WENN DAS WORT SICH DES BILDES BEMÄCHTIGT

Parsi:
Sa 09.02. 17:30 Kino Arsenal 1
So 10.02. 14:00 Werkstattkino@silent green

Vivir en junio con la lengua afuera:
Sa 09.02. 13:00 Kino Arsenal 1
So 10.02. 17:00 Werkstattkino@silent green

Sektion: Forum Expanded

Foto: © Eduardo Williams, Mariano Blatt


Bewegungen der Kamera in Vergangenheit und Zukunft. Das aufrichtige Wort kommt nicht aus der Mode, nutzt sich nicht ab, stirbt nicht. Die Erinnerung an den Dichter Reinaldo Arenas lebt stärker denn je im Gedächtnis der Kubaner*innen. Der Regisseur Coco Fusco in Bewusstsein darüber, integriert sie in seinen Kurzfilm Vivir en junio con la lengua afuera. In einem Kuba zu Zeiten des tiefgreifenden Wandels verfolgt und aufgrund seiner Homosexualität eingesperrt, kehrt Reinaldo Arenas nach Wiedererlangung der ersehnten Freiheit zum Lenin-Park zurück, wo er sich zuvor vor der Repression versteckt hatte. Und auf demselben Platz beginnen die Geschichte von seinem Leben und das Vorlesen seines bekanntesten Gedichtes, das den Titel trägt „Einführung des Glaubenssymbols“.

© Coco Fusco

Auf herzzerreißende und zeitlose Weise rezitieren drei Personen das Gedicht, so als ob sie ihr ganzes Leben auf diesen Moment gewartet hätten. Aufrichtigkeit von der aufrichtigsten Sorte und Schmerz von der schmerzhaftesten Sorte. Kurios und fast paradox erscheint, dass zwei der Vortragenden, ein Paar, kurz davor steht aus ihrem Haus geworfen zu werden – Zwangsvertriebene im heutigen, “modernen” Kuba. Die offensichtliche Aktualität des Gedichts fällt auf. Es scheint beinahe, dass hier anstelle eines Gedichts das Manifest einer politischen Demonstration des laufenden Jahres verlesen wird. Dank einer unprätentiösen Kameraführung identifizieren sich die Zuschauer*innen fast sofort mit jedem einzelnen Wort von Reinaldo Arenas, der so lebendig ist wie nie.

Bewegungen der Kamera in Gegenwart und Vergangenheit. Durch ein Zusammenwirken wilder Bilder erreicht uns Parsi aus der Hand der Regisseure Eduardo Wiliams und Mariano Blatt. Begleitet von einer Kamera, die in einem stetigen Auf und Ab die Straßen durchkämmt, beginnt eine Stimme aus dem Off verschiedene virtuelle Bilder, Empfindungen und Erinnerungen aufzuzählen, die zu sein “scheinen” oder auch nicht. Ein frenetisches Gedicht und Wortspiel, das sich ebenso schnell bewegt wie die Kamera, die uns mit umrundenden Bewegungen das Gefühl gibt, in einem Hamsterrad zu sein. Gefilmt wird tief, etwa auf Schulterhöhe.

© Eduardo Williams, Mariano Blatt

Stadtviertel mit Prostituierten und Transvestiten, die die Kamera sehen und lachen. ”Sieht aus, als ob es hier einen Dreier geben wird”, sagt die Stimme aus dem Off. Frauen und Kinder nähern sich der Kamera und betrachten sie von der Seite, so als ob sie eine weitere Person wäre. Die Kamera fährt wie zum Herumschnüffeln in ein Haus hinein, dann wieder hinaus, ”Das ist ja wie beim Karneval”, sagt die Stimme, während die Kamera anfängt, sich wie ein rundes, betrunkenes Geschoss zu bewegen. Die Wortspielerei nimmt immer mehr an Bedeutung zu während die Minuten vergehen. Die Kamera hüpft von Hand zu Hand, gleitet wie auf Rollschuhen auf der Straße und zwischen den Autos hindurch, so schnell wie die Worte. Die Zuschauer*innen folgen wie gebannt den Bildern und versuchen sie mit den gehörten Worten zu assoziieren. Die Kamera steigt, steigt immer mehr. Der Blickwinkel vergrößert sich. “Es scheint etwas ästhetisch Schönes, aber moralisch Verwerfliches zu sein”, sagt die Stimme.

Man weiß nicht, ob es die Worte oder die Bilder sind, die das Bestechende an Parsi ausmachen; oder die Kombination beider, die Schärfen des Bildes oder die Unschärfen, die Aufrichtigkeit der einzelnen Sätze oder deren Unaufrichtigkeit.

Vivir en junio con la lengua afuera und Parsi laufen 2019 im Forum Expanded der Berlinale.

DIE STIMME DER MARGINALISIERTEN HOMOSEXUALITÄT

Foto: © Joanna Reposi Garibaldi, Gabriela Jara


Wer ist Pedro Lemebel? Er ist ein Erdbeben. Er ist die Straße. Er ist die unaufhaltsame Kraft, die von der armen, marginalisierten Homosexualität ausgeht. “Wenn dieser Homosexuelle AIDS hat, aus der dritten Welt kommt, arm und Indianer ist, wird er ermordet”, sagt Lemebel.

Er ist einer der bedeutendsten Künstler und Schriftsteller Chiles, in der Welt jedoch so gut wie unbekannt. Mit seinem Werk konfrontierte er das Land sowohl während der Pinochet-Diktatur als auch während der jüngsten chilenischen Demokratie in den neunziger Jahren mit unbequemen Themen.

© Joanna Reposi Garibaldi, Gabriela Jara

Wer sich für Ihn interessiert, hat jetzt die Möglichkeit den Dokumentarfilm Lemebel (Panorama Dokumente) von der Regisseurin Joanna Reposi Garibaldi auf der 69. Berlinale zu sehen. Der Film benutzt zahlreiche Archivaufnahmen seiner provokanten und teils riskanten Performances, die sich an Grenzsituationen vorwagen, sowie öffentliche Lesungen seiner scharfzüngigen Texte und TVInterviews, die den/die Zuschauer*innen Lemebel’s Werk und Genie entdecken lassen.

Gleichzeitig ist der Film eine Art audiovisuelles essayhaftes Porträt und Erinnerungsstück, das die Regisseurin mit intimen Aufnahmen und Interviews anreichert. Während der acht Jahre bis zu seinem Tod im Jahr 2015 wurde Lemebel von ihr gefilmt. Persönliche Reflexionen des Künstlers über seine Kindheit, seine Ängste, seine Beziehung zu den Eltern, der Horror der Diktatur und Probleme mit Alkoholismus werden in diesem Material festgehalten. Lemebel’s Stimme führt durch den Film. Dazwischen sprechen sein Bruder Jorge und die Dichter*innen Sergio Parra und Carmen Berenguer. Die Regisseurin schafft durch die Projektion von Fotografien Lemebels und Bilder seiner Performances gegen die nde in seinem einstigen Wohnviertel zusätzliche visuelle Ebenen. Eine innovative Art von Ästhetik, die sie als repetitives Hilfsmittel in dem Film einsetzt.

© Joanna Reposi Garibaldi, Gabriela Jara

Auf die traditionelle, dokumentarische Form und ebenso auf die Vermittlung von Hintergrundinformation über die chilenische Geschichte, die für den/die Zuschauer*innen wichtig sein könnten, verzichtet dieser Dokumentarfilm. Das Anliegen des Films von Joanna Reposi Garibaldi ist, vermittels des mit dem Künstler geführten intimen Gesprächs, sein Werk, seine Kraft und seine Stimme in der Welt bekannter zu machen.

Dafür ist die Berlinale die richtige Bühne.

 

BRASILIANISCHE COWBOYS

© Sabrina Maniscalco


Cowboy Marcelo wird zum rappenden Moderator beim Rodeo, ist aber im Alltag eher introvertiert. Er liebt das Leben auf dem Land und auch seine Rinder, denen er Namen gibt und sie nur ungern verkauft. Der Film spielt im Bundestaat Minas Gerais am Fluss Urucuia, die dort lebenden Sertanejos (Landbevölkerung) leben mit der Natur und werden vom modernen Brasilien ignoriert. Einmal, im Gespräch mit seinem Kollegen Kaic, bricht es aus Marcelo heraus, „die Leute aus der Stadt haben keine Ahnung, aber meinen die Welt zu regieren.“ Der dreißigjährige Marcelo ist ein empathischer und bedachter Mensch, dem seine innere Erschütterung äußerlich kaum anzumerken ist als er bedroht wird und ihm um die hundert Rinder gestohlen werden. Und obwohl er anschließend seinen Beruf aufgibt, nimmt er doch das Ereignis zum Anlass aktiv etwas Neues zu probieren. Der Raub im Film fand auch in Marcelos realem Leben statt und ist als einer der größten in der Region bekannt. Überhaupt orientiert sich die Handlung an dem Leben seiner Darsteller*innen.

© Sabrina Maniscalco

Das eigentümliche an dem Ruhe ausstrahlenden, besinnlichen Film, der vom ländlichen Brasilien quasi dokumentarisch erzählt, ist seine Authentizität. Die Schauspieler*innen sind Laien und spielen Figuren mit ihren echten Namen. Der Regisseurs Helvécio Marins hat sich Zeit gelassen, sich darauf konzentriert die Menschen kennen zu lernen bevor er sie vor die Kamera holte. Damit erweckt das Geschehen auf der Kinoleinwand das Gefühl zu Besuch zu sein. Es ist eine Einladung zu beobachten wie Cowboys auf Pferden eine Herde auf dem Weideland zusammenhalten, wie Heiligenfiguren vor einem Rodeo um Schutz gebeten werden. Aus der nordamerikanischen Kultur stammend haben sich die brasilianischen Rinderzüchter*innen eine neue, hybride Form des Rodeos geschaffen, dem sich die Protagonisten des Films mit großer Leidenschaft widmen. Die rhythmischen Ansagen Marcelos sind manchmal Reime zur Huldigung der Cowboy-Kultur, dienen auch mal zur Unterstreichung männlicher Identität und handeln vor allem von der Solidarität zwischen den Sertanejos, was teilweise als deutliche Kritik an den herrschenden politischen Verhältnisse in Brasilien formuliert wird.

© Sabrina Maniscalco

Weil Erklärungen oft fehlen, wirken einige Szenen fast mystisch, einem dem/ der Besucher*in unbekannter Gefilde bekannten Gefühl. Querência ist eine Reise in eine auch für viele Brasilianer*innen neue Gegend, welche einem die Menschen und das Land näher bringt.

SOZIAL ÜBERMANNT

©TuVaVoirs


Im Film erbebt die Erde zum ersten Mal, da hat Pablo (Juan Pablo Olyslager) gerade seine Liebe zu einem Mann gegenüber seiner Familie offengelegt. Die Erschütterungen erfassen das provinzielle guatemaltekische Familienanwesen und das gesetzte Weltbild der Verwandtschaft, in das Pablo vorher so gut als Bruder, Sohn, Vater und Ehemann zu passen schien. Als er daraufhin ein neues Leben mit seinem geliebten Francisco (Mauricio Armas Zebadúa) in der Stadt sucht, holt der strenge, evangelikale Glaube seiner Familie den Protagonisten immer wieder ein. Seine Nächsten sehen in seinem Verhalten krankhafte Sünde und setzen alles daran, ihn auf Gottes rechten Weg zurückzuführen.

©TuVaVoirs

Der guatemaltekische Regisseur und Drehbuchautor Jayro Bustamante präsentiert dieses Jahr mit Temblores bereits seinen zweiten Film auf der Berlinale. Sein Erstling Ixcanul gewann 2015 den Sibernen Bären. Temblores erscheint wie eine persönliche Anklage der Zustände, die sich dieses Mal nicht in einer indigenen Gemeinschaft wie der Ixcanul‘s manifestieren, sondern im Umfeld derjenigen, die in der guatemaltekischen Gesellschaft am längeren Hebel sitzen. Das macht den Film umso bemerkenswerter.

Die Darstellung einer konventionellen Familie aus der Oberschicht treibt Bustamante sogar so weit, dass sie fast klischeehaft wirkt. Visuell vermittelt der Regisseur Strenge und Härte durch das traditonelle Ambiente der dunkelbraun getäfelten Villa der Familie und die steife Etikette, mit der sie einander begegnen. Bustamante zeichnet eine Gesellschaft, die das göttliche Wirken in jedem Staubkorn vermutet und sich gegenüber Pablo äußerst restriktiv verhält. So restriktiv, dass sich seine queere Identität nicht einmal den Zuschauer*innen offenbaren darf. Selbst Pablo schafft es nicht, sich mit sich selbst zu identifizieren, dabei raten ihm paradoxerweise Mutter (Magnolia Morales) und Ehefrau (Diane Bathen), dass er sich nur selbst annehmen müsse um seinen Mann zu stehen. Außer in den Momenten in denen der Familienvater sich verzweifelt nach seinen Kindern sehnt, erfahren die Zuschauer*innen nicht viel über sein Innenleben. Nicht einmal die Liebe zu Francisco wird begründet und wirkt fast oberflächlich. Eine Befreiung nach dem Coming-Out bleibt für Pablo aus, da kann noch so oft die Erde beben.

©TuVaVoirs

Um seiner Familie wieder näherzukommen, unterzieht sich Pablo den nicht gerade einfühlsamen Methoden seiner evangelikalen Gemeinde. Ausgerechnet die weiblichen Charaktere spielen die Hauptrollen bei den Zeremonien, die Pablo die Weiblichkeit wie einen Dämon austreiben sollen. Die Pastorin, eine kaltherzige Hüterin der Heteronormativität, steht der Familie bei und leitet Männlichkeits-Camps. Die Ehefrau besteht auf Pablos Teilnahme. So sind die Frauen die größten Verfechterinnen des begrenzten Männlichkeitsbildes, das der Film offenbart. Eine anti-feministische These? Jedenfalls werden die Mittel zur Heilung Pablos bis ins Äußerste ausgereizt. Es wird so abstrus, dass wohl ungläubige Lacher im Kinosaal zu erwarten sind.

Die Besonderheit von Temblores liegt weniger in der eher durchschnittlichen filmisch-ästhetischen Wirkung, sondern in Bustamantes Virtuosität als Drehbuchautor. Die gekonnt in das Skript eingebetteten Botschaften über Identität, Zugehörigkeit, Glaube und Männlichkeiten sollen vom Publikum entschlüsselt werden und machen den Film gleichzeitig zu einem Genuss und einem diskutablen Input.

MISSIONARE DES SWINGER-SEX

Foto: © Desvia


Purpurne Lichter. Ein tanzendes Paar auf einer großen Elektroparty. Der Text der Musik deutet eine christliche Botschaft an. Sie hebt die Hände und denkt an einen gemeinsamen Traum. So beginnt Divino Amor (Göttliche Liebe), der uns die Geschichte von Joana und Danilo erzählt, einem brasilianischen Paar mittleren Alters. Joana arbeitet im Standesamt und hilft ihren Nächsten dort auf ganz persönliche Weise, Danilo stellt Blumengestecke für Beerdigungen her. Sie verstehen sich sehr gut und lieben sich, aber etwas fehlt ihnen noch, um sich richtig glücklich zu fühlen: ein Kind.
Begeistert und ohne Ruhepausen nehmen sie auf dem Weg zu ihrem großen Ziel an allen möglichen schulmedizinischen, alternativen und religiösen Behandlungen teil. Sie selbst sind eifrige Anhänger und ehrenamtliche Mitarbeiter einer religiösen Sekte, die sich der Lösung von Eheproblemen widmet. Allein für das Betreten der Räumlichkeiten ist eine Hochzeitsurkunde Bedingung. Joana wirbt neue Ehepaare mit Problemen an; da sie praktischerweise beim Standesamt für Scheidungen zuständig ist, kann sie die Rekrutierungsgespräche für ihre Kirche direkt im Büro führen. Interessierte Paare nimmt sie zu Gesprächskreisen mit. Dort schütten sie ihr dann ihr Herz aus, beten gemeinsam, lesen aus der Bibel und finden wieder zueinander.
Foto: © Desvia
Die Geschichte entwickelt sich zunächst langsam und erwartungsgemäß – bis zur ersten Taufe der neuen Sektenmitglieder: Ein Paar badet das andere und sie liebkosen sich gegenseitig bis hin zu einem unerwarteten Ende: die Kirche wird unvermittelt zum Swingerclub. Schweigen und Überraschung im Kinosaal.
Nach weiteren Szenen inniger Gebete und einigen (unnötig langen) Sexszenen am Rande des Softpornos beantwortet sich schließlich die zentrale Frage: Joana wird schwanger. Nur – von wem?
Die schauspielerischen Leistungen in Divino Amor überzeugen, insbesondere die von Dira Paes, die uns als Joana die Kraft und Überzeugung hinter ihrem großen Traum mit enormer Ausdruckskraft nahebringt. Das Drehbuch erlaubt den Schauspieler*innen, die Figuren mit Leben zu füllen und erzählt die kontroverse und gleichzeitig etwas verrückte Geschichte mit einfachen Mitteln, ohne nenennswert ins Karikaturenhafte oder Vulgäre abzugleiten. Regisseur Gabriel Mascaro hat ein interessantes Werk geschaffen, das sich in sauberen Einstellungen voller futuristischer Grüntöne und Neonpurpur mit Weltanschauungen, radikaler Selbstüberzeugung und religiöser Indoktrinierung beschäftigt.

AUF DER SUCHE NACH DER BLAUEN BLUME

© Carneiro Verde


Komm doch näher! Willst du Kaffee?“ fragt Marcelo und meint damit den Kameramann. Kurze Zeit später filmt dieser ihn von der gegenüberliegenden Seite des Tisches. Die Zuschauer*innen können Marcelo beim Frühstück genau beobachten, die Kamera scheint dabei für ihn kein störendes Element zu sein. Bewusstkommuniziert und spielt mit ihr. Schon in den ersten Szenen von A rosa azul de Novalis wird deutlich, dass es sich hier um keinen gewöhnlichen Dokumentarfilm handelt. Als „dokumentarische Inszenierung“ bezeichnen die jungen brasilianischen Filmemacher Gustavo Vinagre und Rodrigo Carneiro ihr Projekt, das den 40-jährigen Marcelo Diorio in seiner Wohnung in São Paulo (die sich im Übrigen überall auf der Welt befinden könnte) beobachtet.

© Carneiro Verde

Der Film, der im diesjährigen Berlinale Forum zu sehen ist, folgt Marcelo in seinem normalen Tagesablauf – Frühstück, Lesen, Pflanzenpflege, Online-Dating – unterbrochen von Sequenzen, in denen er aus seinem Leben erzählt oder in traumartigen Szenen in die Vergangenheit zurückkehrt. Seine zu Beginn betonte HIV-Diagnose verliert im Laufe des Films an Bedeutung und scheint auch für ihn keine große Sache zu sein. Er bezeichnet die ihm schon jahrelang bekannte Erkrankung als seine „kalkulierte Tragödie“ und weiß, dass er nicht an ihr sterben wird.

Stattdessen sind in seiner Welt bestimmte Rituale wichtiger. Da ist etwa die spezielle und ausgiebige Pflege seines Körpers und vor allem das Lesen wie viele der Forumsfilme in diesem Jahr hat auch A rosa azul de Novalis einen starken Bezug zu geschriebenen Texten. Die Bücher in seinem Haus sind Marcelos Schätze, gehören genauso zu seinem Tagesablauf wie das Kaffeekochen oder die Gesichtsmaske und durchziehen seine Träume. Vor allem Novalis und seine blaue Blume haben es ihm angetan, ein Porträt des deutschen Frühromantikers schmückt seinen Treppenaufgang. Die Frage nach Marcelos eigentlichem Beruf wird im Film mehrmals gestellt, jedoch immer wieder verworfen: Marcelo lebt durch seine zelebrierten Rituale. Sie füllen seinen Tag und sein Leben, eine andere Arbeit braucht er nicht.

© Carneiro Verde

Neben Alltäglichkeiten erfahren Zuschauende viel über die Vergangenheit des Protagonisten. Die besondere Beziehung zu seinem verstorbenen Bruder, die Erinnerungen an seine Eltern und deren Nichtakzeptanz seiner Homosexualität, seine kühnsten Fantasien und Traumata aus Kindheitstagen, alles ist präsent und wird auf besondere Art und Weise von Gustavo Vinagre und Rodrigo Carneiro verbildlicht. Durch die Form der dokumentarischen Inszenierung wird der Film zu einer ergebnisoffene Suche nach Möglichkeiten, wie ein einzelnes Leben beschrieben und verstanden werden kann. Marcelo, der selbst an der Entstehung des Drehbuchs beteiligt war, macht sich die gleichen Gedanken und begibt sich frei nach Novalis‘ Vorbild auf die Suche nach seiner eigenen blauen Blume. Offen und ehrlich lässt er sich und seine sexuelle Begegnung von der Kamera beobachten. So entsteht eine 70-minütige, für manch eine*n sicher gewöhnungsbedürftige, Suche nach der blauen Blume, die so manch ungeahnten Einblick ermöglicht.

 

DER HERR DER FLIEGEN IN KOLUMBIEN


Kein Flugzeugabsturz, keine einsame Insel und keine europäischen Schulknaben. Und doch tobt die grinsende Schweinefratze, der „Herr der Fliegen“ wie man ihn aus William Goldings gleichnamigen Roman kennt, eindringlich durch Monos, den neuen Film des ecuadorianisch-kolumbianischen Regisseurs Alejandro Landes, der dieses Jahr im Berlinale Panorama zu sehen ist. Monos“, so nennt sich die achtköpfige Gruppe von jungen Gueriller@s, die in den kolumbianischen Anden ausharrt. In der Abgeschiedenheit der Berge sollen die etwa 12- bis 16-Jährigen bewaffnet und auf sich gestellt eine nordamerikanische Geisel und eine Milchkuh bewachen. Kontakt zu Befehlshaber*innen haben sie nur über ein Funkgerät. Zu welcher Guerilla-Organisation gehören sie? Und warum unterstützt kein Erwachsener die Jugendlichen bei der herausfordernden Aufgabe?
Auf den ersten Blick wirken die „Monos“ weniger wie Aufständische, sondern mehr wie gewöhnliche, überdrehte Teenager auf einer Klassenfahrt mit zugegeben hippieskem Charme: Umgeben von Bergspitzen und klarer Luft toben die Jugendlichen frei durch die Natur, sitzen gemeinsam am Feuer, erzählen, lachen und entwickeln ihre ersten romantischen Gefühle. Sehr eindrucksvoll sind auch ihre ausgelassenen Tänze und bunten Gesichtsbemalungen. Jedoch werden die vermeintlich idyllischen Szenen durchbrochen durch die harten Militärübungen der Kinder und die untereinander herrschende Hierarchie. Zum Spaß schießen die „Monos“ mit ihren Waffen wild in die Luft und sind ihrem Anführer „Lobo“ (Wolf) treu ergeben. Es lässt sich also nichts Gutes ahnen, als die Jugendlichen eines Morgens bewaffnet und schreiend einen ihrer Kameraden verfolgen, bis dieser ins Gras fällt. Sie geben ihm heftige Schläge auf das Hinterteil, während sie laut mitzählen. Erst beim 15. Schlag rufen sie dem am Boden Liegenden plötzlich lachend zu: („Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“)

Ein deutliches Aufatmen geht nach dieser Szene durch den Kinosaal, welches jedoch nicht lange anhält, denn der Film nimmt schnell eine sogartige Spannung an, als die Jugendlichen in ernsthafte Schwierigkeiten geraten und die Situation eskaliert. Letztlich spielt es keine Rolle, zu welcher Organisation die „Monos“ gehören oder welchen Zweck ihre Aktion hat: Mit starker und gewollter Referenz zum Herr der Fliegenlegt der Film seinen Fokus auf ihre Gruppendynamik in der eskalierenden Gewalt. Die unübersehbare Ähnlichkeit zum berühmten Roman nimmt Monos jedoch keinesfalls seine Spannung. Vielmehr kommen in dieser neuen Interpretation weitere interessante Faktoren hinzu, zum Beispiel das Machtverhältnis zwischen den Jugendlichen und der etwa 40-jährigen Gefangenen sowie sexuelle Spannungen. Außerdem treffen häufige Kritikpunkte am Herr der Fliegen – beispielsweise die rassistische Darstellung von Wildheit oder der komplette Verzicht auf Mädchen in der Geschichte – wohl kaum mehr zu auf diese gemischte und vielfältige Gruppe von Jugendlichen aus Lateinamerika in Monos. Alejandro Landes schafft es, mit seinem Film eine eigene Art der Geschichte zu finden und die Zuschauer*innen mitzureißen auf eine wilde, bildgewaltige und spannende Fahrt, die sie atemlos zurücklässt.

VIELFALT AUF DEN ZWEITEN BLICK

Monos: Eine Gruppe von acht jungen Rebellen bewacht eine Geisel in den kolumbianischen Bergen (Foto: Alejandro Landes)

Auf der letztjährigen Berlinale waren lateinamerikanische Filme in so hoher Zahl und in nahezu allen Sektionen so erfreulich präsent, dass vielleicht die eine oder andere Erwartung an ihre 69. Ausgabe zu hoch ausfallen musste. Womit aber wohl doch niemand gerechnet hatte: Keine einzige zwischen Tijuana und Ushuaia erzählte Geschichte schaffte es dieses Mal in den Wettbewerb. Nur ein Film des Brasilianers Wagner Moura läuft dort – dieser allerdings außer Konkurrenz. Auch Afrika geht leer aus. Insgesamt sind 16 der 23 ausgewählten Filme Produktionen oder Koproduktionen aus Europa (davon allein 11 aus Deutschland oder Frankreich), drei weitere Filme kommen aus Kanada und den USA. So hat das mediale Aushängeschild der Berlinale dieses Mal leider einen eurozentristischen Beigeschmack, der aus Perspek- tive des globalen Südens enttäuschend ist (übrigens im gleichen Jahr, in dem im Herzen Berlins das wegen mangelnder Sensibilität für die koloniale Geschichte seiner ethnologischen Sammlungen kritisierte Humboldtforum eröffnet werden soll). Spielten hier nach den zahlreichen Auszeichnungen für die cineastischen Beiträge des Subkontinents im letzten Jahr politische Gründe eine Rolle? Wie auch immer, für den Abschied Dieter Kosslicks – der langjährige Direktor verantwortet das Festival nun zum letzten Mal – hätten sich lateinamerikaaffine Kinofans sicher etwas anderes gewünscht.

Breve historia del planeta verde: Eine Trans*frau macht eine außerirdische Begegnung (Foto: Santiago Loza)

Die gute Nachricht: Trotz des Ungleichgewichts im Wettbewerb gibt es mit bis Redaktionsschluss 21 neuen Lang- und elf Kurzfilmen insgesamt viele lateinamerikanische Filme zu sehen. Sie konzentrieren sich mit wenigen Ausnahmen auf die Sektionen Panorama, Forum und Generation. Dabei ist Brasilien das mit Abstand am meisten gezeigte Land. Während aus Südamerika sonst nur Argentinien, Kolumbien, Peru und Chile als Schauplätze präsent sind, ist mit Costa Rica und Guatemala erfreulicherweise Mittelamerika wieder besser als zuletzt vertreten. Auch die Karibik ist mit Beiträgen aus der Dominikanischen Republik sowie Kuba (nur in ausländischen Produktionen) dabei. Mexiko komplettiert (wenn auch nur in Kurzfilmen) den Länderreigen.

Je sechs Lang- und Kurzfilme aus Lateinamerika wurden von Frauen gedreht. An diesem Punkt kann man zumindest gewisse Bemühungen um ein Gleichgewicht feststellen, auch wenn immer noch Luft nach oben ist. Thematisch gibt es wieder ein breites Spektrum von sehr politischen Themen bis zu Familiengeschichten, von LGBT*-Protagonist*innen zu Evangelikalen, von Stadt zu Land, von filmischen Biografien bis hin zu Geschichten über Aliens. Nur auf den Glamour-Faktor in Form von großen Stars muss dieses Mal verzichtet werden. Eher ist das Gegenteil Programm: Mehrere interessante Debütfilme bekamen eine Chance, dokumentarische Formen bilden einen Schwerpunkt, dazu kommt die erwähnte große Zahl von Kurzfilmen. Hinsehen lohnt sich – spätestens auf den zweiten Blick dürfte für viele etwas dabei sein.

Marighella: Die Geschichte eines Revolutionärs (Foto: © O2 Filmes)

Fast alle lateinamerikanischen Filme feiern dieses Mal auf der Berlinale ihre Weltpremiere, daher können Besprechungen erst ab dem Zeitpunkt der ersten öffentlichen Aufführung veröffentlicht werden. In dieser Ausgabe gibt es deswegen nur einen Überblick.

Im Wettbewerb hält Marighella (BRA) die Fahne des Subkontinents hoch, eine unter dem Eindruck rechter Drohungen gedrehte Filmbiografie über den gleichnamigen brasilianischen Kommunisten und Revolutionär. Walter Moura erzählt die Geschichte jenes Mannes, der als Verfasser des Minihandbuchs des Stadtguerilleros international Einfluss etwa auf die Black Panther oder die RAF hatte und 1969 zur Zeit der Militärdiktatur von der politischen Polizei ermordet wurde.

Mit zehn Beiträgen finden sich die meisten Langfilme in der an gesellschaftlichen Themen orientierten Sektion Panorama, die sich dieses Jahr nach eigenem Bekunden mit „Zeiten des Ausbruchs“ beschäftigt.

Die kapitalismuskritische Dokumentation Estou me guardando para quando o carnaval chegar (BRA) erzählt vom Leben der von der Jeansindustrie abhängigen Menschen in der Stadt Toritama, für die der Karneval die einzige Entspannung ist.

Greta (BRA) zeigt ein queeres, generationenübergreifendes Brasilien. Ein älterer schwuler Krankenpfleger nimmt einen Patienten bei sich auf, während seine Nachbarin, eine erkrankte Trans*frau, Teil der Parallelgesellschaft ist. Um eine andere Trans*frau geht es in Breve historia del planeta verde (ARG/D/BRA/E): Als Tania erfährt, dass ihre Großmutter die letzten Lebensjahre in der liebevollen Gesellschaft eines Aliens verbracht hat, reist sie mit zwei Freund*innen durch das ländliche Argentinien, um die Kreatur an ihren Ursprungsort zurückzubringen. Mit Temblores (GUA/F/LUX) stellt Jayro Bustamante, der 2015 für Ixcanul einen silbernen Bären gewonnen hatte, seinen zweiten Film vor, der vom Coming-Out eines evangelikalen Familienvaters und den Folgen erzählt. Ebenfalls um das evangelikale Milieu geht es in Divino Amor (BRA/URU/CHI/DK/NOR/SWE): Joana, Mitglied in der Sekte dieses Namens, therapiert trennungswillige Paare durch ritualisierte Sexualakte mit ihr und ihrem Mann, ihre Beziehung und ihr Glaube leiden jedoch unter dem unerfüllten Kinderwunsch.

Monos: Eine Gruppe von acht jungen Rebellen bewacht eine Geisel in den kolumbianischen Bergen (Foto: Alejandro Landes)

La Arrancada (F) ist ein Porträt der Familie der kubanischen Leistungssportlerin Jenniffer und gleichzeitig das ihres Landes im Wandel. In Los miembros de la familia (ARG) kommen Geheimnisse eines Geschwisterpaares ans Licht, die aufgrund äußerer Umstände in einem verlassenen Haus festsitzen.

Monos (KOL/ARG/NL/D/DK/SWE/URU) befasst sich mit dem bewaffneten Konflikt in Kolumbien: Eine Gruppe von acht jungen Rebellen bewacht eine Geisel in den kolumbianischen Bergen, als ein Zwischenfall mit ihrer Kuh eine Überlebensschlacht auslöst.

La fiera y la bestia (DOM/ARG/MEX) erinnert in Form eines traumwandlerischen Spielfilms an den ermordeten dominikanischen Filmemacher Jean-Louis Jorge. Und Joanna Reposi montiert in Lemebel (CHI/KOL) einen hypnotischen Bilderfluss zu ihrem Porträt des 2015 verstorbenen chilenischen Autors, Aktivisten und Performancekünstlers Pedro Lemebel.

Das Forum bleibt gemäß der Maxime „Risiko statt Perfektion“ seiner bekannten Experimentierfreudigkeit treu. In Antonella Sudasassis erstem Spielfilm El despertar de las hormigas (COR/E) geht es um weibliche Sexualität und Selbstbestimmung in einer lateinamerikanischen Gesellschaft. Das Leben der 30-jährigen Isabel orientiert sich an den Erwartungen ihrer Familie, sie beginnt jedoch langsam mehr an sich selbst zu denken. In Camila Freitas Debüt, dem Dokumentarfilm Chão (BRA), kämpfen Landarbeiter*innen mittels politischem Aktivismus für Land und die ökologische Bewirtschaftung der Erde. Lapü (KOL) dreht sich um das Ritual der zweiten Beerdigung bei den Wayuu, das für diese indigene Gruppe aus dem Norden Kolumbiens eine große Bedeutung hat. In Fern von uns (ARG) sehen wir die Geschichte der Wiederannäherung von Ramira an ihre Mutter, ihren dreijährigen Sohn und die Gemeinschaft deutschstämmiger Bauern im argentinischen Regenwald. Auf der anderen Seite der Grenze gibt Marcelo in Querência (BRA/D) in der brasilianischen Pampa nach einem Überfall seinen Job als Cowboy auf und findet als Ansager bei Rodeo-Shows ein neues Leben.

Vom 40-jährigen, HIV-positiven Marcelo aus São Paulo erfahren wir in A rosa azul de Novalis (BRA), dass er ein besonderes Verhältnis zu Büchern hat, insbesondere Novalis’ Romanfragment Heinrich von Ofterdingen, aus dem er nackt und in ungewöhnlicher Leseposition vorträgt.

Als Bonus wird retrospektiv Nuestra voz de tierra, memoria y futuro aus dem Forums-Jahr 1982 gezeigt. Die Dokumentation des Kampfes eines indigenen Dorfes in Kolumbien um sein Land ist ein eindrückliches Werk des politischen Kinos.

Das Forum expanded steuert noch vier Kurzfilme bei: Fordlandia malaise berichtet von einer Fabrikstadt, die Henry Ford in den 1920ern in den Amazonasurwald bauen ließ, Parsi aus Argentinien schafft ein repetitives, virtuelles Gedicht, Vivir en junio con la lengua afuera ist eine Hommage an den kubanischen Autor und Dissidenten Reinaldo Arenas. Der Inhalt des brasilianischen O ensaio war bis Redaktionsschluss noch unbekannt.

By the Name of Tania: Schicksal einer jungen Frau aus dem Amazonasgebiet Perus (Foto: © Clin d’oeil Films)

In der Jugendfilm-Sektion Generation gibt es drei Dokumentationen zu sehen. Bei der hochaktuellen Arbeit Espero tua (re)volta (BRA) von Eliza Capai ist der Name Programm. Ausgehend von der sich zuspitzenden Sozialkrise in Brasilien, während der Schüler*innen im Kampf gegen Schulschließungen mehr als tausend öffentliche Gebäude besetzten, zeichnet sie Protestereignisse zwischen 2013 und der Wahl des rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro 2018 nach. By the name of Tania (BE/NL) konfrontiert uns mit dem Schicksal einer jungen Frau aus dem Amazonasgebiet Perus, die bei dem Versuch, der Enge ihres Heimatdorfs zu entkommen, in die Fänge der Zwangsprostitution gerät und dabei ihrer moralischen und physischen Integrität beraubt wird. Baracoa (CH/KOL/USA) gibt vor dem Hintergrund einer Gesellschaft im Wandel Einblicke in den privaten Kosmos einer kindlichen Freundschaft im ländlichen Kuba.

Los Ausentes: Musik für die Toten (Foto: José Lomas Hervert)

Vier Kurzfilme komplettieren das Generation-Programm: In der kolumbianischen Fabel El tamaño de las cosas steht die Größe von Dingen zu Wünschen in Beziehung, das Musiktrio eines mexikanischen Jungen muss in Los ausentes mit nur drei Songs Repertoire eine Totenwache bestreiten, und Mientras las olas handelt von der Bewältigung einer Identitätskrise. Der Inhalt von Los rugidos que alejan la tormenta war bei Redaktionsschluss noch unbekannt (beide Argentinien).

In der Rubrik Kulinarisches Kino sind im Dokumentarfilm Sembradoras de vida (PER) Bäuerinnen im Hochland von Peru zu sehen, die trotz Bedrohungen durch den Klimawandel an alten Traditionen festhalten. Der Kurzfilm La herencia del viento widmet sich der Verbundenheit eines mexikanischen Bauers mit der Natur.

Die Berlinale Shorts warten schließlich noch mit zwei Beiträgen auf: In Héctor erscheint ein geheimnisvolles androgynes Wesen bei Arbeitern in einer chilenischen Fischerbucht, und in Shakti will sich ein argentinischer Mann von seiner Freundin trennen, die ihm zuvorkommt.

 

BILDGEWALTIGES MEISTERWERK

Ab Anfang April in den deutschen  Kinos Traumafte Schönheit und brutale Realität in Birds of Passage

Es gibt Filme, die erzählen eine Geschichte und es gibt Filme, die machen diese Geschichte erlebbar. Das neue Werk von Ciro Guerra und Cristina Gallego ist einer dieser Filme. Birds of Passage spielt in den 70er Jahren in der Region La Guajira, im Nordosten Kolumbiens, und gilt als der Bonanza Marimbera genannte Ursprung des kolumbianischen Drogenhandels. Rapayet, ein Angehöriger der matriarchalisch geprägten Wayuu, verkauft Marihuana an US-Amerikaner*innen. Der Handel boomt und sorgt für großen Reichtum. Doch die damit verbundene Gewalt zerstört letztendlich seine Familie.

Das Regie- und Produktionsduo aus Ciro Guerra und Cristina Gallego, die schon für Die Reisen des Windes und Der Schamane und die Schlange zusammengearbeitet haben, entführt uns auch diesmal in eine Welt zwischen Legende, Traum und Wirklichkeit. In langen Aufnahmen lassen sie die beeindruckende Wüstenlandschaft der Region auf die Zuschauenden wirken. Die schlichte Rauheit der Natur steht in teils krassem Gegensatz zu der detailreich verzierten, glänzenden Kleidung der Frauen. Ebenso das prunkvolle Haus, das die Familie bewohnt, nachdem der Reichtum Einzug gehalten hat: Es scheint wie ein Geisterpalast in der Weite der Wüste und zugleich protzig und angreifbar – ein Sinnbild des Drogenreichtums. Die Ausdrucksstärke der Bildsprache zeigt sich auch in den stilleren Momenten, deren Symbolgehalt sich auf die Tierwelt bezieht. So verkünden bunt gemusterte, riesig anmutende Heuschrecken kommendes Übel und Plagen, ein nächtlich wiederkehrender schwarzer Vogel versinnbildlicht die unheilvolle Gegenwart eines getöteten Freundes. Auch die reale Gestaltung der Traumbilder, in denen die Matriarchin Úrsula Botschaften für die Zukunft liest, lassen diese als gleichberechtigte Informationsquelle neben den alltäglichen Geschehnissen wahrnehmen. Hier kommt man nicht umhin, den magischen Realismus am Werk zu spüren. Auch in der Erzählweise nähern sich die Regisseur*innen anderen Traditionen an. Ein alter Wayuu besingt in der Eröffnungs- und Schlusssequenz die Geschichte des Films und hebt sie somit in eine orale Tradition, die sich im Handlungsaufbau weiterführt, der thematisch und chronologisch in fünf Gesänge (cantos) unterteilt ist. Dies wird noch unterstrichen, indem fast nur Wayuunaiki, die Sprache der Wayuu, gesprochen wird.

Brüche der Figuren, in denen die traditionelle matriarchale Gesellschaftsstruktur zu bröckeln scheint und sich Rapayet gegen Úrsulas Wort stellt, bringen die Welt einer indigenen Gemeinschaft, die in den Drogenhandel verwickelt ist, näher. Guerra und Gallego ist es gelungen, den Blick auf das bekannte Thema des Drogenhandels in Kolumbien durch eine neue Perspektive und in einer neuen Ästhetik zu betrachten. Auch ist dies der erste Film, in dem Cristina Gallego die Co-Regie übernommen hat, was die starke Frauenrolle im Film betont. Ein überwältigender Film, dessen poetische und surreale Bilder die Zuschauer*innen nicht loslassen und dessen Geschichte Kolumbien noch immer begleitet.

DIE ÜBERLEBENDEN

Pakuyi und Tamandua: Nach der teilweisen Auslöschung und Vertreibung ihrer Gemeinde allein im Regenwald (Foto: mindjazz Pictures)

Pakyî und Tamandua, ein Onkel und sein Neffe, wollten sich nicht vertreiben lassen und leben seit mehr als zwanzig Jahren alleine im Amazonaswald. Denn im Reservat leben nur noch wenige Überlebende der Piripkura fernab von ihrem ursprünglichen Leben. Der Film Piripkura beschreibt eine Suche nach der gleichnamigen indigenen Gemeinde. Jair Candor, Koordinator der brasilianischen Indigenenschutzbehörde FUNAI, sucht sie alle paar Jahre auf. Solange nachgewiesen werden kann, dass sie weiterhin dort leben, darf der Wald nicht abgeholzt werden. Die Suche ist vor allem deshalb schwierig, weil die beiden ständig unterwegs sind.

Die Expedition hat zwangsläufig etwas Exotisierendes – Pakyî und Tamandua werden gesucht wie seltene Schätze, meistens sind Weiße von der FUNAI zu sehen, wie sie sich auf dieser Suche durch den Urwald kämpfen. Dass sie einen Gesundheitscheck mit den beiden Männern durchführen, obwohl diese seit Jahren unabhängig unter härtesten Bedingungen leben, hat etwas vom weißen Helferkomplex und ist manchmal peinlich. Immerhin wird diese Rolle im Film nicht schön geredet. Die verlegene Unbeholfenheit während der ersten Begegnung etwa, wird nicht rausgeschnitten, sondern genauso gezeigt. Wahr ist auch, dass die FUNAI eine der wenigen Regierungsorganisationen ist, die tatsächlich gegen illegale Holzfäller*innen und deren Morde und Straftaten vorgeht.

Es bleibt etwas Unfassbares, der Wahnsinn dieser Begegnung: Zwei Menschen haben sich nach der teilweisen Auslöschung und Umsiedlung ihrer Gemeinde entschieden, weiterhin im Regenwald zu leben. Unbekleidet treffen Paykî und Tamandua auf die FUNAI und sprechen eine Sprache, die sonst niemand versteht. Wie ist dieses Leben zu zweit, in solcher Einsamkeit? Was brachte sie zu dieser Entscheidung? Wie fühlt es sich an, als letzte Überlebende der eigenen Zivilisation an diesem Stück Natur noch festzuhalten? Es sind Fragen, die ihnen keine*r der Anwesenden stellen kann.

Manchmal fühlt es sich fast übergriffig an, die beiden Männer zu beobachten – einerseits. Es gibt aber die politische Notwendigkeit andererseits, ihrem Leben Sichtbarkeit zu verleihen, um ein Argument gegen die Gier der Holzfäller*innen und Goldgräber*innen zu haben. Gerade jetzt: die Gewalt gegen Indigene in Brasilien hat in den wenigen Tagen nach dem Wahlsieg Bolsonaros akut zugenommen.
Bei der Verabschiedung wiederholen die beiden Piripkura gegenüber den Angestellten der FUNAI die wenigen Worte auf portugiesisch, die sie sprechen können, unzählige Male “Ciao” und mit großer Nachdrücklichkeit beim Gehen: “Ihr bleibt hier.”

FLAMMENDES ZEITZEUGNIS

Wie sehen Sie La Hora de los Hornos heute, 50 Jahre nach der Filmpremiere?
Ich sehe ihn als großes historisches, soziopolitisches Gemälde seiner Zeit. Wir wollten keinen Dokumentarfilm mit Archivaufnahmen oder kommentierten Zeugenaussagen machen, sondern einen meinungsstarken Essayfilm. Er sollte Zeugnis über die neokoloniale Situation und die tagtägliche Gewalt ablegen, die man in den 1960er Jahren in Argentinien und im Großteil Lateinamerikas erlebte. So entstand die Erzählstruktur, die Unterteilung in Kapitel und Teilstücke, mit Zitaten von anderen Intellektuellen und Persönlichkeiten auf der Leinwand oder mit zitierten Sequenzen aus anderen Filmen. Was den politischen Aspekt betrifft, muss man den Diskurs aus den Umständen heraus betrachten, wie sie damals auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges aussahen. Fast der komplette Kontinent wurde von Militärdiktaturen oder abhängigen Demokratien regiert. Wir sahen keine Möglichkeit, eine Veränderung innerhalb der bestehenden Institutionen herbeizuführen, weil diese durch die pro-nordamerikanischen Diktaturen aufgelöst worden waren. Es gab keine freien Wahlen, Zensur und Repression waren sehr heftig, und in den Gefängnissen gab es tausende politische Gefangene. Heute wäre es undenkbar, einen bewaffneten Kampf anzugehen, um die Regierung zu übernehmen, weil die Rechtsstaatlichkeit und die Wahlabläufe funktionieren – mal gut, mal schlecht.

Warum ein Film in mehreren Teilen?
La Hora de los Hornos ist in drei Teile unterteilt, aus operativen Gesichtspunkten und wegen seiner Publikumsausrichtung. Ich erinnere mich, dass Godard mich 1969 in Paris fragte, ob es nicht ein Widerspruch sei, den Film in Kinos zu zeigen. Ich antwortete ihm, dass wir das sogar im Fernsehen machen würden, weil in unserem Land eine totale Zensur herrsche und wir Gegenöffentlichkeit schaffen wollten. Der zweite Teil, die Chronik des Peronismus / Chronik des Widerstands gegen den Putsch und die Diktatur der „Gorillas“ [Anti-Peronisten, Anm. d. Red.], war eine historische Aufzeichnung von 30 Jahren Kämpfen der unteren Klassen gegen die oligarchischen Diktaturen, die auf Perón folgten.

Foto: Cinesur S.A.

An wen richtete sich der Film?Der erste Teil von La Hora de los Hornos war eine filmische Anklageschrift und sollte über alle verfügbaren Wege vertrieben werden.
Der zweite Teil war dazu gedacht, ihn den historischen Protagonisten des Films selbst zu zeigen, und sein Ziel war es, geheime Kooperationen zu fördern, um den politischen Kampf zu intensivieren. Dieser Teil war als ein Akt der Reflexion konzipiert: Der Film wurde in der Mitte unterbrochen und ein Plakat kündigte eine nun folgende Diskussion an. Die epische Bedeutung von La Hora de los Hornos bestand nicht nur darin, den Film als Aktion des Widerstandes gegen die Diktatur von General Ongania zu zeigen, sondern auch die Entwicklung von etwas Neuem, Unbekannten zu fördern. Es ging darum, ein paralleles, geheimes Filmvorführungssystem zu schaffen, das alle Organisationen der Arbeiter und Studierenden sowie des politischen Widerstands umfasste. Wir haben einmal bis zu 63 Filmvorführungsgruppen verschiedener Organisationen gezählt.
Der dritte Teil bestand aus der Reflexion über verschiedene Möglichkeiten des Kampfes, um die Diktatur zu stürzen. Es ist ein offener und unvollendeter Film, weil er mit weiteren Notizen, Briefen und Zeitzeugenaussagen vervollständigt werden müsste.

Wie führten Sie die Arbeit, die mit La Hora de los Hornos begann, dann weiter?
Der zweite Film, den ich gedreht habe – La Hora war mein erster – war Los Hijos de Fierro (Fierros Söhne), eine Paraphrase des großen epischen Gaucho-Gedichtes Martín Fierro von José Hernández von 1872, das Teil des argentinischen Nationalepos ist.
Darin verlassen 1945 die Arbeiter der industriellen Vororte von Buenos Aires die Fabriken und besetzen das Zentrum der Oligarchenstadt. Sie fordern die Befreiung ihres Anführers, des Oberst Juan Perón, der von der Militärführung verhaftet worden war. Viele sagen, dass das mein bester Film sei. Sein Vertrieb war eingeschränkt, weil ich von der menschenverachtenden Diktatur verfolgt wurde. Ich musste 1976 das Land verlassen, und erst im März 1984 konnte der Film uraufgeführt werden. Mehrere der Protagonisten waren ermordet worden. Der Schmerz und die Notwendigkeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen, waren so groß, dass wir nicht das große Publikum bekamen, das wir erwarteten. 2002 begann ich angesichts der neuen großen Krise und der Hungersnot in Argentinien eine Art neue Saga im Stil von La Hora de los Hornos. Ich durchquerte mit der Kamera das Land und so entstanden nach und nach mehrere Filme. Der erste war Memoria del Saqueo (Chronik einer Plünderung) und der letzte hatte gerade in diesem Jahr seine Weltpremiere auf der Berlinale: Viaje a los pueblos fumigados (Reise in die vergifteten Dörfer).

Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?
Was ich mir mit meinen 82 Jahren am meisten wünsche, ist die Realisierung von zwei oder drei Spielfilmen, von denen ich schon lange träume. Das Problem dabei sind die knapper werdende Zeit und der Mangel an Produzenten. Meine früheren Filme wollte niemand produzieren, und ich musste die doppelte Last schultern, sie gleichzeitig zu produzieren und zu drehen. Heute könnte ich das nicht mehr machen. Nicht nur, weil ich die Mittel dafür nicht habe, sondern auch, weil mich das umbringen würde. Während des Films Sur (Süden) hatte ich meinen ersten Herzinfarkt, bei La Nube (Der letzte Vorhang) den zweiten. Deshalb hoffe ich, dass jemand auftaucht, der einen dieser Filme produzieren möchte.

LEINWANDPOESIE

Es ist ein lyrischer Streifzug durch die Anden, den Regisseur Rodrigo Otero Heraud in seiner Dokumentation festhält. Hipólito Peralta Ccama führt die Zuschauer*innen durch die peruanische Gebirgskette. Wer er ist, wird im Film nicht weiter erwähnt. Wir folgen ihm einfach bei Auf- und Abstieg, sehen ihm zu, wie er sein Gesicht in Quellen wäscht oder seine Schläfen an Felswände legt, während er Quechua-Gedichte rezitiert. Hin und wieder sitzt er Kokablätter kauend am Berg und lässt den Blick über die atemberaubende Landschaft schweifen. Dabei erzählt er von der Verbundenheit der Andenkulturen mit der Natur, von der Angst vor dem Verlust uralter indigener Traditionen und vom Erhalt unserer Erde. Mehrmals stellt er die Frage, unter welcher Krankheit die Menschen der Gegenwart leiden und beklagt, dass wir der Natur und unseren Mitmenschen so viel Gewalt antun. Und dies ist wohl auch das Hauptanliegen des Films: Er fordert Wertschätzung und Verbundenheit mit der Natur, wie sie uns die Andenbewohner*innen heute noch vorleben.

Die Natur wird in den Versen und Gedanken Hipólitos personifiziert. Immer wieder tritt der Protagonist mit ihr und den Berggottheiten, den Apus, in Dialog. Interessant ist, wie die Mystik um die Berggötter im Film dargestellt wird. So erhebt sich zwischendurch die Stimme einer Frau aus dem Off, die von einzelnen Lauten zu Gesang und dann zu einem Kichern wird. Es erinnert mal an das Gurgeln eines Flusses und mal an ein Hauchen vom Wind, eben wie eine nicht irdische Stimme. Etwas platter sind hingegen andere Szenen, in denen der Protagonist plötzlich von einer Sekunde auf die andere einfach aus dem Bild verschwindet. Zu betonen ist dennoch ohne Frage die Bildgewalt des Films. Es sind starke Szenen, wenn die Schatten der Wolken sich wie blinde Flecken auf den mächtigen Tälern der Anden verteilen, wenn der Protagonist klein wie eine Ameise auf einem riesigen Steinbrocken steht, der selbst ein katzenartiges Gesicht hat. Eine der letzten Szenen des Films ist die der untergehenden Sonne über der Silhouette Hipólitos, die sich kurz darauf auf seinen Bauch legt, um dann hinter ihm zu verschwinden. Der Film ist vor allem poetisch. Besonders nah sind die Porträts der Menschen aus den dörflichen Regionen, vielleicht gerade weil es unkommentierte Szenen sind. Sie sind bei traditionellen Ritualen zu sehen, bei der Verteilung und dem Tausch der Ernte.

An manchen Stellen werden den nicht fachkundigen Zuschauer*innen einige Informationen fehlen und zumindest für europäische Augen und Ohren ist es schade, dass der Film kaum mehr über die Lebensumstände in den Andendörfern verrät. Hipólito spricht zwar kurz von Armut und Diskriminierung der Landbevölkerung in den Städten, aber wirklich konkret wird er nicht. Genau das scheint Regisseur Otero Heraud jedoch auch nicht zu wollen. Sein Film ist ein visuelles Gedicht und erzählt auch auf diese Weise. Was nicht gesagt wird, kann und muss gedacht werden.

PREISREGEN UND VERSTECKTE JUWELEN

Foto: lababosacine

Der größte Gewinner war der paraguayische Debütfilm Las Herederas, der den Alfred-Bauer-Preis für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet, gewann, sowie mit Ana Brun (ebenfalls Spielfilm-Debütantin) für die beste Schauspielerin des Wettbewerbs prämiert wurde. Ein weiterer Silberner Bär ging nach Mexiko: Museo erhielt die Auszeichnung für das beste Drehbuch.

Außerdem erlebt das queere lateinamerikanische Kino momentan eine wahre Blütezeit. Bei den renommierten unabhängigen Teddy Awards (Queerer Filmpreis) gewannen sowohl in der Kategorie Bester Spielfilm (Tinta Bruta, Brasilien) als auch in der Kategorie Beste Dokumentation (Bixa Travesty, ebenfalls Brasilien) lateinamerikanische Beiträge. Weitere wichtige unabhängige Jurys vergaben außerdem Preise an Retablo (Peru), Zentralflughafen THF (Brasilien), Teatro de Guerra (Argentinien) und La Casa Lobo (Chile). Darüber hinaus erhielt Ex Pajé (BRA) eine lobende Erwähnung beim Dokumentarfilmpreis.

Und selbst bei den Filmen, die keine Preise gewannen, gab es einige verborgene Schätze zu entdecken. Seien es emotionale und informative Dokumentationen (Viaje a los pueblos fumigados von Altmeister Pino Solanas oder das Aufrollen der Amtsenthebung Dilma Rousseffs in O processo), exakt und atmosphärisch gezeichnete Charakterstudien wie Malambo, el hombre bueno und Marilyn, oder märchenhaft-träumerische Kunstwerke wie Unicórnio und El dia que resistia. Wer nicht die Möglichkeit hatte, die Filme direkt auf der Berlinale zu sehen, kann darauf hoffen, dass einige von ihnen den Weg in die europäischen Kinos finden werden. Oder die wunderbaren Momente aus 10 Tagen Filmfestival nochmals auf der LN-Hompage nacherleben. Eine Kritik zum preisgekrönten paraguayischen Film Las Herederas und ein Interview mit dessen Regisseur Marcelo Martinessi finden sich auf den folgenden Seiten. Und unter https://lateinamerika-nachrichten.de/berlinale-2/ gibt es noch mehr Rezensionen zu fast allen Berlinale-Langfilmen aus Lateinamerika zu entdecken. Viel Spaß beim Lesen!

“DAS KINO KANN EINE GESELLSCHAFT HEILEN!”

Las Herederas ist der erste Film aus Paraguay im Wettbewerb der Berlinale. Was bedeutet das für Sie und das paraguayische Kino?
Man kann sagen, dass unser Kino viele Jahre lang unsichtbar war. Paraguay hat lange Zeit seine Filmproduktion vernachlässigt. Wir hatten einen bayerischen Präsidenten, den Diktator Alfredo Stroessner, der 1954 an die Macht gekommen ist und sie 1989 wieder abgegeben hat, als ich 16 Jahre alt war. Stellen Sie sich mal vor, diese ganzen Jahre praktisch ohne Filmproduktion! Das war gravierend und weil es einfach sehr wenig Filme gab, konnten wir natürlich auch nicht auf der Berlinale präsent sein. Deshalb freue ich mich auch, mit einem Film auf der Berlinale vertreten zu sein, der eine soziale Schicht behandelt, die in unserem Kino nicht oft zu sehen ist und die mit einer Reflexion über die Dinge zu tun hat, die mir in meinem Land wichtig erscheinen. Manchmal kommt es mir so vor, dass durch die Festivals, die Filmfonds, selbst durch die Kritiker ein lateinamerikanisches Kino nach ihren Bedürfnissen geformt wird, die manchmal exotisierend sind. Das kann zum Beispiel auch ein zu offensichtlich politisches Kino sein. In diesem Fall habe ich versucht, einen Film hierher zu bringen, der das nicht ist, sondern etwas, von dem ich glaube, dass wir es brauchen.

Foto: Viola Güse

Gab es wirklich gar keine Filmproduktion in Paraguay? Ich frage, weil Diktaturen das Kino ja manchmal für ihre Propaganda verwenden. Wie es zum Beispiel im Dritten Reich mit den Filmen von Leni Riefenstahl der Fall war.
In Paraguay gab es einige Firmen, die offizielle Nachrichtensendungen für das Kino machten. Die produzierten im Auftrag von Franco für die lateinamerikanischen Diktaturen und arbeiten heute alle in Madrid. Es gab 1979 einen einzigen Film, der offiziell in Paraguay produziert wurde (den Kriegsfilm Cerro Cora, Anm. d. Red.). Der Rest ist ein weißer Fleck.

Sprechen wir ein bisschen über das Setting des Films. In Las Herederas sind Männer fast unsichtbar. Wenn die Kamera auf einen Mann schwenkt, wird das Bild unscharf gezoomt. Woher kam die Idee, einen Film zu machen, in dem fast nur Frauen auftreten? Speziell ältere Frauen.
Ich glaube, da gab es viele Gründe. Als ich die Geschichte schreiben musste, habe ich nachgedacht, und die erste Sache, die mir in den Kopf kam, waren die Gespräche von Frauen untereinander. Am meisten erinnerte ich mich an die Echos der Stimmen der Frauen, die ich in meiner Kindheit kennengelernt hatte. Ich glaube, wenn man seinen ersten Film macht, sucht man nach einem sicheren Ort. Ich habe mich für ältere Frauen entschieden, weil es für mich sehr wichtig war, über eine Gesellschaft zu sprechen, die sich ständig selbst reproduziert und deswegen ist die Geschichte so wichtig. Diese Frauen tragen ihre Geschichte in ihren Gesichtern, in ihren Körpern, überall. Genauso wie das alles in den Tapeten des Hauses, in den Möbeln hing. Die vergangene Zeit ist überall präsent, um dieses Gefühl nachzuempfinden, dass wir über etwas Altes, etwas im Verfall, um das sich niemand schert.

Haben Sie diese weibliche Welt aus familiären Erinnerungen rekonstruiert? Ich kann mir vorstellen, dass der Zugang dazu für einen Mann nicht so leicht war.
Das Grundsätzliche habe ich als Kind aufgeschnappt. Viele Dinge habe ich gehört, als ich mich als Kind versteckt und gelauscht habe und ich glaube, dass es das ist, was in meinem Kopf widerhallt. Ich glaube, dass ich das heute nicht mehr hören könnte, dass ich zu dieser Intimität keinen Zugang mehr hätte. Aber es erscheint mir, dass man es Kindern verzeiht, wenn sie da sind, während die Mutter und die Tanten miteinander sprechen… Ich glaube aber auch, dass die Teile der Gesellschaft, in denen man sich untereinander verbündet, in denen der Modus Operandi der Klatsch, der Gossip ist, mein Interesse wecken. Das erscheint mir in einer Gesellschaft wie der, aus der ich komme, von fundamentaler Wichtigkeit.

Und dann das Männerbild. Ich denke, dass Sie sehr oft darauf stoßen werden, wenn Sie über Lateinamerika sprechen. Das sind machistische Gesellschaften dort, in denen erwartet wird, dass der Mann immer alle Antworten kennt. Dass er seiner Sache immer sicher ist, immer alles weiß. Die Frauen können sich aber Fragen stellen. Und mir schien es, dass über die weiblichen Charaktere die beste Herangehensweise wäre, um Fragen zu stellen. Also habe ich mir gesagt: So machen wir das!

Würden Sie ihren Film als feministischen Film bezeichnen?
Nein. Ich glaube, es ist ein humanistischer Film. Weil die Frauen keine feministischen Positionen vertreten, es sind verschiedene Arten von Frauen. Ich weiß nicht, wie Feministinnen oder lesbische Kollektive den Film aufnehmen werden. Das entzieht sich meiner Kontrolle. Aber was ich mit Bestimmtheit sagen kann, ist, dass ich versucht habe, einen Film zu machen, der so humanistisch wie möglich sein sollte.

Der Film behandelt auch das Thema der sozialen Klasse, in diesem Fall der höheren sozialen Klasse. Das bemerkt man zum Beispiel im Verhältnis mit den Hausangestellten. Obwohl sie fast kein Geld mehr hat, möchte Chela, die Protagonistin, nicht auf ein Dienstmädchen verzichten. Wie präsent ist dieser Aspekt in der Gesellschaft in Paraguay?
In Paraguay gibt es eine enorme soziale Ungleichheit. Es ist eine Gesellschaft, in der wir sehr daran gewöhnt sind, dass ein Teil der Bevölkerung immer Diener, Chauffeure, Gärtner hat und der Rest am Existenzminimum lebt. Das erscheint mir sehr wichtig. Während der Entstehung des Films habe ich viel am Universum dieser Frauen gearbeitet und nicht so sehr an der Figur der Hausangestellten. Ich glaube, das ist erst gekommen, als wir diese Schauspielerin kennengelernt haben, die wirklich von Beruf Hausangestellte ist, bei meinem Nachbarn. Sie wohnt tatsächlich direkt neben meinem Haus. Und ausgehend von der Verbindung, die sie mit Chela hat, haben wir begonnen, darüber nachzudenken, ob ein großer Teil dessen, was passiert, daran liegt, dass es keinen Dialog zwischen den sozialen Klassen gibt, dass es da eine Annäherung, ein Gespräch geben müsste, damit die Dinge beginnen, sich zu ändern. Und ich glaube, das ist etwas sehr Wichtiges.

Ein anderes Thema des Films ist die Freiheit, die Chela sich nach und nach erarbeitet. Wenn wir über das Filmemachen in Paraguay reden, wo heute ein ziemlich repressives System an der Macht ist: Wie viel Freiheit gibt es heute für Filmemacher*innen in Paraguay?
Ich glaube, ich möchte hier nicht direkt vom repressiven System sprechen. Denn abgesehen davon, dass wir gerade einen Präsidenten haben, der in Anschuldigungen bezüglich Drogenhandel, Zigarettenschmuggel und Geldwäsche verstrickt ist, glaube ich, dass in Paraguay nicht nur der Staat, sondern das Bürgertum versagt. Es gibt diese romantische Beziehung zwischen der Bourgeoisie und den Diktatoren, die mir als etwas sehr Mächtiges erscheint. Und auf andere Weise besteht sie weiter fort, in diesen neuen Modellen, in denen die Mächtigen nicht mehr Diktatoren sind, sondern Schmuggler, Drogenbosse, andere Formen des Regierens. Für mich ist in diesem Moment, wenn ich von heute spreche, nicht mehr die Repression der Regierung das Schlimmste. Sondern die Unterdrückung durch die Gesellschaft, die viel stärker ist.

In Ihren Filmen sprechen Sie über kontroverse Themen, wie zum Beispiel das Massaker an der Landbevölkerung in Curuguaty. Wie wird das in Paraguay aufgenommen?
Diesem Film, der La voz perdida (Die verlorene Stimme) heißt und in Venezuela den Kurzfilmpreis Horizonte gewonnen hat, scheint mir ein so politischer Film zu sein, dass er dort, wo ich herkomme, als Propaganda aufgefasst wird. Es gibt in Paraguay keine große Offenheit dafür, keinen Wunsch, sich ernsthaft mit den Ereignissen zu befassen. Die Leute begnügen sich damit, die Nachrichten zu lesen. Aber wir wissen natürlich über die Entstehung dieser Nachrichten, die in Wirklichkeit große Manipulationen sind, Bescheid. Ich glaube, in Paraguay wäre dringend ein öffentlicher Fernsehkanal nötig. Ich habe schon einmal an so einem Projekt für öffentliches Fernsehen mitgearbeitet. Weil ich wirklich glaube, dass es wichtig ist, was es hier in Europa gibt: Eine Tradition öffentlicher Fernsehanstalten. In Lateinamerika gibt es das nicht. In Lateinamerika entsteht Kommunikation auf Privatinitiative und ich glaube, das ist sehr gefährlich für unsere Gesellschaft. Denn sie entsteht natürlich manipuliert durch die Interessen der großen Mediengruppen. Deshalb ist es mir sympathisch, dass Sie (Lateinamerika Nachrichten, die Red.) kollektiv organisiert sind. Das ist klug.

Aber auch viel Arbeit.
Die ist es wert.

Kommen durch den Erfolg, dass es ein Film aus Paraguay in den Wettbewerb der Berlinale geschafft hat, weitere Produktionen aus Paraguay nach? Gibt es eine junge Filmszene, die gerade entsteht?
Ja, es gibt eine neu entstehende, vielseitige paraguayische Filmszene, die verschiedene Aspekte behandelt. Aber ich glaube, dass die Unterstützung jedweder Filmproduktion fehlt. Es ist viel besser, auf der Basis öffentlicher Filmfonds zu arbeiten, die die Wichtigkeit des Kinos für den Aufbau einer Gesellschaft verstehen. In Paraguay gibt es immer diese Diskussion: „Wie kann man ins Kino investieren, wenn man doch die Ausgaben für die Gesundheit verwenden müsste?“ Das ist für mich eine grundlegende Debatte und ich vertrete dabei immer die Position, dass das Kino genauso Verletzungen heilt. Nur auf andere Weise.

Gibt es da Interesse von Seiten der Politik?
Wenig. Momentan laufen wir sogar Gefahr, dass Paraguay aus IberMedia, dem einzigen regionalen Filmförderfonds, dem wir angehören, austritt. Da werden wir dagegen kämpfen.

IM ROSTIGEN KÄFIG


„Ganz Paraguay ist ein großes Gefängnis“ sagt Regisseur Marcelo Martinessi auf der Pressekonferenz zu Las Herederas. Das repressive politische System, das 2012 nach einer kurzen Phase der Lockerung durch einen kalten Putsch ins Land zurückgekehrt ist, lässt ungute Erinnerungen an das jahrzehntelange brutale Regime von Alfredo Stroessner, einer der letzten Militärdiktaturen Lateinamerikas, wach werden. Insofern ist es eine kleine Sensation, dass in diesem Klima der erste paraguayische Spielfilm aller Zeiten entstanden ist, der es in den Wettbewerb eines großen Filmfestivals geschafft hat. Martinessi, der bereits 2016 in Venedig den Preis für den besten Kurzfilm mit einem Beitrag über das Massaker an der Zivilbevölkerung in Curuguaty gewonnen hat, wählt mit Las Herederas eine für das männlich dominierte Paraguay ungewöhnliche, aber genau aus diesem Grund auch logische Perspektive: Der Fokus liegt komplett auf dem Privatleben mehrerer älterer Frauen.

Die Geschichte folgt Chela (herausragend in ihrem ersten Kinofilm: Ana Brun), einer in die Jahre gekommenen Dame der besseren Gesellschaft in Paraguay. Sie wohnt in einer nicht öffentlich ausgelebten Partnerschaft mit ihrer Freundin Chiquita (Margarita Irún) unter einem gemeinsamen Dach. Aber die Zeiten werden magerer und das Geld aus einer Erbschaft (vermutlich aus einer vorangegangen heterosexuellen Ehe) ist aufgebraucht. Deshalb wird im Laufe des Films nach und nach im wahrsten Sinne das Tafelsilber der beiden Herederas (Erbinnen) verscherbelt: Besteck, Tisch, Klavier. Als Chiquita wegen ihrer Schulden für kurze Zeit ins Gefängnis muss, sieht sich Chela, die ihr ganzes Leben lang nie selbstständig agieren konnte – oder durfte – plötzlich völlig auf sich allein gestellt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten findet sie sich jedoch schnell zurecht und baut mehr oder weniger durch Zufall einen Fahrservice für Frauen auf. Auf diese Weise macht sie die Bekanntschaft der lebenslustigen Angy (Ana Ivanova), zu der sie sich mehr und mehr hingezogen fühlt.

Martinessi geht im Film mehrere wichtige soziale Themen an, ohne dabei die Brechstange auspacken zu müssen. Das Getratsche der Frauen über ihre Hausangestellten aus der unteren sozialen Klasse, auf die selbst die quasi bankrotten von ihnen nicht verzichten wollen, ist eines davon. Ein anderes ist die völlige Ausblendung der gesellschaftlichen Realitäten, von denen die Frauen bei ihren Kaffeekränzchen und Dominozirkeln nichts mitbekommen. Erst durch Chiquitas Zwangsaufenthalt im Frauengefängnis kommen sie damit in Kontakt – und überraschenderweise finden sie dort trotz der teilweise chaotischen Verhältnisse sogar in gewisser Weise mehr Freiheit als in ihrem geordneten, aber von gesellschaftlichen Zwängen eingeengten Leben draußen. Zudem setzt auch der goldene Käfig, in dem viele von ihnen jahrzehntelang gut gelebt haben, durch die finanziellen Schwierigkeiten langsam immer mehr Rost an und bietet keinen Schutz mehr.

Las Herederas ist ein Film, der in leisen und subtilen Tönen ein komplexes Gesellschaftsporträt der (weiblichen) Oberschicht Paraguays entwirft. Die Protagonistinnen gehören zu einer „verlorenen Frauengeneration“ des Landes, die fast ihr komplettes Leben unter der Stroessner-Diktatur verbracht hat und niemals ihre Bedürfnisse jedweder Art offen ausleben konnte. Das Ergebnis war ein völliger Rückzug ins Privatleben und eine Unterordnung der Bedürfnisse unter ökonomischen Wohlstand, während das politische und gesellschaftliche Leben fast ausschließlich von Männern bestimmt wurde. Wie Martinessi diesen Spieß umdreht, wie er jedes Mal, wenn ein Mann im Film beginnt, zu sprechen (und das ist äußerst selten der Fall) die Kamera unscharf zoomt, das ist so bemerkenswert wie mutig. Kein einziger Mann nimmt auch nur im Ansatz eine Rolle ein, die über reine Dekoration hinausgeht. Und so öffnet sich der Blick auf eine Perspektive, die von teils sichtbaren, teils verborgenen Strukturen über Jahrzehnte fast unsichtbar bleib.So transportiert der Film feministische Ideen, ohne sie direkt anzusprechen.

Ein Interview mit dem Regisseur Marcelo Martinessi erscheint in der März-Ausgabe der Lateinamerika Nachrichten.

Las Herederas lief im Wettbewerb der Berlinale. Die Hauptdarstellerin Ana Brun bekam den Silberen Bären für ihre schauspielerische Leistung. Der Film wurde außerdem mit dem Alfred-Bauer-Preist für Filme, die neue Perspektiven eröffnen, ausgezeichnet.

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