“Weil ich Teil dieser Geschichte bin”

Schon lange bevor das Konzert losgeht, spüre ich ein Vibrieren in der Luft. Eine fröhliche Spannung nimmt sich meiner an. Bald schon sieht man nicht mehr einzeln zusammenstehende Grüppchen, sondern eine wogende Menschenmasse. Überall Gelächter. Teenager haben sich herausgemacht und lassen erwartungsvoll ihre Blicke umherschweifen. Eine Omi neben mir hakt sich bei ihrem Enkel unter. Und ein kleiner Junge spielt Verstecken zwischen den Beinen der Großen. Ich bin erstaunt über dieses Miteinander von Jung und Alt, was ich aus Deutschland nicht kenne.
Plötzlich geht ein Ruck durch die Menge. Trommelrhythmen erklingen, und auf die große, abgedunkelte Bühne treten nacheinander die Musiker von Illapu. Es dauert Minuten, bis sich ihr erstes Lied gegen den tosenden Beifall, das Klatschen, die Sprechchöre und die Zurufe durchsetzen kann.
Zu den Konzerten der Gruppe Illapu strömen in ganz Chile jedes Mal tausende von Menschen. Ihre Lieder kann man an jeder Straßenecke hören. Die Musik von Illapu ist eine mitreißende Mischung aus chilenischer Folklore mit ihren typischen Instrumenten Quena (Flöte), Charango (Saiteninstrument) und Panflöte und modernen Elementen. Sie kennt ausgelassene Töne genauso wie Trauer und Nachdenklichkeit.
Seit Illapu sich Anfang der 70-er Jahre gegründet haben, sind sie ein Symbol für aufrechte Haltung geworden. Sie sprechen die Probleme an, die sonst ignoriert werden, besingen ihre Liebe zu Chile und schrecken vor allem nicht davor zurück, immer wieder auf die nach wie vor nicht gesühnten Verbrechen der jüngsten Vergangenheit des Landes aufmerksam zu machen, deren Opfer sie selbst geworden sind. Die Gruppe verbrachte mehr als zehn Jahre im französischen Exil, weil sie Chile nicht mehr betreten durfte.
In einem Interview sprach José-Miguel Márquez, einer der Márquez-Brüder, die Illapu ins Leben gerufen haben, über seine Erfahrungen während der Diktatur und im Exil und vor allem über die kulturelle Entwicklung im heutigen Chile.

Illapu gibt es seit 1971. Warum spielt ihr andine Folklore?

Seit Anfang der 70-er Jahre gibt es in Chile eine musikalische Bewegung, die “Nueva Canción Chilena”, deren Hauptanliegen die Folklore und die Suche nach unserer nationalen Identität war. Unter Allende entstanden viele Programme zur Entwicklung unserer Kultur. Diese Bewegung war für unseren Weg ausschlaggebend.

Habt ihr deshalb Chile verlassen müssen? Eure alten Lieder sind doch überwiegend rein traditionell. Reichte es denn schon aus, als Gruppe in der Allendezeit entstanden zu sein und sich in der Bewegung “Nueva Canción Chilena” engagiert zu haben?

Wir sind die letzte Gruppe, die in diese Bewegung eingetreten ist. Das war unter der Diktatur schon gefährlich. Der Grund, weshalb wir aber ins Exil mußten, waren die vielen Solidaritätskonzerte, die wir für Organisationen der Pobladores (Vereinigungen in Armenvierteln), die Essensstellen für Kinder), die Arbeitslosenvereinigungen oder der Vereinigung für verschwundene Gefangene gegeben haben. Wir waren unter der Diktatur Opposition.

Ihr seid also nicht sofort nach dem Putsch ins Ausland gegangen?

Nein, aber wir mußten erstmal eine Zwangspause machen. Ein Jahr nach dem Putsch, ab Ende 1974, traten wir als Illapu wieder in Santiago auf. Als wir 1980 von einer Europatournee nach Chile zurückkamen, wurden wir am Flughafen verhaftet und innerhalb von drei Stunden ausgewiesen und zwar als Gruppe und als Einzelpersonen. Das bedeutete, daß keiner von uns zurück konnte, auch wenn er nicht mehr zur Gruppe gehörte.

Welche Macht hatte denn ein Lied? Konnte es Pinochet wirklich gefährlich werden?

Viele Lieder klagten an, was in Chile passierte. Das wichtigste war, die Musik und die Instrumente wie das Charango oder die Quena am Leben zu erhalten, denn sie waren nach dem Putsch verboten worden. Sie erinnerten zu sehr an die Zeit unter Allende. Was die Militärs aber am meisten störte, waren die Solidaritätskonzerte, weil hier die Menschen anfingen, ihre Angst zu verlieren und sich wieder trafen und versammelten.

Und wie sieht es heute aus?

Lieder sind auch heute noch sehr wichtig. Sie sprechen von den vielen Problemen wie der Armut, wo die Verschwundenen sind, der Zensur, den Drogen usw., für die immer noch keine Antworten oder Lösungen gefunden wurden.

Was geschah mit dem offiziellen kulturellen Leben unter Pinochet? Erstarb es?

Bis 1976 erlebten wir unter Pinochet den sogenannten kulturellen Stromausfall. Es waren die schweren Jahre, und viele Künstler hatten Angst. Aber ab Mitte 1976 erschienen, zunächst nur schüchtern, verschiedene Gruppen und SolistInnen und begannen, wieder aktiv zu werden. Es eröffneten einige Peñas, und ein Lied von uns, “Cadombe para José”, das Ende 1975 aufgenommen wurde, kam auf Platz eins in den “Charts”. Es war das erste Mal, daß wir vom Fernsehen eingeladen wurden. Dieses Lied und unsere Gruppe selbst motivierten viele KünstlerInnen, und es entstand eine neue Bewegung. Zuerst hieß sie “Boom de la Música Andina”, später dann “Canto Nuevo”. Außerdem wurde die Plattenfirma “Alerce” gegründet, die viele dieser neuen Gruppen veröffentlichte. Die Radiostationen, vor allem Radio Chilena mit seiner Sendung “Nuestro Canto” (Unser Gesang), fingen wieder an, unsere Musik zu spielen.

“Kultureller Stromausfall”

Es war eine Form alternativen Lebens innerhalb der Möglichkeiten, die die Junta bot. Dieses Leben spielte sich vor allem in Theatern und Konzertsälen ab und wurde in der Presse veröffentlicht. Die Gruppen waren große Könner. Nur so konnten sie die Freiräume nutzen und für sich vereinnahmen, die noch nicht verboten waren. Man mußte sehr aufpassen, mit dem, was man sagte und sehr gewitzt sein.

Wart ihr auf der “Schwarzen Liste”, vermerkt?

Ja, seit 1978 standen wir auf der Schwarzen Liste. Das bedeutete, daß man nicht im Fernsehen auftreten durfte, daß die Radiosender unsere Lieder nicht sendeten, daß man keine Verträge abschließen konnte und daß man, um Konzerte durchführen zu können, eine spezielle Erlaubnis der Polizei benötigte.

Warum seid ihr ausgerechnet nach Frankreich gegangen?

Wir kamen gerade aus Paris, als wir ausgewiesen wurden. Dort hatten wir auch Freunde und Bekannte. Außerdem glaubten wir, in Frankreich gute Entwicklungsmöglichkeiten zu haben.

Wie wurdet ihr dort empfangen? Interessierte man sich in Frankreich für eure Musik und euer Schicksal? Half man euch? Gab es Solidaritätsbewegungen?

Naja, man hat uns Asyl gegeben, und das war für uns schon sehr viel. Unsere Freunde, egal ob FranzösInnen oder andere ChilenInnen im Exil, haben uns sehr geholfen. Unsere Musik wurde gut angenommen, aber es kostete viel Arbeit, sich einen Platz zu verschaffen. Unser Asylstatus war dabei nicht das Entscheidende, sondern die Qualität der Musik.

Welchen Einfluß hatte die Zeit im Exil auf eure Musik?

Der europäische Einfluß auf unsere Musik war nicht groß. Wir wollten nach Chile zurück, identifizierten uns noch stärker mit unserem Land. Unsere Lieder waren für Chile gedacht. Aber die Konfrontation mit dieser anderen Kultur hat uns veranlaßt, unserer Musik einen modernen Klang zu geben.

Ja, das hört man. Ihr verwendet immer noch so wie früher typisch
lateinamerikanische Instrumente, Rhythmen und Melodien, greift aber verstärkt auch zu Elementen aus dem Rock und anderen Stilen. Warum eigentlich?

Das hat mit unserem persönlichen Geschmack als Komponisten zu tun. Wir wollten unseren eigenen Klang entwickeln. Folklore ja, aber von uns gemacht, beeinflußt vom alltäglichen modernen Leben. Vielleicht wird die Musik, die wir heute machen, die Folklore von morgen sein.

Sind Lieder oder Kassetten von euch bis nach Chile vorgedrungen? Wußten die Menschen, daß ihr weiterspielt und öffentlich macht, was in Chile passiert?

Viele unserer Auftritte wurden in Chile bekannt. Unsere Platten und Kassetten konnte man fast täglich hören, Videos wurden kopiert. Zwar durfte das Radio uns nicht senden, aber in Peñas, Clubs und in Versammlungen in Armutsvierteln wurden unsere Lieder gespielt.

Nach so vielen Jahren und einer so tiefgreifenden Erfahrung hat sich Chile sicherlich geändert. Welche drei Veränderungen sind dir am meisten aufgefallen?

Chile erlebte unter Pinochet eine bedeutenden ökonomischen Aufschwung. Aber der Preis dafür waren der Ausverkauf der nationalen Industrie und fast vier Millionen. Arme, viele Verschwundene und Arbeitslose. Chile wurde zu einem Versuchslabor.

Folklore von morgen

Zum zweiten gibt es eine große Selbstzensur und Selbstbeschränkung der Menschen und einen Verlust an Solidarität.
Und was mich drittens sehr bedrückt, sind die Probleme mit Drogen und Alkohol. Und auch, daß die jungen Leute an Politik kein Interesse mehr haben.

Heute hört man kaum noch etwas von Gruppen wie Inti Illimani oder Quilapayún, die vor der Diktatur ja bekannter und bedeutender waren als ihr. Wie erklärst du dir das?

Quilapayún sind in Frankreich geblieben und hier kaum noch bekannt. Inti Illimani leben in Chile, aber machen viele Tourneen im Ausland. Ich denke, sie haben nicht wieder die richtige Verbindung zu den Leuten in Chile gefunden. Mit den Themen ihrer Lieder können sich die Jugendlichen von heute nicht identifizieren. Deshalb haben sie nicht den Platz erreicht, den sie in Chile verdient hätten.

Es scheint, als habe sich die Folklore, die unter Allende ja eine so herausragende Rolle spielte, wieder verloren.

Folklore hat heute nur wenig Einfluß auf das tägliche Leben. Die Massenmedien folgen dem “freien Markt”. Die Charts und cool zu sein ist wichtiger als Kultur. In vielen TV-Programmen sieht man ein Chile, das nichts mit der Realität zu tun hat. Musikläden führen keine Folklore, da sich ihrer Meinung nach diese Musik nicht verkauft. Heute ist fast nichts mehr vom kulturellen Leben unter Allende übrig, weil niemand in Kulturhäuser, Clubs, Plattenfirmen, in unsere Kultur investiert. Chile verliert nicht nur seine Folklore, sondern seine Identität.

In eurem Konzert sah ich vom Baby bis zur Oma einen Querschnitt durch alle Bevölkerungsschichten. Die Mehrheit waren aber Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren, die ja die Diktatur nicht mehr miterlebt haben. Wie erklärst du dir diese “Fans”?

Das hat mit unserer Haltung zu tun. Wir stehen vielen Dingen kritisch gegenüber und versuchen, die Gedanken der Jugendlichen in unsere Texte miteinzubeziehen. Die Jugendlichen finden, daß wir uns in vielen Sachen einig sind. Sie identifizieren sich mit unseren Liedern.

Habt ihr heute noch irgendwelche Probleme mit offizieller oder inoffizieller Zensur?

Es existiert noch eine starke Zensur in den Köpfen der Menschen. Aber auch in den Medien. Es gibt den Nationalen Fernsehrat, der damit beschäftigt ist, was das Fernsehen so zeigt. Dann gibt es noch den Nationalen Kinorat, der auch ein Element der Zensur ist. Gerade beschloß ein Gericht, in Chile den Film “Die letzte Versuchung Christi” zu verbieten. Sie zensieren Viedeoclips, Lieder, Fernsehspots über Aids, Kabelfernsehen und, und, und. Wir sind noch weit ab von einer wirklichen Meinungsfreiheit.

Vermißt du irgendetwas aus Deutschland oder Frankreich? Besitzt die europäische Kultur etwas, was du gerne mitgenommen hättest?

Es würde mir gefallen, wenn in Chile eine bessere, gesündere Beziehung zwischen den Menschen entstehen würde, weniger Lügen, weniger Zensur, weniger Vorurteile, weniger Komplexe, weniger Neid. Daß wir eine wirkliche Freiheit hätten, mehr Bildung, bessere medizinische Versorgung, eine größere kulturelle Entwicklung. Daß der Unterschied zwischen arm und reich nicht mehr der zwischen sterben und leben ist. Ich denke, daß vieles von dem in Europa existiert, und ich vermisse das sehr.

CD-Tips: Illapu: “En estos días”, “Multitudes”

Editorial Ausgabe 275 – Mai 1997

Ana García Rodriguez lebt seit sechs Jah­ren in San Fernando Valley nahe Los Ange­les. Sie ist 36 Jahre alt, Mutter von drei Kin­dern und hat einen mexikanischen Paß. Die zwei Söhne sind in Kalifornien geboren, die Tochter in Mexiko. Der Vater der drei hat sich vor längerer Zeit aus dem Staub gemacht. Ana arbeitet als Haushälterin. Morgen müssen sie und ihre Tochter die USA verlassen, die bei­den werden “rückgeführt”.
Ana ist Fiktion, die “Rückführung” bald Realität. In den USA sind am 1. April neue, verschärfte Asyl- und Ein­wanderungsgesetze in Kraft getreten. Sie be­treffen sowohl die bereits in den USA leben­den “Illegalen” als auch die, die erst noch ins Land gelangen wollen.
Zwei Beispiele: Konnten “Illegale” bislang eine Abschiebung umgehen, wenn sie nach­wiesen, daß sie bereits sieben Jahre oder län­ger in den USA lebten und eine Deportation sie in eine Notlage bringen würde, hat sich diese Regelung mit dem 1. April extrem ver­schärft. Jetzt müssen es zehn Jahre sein und die Notlage wird vom direkt Betroffenen auf dessen Verwandte verlagert. Im Klartext: Sollten die Söhne Anas durch eine Abschie­bung von Mutter und Schwester in eine exi­stentielle Notlage und Härte geraten, ist von der Deportation abzusehen. Ein wachsweiches Gesetz, zugeschnitten auf das Ermessen des jeweiligen Richters.
Auch für Asylsuchende hat sich die Situa­tion deutlich verschlechtert. Mußte bislang allen das Recht auf eine Anhörung gewährt werden, liegt die Beweislast nun von Beginn an beim Asylsuchenden. Er oder sie muß die Offiziere der amerikanischen Einwanderungs­behörde INS bereits beim Grenzübertritt von der Dringlichkeit und Seriösität des Asylwun­sches überzeugen. Glaubt ihnen der Offizier nicht, werden sie sofort abgeschoben.
Angst und Wut wegen des neuen Gesetzes hat sich vor allem unter US-Latinos und -Lati­nas breitgemacht. Sie sind die Hauptbetroffe­nen des neuen Gesetzes, denn weit über die Hälfte der schätzungsweise rund fünf Milio­nen “Illegalen” in den USA stammen aus La­teinamerika; zweieinhalb Millionen von ihnen haben die mexikanische Staatsbürgerschaft. Viele von ihnen leben seit Jahren in den USA. Ihre Aufenthaltsgenehmigungen oder Touri­stenvisa sind längst abgelaufen. Lange war das kein Problem, die Gefahr als “IllegaleR” aufzufliegen gering. Sie waren geduldet und als billige Arbeitskräfte sogar gewünscht. Mit der Rezession in den 80ern keimte aber auch die Fremdenfeindlichkeit wieder auf. An dem für die USA so typischen Gemisch aus Vertei­lungskampf und ethnischen Konflikten war die Lunte gelegt.
Die Beratungsstellen kamen in den letzten Monaten kaum mehr zum Durchatmen, so stark war die Nachfrage nach Information und Hilfe. Viele Latinos und Latinas standen vor der Frage, ob sie sich selbst anzeigen sollten, in der Hoffnung anschließend mittels eines Prüfverfahrens innerhalb der bis April 1998 festgeschriebenen Übergangsphase ihren Sta­tus legalisieren zu können. Ein Patentrezept gab und gibt es nicht. Das apokalyptische Szenario einer Zwangsdeportation zehntau­sender Latinos ist sicher übertrieben, mit Mas­senabschiebungen ist nicht zu rechnen. Das haben auch die ersten zwei Wochen nach In­krafttreten des neuen Gesetzes gezeigt.
Die Regierungen südlich des Rio Grande protestierten energisch und lautstark gegen die rassistische Gesetzgebung des Nachbarn im Norden. Ein zweifelhafter Pathos, denn der Grund für die geharnischten Töne ist wohl eher in der Angst zu suchen, den Abgescho­benen keine Perspektive bieten zu können, als wahre Anteilnahme an ihrem Schicksal. Tat­sächlich wäre es für die angeschlagenen, vom Neo­liberalismus gebeutelten Volkswirt­schaf­ten Mexikos und Zentralamerikas ein herber Schlag, würden Zehn- oder gar Hun­dert­tausende aus den USA in ihre Ursprungs­länder abgeschoben.
Jenseits der persönlichen Dramen haben die Gesetze eine weiter negative Qualität: Die USA sind qua Geschichte und Selbst­ver­ständ­nis ein Einwanderungsland. Anders als Deutsch­land gilt hier nicht das ius sanguinis, das von der Abstammung hergelei­tete Staats­bürgerrecht, sondern das ius soli, das vom Ort der Geburt hergeleitete. Wer in den USA ge­boren ist, ist US-BürgerIn. Das bedeutete aber nie, daß Vater und Mutter des­halb au­tomatisch ein Bleiberecht erwirkten. Diese Ne­gation der Verwandtschaft soll in Zukunft ver­schärft kontrolliert und erfüllt werden. Ana García Rodriguez und ihre Tochter müssen gehen, wenn die Behörden es wollen.

Weißes Gold

Nach 200 Metern Staubpiste versperrt eine Schranke den Weg. Der dahinter liegende Ort wirkt gespenstisch, weit und breit keine Menschenseele. Die Stille wird nur vom böigen Wüstenwind und dem Scheppern der Wellblechplatten unterbrochen. Staub wirbelt um die Ecken und Wände verfallener Gebäude. Die perfekte Kulisse für einen Western! Die Sonne brennt erbarmungslos vom tiefblauen Himmel. Keine Wolke weit und breit. Im Osten läßt sich die Silhouette der Andenkordillere erahnen. Die wenigen Bäumchen haben sichtlich Mühe, unter den unwirtlichen Bedingungen zu gedeihen. Der verlassene Ort läßt nichts von dem lebendigen Treiben früherer Jahre ahnen. Einzig an den Eintragungen im aufgeschlagenen Gästebuch in der Eingangshütte ist zu erkennen, daß sich vor kurzem Menschen in dieser Geisterstadt aufgehalten haben müssen.
Ein überdachtes achteckiges Holzpodest, auf dem in den meisten Städten des Andenstaates längst unaufhörlich dröhnende Lautsprecher die Musikkapellen ersetzt haben, läßt die freie Fläche unschwer als typisch chilenische Plaza de Armas erkennen. Sie wird beherrscht von dem dreistöckigen Theaterbau mit seinen drei Bögen und zwei Ecktürmen. Die Plaza liegt zwischen ehemaligen Fabrikanlagen und den Wohnvierteln. Die nahegelegenen Arbeiterhäuser sind weitgehend verfallen, die Dächer und Wände eingestürzt. Überall warnen Schilder vor dem Betreten. Doch etwas abseits finden sich komplett erhaltene Blocks. In Form eines großen L sind jeweils zwei Dreizimmerwohnungen um einen Innenhof angeordnet. Auf einem offenen Platz, der sich in besonderer Weise als Appellplatz eignete, liegen verstreut die traurigen Reste einer verrosteten Dampfmaschine. Die berühmteste Geisterstadt in der chilenischen Wüste wirkt faszinierend und gleichzeitig bedrückend auf den Besucher. Das unaufhörliche Scheppern der Wellblechplatten, das Wehen des Wüstenwindes in der Einsamkeit der Ruinen scheint nicht von dieser Welt zu sein.

Kulisse für einen Western

Plötzlich ertönt ein Pfiff. In der Ferne winkt ein unverkennbar menschliches Wesen. Roberto Zaldívar hat sich für ein Leben fernab der Zivilisation entschieden. Seit Mitte 1991 lebt er in der Einsamkeit der Ruinen und Wellblechdächer, bis vor kurzem ohne Strom und fließendes Wasser. Im Auftrag des Goethe-Instituts in der Hauptstadt Santiago hütet er die verlassene Salpeterstadt. Fast sieben Jahre geht das Engagement der deutschen Kulturvertretung in der Atacama-Wüste zurück. Seither bemühen sich die BetreiberInnen, die Ruinenstadt vor dem Schicksal der allermeisten anderen oficinas zu bewahren. Denn wie an keiner anderen Stelle kristallisieren sich in Chacabuco die Salpetergeschichte, die ArbeiterInnenbewegung und politische Unterdrückung in Chile.
Mit dem Export des ‘weißen Goldes’ betrat die einstige spanische Kolonie zum ersten Mal die Bühne des internationalen Handels. Um die Vorkommen in der Atacama-Wüste wurden Kriege geführt, die entstehende Gewerkschaftsbewegung spürte hier den mächtigen Arm von Militär und Polizei. Viele Jahre später, als der Salpeterboom lange vorüber war, stellte die sozialistische Regierung von Salvador Allende die oficina unter Denkmalschutz. Kaum zwei Jahre später diente Chacabuco den putschenden Generälen um Augusto Pinochet als Gefangenenlager. Viele prominente politische Häftlinge wurden hier im extremen Wüstenklima zwischen Stacheldraht und Minenfeldern eingepfercht. “Die Idee bei der Erhaltung von Chacabuco ist es zu verhindern, daß die Erinnerung an das größte Konzentrationslager in der Geschichte Chiles in Vergessenheit gerät,” erklärt Roberto Zaldívar, der Wärter der Gedenkstätte. “Gleichzeitig ist die historische Bedeutung von Chacabuco unschätzbar, denn es ist fast die letzte erhaltene Salpeterstadt.”
Vom Winde verweht sind mittlerweile die allermeisten der ehemals über 100 Wüstensiedlungen. Allein Mauerreste und Abraumhalden in Form überdimensionaler Torten erinnern an die aufgegebenen oficinas. Und die gottverlassenen Friedhöfe, deren Holzkreuze und Eisenrosetten dem Wüstensand trotzen. Die einzige und letzte Erinnerung an die Menschen, die an dieser unwirtlichen Stelle des Globus gelebt und geschuftet haben. Nur die letzte Ruhestätte ist ihnen geblieben, ihre Heimat hat längst die Wüste geschluckt. Keiner kümmert sich um die Gräber, weil niemand mehr da ist. Ein unheimliches Gefühl beschleicht den Betrachter: Die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens wird dem Besucher hier bedrohlich nah vor Augen geführt.
Dabei macht gerade die trockenste Wüste der Erde Vergängliches auf besondere Art unvergänglich. Bei der extrem niedrigen Luftfeuchtigkeit, die jeden Schweißtropfen sofort auf der Haut verdunsten läßt, haben mumifizierte Atacameños die Jahrtausende ebenso unbeschadet überstanden wie die Salpeterarbeiter. Die menschlichen Zeugen vergangener Epochen hatten auch entscheidenden Anteil an der Entstehung des Chacabuco-Projekts. Der langjährige Leiter des Santiagoer Goethe-Instituts, Dieter Strauß, war von den Wüstenregionen derart fasziniert, daß er bei jeder Gelegenheit in Chiles unwirtlichen Norden reiste. “Eine Mumie auf einem der Salpeterfriedhöfe wird es gewesen sein, die mein Interesse an der versunkenen Salpeterwelt erweckte”, erinnert er sich. “Als dann noch die Geschichte ‘hinzutrat’, war es um mich geschehen.” Die Idee zum Erhalt der Salpeterstadt war geboren. Seither warb er in Chile wie in Deutschland für die Restaurierung der Werksanlage, hüben wie drüben gab es erhebliche Widerstände zu überwinden. Michael de la Fontaine, der Nachfolger von Dieter Strauß, setzte das Wüstenprojekt mit ungemindertem Elan fort: “An diesen Salpeterstädten ist vor allem interessant, daß sie nicht einfach industrial plants sind, sondern wirklich ganze Städte im Niemandsland. Sie lassen die gesamte Sozialstruktur erkennen.”

Die Anfänge reichen weit zurück

Als eins der jüngsten Salpeterwerke entstand Chacabuco zu einem Zeitpunkt, als das große Geschäft mit dem weißen Gold seinen Höhepunkt bereits überschritten hatte. Die Geschichte der Salpeternutzung geht weit zurück in die Zeit vor der Ankunft der Spanier. Frühe atacamenische Kulturen verwendeten das natürliche Nitrat als Düngemittel und allem Anschein nach auch als Sprengstoff, die Inkas übernahmen bei ihrem Vorstoß nach Süden deren Techniken. Bereits 1571 sicherte König Philipp II. der spanischen Krone die Rechte am Salpeterabbau, der bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts im wesentlichen von den Jesuiten betrieben wurde. 1809 entwickelte der reisende böhmische Naturwissenschaftler Thadäus Haenke ein Verfahren, das die systematische Nitratgewinnung durch Erhitzen des Rohmaterials caliche erlaubte. Ab 1920 begann der Salpeterexport, allerdings zunächst in sehr bescheidenem Umfang. Zudem mußten unvorhergesehene Schwierigkeiten überwunden werden. Als die ersten Frachtschiffe mit ihrer weißen Ladung in englischen Häfen einliefen, sahen sich die Hafenarbeiter vor ein unüberwindbares Problem gestellt: Wie sollten sie den riesigen verbackenen Klumpen aus dem Schiffsleib herausbekommen? Das Salpeterpulver war durch die Feuchtigkeit auf See steinhart geworden, die Schiffe mußten auf offener See versenkt werden. Seither geht das Salpeter als Granulat auf die lange Reise.
Ein wichtiger Schritt zur industriellen Salpeterherstellung gelang 1876 dem Chilenen britischer Herkunft, Santiago Humberstone: Durch ein Rohrsystem leitete er Wasserdampf ein, um das Salpeter aus dem caliche herauszulösen. Dieses Verfahren war wesentlich ökonomischer und erlaubte die Ausbeutung der natürlichen Nitratvorkommen in großem Stil. Mit der Industrialisierung in Europa waren immer mehr hungrige Mäuler zu stopfen, die Landwirtschaft mußte effektiver arbeiten. Der Gießener Chemiker Justus von Liebig wies Mitte des 19. Jahrhunderts die Vorzüge von Nitratdünger für den Ackerbau nach. Damit war der Weg zur weltweiten Vermarktung von Naturdünger geebnet. Als Rohstoffquelle für die Herstellung von Schießpulver erlangten die Salpeterfelder zudem strategische Bedeutung.
Mit dem Geschäft wuchsen die Begehrlichkeiten. Die größten Salpetervorkommen lagerten in der ehemaligen peruanischen Provinz Tarapacá und in der bolivianischen Atacama-Wüste. Deren Ausbeutung lag in dieser Zeit vorwiegend in der Hand chilenischer Unternehmer, die Nachbarstaaten kassierten Ausfuhrsteuer. Als Bolivien einseitig die Zollgebühren anhob, besetzten die Chilenen am 14. Februar 1879 kurzerhand den wichtigen Ausfuhrhafen Antofagasta. Im April folgte die offizielle Kriegserklärung an Bolivien und das verbündete Peru. Der Pazifikkrieg war nach zwei Jahren mit dem Einmarsch der nach preußischem Vorbild aufgebauten chilenischen Armee in Lima praktisch entschieden. Mit den beiden nördlichen Provinzen Atacama und Tarapacá hatte der Andenstaat seine Fläche um ein Drittel vergrößert und sich vor allem die reichen Salpetervorkommen einverleibt.

Rohstoff für Dünger und Sprengstoff

Im folgenden halben Jahrhundert brachte das Salpetermonopol dem Land einen Aufschwung unbekannten Ausmaßes. Zunächst schnellte der Export des weißen Goldes von Jahr zu Jahr in die Höhe. Doch bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts war die Nachfrage nach dem Rohstoff für Dünger und Sprengstoff zunehmenden Schwankungen unterworfen. Der Erste Weltkrieg bewirkte anfangs einen deutlichen Anstieg der Exporte. Doch die Seeblockade des Deutschen Reichs, des bisherigen Hauptabnehmers, traf die chilenische Salpeterindustrie kurz darauf empfindlich, bevor der steigende Düngemittelimport der Entente-Staaten die Verluste wieder ausglich. Allerdings hatte die Blockade eine Entwicklung in Gang gesetzt, die das Schicksal der chilenischen Salpeterwirtschaft endgültig besiegeln sollte.
Bereits 1912 war den beiden Ingenieuren Friedrich Haber und Karl Bosch in den Hauptwerken der BASF in Ludwigshafen ein bahnbrechender Erfolg gelungen: Sie entwickelten das nach ihnen benannte Verfahren zur Gewinnung von Stickstoff aus der Luft. In Ermangelung des Rohstoffs für Sprengstoffe setzte die preußische Kriegswirtschaft alles daran, sich von den ausbleibenden Salpeterlieferungen unabhängig zu machen. Mit dem Bau der beiden großen Nitratwerke in Oppau und Leuna machte sich das Reich vom chilenischen Salpeter unabhängig. Die anderen Länder zogen nach. Der chilenische Boom ging ebenso jäh zuende, wie er begonnen hatte. Mit Justus von Liebig sowie Haber und Bosch standen somit deutsche Chemiker an der Wiege und gleichzeitig an der Bahre des Salpeters.
Der Leiter des Naturhistorischen Museums in Santiago, Luis Capurro, kann sich denn auch nicht von dem Gedanken frei machen, hinter dem Engagement der Deutschen stünde der Versuch einer Wiedergutmachung. In seiner Würdigung des Chacabuco-Projekts heißt es: “Vielleicht wollten sie damit die Schuld bezahlen, die sie gegenüber Chile wegen des Zusammenbruchs der Natursalpeterindustrie haben.” Diese Art von Schuldgefühlen dürfte die Betreiber des Projekts weniger bewegen als das Ziel, welches Capurro im Anschluß formuliert: “Die derzeit restaurierte oficina salitrera sollte ein großes Kulturzentrum werden, das einen wichtigen Teil unseres kulturellen Erbes bewahrt, dessen Erhalt die Bewahrung der Identität eines Landes ermöglicht.” Der Weg dahin ist noch weit, aber die ersten Schritte sind getan. Zunächst wurde das großzügige Theater wieder aufgebaut, in dem einst in- und ausländische Künstler für Angestellte und Arbeiter des Werks auftraten. Kürzlich wurde die Restaurierung der angrenzenden Philharmonie abgeschlossen, deren Dach vor langem auf die Parkettbestuhlung heruntergestürzt war.

Gedenkstätte Chacabuco

Kaum ein Ort in Chile ist besser als Gedenkstätte geeignet als das vergleichsweise gut erhaltene Chacabuco. Wie keine andere verlassene Salpeterstadt symbolisiert es die bewegte Geschichte des Landes mit der verrückten Geographie. Das Musterwerk der Salpeterindustrie ist ein einzigartiges Denkmal der chilenischen Industriegeschichte. Es ist das größte und eins der letzten Werke, das nach dem englischen Shanks-System arbeitete. Dabei wird das salpeterhaltige Mineral mit Wasserdampf gelöst und aufbereitet. Für eine Million Pfund Sterling errichtete die britisch-chilenische Lautaro Nitrate Company zwischen 1922 und 1924 eine komplette Industrieanlage einschließlich Wohnungen für über 3000 Arbeiter und mehrere Hundert Angestellte. Nur wenige Meter neben den letzten Wohnhäusern zieht das dunkle Band der Panamericana entlang, der einzigen Landverbindung zwischen Santiago und dem Großen Norden. Eine architektonische Besonderheit prädestinierte Chacabuco ein halbes Jahrhundert später für den Mißbrauch als Konzentrationslager: Wie eine Industriefestung inmitten der Wüste war die oficina rundherum von einer Mauer eingefaßt, die gleichzeitig die Außenwände bildete.
Das Werk Chacabuco arbeitete mit modernster Technologie der 20er Jahre. Obwohl unter der Regie einer englischen Firma betrieben, enthält die Anlage vorwiegend deutsche Maschinen, Turbinen und Kessel, mehrheitlich von Siemens. Daß dieser Industriestandort nur 14 Jahre in Betrieb bleiben sollte, ahnte in der Bauphase wohl niemand. Nicht nur der weltweite Rückgang des Bedarfs an natürlichem Dünger trug zu dem raschen Ende von Chacabuco bei, sondern vor allem die hohen Stromkosten beim Betrieb dieser Anlage. Ab 1930 begann nämlich die US-Firma Guggenheim & Sons mit dem Aufbau neuer Werke, in denen unter Ausnutzung der Sonnenwärme mit wesentlich weniger Energie Salpeter aus minderwertigerem Rohmaterial gewonnen werden konnte. Die damals gegründeten Werke Pedro de Valdivia, María Elena und Coya sind als einzige bis jetzt in Betrieb und bilden das Rückgrat der heutigen Salpeterindustrie Chiles. Chacabuco dagegen stellte schon 1938 die Produktion ein. Ein Teil der Geschäftsleitung verblieb in der Stadt, so daß die Infrastruktur lange erhalten blieb. Die Armee schlug hier regelmäßig bei Manövern ihre Zelte auf.
Dadurch war die Salpeterstadt auch 33 Jahre nach Einstellung der Produktion noch in einem hervorragenden Zustand, als sie die Unidad-Popular-Regierung von Salvador Allende 1971 unter Denkmalschutz stellte. Der zuständige Staatssekretär im Kulturministerium, Waldo Suárez, konnte damals nicht ahnen, daß er nur zwei Jahre später als einer der ersten Häftlinge in das neu gegründete Gefangenenlager der Militärdiktatur in Chacabuco verschleppt werden sollte. Erst zwei Tage vor seinem Tod entließen ihn die Militärs aus der Gefangenschaft, schwerkrank wurde er nach Antofagasta gebracht, um dort zu sterben. Mehr als 3000 politische Gefangene wurden nach dem 10. November 1973 monatelang in dem Lager festgehalten, unter ihnen der Präsident des Abgeordnetenhauses. Der Journalist Guillermo Torres war fast ein Jahr in Chacabuco, bevor er ausreisen konnte und in Ostberlin politisches Asyl fand. Heute arbeitet er halbtags als Pressereferent im Rathaus von Santiago und die übrige Zeit als Redakteur bei der Tageszeitung La Nación. Er begrüßt die Initiative des Goethe-Instituts, denn die Erinnerung muß wachgehalten werden, auch und gerade wenn sie so belastend ist. “Das schlimmste war,” so erinnert er sich, “daß den Soldaten eingeimpft wurde, wir wären ganz gefährliche Verbrecher. Aber nach ein oder zwei Wochen hatten sie gemerkt, daß wir ganz normale, ganz harmlose Menschen waren. Darum wurde das Wachpersonal jeden Monat ausgewechselt.”

Pulverfaß in der Wüste

Das Militär gab das Gefangenenlager Chacabuco Ende 1976 auf, doch der Ort blieb noch bis 1989 oder 90 in Händen der Armee. Der lange schwelende Grenzkonflikt mit Argentinien hätte in den 80er Jahren beinahe zum offenen Krieg mit dem Nachbarland geführt. “Chacabuco verwandelte sich damals von einem Gefangenenlager in das größte Pulverfaß der Wüste,” erklärt Roberto Zaldívar vor einem riesigen Schuppen voller verrosteter Maschinen, “hier lagerte das gesamte Kriegsgerät für eine Invasion in Nordargentinien. Nach dem Ende der Diktatur stand der verlassene Ort eine Zeitlang allen offen, es wurde gestohlen, geplündert, zerstört und gesprengt.” Die häufigen Erdbeben in dieser Region taten ein übriges. Chacabuco verfiel binnen kurzer Zeit und verwandelte sich in die Ruinenstadt, die heute den Besucher mit ihren vielen Geheimnissen und allgegenwärtigen Spuren der Vergangenhheit in ihren Bann zieht. Nur das Theater am zentralen Platz erstrahlt seit kurzem in neuem Glanz und erinnert an das kulturelle Leben vergangener Tage.
In den abgeschiedenen Städten, in denen die Menschen den Unbillen des lebensfeindlichen Wüstenklimas trotzten, waren kulturelle Veranstaltungen eine überaus willkommene Abwechslung. In der Regel standen sie allen BewohnerInnen gleichermaßen offen. Zweifellos ein Ergebnis der langen sozialen Kämpfe. Zwar waren die sozialen Unterschiede zwischen Firmenleitung und Arbeitern auch in Chacabuco offensichtlich. Dennoch konnten die englischen Betreiber nicht mehr an den Erfahrungen jahrzehntelanger gesellschaftlicher Auseinandersetzungen vorbeigehen. Die wilden Jahre des unregulierten Kapitalismus waren auch in Chile vorerst vorüber. Die Forderungen einer starken Gewerkschaftsbewegung und erste Ansätze einer effektiven Sozialgesetzgebung in Chile zwangen die Lautaro Nitrate Company, ihren Arbeitern akzeptable Wohn- und Arbeitsverhältnisse zu bieten. Das war während des gut 50jährigen Salpeterbooms beileibe nicht immer so. “Die Salpetergeschichte war sehr blutig”, erklärt der Wärter Roberto beim gemeinsamen Rundgang durch die Ruinenstadt. “Aber gleichzeitig hat sie es möglich gemacht, das dieses Land trotz aller Vergeudung vorwärts kommen konnte.”
Die Geschichte des weißen Goldes ist geprägt durch die jahrzehntelange Ausbeutung der Arbeitskräfte, die überwiegend aus Zentral- und Südchile stammten und sich zumeist als Tagelöhner verdingen mußten. Die Abhängigkeit vom Werk und dessen Besitzer war vollkommen: Der Lohn wurde in fichas bezahlt, einer Art Lagergeld, das ausschließlich in dem ebenfalls werkseigenen Laden, der pulpería, ausgegeben werden konnte. Die Waren wurden dort üblicherweise zu überhöhten Preisen angeboten, unabhängige Händler ließ die Werksleitung regelmäßig vertreiben. Wer aufmüpfig wurde oder mehr Lohn verlangte, wurde kurzerhand entlassen und verlor damit automatisch seine werkseigene Unterkunft. Die Unternehmer in der Pampa bekämpften jeden Versuch der Arbeiter, sich zu organisieren, und zerschlugen anfangs auch alle entstehenden Gewerkschaften. Ging der starken Schwankungen unterworfene Salpeterabsatz im fernen Europa zurück, mußten viele Arbeiter wieder auf die Haciendas zurückkehren und dort für einen Hungerlohn weiterarbeiten. Die Schwerstarbeit in der trockensten Wüste der Welt, tagsüber unter der sengenden Sonne und nachts bei schneidender Kälte, wurde um ein Mehrfaches besser bezahlt als in der Landwirtschaft. Der durchschnittliche Tageslohn eines Salpeterarbeiters lag bei 6,13 Pesos, wenn er 300 Tage im Jahr arbeitete, brachte er 1838 Pesos zusammen, umgerechnet gerade einmal 82 Pfund Sterling.

Chilenische Salpeteraristokratie

Damit kam eine Familie der chilenischen Salpeterdynastie allerdings keine zwei Tage aus. Um es ihren Unternehmerkollegen aus England oder Deutschland gleichzutun, zogen viele der neuen Reichen dorthin, wo sie nach ihrer europaorientieren Auffassung standesgemäß leben konnten, nämlich nach Paris oder London. Auf 20000 Pfund werden die jährlichen Ausgaben einer einzelnen Familie geschätzt, allein im Jahr 1913 verpraßte die chilenische Salpeteraristokratie eine Million Pfund in den europäischen Metropolen. Der Grundstoff für Düngemittel und Sprengstoff warf in dieser Zeit ungeheure Profite ab. Der Große Norden Chiles, das sind die Provinzen Atacama und Tarapacá, war wirtschaftlicher und auch kultureller Mittelpunkt des Landes. Hier wurde das große Geld gemacht, nicht in Santiago oder auf den riesigen Haciendas im Süden. Den wohltemperierten Küstenort Iquique wählten die meisten britischen, chilenischen und später auch die deutschen Werksbesitzer zum Domizil. Sie lebten in ebenso großzügigen wie luftigen Palästen, die mit italienischem Marmor und kalifornischem Teakholz ausgestattet waren, gingen abends ins Theater, in dem sogar Caruso auftrat, oder tafelten im luxuriös ausgestatteten Spanischen Club.
Der Gegensatz zwischen der reichen Unternehmerkaste und den Lohnarbeitern konnte kaum eklatanter sein, und durch die enge Nachbarschaft in den Salpeterwerken war er für alle sicht- und spürbar. Um die Jahrhundertwende entstanden trotz massiver Attacken der Arbeitgeber erste größere Gewerkschaften in der Salpeterindustrie, die bessere Bezahlung und menschlichere Arbeitsbedingungen forderten. 1912 entstand in Iquique die Sozialistische Arbeiterpartei, die bereits 1920 der Dritten Internationale beitrat und aus der die mächtigste und größte kommunistische Partei in Lateinamerika hervorgehen sollte. Die Streiks häuften sich zu Beginn dieses Jahrhunderts. Der Staat konnte zwar in einigen Fällen vermittelnd eingreifen, meistens schlug er sich jedoch auf die Seite der Unternehmer. Soldaten wurden als Streikbrecher eingesetzt, Armee oder Polizei griffen in 40 Prozent aller Streiks ein. Dabei kam es immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen.
Der grausamste Militäreinsatz fand 1907 statt, als ein friedlich verlaufender Massenstreik in der nordchilenischen Hafenstadt blutig niedergeschlagen wurde. Es war kein gutes Jahr für die Salpeterindustrie. Die Ausfuhren gingen zurück. Die Konsequenz waren Massenentlassungen und Lohnkürzungen. In der Provinz Tarapacá traten daraufhin Salpeter-, Hafen und Transportarbeiter in den Ausstand, bald wurden alle oficinas der Region bestreikt. In Scharen zogen die Arbeiter, größtenteils mit der ganzen Familie, in die 40.000 Einwohner zählende Provinzhauptstadt. Ihre Forderungen erscheinen nach heutigem Verständnis recht gemäßigt: Lohnerhöhung oder Anpassung der Einkommen an das englische Pfund, Einlösung der fichas im Wert von 1:1 gegen Pesos, Kontrolle und Aufhebung des Monopols der firmeneigenen pulperías, Entschädigung bei fristloser Entlassung und Unfallschutzmaßnahmen. 10-15.000 Salitreros überschwemmten die Hafenstadt Iquique, in der sich die Gewinner des Salpeterbooms ihrem luxuriösen Leben hingaben. Mit ihren täglichen Demonstrationen legten sie den Verkehr und den Handel lahm, doch die überwiegend britischen Unternehmensleitungen waren zu keinerlei Zugeständnissen bereit. Auf ihr Drängen verhängte die Regierung drei Tage vor Weihnachten 1907 den Ausnahmezustand. Der Militärkommandant ließ die Schule Santa María, die den Streikenden als Unterkunft diente, noch am selben Tag umstellen. Als sie sich weigerten, das Gebäude zu verlassen, eröffnete er das Feuer auf die unbewaffnete Menge. Mindestens 500 Menschen, nach anderen Schätzungen mehrere Tausend, fanden bei dem Massaker den Tod.
Der Aspekt der kämpferischen Sozialbewegung liegt den Betreibern der Gedenkstätte Chacabuco besonders am Herzen. Doch damit steht das Goethe-Institut ziemlich alleine da. Sieben Jahre nach dem Ende der Pinochet-Diktatur rührt kaum jemand an den dunkelsten Kapiteln der jüngeren chilenischen Vergangenheit. Michael de la Fontaine hat seine Werbung für das Projekt der Stimmung angepaßt. “Ich verkaufe in den letzten drei Jahren auch unter den höchsten Autoritäten Chacabuco als Beispiel der jüngsten Industriegeschichte,” gibt er unumwunden zu. “Für mich steht aber fest, daß ein solches schillerndes historisches Denkmal in mehreren Funktionen zum Leben erweckt werden muß: Als Kultur- und Industriedenkmal, als soziale Gedenkstätte und nicht zuletzt als touristisches Zentrum. Darüber kann, salopp gesagt, das empfindlichste Kapitel der jüngeren chilenischen Vergangenheit mitverkauft werden.”

Halbherzige deutsche Beteiligung

Auf Widerstand stieß das Chacabuco-Projekt nicht nur in Chile. Auch von deutscher Seite gab es mehr Behinderungen als Unterstützung. Zwar betont Michael de la Fontaine die Rolle der deutschen Botschaft als Wortführerin in Sachen Restaurierung und verweist darauf, daß mit Restaurierungsgeldern im Umfang von 200.000 DM aus dem Kulturfonds des Auswärtigen Amts ein beachtlicher Batzen Geld in die chilenische Wüste gesetzt wird. Dabei verschweigt er allerdings die Schwiergkeiten, die es mit der diplomatischen Vertretung in Santiago gab. Das Engagement für das Chacabuco-Projekt war bestenfalls gering. Botschafter Werner Reichenbaum konterkariert geradezu die hinter dem Chacabuco-Projekt stehende Idee. In seinem Grußwort zu Beginn des eigens dazu vom Goethe-Institut herausgegebenen Buches “Chacabuco – Stimmen in der Wüste” hebt er die Bedeutung des Ortes als Industriedenkmal hervor, von dem Gefangenenlager spricht er mit keinem Wort. Offenbar fühlt sich die deutsche Diplomatie in Santiago immer noch einer unheilvollen Tradition verbunden. Im Unterschied zu anderen europäischen Botschaften vermied die deutsche immer kritische Töne gegenüber den uniformierten Machthabern um General Pinochet.
Die Parallelen der Vergangenheitsbewältigung drängen sich an Hand des Chacabuco-Projekts auf. Mehr als fünfzig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus in Deutschland steht eine ernsthafte Aufarbeitung der jüngeren Geschichte immer noch aus. In Chile hat keine Abrechnung mit dem Militärregime stattgefunden, jeder noch so zaghafte Versuch wird durch lautes Säbelrasseln der nie entmachteten Armee im Keim erstickt. Und die Bevölkerung will endlich ihre neue Freiheit genießen können, kollektiver Gedächtnisschwund macht sich breit. “Ein großer Teil der Gesellschaft will nur eins: vergessen!”, meint denn auch Projektinitiator Dieter Strauß. “Die Vergangenheit will nicht vergehen. Weder in Chile noch in Deutschland! Und schon gar nicht die Frage, wie wir mit der Vergangenheit umgehen sollen.”
In dieser Frage eine Hilfestellung zu geben und die Vergangenheit wach zu halten, dazu ist die Gedenkstätte Chacabuco wie geschaffen. Mahnend erhebt sich der dunkelbraune Schornstein in den strahlend blauen, wolkenlosen Himmel. Überdimensionalen Skeletten gleich ragen die Werkshallen und Wohnhäuser in die staubtrockene Luft. Seit kurzem beginnt sich dieses Fossil der Industrialisierung wieder mit Leben zu füllen. In einmaliger Lage, vor dem Panorama der schneebedeckten Andenkordillere, entsteht eine außergewöhnliche touristische Attraktion. In- und ausländische Besuchergruppen, Schulklassen und Einzelreisende sind hier zu einem kurzen Abstecher von der Panamericana eingeladen, um sich für einige Stunden in vergangene Zeiten versetzen lassen. Derzeit fehlt es allerdings noch an der notwendigsten touristischen Infrastruktur. Solange es keine Restaurants und Übernachtungsmöglichkeiten gibt, ist das ehrgeizige Projekt insgesamt gefährdet. Michael de la Fontaine vom Goethe-Institut bringt es auf den Punkt: “Wir können uns erst aus Chacabuco zurückziehen, wenn es ein McDonalds gibt!”

Menschenrechte ja – aber nicht für Schwule

Laercio, 22, und Mariquinhos, 30, wohnten in Rios armseliger Nordzone in einem simplen Häuschen, waren beliebt und gal­ten als hilfsbereit, fröhlich. In einer Novembernacht werden sie von einem der berüchtigten “Kom­mandos zur Jagd auf Gays” überwältigt – fünf Kapuzenmän­ner stoßen die beiden bis zur na­hen Bahnlinie, dann krachen Pi­stolenschüsse. Anwohner finden Laercio und Mariquinhos in ih­rem Blut, stellen erschüttert Ker­zen auf.
Luiz Mott erläutert: “In Bra­silien sind mindestens vierzehn Todesschwadronen hinter Ho­mosexuellen her. Seit 1980 wur­den über 1300 Schwule ermor­det, 1996 waren es bisher 85, aber unsere Statistik ist sehr un­vollständig.” Das stimmt, denn von den Serienmorden der letz­ten Wochen in Rio wußte Mott zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Hinzu kommt, daß Angehörige wegen der bestehenden Vorur­teile gegen die Schwulen oftmals die Natur des Verbrechens ver­schweigen.
Universitätsprofessor Mott, 50 Jahre alt, Präsident der Grupo Gay do Bahia (GGB) und Se­kretär für Menschenrechte der Bra­silianischen Vereinigung für Gays, Lesben und Transvestiten (ABGLT), lehrt in der nordost­brasilianischen Küstenmetropole Sal­vador da Bahia – auch dort werden Schwule diskriminiert, ver­folgt und ermordet. Mott spricht von “Opfern des Ma­chismus”, die Täter gingen ge­wöhnlich straffrei aus. So seien bei über vierzig Prozent der Schwulenmorde die Täter er­mittelt worden, nur zehn Prozent kamen jedoch letztlich vor Ge­richt und wurden dann fast im­mer freigesprochen.

Archiv über Homosexualität

Ein schönes Kolonialhaus in Salvador da Bahia beherbergt im ersten Stock den kleinen Sitz der Grupo Gay do Brasil mit dem immerhin größten lateinameri­kanischen Archiv über Homose­xualität. Die GGB ist die älteste und aktivste Homosexuellenver­einigung in Lateinamerika. Nach dem Klingeln schaut der Leiter zunächst prüfend auf den Besu­cher und wirft danach den Schlüssel hinunter. Oben kann man sich eine Ausstellung über homosexuelle Männer und Frauen ansehen, von Platon, Leonardo da Vinci, Shakespeare, Cleopatra und James Dean bis hin zu der berühmten Sängerin der Musica Popular Brasileiro, Maria Bethânia. Man wird höf­lich zu den zwei wöchentlichen Versammlungen eingeladen, an denen auch Bi- und Heterosexu­elle teilnehmen. Vor dem Ab­stieg über die steile Holztreppe teilt der GGB-Leiter Präserva­tive, “Camisinhas”, aus – schließlich ist die Gruppe beson­ders aktives Mitglied in der vom Gesundheitsministerium geführ­ten Nationalen Kommission zur AIDS-Bekämpfung.
In der Stadt selbst machen die Homosexuellen drastisch auf sich, ihre Freuden und Probleme aufmerksam. “Liebe mit Vor­sicht – suche Deine amantes bes­ser aus”, steht groß auf Schauta­feln, und “Laß Dich nicht von AIDS ins Jenseits befördern, aber laß Dich auch nicht ermor­den!” Die Warnung ist nicht un­begründet, druckte doch gar eine große lokale Zeitung regelmäßig folgende Anzeige: “Halte Salva­dor sauber – töte jeden Tag einen Homo!”

Erscheinungsebene – Wirklichkeit

Brasiliens Schwulenszene prä­sentiert sich anders als zum Beispiel jene in San Francisco oder gar in Deutschland. Gays fallen viel mehr auf, haben ihre Kneipen, Discos, Strände, Zeit­schriften. Der Terror gegen Schwule existiert indessen wei­ter, scheint sogar stark zuzuneh­men. Motts Grupo Gay do Bahia hat deshalb ein “Über­le­benshandbuch” publi­ziert, das zahl­reiche praktische Tips zur Selbstverteidigung gibt. Mott hat das Handbuch in Brasi­lia, Belo Horizonte, Curitiba und Recife vorgestellt. In jeder Stadt gab er die Namen der dort in den letzten Jahren ermordeten Schwulen be­kannt. Die meisten Verbrechen ereigneten sich aber in Rio de Janeiro, Sâo Paulo und Salvador da Bahia.

Umfragen und Machismus

Daß Schwule diskriminiert werden, zeigen neue repräsenta­tive Umfragen: So würden 36 Pro­zent der BrasilianerInnen ei­nem Homosexuellen selbst dann nicht eine Arbeit geben, wenn er der bestqualifizierte Bewerber wäre. JedeR Fünfte würde sich von einem homosexuellen Kol­legen bewußt fernhalten, 56 Pro­zent würden zumindest ihr Ver­halten ändern. 79 Prozent, im Nordosten sogar 87 Prozent, ak­zeptierten auf gar keinen Fall, daß ihr Sohn mit einem Ho­mosexuellen ausginge. Und 62 Prozent meinen, daß Eltern die Änderung der homosexuellen Orientierung ihrer Söhne er­zwingen müßten.

Politisches Asyl für Schwule

Gay-Menschenrechtsgruppen in San Francisco prangern seit Jahren die Zustände in Brasilen an. 1993 gewährten die USA erstmals einem brasilianischen Schwulen politisches Asyl. Der Begünstigte heißt Marcelo Teno­rio, Luiz Mott trat in dem Asyl­verfahren als Zeuge auf und wurde dafür zuhause in den Me­dien niedergemacht. Das Asyl, hieß es, basiere auf einer Lüge über Brasilien; Schwule würden nicht systematisch getötet. In den letzten Wochen erhielten zwei weitere Homosexuelle Asylsta­tus, wollen aber anonym blei­ben, aus Angst, daß Familienan­ge­hö­ri­ge in Brasilien Repressa­lien er­lei­den könnten. Eine un­bekannte Zahl brasilianischer Homo­sexu­el­ler lebt illegal in den USA. Mög­licherweise werden jetzt wei­tere einen Asylantrag stellen.

KASTEN

Staatstrauer für Ex-Diktator

Nach dem Tod des Ex-Generalpräsidenten Ernesto Geisel im Sep­tember 1996 ordnete Fernando Henrique Cardoso per Dekret acht Tage Staatstrauer an. Geisel war von 1974 bis 1979 der dritte Generalpräsident der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985). Geisel war bereits zur Amtseinführung von Cardoso gela­den worden. 1995 traf sich der Präsident mit dem EX-Diktator und wollte dies ausdrücklich als “Würdigung” verstanden wissen.
Die Homenagem weckte in der Tat Aufmerksamkeit. Denn bei Gei­sel und seinem ebenfalls im Regimeapparat dienenden Bruder Or­lando handelte es sich um Vertreter der “harten Linie”, die kei­nes­wegs nur militante Diktaturgegner rücksichtslos verfolgen, fol­tern und ermorden ließen. Dies hat gerade ein wichtiger Zeit­zeuge bestätigt: Reserveoberst Jarbas Passarinho, Mitautor der berüchtigten Ausnahmegesetze von 1968 und Minister unter drei Dik­taturgenerälen, sagte im brasilianischen Fersehen, daß ein Groß­teil der Greueltaten an Linken in Geisels Regierungszeit be­gangen worden seien. Die Medien pflegten dagegen stets dessen Amts­vorgänger Emilio Garrastazzu Medici die Verantwortung für die größten Schlechtigkeiten des Militärregimes aufzubürden.

Deutsches Exil in Lateinamerika

Lateinamerika stand bei der Aufnahme von Flüchtlin­gen aus Deutschland an führender Stelle. Etwa 20 Prozent aller Emi­grantInnen fanden dort zumin­dest für eine gewisse Zeit Zu­flucht vor der Verfolgung durch das NS-Regime. Für viele war Latein­amerika anfangs jedoch nur ein Exil zweiter Wahl, was sich deutlich an der Chrono­logie der Emigration in die mittel- und südamerikani­schen Staaten zeigt. In den Jahren 1933-1937 sind wohl höchstens ein Viertel aller Lateinamerika-Flüchtlinge aus Deutsch­land eingewandert. Vor al-lem die auch früher als Ein­wan­derungsländer bevorzugten Staa­ten des “Süd­gürtels”, also Argen­tinien, Chile, Uruguay und das südliche Bra­silien, waren bis etwa 1937 eine Art Ge­heimtip für Emi­grantInnen, während in die übri­gen Län­der nur verein­zelte Personen­kreise sickerten. Auch die meisten in diesem Zeit­raum von einigen Staaten unter­nommenen Aktionen zur Auf­nahme von EmigrantInnengrup­pen betrafen in der Regel nur kleine Zahlen, die nur in Einzel­fällen die 100 überschrit­ten, – so die An­siedlung saarländi­scher Emi­grantInnen in Para­guay.
Die Erklärung für dieses Phä­nomen liegt darin, daß Latein­amerika kaum im Motivations­spek­trum von Hitler-Flücht­lin­gen angesiedelt werden konn­te. Wer nach dem erhofften Sturz der NS-Herr­schaft nach Deutsch­land zurückkehren woll­te, blieb nach Möglichkeit in einem Nach­barland, jedenfalls in Eu­ro­pa. Wer als Jude Deutsch­land den Rücken kehrte und end­gültig mit der angestammten Heimat brach, bemühte sich um die Aus­reise nach Palästina. Auch Emi­grationsbewegungen in die USA oder UdSSR waren in jener Zeit spärlich. Wer vor 1939 nach La­teinamerika emigrierte, war trotz des poli­tischen Hinter­grundes seiner Motive meistens auch eine Art Auswanderer, der sich in der Ferne eine von Be­drohungen und Repressalien freie Existenz auf­bauen wollte. Die bevorzugte Wahl der typi­schen Einwande­rungsländer des Süd­gürtels be­stätigt diese Beob­ach­tung.
Mit der weiteren Expansion des Dritten Reiches im Jahre 1938 und mit Restrik­tionen der europäischen Asylländer, welche die Flüchtlingsströme nicht mehr auf­nehmen konnten oder woll­ten, begann die Massen­emigra­tion in überseeische Länder, vor­zugsweise nach Lateinamerika. Sie hielt mit kriegs­bedingten Un­terbrechungen bis etwa 1942 an. Da die meisten lateinamerikani­schen Staaten daraufhin die Ein­wanderung bremsten und zeit­wei­lig die Grenzen völlig sperr­ten oder nur unter besonderen Be­dingungen öffneten, richtete sich der Flüchtlings­strom auch in “we­niger at­traktive” Länder. Wer unter größter Gefahr sein Leben retten wollte, ging auch nach Hon­duras oder Bolivien, ob­wohl er eigentlich nach Palä­stina oder Nordamerika emigrieren wol­lte. Man­che Länder nahmen den Cha­rakter von Wartesälen an, in de­nen Flüchtlinge bis zu ihrer mög­lichen Weiterreise vor­über­ge­hend Zuflucht nahmen. Wer in Ku­ba oder in der Domini­kanischen Republik Asyl ge­funden hatte, wartete meist auf die Weiterreise in die USA, wer nach Para­guay oder Bolivien ver­schla­gen worden war, zog oft nach Argentinien, Chile oder Uru­guay.
Fluchtwege und Fluchthelfer
Die Wege, auf denen deut­sche Flüchtlinge nach Lateinamerika ge­langten, wurden im wesentli­chen vom Zeitpunkt der Emigra­tion und von den Emigrations­motiven bestimmt. Es gab vom Feb­ruar 1933 bis zum Oktober 1941 eine vom NS-Regime ge­dul­dete legale Auswanderung aus Deutschland. Ihr Zahlenver­hält­nis zur fluchtartigen Emi­gration schwankte erheblich und stand 1939 zu dieser im Verhält­nis von 7:1. Von den rund 78.000 jüdischen Emi­grantInnen dieses Jahres gin­gen etwa 13.000 nach Latein­amerika, in der Regel von Hamburg aus. EmigrantIn­nen, die von einem europäischen Exil-Land aus weiterfuhren, schifften sich gewöhnlich in den Niederlanden, in den französi­schen Atlantik-Häfen und in Marseille oder aber in Genua ein. Nach Ausbruch des Krieges än­derten sich die Routen, zumal Belgien, die Niederlande und die französi­sche Atlantik-Küste be­setzt wurden. Marseille wurde zeitweilig der wichtigste Aus­reisehafen, gefolgt von Lissa­bon, das aber nur über Spa­nien er­reicht werden konnte. 1940-42 waren Spanien und Portugal wichtige Transitländer. In der Zeit vom Herbst 1939 bis Juni 1941 emigrierten zahlreiche Flüchtlinge über Sibirien nach Wladiwostok und von dort wei­ter nach Shanghai in die USA und nach Lateiname­rika. Ab No­vem­ber 1941 durften Juden aus dem deutschen Macht­bereich nicht mehr ausreisen – die Ent­scheidung über die so­genannte “End­lösung” war ge­fallen. Mit der Besetzung Süd­frankreichs durch deutsche Trup­pen im No­vem­ber 1942 wurden die letzten Aus­reisemöglich­kei­ten blockiert. Die Emigra­tions­be­wegung kam fast voll­ständig zum Stillstand.
Besonderes Interesse ver­dienen in diesem Zusammen­hang die Organisatio­nen, durch deren Aktivitäten die in der Re­gel mittellosen Flüchtlinge über­haupt nach Lateinamerika gelan­gen konnten. Der Erwerb von Visa und anderen Doku­menten, die Bezahlung der Schiffspassa­gen und sonstigen Reiseko­sten, Quartiere und Klei­dung, Kurse zur beruflichen Um­schulung so­wie die Ausrü­stung mit Werk­zeug – alles dies waren Pro­ble­me, die die EmigrantInnen ge­wöhn­lich aus eigener Kraft nicht be­wältigen konnten. Eine Reihe von Vereinigungen hat hier be­trächtliche Summen auf­gebracht, die selbst wiederum größtenteils aus Spenden stamm­ten. Zu nen­nen sind vor allem die jüdische Hilfs­organisation HICEM, die selbst wiederum ein Dachver­band an­derer Verbände war, und das “American Jewish Joint Distri­bution Commit­tee”. Diese beiden Organisa­tionen hat­ten für die Flucht­hilfe und für die Start­hilfe in den Exilländern eine große Bedeutung. Da­gegen rich­te­ten sich die Unter­stüt­zungen an­derer Hilfsorga­ni­sa­tio­nen nur auf einen kleinen und spe­ziel­len Teil der Emi­gra­tion. An­dere wich­tige Ver­ei­ni­gun­gen wa­ren die so­zial­de­mo­kra­tische Flücht­lingshilfe, so­wie die von der Liga für Men­schen­rech­te ge­tra­ge­ne Demo­kra­ti­sche Flücht­lings­fürsorge (beide wa­ren bis 1938 in Prag, da­nach in Lon­don).
Unter den Umständen der NS-Diktatur nahmen gele­gentlich auch solche Organi­sationen den Charakter von Fluchthelfern an, deren ei­gentliche Zielsetzung nichts oder wenig mit Emigra­tion zu tun gehabt hatte. Die JCA (Jewish Colonisation Associ­ation) verfolgte ursprünglich den Ge­danken jüdischer landwirt­schaftlicher Siedlungen in Ar­gentinien und Brasi­lien, ver­mittelte aber – teil­weise im Rah­men der HICEM – zahlreichen be­drohten Juden eine Zuflucht in Lateiname­rika. Der St. Rapha­elsverein unterstützte seit den 1890er Jahren katholische Aus­wanderInnen durch soziale und seel­sorgerische Betreuung, kon­zentrierte sich aber in den 1930er Jahren immer mehr auf bedrohte Personen aus Deutsch­land, ins­besondere auf die soge­nannten “ge­tauften Nicht-Arier”. Auch die ihm nahestehende “Gesell­schaft für Siedlung im Ausland” er­möglichte vielen katholischen Hitler-GegnernIn­nen eine Aus­wanderung und Ansiedlung in Brasilien, wobei hier die Gren­zen zwischen Emigration und Auswanderung verschwimmen. Die Zahl der ge­nannten Orga­nisationen muß noch ergänzt werden um weitere jüdische, christliche, politische und huma­nitäre Vereinigungen, die inner­halb und außerhalb Deutschlands Fluchthilfe leiste­ten; der Hilfs­verein der Juden in Deutschland, die Quäker und an­dere. Dagegen war die Hilfstä­tigkeit ein­zelner Staaten, zwischen­staatlichen und in­ternationalen Ein­rich­tungen wie dem Völker­bund erbärmlich ge­ring. Emi­gran­tInnen, die sich nach Über­see retten konnten, ver­dankten dies fast ausschließ­lich pri­vater Initiative.
Die Anzahl der deutschen be­ziehungsweise deutsch­sprachi­ge Emigrant­Innen in Lateiname­rika schwankt zwischen 90.000 und 120.000; man darf also von einer Grob­schätzung von rund 100.000 aus­gehen. Es besteht allenfalls weit­gehend Klarheit in der quan­titativen Reihenfolge der Auf­nahmeländer:

Argentinien 45.000
Brasilien 25.000
Chile 2.000
Uruguay 7.000
Bolivien 6.000
Kuba 5.000
Kolumbien 2.700
Ecuador 2.500
Dom. Rep. 2.000
Mexiko 1.200

Die übrigen Länder, ange­führt von Paraguay nahmen Emigran­tInnen nur in drei­stelliger, einige karibische und mittelamerikani­sche Staaten nur in zweistelliger Höhe auf. Über 90 Prozent aller Flüchtlinge fanden Zu­flucht in jenem Südgürtel, der sich von Rio de Janeiro über Montevideo und Buenos Aires bis nach San­tiago de Chile er­streckt. Dort la­gen daher auch die wichtigen Emi­grantInnenzentren. Einen Son­derfall bil­dete Mexiko, das zwar hin­sichtlich der Auf­nah­mezahl eines der Schluß­lichter bil­dete, aber wegen der hoch­karätigen politischen und lite­rarischen EmigrantInnen so­wie wegen der von ihnen ge­tragenen Ver­lage, Zeitschrif­ten und Ver­einigungen ein Exil­zentrum von be­sonderer Bedeu­tung war.
Soziale und kulturelle Integration
Die berufliche Qualifika­tion der EmigrantInnen in Lateiname­rika war nicht auf die Gesell­schaften der Asyl­länder zuge­schnitten, so daß die berufliche Eingliederung meistens große Pro­bleme ver­ursachte. Exakte Zah­len lie­gen nur für einzelne Länder und Städte vor, aber sämtliche Indizien verweisen da­rauf, daß kaufmännische und an­dere mittelständische Berufe, Selbständige und Angestellte, sehr stark vertreten, Hand­wer­ker­Innen, ArbeiterInnen und Land­wirte unterrepräsen­tiert wa­ren. Aber gerade sie, insbeson­dere die Landwirte, waren be­son­ders gefragt. Viele Exilländer hatten die Einreiseerlaubnis nur mit der Verpflichtung zu land­wirt­schaftlicher Siedlung er­teilt, worauf aber die wenig­sten vor­be­reitet waren. Von den etwa 1.000 Emigranten, die in Ar­gen­ti­nien, Brasilien, Paraguay, Bo­li­vien, Ecuador und Santo Do­min­go kleine Bauernhöfe grün­de­ten, sind die meisten gescheitert.
Die mittelständischen Be­rufe stießen deswegen auf be­sondere Schwierigkeiten, weil für sie zunächst kein Bedarf bestand. Wegen der für lateinameri­ka­ni­sche Gesellschaften seit lan­gem no­torischen Unterbeschäf­tigung in Handel und Dienst­leistung bil­de­ten die Emi­grant­Innen eher ei­nen Störfaktor und stießen oft auf Konkurrenz­neid und Frem­den­feindlichkeit, nicht selten mit an­tisemitischem Ak­zent. Einige Län­der verboten oder behin­der­ten die Ausübung be­stimmter Be­ru­fe. Leichter hat­ten es Fach­ar­beiterInnen und Hand­werker­In­nen, die wegen ih­rer im all­ge­mei­nen beträchtli­chen Überle­gen­heit an Berufs- und Allge­mein­bil­dung gefragt waren. Da­ge­gen standen Vertre­terInnen künst­lerischer und geisteswis­sen­schaftlicher Berufe vor be­son­deren Schwierigkeiten, weil ih­re Tätigkeiten nicht ge­fragt und teilweise engstens auf die deut­sche Sprache fi­xiert wa­ren.
Die soziale Integration aus ei­nem Abstand von 50 Jahren be­trachtet zeigt, daß nach ei­ner mehrjährigen Durststrecke die meisten EmigrantInnen und ihre Nachfahren wirt­schaftlich heute nicht schlecht gestellt und in der Regel in relativ wohlhabende Mittel- und Oberschichten auf­gerückt sind.
Die Gründe für diese über­wiegend gelungene so­ziale Inte­gration liegen in dem beruflichen und allgemeinen Bildungsvor­sprung der meisten EmigrantIn­nen vor ein­heimischen Arbeits­kräften. Aber wesentlich war wohl der Zusammenhalt der Emi­gran­tInnen über gemeinsame Zeit­schriften, Clubs, Vereinigun­gen und Einrichtungen, der trotz ideologischer, politischer und anderer Differenzen zumindest in den Zentren des Exils eine wechselseitige Kommunikation er­mög­lichte. Vor allem müssen hier die deutsch-jüdischen Ge­meinden, Verbände und Ins­ti­tu­tio­nen erwähnt werden, die – so­weit Informationen vorlie­gen – oft einen hohen Organi­sa­tions­grad hatten. Ihre Arbeit dürf­te in hohem Maße soziale Not­fäl­le aufgefan­gen und eine Mar­gi­na­lisierung und Verelen­dung von EmigrantInnen verhin­dert haben.
Politische Organisationen im Exil
Die politischen Organisa­tio­nen deutscher EmigrantInnen wa­ren, gemessen an der Zahl ih­rer aktiven Mit­glieder, recht klein. Aber sie standen stärker im öffentli­chen Rampen­licht und bean­spruchten einen höheren Re­präsentationsgrad als etwa deutsch-jüdische Sportver­eine. Aus der Perspektive der deut­schen Geschichte sind sie frei­lich interessanter, weil sie gewis­ser­ma­ßen “mit dem Blick nach Deutsch­land” ar­beiteten, wäh­rend ein großer Teil der jüdi­schen Emigran­tInnen mit ihrer al­ten Heimat innerlich gebrochen hatte und vielfach kein Interesse mehr an Deutschland zeigte. An­de­rerseits wurden rund 50 von den Organisationen herausge­ge­be­nen Blätter und Zeit­schriften, von denen aller­dings einige nur ein­mal oder nur sehr selten er­schienen oder aber über das For­mat hektographierter Rund­brie­fe nie hinausgelangten, doch auch von einem breiteren Spek­trum innerhalb der Emi­gration gele­sen; sie bezogen so­mit auch po­litisch weniger enga­gierte Per­sonen in die Diskussio­nen und Kontrover­sen ein. Wie in der ge­samten Exilszenerie wa­ren die Emi­grantInnen in Latein­amerika untereinander heillos zerstrit­ten und befehdeten sich aufs heftig­ste. Die Bedingungen für politi­sche Aktivitäten va­riierten von Land zu Land und waren stark von den inneren Verhält­nissen ab­hängig. So wa­ren ir­gend­welche Aktivi­täten un­ter der blut­rünstigen Herr­schaft des do­mi­nikani­schen Diktators Rafael Tru­jillo über­haupt nicht und in dem von Ge­tulio Vargas auto­ri­tär regierten Brasilien nur ein­ge­schränkt möglich. Dage­gen bo­ten demo­kratische Länder wie Chi­le und Uru­guay, das ge­mä­ßigt autoritäre Argentinien so­wie das nachrevolutionäre Mexi­ko gün­stige Voraussetzungen. Wäh­rend aber in Chile auf amtli­chen Druck die politischen Emigran­tIn­nenverei­nigungen fu­sionieren muß­ten, blühte in Bo­livien ein Chaos der Ver­bände, Clubs und Organisa­tionen.
Das politische Spektrum der EmigrantInnenorganisationen läßt sich grob in drei Richtungen ein­teilen. Die älte­ste von ih­nen war auch zugleich die kleinste, die aber zeitweilig lautstark auf­trat: die Stras­ser-Bewegung. Be­reits 1934 war ein Netz von Or­ganisationen in fast allen latein­amerikani­schen Staaten nach­weisbar, geführt von einem “Kampfleiter” mit Sitz in Pa­raguay. In Buenos Aires er­schien ab 1935 das Zentralorgan der Be­wegung “Die Schwarze Front”. Leser des Blattes und Mit­glieder der gleichnamigen Or­ganisation waren größtenteils dis­sidente Nazis sowie antinazi­stische, aber gleichwohl rechts­extreme Kreise – Auslandsdeut­sche wie auch EmigrantIn­nen.
Zu den bedeutenden politi­schen Stimmen des deutschen Exils in Lateinamerika ge­hörten Zeitschrift und Bewe­gung “Das An­dere Deutsch­land”. 1938 aus ei­nem gleich­namigen Hilfsko­mi­tee in Bu­enos Aires hervorge­gan­gen, wurde die Zeitung bald das führende Organ einer zu­nächst breiten linken und de­mokratischen Leserschaft. Erst infolge der Kontroversen um den Hitler-Stalin-Pakt schieden die KPD-Anhänger aus und gründe­ten ihre eigene Zeitschrift “Das Volksblatt”. Unter der Schrift­leitung des Gründers und Her­ausgebers August Siemsen ver­einigten sich im “Anderen Deutsch­land” in immer stärke­rem Maße SozialdemokratInnen und VertreterInnen anderer nicht-kommunistischer linker Grup­pen. Aus Lesezirkeln ent­stan­den in mehreren Län­dern La­tein­amerikas kleinere Grup­pie­rungen und Vereini­gungen, die in loser organi­satorischer Ver­bin­dung zur Zentrale in Bue­nos Ai­res standen und im we­sent­lichen nur durch die Zeit­schrift zu­sammengehalten wur­den. Die­se lockere Orga­nisations­form hat­te den Nachteil, daß die Be­we­gung “Das Andere Deutsch­land” in nur einge­schränktem Maße eine regel­mäßige Ver­bands­arbeit lei­sten konnte; sie hat­te den Vor­teil, daß sie nicht von politisch dissi­denten Emi­gran­tInnengrup­pen un­ter­wandert und um­funktioniert werden konn­te. Ihre Schwer­punkte hatte die Bewegung im südlichen La­tein­amerika, also in Argenti­nien, Uru­guay, Chile, Brasi­lien, Para­guay und Boli­vien. Doch gelang dem “Anderen Deutschland” nicht, über einen längeren Zeit­raum eine Mehrheit der politisch den­kenden deut­schen Emigran­tIn­nen zu verei­nen.

Der große Konkurrent der Bewegung “Das Andere Deutschland” war die Bewe­gung “Freies Deutschland”, die mit Blick auf die Namensähnlichkeit nicht mit Stras­sers “Frei-Deutschland-Be­wegung” ver­wech­selt werden darf. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt hatten sich in mehreren lateinamerikanischen Staaten die politischen Emi­grantInnengruppen gespalten, wo­bei die der KPD angehö­renden oder nahestehenden Mit­glieder in der Regel eigene Gruppierun­gen bildeten. Diese Spaltun­gen blieben, auch als mit dem Überfall auf die So­wjetunion ihr äußerer Grund ent­fallen war. Die Gruppierungen wa­ren auf die Sammlung eines möglichst breiten politischen Spektrums angelegt und ver­einigten in sich auch bürgerli­che, christliche, konservative, ja so­gar monarchistische EmigrantIn­nen. Ihre Pro­grammatik und Phraseologie war verschwom­men antifa­schistisch und ließ zahllose Interpretationen zu, je­doch blieben die Schlüssel­positio­nen fest in den Händen von KPD-FunktionärIn­nen. In Mexiko, wo sich 1941/42 eine meist aus dem besetzten Frank­reich geflüchtete relativ starke Gruppe kommunistischer Schrift­stellerInnen und Funktio­närInnen niedergelas­sen hatte und wo sich mit ei­ner kleinen Ausnahme keine anderen deut­schen Exil-Orga­nisationen bil­deten, wurde im November 1941 die Zeit­schrift “Freies Deutsch­land” gegründet. Um dieses poli­tisch-literarische Blatt scharte sich bald eine gleichna­mige Ver­einigung mit Ablegern in ande­ren Ländern. Im Mai 1943, vier Monate nach dem Kongreß des “Anderen Deutschland” in Mon­tevideo, wurde unter Führ­ung der mexikanischen Emi­grant­Innen­organisation das KPD-ge­lenkte “Latein­ameri­ka­ni­sche Komitee Freies Deutsch­land” gegründet, dem in der Folge­zeit kleinere Organisatio­nen beitra­ten. Man hatte Hein­rich Mann für das Amt des Ehren­präsidenten und für den Vor­stand Hubertus Prinzen zu Löwenstein und den konser­vativen böh­misch-österreichi­schen Schrift­steller Karl v. Lu­stig-Prean ge­wonnen, aber die tatsächliche Leitung hatte Lud­wig Renn als amtie­render Präsi­dent, Anna Seg­hers sowie der KPD-Funktio­när Paul Mer­ker als General­sekretär. Der Name des Ko­mitees und andere Indizien ver­weisen auf die Be­wegung “Freies Deutschland” in euro­päischen Exil­ländern sowie auf das gleich­na­mige Natio­nalkomitee in Mos­kau und lassen es als In­strument der damaligen sowjeti­schen Deutsch­land-Poli­tik erschei­nen.

In Kuba, Ecuador und den kleineren mittelamerikani­schen und karibischen Repu­bliken nahm die Bewegung “Freies Deutschland” bald eine dominie­rende Stellung ein, in Brasilien, Argentinien, Bolivien, Uruguay und Chile machte sie dem “Anderen Deutschland” Konkur­renz. In Uruguay und Chile fusionier­ten die beiden Bewe­gungen, in Chile aufgrund staat­lichen Drucks, in Uruguay auf frei­williger Basis. Insgesamt wa­ren die “Freien Deutschen” er­folgreicher in der Ausdehnung ihrer Bewegung, allerdings dür­fen Vereinsattrappen und Brief­kastenorganisationen vor allem in einigen mittelameri­kanischen Staaten nicht über ihre tatsächli­che Stärke hin­wegtäuschen. Die Bewegung verlor an Einfluß, als sie ge­gen Kriegsende kritiklos die sowjetischen Konzeptionen für Nachkriegsdeutschland über­nahm und beispielsweise die Abtretung der deutschen Ostge­biete befürwortete, was bei allen anderen EmigrantInnenorga­nisa­tionen auf heftig­sten Wider­spruch stieß. 1946 lößte sich das lateinamerika­nische Komitee “Freies Deutschland” auf. Neben die­sen überregiona­len po­litischen Bewegungen gab es noch Zusammenschlüsse von Emi­grantInnen, die sich auf ein­zelne Länder oder Städte be­schränkten und sich auch nicht einer der genannten Or­ganisationen zuordnen ließen.
Politische Aktivitäten im Exil
Neben den Aktivitäten in den politischen Organisatio­nen deut­scher EmigrantInnen gab es noch weitere Betäti­gungsfelder, die sich mit den Vereinigungen nicht völlig deckten und in denen auch nicht organisierte Hitler-Geg­nerInnen aktiv werden konn­ten. Dazu gehörte der Kampf gegen die sogenannte Fünfte Kolonne. Das Dritte Reich hatte mit gerin­gem propagan­distischem Auf­wand einen großen Teil der in Lateiname­rika ansässigen Volks- und Auslandsdeutschen gleich­ge­schaltet. Fast überall gab es NS-Organisationen, die das aus­landsdeutsche Vereinsleben so­wie Schulen und Presse be­herrschten und durch Hetz­propaganda und teilweise auch durch Gewaltakte die Emigran­tInnen drangsalierten. Hinzu kam, daß die diploma­tischen und konsularischen Missionen die EmigrantInnen ob­servierten und zu diesem Zweck meistens ortskun­dige auslandsdeutsche Spitzel mo­bilisierten. In einigen Län­dern, so etwa in Argentinien und Bolivien, verfügten sie durch Unterstützung einhei­mischer Nazi-SympathisantInnen in Poli­zei, Militär und Wirtschaft über einigen Ein­fluß. Es lag da­her im ureige­nen Interesse der EmigrantIn­nen, sich gegen diese Bedro­hung zur Wehr zu setzen und die einheimischen Regie­rung durch Sprach- und Sach­kenntnisse und andere Mittel zu unterstützen. Nach Ab­bruch der diplomatischen Beziehungen zwi­schen dem Dritten Reich und den meisten lateinamerikani­schen Staaten wurden die mei­sten NS-Organisatio­nen ver­bo­ten. In einigen Ländern al­ler­dings hatte es nie eine nen­nens­werte Fünfte Kolonne ge­geben.
Ein weiteres Aufgabenge­biet, an dem sich auch nicht­organisierte EmigrantInnen be­teiligten, waren Nach­kriegs­kon­zeptionen für Deutsch­land. Ei­ni­ge der inter­essantesten Über­le­gun­gen stam­men vom früheren li­be­ralen Reichsinnen- und -ju­stiz­minister Erich Koch-We­ser, der im brasi­lianischen Bundes­staat Paraná sein Asyl gefunden hat­te. Die der Be­wegung “Freies Deutschland” nahestehenden Emi­grant­Innen äußerten sich nur sehr allge­mein über Ver­fas­sungs­fragen und wollten ne­ben recht ver­schwommenen For­de­run­gen nach Ausrottung von Na­zis­mus und Antisemitismus die kon­krete Gestaltung Deutsch­lands den Alliierten überlassen. Ver­breitet war eine anti­ka­pi­ta­li­sti­sche Grundstim­mung und die Ab­sicht, mit einer weitgehenden So­zia­li­sierung auch die ge­sell­schaft­lichen Ursa­chen an­tidemo­kra­tischer Ent­wicklung zu besei­ti­gen. Die mei­sten Konzep­tionen hiel­ten am Na­tionalstaat fest, plä­dierten aber für eine Aus­söh­nung der ehemaligen Kriegs­gegner und für einen losen Ver­bund der eu­ropäischen Staa­ten. In den Be­reich der politi­schen Akti­vitäten gehören auch größ­tenteils die kulturellen Lei­stungen der deut­schen Emi­grantInnen, da sie auch dort, wo sie inhaltlich nicht unmit­telbar politische Fragen an­sprachen, indirekt darauf eingin­gen. Das war deutlich in der Presse und in den von ei­nigen Emigrant­Innen­or­ganisationen regelmäßig ge­stal­teten Rund­funksendungen der Fall, vor al­lem aber in den von Or­ga­ni­satio­nen unabhän­gi­gen Zeit­schriften und Ver­lagen. Zu er­wähnen ist hier vor allem die in Santiago de Chile heraus­ge­ge­be­ne, auch in Nord­amerika und Eu­ropa ge­lesene Monatsschrift Deut­sche Blätter, deren hohes Ni­veau und solide Aufmachung von allen po­litischen Richtun­gen res­pek­tiert wurde.
Emigration nach 1945
Mit der Niederlage des Drit­ten Reiches endeten we­der Exil noch Folgeprobleme der Emi­gration, vielmehr tauchten neue Probleme auf. Die Frage nach der Rückkehr ließ sich von Emi­grantInnen in keinem einzigen Falle leicht beantworten. Viele jü­dische EmigrantInnen hatten mit Deutschland gebrochen und somit kein Interesse mehr an ei­ner Rückkehr. Sie hatten in La­tein­amerika Wurzeln ge­schlagen oder aber bemühten sich um eine Wei­terwande­rung nach Palä­stina/Israel oder in die USA. Die Faustre­gel, derzufolge politische EmigrantInnen im allgemeinen zu­rückkehren wollten, die jüdi­schen EmigrantInnen aber nicht, gilt tendenziell auch für Latein­ame­rika, wenngleich hier stark differenziert werden muß. Aus den Jahren 1945-1949 sind etli­che Anfragen an den SPD-Vor­sitzenden Kurt Schumacher er­halten, ob man als Jude inzwi­schen wieder nach Deutsch­land zu­rückkeh­ren dürfe. Und umge­kehrt ent­schlossen sich manche der politischen EmigrantInnen, dort wo ihre Kin­der und teil­weise auch sie selbst heimisch geworden waren, zu bleiben. Hinzu kamen objek­tive Schwie­rigkeiten, zu denen einmal die Reisekosten und zum andern Einreisesperren der Alli­ierten gehörten. Am leichtesten hatten es Kommu­nisten, die – so­fern sie ge­braucht wurden – mit sowjeti­scher Hilfe in die Sowje­tische Besatzungszone zurück­kehren konnten. Andere betraten erst 1948/49 wieder deutschen Boden oder kehrten sogar erst in den 60er Jahren aufgrund be­stimmter politischer Ereig­nisse zurück – so Boris Gol­denberg aus dem in­zwischen kommuni­stisch gewor­denen Kuba. Für viele, die sich zum Bleiben ent­schlossen, war es aber eine un­angenehme ワber­raschung, daß nach 1945 eine gewisse “Emi­gration” ehema­liger NS-Funk­tionäre nach La­teinamerika einsetzte. De­ren Vertreter – wie beispiels­weise Eichmann oder Men­gele – woll­ten unter anderem Namen unter­tauchen und teil­weise aber auch mit Hilfe ein­heimischer Ge­sin­nungs­freunde ih­re un­rühmlichen Ak­tivitäten fortset­zen.
In den Jahren 1946-1949 lö­sten sich aber die meisten der po­li­tischen Organisatio­nen auf. Un­ter­schiedliche Auffassungen über die Zu­kunft Deutschlands und voll­ends der Kalte Krieg ent­zo­gen ihnen die gemeinsame Platt­form. Bemerkenswert ist, daß sich in drei Ländern – Me­xiko, Bra­silien und Bolivien – Nach­fol­georganisationen als so­zi­al­de­mo­kratische Landesver­bän­de konstituierten, nach­dem während der NS-Zeit die SPD als Par­tei oder als parteina­her Ver­band im lateinamerikani­schen Exil über­haupt nicht existiert hatte. Diese Organisa­tionen be­mühten sich einerseits um mate­rielle Hilfe für ihre aus­geblutete frühere Heimat, und veranstal­teten – wenigstens im Falle Bra­siliens – Sammlun­gen. Sie be­kämpften nach wie vor re­aktionäre Strömungen un­ter den Auslandsdeutschen und attackierten teilweise heftig die jun­ge Bundesrepu­blik, weil sie die diplomati­schen und kon­su­la­ri­schen Missionen in Lateiname­rika hauptsächlich mit erzkonser­vativem Personal be­setzte.
Lateinamerika hat die deut­sche Literatur in vielfältiger Weise beeinflußt. Ludwig Renn und Hilde Domin haben in ihren Memoiren ihr mexi­kanisches bzw. dominikani­sches Exil aus­führlich be­schrieben; Anna Seg­hers griff gelegentlich latein­amerikani­sche Motive auf; Egon Erwin Kisch veröffent­lichte noch in Mexiko eine bril­lant geschrie­bene Sammlung mit Episoden aus der mexikanischen Ge­schich­te und Paul Zech gab In­dianermärchen aus dem Chaco heraus, die sich aber nachträglich offensichtlich als seine Erfin­dung herausstell­ten. Manche EmigrantInnen vermittelten auf andere Weise den Deutschen ein differen­ziertes Lateinamerika-Bild, entweder durch Sachbücher über ihr jeweiliges Exilland oder durch Presseberichte. Erwähnt sei hier der langjäh­rige Süd­amerikakorrespon­dent der Frank­furter Rund­schau in Mon­tevideo, Her­mann P. Gebhardt. Aus den Reihen ehemaliger EmigrantIn­nen sind aber auch be­deutende Wis­sen­schaftlerInnen und Ver­tre­terInnen des öffentli­chen Le­bens in ihren Exilländern her­vor­ge­gangen. Der gegensei­tige Kul­tur­trans­fer bildet viel­leicht den er­freulichsten Aspekt des Exils, das mit Verfolgung und Flucht so leidvoll begonnen hatte.

Asyl in Mexiko

Vergleicht man das Exil in Mexiko mit dem Exil in an­deren la­tein­amerikanischen Ländern, so fallen einige Be­sonderheiten auf: Grundlage für das Exil war die explizit anti­faschis­ti­sche Asylpolitik Mexikos. Die Auf­nahme er­folgte spät, das heißt zu ei­nem Zeitpunkt als die ande­ren Fluchtwege aus Europa weit­gehend verschlossen wa­ren und der Anteil der politi­schen Emi­grantInnen, unter denen sich AntifaschistInnen aller poli­ti­schen Richtungen befanden, war mit einigen Hunderten rela­tiv hoch.
Die Motivation von seiten der mexikanischen Regie­rung für die Aufnahme der europäischen Flüchtlinge wird nur im Zusam­menhang mit der jüngeren mexikani­schen Geschichte ver­ständ­lich.
Revolution und antifaschistischer Kampf
1934 wurde mit Lázaro Cár­denas in Mexiko ein lin­ker Prä­sident gewählt, der sich als Erbe der mexikani­schen Revolution von 1910 verstand. Viele Forde­rungen dieser Revolution waren aber zu Anfang der dreißiger Jahre noch uneingelöst geblie­ben. Die Regierung unter Cár­denas schloß mit der mächtigen Einheits­gewerkschaft und mit ande­ren progressiven gesell­schaftlichen Bereichen ein Bündnis, um die Sozial­gesetzgebung, Land­ver­teilung und die Verstaatli­chung in- und ausländischer Unter­nehmen durchzuset­zen. Die mexikani­sche Ge­sellschaft befand sich poli­tisch in einer Aufbruch­stimmung. Das Ziel der Re­gie­rung unter Cárdenas war, einen spezifischen mexi­kani­schen So­zialismus zu entwik­keln.
Der Kampf der Spani­schen Republik gegen Franco wurde in Mexiko mit voller Sympathie betrachtet. Der inzwischen 102jährige Gil­­berto Bosques, Mitstrei­ter Cárdenas während der mexi­kani­schen Revolution und späterer Generalkonsul in Frankreich, sagte 1993 rückblik­kend: “Für uns, die wir an der Unter­stützungsbewegung für die Spanische Republik beteiligt wa­ren und davor bereits an der di­rekten revo­lutionären Aktion un­seres Landes, war diese Sympa­thie ganz natür­lich, und das En­gagement für Spanien gab es in­nerhalb der Arbeiterklasse, der Studen­ten bis zu den Bauern. Das ganze Land wurde von der Sache der Spanischen Repu­blik ergriffen, und zwar jene sozi­alen Sektoren, die hinter den revolu­tionären Verände­rungen standen, an denen General Cárdenas ar­beitete.”1
Mexiko setzte seine Hal­tung gegenüber der Spani­schen Repu­blik konsequent politisch um. So unterstützte es als einziges Land der westlichen Welt die Spani­sche Republik vor dem Völ­kerbund und lieferte ihr so­gar Waffen. Auch die Anne­xion Österreichs vom März 1938 wurde von Mexiko nicht aner­kannt.
Als sich die Situation in Eu­ropa immer weiter zu­spitzte, schickte Cárdenas Gilberto Bos­ques, seinen Vertrauten aus der Revolu­tionszeit und damaligen Di­rektor der Zeitung El Nacio­nal, nach Paris. El Nacional hatte in jenen Jahren eine breite Kampa­gne zur Unterstützung der Spanischen Republik organi­siert. Auch gehörte Bosques der Liga Pro-Cultura Alemana (Liga für deutsche Kultur), der ersten antifa­schistischen Ver­einigung von Deutschen in Mexiko, an. Diese Liga wurde 1938 von eini­gen deutschsprachigen Antifa­schistInnen, die be­reits An­fang der dreißiger Jahre Deutschland verlassen hatten, ge­grün­det. Mit der aktiven Unterstützung von mexikanischen Poli­ti­kern und Intellektuellen organ­sierte sie vor allem Auf­klärungs­ver­an­stal­tungen über die Ideolo­gie, die Poli­tik und die Wirt­schaft des Faschismus.
Bosques nahm seine Ar­beit in Paris am 1.1.1939 auf. Franco hatte inzwischen ge­siegt, und Hunderttausende von Republika­nerInnen flüchteten über die Py­renäen nach Südfrankreich. Un­ter ihnen befanden sich auch die Mitglieder der Inter­nationalen Brigaden. Die französische Re­gierung be­handelte die Re­pu­bli­kaner­Innen ausgespro­chen feind­lich. Sie internierte die Flücht­linge unter katastro­phalen Zu­ständen in Lagern. Darauf­hin entschloß sich die mexikanische Regierung den Republi­ka­ner­In­nen zu hel­fen. Sie bot allen Republika­nerInnen, die in Frank­reich waren, einschließlich der Mitglieder der Inter­nationalen Brigaden, ein Einrei­sevisum an. Damit sollte der Welt ein Zeichen gesetzt werden.
Die Flüchtlinge in Süd­frankreich in der Falle
Am 1.9.1939 überfiel die deutsche Wehrmacht Polen. Frankreich erklärte darauf­hin am 3.9.1939 Deutschland den Krieg. In einer Nacht- und Nebel-Ak­tion inter­nierten die französi­schen Behörden unterschiedslos alle männlichen deutschen Emi­granten als “feind­liche” Auslän­der. Unter den Fest­genommenen waren vor al­lem Antifaschisten, darunter viele Juden. Auch Frau­en, die der politischen Ar­beit verdächtigt wurden, waren Opfer dieser Internierungs­politik. Et­li­che Monate spä­ter im Früh­sommer 1940 marschierten die deutschen Truppen in Frankreich ein. Nach der franzö­sischen Ka­pitulation wurde am 22.6.1939 ein Waffen­still­standsvertrag ab­geschlossen. Frankreich wurde in eine be­setzte und unbesetzte Zone auf­geteilt. Der Artikel 19 dieses Ver­tra­ges legte au­ßerdem fest, daß namentlich genannte Flücht­linge, auch im unbesetzten Teil, auf Verlangen der deutschen Be­hörden ausgeliefert wer­den mußten.
Die Regierung in Vichy unter Marschall Pétaint kol­laborierte bald offen mit den deutschen Be­satzern. In den knapp 500 Inter­nierungslagern, die mehr­heitlich in der freien Zone lagen, ging bald die Gestapo ein und aus und stellte Aus­lieferungslisten zu­sammen. Auch Franco legte der fran­zösischen Regierung ein ge­nerelles Auslieferungsersu­chen vor. Die Flüchtlinge sa­ßen nun in der Falle. Man wußte nicht, ob die deut­schen Besatzer nicht auch in den unbesetzten Teil ein­marschieren würden.
Die Rettung: ein Visum nach Mexiko
Gilberto Bosques hatte mitt­lerweile das mexikanische Ge­ne­ral­konsulat in die südfranzösi­schen Hafenstadt Marseille verlegt, von wo aus die Schiffe mit den Flüchtlingen nach Über­see ab­fuhren. Das me­xikanische Generalkon­sulat, des­sen Zu­stän­digkeit bis in die Schweiz, nach Griechenland, nach Nor­dafrika und in den Li­banon reichte, ar­beitete fieber­haft. Jedoch waren die 41 Mitar­beiterInnen keines­wegs aus­schließlich mit der Aus­stel­lung von Visa beschäftigt.
“Das Ausreisevisum in mein Land” sagte Bosques, “wäre für die meisten, die es brauchten, um ihren Verfol­gern zu entkommen, ein schönes, aber letztlich un­nützes Stück Papier geblie­ben, wenn ich es ihnen ledig­lich aus­gestellt und mich um nichts weiteres gekümmert hätte.”
Das Generalkonsulat küm­merte sich um vieles. Auf An­weisung der mexika­nischen Re­gierung wurde am 23. August 1940 ein Abkom­men mit der Vi­chy-Regie­rung erzielt, in dem Frankreich sich einer­seits ver­pflichtete, keine spani­schen Flüchtlinge aus­zu­lie­fern. Mexiko andererseits verpflichtete sich, alle Spa­nierIn­nen auf französi­schem Boden aufzunehmen, ih­ren Übersee­trans­port zu organi­sieren und zur Versorgung der Flüchtlinge bis zu ihrer Abreise beizutragen. Dazu mietete Me­xiko 2 Schlösser in der Nähe von Marseille.
Aber nicht nur den spani­schen RepublikanerInnen galt die Soli­darität Mexikos. Visa wurden auch für andere gefährdete AntifaschistIn­nen verschiedener Nationen, darunter viele JüdIn­nen, ausgestellt. Für die Flücht­linge, die in den fran­zösischen Internierungsla­gern saßen, er­rei­chte Bos­ques durch zähe Ver­hand­lungen mit den französi­schen Behörden, daß diese zur Re­gelung ihrer Visaangelegen­heiten für ei­nige Tage das Lager verlas­sen durften. Aber auch Ille­gale erreichte ein mexi­­kanisches Visum. Insbeson­dere für kommunistische Flücht­linge, die den anderen westlichen Län­dern späte­stens seit des Hitler-Stalin-Paktes besonders suspekt er­schienen, wurde Mexiko zur letzten Rettung. Zur Durch­führung der Rettungs­aktionen arbeitete das Gene­ralkonsulat eng mit den Hilfs­komitees sowohl in Marseille als auch in Über­see zusammen. So zahlte zum Beispiel das Komitee der amerikanischen Schrift­steller Dollarbeträge beim mexikani­schen Konsulat in New York ein, die dann zu Bosques nach Mar­seille transferiert wurden, der sie wiederum an die Flüchtlinge aus­zahlte. Damit konnten sie zum Beispiel die Kosten für die Schiffspassage beglei­chen.
Bedingt durch den See­krieg auf dem Atlantik gab es ab Sommer 1942 keine Möglich­keiten mehr für weitere Ret­tungsaktionen nach Mexiko. Nach der Ver­senkung eines me­xikanischen Öltankers durch ein deut­sches U-Boot, erklärte Me­xiko Deutschland den Krieg. Damit waren alle diplomati­schen Spielräume aus­ge­schöpft. Im November 1942 besetzte die deutsche Wehrmacht die “freie” Zone in Frankreich. Die Regie­rung Frankreichs kol­la­borierte einmal mehr und nahm alle Mit­arbeiterInnen der mexi­kanischen Bot­schaft, einschließlich der Familie von Bosques, fest und übergab sie den Nazis. Diese wiederum brachten die Mexika­nerInnen nach Bad Godesberg, wo sie ca. anderthalb Jahre inter­niert blieben, bevor sie durch die Vermittlung der schwe­dischen Botschaft nach Me­xiko zurück durften.
Exil in Mexiko
Daß sich unter den etwa 2000 deutschsprachigen Flüchtlingen eine große An­zahl von Schrift­stellerInnen, KünstlerInnen und Intel­lektuellen befand, bildete eine der wichtigen Vor­aussetzungen für die Ent­faltung der kulturpolitischen Akti­vitäten der Jahre zwi­schen 1941 und 1947. Eine andere Vor­aus­setzung war, daß den Flücht­lingen im all­gemeinen keine Einschrän­kungen bei der Auf­enthalts- und Arbeitserlaubnis auf­erlegt wurden. Für die mei­sten, die ja annähernd zehn Jahre Exil unter sehr schwie­rigen Be­dingungen hinter sich hatten, wa­ren das para­diesische Zustände.2 Oft wa­ren es die Frauen, die als er­ste Arbeit fanden, sich ein­lebten und bald die Sprache be­herrschten. Von den Me­xi­ka­ner­Innen wird berichtet, daß sie den europäischen Flüchtlin­gen sehr offen, ver­ständnisvoll und hilfs­bereit gegenüberstan­den. Unter diesen günstigen Be­din­gungen gelang den kommu­nistischen EmigrantInnen die Gründung von etlichen Exilor­ganisationen. In An­knüpfung an die Volks­frontpolitik öffneten sich diese Exilorganisationen auch nicht­kommunistischen An­ti­fa­schis­tIn­nen.
Anfang November 1941 wurde der Heinrich Heine-Klub als Ver­einigung antina­zistischer Intellektueller deutscher Sprache gegrün­det. Im Klub wurden Vor­träge gehalten, Lesungen or­ganisiert, Dis­kus­sions­abende veranstaltet und Theater ge­spielt. Insbesondere die Theaterauffüh­rungen er­freuten sich großen Interes­ses. Das Publikum setzte sich aus der politischen und der jüdischen Emi­gration zusammen, die die Mehrheit im mexikani­schen Exil bil­deten. Vereinzelt kamen auch liberale Zugehörige der deutschen Kolonie. Die An­zahl schwan­kte je nach An­laß zwischen 200 und 800 Personen.
Dem Heinrich Heine-Klub folgte noch im Jahre 1941 die Gründung der kulturell-po­li­ti­schen Monatszeitschrift “Ale­ma­nia Libre. Freies Deutschland”. Mit einer Auflage von 4000 Exempla­ren, die inter­national ver­trieben wurden, ge­hörte sie nun zu den wich­tigsten Exil­zeitschriften. Heinrich Mann, Lion Feucht­wanger und Oskar Maria Graf, die in den USA Exil gefunden hat­ten, ver­öffentlichten hier Artikel.
Am neunten Mai 1942, dem neunten Jahrestag der Bü­cher­ver­brennung, wurde schließlich der Verlag El Libro Libre (Das freie Buch) gegrün­det. In wenigen Jahren gab der Verlag unter der Leitung von Walter Janka 22 Bücher in deut­scher und vier in spanischer Spra­che mit einer durchschnittli­chen Auf­lage von 2000 Ex­emplaren heraus. Das be­kannteste unter ihnen ist die deutsche Erst­ausgabe von Anna Seghers “Das siebte Kreuz”. Das in seiner Zeit politisch bedeuten­ste war die Herausgabe des Schwarzbu­ches über den Hitler­terror in Europa. Dieses Buch er­schien auf Spanisch und der Druck wurde von der mexi­kanischen Re­gierung finan­ziell unterstützt. AutorInnen aus ver­schiedenen Nationen prangerten darin die Ver­brechen der Nazis an.
Rückkehr in die sowjeti­sche Besatzungs­zone
Für das Gros der kommu­nistischen EmigrantInnen war nach Ende des Zweiten Welt­krieges die Rückkehr nach Deutschland keine Frage. Schließlich war auch im Exil ihr Leben vom Kampf gegen den Faschis­mus bestimmt gewesen, und seitdem die Niederlage der Nazis absehbar war, wurde über eine Neugestaltung Deutsch­lands diskutiert. In der sowjetischen Besat­zungszone, der späteren DDR, sahen die meisten der kommunistischen Emigrant­Innen die Möglichkeit, ein Land nach ihren Vorstellun­gen zu gestalten. Leider sind früher oder später fast alle “Westemi­grantInnen” poli­tisch gescheitert. Sie wurden pauschal ver­dächtigt, wäh­rend ihrer Exilzeit für west­liche Ge­heimdienste tätig geworden zu sein. Diese und andere meistens völlig ab­surde Vorwürfe dienten den aus Moskau zurückgekehr­ten Emigran­tInnen, ihre rigide politische Linie durchzuset­zen und unliebige Widersa­cherInnen in den eigenen Reihen auszu­schal­ten. Pro­minenteste Opfer dieser Po­litik in der DDR waren Paul Merker und Walter Janka, die für einige Jahre ins Ge­fängnis kamen und denen auch nach ihrer Haftentlas­sung kein poli­ti­scher Spiel­raum zugestan­den wurde.
Auch in der Tschechoslo­wakei gerieten deutschspra­chige tsche­chische Kom­­munist­Innen, die aus dem mexikanischen Exil zurück­gekehrt waren, in die Müh­len der Justiz. Insbesondere jüdische “WestemigrantInnen” gal­ten als besonders verdächtig. So wurde André Simone (Otto Katz), der sich in Mexiko sehr um die Gründung der Exilorga­nisationen verdient gemacht hatte, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Lenka Reinerová, deutsch­sprachige tschechische Kommunistin und Autorin der “Alemania Libre. Freies Deutschland”, wurde, ohne daß überhaupt eine Anklage erhoben wurde, für anderthalb Jahr in U-Haft ge­nommen und erst nach Stalins Tod wieder freigelassen.
Spätere Rehabilitierungen wa­ren meistens nur ein schwacher Trost.
Mexiko als Wahlheimat
Für die nicht, bzw. nicht mehr kommunistischen Emi­grantInnen war eine Rück­kehr in die spätere BRD kaum eine Alternative. Viele von ihnen waren als JüdIn­nen rassisch verfolgt worden und ein überzeugender Bruch mit dem Nationalso­zialismus, der eine Voraus­setzung für eine Rückkehr gewesen wäre, hatte nicht stattgefunden.
Mexiko hingegen als kul­turell offenes Land eröffnete den euro­päischen Flüchtlin­gen die Mög­lichkeit, ihre künstlerischen und wissen­schaftlichen Fähigkeiten in die mexikanische Gesell­schaft einzubringen. Bald prägten auch mexikanische Themen Arbeit und Werk der ehemaligen EmigrantIn­nen. Und auch um­ge­kehrt faszinierte die reiche Kul­tur Mexikos die Emi­grantInnen. So schrieb Paul Westheim, Her­ausgeber des “Kunstblatts” in der Weima­rer Republik und später pro­filierter Kritiker der Nazi­”kultur”, eine Gesamtdar­stellung der alt­mexikanischen Kunst (“Arte Antiguo de México”), die breite Aner­kennung fand und zum Standardwerk wurde. Ma­riana Frenk-West­heim, literari­sche Überset­zerin und Schrift­stellerin, machte sein Werk der mexi­kanischen Gesell­schaft zu­gänglich. Außerdem über­setzte Mariana Frenk-West­heim das Werk des mexika­nischen Dich­ters Juan Rulfo ins Deutsche. Im Alter von 94 Jahren gab sie ihr erstes Buch mit Aphorismen, kur­zen Texten und Erzählungen aus sechs Jahrzehnten her­aus. In diesem Buch spielt die Exil­thematik allerdings nur eine Neben­rolle.
Walter Reuter, einst Fotore­porter der “Arbeiter Illustrierten Zeitung” (AIZ) und späterer Spa­nienkämp­fer, wandte sich in Mexiko den indianischen Be­völ­ke­rungsgruppen zu (vgl. den Artikel in diesem Heft). Und Gertrud Düby, Schweizer Frau­enrechtlerin der zwan­ziger Jahre, spätere Mitbe­gründerin der SAP und an­schließend Funktionärin der KPD, setzte sich in Mexiko vehement für die Lakando­nIn­nen, die direkten Nach­fahren der Mayas, und für den Erhalt des lakandoni­schen Regenwaldes ein. Die­ser ist seit kurzem als Rück­zugsgebiet der Zapatistas unter Subcomandante Mar­cos in aller Welt bekannt geworden. (vgl. den Artikel in diesem Heft)

1 vgl. Gert Eisenbürger: Lebenswege, VLA 1995
2 vgl. Fritz Pohle: Das mexikanische Exil, Stuttgart 1986
Ulrike Schätte recherchiert z. Zt. mit einem Stipendium des “För­der­programms Frauenfor­schung” des Berliner Senats für eine Buchveröffentlichung zum Thema: “Deutschsprachige Frauen im antifa­schistischen Exil in Me­xiko”.

Das Asylrecht war kein Versehen

Als 1949 im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutsch­land das Asyl­grundrecht ohne jede Ein­schränkung festgeschrieben wur­de, war dies keineswegs ein Versehen. Zeithistori­scher Erfah­rungshinter­grund waren Terror und Verfolgung in Deutschland, die industrielle Vernichtung von Millionen Menschen, die durch den zwei­ten Welt­krieg aus­gelösten Flücht­lingsströme und die Auf­nahme – oder eben Nicht-Auf­nahme – dieser Menschen in an­deren Län­dern.
Die Ausgestaltung des Asyl­rechts garantierte dem einzelnen Flüchtling den Anspruch auf um­fassende Anhörung sowie das Recht, bis zum Abschluß des Ver­fahrens in Deutschland zu bleiben. Weder das Völ­kerrecht noch die Verfas­sung anderer Staaten kannten eine derartig weitreichende Ausgestal­tung des Asylgrundrechts. Dennoch war die Praxis der Asylgewährung in anderen Staaten, die kein Grund­recht auf Asyl besaßen, häufig liberaler als in der Bundesrepu­blik. Neben ei­ner restriktiven Ausle­gungspraxis führten seit 1978 vielfache Gesetzesän­der­ungen zur Verkürzung des Rechts-mittelweges und zur Er­schwerung des Zu­gangs zum Verfahren. Vom Grundrecht auf Asyl ist kaum etwas übrig geblie­ben.
Die Vorgeschichte der Grundgesetzänderung
1991 kamen 256.112 Asylbe­werberInnen in die Bundesrepu­blik Deutsch­land, etwa 33 Pro­zent mehr als 1990. 1992 stieg die Zahl noch einmal um 71 Pro­zent auf 438.191. In den ersten sechs Monaten des Jahres 1993 verlangsamte sich der Anstieg der Ge­suche, auch unter dem Einfluß des seit dem November 1992 geltenden “Rücknahme-Abkom­mens” mit Rumänien. Es gab 224.099 AsylbewerberInnen, 19,5 Prozent mehr als in der er­sten Hälfte des Vor­jahres. Das seit dem 1. Juli 1993 gültige neue Asylrecht brachte die “Wende”: mit 98.690 Personen sank die Zahl der Antragstelle­rInnen um 56 Prozent im Ver­gleich zur ersten Hälfte dessel­ben Jahres.
Restiktive Anerkennungs­praxis
Der Rückgang der Be­werberInnenzahlen wird von der Regierungskoalition und darüber hinaus als Er­folg verbucht. Die überwie­gende Mehrheit der An­tragsteller seien “Schein­asy­lanten” und “Wirt­schafts­flücht­linge” gewesen. Hierzu sind min­destens zwei Dinge zu be­merken:
1. Zu den etwa 5 Prozent an­erkannten Flüchtlingen kamen weitere 5 Prozent hinzu, die auf­grund von Gerichtsverfahren doch noch Asyl erhielten. Wei­tere 10 Prozent müssen hinzug­rechnet werden als zunächst ab­gelehnte Ange­hörige, die mit Rücksicht auf den Schutz der Familie bleiben durften. Noch ein­mal 20 Prozent der An­tragstellerInnen waren zwar nicht im engeren Sinne asylbe­rechtigt, erhielten aber ein Blei­berecht als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonven­tion. Insgesamt durften also mindesten 40 Prozent aller An­tragstellerInnen bleiben, und das bei der auch vor Juli 1993 schon ausge­sprochen restriktiven Aner­kennungspraxis.
2. Wer von “Schein­asy­lanten” spricht, vergißt, daß es seit dem Anwerbestop 1973 kaum noch legale Wege gibt, in die Bun­des­republik zu kommen. Ne­ben der Stel­lung eines Asylantrags blei­ben im we­sentlichen Fami­liennachzug sowie die be­fristete Einreise zu Ausbil­dungszwecken und zu Be­suchen. Würde die Bun­desrepublik endlich aner­kennen, daß sie längst ein Ein­wanderungsland gewor­den ist und die entspre­chenden Rege­lungen ein­führen, wären Men­schen, die tatsächlich nicht direkt politisch verfolgt werden, aber nichts desto trotz le­gitime Gründe ha­ben, in der Bundesre­publik leben zu wollen, nicht län­ger gezwungen, diesen Wunsch auf dem Umweg Asyl zu verfolgen.
Die Situation nach der Grundgesetzänderung
Der Kern der neuen Asyl­rechtsregelung ist die Konstruk­tion von “sicheren Her­kunftsländern” und “siche­ren Dritt­staaten”. Grundlage für letzteres ist die formale, nicht je­doch die faktische Anerkennung der Genfer Flüchtlings­konven­tion.
Kommt ein Flüchtling aus ei­nem “sicheren Her­kunftsland” (auch Rumä­nien etwa ist trotz der staatlich geduldeten Po­grome gegen Roma als Nichtverfolger­staat aufge­führt), so ist sein An­trag “of­fensichtlich unbegrün­det” und er durchläuft ein gekürztes Asylverfahren. Gegen die Ent­scheidung klagen darf er nur vom an­geblich verfolgungsfreien Herkunftsland aus.
Ist ein Flüchtling durch einen “sicheren Drittstaat” eingereist, gilt sein Antrag als unbeachtlich, da er ja in diesem Staat seinen Antrag auf Asyl hätte stellen kön­nen. Nicht der Fluchtgrund, sondern der Fluchtweg sind aus­schlaggebend. Wer an der Grenze zu Polen, einem der “sicheren Drittstaaten”, einreisen will, wird sofort, ohne Anhö­rung, dorthin zurückgeschoben. Daß es dort keine rechtsstaatli­chen Verfahren im strengen Sinne gibt, daß die Gefahr von Kettenabschiebungen besteht, wird ignoriert. Diese Regelung führt zur faktischen Abschot­tung, da alle an Deutschland gren­zenden Staaten entweder “siche­re Dritt­staaten” oder “Nicht­ver­folger­staaten” sind.
So bleiben im Grunde nur die illegale Einreise und das Ver­schweigen des Fluchtweges, oder die Ein­reise auf dem Luftweg. Nach der sogenannten “Flugha­fen­regelung” gelten An­tragsteller aus “siche­ren Her­kunfts­ländern” als nicht ein­gereist und haben sich auf dem vorgeblich “exter­ri­torialen” Ge­lände des Flughafens bei Zwangs­aufenthalt im Lager ei­nem Schnellverfahren zu unter­ziehen. In nur einer Woche wird über die Abschie­bung oder die Einreise und das re­guläre Ver­fahren entschie­den. Dasselbe gilt für Menschen mit ungültigen Reisepapie­ren. Um ihre Chance auf ein reguläres Asylverfahren zu erhöhen, kann es für diejenigen, die aus angeb­lich si­cheren Herkunftslän­dern kom­men, unter Umständen günstiger sein, wenn sieihre Papiere ver­nichten und eine fremde Identität, ein an­deres Her­kunftsland angeben.
Neben der weiteren Er­schwerung des Zugangs zum Asylverfahren und der Verkür­zung der Fristen, in denen Rechtsmittel einge­legt werden können, wird versucht, durch die Ver­schlechterung der Lebens­situation im Land Flücht­linge abzuschrecken.
Asylrecht und 8. Mai
Wer “einen Ausländer ver­leitet oder dabei unter­stützt, im Asylverfahren (…) unrichtige oder unvollstän­dige Angaben zu machen” (Asylverfahrensgesetz ´84) damit er zum Beispiel nicht in einen Staat zurückge­schoben wird, in dem er mit großer Wahrscheinlich­keit Folter zu er­warten hat, wird mit Freiheits­entzug und Geldstrafe bedroht.
Menschen, die illegale Roma aus Rumänien ver­stecken, wer­den kriminali­siert, diejenigen, die Flüchtlingen über die “grü­ne Grenze” helfen, un­differenziert als Schlepper diffamiert. Abge­lehnte AsylbewerberInnen wer­den verfolgt, weil sie mangels anderer Möglichkeiten, das Auf­enthaltsrecht zu erwer­ben, eine Ehe eingehen.
Eine AsylbewerberIn, der/die falsche Papiere vorgelegt hat, wird als Be­trügerIn bezeichnet und hat kaum Chancen, sein/ihr Asylverfahren erfolgreich zu beenden. Hierbei spielt es keine Rolle, ob er/sie das Heimatland an­sonsten nicht hätte verlassen können – sei es wegen restrikti­ver Visabestimmungen oder weil ihm/ihr vom Verfolgerstaat keine Papiere ausgestellt wurden.

Das Zahlenmaterial wurde dem Buch von Klaus J. Bade: Ausländer, Aus­siedler, Asyl (München 1994) entnommen
Menschen­würde
garantieren!
Am 28.1.95 wurde Ben­jamin Ramos Vega, der mit in­ternationalem Haftbefehl wegen “Mitgliedschaft in einer terrori­stischen Vereinigung”(ETA) so­wie “Sprengstoffbesitz” und “Lagerung von Kriegswaffen” gesucht wurde, in Berlin festge­nommen.
Die Grundlage der Festnahme war eine Aussage eines am 28.4.94 in Barcelona festge­nommenen, ehemaligen Füh­rungs­mitglieds der baskischen Partei Herri Batasuna, genannt Pipe. Vor dem Haftrichter wider­rief Pipe alle Aussagen und er­klärte, daß die Aussagen unter Folter zustande gekommen sind
Der spanische Staat fordert die Auslieferung von Benjamin. Obwohl nach Einschätzungen von amnesty international und des UNO-Sonderbeauftragten für Folterangelegenheiten systemati­schen Folter im spanischen Staat betrieben wird, wird voraus­sichtlich der Asylantrag, den er gestellt hat, abgelehnt werden da Spanien von der BRD als “verfolgungsfreies Herkunfts­land” eingestuft wird.

Protestschreiben können Sie an folgende Adresse schicken: Bundesjustizministerium, Hei­nemannstr. 6, 53175 Bonn, fax: (o228) 584525 und an das Kammergericht Berlin, Witzle­benstr.4, 14057 Berlin, Fax:(030) 32092266
Solidaritätsbriefe in einfa­chem Deutsch an: Benjamin Ramos Vega, JVA, Alt-Moabit 12a, 10559 Berlin

Basso-Tribunal verurteilt Asylpolitik der europäischen Staaten

Die internationale Jury, der unter an­derem der türkische Schriftsteller Aziz Nesin, die israelische Rechstan­wältin Fe­licia Langer, die malawische Menschen­recht­lerin Vera M. Chirwa und Günther Wall­raff angehörten, sprach die europäi­schen Staaten schul­dig, “durch ihre Asyl­politik die Rechte von Asylsuchenden und Flüchtlingen (…) systematisch und wie­derholt ver­letzt zu haben”. Dieses Urteil war die konse­quente Schlußfolgerung und der dra­maturgische Abschluß der viertägi­gen umfassenden Auseinandersetzung mit der europäischen Asylpolitik.
Daß eine Kritik an der offiziellen Asyl­politik nicht erwünscht ist, war im Vorfeld des Tribunals deutlich gewor­den. Ähnlich wie das Bundesinnenmi­nisterium lehnten auch das Bundesju­stizministerium, meh­rere Länderin­nenministerien, die EU-Kom­mission und die Parteien, die hinter der Grund­gesetzänderung stehen, die Ent­sen­dung eines Verteidigers ab. Der kon­ser­vative Asylrechtsexperte Kay Hail­bronner ließ gar wissen, daß er für einen “Schauprozeß” à la Ostblock nicht zur Ver­fügung stehe.
Die Bundesregierung verhindert Un­terstützung
Auch bei der Finanzierung durch den Grünen-nahen Stiftungsverband Regenbo­gen/Buntstift machte die Re­gierung von ihrem Vetorecht Ge­brauch. Nachdem Bunt­stift am Jahres­anfang bereits einen Zu­schuß gewährt hatte, verhinderte das Aus­wärtige Amt (AA) eine weitere Förde­rung des Tri­bunals aus einem Finanztopf, dessen Mittelvergabe der Zustimmung des Ministeriums bedarf. Unter Hinweis auf 23 der Bundeshaushaltsordnung heißt es in einem Brief des AA vom 3.11.1994: “Es liegt nicht im Interesse des Bundes, eine Veranstaltung zu fördern, bei der die Bundesrepublik Deutschland und be­freundete europä­ische Länder in einer auf große Öf­fentlichkeitswirkung angelegten, ein­seitigen (von einer Vorverurteilung ausgehenden) gespielten Gerichtsver­hand­lung wegen ihrer Asylpolitik auf die An­kla­ge­bank gesetzt werden.”
Der Ablauf des Tribunals zeigte dann, daß es keineswegs um eine pau­schale und undifferenzierte Kritik der herrschenden Asylpolitik, sondern um eine umfassende und detaillierte Be­gutachtung der europäischen Asylpo­litik ging. Von einer Vorverurteilung könne keine Rede sein, sagte die öster­reichische Publizistin Freda Meissner-Blau als Jury-Mitglied vor der Eröff­nung des Tribunals. Allerdings sei “das Tribunal insoweit parteilich, daß es sich den Rechten von Flüchtlingen und ei­ner humanen Asylpolitik ver­pflichtet” fühle, und nicht die Erwä­gungen von Re­gierungen übernehme, die eine Abschot­tungspolitik betrei­ben. Die britische Rechtsanwältin Frances Webber, die die Anklageseite vertrat, warf den europäi­schen Staaten vor, mit ihrer Abschot­tungspolitik die humanitären Ideale preis­zugeben, die der Genfer Flüchtlingskon­vention und der Allgemeinen Menschen­rechts­er­klärung zugrundeliegen. Damit be­gin­gen sie “nicht nur Verrat an den Flücht­lingen, sondern auch an den Völkern Europas und der Welt – und an der Demokratie selbst”. Im Rahmen von Länder­berichten (zu Frankreich, Spanien, Deutschland und der Schweiz) und den Aus­sagen von Be­troffenen, die im Zuge ihres Asylver­fahrens oder durch die Ab­leh­nung ihres Asylantrags in ihren Rech­ten verletzt wurden, entstand auf dem Tri­bunal ein breites und facettenreiches Bild der vielfältigen Negativfolgen der euro­päischen Asylpolitik für Flücht­linge. Neben den häufig unüberwind­baren Hür­den, zu einem Asylverfahren Zugang zu be­kommen und den oft menschenunwür­digen Bedingungen, denen Flüchtlinge in den europäischen Aufnahmeländern un­terworfen sind, stand bei den Zeugenaus­sagen auch die Situation in den Her­kunftsländern im Vordergrund.
In Spanien zusammengeschlagen
Die Lage in den lateinamerikani­schen Staaten kam in den Aussagen der beiden ZeugInnen aus Spanien zur Sprache. Die kolumbianische Rechts­anwältin Clara Eu­genia Valencia war in ihrem Heimatland für eine Men­schenrechtsorganisation tätig, die sich um die Aufklärung des Schicksals po­litisch Verfolgter und “Ver­schwun­de­ner” kümmert. Auf­grund ihrer Arbeit er­hielt sie Mord­drohungen. 1989 verließ sie Ko­lum­bien und bean­tragte in Spanien Asyl. Im Asylverfahren erfuhr sie die büro­kratischen und rechtli­chen Hürden der spanischen Asylpraxis, da von ihr verlangt wurde, ihre gesamte politi­sche Arbeit und die erhaltenen Dro­hungen nach­zuweisen. Der zweite spani­sche Zeu­ge, Miguel Inocente Ro­das, war An­ge­hö­ri­ger der peruanischen Streitkräfte. Er de­ser­tierte, nachdem er Drohungen von Sen­dero Luminoso er­hielt und in seinem Stadt­teil mehrere Regierungssoldaten von Sendero um­gebracht wurden. Als Deser­teur wurde er daraufhin von staatlicher Seite ver­folgt und floh 1987 nach Spanien. Während sein Asylverfahren noch lief, wurde er gemeinsam mit seinem Bru­der bei einer “routinemäßigen” Aus­weis­kon­trol­le von spanischen Polizi­sten zusam­men­geschlagen und festge­nommen. Auf der Polizeiwache wurde er so schwer miß­handelt, daß er län­gere Zeit im Kran­kenhaus lag. Doch obwohl sein Fall von den spanischen Medien und von amnesty in­ternational aufgegriffen wurde, sind die Polizi­sten, die ihn mißhandelten, bis heute nicht verurteilt.
Fluchtursachen in den Herkunftslän­dern
In ihren Gutachten hatten der Öko­nom Elmar Altvater ausführlich die ökonomi­schen und sozialen Fluchtur­sachen darge­stellt, und der Soziologe Oskar Negt über die Einschränkung der sozialen Rechte von Flüchtlingen in den Aufnahmeländern und den Mißbrauch der Fremden als Sün­denböcke für die gesellschaftli­chen Pro­bleme in Westeuropa kritisert. “Von drei­ßig Möglichkeiten, einer Ge­fahr zu ent­kommen, ist Wegrennen die beste”, zi­tierte der Sozialwissen­schaftler Kum’a Ndumbe aus Kame­run, der über die Ursa­chen von Ar­mutsflucht und Süd-Nord-Mi­gration referierte, ein chinesisches Sprich­wort. Dabei wies er darauf hin, daß von denen, die diesem Satz folgend bei­spielsweise aus Afrika “wegrennen”, nur die allerwenigsten in Westeuropa ankom­men. Der größte Teil der Flücht­linge blie­ben in den ärmeren Weltre­gionen. An den Ursachen der Flucht und an der Mitver­ant­wortung der europäischen Staaten än­dere indes die Abschottungspolitik Euro­pas nichts.
Die Verteidiger im Rollenkonflikt
Der linke Kieler Rechtsanwalt Thomas Jung, der sich als Pflichtver­teidiger zur Ver­fügung gestellt hatte, fand sich im Ver­lauf des Tribunals immer mehr in seine Rolle hinein. Während er anfangs im­mer wieder – entschuldigend – darauf hin­gewiesen hatte, daß er persönlich nicht die regie­rungsoffiziellen Positionen teile, ge­lang es ihm in seinem Abschlußplä­doyer durchaus profiliert, die Argu­mentation der europäischen Staaten deut­lich zu machen. Die nachgewiese­nen Men­schenrechtsverletzungen in den ver­schiedenen Bereichen der europäischen Asyl­politik bezeichnete er als Einzelfälle. Eine “systematische Verletzung von Men­schen­rechten” wollte er für seine Man­danten nicht gelten lassen. Die europäi­schen Staa­ten würden vielmehr die Ver­pflich­tun­gen der Genfer Konvention be­jahen. Gezielte Zugangsbeschränkun­gen be­zeichnete er aus der Sicht der ange­klagten Regierungen als notwendige Maßnahmen, “um politisch Verfolgten wei­terhin Schutz gewähren zu kön­nen”.
Einundzwanzig Forderungen für eine humane Asylpolitik
Das Urteil wurde schließlich in zwei Nachtschichten fertiggestellt und am 12. Dezember 1994 im Schöneberger Rathaus verkündet. Es beschränkt sich nicht dar­auf, die europäischen Staaten für die Ver­letzung der Rechte der Flüchtlinge zu ver­urteilen, sondern macht die Regierungen auch für die Rechtsverletzungen durch nachgeord­nete Behörden und Vollzugsor­gane verantwortlich. Für die aus solchen Rechts­verletzungen entstandenen Schäden wird den Asylsuchenden und Flüchtlingen im Urteil ein Anspruch auf Entschädigung zuerkannt. Die 21 Forderungen für eine humane Asylpo­litik reichen, so Wallraff, von ganz praktischen Forderungen bis hin zu utopischen Fernzielen. Beides ist für die österreichische Publizistin Freda Meissner-Blau von Bedeutung. Eine Be­schränkung auf tagespolitische Nahziele lehnte sie in der abschließen­den Presse­konferenz ab. “Die Utopie von heute” sagte sie, “wird hoffentlich die Realität von morgen sein”.
Johannes Zerger
Vorschläge und Forderungen des Basso-Tribunals zum Asylrecht in Europa
Vorbemerkung: Euphemistische Be­griffe wie “Harmonisierung” sollen dar­über hinwegtäuschen, daß es sich bei der Asylpolitik der europäischen Staaten in Wirklichkeit um eine Ab­schottungs- und Ausgrenzungspolitik handelt. Diese soge­nannte “Harmonisierung” des Asylrechts auf europäischer Ebene führt zu einer Vereinheitlichung auf niedrigstem Ni­veau, d.h. die Gesetze des Landes, das am we­nigsten Menschen aufnimmt und die streng­sten Bestimmungen hat, werden Maß­stab für die anderen. So verwandelt sich das Prinzip des “Schutzes für Flücht­linge”, dem sich die demokratischen und reichen Staaten Europas verpflichtet ha­ben, in das Prinzip des “Schutzes vor Flücht­lingen”. Begründet wird diese Poli­tik der Abschreckung mit steigenden Flücht­lingszahlen. Verschwiegen wird, daß Europa nur einen Bruchteil der Men­schen, die weltweit auf der Flucht sind, aufnimmt: nur ca. 5 Prozent von ca. 15-20 Millionen. Diese Flüchtlinge machen hier kaum das Elend sichtbar, das von den rei­chen Staaten in Ver­gangenheit (Kolonia­lis­mus, Zerstörung gewachsener Struk­turen) und Gegen­wart (Imperialismus, Un­ter­stützung von Dik­taturen) mitverursacht wur­de. Der größte Teil der Flüchtlinge fin­det in den Nachbarstaaten ihrer Heimat Aufnahme, in Ländern, die nicht ein­mal die Ernäh­rung ihrer eigenen Be­völkerung sicher­stellen können. (Im Sudan etwa, einem der ärmsten Länder der Erde, haben über 2 Millionen Menschen Zuflucht gefunden.) Die Abkapselung Europas löst das Pro­blem der weltweiten Flucht­be­we­gung nicht. Generelles Umdenken ist er­for­derlich. Statt die “Festung Europa” im­mer weiter auszubauen, müssen die wohl­ha­benden Staaten lernen, zu tei­len, zu ent­schulden und sich damit auch zu entschul­digen.
Um den im Urteil festgestellten Rechts­verletzungen abzuhelfen und die Rechte von Asylsuchen­den und Flüchtlingen um­fas­send zu schützen, erhebt das Tribunal folgende Forde­rungen:
1. Fluchtursachen müssen ernsthaft be­kämpft werden: Unabdingbar ist eine ge­rechte Weltwirt­schaftsordnung, die die in­ternationale soziale Un­gleichheit über­win­det. Die politischen und wirt­schaftlichen Be­ziehungen zu den Regi­men, die Men­schen­rechte verletzen, dür­fen deren Re­gie­rungen nicht unterstützen; ins­besondere dür­fen an solche Staaten wie den Iran, Irak oder die Türkei keine Waf­fen ge­liefert werden.
2. Die Bedingungen, Regelungen und Verfahren, welche von den Staa­ten Euro­pas zur Ertei­lung des Asyl­rechts erlassen werden, müssen zur strikten Einhaltung internationaler Abkommen wie der Genfer Konven­tion und aller anderen internatio­na­len Instrumente zum Schutz der Men­schen­rechte und Grundfreiheiten ver­pflichten. Dasselbe gilt für Regelun­gen und Verfahren im Rahmen der Eu­ro­pä­ischen Union und der EFTA.
3. Der Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention ist den (welt)­politischen Entwick­lungen an­zupassen und muß ausgeweitet wer­den. Ge­schlechts­spezifische Flucht­gründe, Ver­fol­gung wegen sexueller Orientierung müs­sen als Asylgründe gelten. Flucht vor nicht-staatlicher Verfolgung sowie auf­grund von Krieg und Bürgerkrieg müs­sen das Recht auf Asyl begründen. Flucht auf­grund von Armut, welche die in der All­ge­mei­nen Erklärung zu den Menschen­rech­ten festgeschriebenen Mindeststan­dards ei­nes menschenwürdigen Lebens ver­letzt, muß als Asyl­grund anerkannt werden.
4. Deserteure und Kriegsdienstver­wei­gerer aus Kriegs- oder Bürger­kriegs­gebieten müssen Anspruch auf Asyl haben.
5. Die Länder Europas werden auf­ge­for­dert, Flüchtlinge und Asylsu­chende vom Visumzwang zu befreien.
6. Beförderungsgesellschaften dür­fen nicht mit Sanktionen bedroht wer­den, wenn sie Flücht­linge ohne Visum trans­por­tieren.
7. Die sogenannte “Drittstaaten­rege­lung” muß aufgeho­ben werden, um die “Ket­ten­abschiebungen” zu beenden.
8. Jeder Staat hat für sorgfältige und faire Asylverfahren zu sorgen, mit dem Recht des Asylsuchenden auf Einspruch (Berufung), Überprüfung durch unabhän­gige Gerichte und der Garantie des voll­ständigen Rechts­schutzes. Die Asylsu­chenden müssen ausreichend Zeit und Gelegenheit ha­ben, ihre Einsprüche ein­zulegen. Diese müssen aufschiebende Wir­kung haben.
9. Auch bei als “offensichtlich un­begründet” eingestuften Asylgesuchen müs­sen die Asylsu­chenden ein Recht auf Ein­reise und einen Zugang zum Asylver­fahren haben; wie vom Exekutiv­komitee des UNHCR (United Nations High Com­missioner for Refugees) empfohlen, dür­fen lediglich die Rechtsmittelverfahren beschleunigt durchgeführt werden. Asyl­ge­suche, die als “offensichtlich begründet” einzu­stufen sind, müssen in einem ver­kürz­ten Verfahren zur Asylgewährung füh­ren.
10. Es ist zu gewährleisten, daß Asyl­suchende über ihre Rechte in einer für sie verständlichen Sprache und Form unter­richtet werden. Es müssen ihnen Hilfs­orga­nisationen ge­nannt und Rechts­anwälte und Dolmet­scher ihres Vertrauens zur Verfügung gestellt werden.
11. Asylverfahren müssen die be­son­dere Situation von Frauen berück­sichtigen und sicherstellen, daß Frauen aus­schließ­lich von Frauen befragt werden.
12. Kein Staat darf Asylsuchende in La­gern festhalten. Ferner dürfen Asyl­suchende nur in Fällen krimineller Verge­hen inhaftiert werden. Minder­jährige sind grund­sätzlich nicht in Haft oder haftähnli­chen Bedingungen festzuhalten. Insbeson­dere sind ‘exterritoriale Räume’ an den An­kunftsorten der Flüchtlinge und Asyl­suchenden abzuschaffen.
13. Asylsuchende dürfen während des laufenden Asylverfahrens nicht abgescho­ben werden. Es muß ihnen ein vorläufiges Aufenthaltsrecht für die Dauer des Ver­fahrens gewährt werden.
14. Ist ein Asylverfahren innerhalb ei­nes Jahres nicht abgeschlossen, er­hält der Asylsuchende aus humanitä­ren Gründen ein dauerhaftes Aufent­haltsrecht.
15. Zentralregierungen haben den Re­gionalbehörden und Gemeindever­wal­tungen die notwendi­gen Mittel zur Ver­fügung zu stellen, um menschenge­rechte Wohn­verhältnisse, Gesundheitsver­sorgung sowie Sprach­kurse für Asylsu­chende und Flücht­linge zu ermöglichen.
16. Das Menschenrecht auf Famili­en­leben und das Übereinkommen über die Rechte von Kin­dern (insbesondere das Recht auf den Besuch von Schulen und Kinder­gärten) müssen zu jeder Zeit ge­wahrt werden. Während des Asylverfah­rens ist das Recht auf Ar­beit und Freizü­gigkeit sicher­zustellen.
17. Die Anerkennung als Flüchtling muß automatisch das Wohn- und Ar­beits­recht im Gastland einschließen.
18. Asylsuchende, deren Anträge ab­ge­lehnt werden und die seit Jahren in der Illegalität leben und Opfer mo­derner For­men von Sklavenarbeit wurden, sind durch eine Amnestie zu legalisieren.
19. Die erkennungsdienstliche Be­hand­lung von Flüchtlingen darf nicht vor­ge­nom­men werden.
20. Der Datenschutz ist sicherzu­stellen; ins­besondere darf es keinen Datenaus­tausch mit Verfol­gerstaaten geben.
21. Eine Gesamtreform des europäi­schen Asyl- und Ausländerrechts im Sinne einer Rückbesin­nung auf die völkerrecht­lichen und humanitären Verpflichtungen Europas, die Grund­sätze der Rechtsstaat­lichkeit und der Rechtssicherheit, die un­ein­geschränkt auch für Flüchtlinge, Asyl­su­chende und Zuwanderer Gültigkeit haben müssen, ist überfällig.
Das Urteil des Basso-Tribunals kann be­stellt werden bei: BASSO-Tribunal, c/o AStA TU Berlin, Marchstr. 6 10587 Berlin, tel.: 030/314-24437.
Eine ausführliche Dokumentation des Tribunals mit allen Redebeiträgen, dem Urteil und einem Überblick über das eu­ropäische Asylrecht wird derzeit erstellt. Die Publikation ist voraus­sichtlich ab April 1995 erhältlich bei: Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste e.V., In­landreferat, Auguststr. 80, 10117 Berlin, Tel.: 030/2886-203.

Die VerräterInnen sind immer die anderen

Die Spaltung der FSLN war spä­testens seit dem zweiten Par­teitag im Mai 1994 nur noch eine Frage der Zeit. Bis dahin waren die unter­schiedlichen Parteiströ­mungen relativ gleich­berechtigt an der Natio­nalen Leitung beteiligt worden, um die Einheit der sandinisti­schen Bewegung zu wahren. Im vergangenen Mai wurde der Pro­porz aufgegeben und die FSLN-Spitze fast durchgängig mit An­hänger­Innen von Ex-Präsident Daniel Or­tega be­setzt (vgl. LN 240). Die angekün­digte Par­tei­reform, ins­besondere eine Demo­kra­tisierung der Entscheidungs­strukturen, blieb jedoch aus.
Die Inhalte des Streits
Die “Demokratische Linke” (ID) um Daniel Ortega warf den FSLN-Par­la­ments­abgeord­neten um Ser­gio Ramí­rez vor, daß diese sich nicht an die Partei­be­schlüsse hielten und wie­derholt gegen den Willen der “Asamblea Sandi­nista”, dem höch­sten FSLN-Gremium zwischen den Par­teita­gen, in vielen Fragen mit der Re­gierung von Violeta Chamorro zusam­men­arbeiteten. Daniel Or­tega hatte diese Po­li­tik aller­dings selbst jahrelang mitge­tragen be­ziehungsweise war bei Streiks wiederholt als Vermitt­ler zwischen Regie­rung und Ge­werkschaften aufgetreten. Erst seit 1993 hatte er seinen Dis­kurs ra­dikalisiert und sich ein­deutig auf die Seite des sandinistischen Gewerkschafts­zusam­men­schluß “Nationale Ar­beiterInnenfront” (FNT) und an­derer Ba­sisorganisationen ge­stellt, die die Errungenschaf­ten der Re­volution durch die Mobilisierung der ver­armenden Ar­beiterInnen und Angestellten zu erreichen versuchen. Ser­gio Ramírez setzte jedoch weiter auf eine Zu­sam­menarbeit mit der Regierung, um so die neo­libera­len Refor­men sozial abfedern zu kön­nen. Um er­neut an die Macht zu kom­men sei zudem grundsätz­lich eine stärkere Öff­nung der FSLN zur Mitte hin not­wendig. Außer­dem, so die sogenannten “Re­formerInnen” um Ramírez, sei die Zu­sam­mensetzung der Asam­blea Sandinista längst nicht mehr repräsentativ für die FSLN, eine Unterordnung unter deren Be­schlüsse da­mit hinfäl­lig. Die Distanz zwi­schen Par­lamentsfraktion und Parteifüh­rung vergrö­ßerte sich immer mehr.
Bei dem Streit ging es nicht nur um die po­litische Ausrich­tung, sondern insbeson­dere um personelle Entscheidungen in­nerhalb der Frente. Eine Ver­härtung der Auseinanderset­zung gab es nämlich, seit Sergio Ra­mírez vor gut einem Jahr erst­mals sein Interesse bekun­dete, 1996 für die FSLN bei den Prä­sidentschaftswahlen zu kandi­dieren. Dies war natürlich eine klare Herausforderung an Da­niel Ortega, der, “falls die Partei es wolle”, ebenfalls wieder an­treten will. Auch der Durch­marsch der Ortega-Frak­tion beim Par­tei­tag im vergan­genen Mai läßt sich zu­min­dest zum Teil aus dieser Konkurrenz er­klä­ren. Öffentlich wurde al­lerdings stets auf inhaltli­che Differenzen verwiesen.
Wie um die Unvereinbarkeit der beiden Tendenzen innerhalb ei­ner Partei zu be­weisen, wurden die inhaltlichen Unter­schiede zwi­schen “ReformerInnen” und der Demokrati­schen Linken – vom Ramí­rez-Flügel als “Orthodoxe” bezeichnet – von beiden Seiten immer stärker betont. Eine Dis­kussion war kaum noch möglich, und dort wo sie noch ansatz­weise statt­fand, wurde sie mit allen Mitteln unter­bunden. So zum Beispiel als Ende Ok­tober die Parteizeitung Barricada auf die Linie der Parteiführung ge­bracht und ihr langjähriger Di­rektor, der “Reformer” Carlos Fernando Chamorro kurzerhand ab­gesetzt wurde. Da war dann beispiels­weise zu lesen, daß die “Ramírez-Gruppe” eine “rechtsradikale Politik” be­treibe und “gemeinsame Sache mit den Somozisten ma­che” (vgl. LN 246).
Zum beherrschenden Streitthema der letz­ten Monate wurde die Verfassungsre­form, bei der die Mehrheit der FSLN-Parlaments­fraktion mit einem Teil der rechten Parteien zusammenarbei­tete. Mittlerweile ohne Einfluß in den Partei­gremien scherten sich die FSLN-Abge­ordneten tatsächlich kaum noch um Be­schlüsse und Richtlinien ihrer gesamten Partei. Nachdem sie bis zum 25. Novem­ber 1994 be­reits einmal verabschiedet wor­den sind, müs­sen die Reformen bis März 1995 nochmals ratifi­ziert werden. Neben einigen sinnvollen Änderungen, die den Einfluß der Legislative gegen­über der Exekutive stärken sol­len und die Wie­derwahl des/der Präsidenten/in ver­bietet, ist beispielsweise der Artikel, der den An­gehörigen des/der amtie­renden Präsiden­ten/in die Kan­didatur verbietet, eindeutig von wahltaktischen Gesichts­punkten ge­leitet und soll die mögliche Kandidatur von Präsi­dialamtsminister Antonio La­cayo, Schwieger­sohn von Violeta Cha­morro und potentieller Ver­bündeter von Daniel Ortega, bei den näch­sten Wahlen verhindern. Äußerst fragwürdig ist zudem der neue Asylparagraph, der “Terroristen” von diesem Recht ausschließt – also eine Legali­sierung von Abschiebungen bei­spielsweise von (potentiellen) ETA-An­ge­hörigen ermöglicht. Vor allem aber: Die­ser Paragraph in anderen Ländern an­ge­wandt hätte in den siebziger Jahren die San­dinistIn­nen selbst von Asyl ausge­schlossen. Und selbst Ser­gio Ramírez, Ende der siebziger Jahre immerhin Chef der mit der FSLN ver­bündeten zivilen “Grup­pe der Zwölf” und in Costa Rica im Exil, wäre wegen seiner Zu­sammenarbeit mit “Terroristen” Abschiebungskandidat ge­wesen.
Spätestens seit diesen Verfas­sungs­re­formen war klar, daß ein Kom­promiß zwischen den beiden Tendenzen nicht mehr möglich ist. Durch die wieder­holten per­sönlichen Diffa­mierungen des Gegen­spielers wurden die Grä­ben zwi­schen den beiden Tendenzen weiter ver­tieft. In den Augen der Ortega-Fraktion galten die Mit­glieder der “Sandinistischen Er­neu­er­ungs­bewegung” (MRS) um Ramí­rez nur noch als “Rechte”, “Bourgeois” oder sogar als “Ver­räterInnen” – so als hätte nicht die gan­ze Partei jah­relang die Zusammen­arbeit mit der Regierung und einem Teil der UNO-Fraktion mitgetra­gen. Außer­dem haben die sieben FSLN-Abge­ord­neten, die zur “Demokratischen Linken” ge­hö­ren, auch schon zusammen mit den Ab­geordneten ge­stimmt, die dem rechts­extremen Bürgermei­ster von Mana­gua, Arnoldo Ale­man, nahestehen.
Die Schmutzkampagne gegen die “Re­for­mer­Innen” gipfelte im Ja­nuar in dem “Vorwurf” von Car­los Guadamuz, María Ra­mírez und Dora María Téllez führten eine les­bische Beziehung. Für Sergio Ramírez Grund genug, die Partei zu verlassen, zumal Guada­muz seinen Po­sten als Chef von “Radio Ya” behielt und von To­mas Borge – der Daniel Ortega als FSLN-Vorsitzender vertritt, seit dieser wegen einer Herz­krankheit auf Kuba be­handelt wird – lediglich eine halbher­zige Entschuldigung kam.
Allerdings verhielten sich auch die Refor­merInnen nicht viel besser. Ernesto Cardenal, der bereits im November aus der FSLN aus­getreten war und den Re­formerInnen nahe­steht, verg­lich Daniel Ortega in einem In­terview indirekt mit Hitler, Stalin und So­moza. Und Sergio Ramírez erklärte bei seinem Austritt aus der FSLN in Mana­gua: “Ich kann nicht länger in einer Partei bleiben, wo Delin­quenten mit Parteibuch unge­straft blei­ben.”
Für Ramírez war der Ausfall von Gua­da­muz eine willkommene Gelegen­heit, sich von der FSLN zu trennen – auch wenn er vor­gibt, es sei lediglich eine “persönliche Entschei­dung” ge­wesen (vgl. das folgende Inter­view). Bereits seit Mo­naten ist er mit den Vorberei­tungen zur Gründung einer neuen Partei be­schäftigt und hatte vergeblich auf einen Par­teiausschluß ge­wartet, der die Chancen erhöht hätte, daß ihm ein größerer Teil der FSLN-Ba­sis folgt. Die neue Partei wird vermutlich am 21. Februar, dem Todestag von Augusto César Sandino, der Öf­fentlichkeit vorgestellt. Wie die sandini­stische Basis sich verhalten wird, ist noch nicht klar abzusehen. Es wird allge­mein davon ausgegangen, daß sich annähernd die Hälfte der FSLN-Mitglieder keiner der bei­den Tendenzen zugehörig fühlt – was es unwahrscheinlich macht, daß sie den “ReformerInnen” folgen werden und ebenfalls die Partei verlassen. Allerdings hat National­leitungsmitglied Henry Ruíz mittlerweile seine Sympathie für die “ReformerInnen” bekundet. Lange Zeit galt der an der Basis we­gen seiner per­sönlichen Inte­grität sehr beliebte Ex-Komman­dant als möglicher Konsenskan­didat für beide Seiten. Er führte bislang die “Strömung der Strömungslosen” an und hatte sich stets um Ausgleich zwi­schen den beiden Lagern be­müht. Trotz seiner kürzlichen Par­teinahme für die “ReformerInnen” will Henry Ruíz jedoch in der FSLN bleiben: “Ich bleibe in der Partei bis sie mich rausschmeißen.”

Aus den Bergen des mexikanischen Südostens

Wir rufen alle sozialen und politischen Kräfte des Landes, alle aufrichtigen MexikanerInnen, alle die, die für die Demokratisie­rung des nationalen Lebens kämp­fen, zur Gründung einer BEWEGUNG FÜR DIE NATIONALE BEFREI­UNG auf, die die Nationale Demo­kratische Konvention und alle Kräfte einschließt, die unab­hängig von reli­giöser Überzeugung, Abstammung oder politi­scher Ideologie gegen das System der Staatspartei sind. Diese Bewegung für die Nationale Befreiung wird mit allen Mitteln und auf allen Ebenen für die Einsetzung einer Über­gangsregie­rung, für eine neue Verfas­sunsversammlung, für eine neue Verfas­sung und für die Zerstörung des Systems der Staats­partei kämpfen. Wir rufen die Nationale Demokratische Konven­tion und den Bürger Cuauthémoc Cárdenas Solórzano dazu auf, sich an die Spitze dieser Bewegung für die Nationale Befreiung zu stellen, die ein breites Oppositionsbündnis sein soll.
Wir rufen die ArbeiterInnen der Republik, die ArbeiterInnen auf dem Land und in der Stadt, die Colonos, die Lehrer­Innen und StudentenInnen Mexikos, die mexikanischen Frauen, die Jugendlichen des ganzen Landes, die KünstlerInnen und die aufrichtigen Intellektuellen, die konse­quenten Gläubigen, die Basismitglieder der verschiedenen politischen Organi­sationen dazu auf, in ihrem Bereich und mit den Kampfformen, die sie für möglich und für notwendig halten, für das Ende der Staatspartei zu kämpfen und sich der Nationalen Demokrati­schen Konvention anzuschließen, wenn sie keiner Partei ange­hören, der Bewegung für die Nationale Befreiung, wenn sie in einer der politischen Oppositionskräfte aktiv sind.
Im Geist der III. Erklärung des Lacandon-Urwaldes verkünden wir:
Erstens: Der Bundesregierung wird die Wache über das Vater­land entzogen. Die mexikanische Flagge, das oberste Gesetz der Nation, die mexikanische Hymne und das Nationalwappen werden ab jetzt in der Obhut der Widerstandskräfte sein, bis die Le­galität, die Legitimität und die Sou­veränität im gesamten natio­nalen Terri­torium wiederhergestellt sind.
Zweitens: Die ursprüngliche Politische Ver­fas­sung der Verei­nigten Mexi­kanischen Staaten in ihrer Fassung vom 5. Februar 1917 wird für gültig erklärt. Ihr werden die Revolutionären Ge­setze von 1993 und die Autonomiestatuten für die Indígena-Re­gionen beigefügt. Sie gilt, bis eine neue Verfassungsversamm­lung zu­sammentritt und eine neue Carta Magna verabschiedet.
Drittens: Wir rufen zum Kampf für die Aner­kennung der “Übergangsregierung zur Demokratie” auf, in die sich die ver­schiedenen Gemeinden, sozialen und poli­tischen Organisationen selber einbringen. So wird der in der Verfassung von 1917 vereinbarte Bundespakt aufrecht erhalten. Die Gemeinden und Organisationen schließen sich unabhängig von der religiösen Überzeugung, der sozialen Klasse, der politischefolgung sowie auf­grund von Krieg und Bürgerkrieg müs­sen das Recht auf Asyl begründen. Flucht auf­grund von Armut, welche die in der All­ge­mei­nen Erklärung zu den Menschen­rech­ten festgeschriebenen Mindeststan­dards ei­nes menschenwürdigen Lebens ver­letzt, muß als Asyl­grund anerkannt werden.

4. Deserteure und Kriegsdienstver­wei­gerer aus Kriegs- oder Bürger­kriegs­gebieten müssen Anspruch auf Asyl haben.

5. Die Länder Europas werden auf­ge­for­dert, Flüchtlinge und Asylsu­chende vom Visumzwang z das Wahlgesetz reformieren, damit künftig saubere Wahlen, Glaub­würdigkeit, die Anerkennung aller nationalen, re­gionalen und lokalen politischen Kräfte gesichert sind. Die Über­gangsregierung soll zu neuen all­gemeinen Wahlen in der Föderation aufrufen.
3. Sie wird eine Verfassungs­versammlung für die Schaffung ei­ner neuen Verfassung einberufen.
4. Sie muß die Besonderheiten der Indígena-Gruppen, ihr Recht auf Autonomie und ihre Staatsbürgerschaft anerkennen.
5. Das nationale Wirtschaftsprogramm muß grundlegend verän­dert werden. Lüge und Verschleierung müssen beseitigt wer­den. Die ArbeiterInnen und BäuerInnen, die die Hauptprodu­zentInnen des Reich­tums sind, den sich jedoch andere aneig­nen, müssen künftig begünstigt werden.
Mexiko, Januar 1995.”

Verraten und verkauft

Am 6. November versuchten etwa 100 der in Guantánamo internierten KubanerInnen die Flucht Richtung Heimat. Sie überwan­den den doppelten Stacheldrahtverhau, von dem alle Camps umgeben sind, und sprangen von den nahen Klippen ins Meer. 39 gelang es, schwimmend kubani­sches Hoheitsgebiet zu erreichen, die an­deren wurden von den Wachposten wieder eingefangen. Ob sie anschließend abge­straft, in die berüchtigten “Gefängnisse im Gefängnis” gesteckt wurden, ist nicht be­kannt. Bereits eine Woche zuvor waren 21 KubanerInnen aus der “Howard Base” in der Panamakanalzone entwichen, wo in vier Lagern ebenfalls Tausende Flücht­linge interniert sind.
Nimmt man die wiederholten Hunger­streiks von “Balseros” hinzu, ergibt sich ein Bild, das die Nachrichtenagenturen mit “wachsende Unzufriedenheit mit der Lage in den Camps” beschreiben. Die Diagnose stimmt – und doch ist die Situa­tion weit verwickelter. Schon die beiden äußerlich so ähnlichen Fluchtversuche las­sen sich keineswegs miteinander verglei­chen. Aber gehen wir etappenweise vor.
Handschellen für HaitianerInnen?
Verweilen wir zunächst noch bei den “längstgedienten” Lagerinsassen in Guantánamo: den haitianischen Boat Peo­ple, von deren Schicksal die internationale Öffentlichkeit spätestens nach der An­kunft der kubanischen Flüchtlinge kaum noch Notiz nahm. Ihre Zahl, die zeitweilig über 20.000 lag und in der Woche vor der Rückkehr von Präsident Aristide nach Port-au-Prince noch 11.700 betrug, ist mittlerweile auf unter 6.000 gesunken. State Department und Lagerbehörden er­klären übereinstimmend, die Rückführung der HaitianerInnen in die Heimat erfolge ausschließlich freiwillig.
Im scharfen Gegensatz dazu stehen Aus­sagen von Flüchtlingen selbst, denen zu­folge die US-Militärs gedroht haben sol­len, jedem Handschellen anzulegen, der nicht von sich aus an Bord der Rück­kehrer-Schiffe gehen wollte. Auch wenn ich diese Berichte bei einem Besuch vor Ort nicht überprüfen konnte: Für mich be­steht kein Zweifel daran, daß zumindest ein Teil der haitianischen Boat People lie­ber noch eine Zeitlang in Guantánamo bleiben würde, als sofort in die Heimat zu­rückzukehren, wo auf sie eine ungewisse Zukunft wartet.
Gleichbehandlung angestrebt
Von haitianischen Exilgruppen war in den letzten Monaten wiederholt der Verdacht geäußert worden, die Flüchtlinge aus Haiti müßten unter schlechteren materiellen Bedingungen leben als die KubanerInnen. Dafür konnte ich keinen Beleg finden, im Gegenteil: Die Zelte der HaitianerInnen stehen “privilegiert” auf dem Beton des McCalla-Flugfeldes, die der Kubaner­Innen auf (nicht weniger ödem) planier­tem Boden, der von Steinen übersät ist. Dort schwebt aber ständig eine riesige rötliche Staubwolke über den Lagern, die die ohnehin prekären hygienischen Bedin­gungen zusätzlich verschlimmert und zu zahlreichen Erkrankungen der oberen Atemwege geführt hat, wie Ärzte unter den “Balseros” berichten.
Zumindest die oberen Chargen in der Mi­litärhierarchie der Basis achten meinen Beobachtungen nach streng auf die Gleichbehandlung von HaitianerInnenn und KubanerInnenn. So ist die Verpfle­gung für beide Flüchtlingsgruppen gleich gut bzw. gleich schlecht (zumeist Fer­tignahrung aus Armeebeständen oder “Humanitärer Hilfe”, zumindest für die mehreren hundert Kleinkinder ungenießbar). Eintreffende Spenden werden pro­portional aufgeteilt. Davon profitieren wiederum eher die HaitianerInnen, da die (vermögende) kubanische Exilgemeinde in den USA größere Mittel für ihre inter­nierten Landsleute aufbringen kann als die (ungleich ärmere) haitianische.
Und damit zu den KubanerInnenn in Guantánamo. (Da ich mich strikt auf das beschränken will, was ich selbst gesehen bzw. gehört habe, lasse ich Panama bei­seite. Ich gehe allerdings davon aus, daß dort prinzipiell die gleichen Probleme herrschen dürften.)
Heimkehrwillige diskriminiert
Zunächst ist eine strikte Unterscheidung nötig zwischen dem Camp “November 2” einerseits und den übrigen 19 Lagern an­dererseits. In “November 2” waren Mitte Oktober 647 Flüchtlinge untergebracht, (647 von 26.471, um die Größenordnun­gen im Auge zu behalten) und zwar Män­ner, die explizit den Wunsch geäußert hatten, zu ihren Familien nach Kuba zu­rückzukehren. Ihre Diskriminierung durch die Behörden der Basis war nicht zu über­sehen. Nur um ihr Lager marschierten die Wachposten mit der MPi auf dem Rücken (überall sonst praktisch unbewaffnet) und nur hier waren bis zum Zeitpunkt meines Be­suchs weder feste Waschplätze noch Du­schen noch Telefonapparate für R-Ge­spräche in die USA installiert worden.
Die Verantwortung dafür, daß den Insas­sen von “November 2” die Heimkehr ver­wehrt wird, liegt eindeutig nicht auf Seiten der kubanischen Regierung. Sie hat allen Flüchtlingen die Rückkehr in die Heimat und sogar ihren alten Arbeitsplatz ange­boten. Mag man an letzterem auch seine Zweifel hegen: Schon allein der Sinn der Führung in Havanna für propagandistische Effekte scheint Bürgschaft genug, um jede Gefahr der Heimkehrer für Leib und Le­ben auszuschließen.
Die Chancen der Bewohner von “November 2” auf baldige Heimkehr er­hielten jedoch mit einem Gerichtsurteil vom 31. Oktober einen Dämpfer. Bundes­richter Clyde Atkins aus Miami stellte sich hinter den Antrag einer Gruppe von Anwälten um Xavier Suarez, Ex-Oberbür­germeister von Miami, um jede Rück­führung von “Balseros” nach Kuba zu verbieten. Begründung: Es könne nicht ausgeschlos­sen werden, daß die Flücht­linge zu diesem Schritt genötigt würden, was den Men­schenrechten widerspräche. (Verschiedene Indizien weisen darauf hin, daß der ein­gangs geschilderte Flucht­versuch von “November 2” ausging und eine Reaktion auf genau dieses Urteil darstellte.)
Schatten des Gipfels
Das Rückführungsverbot wurde wenig später wieder aufgehoben, ohne daß den Insassen von “November 2” eine Frist für die – wie ich bezeugen kann: von ihnen aus freien Stücken angestrebte – Heimkehr gesetzt wurde. Der Grund dafür, daß Washington sich querstellt, dürfte im be­vorstehenden “Amerika-Gipfel” zu suchen sein, zu dem Kuba als einziges Land des Kontinents nicht eingeladen wurde. Viel­mehr soll die Insel dort wegen ihrer Men­schenrechtspolitik an den Pranger gestellt werden. Herausragendes Beweisstück der Anklage: die Massenflucht vom Au­gust/September. Was könnte da den USA ungelegener kommen als die Zeugenaus­sagen ehemaliger Bootsflüchtlinge, die sich über ihre Erlebnisse unter dem Sternen­banner beschweren und gar die Rückkehr ins “Gefängnis Kuba” den spärlichen Seg­nungen der “freien Welt” in Guantánamo vorziehen?
Völlig anders als in “November 2” ist die Stimmung in den übrigen Camps. Dort ist die Bereitschaft, nach Kuba zurückzukeh­ren, gleich Null. Die Euphorische Hoff­nung, vielleicht schon morgen zu den Ver­wandten nach Miami zu gelangen, wech­selt mit tiefer Verzweiflung über die als Haft empfundene Internierung in diesem (Originalton) “Konzentrationslager”. Die “Balseros” weigern sich zu begreifen, daß sie plötzlich in den USA nicht mehr will­kommen sein sollen, nachdem doch jahr­zehntelang jeder Castro-Gegner mit offe­nen Armen aufgenommen wurde.
Kaum jemand ist bereit oder fähig, sich in die Logik der US-amerikanischen Migra­tionspolitik hineinzudenken. Die Flücht­linge fühlen sich verraten und verkauft. Sie wollen nicht wahrhaben, daß sie nicht nur von der kubanischen Regierung, son­dern selbstverständlich auch von den USA als Schachfiguren in einem größer ange­legten Spiel mißbraucht werden.
Nur Einreise wäre eine Lösung
Clintons Angebot, die Flüchtlinge sollten von Havanna aus einen Antrag auf ein Einreisevisum für die USA stellen, stößt hier auf taube Ohren. Schon die Verle­gung nach Panama, wo die Lebensbedin­gungen dem Vernehmen nach besser sein sollen als in Guantánamo, lehnen die mei­sten strikt ab. Nur die Einreise in die USA wird von den “Balseros” als Lösung ak­zeptiert. Auch ihre einhellige, durch wie­derholte Hungerstreiks untermauerte For­derung, als politische und nicht etwa als Wirtschaftsflüchtlinge anerkannt zu wer­den, zielt in diese Richtung.
Überraschende Hilfe hat diese (gegenüber den Bewohnern von “November 2” unver­gleichlich größere) Gruppe von Balseros vom bereits genannten Richter Atkins er­halten. Er stellte im erwähnten Urteil die Behauptung auf, Guantánamo sei souver­änes Gebiet der USA, auf dem US-ameri­kanische Gesetze gälten. Nun ist diese These zwar völkerrechtlich unhaltbar und widerspricht auch Artikel 3 des von den USA erzwungenen “Pachtvertrages” für Guantánamo aus dem Jahre 1903. Doch ehe ein Gericht in nächster Instanz genau dies feststellt, hat sich auch Washington an das Urteil zu halten. Daraus aber erge­ben sich unabsehbare Konsequenzen.
Wäre die Flottenbasis tatsächlich US-Ge­biet, träten sofort verschiedene Gesetze zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der Flüchtlinge in Kraft. Um beim primitiv­sten zu beginnen: Sie hätten dann An­spruch auf anwaltliche Betreuung, wo­durch sie endlich stabilen Kontakt zur ein­flußreichen kubanischen Exilgemeinde und deren Organisationen erhielten und weit effektiver als “pressure group” einge­setzt werden könnten. Zweitens dürften sie nur eine begrenzte Zeit festgehalten werden und müßten danach freigelassen werden – in die USA, versteht sich.
Doch Anspruch auf Asyl?
Drittens könnten die “Balseros” politi­sches Asyl beantragen, wenn sie mit Guantánamo bereits US-Territorium er­reicht hätten. Damit ließe sich ihre Ein­reise nur noch minimal verzögern, aber nicht mehr aufhalten. Und viertens träte der “Cuban Adjustment Act” von 1967 in Kraft. Dieses Gesetz aus dem Kalten Krieg stuft alle KubanerInnen, welche die USA erreichen, automatisch als politische Flüchtlinge ein und verschafft ihnen inner­halb kürzester Zeit Aufenthalts- und Ar­beitsgenehmigungen, ja sogar die Staatsbür­gerschaft.
Daß Atkins’ Entscheidung auch den recht­lichen Status der haitianischen Flüchtlinge grundlegend verbessern würde, sei hier nur am Rande bemerkt. Schon was die KubanerInnen betrifft, stellt jede der ge­nannten Optionen für Washington ein Horrorszenarium dar. Die Regierung will aus innenpolitischen Zwängen heraus un­bedingt vermeiden, der generalisierten Angst vor einer unkontrollierten Einwan­derung neue Nahrung zu geben. (Das Anti-Einwanderungs-Referendum in Kali­fornien am 6. November zeigt, welche Sprengkraft in dieser Frage steckt.) Und außenpolitisch hat sie kein Interesse daran, abermals Zehntausende unzufrie­dene KubanerInnen zur selbstmörderi­schen Flucht gen Norden zu ermutigen – Regimegegner, die sie viel lieber als poli­tische Manövriermasse gegen Fidel Castro auf der Insel selbst einsetzen würde.
Wie also wird die US-Regierung auf die Herausforderung durch Richter Atkins re­gieren? Und viel dringlicher als dieser “sportliche” Wettstreit: Wann wird das menschliche Leiden der Internierten ein Ende haben? Das Schicksal der von (fast) allen Seiten (fast) beliebig zu instrumen­talisierenden “Balseros” in Guantánamo ist eine Zeitbombe, die größere Aufmerk­samkeit verdient – gerade im Vorfeld des Dezember-Gipfels in Miami.

“Europa gehört mit seiner Asylpolitik auf die Anklagebank”

Das “Ständige Tribunal der Völker” wurde von dem italienischen Senator und un­dogmatischen Sozialisten Lelio Basso ge­gründet und versteht sich als Nachfolge­organisation der Bertrand-Russell-Tribu­nale. In Form einer symbolischen Ge­richtsverhandlung bieten die Basso-Tribu­nale den Opfern von Menschenrechtsver­letzungen ein quasi-juristisches Forum, bei dem konkrete Fälle von Verstößen ge­gen (inter)nationale Rechtsnormen unter­sucht und die damit verbundenen politi­schen Zusammenhänge analysiert werden. In der Bundesrepublik wurde das Basso-Tribunal vor allem durch seine Verhand­lung zur Politik von IWF und Weltbank bekannt, die 1988 parallel zur IWF- und Weltbanktagung in Berlin stattfand.
Die Vorgeschichte
Die Idee eines Tribunals zum europäi­schen Asylrecht entstand im Juni 1993 auf einem Seminar verschiedener Berliner Flüchtlings- und Antirassismusgruppen, in dem es um die Weiterarbeit nach der Grundgesetzänderung beim Asylrecht ging. Schnell war klar, daß sich ein sol­ches Tribunal nicht nur mit der bundesre­publikanischen Asylpolitik beschäftigen sollte, sondern daß die Einschränkung des Artikels 16 GG in Zusammenhang mit der gesamteuropäischen Abschottungspolitik analysiert werden muß. Nachdem sich die Basso-Stiftung bereit erklärt hatte, die of­fizielle Trägerschaft des Tribunals zu übernehmen, gründeten die Mitglieder verschiedener Berliner Asyl- und Antiras­sismusgruppen einen Vorbereitungskreis, der die organisatorischen Vorarbeiten für die fünftägige Veranstaltung übernahm. Inzwischen wird das Tribunal von einem breiten Bündnis bundesrepublikanischer und europäischer Gruppen und Organisa­tionen unterstützt. Da trotz der breiten Unterstützung nach wie vor rund 50.000 DM zur Finanzierung des Tribunals feh­len, ist der Vorbereitungskreis dringend auf weitere Spenden angewiesen.
Das Tribunal
Im ersten Teil der öffentlichen Verhand­lung des Tribunals werden die verschie­denen Problemfelder der Asylrechtspraxis der europäischen Staaten, wie zum Bei­spiel Einreisehindernisse, Abschiebung, Anerkennungspraxis, “Rück­führungs­ab­kom­men”, Lebensbedin­gungen während des Verfahrens, Flugha­fenregelung, Kon­zept der “verfolgungsfreien Länder” und der “sicheren Drittstaaten” oder die po­lizeili­che Behandlung von Asylsuchenden un­tersucht. Neben Berichten zur allgemeinen Situation von Flüchtlingen in diesen Län­dern, werden im Zuge der Beweiserhe­bung exemplarische Fall­bei­spiele aus den genannten Staaten vor­ge­stellt und die be­troffenen Asylsuchenden zu ihren kon­kreten Problemen mit den zuständigen Stellen angehört. Obwohl die im Rahmen des Tribunals untersuchten Fälle längst nicht die gesamte Bandbreite der mit der europäischen Asylpolitik ver­bun­denen Probleme abdecken können, gibt ein Aus­zug aus der derzeit vor­liegenden Liste einen Eindruck von den Aus­wirkungen der Abschottungspolitik der europäischen Staaten: Neben Flücht­lings­schicksalen aus dem Iran, Senegal, Rumänien, Kurdistan und Haiti ist da der Fall eines Flüchtlings aus Zaire, der nach der Ablehnung seines Asylantrags (in der Schweiz) abgeschoben und in seinem Hei­mat­land gefoltert wurde, oder der Fall eines peruanischen Flüchtlings, der von der spanischen Poli­zei mißhandelt wurde.
Im zweiten Teil des Tribunals wird der politische Kontext von Flucht und Ab­schottungspolitik analysiert. Hierbei ste­hen Fragen nach den Fluchtursachen ebenso auf dem Programm wie der Zu­sammenhang zwischen der Einschränkung des Asylrechts und des Abbaus von De­mokratie und sozialen Rechten oder die systematische Illegalisierung von Flücht­lingen.
Ausgehend von einer umfassenden Ana­lyse der Problematik von Flucht und Ab­schottungspolitik ist von dem abschlie­ßenden Urteilsspruch der Jury des Tribu­nals nicht nur eine moralische Bewertung der Asylpraxis der europäischen Staaten, sondern auch eine Reihe von Vorschlägen für eine humane Asylpolitik und die Wei­terentwicklung der Genfer Flüchtlings­konvention zu erwarten.
Johannes Zerger

Das Basso-Tribunal findet vom 8. bis 12.12.94 statt. Um das Gelingen des Tribu­nals sicher­zustellen, ist die Vorberei­tungs­gruppe dringend auf per­sonelle und fi­nan­zielle Unterstützung angewie­sen. Nä­here Informationen gibt es beim Se­kretariat des Basso-Tribunals, c/o AStA TU; Marchstr. 6, 10587 Berlin, Tel.: 314 24437. Steuerlich absetzbare Spenden werden erbe­ten auf das Konto der Antiras­sistischen Initia­tive: Bank für Sozialwirt­schaft (BLZ 100 205 00), Konto-Nr.: 303 96 05, Stichwort: Basso-Tribunal

Programm
Donnerstag, 8.12.:
I. Eröffnung, Anklage und rechtlicher Rahmen
1. Offizielle Begrüßung
2. Vorstellung der Hauptanklagepunkte
3. Allgemeiner Bericht über den aktuellen Stand des Flüchtlingsrechts
II. Länderbericht zur Beweiserhebung aus den europäischen Staaten BRD, Frankreich, Schweiz und Spanien mit An­hörung der ZeugInnen
Freitag, 9.12.
Länderberichte (Fortsetzung)
III. Expertenberichte zu Fluchtursachen und restriktiver Asylpolitik
1. Menschenrechtsverletzungen und Flucht (Vortrag und Befragung)
2. Ökonomische Fluchtursachen (Vortrag und Befragung)
Samstag, 10.12.
3. Restriktive Asylpolitik und Demokratie (Vortrag und Befragung)
4. Restriktive Asylpolitik und Abbau sozi­aler Rechte (Vortrag und Befragung)
IV. Plädoyer von Anklage und Verteidi­gung
Sonntag, 11.12.
V. Nichtöffentliche Ausarbeitung des Ur­teilsspruchs durch die Jury des Tribunals
– Politisches und kulturelles Rahmen­programm
Montag, 12.12.
VI. Verkündung des Urteilsspruchs der Jury des Tribunals und Pressekonferenz

Warten auf Godot in Guantánamo

Symptomatisch ist ein Zwischenfall vom 13. August. In den Morgenstunden for­mierte sich nach Angaben von US-Mili­tärs in einem der sieben Lager ein Protest­zug. Die Stimmung sei anfangs eher ge­dämpft gewesen. Mal still, mal singend, mal Parolen rufend wuchs der Zug rasch. Andere Lager schlossen sich der Aktion an. Zu einer Eskalation sei es erst ge­kommen, als etwa 120 Flüchtlinge began­nen die Stacheldrahtrollen, die die Lager umschließen, zu überspringen, ins Meer stürzten und schwimmend versuchten, ku­banisches Territorium zu erreichen.
“Die Menschen Haitis haben die Insel aus politischen Gründen verlassen und jetzt haben wir das Gefühl, in einem Gefängnis zu leben.” So beschrieb Henry Claude Delva, der Sprecher von Camp 5, den Frust, der sich unter allen Lagerbewohner­Innen breit gemacht hatte. An diesem Punkt griffen nach Angaben des Informa­tionsdienstes “Haiti Progrès” US-Militärs ein und versuchten, eine Massenflucht von Flüchtlingen zu verhindern – angeblich unter einem Hagel von Steinen, Dosen und Zeltstangen.
Unabhängige BeobachterInnen haben starke Zweifel an dieser Version und ver­muten, daß die Flüchtlinge sich nur gegen einen massiven Einsatz der US-SoldatIn­nen wehrten. In der Vergangenheit wäre die Gewalt immer von brutal vorgehenden US-Militärs ausgegangen. In ähnlich ge­lagerten Fällen hätten die Militärs, so “Haiti Progrès”, relativ schnell Wasser­werfer und Hunde, ja sogar Panzer und Flugzeuge eingesetzt.
Am Ende eines hitzigen Tages zogen die US-Behörden Bilanz: 45 verletzte Flücht­linge und 20 verletzte SoldatInnen. Ge­rüchte sprechen von drei Lagerbewohner­Innen, die beim Fluchtversuch ertranken. 330 Flüchtlinge sollen danach in einen gesondert bewachten Abschnitt auf Guantánamo gebracht worden sein. Die Ereignisse vom 13. August sind kein Ein­zelfall. Nur vier Tage später soll es wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen gekommen sein. Und am 22. August ver­haftete die US-Militärpolizei nach eigenen Angaben über 700 LagerbewohnerInnen nach einem zunächst friedlich verlaufenen Protestmarsch gegen die Zustände in den Lagern. Alle Festgenommenen, darunter Kinder und Frauen, seien danach in unterirdische Bunker gebracht worden, in denen sie nach Angaben von “Haiti Progrès” vier Tage lang von allen anderen getrennt unter schlimmen Bedingungen eingesperrt waren.
Briefe, die aus den Lagern geschmuggelt wurden, sprechen davon, daß US-Soldaten Frauen aus den Lagern sexuell belästigt und vergewaltigt haben. Nachdem die US-Küstenwache Kleider und Schuhe der Bootsflüchtlinge zum Teil verbrannt habe, fehlt es nun selbst daran.
Politik der schleichenden Desillusionierung zeigt Wirkung
Die Politik der USA, es den Flüchtlingen so unangenehm wie möglich zu machen, zeigt erste Erfolge: In den Monaten Juli und August sind weit über 5.000 Men­schen nach Haiti zurückgekehrt – frustriert, ohne Hoffnung. “Repatriierung” ist der Technokratenterminus für das System der schleichenden Desillusionie­rung. Die Stimme von Stanley Schrager, US-Botschaftssprecher in Port-au-Prince, kennen die meisten in Haiti. In Radiosen­dungen warnt er die HaitianerInnen die Insel per Boot zu verlassen: “Die US-Küstenwache wird Dich auf dem Meer ab­fangen. Du wirst nicht in die USA ge­bracht. Sie werden Dich in ein Flücht­lingslager in einem anderen Land bringen, in dem Du sechs Monate, ein Jahr darauf warten kannst, bis die Krise zu Ende ist und Du nach Haiti zurück kannst. Mein Freund, wenn Du in Erwartung eines bes­seren Lebens aufs Meer gehst, zerstörst Du Dein Leben.”
Um in den Lagern ein Klima des Frustes zu begünstigen, scheuen sich die US-Behörden nach Angaben von “Haiti Progrès” auch nicht, Tontons-Macoutes, die Schergen des Geheimdienstes von Ex-Diktator Baby-Doc Duvalier, als Überset­zer in den Lagern anzustellen. Täglich fänden sogenannte Lagerbegehungen statt, bei denen versucht werde die Flüchtlinge zur Rückkehr nach Haiti zu bewegen.
Dort wissen mittlerweile fast alle, daß die Chancen auf Asyl in den USA minimal sind. Nur noch wenige verlassen ihre Heimat. Brachte die US-amerikanische Küstenwache im Juli noch mehr als 16.000 haitianische Flüchtlinge auf, waren es im August nicht mehr als 500. Aller­dings stieg die Zahl von Bootsflüchtlingen Ende August wieder an, aus Furcht vor den Konsequenzen einer möglichen Inva­sion der USA und alliierter karibischer Staaten.
In Haiti selbst schloß die US-Botschaft im August zwei “Abwicklungszentren” für Flüchtlinge und gab anschließend be­kannt, daß sie sich außerstande sähe, 1.000 Menschen aus Haiti auszufliegen – Flüchtlinge, denen die USA bereits offizi­ell Asyl gewährt hatte. Irgendwo auf Haiti versteckt warten sie in ständiger Angst vor dem brutalen Repressionsapparat des Mi­litärregimes immer noch auf ihre Aus­reise. Neue Berichte sprechen davon, daß sich das Militärregime in Port-au-Prince einverstanden erklärt habe, diese Men­schen in einem “regelmäßigen Rhythmus” über den Landweg in die Dominikanische Republik ausreisen zu lassen.
Kubanischer Flüchtlingsstrom verschärft Situation
Die Entscheidung der Clinton-Regierung auch die kubanischen Flüchtlinge erst einmal auf Guantánamo zu internieren, hat zusätzlich Öl ins Feuer gegossen. Die in­ternierten HaitianerInnen sind, so “Haiti Progrès”, der festen Überzeugung, daß die US-Behörden und -Militärs auf Guantá­namo ein Zweiklassensystem für Flücht­linge etablieren. Kleinigkeiten reichen, um dem neue Nahrung zu geben. Zwischen den Lagern der KubanerInnen und der HaitianerInnen gibt es nicht einmal Sicht­kontakt. Die HaitianerInnen sind sich si­cher: Flüchtlinge aus Kuba werden weit besser versorgt als sie selbst. Das Essen für die KubanerInnen sei nahrhafter, auch seien Baseball-Spielfelder angelegt wor­den. Sie selbst warteten immer noch auf ein Fußball-Feld.
Bei der haitianischen Exilgemeinde in den USA besteht kein Zweifel über den Wahr­heitsgehalt solcher Anschuldigungen. Sie tut sich schwer, angesichts einer fast übermächtig erscheinenden Lobby von Exil- KubanerInnen mit dem “Haiti-thing” nicht in Vergessenheit zu geraten. Zudem sind viele kubanische Bootsflüchtlinge weiß, die schwarzen HaitianerInnen haben da einfach die falsche Hautfarbe.
Kuba befürchtet Eskalation
Jetzt wird auch die kubanische Armee nervös. Sie befürchtet einen Gewaltaus­bruch in Guantánamo. 14.000 haitianische und 23.000 kubanische Flüchtlinge quet­schen sich in den Lagern Guantánamos, umgeben von 8.000 stationierten US-Sol­datInnen. Es bestehe die Gefahr eines gewaltsamen Massenausbruches mit To­desopfern, so ein kubanischer General – Guantánamo ist von kubanischen und US-amerikanischen Tretminen eingekreist.
Wie sich die Entscheidung der USA, jähr­lich 20.000 KubanerInnen einreisen zu lassen, auf die Lage in Guantánamo aus­wirkt, ist noch offen.
Für die haitianischen Bootsflüchtlinge ge­staltet sich die Sache schwieriger. Suri­nam erklärte sich im August bereit, 2.500 Flüchtlinge aufzunehmen – widerwillig und mißtrauisch von der eigenen Bevölke­rung beäugt.

Exil im eigenen Land

Nascimento hat seit Ende der 80er Jahre nicht aufgehört, die Hintermänner von Todesschwadronen zu ermitteln und mit Namen zu nennen. Begonnen hat er mit dieser Recherche-Arbeit, als 1986/87 in 19 Monaten 21 Kinder und Jugendliche aus seiner Straßenkindergruppe ermordet wurden und daraufhin das von ihm initi­ierte Zentrum in der Favela do Lixao ge­schlossen werden mußte.
Die Recherche und Öffentlichkeitsarbeit machten Nascimento bekannt, vor allem aber kamen die Strukturen der mörderi­schen Kartelle der Macht ans Tageslicht, die Verquickung von legaler und extrale­galer Repression.
“Wer die Macht angreift, der bleibt nicht ungestraft” – nach diesem Motto war das Delikt schnell konstruiert, von eben jenen Richtern (Rubem Medeiros, Luíz Cesar Bittencourt, Renato Simoni und Mario dos Santos Paulo), die in die Strukturen der Todesschwadronen verwickelt sind: Üble Nachrede – gegenüber denjenigen, die die Macht haben.
Asyl in Europa keine Alternative
Nascimento hätte sich der Verhaftung durch Flucht entzogen, denn Gefängnis bedeutet für ihn den sicheren Tod. Als er in diesem Frühjahr nach Europa reisen konnte, als das Europäische Parlament zu seinem Fall und den Morden an Straßen­kindern eine Resolution abfaßte, machte sich Nascimento nochmals Hoffnungen: Er hätte sich in Brasilien in eine Botschaft geflüchtet und politisches Asyl beantragt. Aber die Reise in die Festung Europa hat ihn in jenem Monat vor Augen geführt, was politisches Asyl heißt, hätte er es überhaupt bekommen. Die Internierung in ein Lager, wie es nach deutscher Norm mittlerweile in der EU üblich wird, hielt er nach genauen Erkundigungen für derart unmenschlich, daß er diese Alternative verworfen hat. Er fuhr zurück nach Rio de Janeiro, in Erwartung der Urteilsbestäti­gung. Und Davi, seinen jüngsten, wenige Tage alten Sohn, hatte er noch nicht gese­hen.
Anfang Juli 1994: Viele ErzieherInnen und Straßenkinder-Engagierte hat Nas­cimento von seinem neuen Wohnsitz aus zu einem Fortbildungs-Seminar gela­den, The­ma: Wie können die rechtlichen Mög­lichkeiten in der Kinder- und Jugend­arbeit voll ausgeschöpft werden. Zu dem Semi­nar reisten mehr als hundert Perso­nen an, viele von ihnen direkt bedroht we­gen ihres mutigen Engagements für die Straßenkin­der. Aber das war nicht Thema des Semi­nars.
Ein Nachsatz, eine Überlegung: Ist es eine lateinamerikanische Besonderheit, daß man sich der staatlichen und parastaatli­chen Bedrohung – der Drohung, umge­bracht zu werden – durch Ortswechsel ent­ziehen kann? Durch Verlassen der Kon­flikte in der Großstadt? Oder ist es ein Anzeichen für die neue lokale Aufteilung der Macht, der zersplitterten Einflußberei­che von bewaffneten halbstaatlichen Ban­den und Milizen, wie es mehr und mehr auch in einigen Teilen von Europa zu be­obachten ist?

Der schwarze Mittwoch

“Seit 25 Jahren gab es keinen solchen Po­lizeieinsatz mehr, selbst während der Mi­litärdiktatur (1973-1984) haben die Mili­cos bei den verbotenen Demonstrationen zwar übel geprügelt und Gas und Gummi­geschosse eingesetzt, aber nie scharf auf unbe­waffnete DemonstrantInnen geschos­sen”, berichtet eine ältere Aktivistin. Die Regierung verkündete derweil in Abwe­senheit des auf Wahlkampftour befindli­chen Präsidenten, es habe mehr verletzte Polizisten als DemonstrantInnen gegeben und vertei­digt ihr Vorgehen damit, daß sie entschlossen gegen interna­tionalen wie nationalen Terrorismus vorgehen müsse. Innenmi­nister Gianola sah zunächst keine Veranlassung, dem Parlament Rede und Antwort zu stehen. Er begab sich erst dann ins Abgeordnetenhaus, als am 7.September die notwendige Stimmen­zahl, für die Erzwingung einer großen An­frage zusammen­kam, bei der er sich den Fragen der ParlamentarierInnen stel­len mußte.
Zahlreiche Gewerkschaften, soziale Orga­nisationen, u.a. auch das Linksbündnis Frente Amplio fordern den Rücktritt des Innenministers. Menschenrechtsorganisa­tionen, Kirchen, Gewerkschaften und viele nationale und internationale Ver­bände und Organisationen haben Protest­schreiben geschickt und for­dern eine un­abhängige Untersuchung der Vorfälle. Im Parlamentsausschuß für Menschenrechte werden Videoaufnahmen gesichtet, und ein Richter nimmt die Anzeigen von Be­troffenen und Zeugen auf. Die spanische Regierung hingegen schickt No­ten, in denen beteuert wird, daß viele Menschen in Uruguay “offensichtlich ungenügend oder falsch informiert sind”.
Der Entzug der Sendelizenz für Radio Panamericana CX 44 und die 48stündige Schließung von Radio CX 36 – beide hat­ten ständig aktuell über die Situation vor der Klinik El Filtro berichtet – lösten auch international heftige Proteste aus. Der Innenminister versucht offensichtlich im Zuge des Wahlkampfs in die Offensive zu gehen. Er spricht von ultralinken Splitter­gruppen (er meint damit in erster Linie die MLN Tupamaros), die die ge­walttätigen Auseinandersetzungen provo­ziert hätten und beschuldigt zwei Ra­diosender, zur Gewalt angestiftet zu ha­ben. Ein Staats­anwalt gibt bekannt, daß er Strafverfahren gegen verantwortliche Redakteure bzw. die Direktion von Radio Panamericana einleiten wird. Vorwurf: Falschinforma­tion, Verun­glimpfung von Staatsorganen etc.
Die baskischen Gefangenen in Uruguay
Der Fall der baskischen Gefangenen hatte in Uruguay erhebli­chen Wirbel ausgelöst. Am 15.Mai 1992 wurden in einer Großak­tion der uruguayischen Polizei insgesamt 24 Baskinnen und Basken, teilweise mit ihren Kindern, festgenommen. Bis auf sechs wurden die meisten sehr schnell wieder freigelassen. Die Vorwürfe gingen vom Besitz falscher Personaldokumente bis zur Mitgliedschaft in der ETA. Schon bei den polizeilichen Ermittlungen gab es einige Unregelmäßigkeiten und Rechts­brü­che, so wurden z.B. auch die Kinder der Festgenommenen, ei­nige da­von waren minderjährig, erkennungs­dienstlich be­handelt und verhört. Bei den Hausdurch­suchungen und Verhören in Montevideo waren auch spanische Poli­zeibeamte zu­gegen, und Staatsanwalt Langón gab schon vor dem Abschluß der Verfah­ren im Fernsehen etwas voreilig bekannt, daß die Ausweisun­gen vollzogen würden.
Es gründete sich daraufhin relativ schnell ein unabhängiges Komitee zur Unterstüt­zung der baskischen Gefangenen. Es wur­den Veranstaltungen und Demonstratio­nen organisiert, Weihnachtspakete in den Knast geschickt und die “Kommission für Recht auf Asyl” sammelte letztes Jahr über 25.000 Unterschriften.
Zur Chronologie der Ereignisse
Nach 27 Monaten Gefängnis beginnen am 11. August die drei baskischen Ge­fangenen Jesús Goitia, Mikel Ibañez und Luis María Lizarralde einen Hunger­streik “bis zur letzten Konse­quenz”, um nicht an Spanien ausgeliefert zu werden.
Freitag, 19.August:
Der Staatsanwalt unterschreibt die Aus­setzung des Verfahrens, weswegen die Basken in Uruguay verurteilt waren (gefälschte Papiere). Die Basken können jetzt an die spanischen Behörden überge­ben werden. Sie beschließen neben ihrem Hungerstreik, sofort einen Durststreik zu beginnen und werden in die Klinik “El Filtro” verlegt.
Samstag, 20.August:
Mehrere hundert Leute versammeln sich vor der Klinik, um ihre Solidarität mit den Basken zum Ausdruck zu bringen. Weder die Anwälte noch Abgeordnete der Fren­te Amplio dürfen mit den Gefangenen spre­chen. Die Presse trifft vor dem Ho­spital ein, um Interviews zu ma­chen und zu be­richten.
Sonntag, 21.August:
Der Gesundheitszustand der drei Basken verschlechtert sich nach Auskunft der be­handelnden Ärzte kontinuierlich. (Es ist der 11. Tag des Hungerstreiks).
Die mesa representativa des Gewerk­schaftsdachverbandes PIT-CNT ruft für den kommenden Tag alle ArbeiterInnen zur Kund­gebung vor dem Krankenhaus Filtro auf. Das Linksbündnis Frente Am­plio erabschiedet eine Erklärung, in der das Recht auf Asyl für die drei Basken gefordert wird. Rund um die Uhr sind Menschen vor der Klinik präsent.
Montag, 22.August:
Die Gewerkschaft der LehrerInnen der staatlichen Schulen beschließt, an diesem Tag zu streiken. Auch die Uni beendet ihre Kurse um 10 Uhr. Am Krankenhaus Filtro werden die Sicherheitsvorkehrungen ver­schärft. Der Erzbischof von Montevideo ruft dazu auf, alle rechtlichen Möglich­keiten auszuschöpfen. Innenmini­ster Gia­nola bleibt dabei, daß die Soli­daritätsdemos le­diglich politische Motive hätten und kün­digt an, daß die Ausliefe­rung am Mitt­woch, dem 24.8. durchge­führt werde. Am gleichen Tag wird be­kannt, daß ein Flug­zeug des spanischen Königs, ausgestattet mit Ge­räten für Intensivmedi­zin, die drei Basken abholen wird. 30.000 Unter­schriften wer­den zur Unterstützung eines Gesetzesan­trags vor­gelegt, der die Auslieferung an Spanien untersagt. Wäh­rend sich der Gesund­heitszustand der drei Basken stän­dig ver­schlechtert, treffen immer mehr Menschen vor der Klinik ein. Ein großer Demonstrationszug trifft gegen 21.30 Uhr vor der Klinik ein. Alle Bemühungen, po­litisches Asyl fÜr die Basken zu errei­chen, sind bislang ge­scheitert, die Regie­rung beharrt auf ihrer Hal­tung: “Es gibt einen Beschluß der Ju­stiz zur Ausliefe­rung der Basken, wer ge­gen die Ausfüh­rung dieses Beschlusses agiert, richtet sich gegen die Staatsge­walt.” Es wird berich­tet, daß mehrere Be­amte der spanischen Polizei in Monte­video anwesend seien, was jedoch nicht offiziell bestätigt wird. Der Gewerk­schaftsdachverband PIT-CNT ruft zum Streik und zu einer Kundgebung vor dem Krankenhaus Filtro auf. Die Medien be­richten laufend über die Auslieferung der Basken und über die Demon­strationen.
Dienstag, 23.August:
Viele Sektoren der Wirtschaft, wie Ban­ken, Transport und Bildung beteiligen sich am Streik. Tausende ziehen während des Tages vor die Klinik Filtro. Innenminister Gianola nennt den Hungerstreik eine “Erpressung”.
Luis María Lizarralde hat Nierenfunkti­onsstörungen und Jesús Goitia wird we­gen Herzbeschwerden auf die Intensivsta­tion verlegt. Ein Versuch, das politische Asyl für die Basken über die Kommission für Menschenrechte im Abgeordnetenhaus zu er­reichen, scheitert ebenfalls. Der Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT ent­scheidet mit knapper Mehrheit den Gene­ralstreik ab Mitternacht auszusetzen. Für den Mittwoch wird jedoch zu ei­ner er­neuten Kundgebung vor der Klinik auf­gerufen. Der uru­guayische Botschafter in Madrid teilt mit, er habe via Telefon Morddrohungen erhalten. Vertreter von Herri Batasuna erklären einen Tag später, daß die ETA nichts mit diesem anonymen An­ruf zu tun habe und nicht Uruguay, sondern lediglich die spa­nische Regierung für die Situation verantwortlich sei.
Ein Parlamentsabgeordneter von Herri Batasuna ist in Montevideo eingetroffen und führt Gespräche mit Parlamenta­riern, um die Auslieferung der drei Basken zu verhindern.
Mittwoch, 24.August:
Die Lage im Umfeld der Klinik, die seit Samstag von starken Polizeieinheiten ab­geriegelt ist, verschärft sich. Es gibt mehrere Verletzte, als die Polizei in den Morgenstunden einen Platz nahe der Kli­nik räumt. Immer mehr Menschen kom­men während des Tages zum Filtro. Seit mehr als vier Tagen sind trotz naßkaltem Wetter rund um die Uhr Leute vor Ort.
Um 15.30 Uhr fordert Minister Gianola die Menschen auf, sich zurückzuziehen und teilt mit, daß die Polizei jedem Ver­such, den Abtransport zu verhindern, mit allen Mitteln entgegentre­ten werde. Das Flugzeug aus Spanien trifft mit Verspä­tung ein, weil der Flughafen in Montevi­deo abgeriegelt und nach Bomben durch­sucht wird. Gegen 17 Uhr befinden sich etwa 10.000 DemonstrantInnen vor der Klinik im Stadtteil Jacinto Vera. Die Polizei beginnt, mit Schlagstöcken, Gas­granaten und berittenen Spezialeinheiten gegen die Demonstration vorzugehen. Journalisten und Fernsehleute werden von der Polizei angegriffen. Obwohl es bereits die ersten ernsthaften Verletz­ten gibt, bleibt eine Menge Leute jeder Altersstufe vor der Klinik präsent. Es sind Menschen aus Betrieben und Schulen, VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen und sozialen Bewegungen, SchülerInnen und StudentInnen, VertreterInnen von politi­schen Parteien etc.
Radio Panamericana erhält Drohanrufe und Morddrohungen ge­gen Journali­stInnen.
Kurz nach 20 Uhr fahren fünf Kranken­wagen, eskortiert von neun Polizei­fahrzeugen, zur Klinik. Sie wählen genau die Zufahrtsstraße, auf der die Mehrheit der DemonstrantInnen versammelt ist. Die Polizei beginnt, in die Menge zu schießen. Spezialeinheiten der Polizei, teilweise be­ritten, prügeln auf die DemonstrantInnen ein. Es sind via Radio und Fernsehen Schüsse zu hören.
Originalton Fernsehkanal 10: “Was pas­siert gerade?” – “Es ist furchtbar, die Poli­zei schießt auf die Leute. Hört ihr nicht die Schüsse?” – “Wie, Schüsse, gibt es einen Schußwechsel?” – “Nun, ich werde mich jetzt nicht in die Schußlinie begeben, um zu sehen, ob aus verschiedenen Rich­tungen gefeuert wird.”
Der Stadtteil Jacinto Vera ist von der Po­lizei abgeriegelt, in zahlreichen Straßen ist der Strom abgestellt worden. Über Radio Panamericana CX 44 und Radio CX 36 Centenario berich­ten die ReporterInnen zum letzten Mal über diesen Polizeiein­satz. Die Sender haben sich zu einer ge­meinsamen Ausstrahlung entschlossen. Es sind Schüsse und Schreie von Verletzten zu hören. Die JournalistInnen bitten drin­gend, Krankenwagen nach Jacinto Vera zu schicken. Radio Panamericana fordert alle Leute, vor allem die Jüngeren, auf, sich um Gottes Willen aus dieser Zone zurück­zuziehen, in der die Polizei im Schutze der Dunkelheit regelrecht Jagd auf Menschen macht.
Sämtliche Zufahrtsstrassen zum Flughafen sind hermetisch abgesperrt. Aus östlicher Richtung kann für einige Stunden nie­mand mehr nach Montevideo fahren. In verschiedenen Straßenzügen rund um den Flughafen sind Strom und Telefon abge­stellt. Helikopter kreisen permanent über dem Flugfeld. 12 Krankenwagen und 30 Polizeifahrzeuge bilden die Wagenko­lonne, welche die drei Basken zur Luft­waffenbasis am Flughafen Carrasco fährt, wo das spanische Flugzeug bereitsteht. Zwei uruguayische Minister übergeben die drei Basken an die spani­schen Behör­den.
Die Opfer
Der Demonstrant Alvaro Fernández Mor­roni (24 Jahre) stirbt an den Folgen seiner Schußverletzungen. Es gibt über 100 Ver­letzte, viele davon mit Schußverletzungen, wobei die Dunken­ziffer noch höher liegen dürfte, da nicht alle Verletzten in Kran­kenhäusern behandelt wurden. Esteban Mazza, Angestellter im medizinischen Dienst, ist schwer verletzt. Auf ihn ist viermal geschossen worden, als er einen Verletzten versorgen wollte. Ein 18jähriger Student schwebt in Lebensge­fahr, er hat u.a. eine schwere Schußverletzung am Kopf. Zahlreiche Menschen waren vorübergehend festge­nommen worden.
Am Donnerstag wird der Abgeordnete von Herri Batasuna des Landes verwiesen.
Am Freitag, den 26. August, wird Alvaro Fernando Morroni be­erdigt. Viele tausend Menschen beteiligen sich am Trauerzug, der auch zu einer großen Demonstration gegen Repression und Gewalt wird.
Die Regierung ordnet am gleichen Tag die Schließung von Radio CX 44 und Radio CX 36 für 48 Stunden an. Sie beruft sich da­bei auf ein Dekret aus der Zeit der Mi­litärdiktatur, in dem festgelegt wurde, daß Duplex-Sendungen (gemeinsa­me Ausstrahlungen) 14 Tage im voraus an­gemeldet werden müssen. Wenige Stun­den danach ordnet die Regie­rung die end­gültige Schließung von Radio Paname­ricana CX 44 an. Formaljuristisch wurde der Sender geschlossen, weil beim Eintritt neuer Gesellschafter angeblich versäumt wurde, offiziell alte Gesell­schaftsteile ab­zutreten und sich von der Behörde die entsprechenden Stempel zu besorgen. Die politische Begrün­dung des Innenministers ist freilich eine andere – Agitation und Aufruf zur Gewalt.
Pikanterweise operiert die Regierung mit einer Verordnung, in der an anderer Stelle auch steht, daß keine Person oder wirt­schaftliche Gruppe über mehr als zwei Medien verfügen darf. Wenn dies tatsäch­lich angewendet würde, könnten morgen die meisten Zeitungen und Radios dicht­machen, weil einige wohlha­bende Leute gleich mehrere Sender und Zeitungen ha­ben.
Auf juristischer Ebene laufen z.Zt. Ver­fahren gegen diese Anordnung. Die Mit­arbeiterInnen von Radio Panamericana setz­ten sich für den Erhalt ihrer Ar­beitsplätze ein, und es ist schon erstaunlich, wie breit auch die internatio­nale Solidarität mit dem geschlossenen Sender ist. So sind Faxe aus aller Welt eingetroffen von Journalistenverbänden, Parteien, Gewerkschaften, anderen Radio­stationen, dem Weltverband der Comunity Radios AMARC. In mehreren Ländern wurden spontan Flugblätter verteilt und zu Spenden aufgerufen. Die vergilbte Wand im Empfangsraum des Radios ist neu mit Briefen und So­lidaritätserklärungen “tape­ziert”.

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