert.
„Brasil de Fato war zu unbequem – das hat einigen einfach nicht gepasst“, erzählt Mitbegründer José Arbex. Trotzdem konnte Brasil de Fato sich durchsetzen und wird weiterhin publiziert.

Alles im gelben Bereich

Alternative Medien könnten sich, so Arbex, höchstens kleine Freiräume innerhalb eines festgefügten Systems erkämpfen. „Aufgabe der Regierung wäre es, die Medien zu reformieren und die Monopole zu brechen. Solange dies nicht geschieht, solange macht euch keine Illusionen“, so der trockene Kommentar des Autors.
Illusionen macht sich die Casa Amarela nicht. Das gilt auch hinsichtlich der Finanzierung. „Klar gibt es finanzielle Engpässe“, gibt Nabuco zu und legt die Karten offen auf den Tisch. Um mit diesem Problem umzugehen, akzeptieren die Caros Amigos auch den brasilianischen Staat und große Firmen als Anzeigenpartner. Zum Beispiel Coca-Cola, Sinnbild für Globalisierung und Einflussnahme multinationaler Konzerne. Laut Nabuco haben diese Anzeigen aber nichts mit dem Inhalt zu tun. „Wir handeln da ganz pragmatisch. Nur weil Coca-Cola bei uns Werbung schaltet, heißt das noch lange nicht, dass wir aufhören, den Konzern zu kritisieren.“ Die Anzeigenkunden würden um den gebildeten und finanzkräftigen LeserInnenkreis wissen und trotzdem inserieren. „Ohne die Werbeeinnahmen würde es die Caros Amigos nicht mehr geben“, ergänzt Nabuco, „da ist der Kompromiss mit den Anzeigen das kleinere Übel.“
Von der Gefahr schließen zu müssen, sind die Caros Amigos glücklicherweise weit entfernt. Im Gegenteil: Bisher konnte sich die Casa Amarela mit Intelligenz und Professionalität erfolgreich behaupten.
So bringt der Verlag nicht nur monatlich die Caros Amigos heraus, sondern auch eine Reihe von Büchern und Sonderheften, etwa zu Literatur aus den Favelas. Verkaufsknaller ist allerdings die Edition „Brasilianische Rebellen“: Zwei Bände über das Leben verschiedenster brasilianischer Persönlichkeiten – ebenso außergewöhnlich wie die Caros Amigos selbst.

Die „Werten Freunde“ im Internet: www.carosamigos.com.br

Meister des Wortspiels

Nach Bekanntwerden des Todes von Guillermo Cabrera Infante rückten die deutschen Nachrichtenagenturen vor allem den politischen Aspekt seines literarischen und journalistischen Schaffens in den Vordergrund. Dass Cabrera Infante ein „Symbol des kubanischen Widerstands“ gewesen sei, fand sich auch in den Nachrufen von Spiegel bis Zeit. Zu lange, könnte man vermuten, lag das Erscheinungsdatum seines Hauptwerkes Tres tristes tigres (1967, deutsch 1987 Drei traurige Tiger) zurück, mit dem der Autor auch in Deutschland eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte.

„Puff für europäische Touristen“

Cabrera Infantes von den KritikerInnen vielgepriesenes intellektuelles Engagement beschränkte sich aber vor allem auf den spanischsprachigen Raum, zuletzt auf seine regelmäßigen Kolumnen in der Madrider Tageszeitung El País. Hierzulande fiel er vor kurzem durch einige abfällige Bemerkungen über das heutige Kuba auf: „Unter der (1959 von Castro gestürzten) Batista-Diktatur, so hieß es immer, war Kuba ein Bordell für die Amerikaner. Heute ist es zu einem Puff für europäische Touristen geworden“, erklärte der Schriftsteller mit seinem notorischen Hang zu Wortspielen Anfang diesen Jahres dem Spiegel.
Im Gegensatz zu anderen Boom-Autoren wie Gabriel García Márquez, Carlos Fuentes und Mario Vargas Llosa gehörte Cabrera Infante zu Unrecht zu den Autoren, deren Ruhm auf nur ein Buch gründete. Zwar war er nach Drei Traurige Tiger weiterhin schriftstellerisch tätig, doch seine Werke fanden weder bei den KritikerInnen noch bei der Leserschaft einen vergleichbaren Widerhall. Dazu mag auch der Autor selbst beigetragen haben, indem er Vorarbeiten und Teile seines Erfolgsbuches im Nachhinein als eigenständige Erzählungen veröffentlichte – so als würde er selbst wenig Vertrauen in seine späteren Werke setzen.
Überraschend kam dann auch die Verleihung des Cervantes-Preises 1997, der bedeutendsten Auszeichnung für spanischsprachige Literatur. Eine Art späte Genugtuung für einen Autor, der gegenüber anderen SchriftstellerInnen der Boom-Generation zunehmend ins Hintertreffen geraten war, während deren Veröffentlichungen bis heute als literarische Großereignisse gefeiert werden.
Guillermo Cabrera Infante wurde am 22. April 1929 in Gibara auf Kuba geboren. Als er zwölf Jahre alt war, zog er mit seinen Eltern nach Havanna um. Das Jahr 1947 markierte einen ersten Wendepunkt in seinem Leben: er gab das Medizinstudium auf und fing an zu schreiben. 1950 begann er ein Studium an der Journalistenschule – der Journalismus sollte, neben dem Kino, zu einer seiner großen Leidenschaften werden.
1952 geriet Cabrera Infante zum ersten Mal mit der strengen Zensurbehörde des Batista-Regimes in Konflikt. Aufgrund der Veröffentlichung einer Kurzgeschichte, die, so der Vorwurf, „englisch profanities“ (also Anzüglichkeiten) enthalten hätte, wurde er festgenommen und musste schließlich eine Geldbuße bezahlen. Aus dieser Zeit rührte seine erbitterte Gegnerschaft zum Batista-Regime, die ihn später noch ins Gefängnis bringen sollte. Auch seine Eltern waren als Mitgründer der kommunistischen Partei Kubas Oppositionelle.
1953 heiratete er zum ersten Mal. Ein Jahr später begann er unter dem Pseudonym G. Cain in der Wochenzeitung Carteles Filmkritiken zu schreiben. 1957 wurde er sogar Redaktionschef des Blattes. Zusätzlich zu seiner journalistischen Tätigkeit, verfolgte er seine schriftstellerischen Ambitionen und gewann in den folgenden Jahren mit seinen Kurzgeschichten Preise und Auszeichnungen. Er nahm aktiv am intellektuellen Leben Kubas teil, gründete die Cinemateca de Cuba, der er von 1951 bis 1956 als Leiter vorsaß. Nach der Revolution 1959 wurde er zum Direktor des Nationalen Kulturrats und des Filminstituts ernannt. Gleichzeitig dirigierte er die Literaturbeilage „Lunes de Revolución“ von der Gründung bis zu deren Schließung im Jahr 1961. Doch erst 1960 erschien seine erste bedeutende Erzählung Como en la paz en la guerra (deutsch Wie im Krieg so im Frieden). Ende 1961 heiratete er die Schauspielerin Miriam Gomez.
War Cabrera Infante anfangs als Teil des Batista-Widerstands ein Anhänger der kubanischen Revolution, begann bald nach den ersten Säuberungen und Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit seine Entfremdung von der Regierung Fidel Castros. Anfang der 60er Jahre protestierte er öffentlich gegen die Zensur literarischer Bücher und ging daraufhin in den diplomatischen Dienst nach Europa. Er selbst interpretierte seine Berufung zum Kulturattaché der kubanischen Vertretung in Belgien als „Abschiebung“. Dieser Aufenthalt im Ausland beschäftigte Cabrera Infante auch noch nach dreißig Jahren im Exil. Er schrieb, dass dieser ihm in Bezug auf die kubanische Revolution „die Augen geöffnet“ habe. Danach habe er sich in einen Gegner Castros verwandelt.
1964 gewann er seinen ersten internationalen Preis mit Vista del amanecer en el trópico (deutsch Die Ansicht der Tropen im Morgengrauen) den Preis „Biblioteca Breve“ des katalanischen Verlagshauses Seix Barral. 1965 kehrte er das letzte Mal nach Kuba zurück, um dem Begräbnis seiner Mutter beizuwohnen. Danach quittierte er den diplomatischen Dienst und ging freiwillig ins europäische Exil: zuerst für eine kurze Zeit nach Madrid, danach nach London. 1979 erhielt er die britische Staatsbürgerschaft.

Experimentelles Delirium

Mit der Veröffentlichung von Tres tristes tigres wurde er international berühmt. Es ist ein Sittengemälde des nächtlichen vorrevolutionären Havannas. Während einer endlosen Autofahrt erzählen sich drei Freunde, die „Tiger“, ihre Geschichten von Liebe, Sex, Musik, Drogen und Gewalt. Immer wieder wird diese Fahrt unterbrochen durch eingeschobene Erzählungen, Kino-Plots und Nebenhandlungen, in denen Cabrera Infante seine Vorliebe für Sprachspiele und Experimente verfolgt. Unvergessener Höhepunkt seines experimentellen Deliriums ist eine Folge von Erzählungen, die, den Stil verschiedener kubanischer Autoren imitierend, den Tod von Leo Trotzki schildern.
Andere Hauptwerke von Cabrera Infante sind Rauchzeichen (Holy Smoke, 1963), eine Kulturgeschichte des Tabaks, und der Essay Kino oder Sardine? (Cinema or Sardine?, 1997). Zudem verfasste er Drehbücher wie etwa für John Houstons Adaptation von Malcom Lowrys Unter dem Vulkan. Auf Deutsch erschien von ihm außerdem eine Sammlung von Film-Essays mit dem Titel Nichts als Kino (alle deutschen Titel im Suhrkamp Verlag).
Die letzten Jahre seines Lebens lebte er in London und widmete sich der Literatur und dem Journalismus. 1991 rechnete er in einer Sammlung politischer Schriften, Mea Cuba, mit Castro ab. Nach Kuba wollte er erst wieder zurückkehren, nach dem Ende der Regierung Castro, erklärte er noch 1997.
Im Alter von 75 Jahren erlag Cabrera Infante am 21. Februar 2005 in einem Londoner Krankenhaus einer Blutvergiftung, die er sich als Folge mehrerer schwerer Erkrankungen zugezogen hatte. Nach Angaben seiner Familie hatte er sich kürzlich bei einem Sturz eine Hüfte gebrochen. Außerdem litt er an Diabetes und einer Lungenentzündung.

“Eine Gesellschaft des Compañerismo”

Die Contras verbreiteten Angst und Schrecken. Sie warfen aus Flugzeugen Puppen und Mickey Maus-Figuren ab, in denen Bomben versteckt waren. Sie entführten Bauern und Bäuerinnen, folterten sie in geheimen Gefängnissen, rissen ihnen bei lebendigem Leib mit Löffeln die Augen aus dem Kopf. Man nannte sie „Schwarze Boa“, „Skorpion“, „Söldner“, „Bestie“ oder „Klapperschlange“.
Der damalige US-Präsident Ronald Reagan gab ihnen allerdings andere Namen: „Paladine der Freiheit“. Die Contras waren von den USA mit Waffen aus illegalen Geschäften versorgt und von der CIA im Martern und Morden ausgebildet worden. Sie fielen in Nicaragua ein, um die Revolution zu zerstören.
„Im Herzen der Revolution“, so der Buchtitel, stand der Dichter und Priester Ernesto Cardenal. Nachdem er in den ersten zwei Bänden seine Kindheit und Jugend in der Hauptstadt Managua, seine Lehr- und Wanderjahre durch Klöster und zu Indio-Gemeinschaften auf dem ganzen amerikanischen Kontinent sowie den Aufbau seiner christlich-kommunistischen Gemeinschaft auf dem Insel-Archipel Solentiname beschrieben hat, geht es im dritten und letzten Teil seiner Erinnerungen nun – endlich – um den Sieg und die Niederlage der sandinistischen Revolution. Um die Revolution, die das kleine Nicaragua umkrempelte und die zur Projektionsfläche der Sehnsüchte Hunderttausender Intellektueller und StudentInnen, GewerkschafterInnen und Kirchenleute auf der ganzen Welt machte.
Der Sieg der Revolution musste hart erkämpft werden: militärisch von der Guerilla in Nicaragua, diplomatisch von den Oppositionellen im Exil.

Cardenals Mission

Cardenal, der sich schon in Solentiname der Sandinistischen Befreiungsfront angeschlossen hat und nach der Zerstörung der Kommune durch Somozas Garde ins benachbarte Costa Rica ausgewichen ist, wird auf Reisen geschickt. Er wirbt bei Präsidenten und Prominenten für die Sache der SandinistInnen, er gründet in zahlreichen Ländern Solidaritäts-Komitees, sammelt Geld für Waffen und Wohlfahrt.
In Den Haag verwechselt er einmal die Büros von zwei Hilfsorganisationen. Während die eine nur Geld für humanitäre Zwecke gibt, unterstützt die andere den Guerilla-Kampf.
Cardenal erklärt einer Mitarbeiterin „alles über Witwen und Waisen, Verwundete und Familienangehörige von politischen Gefangenen, und sie ließ mich höflich 20 Minuten lang reden, um mir dann zu sagen, sie verstehe vollkommen, aber es tue ihr sehr leid, sie gäben nur für den bewaffneten Kampf. Da musste ich damit heraus, dass wir auch dafür Geld brauchten, das sei eine weitere Priorität für uns, und ich beschrieb ihr in allen Einzelheiten unseren bewaffneten Kampf.“
In seinem Buch lässt Cardenal die Aufstände in Massaya und die Barrikaden-Kämpfe in Managua Revue passieren, ebenso wie die Einnahme von immer mehr Städten durch die Guerilla und schließlich den triumphalen Einzug der siegreichen FSLN in die Hauptstadt am 18. und 19. Juli 1979. Cardenal erinnert sich „an diese grandiose Fahrt wie an einen Traum, in einer Karawane, die kein Ende zu nehmen schien.“

Lob der Revolution

Wer von Cardenal eine kritische Auseinandersetzung mit der Revolution erwartet, braucht das Buch nicht zu lesen. Auch ein objektiver Chronist der damaligen Ereignisse ist der Autor ganz sicher nicht. „Auf der Welt gibt es immer noch Menschen, die sich für die nicaraguanische Revolution begeistern, jetzt, wo es in Nicaragua keine Revolution mehr gibt“, schreibt er. Und am meisten von allen begeistert er sich selbst dafür.
Cardenal besingt, ja, beschreit die Revolution in den höchsten Tönen, beschreibt sie in bunten Bildern und Beispielen.
Er erzählt, wie die StudentInnen aufs Land zogen, um den Bauern und Bäuerinnen Lesen und Schreiben beizubringen, und wie selbst gefangene Nationalgardisten im Knast alphabetisiert wurden. Wie BettlerInnen und Kriminelle von den Straßen verschwanden. Dass überall – Cardenal ist zum Kulturminister ernannt worden – Kulturhäuser, Dichter-Werkstätten und Theatergruppen wie Pilze aus dem Boden schossen. „Eine neue Gesellschaft wurde geschaffen, eine solidarische Gesellschaft der Geschwisterlichkeit und des ‘Compañerismo’“, heißt es an einer Stelle.
In seiner Leidenschaft, seinem fast bedingungslosen Bekenntnis, wankt und schwankt Cardenal auch dann nicht, als die Revolution angesichts des Contra-Krieges die Zügel anzieht, einen Zwangs-Militärdienst einführt und die oppositionelle Zeitung „La Prensa“ verbietet: „Ich gehöre nicht zu den Leuten, die die Einschränkung der Pressefreiheit für einen Fehler der Revolution halten.“
Dabei weiß Cardenal in seinem großen Zorn auf die Aggressoren sehr wohl zu differenzieren zwischen dem nordamerikanischen Volk und dem „Yankee“. Letzterer ist für ihn „grundsätzlich der Besatzer, der Imperialismus“.
1990 verliert die FSLN die Wahlen. Die Nacht danach ist für Ernesto Cardenal „die dunkelste Nacht meines Lebens“. „Ich lag in meiner Hängematte und konnte den Willen Gottes nicht verstehen.“
Später schreibt er, dass die Wahlniederlage eigentlich ein moralischer Sieg der Revolution war, weil diese sich als demokratisch erwiesen hat, doch das nimmt man Cardenal nicht so recht ab.
Die so genannte „Piñata“, bei der sich sandinistische Funktionäre der FSLN im Zuge des Machtwechsels Häuser, Fincas und Fabriken unter den Nagel rissen, prangert Cardenal als Sargnagell für die Revolution an. „Es war die Piñata, die sie zerstörte und dafür sorgte, dass die Revolution aufhörte, Revolution zu sein.“ Tief enttäuscht, tritt Cardenal aus der FSLN aus. Sandinist aber bleibt er, Sandinist und Revolutionär, und er ist sich ganz sicher: „Es wird weitere, neue Revolutionen geben.“

Ernesto Cardenal: Im Herzen der Revolution. Aus dem Spanischen von Lutz Kliche. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2004. 304 Seiten, 25 Euro.

Umkämpfte Erinnerung

No al olvido – Nein zum Vergessen. Oft wurde und wird der Kampf für die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheiten von Staatsterrorismus, Militärdiktaturen und Bürgerkriegen als ein Kampf zwischen Erinnerung und Vergessen dargestellt. Ein Blick auf Auseinandersetzungen um Erinnern und Vergessen in Lateinamerika zeigt jedoch, dass es dabei nicht schlicht um das Problem des Vergessens, sondern eher um unterschiedliche Erinnerungspolitiken verschiedener gesellschaftlicher AkteurInnen geht, die mit ungleichen Interessen und aus ungleichen Machtpositionen alle um die Interpretation und Konstruktion der Vergangenheit kämpfen. Damit diese Auseinandersetzungen allerdings möglich sind, müssen zivilgesellschaftliche Räume geschaffen werden, in denen Erinnerungen artikuliert und gehört werden können.

Drei Beispiele:

Peru, Argentinien und Guatemala
In Peru zum Beispiel untersuchte eine Wahrheitskommission in den letzten drei Jahren die Verbrechen des Staates und der Guerilla Sendero Luminoso aus der Zeit des Bürgerkrieges. Durch ihre Arbeit wurden erstmalig die Geschichten tausender Opfer der Gewalt öffentlich anerkannt, währenddessen jedoch die juristischen Konsequenzen – auch auf Grund der Komplexität der Frage von Täter und Opfer – minimal sind. Die Regierung Toledo vermied zudem eine politische Debatte über die Ergebnisse. Sie verhinderte bis heute die Umsetzung der Empfehlungen der Kommission und die Auszahlung der vereinbarten Reparationsleistungen.
In Argentinien kommt es in den letzten Jahren durch eine Verknüpfung zwischen Krise, sozialem Protest und den Erinnerungen an die Repression zu einer Repolitisierung des Menschenrechtsdiskurses. Darüber hinaus macht Präsident Kirchner durch seine Abkehr von der Politik des Schlussstrichs und der nationalen Versöhnung von sich Reden. Er machte sich die Forderung der Menschenrechtsorganisationen nach Aufarbeitung der Vergangenheit zu Eigen und ermöglichte, dass mehrere Amnestiegesetze der Vorgängerregierungen aufgehoben werden konnten. Kirchners eigene Gedenkpolitik hat aber auch Kritik auf Seiten der Menschenrechts- und Opferorganisationen auf den Plan gerufen, die der staatlichen Vereinnahmung mit Skepsis begegnen. Als er im März diesen Jahres das ehemalige Folterzentrum der Marine ESMA in Buenos Aires zum „Museum“ erklärte, entbrannte eine Debatte um den Sinn und Zweck von Erinnerungsräumen und die Frage wie und von wem diese gestaltet werden sollten. Vereinnahmung kommt aber hier nicht unbedingt nur vom Staat. Auch in Erinnerungsdiskursen der Menschenrechtsgruppen gäbe es Bevormundung und Moralisierung, befindet die argentinische Soziologin Elisabeth Jelin in dieser Ausgabe. Worum es heute ginge, sei die Geschichte in ihren Grautönen zu (re)konstruieren und die einfache Schwarz-Weiß-Logik der bösen Täter gegen die guten Opfer zu überwinden.

Die ungebrochene Kultur der Straflosigkeit

In Guatemala hingegen rief der Abschlussbericht der Kommission 1999 zum ersten Mal das Ausmaß der Gewalt gegen die indigene Bevölkerung ins öffentliche Bewusstsein. Die ungebrochene Kultur der Straflosigkeit, die unter anderem die Angststrukturen der Menschen zementiert, setzt heute in Guatemala einer demokratisierenden und für die Opfer „heilsamen“ lokalen Erinnerungsarbeit starke Grenzen.
Dies sind nur drei Beispiele für die Vielschichtigkeit des Themas der Aufarbeitung der Vergangenheit. In unserem Schwerpunkt Umkämpfte Erinnerung möchten wir das Problem der Aufarbeitung der Vergangenheit von der Konzentration auf juristische Strafverfolgung und historische Wahrheitsfindung ausweiten um die Dimension der Erinnerungspolitiken. Wessen Erinnerungen fließen in die Darstellung und Vermittlung von Geschichte ein? In welchem Verhältnis steht Erinnerungsarbeit mit einer Demokratisierung der politischen Kulturen in Gesellschaften mit stark autoritären und staatsterroristischen Vergangenheiten? Wie erschwert die ungebrochene Kultur der Straflosigkeit und der Angst an vielen Orten einen produktiven Umgang mit der Geschichte? Was ist die Bedeutung von lokaler Erinnerungsarbeit im pädagogischen und psychosozialen Bereich? In welchem Verhältnis steht der Kampf für die juristische Bestrafung der TäterInnen mit dem Kampf für die offizielle Anerkennung historischen Unrechts in den einzelnen Ländern? Was können Wahrheitskommissionen leisten? Inwieweit ist ein Menschrechtsdiskurs, der mit dem „unschuldigen Opfer“ argumentiert und auf das Opfer fixiert bleibt auch eine Entpolitisierung von Vergangenheit und Gegenwart? Wie greifen KünstlerInnen und SchriftstellerInnen das Thema der Vergangenheit von Staatsterrorismus auf?

Die Beiträge

Anika Oettler beleuchtet in ihrem Artikel „Die Grenzen der Erinnerung“ gesellschaftspolitische Entwicklungen und Ereignisse seit dem Friedensschluss in Guatemala, die sie als symptomatisch für das Nachwirken der Geschichte der Gewalt und Straflosigkeit betrachtet und berichtet von der Bedeutsamkeit und den Grenzen lokaler Erinnerungsarbeit unter diesen Bedingungen. In seinem Artikel „Und was ist mit Luísa und was ist mit Jacinto?“ berichtet Ulf Baumgärtner von den unzähligen anonym gebliebenen Opfern des salvadorianischen Bürgerkrieges, die auf keiner offiziellen Liste stehen und dessen Geschichten in den privaten Erinnerungen im Verborgenen bleiben.
Über die Dynamiken von Erinnerungsdiskursen und Erinnerungskämpfen in Argentinien jenseits der Gleichsetzung von Erinnerung mit Wahrheit sprach Anne Huffschmid mit der argentinischen Soziologin Elisabeth Jelin. Estela Schindel rollt in ihrem Artikel „Zehn Jahre Straflosigkeit“ vor dem Hintergrund des kürzlichen Freispruchs aller Angeklagten die Geschichte des Attentats auf das jüdische Gemeindezentrum AMIA in Buenos Aires neu auf, bei dem vor zehn Jahren über 80 Personen starben.
Die Übertragung des „Modells der jüdischen Geschichte“ und insbesondere des Holocausts für die literarische Erzählung des Terrors der Militärdiktatur bei argentinischen SchriftstellerInnen ist Thema Florinda Goldbergs Artikels „Jüdische Archetypen der argentinischen Katastrophe“. Kunst ist auch Thema von Elke Inders Artikel „Kunst als Gedächtnis“ über das Archiv der politischen Künstlergruppe Tucumán Arde aus den sechziger Jahren in Argentinien. Das Archiv trägt heute die Spuren der Zensur und der erlittenen Verluste während der Militärdiktaturen und macht gleichzeitig die Geschichte der Gruppe und historische Kontinuitäten sichtbar. Über das Archiv der chilenischen Menschenrechtsorganisation CODEPU, das dieses Jahr zum Dokumentarischen Erbe der Menschheit durch die UNESCO erklärt wurde, und über die Rolle der chilenischen Medien in der Erinnerungspolitik sprachen Anja Witte und Anne Becker mit der Psychiaterin und Vorsitzende von CODEPU Paz Rojas. Unter dem Motto „Erinnerung braucht Zukunft, Zukunft braucht Erinnerung“ berichtet Ilse Schimpf-Herken über einen chilenisch-deutschen LehrerInnenaustausch und Erinnerungs- und Menschenrechtsarbeit im pädagogischen Bereich und kommt zu dem Schluss, dass Erinnerungsarbeit interkulturell ausgerichtet sein muss.
Aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive setzt sich Uli Gödeking mit dem Thema Wahrheitskommission, juristische Strafverfolgung und Vergangenheitsarbeit auseinander. Vor dem Hintergrund der Erfahrung in Chile, Argentinien und Südafrika beleuchtet er die Arbeit der Wahrheitskommission der letzten Jahre in Peru.
Die Fotos im Schwerpunkt zeigen Arbeiten der argentinischen Künstlerin Verónica Sufuentes. Sie studierte Bildende Künste an der Escuela Nacional de Bellas Artes Prilidiano Pueyrredón und an der Escuela Superior de Bellas Artes Ernesto de la Cárcova. Sie lebt und arbeitet in Buenos Aires.

Kunst als Gedächtnis

Graciela Carnevale ist heute Kunstprofessorin an der Universidad de Rosario. Über die Zeit der Diktatur Onganías (1966-70) hat sie ein umfangreiches Archiv angelegt: Videos, Fotos, Briefe, Artikel und Dokumente über die Aktivitäten der Gruppe während der Diktatur. Doch auch viele Dokumente über die spektakulären Aktionen der Tucumáns hat sie aus Angst vor der Militärjunta vernichtet.
Durch das wachsende Interesse einiger WissenschaftlerInnen Anfang der neunziger Jahre an der Bewegung setzte sich Graciela erneut mit dieser Zeit auseinander. Unsichtbar waren diese ProtagonistInnen lange Zeit, so wie Ralph Ellisons „Invisible Man“. Erinnerung bedeutet auch, die Bedingungen der Wahrnehmung zu verändern, sie ist unmittelbar an performative Akte der Anerkennung geknüpft. Trotz einiger verlorener Dokumente hat die „Hardware“ des Archivs als Gedächtnisspeicher nicht versagt und die noch vorhandenen Dokumente geben nach wie vor ein Zeugnis über die Arbeit der Gruppe und die politische Situation unter Onganía ab. „Die Zeit hat das Archiv zu dem gemacht, was es heute ist. Seine Präsenz enthält zugleich auch Spuren dessen, was nicht mehr vorhanden ist, Spuren der Zensur, der Unterdrückung von Informationen, der erlittenen Verluste“, sagt Graciela. Schließlich hat sie in den letzten Jahren immer weitere Informationen und neue Interpretationen aufgenommen, das Archiv ist für sie zu einem Gedächtnis geworden, um einen wichtigen Lebensabschnitt zu bewahren. Die Erfahrung der Diktatur sei für politisch aktive KünstlerInnen oft traumatisierend gewesen, betont Alice Creischer. Viele seien entweder in die Guerilla eingetreten oder hätten der Kunst ganz abgeschworen.

A propos Marmeladenkultur

1965 schloss sich in Rosario eine Gruppe von jungen KünstlerInnen zusammen, die den Kunstbetrieb aufmischten und für Aufsehen sorgten. Es folgten einige Ausstellungen mit experimenteller Plastik und Objektkunst. Die Gruppe gewann durch weitere KünstlerInnen die verlorene Fähigkeit zur Konfrontation wieder und als eines ihrer originellsten Manifeste galt mit Sicherheit das „Anti-Marmeladenkultur-Manifest“ von 1966. Unter „Marmeladenkultur“ subsumierte man alle Kulturprodukte des bürgerlichen Mainstream und der akademischen Kunst. „Die Marmeladenkultur äußert sich täglich, wenn sie kreative Arbeit verhindert oder schwächt. Es gibt eine Marmeladen-Art zu sein und zu denken, eine Marmeladen-Literatur, ein Marmeladen-Theater, eine Marmeladen-Malerei und so weiter. Wir betonen noch einmal unsere Verteidigung einer ernsthaften, tief greifenden, kreativen und revolutionären Malerei, die dem Betrachter immer neue Möglichkeiten von Erkenntnis und Gemütsbewegung eröffnet; eine Malerei des Forschens, der Untersuchung, die die intellektuellen Möglichkeiten derer, die sie machen, ausdrucksvoll vereint.“
Wird hier lediglich die revolutionäre Malerei gefordert und sich an stilistischen Begriffen abgearbeitet, so richtet sich der interne Diskurs der Grupo de Arte de Vanguardia innerhalb der folgenden zwei Jahre zunehmend an politischen Themen aus. Die künstlerische Praxis wird zur politisch-revolutionären Praxis in vivo.

Kunst als politische Praxis

Der „Weg von ´68“ (Itinerario del ´68) bezeichnet eine Reihe von gemeinsamen Aktionen künstlerischer Gruppen oppositioneller und politischer Art gegen die damalige Militärdiktatur. In den letzten Monaten des Jahres 1968 entstand das Projekt Tucumán Arde als ein kollektiver Zusammenschluss von KünstlerInnen aus Rosario und Buenos Aires. An Tucumán Arde war nicht nur die Gruppe von KünstlerInnen beteiligt, sondern eine ganze Generation. Der Itinerario del ´68 arbeitete mit den Gewerkschaften CGT (Unión General de Trabajadores) zusammen und verstand sich als Kritik am etablierten KünstlerInnenbetrieb. „Es gibt keine ästhetische Betrachtung mehr, weil sich die Ästhetik im sozialen Leben auflöst“, hieß es auf einem Flugblatt, das Roberto Jacoby als Störung einer Ausstellung experimenteller Kunst verteilte. Ergänzt wurde seine „Arbeit“ durch ein Plakat, auf dem ein gegen den Vietnam-Krieg und Rassismus protestierender Farbiger zu sehen war. Die Nachrichten Agentur France-Press stellte einen Fernschreiber zur Verfügung und so konnte man sich beim Betrachten dieses „ästhetischen Ereignisses“ gleichzeitig über die ArbeiterInnenstreiks und Demonstrationen französischer StudentInnen informieren.
Auf dem ersten nationalen Treffen der AvantgardistInnen 1968 in Rosario wurde dann ein Programm formuliert, in dem die zukünftige inhaltliche Ausrichtung der Arbeiten festgelegt wurde. Diese „echte Avantgarde“, denn so definierten sie sich im Gegensatz zur „falschen Avantgarde“, suchte nach einer neuen Ästhetik und nach neuen Themen. Aus der historischen Avantgarde hatte sie die Idee aufgegriffen, Kunst und Leben miteinander zu verknüpfen, das hieß konkret, die Kunst im Rahmen eines revolutionären Prozesses zu begreifen. Theoretisch abgefedert wurde dies durch die marxistische Theorie, denn diese lieferte die bestmögliche Interpretation der bestehenden Verhältnisse. Tucumán Arde wollte eine Realität offenbaren: Die Repressionen gegen ArbeiterInnen, der GrundbesitzerInnen gegen Besitzlose und der EigentümerInnen der Produktionsmittel gegen ein Reserveheer von Arbeitskräften. Die massive Arbeitslosigkeit, Hunger und Armut waren nichts Neues in dieser Region. Virulent wurde dies in Tucumán durch die Schließung von Zuckerplantagen als Folge der Modernisierungsmaßnahmen der wirtschaftlichen Strukturen unter Onganía, die so genannte “Operativo Tucumán“.

Erinnerung: die Wahrnehmungsbedingungen ändern

Das Sprechen über das Archiv und seine Wiedersichtbarmachung bedeutet sicherlich nicht nur Aufarbeitung der Geschichte einer politisch arbeitenden KünstlerInnengeneration, die mit dem institutionalisierten Kunstbetrieb brechen wollte. Es bringt darüber hinaus die systematische und kontinuierliche Ausbeutungspraxis einer Region, die womöglich erst durch die aktuelle Krise wieder stärker sichtbar wurde, in den Vordergrund. In Tucumán besteht eine Kontinuität von Ereignissen und Prozessen der Neoliberalisierung der Wirtschaft, die sich bis heute fortschreibt.
„Pasos para huir del trabajo al hacer“ (Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun), so lautet der Titel des Ausstellungskataloges nach John Holloway. Damit ist vor allem das Ende einer Ausbeutungsform gemeint, die in der Arbeit organisiert ist. Es soll sämtliche Überlebensökonomien und Formen von Selbstorganisationen der ArgentinierInnen bezeichnen wie die escraches (politische Performance zur Ächtung straflos gebliebener Täter der Militärdiktatur) oder das Colectivo Situaciones. „Es kann bedeuten, dass diese Unverwertbarkeit eine Freisetzung von dem ist, was man als gesellschaftliches Tun bezeichnen kann. Dieses Tun ist der Gegensatz von Arbeit, es ist nämlich ein Handeln, das nicht mehr abgetrennt ist von der Umgebung und dem Leben, in dem es stattfindet.“ In diesem Sinne könnte die kontinuierliche Krise als Labor oder Öffnung zu verstehen sein. Allerdings verweist in diesem Zusammenhang der Begriff der Krise auf seine problematische Verwendung. Für die Videokünstlerin Ana Claudia García aus Tucumán steht der Begriff in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Thema Wahrheitsproduktion und scheinbarer Offensichtlichkeit. Wahrheit scheint durch die neuen Bild- und Informationstechnologien regelrecht überexponiert worden zu sein. Man glaubt, dass durch das steigende Ausmaß an Informationszugängen das Wissen erhöht wird. Repräsentation und Abbildung, Sichtbarkeit und Wahrheitsfindung sind aber keine so transparenten Begriffe, sondern abhängig von ihrer Wahrnehmung und dem Umfeld. So wurde in der öffentlichen Darstellung der Krisenregion Tucumán permanent und gezielt vorenthalten, dass gerade in dieser Region internationale Chemiekonzerne mit genmanipuliertem Sojasaatgut experimentieren und damit Rekordernten einfahren, also eine hochtechnologisierte Modernisierung stattfindet, die in krassem Gegensatz zu der Armut steht. Im Sinne einer Genealogie wollten die Ausstellungsmacher eine künstlerische Praxis und Untersuchung entwickeln, die genau über diese Zusammenhänge der Macht informiert.
Tucumán Arde arbeitete mit gezielt eingesetzten Überinformationen, bewussten Denunziationen und der dokumentarischen Fotografie als Strategie, um die konstruierte Öffentlichkeit der Onganía-Diktatur zu konterkarieren. Es bleibt die Frage, wie eine kritische Darstellung der Verhältnisse heute aussehen könnte. Das Colectivo Situaciones benutzt heute wieder den Begriff der „militanten Untersuchung“ für ihre Aktionen. Eine Methode, die die wissenschaftliche Objektivität ablehnt und die Involviertheit des Autors in eine politische Praxis fordert. Bei der Kölner Ausstellung führte diese Provokation zu einem politischen Übergriff der Politik auf die künstlerische Freiheit. Die Ausstellung löste einen Streit zwischen dem Direktor des Museum Ludwig, der reaktionären Kunstlobby und dem CDU-Kulturausschuss aus, der eine einstweilige Verfügung über einige Exponate erreichte. Die Kunst sei zu soziologisch und hätte keinen Subjektbegriff, lautete das Urteil.

Publikationen im Rahmen von „Ex Argentina“:
Schritte zur Flucht von der Arbeit zum Tun. Pasos para huir del trabajo al hacer. Ex Argentinia, Ausstellungskatalog, Alice Creischer, Andreas Siekmann, Goethe Institut Buenos Aires 2004
Tucumán Arde: eine Erfahrung, hg. Arbeitsgruppe Tucumán Arde, b_books, Berlin 2004
Colectivo Situaciones: Escrache. Aktionen nichtstaatlicher Gerechtigkeit in Argentinien. b_books, Berlin 2004
Eduardo Molinari: Das silberne und königliche Buch. Buenos Aires, 2004.

“Ich bin eine Überlebende”

Frau Cuartas, mit harter Hand gegen die Guerilla angetreten, gerät Alvaro Uribe Velez seit einem Jahr zunehmend in die Kritik. Ist dies berechtigt?

Zweifelsohne. Es gibt in Kolumbien drei Millionen Vertriebene, drei Viertel davon sind Frauen. Wir reden von 30.000 politischen Morden jährlich. Sie sind Ausdruck einer gewaltigen humanitären Krise, die durch Uribes Politik verschärft worden ist. Pro Monat werden 1.000 Menschen während Hausdurchsuchungen festgenommen, ohne dass ein Haftbefehl bestünde. Wir sehen uns einer ausufernden Verletzung der Menschenrechte ausgesetzt.

Wie begründet Uribe seine Politik?

Er spricht von der „Politik der Demokratischen Sicherheit“ und behauptet, dass er durch diese Politik mit der Guerilla fertig werden will – und zwar mit Gewalt. Aber sein Augenmerk gilt mehr der Verfolgung der sozialen Bewegung. Er will verhindern, dass kolumbianische und internationale soziale Organisationen zusammenarbeiten.

In Kolumbiens Medien wird die Guerilla als die große Bedrohung für die Demokratie dargestellt, gegen die ein populärer Präsident zu Felde zieht.

In Kolumbien gibt es keine Pressefreiheit. Die Medien werden gelenkt von wenigen großen Unternehmen, die traditionell von der Regierungspolitik profitieren. Außerdem besteht die Übereinkunft, alle Nachrichten und Reportagen zum Thema Guerilla mit der Regierung abzustimmen. Sie werden also zensiert. Es ist daher für die Öffentlichkeit äußerst schwierig zu erfahren, was in den Regionen passiert.

Wie steht es um Uribes Popularität tatsächlich?

In Umfragen erreicht er Zustimmungsraten bis zu 80 Prozent. Aber auch diese Umfragen werden geschönt. In Europa erzählt man dann, wir hätten eine demokratische Regierung mit einem starken Mann an der Spitze und Kolumbien habe endlich die nötige Autorität. Die allgegenwärtige Kontrolle durch den Staat beschränkt sich übrigens nicht nur auf die Medien. Es gibt ungefähr vier Millionen Spitzel. Neben Militärs haben sie dafür Bauern, Hauswarte oder Taxifahrer gewonnen. Seit Inkrafttreten des Antiterrorismusstatuts werden auch Telefone im großen Stil abgehört. Die Überwachung ist fast total.

Oppositionelle PolitikerInnen werfen Uribe vor, als Präsident die autoritäre Politik fortzusetzen, die er schon als Gouverneur Antioquias betrieb. Lassen sich solche Parallelen feststellen?

Als Gouverneur nahm sich Uribe ausgewählte Gemeinden vor und erklärte, sie befänden sich fortan unter militärischer Kontrolle. Er sprach von „Zonen der Öffentlichen Ordnung“. Als Präsident redet er von „Zonen des Wiederaufbaus“, und das ist genau dasselbe – die Übertragung der Macht an das Militär. In diesen Zonen nahmen und nehmen politische Verfolgung, Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, Folter und Mord sprunghaft zu. Auf der anderen Seite gab es keine sozialen Investitionen.
In der gleichen Zeit wurde die Gründung privater Sicherheitskooperativen erlaubt. Die rekrutierten sich aus den Paramilitärs. Die Paramilitärs trugen also nur einen neuen Namen, der es ihnen erlaubte, mit Waffen durch die Stadt zu patrouillieren. Sie machten dasselbe wie vorher, nur eben offiziell.
In dieser Region operierten allerlei Persönlichkeiten des Paramilitarismus und des Drogenhandels; unter anderem Carlos Castaño und Salvatore Mancuso – die heutigen Anführer der Vereinten Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens, der paramilitärischen AUC, mit denen die Regierung heute vorgibt, über den Frieden zu verhandeln. GewerkschafterInnen wurden auch damals besonders scharf verfolgt, ebenso LehrerInnen und ÄrztInnen, Jugendliche, StudentInnen, sprich alle, die anders dachten.

Als Schritt zu einer Lösung des bewaffneten Konfliktes präsentiert Uribe Verhandlungen mit den Paramilitärs und das „Gesetz zur alternativen Strafverfolgung“, durch das die Paramilitärs in die Zivilgesellschaft eingegliedert werden sollen. Wie bewerten Sie das?

Wir als Partei erkennen die Paramilitärs nicht als politische Gruppe an, auch nicht als Dritten Akteur im Konflikt. Wir reden von einem Konflikt zwischen Aufständischen und dem Staat. Der Paramilitarismus ist seit den 70er Jahren strategisch, politisch und ideologisch immer ein zweites Erscheinungsbild des kolumbianischen Staates gewesen – mit der Unterstützung der USA. Paramilitärische Operationen finden immer in nächster Nähe von Militärbasen statt. So wie in meinem Dorf: Zunächst kam ein Militärbataillon, fünf Minuten später kamen die Paramilitärs. Allein in meiner Gemeinde wurden damals über 1.200 Menschen ermordet, die entweder politische Verantwortung trugen oder in Bürgerbewegungen engagiert waren. Ich bin Zeugin – ich bin eine Überlebende. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Regierung und Armee mit diesen Gruppen zusammenarbeiten. Wir bestreiten, dass Kolumbiens Senat überhaupt zur Debatte über das „Gesetz zur alternativen Strafverfolgung“ legitimiert ist. Paramilitärführer Salvatore Mancuso hat öffentlich bestätigt, dass 35 Prozent der Kongressabgeordneten bei den Wahlen im Oktober 2000 von Paramilitärs unterstützt wurden.

Der Plan Colombia, finanziert durch die USA und die EU, soll neben der Guerilla vor allem den Drogenhandel bekämpfen. Drogenanbauflächen sollen enteignet und demobilisierten Paramilitärs soll eine zivile Existenz ermöglicht werden.

Richtig, der Staat behauptet, den DrogenhändlerInnen würde das Land genommen, das sie den Bauern und Bäuerinnen mit Waffengewalt entrissen haben. Dieses Land will man den demobilisierten Paramilitärs übereignen – dies ist eine wichtige Komponente des „Gesetzes zur alternativen Strafverfolgung“. Das bedeutet aber, dass man das Land den gleichen Drogenhändlern und Paramilitärs zurückgibt, die es zuvor an sich gebracht hatten. Die Vertreibung der Landbevölkerung und die widerrechtliche Landaneignung wird legalisiert, ohne dass der organisierte Drogenanbau leiden würde.

Unlängst war mit Chris Patten ein ranghoher EU-Politiker im Lande. Er besichtigte im Magdalena Medio, einer der militarisiertesten Zonen des Landes, das Laboratorio de Paz, ein Friedenslaboratorium, das von der EU finanziert wird. Wie beurteilen Sie dieses Vorzeigeprojekt und die Kolumbien-Politik der EU allgemein?

Auf der einen Seite entwerfen sie einen großen Entwicklungsplan. Aber an der gleichen Stelle gibt es paramilitärische Basen und selektive Morde. Ein Laboratorio de Paz, ein Friedenslabor, sollte bewirken, dass die internationale Gemeinschaft ein Bewusstsein für die Wahrheit, für Gerechtigkeit und für die Notwendigkeit einer umfassenden Wiedergutmachung entwickelt. Man versucht, mit diesem Projekt den Eindruck zu vermitteln, als sei dies der Weg zum Frieden in Kolumbien. Wir müssen dieses Projekt Laboratorio de Paz definitiv kritischer als bislang begleiten. Denn ich glaube, dass man mit diesem Projekt Gemeinden polarisiert, dass man versucht, die natürlichen Ressourcen in der Region zu kontrollieren und dass man die große Verkehrsverbindung zu den geplanten Megaprojekten durchsetzen will. Ich glaube, dass man mit dem Namen Friedenslabor versucht, die Aufmerksamkeit von dem eigentlichen Ziel, nämlich der Erschließung der großen Energieressourcen abzulenken. Und hier kommen die europäischen Unternehmen ins Spiel. Ich meine, dass eine derartige internationale Kooperation nicht in Frage kommt.

“Fenster zur Welt”

Liebhaber lateinamerikanischer Bücher werden es kennen: Viele Titel des klassischen Literaturkanons sind nicht mehr im gängigen Handel zu erhalten. Sie müssen mühsam in Antiquariaten oder in Internetbörsen aufgestöbert werden. Dabei fällt auf: Sehr viele Bücher wurden in der DDR verlegt, zumeist im Volk & Welt oder im Aufbau Verlag.
Während Letzterer sich insbesondere der Literatur des 19.Jahrhunderts widmete, war der Volk & Welt Verlag hauptsächlich für zeitgenössische Schriftsteller der gesamten Weltliteratur zuständig. Somit auch für die lateinamerikanische Literatur.

Der Verlag Volk & Welt
Simone Barck und Siegfried Lokatis haben kürzlich ein umfassendes Verlagsporträt herausgegeben: Fenster zur Welt – Eine Geschichte des DDR-Verlages Volk & Welt. Der Verlag wurde 1947 von Michael Tschesno-Hell gegründet und stieg zum Leitverlag für internationale Literatur auf. Volk & Welt propagierte seit seiner Gründung den „antiimperialistischen Kampf“ mit „progressiver internationaler Literatur“ und stellte sich auf die Seite der unterdrückten Minderheiten. Der Anstoß für die ersten lateinamerikanischen Bücher ging dabei maßgeblich von zurückgekehrten Mexiko-Exilanten aus, wie etwa Anna Seghers und Bodo Uhse. Die meisten waren Kommunisten und brachten ihre literarischen Kontakte und Entdeckungen aus Lateinamerika in die damalige sowjetische Besatzungszone mit. Bereits zwei Jahre nach Kriegsende konnte der erste lateinamerikanische Roman gedruckt werden: Herr über den Tau des Haitianers Jacques Roumain, den Ludwig Renn einführte.

Fokus auf die “Dritte Welt”
Besonderes Engagement galt den Autoren der so genannten „Dritten Welt“. „Die lateinamerikanische Literatur in der DDR lässt sich bis in die 60er Jahre als „Elendsliteratur“ charakterisieren“, sagt Jens Kirsten.
Kirsten hat seine Dissertation über lateinamerikanische Literatur in der DDR geschrieben und im Volk & Welt Porträt ein Kapitel zum Thema publiziert. „Die Bücher zeigten dem Leser ein Bild von Armut, Leid und Unterdrückung – und dem politischen Kampf dagegen.“
Somit ist es nicht verwunderlich, dass die beiden linkspolitisch engagierten Literaten Pablo Neruda und Jorge Amado zu so genannten „Hausautoren“ bei Volk & Welt avancierten.
Amado gilt als Brasiliens beliebtester „Volksautor“ schlechthin, literarisch stets bemüht um die Sorgen und Nöte des einfachen Volkes. Bereits in den 50er Jahren war Amado als „Marxistischer Autor“ in der DDR sehr erfolgreich. Er war ein sozialistischer Vorzeigeautor, Leninpreisträger und bekennender Kommunist. Zugleich sind seine Bücher spannend und unterhalsam. In der Liste der meistveröffentlichten Autoren des Volk & Welt Verlages stand Jorge Amado mit 20 publizierten Titeln auf Platz drei.
Anna Seghers war es, die in Deutschland zum ersten Mal auf Pablo Neruda aufmerksam machte, dessen umfangreiches Werk in den folgenden Jahren nahezu vollständig in der DDR verlegt wurde.
In der BRD hingegen wurde der Chilene bis in die Sechzigerjahre hinein ignoriert, bzw. als Dichter, dessen „Poesie zur Magd der Politik“ geworden ist (H.M. Enzensberger), abqualifiziert. Bis 1973, als sich im Zuge der durch den Militärputsch ausgelösten Sympathiewelle für Chile ein schlagartiger Wandel in der Wahrnehmung des Landes vollzog, gab es in der Bundesrepublik keine vollständige Ausgabe der Gedichte Nerudas.
Lange stand die BRD mit dem Verlegen lateinamerikanischer Literatur hinter der DDR zurück: „Bis Mitte der Sechzigerjahre wurden in der DDR mehr lateinamerikanische Bücher publiziert als in der BRD. Hier begann die Entdeckung erst mit den 68er Studentenrevolten“, so Kirsten.
Neruda bildet mit Miguel Angel Asturias aus Guatemala und dem Mexikaner Octavio Paz die Gruppe der drei lateinamerikanischen Nobelpreisträger, die bei Volk & Welt verlegt wurden.

„Testballons“gegen die Zensur
Der Volk &Welt Verlag war Eigentum der SED. Der Staat war für die „ideologische Anleitung“, die ökonomische Kontrolle und die Zensur zuständig.
Die Zensur betraf jede Art von Texten, ob sie aus der DDR selber, aus den sozialistischen „Bruderländern“ oder aus dem „feindlichen kapitalistischen Ausland“ stammten. Die Texte wurden daraufhin kontrolliert, inwiefern sie irgendwie „nützlich“ oder zumindest „nicht schädlich“ erschienen.
Der Argentinier Jorge Luis Borges war ein Fall für die Zensur. Nicht aus literarischen Gründen – „An dem was er schrieb, war nichts auszusetzen“ – sondern aus außerliterarischen: Er hatte von den argentinischen Militärs einen Orden angenommen und war nicht für Palästina, sondern für Israel. Schließlich gelang die Herausgabe mit Hilfe eines „Bürgen“ und eines begleitenden Nachwortes.
Es forderte stets viel Taktik und Fingerspitzengefühl von den zuständigen Lektoren, kritische Literatur einzuführen und durchzusetzen. Manchmal vergingen bis zur Veröffentlichung Jahre. Das betraf selbst die Literatur des magischen Realismus, die mit den Normen des sozialrealistischen Romans nicht mehr in Einklang zu bringen war. Trotzdem gelang es, entscheidende Werke wie Staatsräson von Alejo Carpentier 1978 oder Ich der Allmächtige von Augusto Roa Bastos 1979 zu ermöglichen.
„Die Lektoren hatten Zugang zu allen Büchern und Texten, bei der Herausgabe waren ihnen jedoch oftmals die Hände gebunden. Aber es gab Ausweichmöglichkeiten,“ konkretisiert Kirsten. Ein beliebtes Mittel hierbei war der so genannte „Testballon“. Von der Zensur als kritisch eingestufte Autoren wurden zunächst einmal in Anthologien versteckt publiziert, um den Weg für weitere Veröffentlichungen zu ebnen.
Infolge der Zensurpraxis entstand mit der Zeit ein spezifischer Kanon besonders geförderter Autoren. Pro Jahr wurden der lateinamerikanischen Literatur etwa 5 Titel zugebilligt. „Die Veröffentlichungen und Nachauflagen der etablierten „Hausautoren“ wirkte sich nicht besonders positiv auf die Entdeckung und Vorstellung oft hochklassiger neuer Autoren aus“, bemerkt Kirsten. Als größtes Hindernis erwies sich jedoch der Mangel an ökonomischen Ressourcen, an Papier und vor allem an Devisen für literarische Auslandsimporte. So waren viele Titel unmittelbar nach ihrem Erscheinen vergriffen und durch Vorbestellungen stark überzeichnet – und blieben damit Ziel vergeblicher Sehnsüchte im „Leseland“ DDR.

Internationale Solidarität mit Kuba, Chile und Nicaragua
Nach der kubanischen Revolution 1959 veränderte sich die Beziehung der DDR zu Lateinamerika grundlegend, Kuba wurde zum wichtigsten Referenzland. Als solidarische Reaktion auf die politischen Ereignisse auf der Insel erschien 1963 eine Revolutionsanthologie mit dem Titel Ruderer in der Nacht, herausgegeben von Lene Klein. Die Bolivianischen Tagebücher des Che Guevara wurden hingegen in der DDR nicht publiziert, wohl aber in der BRD. „Che Guevaras Fama als radikaler Rebell passten nicht ins Bild.“ Einzig Guevaras Der Partisanenkrieg wurde in der DDR verlegt. Nicht aber bei Volk & Welt, sondern im Militärverlag. „Und hier“, so Kirsten, „wurden sie unter strengem Verschluss gehalten und waren nur sehr wenigen zugänglich.“ Die Tagebücher erschienen schließlich 1987, nachdem sich die Literaturzensur bereits gelockert hatte.
Auch auf den Militärputsch 1973 in Chile reagierte der Volk & Welt Verlag. „Es sind – nach der üblichen zensorischen Vorlaufphase – eine ganze Reihe von Büchern aus und über Chile erschienen, um das Interesse auf das Land zu lenken. Angeregt nicht zuletzt durch die chilenischen Exilanten in die DDR“ berichtet Kirsten.
Zu nennen wären Andreas Klotsch, der die Reihe Erkundungen – 24 chilenische Erzähler 1974 herausgab oder die Zeugnisse des chilenischen Widerstands 1979 von Salvattori Coppola.
Ähnlich solidarisch zeigte sich der Verlag 1979 mit den politischen Ereignissen um den Sturz Somozas in Nicaragua.

„Fenster zur Welt“
„Volk & Welt“ – der Name ist Programm. Der Verlag bot der eingeschlossenen Bevölkerung der DDR die Möglichkeit, durch die Literatur andere Länder und Kulturen kennen zu lernen. Neben der Belletristik ist insbesondere die Reihe Erkundungen hervorzuheben, durch die der Leser – zumindest imaginär – durch die Welt und damit in fast alle Länder Lateinamerikas reisen konnte. „Durch die lateinamerikanische Literatur wurde ein Gefühl der Solidarität vermittelt.
Diese Art von Verbundenheit unterschied sich grundlegend von den vom Staat verordneten „freiwilligen“ Solidaritätsbekundungen in der DDR“, sagt Kirsten.
Buchgestalter und Illustratoren wie Werner Klemke, Lothar Reher oder Ulrich Lindner brachten dem Verlag die begehrten Auszeichnungen „Schönste Bücher“ sowie „Schönste Schutzumschläge“ ein. „Der Verlag verfügte über hervorragende Übersetzer und Lektoren. In der lateinamerikanischen Literatur machte sich insbesondere Andreas Klotsch verdient.“
2001 wurde der Volk & Welt Verlag liquidiert und musste die neuen Räumlichkeiten in Westberlin innerhalb weniger Tage räumen. Es gelang unter Mithilfe des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung, große Teile des verloren geglaubten Verlagsarchivs vor dem Container zu retten. Das Bucharchiv wurde dem Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt übergeben, andere wichtige Materialien gingen an die Akademie der Künste Berlin-Brandenburg.
Volk & Welt wurde in die große Verlagsgruppe Randomhouse/Bertelsmann inkorporiert, produziert aber nicht mehr eigenständig.
Mit dem Fall der Mauer verlor der Verlag nicht nur seine wichtigsten Lizenzen, sondern auch seine zentrale Funktion, einer eingeschlossenen Bevölkerung ein „Fenster zur Welt“ zu bieten.

Simone Barck, Siegfried Lokatis (Hg): Fenster zur Welt – Eine Geschichte des DDR-Verlages Volk & Welt. Christoph Links Verlag. Berlin: 2003

“Pinochet heißt jetzt Bush”

Wenn man jetzt auf die politischen Konsequenzen des ersten 11. Septembers zurückblickt, worin liegt seine langfristige Bedeutung für das sozialistische Projekt, für die Politik der Linken überhaupt?

Franz Hinkelammert: Chile war das Laboratorium für Lateinamerika. Das Militär hat die Macht übernommen, und im Anschluss daran wurden die zentralen wirtschaftspolitischen Entscheidungen von der Gruppe der so genannten Chicago Boys getroffen. Diese Gruppe bestand aus Chilenen, die in den 1950er und 60er Jahren in Chicago studiert hatten, allesamt mit Stipendien der Ford-Stiftung. Das war damals ein groß angelegtes Programm gewesen mit dem Ziel, die Wirtschaftsfakultät der Katholischen Universität in Chile zu transformieren. An der Nationalen Universität [Universidad de Chile] wäre das nicht möglich gewesen.
Bei dieser Gruppe der Chicago Boys handelte es sich um eine homogene Gruppe, die nach dem Putsch die entscheidenden Positionen im Finanz- und im Wirtschaftsministerium übernommen haben. Es waren Marktideologen, die das Modell des absoluten freien Marktes durchsetzen wollten und mit dem Internationalen Währungsfonds zusammenarbeiteten, wo ja dieselbe Marktideologie herrschte. Das Ziel war eine systematische neoliberale Politik für Lateinamerika, die Politik der strukturellen Anpassung.
Allerdings gab es auch Konflikte mit dem IWF, denn die Chicago Boys gingen mit ihren Forderungen so weit, dass sie für Chile erklärten, das Land habe kein Problem mit der Auslandsverschuldung, da die Firmen, die ihre Schulden im Ausland nicht bezahlen könnten, eben Bankrott gehen müssten. Sie waren dagegen, dass der Staat diese Schulden übernehmen sollte, und da nur 20 Prozent der Auslandsschulden wirklich den chilenischen Staat betrafen, wollten sie also auch in diesem Bereich eine absolute Liberalisierung. Die USA sahen dies ganz anders und so mussten letztlich die Chicago Boys nachgeben. So konnte sich schließlich die Auslandsverschuldung zur Daumenschraube für die Politik der Strukturanpassungsprogramme der 1980er Jahre in ganz Lateinamerika entwickeln.

Kuno Füssel: Ich würde gerne – auch wenn das vielleicht auf den ersten Blick zynisch klingt – einige positive Wirkungen des Putsches aus meiner Sicht darstellen. Erstens hat sich gezeigt, dass der Sozialismus, sobald er attraktiv ist, aggressiv vernichtet wird. Dies war ein klarer Beleg für den US-Imperialismus. Zweitens hat der Putsch vor allem in den 1970er Jahren zu einer Intensivierung der Solidaritätsbewegung geführt, die sonst so nicht zu Stande gekommen wäre. Drittens – und das sollte man nicht unterschätzen – hat die Situation in Chile eine Verbesserung der Aufnahmebedingungen für die Befreiungstheologie bedeutet. Und schließlich sind, auch gerade für mich persönlich, viele private Kontakte und Freundschaften möglich geworden, in denen auch die Geschichte eines neuen Denkens liegt.

Manuel Ossa: Zuerst einmal war der Militärputsch ein Projekt des internationalen Kapitalismus. Das Hauptziel dieser Konterrevolution des Kapitals war eindeutig die Einrichtung eines neuen Modells, des neoliberalen Modells, in Chile und in Lateinamerika. Und das Mittel für die Durchsetzung dieses Projekts war eine diktatorische Regierung, die das neue wirtschaftliche Modell mit militärischer Hand und Zustimmung der chilenischen Bourgeoisie durchsetzte. Daher kamen die bekannten Menschenrechtsverletzungen, sowie die massive Einschüchterung der Bevölkerung, Folterungen und Morde und die vielen Verschwundenen. Damit ist die Vernichtung der Arbeiterbewegung gelungen.
Als Folge dieses Vorgangs und anderer Weltgeschehnisse, wie dem Fall der Mauer und dem Ende der sozialistischen Staaten, brachte die Wiederherstellung der Demokratie in Chile keine Veränderung der Produktionsverhältnisse mit sich. Die wirtschaftliche und soziale Politik der Diktatur wurde mit der Zustimmung der regierenden Koalition (Concertación de Partidos por la Democracia) mit nur kosmetischen, oberflächlichen Ausbesserungen weiter vorangetrieben. In der regierenden Koalition sind die linken Parteien nicht mehr links. Sie haben sich alle der Politik des Konsenses ergeben. Eine Ausnahme ist da wohl nur die Kommunistische Partei, die aber nicht der regierenden Koalition angehört.

Kann man die beiden 11. September von 1973 und 2001 überhaupt vergleichen? Wenn ja, wo liegen Kontinuitäten, wo liegen Brüche?

Franz Hinkelammert: Der zweite 11. September war ein ganz gewöhnliches Attentat, ein bisschen groß, natürlich. Es gab aber keinen Grund, daraus eine Epochenänderung zu machen, denn unter den Flugzeugangriffen der Weltgeschichte ist er einer der kleinen, nicht der großen. Jetzt geht es also darum zu begreifen, warum der 11. September in ein solches Symbol umgewandelt wurde. Symbole werden ja bekanntlich gemacht. Von vornherein fiel mir da der Reichstagsbrand ein, der ja auch einfach nur ein Brand war. Der wurde in den Monaten danach in ein Symbol umgewandelt, das dann über Jahre an zentraler Stelle stand.
Warum hat man also den Anschlag vom 11. September 2001 zum Symbol gemacht? Ich glaube, weil man es brauchte. Die USA stecken in Schwierigkeiten. Einmal, weil Bush durch Wahlfälschung an die Regierung gekommen war und sich das in den USA herumsprach. Das war eine wirklich kritische Situation für Bush. Im Buch Stupid White Men von Michael Moore wird gezeigt, in welcher Situation die USA steckt. Man kann dann schon verstehen, dass man eine solche Sache wie den 11. September entweder macht, duldet oder benutzt. Das sind die drei Möglichkeiten. Wir wissen ja nicht, wer eigentlich hinter den Anschlägen steht. Man hat sich auch nicht die Mühe gemacht, Beweise vorzulegen. Hinzu kommen noch diese fantastischen Korrelationen mit Al-Quaida. Ich bin überzeugt, Al-Quaida ist ein kleiner Verein. Ich nehme an, dass er überhaupt keine große Bedeutung hat, so wie es ja viele Organisationen terroristischer Art gibt, in der ganzen Welt. Man hat das dann hochgepuscht, um ein Epochenereignis daraus zumachen.
Warum aber das Epochenereignis? Meine These ist, dass die Globalisierungsstrategie in ihrer Gesamtheit in Schwierigkeiten steckt. In der Welthandelsorganisation existiert ein erheblicher Widerstand gegen sie und zwar im Bezug auf die Agrarpolitik, die Liberalisierung der Dienstleistungen und die Privatisierung öffentlicher Sektoren. Die Privatisierungen haben große Krisen geschaffen. Man muss diese Entwicklungen als Produkt der Liberalisierung und der Privatisierungspolitik verstehen, genau wie sich die Krise in Peru oder Argentinien am ehesten so begreifen lässt. Ein Grund dafür, dass man die Krise in Argentinien überhaupt nicht in den Griff bekommen kann, ist die Tatsache, dass sie den gesamten öffentlichen Sektor und somit letztlich alles privatisiert haben. Dadurch hat sich die Politik entscheidungsunfähig gemacht. Wenn die privatisierten Unternehmen nicht entsprechende Entscheidungen treffen, können Politiker nichts bewirken.
Dieses Phänomen breitet sich äußerst rapide aus. In England hat man die Bahn privatisiert und hinterher wieder verstaatlicht, weil sie durch die Privatisierung derart ruiniert wurde, dass kein Mensch mehr pünktlich zur Arbeit kommen konnte. In Deutschland ist dies ja auch schon weit verbreitet. Neben diesen Schwierigkeiten der Globalisierungsstrategie kommen noch die wirtschaftlichen Probleme der USA, ihre Defizite, hinzu.

Kuno Füssel: Ich ärgere mich seit zwei Jahren über den dummen Satz, den viele sich sonst klug fühlende Menschen immer wieder ausgesprochen haben: “Seit dem 11. September ist die Welt nicht mehr, wie sie vorher war”. Den haben alle mit entsprechender Miene und Tonlage repetiert, und ich würde sagen, es ist genau das Gegenteil, die Welt ist genau, wie sie vorher war. Sie hat nur ihre Unter- und Hintergründe noch einmal offenbart. Und bekanntlich hängen ja eigene Episoden und die Weltgeschichte immer zusammen. Ich habe den Tag noch genau in Erinnerung, weil ich morgens in der Schule mit einem Kollegen aneinander geraten bin, weil ich gesagt habe, dass die USA bald ihren Denkzettel für ihre Schweinereien bekommen werden. Der erfolgte dann schon am Nachmittag.
Ich habe dann den 11. September von 1944 in Darmstadt ausgegraben, wo die Engländer und die Amis eine Stadt in Schutt und Asche gelegt haben. Dabei gab es über 40.000 Tote zu verzeichnen. Scheinbar wurde dieser Angriff als Strafmaßnahme dafür, dass die Deutschen den Faschismus in ihrer Mehrheit getragen haben, geflogen. Also, der 11. September hat irgendetwas in der Geschichte, er zieht offensichtlich Unglück an, und das gab mir metaphysisch einiges zu denken. Ich meine, dass sich – wie soeben gesagt – die Welt nicht geändert hat, sondern dass sie vielmehr gezeigt hat, dass in diesem Imperium, dass durch die Pax Americana geprägt worden ist, die Gewalt neue Formen angenommen hat, und zwar auf allen Ebenen. Die Gewalt, die die Amerikaner jetzt testen wollen, indem sie kleine Atombomben bauen und nicht die Mutter aller Bomben dann irgendwo schmeißen, wie aber auch die Gewalt der terroristischen Gegenwehr, die ja aus Verzweiflung kommt und nicht so ineffizient ist. Diese Entwicklung ist nicht erst seit dem 11. September manifest, sondern sie war vorher bereits da. Man hatte sie aber nicht an ein Ereignis binden können. Das Einstürzen dieser beiden Türme war also in dem Sinne eine Offenbarung für mich. Ich rätsele heute noch, ob dieser Termin nicht wirklich bewusst gewählt worden ist.
Wie immer das dann auch zu bewerten ist: Die Welt hat gezeigt, wie sie sich in den Jahren nach dem Putsch in Chile entwickelt hat und zwar unter der Federführung der Pax Americana, des Imperiums und seiner Machthaber, und was sie vor allem in Hinblick auf die Gegengewalt an Hass, an Verzweiflung produziert. Somit ist klar, dass die Welt vorher schon so schlecht war, wie sie angeblich an dem 11. September 2001 an die Öffentlichkeit gebracht wurde, und es hat sich seitdem nur bewahrheitet, dass diese Entwicklung strukturell angelegt war. Was wir heute erleben, ist ein Beleg dafür, dass diese Geschichte Komponenten hat, die durch dieses Ereignis nur gebündelt, aber nicht geschaffen worden sind. Es ist auch erst zwei Jahre her. Ich weiß nicht, was noch alles auf uns zukommt.

Franz Hinkelammert: Ich glaube, dass die USA in diesem Moment eine Politik betreiben, die ihnen den Griff zur Weltmacht erlaubt oder besser gesagt, den Griff zur Macht über die Welt. Ich sehe einige Parallelen zu dem, was die Nazis zu ihrer Zeit machten: Den Griff zur Macht über die Welt. Das hat interne Gründe, aber es hat eben auch diesen externen Hintergrund, das heißt, die multinationalen Unternehmungen und die den IWF und die Weltbank betreffenden Gründe. An dieser Stelle taucht für mich ein Problem auf, das mit dem 11. September 1973 in Chile eng zusammenhängt. Der 11. September in Chile konstituierte eine Diktatur der Nationalen Sicherheit, die dann fähig wurde, die gesamte traditionelle Wirtschaftsordnung und letztlich die Gesellschaft insgesamt auf terroristische Art umzuwenden, und zwar hin zu dieser neoliberalen Politik, die später in der Zerstörung der Volksbewegung und dem Aufkommen der Globalisierungsstrategie usw. endete. Mit anderen Worten, um eine “freie Hand” haben zu können, bedurfte es der Diktatur der Nationalen Sicherheit. Sie war das entscheidende Instrument für die Durchsetzung einer neoliberalen Politik, die sich von da an in vielen Ländern Lateinamerikas etablierte. Man könnte sich jetzt fragen: Ist das nicht heute genau das gleiche Phänomen? Braucht diese Strategie der Globalisierung heute eine Weltdiktatur der Nationalen Sicherheit, um sich weiter entwickeln zu können? Geschichtlich betrachtet haben ja die USA Pinochet nach Chile gebracht, nach Argentinien, nach Uruguay, dann auch nach Guatemala… und wo sie nicht überall Pinochets hingebracht haben. Jetzt brauchen sie selbst einen, und zwar um die Politik, die sie mit Hilfe der Pinochets in der Dritten Welt angeleitet und mit Hilfe Reagans zum guten Teil auch in den USA durchgesetzt haben, jetzt weltweit zu stabilisieren. Die Ähnlichkeit des Systems, das dann nach dem 11. September in New York durch den Patriotic Act eingeführt wurde, mit dem System Pinochets in Chile ist ja erstaunlich, ganz außerordentlich.

Manuel Ossa: Ich habe mehrmals gedacht, was wohl geschehen wäre, hätte Al Gore an Stelle von Bush die Regierungsaufgaben übernommen. Die Tatsache, dass dieser 11. September nach der Wahl von Bush geschehen ist, hat ihm unheimlich den Rücken gestärkt. Ich war erstaunt zu sehen, dass der ganze US-Kongress ihm zugestimmt hat. Das war für mich furchtbar. Das hat ihn wirklich zu einem Imperator gemacht. Zu dem, was Kuno und Franz bereits gesagt haben, möchte ich ergänzen, wie sich dies alles auf Chile ausgewirkt hat, und zwar am Beispiel dessen, wie sich Chile gegenüber dem Irak im Sicherheitsrat verhalten hat. Die amtliche Stellungnahme von Chile war ein zögerndes Nein zur Kriegserklärung. Am Anfang hat der Botschafter von Chile im Sicherheitsrat vorgeschlagen, die Großen mögen entscheiden, nicht die Kleinen. Dann fanden sehr viele Gespräche statt, geheime Unterredungen mit dem mexikanischen Präsidenten und zwischen der Außenministerin und dem Außenminister von England, usw. Nach vielem Hin und Her gab die chilenische Regierung letztendlich zu verstehen, dass sie mit Nein abstimmen würde. So haben sich die Vereinigten Staaten vom Sicherheitsrat zurückgezogen und den Sicherheitsrat wirklich als ein Werkzeug der Taugenichtse abgestempelt, um die Entscheidung in Absprache nur mit England zu fällen. Die Schwäche des chilenischen Neins zeigte sich dann in zwei darauf folgenden Entscheidungen der Regierung.
Die erste bezog sich auf eine Petition der Sozialistischen Partei und der PPD, der anderen linken Partei. Beide Parteien baten den chilenischen Präsidenten Lagos, die humanitäre Seite des Krieges im Irak zu verurteilen. Der Präsident lehnte dies aber ab. Dann wurde auf Initiative einiger Länder im Sicherheitsrat der Antrag gestellt, eine zu bildende Kommission möge den Irak auf Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen hin untersuchen. Der chilenische Botschafter in der UNO erhielt von der Regierung die Anweisung, ein Nein zu dieser Kommission zu verkünden. Der Botschafter, Juan Enrique Vega, wurde abgesetzt, weil er – vielleicht aus Gewissensgründen – weder Nein noch Ja sagte, sondern sich der Stimme enthielt. Er wurde daraufhin sofort nach Chile abgerufen, wo er formell abgesetzt wurde. Also an diesen beiden Fällen kann man zeigen, wie Chile von der Angst geprägt agierte. Mit großer Angst, was geschehen könnte, würde man gegen den Willen der USA ein Nein wagen. Nicht nur innerhalb der Bourgeoisie dachten viele, die Vereinigten Staaten würden uns mit einer Verzögerung des TLC-Vertrags (ALCA), der gesamtamerikanischen Freihandelszone, bestrafen. Mit anderen Worten: Die Vereinigten Staaten haben eine ungeheure Macht über unsere Länder, wie wir täglich im gesamten Kontinent erfahren. Die einzige Hoffnung ist jetzt Lula, aber auch er hat jetzt schon mit Kompromissen angefangen.

Franz Hinkelammert: Die Welt erlebt gegenwärtig, wie es möglich ist, ganz legal Menschen verschwinden zu lassen. Man kann ganz legal Menschen heimlich verurteilen und auch heimlich exekutieren. Man hat ein Konzentrationslager in Guantánamo und man hat zugleich eine öffentliche Meinung, die so kontrolliert ist, wie die von Chile es auch war.
Denn in Chile war die öffentliche Meinung in erster Linie nicht durch Zensur gesichert, sondern durch die Tatsache, dass die Besitzer der Kommunikationsmittel spontan Pinochet unterstützten. Man brauchte die Zeitungen, die Fernsehkanäle, Radiosender usw. nicht der Zensur zu unterziehen, wozu denn? Sie waren doch mit der Regierung konform. Gewiss gab es in gewissen Momenten auch Zensur, aber sie konstituiert nicht die einheitliche Meinung. Genau das haben wir jetzt in den USA.
Aus all diesen Gründen, und es ließen sich weitere aufzählen, glaube ich, dass wir es mit so etwas wie einer Weltdiktatur der Nationalen Sicherheit zu tun haben, die da im Entstehen ist. Bedenkt man dies alles, dann sind die beiden 11. September nicht ganz so weit voneinander entfernt.
Der erste 11. September geht auf einen Teil der Welt, wobei sich das Zentrum noch völlig sicher fühlt. Sie schicken Pinochet dahin, und hinterher rufen sie ihn wieder ab. Er war keine Gefahr. Jetzt aber kommt er in die USA, und das wieder an einem 11. September. Mit anderen Worten: Pinochet heißt jetzt Bush. Der zieht sich überall einen anderen Rock an: in Argentinien heißt er Videla, in Guatemala Ríos Montt. Kein Mensch wird mir erzählen, dass die enorme Aggressivität die Folge des 11. Septembers ist. Das ist zu disproportional. Ich kann verstehen, dass, wenn 3000 Menschen umgebracht worden sind, man auch 3000 Menschen irgendwo in der Welt umbringt. Das haben sie ja auch gemacht. Aber sie bringen noch viel mehr um, und sie wollen immer noch mehr umbringen. Das ist keine Rache, auch wenn es damit gerechtfertigt wird. In der Tat will man etwas anderes: man will jetzt die Macht über die Welt, selbstverständlich als USA. Aber die USA sind der Haudegen der privaten, transnationalen Bürokratien, die über die Globalisierungsstrategie ihre Macht in der ganzen Welt durchsetzen wollen. Und wir werden im Irak jetzt sehen, was heute deren Ideal für eine globalisierte Gesellschaft ist, was sie alles privatisieren wollen. Sie scheinen im Irak sogar die Polizei privatisieren zu wollen und sie durch eine US-Korporation aufzubauen, die eine Art Wach- und Schließgesellschaft ist. Ich bin überzeugt, dass man da die Aggressivität im Namen der Attentate weiterführen wird. Aber in Wirklichkeit geht es darum, jetzt die ganze Welt umzugestalten, und zwar nach dem Modell dieser globalisierten Wirtschaft.

„Warum sprichst du nicht für dich selbst?“

Warum sind Sie als junger Mann, mit 21 Jahren, nach Marokko gegangen?

Zunächst einmal aus Neugier. In Marokko steht die Welt auf dem Kopf: Während in Guatemala Alkohol erlaubt ist und Marihuana verboten, ist das in Marokko anders herum … Ich identifiziere mich nicht über das Exil, im Sinne von Flucht, denn ich persönlich wurde nicht gezwungen, mein Land zu verlassen, ich wurde nicht direkt verfolgt. Nein, ich wollte schreiben, und das ging zu jener Zeit in Guatemala nicht. Damals, zur Zeit der Diktatur Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre, herrschte eine furchtbare Leere, eine geistige, kulturelle Verwüstung. Ein unerträglicher Sauerstoffmangel. Wie sollte ich schreiben können angesichts dieser Zensur und der Repression um mich herum? Man wusste, dass viele Leute umgebracht wurden, aber wenn man nicht zu den entsprechenden Kreisen gehörte, zum Beispiel an der Universität, bekam man keine genauen Informationen. Die Zeitungen, das Fernsehen, die schwiegen sich darüber aus. Es wurde entführt, ermordet, aber ich konnte das nicht, sozusagen, „verdauen“, es machte mich krank.

Und warum gerade Afrika, warum Marokko?

Vermutlich wegen der Jugendbücher, so genau weiß ich das nicht. Diese Abenteuergeschichten, die in Nigeria, in Mali spielen, von einem Jungen, der versklavt und bis nach Marrakesch verschleppt wird … Ich erinnere mich weder an Titel noch an die Geschichten selbst, aber sie müssen meine Vorstellungswelt ziemlich angeheizt haben, dass ich eines Tages tatsächlich dorthin gefahren bin.

In Tanger sind Sie dem US-amerikanischen Schriftsteller Paul Bowles begegnet. Auf kaum einem Ihrer Buchumschläge fehlt der Hinweis auf Ihre Zusammenarbeit und Freundschaft. Stört Sie das manchmal?

Überhaupt nicht. Meine Erinnerung an Bowles [er starb 1999; d.Red.] ist durchweg angenehm; es war eine fruchtbare und glückliche Verbindung. Ich verdanke ihm viel, nicht zuletzt, dass er mich zum Erben seiner literarischen Rechte gemacht hat. Das ist nicht gerade eine Last.

Fühlen Sie sich als Schriftsteller von ihm unabhängig?

Ja, auf jeden Fall. Von Bowles habe ich gelernt, wie man Schriftsteller ist und das Leben um das Schreiben herum organisiert. Das ist sein größter Einfluss auf mich gewesen. Natürlich gibt es Affinitäten auch auf der inhaltlichen Ebene; diese unwahrscheinlichen Begebenheiten in seinen Texten, die dann gewaltsam gelöst werden – das teilen wir. Er hat ja meine ersten Erzählungen übersetzt; die hatte ich geschrieben, unmittelbar bevor wir uns kennen lernten, und sie scheinen ihm gefallen zu haben. Aber es war auch die Übereinstimmung im literarischen Geschmack – die Begeisterung für Borges! Borges hat in mir frühzeitig den Wunsch geweckt zu schreiben, Borges hat mein erstes Gespräch mit Bowles bestimmt und ist ein unerschöpfliches Thema. Dennoch: Stilistisch kommen wir aus ganz unterschiedlichen Traditionen, und ich hatte meinen Stil schon gefunden, bevor wir uns trafen. Er sowieso.

Warum gab Jorge Luis Borges den zündenden Impuls für Ihr Schreiben — und nicht ein Autor aus Guatemala, Nobelpreisträger Miguel Ángel Asturias zum Beispiel?

Ich werde niemals ein Schriftsteller der Sorte von Ángel Asturias sein. Nie habe ich ihn mit Vergnügen gelesen; er war Pflichtlektüre in der Schule, aber er hat mich nicht überzeugt. Dass ich mit Ángel Asturias den geographischen Raum teile, hat nichts zu bedeuten. In unserer Art zu schreiben sind wir komplett gegensätzlich. Er ist ein Sprachvirtuose, er entfacht Feuerwerke mit Worten, ist eher ein Poet. Damit kann ich in Prosatexten wenig anfangen. Wenn er einen Roman mit einer lautmalerischen Gedichtzeile beginnt, dann halte ich dies schlicht für einen Irrtum.

Wie bitte?

Er spricht mich nicht direkt an, sondern erfindet eine mystische Welt um sein Thema herum, die Maya-Kultur Guatemalas. Er gibt vor, über den Dingen zu stehen und sie mir erklären zu können, auf seine persönliche Art – mit Wortschöpfungen und Lautimitationen, mit Rückgriffen auf die Mythen. Dass der Literatur die Aufgabe aufgebürdet wird, eine Kultur zu erklären, halte ich für einen Irrtum. Wenn sich jemand die Mayas erklären lassen will, sollte er besser wissenschaftliche, anthropologische Bücher lesen, als sich bei einem Schriftsteller zu erkundigen.

Dass sich Ángel Asturias wohl als Repräsentant und Aufklärer verstanden hat, das teilt er mit vielen anderen lateinamerikanischen Schriftstellern. Wenn Gabriel García Márquez in Hundert Jahre Einsamkeit ein Massaker an streikenden Bananenarbeitern beschreibt, von dem es nur einen Zeugen gibt, dem aber keiner glaubt — dann tut er genau dies, er schreibt Geschichte und will aufklären. Das sollte ein Irrtum sein?

In der Tat, ich halte dies für einen ästhetischen Irrtum, aber er ist Teil des Programms, das die Schriftsteller damals für sich als Aufgabe angesehen haben. Und es stimmt, früher hatten in Guatemala die Unterdrückten nicht die Möglichkeit, die Stimme zu erheben, sie konnten sich publizistisch nicht gegen Gewaltexzesse wehren. Aber heute kann man von einem Schriftsteller nicht mehr verlangen, dass er diese Rolle übernimmt. Man kann sie übernehmen, natürlich. Aber es scheint mir eine gewisse Redundanz vorzuliegen. Um heute zu erfahren, wer die Unterdrückten sind, muss man keinen Ángel Asturias mehr lesen, es genügt, in die Zeitung zu schauen oder die Texte der Testimonial-Literatur zu lesen, für die Rigoberta Menchú so wichtig war. Aber vor welchem Publikum sollte ein Schriftsteller etwas anklagen? Vor dem Romanleser?

An Ihren Büchern ist es manchmal irritierend, dass Sie über die jüngsten politischen Ereignisse in Guatemala, über den Bürgerkrieg und die Zeit danach schreiben – diese Themen fordern geradezu dazu heraus, sich zu positionieren. Aber Sie halten sich mit Stellungnahmen sehr zurück und lassen nicht erkennen, wo Sie sich selbst politisch und ethisch verorten. Laufen Sie da nicht Gefahr zu relativieren?

Relativieren im negativen Sinne, meinen Sie? Da sehe ich kein Problem.
Nehmen wir ein Beispiel: Eine Quiché-Frau, die unter menschenunwürdigen Bedingungen im Krieg lebt, muss miterleben, wie ihr Mann bei einem Armeeangriff ermordet wird. So eine Geschichte könnte in einem Ihrer Romane vorkommen. Natürlich betrachten wir sie als Opfer, oder?
Das Leben dieser Frau ist nicht nur der Tod ihres Mannes. Dies ist ein Moment in ihrem Leben, aber danach lebt sie weiter, und vielleicht – ich kenne sie nicht, aber im Leben eines Menschen wandeln sich die Umstände. Mag sein, zu einem anderen Zeitpunkt ist sie Unterdrückerin, gegenüber ihrem Sohn, ihrer Tochter, ihrer Mutter. Das hängt davon ab, in welchem Moment du einen Menschen betrachtest. Wir können das Leben dieser Frau nicht völlig überblicken, wir können es auch nicht auf diesen einen Moment reduzieren, in dem sie ihren Mann verloren hat. Das hieße, sie arm zu machen.

Dennoch, wenn wir nur diesen Moment herausgreifen, ist klar, wer der Täter ist und wer das Opfer.

Ja, sicherlich. Aber das Leben besteht nicht aus Momenten, das Leben ist zum Glück viel komplexer. Ich glaube, wir spielen immer ein widersprüchliches Spiel, und deswegen ist die Vieldeutigkeit realistischer als der Schnappschuss eines isolierten Ereignisses. Natürlich kann jemand Opfer sein, aber niemand, kein Erwachsener, ist immer nur Opfer.

Erich Hackl, der zwei Ihrer Bücher übersetzt hat, charakterisierte ihr Schreiben mit den Worten: „Alles ist leicht, und alles ist vieldeutig.“ Was halten Sie von diesem Urteil?

Damit bin ich völlig einverstanden. Die Vieldeutigkeit ist etwas, was mich zum Beispiel auch mit Paul Bowles verbindet, es ist geradezu die Suche nach erzählerischer Vieldeutigkeit. Sie schafft eine reichhaltige Textur, ganz wie bei einem Gewebe, das eine vielfältige Tiefenstruktur hat. Es hängt davon ab, wie das Licht darauf fällt; das Erscheinungsbild der Oberfläche ändert sich mit. Ich glaube, alle Prosa, die mir gefällt, hat diesen Hang zur Vieldeutigkeit.

Wenn die Literatur nicht die Aufgabe hat zu erklären, wie Sie sagen, welche hat sie dann?

Sie soll etwas ausdrücken, nicht erklären und interpretieren. Wenn du dir anmaßt, für einen anderen zu sprechen, begibst du dich in eine schwache Position. Warum sprichst du nicht für dich selbst?

In Ihrem Roman Die Henker des Friedens taucht am Schluss, in einem Kinderheim, eine Art Spruchtafel auf, die an einem Baum befestigt ist, mit der Aufschrift: „Ist die Zukunft ein Produkt der Vergangenheit?“ Wie beantworten Sie diese Frage?

Zunächst einmal, diese Tafel gibt es wirklich, und sie ist über einem Teich mit Krokodilen befestigt.

Also ist die Zukunft eher eine Frage des Schicksals, des Glücks?

Dafür steht dieser Satz ja in Fragezeichen.

In Ordnung, aber was meinen Sie? Ist es notwendig, die Vergangenheit zu kennen, um sich heute in Guatemala orientieren zu können, um Entscheidungen zu treffen?

Das wäre schon nützlich.

Spielt die Literatur dabei eine Rolle, vielleicht für so etwas wie Bewusstseinsbildung?

Ich denke schon, obwohl ja eigentlich die Geschichtsschreibung zuständig ist, wenn es um die historische Aufklärung als solche geht. Oder vielleicht doch die Geschichte in Kombination mit der Literatur, denn die Geschichte schreiben immer die Sieger … Ich denke, die Literatur hilft uns eher, einen Autor kennen zu lernen als die soziale Wirklichkeit eines Landes. Vielleicht so: Die Mentalitäten und Denkweisen, die aus der Literatur erkennbar werden, können unser Geschichtsbild bereichern, sie können die offizielle Geschichtsschreibung korrigieren und ergänzen.

Möglicherweise erwartet man jetzt von einem Autor wie Ihnen, dass er klarer Position bezieht.

Es ist komisch: Ein junger Kritiker in Guatemala, der sich, soweit ich weiß, der Linken zuordnet, hat zu Henker des Friedens gesagt, das sei ein anachronistisches Buch. Dass der Bürgerkrieg vorbei sei und man von ihm nicht mehr so viel zu reden braucht. Also eine Position, die das Gegenteil von dem vertritt, wovon wir gerade reden. Nein, ich denke, jetzt ist der Zeitpunkt, wo wir anfangen können, darüber zu reden. Die Henker des Friedens wurde in dem Jahr veröffentlicht, als das Friedensabkommen unterzeichnet wurde. Aber zwischen der Niederschrift eines Buches und seiner Veröffentlichung vergeht oft ein Jahr. Literatur ist kein Journalismus! Sie kann nicht synchron sein.

Kuba schmerzt

Montevideo, im April. Die letzten Festnahmen und Hinrichtungen in Kuba sind ausgezeichnete Nachrichten für die universelle Supermacht, die verzweifelt den hartnäckigen Makel loszuwerden versucht.
Es sind sehr schlechte Nachrichten – traurige und sehr schmerzende Nachrichten – für uns alle, die wir den Mut dieses kleinen Landes bewundern und an seine Fähigkeit zur Größe glauben. Wir glauben aber auch, dass Freiheit und Gerechtigkeit entweder zusammengehen oder überhaupt nicht.
Gegenwärtig sind die Nachrichten überhaupt schlecht – als hätten wir nicht schon genug mit der hinterlistigen Straflosigkeit der Schlächterei im Irak, da begeht die kubanische Regierung diese Taten, die man nur noch als ‘Sünden gegen die Hoffnung’ bezeichnen kann.
Rosa Luxemburg, die ihr Leben für die sozialistische Revolution gegeben hat, war uneins mit Lenin über das Projekt einer neuen Gesellschaft. Sie schrieb prophetische Sätze über das, was sie nicht wollte. Sie ist vor 85 Jahren in Deutschland ermordet worden und hat noch immer Recht: „Die Freiheit nur für die Parteigänger der Regierung, nur für die Mitglieder der Partei, so zahlreich sie auch sein mögen, ist keine Freiheit. Freiheit ist immer die Freiheit des Anders Denkenden.“ Oder auch: „Ohne allgemeine Wahlen, ohne Pressefreiheit und ohne uneingeschränkte Versammlungsfreiheit, ohne einen Kampf von freien Meinungen, vegetiert das Leben dahin und es verwelkt in allen öffentlichen Institutionen, und die Bürokratie wird zum einzig aktiven Element“.

Geboren um anders zu sein

Das zwanzigste Jahrhundert und was schon vom Einundzwanzigsten läuft, geben Zeugnis ab über den den doppelten Verrat am Sozialismus: Der Verfall der Sozialdemokratie, was gerade in diesen Tagen der Unteroffizier Blair zur Spitze getrieben hat, und das Desaster der kommunistischen Staaten, die zu Polizeistaaten konvertiert sind. Viele dieser Staaten sind zusammengebrochen, sang- und klanglos eingegangen und ihre wiederverwerteten Bürokraten dienen nun mit pathetischem Enthusiasmus dem neuen Herrn.
Die kubanische Revolution war geboren, um anders zu sein. Dem ständigen Druck imperialer Bedrohung ausgesetzt, überlebte sie so gut es gerade ging, aber nie wie sie es sich wünschte. Das Volk hat viele Opfer gebracht, mutig und großzügig, um in einer Welt der Geduckten aufrecht zu stehen. Aber auf dem harten Weg, den sie über viele Jahre zurücklegte, hat die Revolution den Wind der Spontanität und der Frische, der sie seit Beginn antrieb, immer mehr verloren. Ich sage das unter Schmerzen. Kuba schmerzt.
Kein schlechtes Gewissen verbietet meiner Zunge das zu wiederholen was ich auf der Insel und auswärts bereits gesagt habe: Ich habe nie an die Demokratie einer einzigen Partei geglaubt (auch in den USA nicht, wo es auch eine einzige Partei gibt, die sich als zwei verkleidet). Ich glaube auch nicht an die Allmacht des Staates als Antwort auf die Allmacht des Marktes.

Die Eigentore der Regierung

Die langen Gefängnisstrafen sind, so glaube ich, lauter Eigentore. Sie verwandeln einige Gruppen in Märtyrer der Meinungsfreiheit. Es handelt sich um Personen, die offen aus dem Hause von James Cason, Bushs Interessensvertreter in Havanna, agierten. Das Sendungsbewusstsein Casons war so weit gediehen, dass er höchstpersönlich die Jugendbewegung der Liberalen Partei Kubas (Partido Liberal Cubano) gründete, immer mit dem typischen Feinsinn und Schamgefühl, die auch seinem Chef eigen sind.
Die kubanischen Behörden agierten als wären diese Gruppen eine akute Bedrohung, ehrten sie eigentlich damit und man schenkte ihnen das Ansehen, welches Worte erlangen, wenn sie verboten sind.
Diese „demokratische Opposition“ hat nichts mit den grundlegenden Erwartungen der aufrichtigen, kubanischen Bürger zu tun. Wenn die Revolution ihnen den Gefallen nicht getan hätte, sie zu unterdrücken, und wenn es in Kuba eine vollwertige Presse- und Meinungsfreiheit geben würde, dann würde sich diese so genannte Dissidenz selbst disqualifizieren. Sie würde die ihr verdiente Strafe bekommen, nämlich die Strafe der Einsamkeit für ihre notorische Nostalgie der kolonialen Zeiten in einem Land, das den Weg der nationalen Würde gewählt hat.

Nachhilfe für Todesstrafen

Die USA, die unermüdliche Fabrik von Diktaturen in der Welt, haben keine moralische Autorität, um irgendwem Lektionen über Demokratie zu geben.
Sicher könnte Präsident Bush Lektionen über die Todesstrafe geben, er der als texanischer Gouverneur 152 Todesurteile unterschrieben hat und sich zum Champion der Staatskriminalität ausrufen liess.
Aber die wirklichen Revolutionen, die von unten und von innen gemacht werden – wie die kubanische Revolution – haben die es nötig, die schlechten Gewohnheiten des Feindes zu übernehmen den sie bekämpfen? Die Todesstrafe hat einfach keine Berechtigung, ganz egal wo sie angewandt wird.
Wird Kuba die nächste Beute in der angetretenen Länderjagd des Präsidenten Bush sein? Sein Bruder Jeb, Gouverneur von Florida, hat Derartiges angekündigt, als er sagte: „Nun müssen wir uns in der Nachbarschaft umsehen“, während die exilierte Zoe Valdés im spanischen Fernsehen laut verlangte, „den Diktator zu bombardieren“. Der Verteidigungsminister, oder besser gesagt, der Angriffsminister Donald Rumsfeld erklärte: „Jetzt noch nicht“.
Es scheint so, als ob der ‘Gefahrenmesser’ und der ‘Schuldmesser’, die beiden kleinen Maschinen, die jeweils die Opfer des universellen Scheibenschießens bestimmen, eher auf Syrien gerichtet sind. Aber wer weiß. Oder wie Rumsfeld sagt: Jetzt noch nicht.
Ich glaube an das heilige Recht der Selbstbestimmung der Völker, überall und jederzeit. Ich kann es sagen und keine Fliege kann meinem Gewissen etwas zu Leide tun, denn ich habe es auch dann bei jeder Gelegenheit öffentlich gesagt, wenn dieses Recht im Namen des Sozialismus unter Applaus weiter Kreise der Linken verletzt worden ist – so wie zum Beispiel 1968, als sowjetische Panzer in Prag eindrangen oder 1979 als sowjetische Truppen in Afghanistan einmarschierten.
In Kuba mehren sich die Zeichen einer fortgeschrittenen Dekadenz des zentralistischen Modells der Macht. Ein Modell, das fälschlicherweise den Gehorsam gegenüber den Befehlen von oben – sozusagen unter Leitung der Machtspitze – zum revolutionären Verdienst gemacht hat.
Die Blockade und tausend andere Formen der Aggression verhindern die Entwicklung einer Demokratie kubanischer Art, nähren die Militarisierung der Macht und liefern Ausreden für die erstarrte Bürokratie. Allem Anschein nach ist es heute schwieriger als jemals zuvor, diese Festung zu öffnen, die sich aus der Notwendigkeit heraus, sich zu verteidigen, immer mehr verschlossen hat. Tatsache ist aber auch, dass die demokratische Öffnung unabdingbar geworden ist. Die Revolution, die in der Lage gewesen ist, die Wut von zehn US-Präsidenten und von zwanzig CIA-Direktoren zu überleben, braucht diese Energie, die Energie der Partizipation und der Vielfalt, um den schweren Zeiten die sich ankündigen entgegenzutreten.
Es müssen die KubanerInnen sein – und nur die KubanerInnen, ohne dass irgend jemand von außen eingreift – die sich neue demokratische Räume öffnen und die fehlenden Freiheiten erobern müssen. Im Rahmen der Revolution, die sie gemacht haben und aus der Tiefe ihres Landes – das solidarischste Land, das ich kenne.

Der Autor ist uruguayischer Schriftsteller und Journalist, Verfasser von „Die offenen Adern Lateinamerikas“ und „Erinnerungen ans Feuer“.

Ein Stich ins klerikale Wespennest

Ein junger Priester behängt den nackten Leib seiner Liebsten mit dem Mantel der Virgen de Guadalupe (Jungfrau von Guadalupe). Sein älterer Kollege und Chef lässt sich vom örtlichen Drogenboss zu Familienfesten auf dessen Luxusresidenz einladen. Im Gegenzug regnet es Almosen für den Bau eines Krankenhauses.
Szenen aus dem fiktiven mexikanischen Städtchen Los Reyes, Schauplatz des Films „El crimen del padre Amaro“ (Das Verbrechen des Padre Amaro). Schon lange hat kein Film mehr so den Zorn der mexikanischen Kirchenbosse erweckt wie das neueste Werk von Carlos Carrera. Als das Melodram um verbotene Liebschaften, eine verpfuschte Abtreibung und unheilige Allianzen zwischen Kirche und Mafia im vergangenen August in Mexiko startete, versuchte die katholische Kirche mit allen Mitteln eine Zensur des Films zu erreichen. Der mexikanische Präsident Vicente Fox wurde unter Druck gesetzt mit dem Argument, die Produktion sei auch mit öffentlichen Mitteln subventioniert worden. Kirchliche Vereinigungen versuchten, mit rechtlichen Mitteln gegen die Ausstrahlung des Films vorzugehen. Vor mehreren der 358 Kinos, die den Film zeigten, musste Polizeischutz aufgefahren werden, und an einigen Orten wurden Vorführungen unterbrochen.

Nur eine Liebesgeschichte?

Das Filmteam rund um den renommierten Regisseur Carlos Carrera zeigte sich angesichts so heftiger Reaktionen überrascht. Schließlich hatte man aus Rücksichtnahme auf katholische Empfindlichkeiten den Filmstart um einige Wochen verschoben, damit er nicht mit dem Papstbesuch zusammen fiele. „Dies wäre eine Provokation gewesen, und darum ging es nicht“, erklärte der Hauptdarsteller Gael García Bernal, international bekannt durch seine Rolle als desperater Kampfhundzüchter in ‘Amores Perros“, gegenüber der spanischen Zeitung „El País“. „Der Film ist nicht antiklerikal, er ist lediglich eine Liebesgeschichte. Genauso, wie “Amores Perros’ keine Geschichte über Hundekämpfe ist. In diesem Fall ist der Kontext die Kirche. Es ist ein Film, der niemanden verurteilt.“
In der Tat erzählt „El crimen del padre Amaro“ die inneren und äußeren Verstrickungen, Gewissenskonflikte und Doppelbödigkeiten seiner Protagonisten ohne Zeigefinger oder Moralkeule. Ähnlich wie das Kampfhundmilieu ist aber auch der Mikrokosmos einer Kirchengemeinde alles andere als ein „neutraler“ Hintergrund für eine Story.
Carrera und dem Drehbuchautor Vecente Leñero ist es ausgezeichnet gelungen, die Romanvorlage des portugiesischen Autoren Eça de Queiroz aus dem Jahre 1875 ins heutige Mexiko zu transponieren. Was die Kirchenvertreter angeht, so reicht die Palette vom schwergewichtigen Bischof, der die Interessen des Machtapparates vertritt, über den leutseligen Padre Benito, der nicht nur mit der Mafia kungelt, sondern auch ein kaum verhülltes Liebesverhältnis pflegt, bis hin zu Padre Natalio, der sich für die Ideen der Befreiungstheorie begeistert.

Mit bebenden Lippen vorm Beichtstuhl

Diesem klerikalen Panoptikum gesellen sich eine Reihe typisierter Nebenfiguren hinzu. Da gibt es Frauen, die mit bebenden Lippen im Beichtstuhl Dinge vorbringen, die beide Seiten zum Erröten bringen. Oder eine verrückte Alte, die Exorzismen betreibt und ihre Katze mit geraubten Oblaten füttert. Sie alle sind, wenn man so will, Teil der katholischen „cultura popular“. Diese hat für Außenstehende einen surrealen Unterhaltungswert, ist jedoch für diejenigen, die sich innerhalb ihres Universums bewegen, ziemlich beklemmend. Entsprechend gibt es auch für den Padre Amaro und seine heimliche Geliebte Amelia kaum Chancen auf ein glückliches Ende.
Mit seiner sorgfältig konstruierten Struktur, den ausgezeichneten DarstellerInnen und einer Bildsprache, die das Schöne genauso zeigt wie das Schäbige, gelingt es Carlos Carrera, ein Genre zu aktualisieren, das eigentlich schon ziemlich ausgelutscht zu sein schien: das Priestermelodram. Welten trennen „Padre Amaro“ nicht nur geografisch von einer sentimentalen Schmonzette wie „Die Dornenvögel“, die vor Jahren in zahlreichen Ländern mit großem Erfolg im Fernsehen gezeigt wurde.
Was die Realität angeht, so sind die Themen, die Carreras Film berührt, nach wie vor von trauriger Aktualität. Denn immer noch halten die greisen Patriarchen in Rom eisern am Zölibat fest und verbannen damit Abertausende von Paaren samt ihren Kindern in die Illegalität.
Nach wie vor setzt die katholische Kirche all ihren Einfluss ein, um Abtreibungen so weit wie möglich zu kriminalisieren. Erst kürzlich wurde in Nicaragua mit allen Mitteln versucht zu verhindern, dass ein neunjähriges Mädchen, das vergewaltigt worden war, die Schwangerschaft abbrechen durfte. Hält man sich dieses Panorama aus Doppelmoral, Selbstgerechtigkeit und Blindheit gegenüber menschlichem Leid vor Augen, scheint der Film „Das Verbrechen des Padre Amaro“ höchst aktuell und dringend notwendig. Die Reaktion der Amtskirche in Mexiko hat gezeigt, dass der Film in ein Wespennest gestochen hat.

„El crimen del padre Amaro“; Regie: Carlos Carrera; Mexiko/ Spanien 2002; Farbe, 121 Minuten. Der Film startet am 15. Mai im Kino.

Vom Putsch zur Transformation

Alles begann und endete zugleich mit dem Auftritt des Kapitäns eines sinkenden Schiffes, der seinen letzten Monolog an das Volk richtete. Nur wenige Stunden nach dem Auftritt wurde Oscar Castro, der den Kapitän im Theaterstück Y al principio existía la vida (Und am Anfang war das Leben) spielte, von der politischen Polizei verhaftet: die Figur des Kapitäns erschien dem Regime wohl als zu gefährliche Anspielung auf den gerade gestürzten Präsidenten Allende.
Der Regisseur und Schauspieler Castro, eine der zentralen Persönlichkeiten der kritischen Theaterszene in Chile, wurde in ein Gefangenenlager gesperrt, wo er trotz der schwierigen Bedingungen seine Arbeit fortsetzte. Nach zweijähriger Gefangenschaft flüchtete er 1976 ins Exil nach Paris.
Ähnlich erging es zu Beginn der Militärdiktatur in Chile zahlreichen KünstlerInnen und Intellektuellen, die versuchten gesellschaftliche oder politische Themen anzusprechen. Viele von ihnen verschwanden nach der Inhaftierung spurlos. Die kulturelle Arbeit frei von staatlicher Kontrolle, Zensur und sozialer Ausgrenzung fortzusetzen, war für sie nur im Exil möglich.
Doch die Theaterleute, die im Land blieben, lernten mit den radikalen Einschränkungen der öffentlichen Rechte und dem Risiko umzugehen. In Abgrenzung von den etablierten kommerziellen Theatern fanden sie Wege und Mittel eine unabhängige Theaterszene aufzubauen, die in den achtziger Jahren zu einem Höhepunkt gelangte.

Theater unter der Militärdiktatur

La Troppa ist eine der wichtigsten Gruppen, die in dieser turbulenten Zeit entstand und bis heute durch ihren unverwechselbaren Stil national und international für Aufsehen sorgten. Anfang der achtziger Jahre lernten sich Laura Pizarro, Jaime Lorca und Juan Carlos Zagal während ihres Schauspielstudiums an der Universidad Católica kennen und gelten seitdem als unzertrennliche Gruppe. Anfangs traten sie auf als Los que no estaban muertos, also als „die, die nicht tot waren“. Der Name bezeichnete ihre Generation, die sich beständig von den Älteren erzählen lassen musste, wie phantastisch alles vor dem Militärputsch gewesen sei. Die Suche nach eben diesem Verlorengegangenen konfrontierte das Trio mit einem schier aussichtslosen Weg: „Es war, als ob man von weitem die Lichter der Stadt betrachtet und sagt: ‘Schau mal, was da hinten passiert.’“, erinnert sich Juan Carlos Zagal. „Dann gehst du da hin und siehst wie sich die Lichter wieder ganz weit entfernen.“
In ihren ersten drei Inszenierungen El santo patrono (Der heilige Patron 1987), Salmón-Vudú (1988) und El Rap del Quijote (Der Rap des Quijote 1988) entwickelten die drei eine poetische und kreative Bild- und Szenensprache, die bei den ZuschauerInnen längst verloren geglaubte phantastische Assoziationen und Visionen hervorriefen. Viele DramaturgInnen fühlten sich durch die institutionalisierte Stille der Diktatur herausgefordert, eine neue Art von Bühnenkunst zu entwickeln, die sich von den vorherrschenden Merkmalen einer allgemeinen Ästhetik abgrenzte. Das Theater brauchte einen Wechsel des Stils, der Technik und Vorgehensweisen, um einen anderen Blickwinkel auf die Welt zu erreichen. Los que no estaban muertos gelang dies insbesondere dadurch, dass sie Gestik, Bewegung, Musik, Tanz, Poesie und Akrobatik auf eine neue Art und Weise nutzten und verbanden. In ihren Stücken erforschten sie grausame Realitäten, entdeckten aber auch neue magische Welten und fingen so an, zu träumen und zu hoffen.

Rückkehr zur Demokratie

Nach der Diktatur nahm sich das Theater der Aufgabe an, die politische Vergangenheit auf der Bühne zu verarbeiten. Die Gruppe, die von nun an unter dem Namen La Troppa (Die Truppe) auftrat, knüpfte an ihre früheren Ideen an. Theater machen war und ist ihrer Meinung nach ein „spiritueller Krieg“, um sich gegen hierarchische Strukturen zu behaupten. Als erklärte Feinde der machtvollen, zentralen Position des Regisseurs lehnten sie die Zusammenarbeit mit anderen Gruppen und insbesondere die Arbeit für das Fernsehen strikt ab. La Troppa widmete sich stets ausschließlich der Theaterarbeit im Kollektiv und hielt selbst in den schwierigsten Momenten an diesem Prinzip fest.
1990 errang die Gruppe mit dem Stück Pinocchio den ersten großen Erfolg. Es folgten die Inszenierungen von Lobo (Wolf 1992) und Viaje al centro de la tierra (Reise in den Mittelpunkt der Erde1995). Mit großer technischer Perfektion, neuen Verknüpfungen von Licht, Raum und Zeit sowie kineastischen Stilmitteln beeindruckten sie das Publikum jeden Alters.
Für internationales Aufsehen sorgten sie dann nach einer längeren Pause mit dem Stück Gemelos (Zwillinge 1999), einer Adaption des Romans Das Große Heft von Agota Kristof. Gemelos erzählt die Geschichte zweier Zwillingsbrüder, die während des Zweiten Weltkrieges bei der Großmutter aufwachsen, die im ganzen Dorf als Hexe verschrieen ist. Das Szenario glich einem Puppentheater mit Masken und Marionetten, in dem die AkteurInnen durch ihre abgehackten Bewegungen und Sprache selbst zu Puppen wurden. Sie beeindruckten durch eine pantomimische und emotionslose Darstellung der üblen Lebensbedingungen der Zwillinge im Kontrast zu einer verspielten Kinderwelt voller Humor und Ironie. Gleichzeitig verarbeiteten die AkteurInnen auch einen Teil ihrer eigenen Kindheit und Vergangenheit in der Inszenierung.
Ihr neuestes Stück Jesús Betz, das auf einem Kinderbuch von Fred Bernard und François Roca basiert, ist seit März diesen Jahres in Frankreich zu sehen. Es erzählt die Geschichte von einem Menschen ohne Arme und ohne Beine, der sein Leben lang erniedrigt wird. Als auch noch sein Sehkraft nachlässt, muss er seine Arbeit als Späher auf dem Ausguckmast eines Schiffes aufgeben und als Attraktion im Zirkus auftreten. Die Inszenierung ist eine Koproduktion verschiedener französischer Theater, in denen La Troppa in den nächsten vier Monaten auftreten wird.
Auch in dieser Aufführung finden sich die Elemente wieder, die ihre Kollektivarbeit über Jahre gekennzeichnet haben: die ungewöhnlichen Ausdrucks- und Sprachmittel, die extravaganten Bühnenbilder, Masken, Puppen, die selbst produzierte Musik und die nie erschöpfte Suche nach dem Verlorengeglaubten. Und so beweist La Troppa auch 30 Jahre nach dem Putsch La immer noch eine Ausnahmestellung in der chilenischen Theaterszene.

KASTEN:

Junge chilenische Theatergruppen:

Teatropan
Die Gruppe Teatropan (Paulina Casas, Jaime Reyes und Erico Vera) entwickelte in ihrer neuesten Inszenierung Alicia en el espejo (Alicia im Spiegel 2003) ein Szenario, wie aus einem Comic oder einem Computerspiel. Die drei DarstellerInnen agieren mit Hilfe von Masken, Puppen, Gestus und Stimme in dreizehn verschiedenen Rollen. Die Bühne gleicht einem Bild des holländischen Künstlers M.C. Escher und spielt laut DarstellerInnen die Hauptrolle in dem Stück. Teatropan arbeiten genau wie ihr großes Vorbild La Troppa ausschließlich im Kollektiv und sind für Dramaturgie, Regie, Bühne und Musik selbst verantwortlich. Schon früh entwickelten sie eigene ästhetische Positionen und eine Theaterideologie. Das Stück Alicia en el espejo bescherte ihnen nun den ersten großen Erfolg.

Teatro enSímenor
Das junge Ensemble Teatro enSímenor um Alvaro Viguera (Regisseur), Francisca Ortiz, Marion Acuña, Cristóbal Muhr, Matías Oviedo, Pilar Becerra und Natalia Grez arbeitet seit 1999 zusammen. Zuletzt waren sie mit einer adaptierten Fassung Saint-Exupérys Der Kleine Prinz in Berlin zu sehen. Ideen und Stücke kommen aber hauptsächlich von ihnen selbst: Alvaro Viguera und der Schauspieler und Dramaturg Andrés Kalawski schreiben die Dramentexte, die ihnen als Vorlage dienen. Viele Ansätze entstehen in Gemeinschaftsproduktion innerhalb der Gruppe, die zusammen nachdenkt und diskutiert, bis dann eine konkrete Idee im Raum steht. „In unseren eigenen Stücken versuchen wir das zu finden, was uns fordert: die eigenen Gefühle. Wir wollen eine eigene Sprache entwickeln, um eigene Wörter hervorzubringen”, erzählt Pilar Becerra.
Verlassene Minen, leer stehenden Lagerhallen oder Häuser dienen ihnen als Bühne: Nur hier können sich die Geschichten voll entfalten, denn diese Orte erzählen parallel zu den Stücken bereits ihre eigene Geschichte, an die Teatro enSímenor anknüpfen wollen. Im Vordergrund stehen Themen wie zwischenmenschliche Beziehungen, Tabus, Einsamkeit oder mangelnde Zärtlichkeit – nur politische Themen finden keinen Platz. Natalia Grez erklärt: „Es gab eine Zeit, in der alles gesagt werden musste, was während der Diktaur nicht gesagt werden konnte. Kino, Theater und Tanz, alle Kunstformen entdeckten im Politischen und in den Themen, die das Militärregime zerstört hatte, eine neue Sprache, die sie erleichterte. Aber auch hier kam es bald zu einer Sättigung. Und obwohl es unmöglich ist, unsere Geschichte zu vergessen, das Theater bewegt sich weg vom politischen Thema und schlägt verschiedene neue Richtungen ein.

Newsletter abonnieren