100 JAHRE WHITENESS

© Héléne Louvart/Dezenove Som e Image

„Der Unterschied zwischen Rom und Brasilien liegt darin: Rom wurde von einer Demokratie zum Kaiserreich. Brasilien dagegen war ein Kaiserreich und ist jetzt eine Demokratie. Wir blicken nicht zurück, sondern in die Zukunft!“ Das sagt Maria, Lehrerin an einer Klosterschule ganz zu Beginn von Todos os Mortos, dem neuen Film der Regisseure Marco Dutra (Good manners) und Caetano Gotardo. Diese Sichtweise war Standard in der herrschenden Klasse Brasiliens am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die Sklaverei war abgeschafft, ganz nach dem Motto auf der neuen Nationalflagge sollten ab nun „Ordem e Progresso“ (Ordnung und Fortschritt) regieren. Allein, das neue republikanische Verständnis Brasiliens hatte eine große Schwäche: Es war dezidiert und exklusiv weiß.

1888 hatte Brasilien als letztes Land der westlichen Hemisphäre und damit dem Zeitgeist meilenweit hinterherhinkend viel zu spät die Sklaverei abgeschafft. Die weiße Oberschicht hielt dies für eine große Errungenschaft, während sie die Ausbeutung, Diskriminierung und kulturelle Negation der Schwarzen Bevölkerung ungebremst, ja manchmal gar noch schlimmer als zuvor weiterführte. Todos os mortos begibt sich in die Familie des Kaffeebarons Soares, der sein bröckelndes Imperium soeben nach Italien weiterverkauft und seine Familie weg vom Landgut in die Stadt nach São Paulo geschickt hat. Dort geht es ihnen spätestens nach dem Tod der Hausangestellten Josefina überhaupt nicht mehr gut. Der Vater beschränkt seine Zuneigung auf immer spärlicher werdende Geld- und Kaffeesendungen und bleibt ansonsten unsichtbar und seine resolute Tochter Maria kann sich aufgrund ihrer Verpflichtungen als Nonne im Kloster auch nicht so um die Familie kümmern, wie sie will. Bleiben ihre labile und unberechenbare Schwester Ana und die gebrechliche Mutter Isabel, die beide im Grunde nicht alleine im Haus bleiben können. Also soll eine neue Hausangestellte her. Aber das ist gar nicht so einfach, denn die gesellschaftlichen Vorstellungen der Familie haben sich trotz des Endes der Sklaverei keinen Millimeter fortbewegt. Geplant ist, dass Iná, eine ehemalige Sklavin von der Kaffeeplantage, Josefinas Job übernimmt. Doch weil ihre Religion von Maria als Teufelszeug und Hokuspokus abgelehnt wird und sie zudem keine Lust hat, die dreist über das normale Arbeitspensum hinausgehenden Forderungen der Familie zu erfüllen („Wer soll mir jetzt nur die Füße waschen?“) lehnt sie dankend ab, bevor sie überhaupt gefragt wird: „Es würde mir im Traum nicht, einfallen, euch jemals um einen Gefallen zu bitten!“ Außerdem hat sie noch etwas Wichtigeres vor: Sie muss ihren Ehemann Eduardo finden, der auf der Suche nach Arbeit schon weit vor ihr nach São Paulo migriert und seit längerer Zeit verschwunden ist.

Todos os Mortos ist ein besonderer Film, weil er zwar einerseits ein stimmiges Porträt der ungleichen Gesellschaft Brasiliens an der Schwelle zum 20. Jahrhundert zeigt. Auf der anderen Seite erinnert fast jeder einzelne der geschliffenen Dialoge an die aktuelle, weiterhin bestehenden Diskriminierung von Schwarzen in Brasilien und die überheblichen Privilegienansprüche der weißen Oberschicht. Auch visuell ruft der Film das mit einem brillanten Kunstgriff immer wieder ins Gedächtnis: Während innerhalb des Hauses das 19. Jahrhundert in perfekter Weise aufrecht erhalten wird, sind die Außenaufnahmen im São Paulo des 21. Jahrhunderts gedreht. Die Protagonist*innen stehen vor mit Graffiti bemalten Wänden, laufen an Baustellen vorbei, im Hintergrund sieht man die Wolkenkratzer der Metropole. Fantastisch die Szene, in der João, Inás kleiner Sohn, vor die Tür geht, um Orangen zu verkaufen. Auf der ungepflasterten Straße trifft er seinen Freund, sie diskutieren, wie man die besten Preise herausschlägt. Als sie um die Ecke biegen, ändert sich fast alles: Die Straße ist asphaltiert, Autos fahren vorbei, man hört (wie auch sonst häufig im Film) die Geräusche einer modernen Stadt. Nur eines ist gleich geblieben: Die beiden Schwarzen Jungen laufen weiter mit ihren Orangen die Straße entlang, auf der Suche nach Kund*innen.

Was Todos os Mortos so außergewöhnlich und einem zwingenden Anwärter auf den Goldenen Bären macht, erklärt Co-Regisseur Caetano Gotardo: Der Film ist zwar auch eine empowernde Promotion Schwarzer Kultur. Aber in erster Linie geht es um whiteness – also die Privilegien und Vorurteile der weißen Bevölkerung und deren Reflexion. Die findet bei Familie Soares so gut wie gar nicht statt. Vor allem kulturell werden die Bräuche afrikanischen Ursprungs exotisiert oder gar religiös verteufelt, Europa dagegen als erstrebenswert und einzige Wiege der brasilianischen Kultur propagiert. Als Ana und Isabel versuchen, João das Klavierspielen beizubringen und ihm von Europa vorzuschwärmen („Da hat alles für Brasilien angefangen!“), platzt Iná, der die Ausübung ihrer eigenen Kultur mehrfach verboten wurde, der Kragen: „Warum lassen Sie uns nicht endlich in Ruhe?!?“ Auch in weiteren Szenen wird vor allem im sozialen Umgang deutlich, wie die weißen Personen krampfhaft Stellung und Macht verteidigen, indem sie der Schwarzen Bevölkerung trotz rechtlicher Gleichstellung auf informelle Weise den Zugang zu Ressourcen verweigern. Glücklich werden zumindest die Soares im Film damit nicht: Ana driftet immer mehr in Wahnvorstellungen ab, Isabel verlässt der Lebensmut und Maria verliert die Kontrolle über die Familie, was sich am Ende des Films als fatal herausstellen wird.

Todos os Mortos ist ein Film, der schmerzlich die Versäumnisse bei der Eingliederung der Nicht-weißen Bevölkerung in die Demokratie Brasiliens aufzeigt, ohne dabei klischeehaft werden. Dass die relevante Thematik auch noch mit einer originellen Machart, glaubhaften und ambivalenten Charakteren und wunderschönen Kostümen und Ausstattungen einhergeht, macht den Film schon jetzt zu einem der absoluten Highlights der Berlinale 2020.

RÄTSELHAFTE TÖNE

© Rei Cine SRL, Picnic Producciones SRL

Schön ist es nicht, was sich Inés da von ihrem Chorleiter anhören muss. “Ich weiß, Sopran ist deine Tonlage. Aber du musst dich auch wohlfühlen!” teilt er ihr vor versammelter Belegschaft bei der Probe ihres Frauenchors mit. Und schwupps – ist sie degradiert zum Mezzo-Sopran, ein Prestigeverlust, der durch peinliches Stühlerücken für alle sicht- und hörbar wird.

So unsensibel die Kommunikation auch gerät, verdenken kann man dem Dirigenten die Entscheidung nicht. Denn Inés (Érica Rivas, bekannt als entfesselte Braut aus “Wild Tales”) hat Probleme mit ihrer Stimme, was für sie, als professionelle Sängerin und Synchronsprecherin, potenziell existenzgefährdend ist. Seit ihr unbeholfen-übergriffiger Lover Leopoldo (Daniel Hendler) im gemeinsamen Urlaub verunglückt ist, klingen ihre Töne schief. Mehr noch, es schleichen sich Geräusche in ihre Stimme ein, deren sie sich selbst nicht bewusst ist. Ein stattliches Pensum an Pillen und Psychotherapien hat sie deswegen schon ohne Erfolg ausprobiert. Und so wird sie einer eigentlich durchgeknallt klingenden Idee der Schauspielerin Adela, die sie im Tonstudio trifft, immer zugänglicher: In ihr hat sich ein “Prófugo”, ein Eindringling eingenistet, der sie in eine ihrem Bewusstsein verborgene Parallelwelt ziehen will. Mit der Zeit gestaltet es sich für Inés fast unmöglich, Traum und Realität voneinander zu unterscheiden. Zudem wird immer klarer: Auf Hilfe von außen kann sie bei der Lösung ihrer Probleme nicht vertrauen. Auch wenn ihr die Annäherungen ihres Kollegen Alberto (überzeugend gespielt vom aufsteigenden Schauspiel-Sternchen Nahuel Pérez Biscayart) zumindest nicht ganz unangenehm zu sein scheinen.

El prófugo (Englischer Titel: The Intruder) basiert auf dem Horrorroman El mal menor (Das kleinere Übel) des argentinischen Autors C.E. Feiling. Ein klassischer Horrorstreifen ist der Film von Regisseurin Natalia Meta, die die durchaus vorhandenen Schock- und Suspensemomente dafür zu subtil und zu selten einsetzt, aber nicht. Überhaupt ist ein Genre relativ schwer zu verorten, weil der Film mehrere Bedeutungsebenen anspricht und dabei geschickt mit den Erwartungen spielt. Wer die Geschichte verstehen möchte, sollte deshalb unbedingt eine Idee von der komplexen, fantastischen Welt, in der die Romanvorlage spielt, haben. In dieser existiert neben der uns bekannten physischen auch eine körperlose, spirituelle Dimension und ein Zwischenraum des Austauschs, zu dem allerdings nur sehr wenige Menschen Zugang haben. Diese Auserwählten haben die Möglichkeit ihre Körper zu verlassen und von  anderen Besitz zu ergreifen – als Prófugos.

Es hilft, diese Ausgangssituation im Hinterkopf zu behalten, wenn man die von Rätseln und ungelösten Fragen durchzogene Handlung von El prófugo verfolgt. Da der Film aber eine eher freie Adaption des Buches darstellt und einige Interpretationsangebote macht, sind verschiedene Deutungen der Geschichte weiterhin möglich. Zum Beispiel kann der Film durchaus auch als feministisches Statement gesehen werden. Schließlich sieht Hauptdarstellerin Rivas nach eigener Aussage die Ausübung ihres Berufs als “den Platz, wo ich meinen feministischen Kampf führe” an und auch ihre Figur Inés muss gegen einige Männer und ihre Helikoptermutter Marta (Cecilia Roth) ihre unabhängige berufliche und private Existenz (keine Kinder, keine feste Partnerschaft) verteidigen. Die Darbietung des Schauspielensembles – allen voran von Érica Rivas, die sich dadurch für einen Silbernen Bären ins Gespräch bringen könnte – ist dabei zu jeder Zeit gelungen. Vergnüglich anzusehen sind vor allem die Szenen, in denen sich Inés mit Leopoldo oder ihrer Mutter kabbelt. Auch optisch und atmosphärisch gibt der meist in Blautönen gehaltene und – dem Thema angemessen –  akustisch sehr ansprechende Film einiges her. Dass der geheimnisvolle Plot mit vielen Rätseln und offenen Enden gespickt ist, ist gemein – zumindest für diejenigen, die sich vor dem Ansehen nicht mir der sehr speziellen  Realität des Romans, der ausschließlich auf Spanisch erhältlich ist, befasst haben. Diese laufen Gefahr, das Kino etwas ratlos zu verlassen. Hier hätte Regisseurin Meta ihr Publikum also gerne etwas mehr an die Hand nehmen dürfen. Denn der auf mehreren Ebenen funktionierende, vielschichtige Thriller hätte es verdient, dass so viele Zuschauer*innen wie möglich ihn auch ohne Gebrauchsanweisung in vollen Zügen genießen können. Mit El prófugo hat Lateinamerika aber trotzdem einen starken ersten Kandidaten für die Vergabe gleich mehrerer Preise im Wettbewerb der Berlinale im Rennen.

SCHLICHT UND EINFACH VERSPIELT

Die faltigen Hände zittern, als sie über das Klavier gleiten. Scheinbar orientierungslos tasten sie die Abstände zwischen den Tönen ab, rücken die vergilbten und zerfledderten Notenblätter zurecht. Doch dann bricht die Anfangssequenz von Medium die erzeugten Erwartungen: Die eben noch so müden Finger beginnen ihren Tanz über die Tasten, konzentriert und ohne Fehler führen die Hände eine perfekte Inszenierung des Intermezzo Opus 117 Nr. 3 von Brahms auf, dessen Melodien den ganzen Film begleiten werden.

Die Hände, denen die gut einstündige Dokumentation aus Argentinien eine so eindrückliche Szene widmet, gehören Margarita Fernández. Die inzwischen über 90 Jahre alte Pianistin und Künstlerin aus Buenos Aires ist eine langjährige Freundin des argentinischen Filmemachers und Autors Edgardo Cozarinsky. Dass der Regisseur die Porträtierte gut kennt, fällt bald auf: keine einleitenden Worte über Fernández, kaum biografische Bezüge oder Anekdoten. Cozarinsky konzentriert sich in Medium allein auf Margarita Fernández als Künstlerin und Vermittlerin – zwischen Film, Musik und Theater ebenso wie zwischen Jung und Alt. Historische Aufnahmen von Theater- und Musikperformances werden mit aktuellen Szenen kombiniert, die den Alltag der Pianistin zeigen. Darin wandert sie durch die Stadt und vermittelt ihren jugendlichen Schüler*innen das Werk von Komponisten aus dem 19. Jahrhundert, mit deren Persönlichkeiten sie sich intensiv auseinandergesetzt hat. Deren Musik, etwa die von Chopin oder Brahms, versteht Fernández als Quelle menschlicher Gesten.

So schön anzusehen diese intensive Beschäftigung mit der Musik auch ist, lässt Cozarinskys Dokumentation gleichzeitig zu viele interessante Aspekte von Margarita Fernández‘ Leben unerwähnt und driftet in Schlichtheit ab. Die freundschaftliche Beziehung zwischen Pianistin und Filmemacher wirft Fragen auf, die filmisch nicht beantwortet werden. Cozarinskys Annäherung auf persönlicher und musikalischer Ebene sieht über die interessante Biografie der Künstlerin hinweg, ihr politisches Engagement wird nur angedeutet, über ihre Herkunft erfahren die Zuschauer*innen nichts. Die Einzelheiten ihrer musikalischen und spirituellen Auseinandersetzung mit romantischen Komponisten mögen für Freund*innen und Fans von Margarita Fernández interessant sein, für Außenstehende fehlen jedoch von Anfang an zu viele Informationen über sie als Person. Auch die zuweilen sehr inszeniert wirkenden Dialoge zwischen Pianistin und Musikschüler*innen passen zu dem künstlerisch anmutenden, aber insgesamt zu oberflächlichen Filmprojekt. Abseits der sehr gelungenen und beeindruckenden Eingangssequenz schafft Medium leider nur eine blasse Erinnerung.

WEIBLICHES UNIVERSUM

© Rebeca Rossato Siqueira/Rita Cine & Bomba Cine

Nach dem tragischen Unglück wird zuerst der Pool abgesperrt und notdürftig von den Blicken der Mädchen abgeschirmt. Die 12-jährige Cleo beobachtet mit ausdruckslosem Gesicht, wie zwei Handwerker die Sichtschutzwände im hinteren Teil des Gartens aufstellen. Sie scheint in einer anderen Welt zu sein, seitdem ihre kleine Schwester Erín genau dort ertrunken ist. Nach Eríns Tod dauert es Tage, bis ihre Tante und die drei Cousinen zu Cleo durchdringen, sie ablenken oder sie zum Essen bewegen können. Noch schlechter geht es ihrer Mutter, die nur noch vor dem Fernseher liegt und nicht auf Cleos Rufe reagiert.

Mamá, mamá, mamá, der Debütfilm der argentinischen Regisseurin Sol Berruezo Pichon-Rivière, spielt in einem Haus voller Frauen. In der schwierigen Phase nach Eríns Tod gesellen sich Tanten und Cousinen zu Cleo und ihrer Mutter, später auch die Großmutter. Väter oder andere Männer werden nicht erwähnt, die Handwerker im Garten sind die einzigen männlichen Personen im Film, eine Sprechrolle kommt ihnen jedoch nicht zu. Die gerade mal 24 Jahre alte Pichon-Riviére hat sich bei ihrem ersten Langfilmprojekt für eine fast ausschließlich weibliche Crew entschieden – vor wie hinter der Kamera. Zwei Schauspieler und einige Postproduzenten bilden die Ausnahme zwischen 24 Technikerinnen und 10 Schauspielerinnen. Der Film ist der erste Teil des größeren Projekts Crónica de mujeres en movimiento, „Chronik von Frauen in Bewegung“, das sich gegen die marginalisierte Rolle von Frauen in der männerdominierten Filmindustrie richtet.

Die Thematisierung und Aushandlung von Weiblichkeit erfolgt in Mamá, mamá, mamá formal und inhaltlich, explizit und implizit. Die Cousinen begleiten Cleo, jede auf ihre Art und Weise, durch die schwierige Zeit. Sie flechten sich Zöpfe, singen und tanzen zu Youtube-Videos, erzählen sich Geschichten und führen Cleo in ihre Geheimnisse und Rituale des Erwachsenwerdens ein. Diese Szenen sind im Detail und in blassen Farben aufgenommen und verschwimmen zu einer Art Polaroidaufnahme eines weiblichen Universums, in dem die gegenseitige Fürsorge das wichtigste ist. Der titelgebende Ruf nach der eigenen Mutter bleibt für Cleo jedoch lange unerwidert.

Mit gerade einmal einer Stunde Laufzeit entwirft Mamá, mamá, mamá keine echte Handlung, stellt aber in interessanter Weise eine emotionale Ausnahmesituation dar. Gerade die jungen Schauspielerinnen fallen durch ihre herausragenden Leistungen auf. Fraglich ist, ob der Film, der im Berlinale-Jugendprogramm Generation Kplus läuft und ab 11 Jahren empfohlen ist, tatsächlich so geeignet für junge Menschen ist. Erstens fehlt vielleicht gerade diesen eine lineare Handlung. Zweitens dient das Innere des Wohnhauses zwar als weiblicher Schutzraum, das Außen wird aber in jeglicher Hinsicht als Gefahr und Ort der Angst konstruiert. Die Cousinen fangen an, sich gegenseitig Gruselgeschichten von verschwindenden Mädchen erzählen – zweifelsohne eine wichtige Thematisierung der Gewalt, die Frauen* in Argentinien täglich erfahren – in der Konsequenz wird leider nur implizit angedeutet, dass starke Frauen sich gemeinsam gegen diese strukturelle Gewalt wehren können – eine explizit empowernde Botschaft bleibt leider aus. Auch die Repräsentation doch recht stereotyper Formen von Weiblichkeit in der Erziehung der Mädchen passen nicht so ganz zu einem Projekt mit dem lobenswerten und wichtigen Vorhaben, sich explizit für Geschlechtergerechtigkeit im Film einzusetzen. Der erste Schritt dorthin, nämlich zusammenzuhalten und füreinander da zu sein, erhält im Film aber eine sehr wichtige Rolle. Und vielleicht ist genau das Pichon-Riviéres wichtigste Botschaft an junge Zuschauer*innen.

CHILE IM FOKUS UND OHNE SCHUTZ

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Am Freitagabend, dem 27. Dezember 2019, füllte sich unser Herz mit dem Feuer der Hoffnungslosigkeit. Die chilenische Polizei setzte das historische Cine Arte Alameda („Kunstkino Alameda”) im Zentrum von Santiago durch eine Tränengasbombe, die sie auf das Dach schoss und die einen unkontrollierten Brand auslöste, in Flammen. Wir alle, die wir uns über zwanzig Jahre lang an diesem Ort getroffen und Filme gesehen hatten, standen entsetzt vor seinen Trümmern und dem komplett verbrannten Kinosaal.

In der gleichen Nacht, wenige Stunden später und nur einige Meter vom Kino entfernt, ertrank Mauricio Fredes in einem Graben, in den er vor einem Wasserwerfer fliehend  fiel. An diesem finsteren Freitag erkannten wir Chilen*innen so klar wie nie zuvor etwas, das wir bereits geahnt hatten: Dass es für uns keinen Schutz mehr vor Sebastián Piñeras Regierung gab. Während die Feuerwehrleute im Theater das Feuer löschten, mussten die Sanitäter*innen der Gesundheitsbrigaden, die in der Eingangshalle seit die Proteste begonnen hatten Verletzte versorgten, die Verwundeten ins Freie auf die mit Tränengas gefüllte Straße der Allee Alameda  bringen, wo die Polizei weiter mit Schrotkugeln auf die Anlage feuerte. Wie mir eine der Sanitäterinnen erzählte, verfehlte eine Kugel nur knapp ihr Gesicht, während sie gerade dabei war, einen verwundeten Jugendlichen zu versorgen.

Das Kino ist nicht nur ein Zufluchtsort für Filmliebhaber, die durch die auf die Leinwand projizierten Bilder in eine andere Welt eintauchen können, sondern auch weil seine Räumlichkeiten Treffpunkt, Mitbestimmungsort und Ort der Inklusion für alle diejenigen von uns sein können, die sich fremd in einem System fühlen, das uns ausbeutet und vergisst. Das ist das Cine Arte Alameda, ein Schutzraum für queere Menschen, Punks, Filmliebhaber*innen, wie auch für die Gesundheitsbrigaden, die auf der Straße die Rache der Polizei fürchten mussten.

Auf der anderen Seite der Welt ist die Berlinale immer einer der hoch geschätzten Schutzorte für Filmemacher*innen und Produzent*innen, die auf der ganzen Welt gegen solche und ähnliche Gewalttaten kämpfen, gewesen. So habe ich mich gefühlt, als ich 2016 dort in der Sektion Panorama mit Nunca vas a estar sólo („Du wirst nie allein sein”) von Regisseur Alex Anwandter Premiere feiern durfte. Der Film handelt davon, wie ein schwuler junger Mann in seinem Wohnviertel brutal zusammengeschlagen wird und zeigt die frenetische Suche nach Gerechtigkeit durch seinen Vater, der die hohen Krankenhauskosten nicht begleichen kann. Der Film gewann in diesem Jahr den “Teddy Jury Award” der Berlinale, in der gleichen Nacht, in der einer Trans*-Jugendlichen in einem anderen Armenviertel in Santiago de Chile durch Überschütten mit Säure das Gesicht verätzt wurde. Gegen diese Gewalt arbeiten wir und gegen diese Gewalt kommen wir zusammen.

Nach über hundert Tagen des Protests, 35 Toten, 25.000 Verhafteten, 400 an den Augen verletzten Personen und von der Polizei gefolterten Kindern und Jugendlichen, sind wir immer noch da. Wir stehen auf den Plätzen und schreien nach Würde, nach einem Leben, das es sich lohnt, zu leben, mit einer neuen Verfassung, die uns Chilen*innen eine neue Form der Verständigung erlaubt.

Obwohl dieses Jahr auf dem Festival besonders wichtig für unser Land ist, bleiben einige von uns zu Hause in Chile, um für die Kampagne für die Annahme einer neuen Verfassung zu arbeiten, die in einer verfassunggebenden Versammlung zu 100% von aus der Bevölkerung gewählten Bürger*innen geschrieben werden wird. Wir bleiben in Chile, damit diese neue Carta Magna auch als erste auf der ganzen Welt paritätisch geschrieben wird, damit sie anders ist, damit diese  Gewalt gegen unsere prekarisierten Körper und Lebensweisen aufhört.

Aber während ein paar von uns von uns zu Hause bleiben, um an einem besseren Land zu arbeiten, werden viele zur Berlinale reisen, denn Chile ist 2020 das “Land im Fokus” des Europäischen Film Markets 2020. Einige cineastische Kämpfer*innen für diese Prinzipien kommen in eure Stadt, aber auch Vertreter*innen des Ministeriums für Kunst und Kultur der Regierung von Sebastián Piñera, darunter die Ministerin Consuela Valdés und der stellvertretende Staatssekretär für Kultur, Juan Carlos Silva, die sich im Angesicht all dieser Gewalt in Schweigen gehüllt haben. Noch schlimmer, sie haben öffentlich die Politiker*innen die für ihre Ausführung verantwortlich waren, verteidigt, wie den früheren Innenminister Andrés Chadwick, der kürzlich vom Parlament wegen seiner politischen Verantwortung für die  Menschenrechtsverletzungen abgesetzt wurde. Kein Wort der Verteidigung oder der Unterstützung haben sie für die Künstler*innen geäußert, die ihr Augenlicht verloren haben, wie die in der Neujahrsnacht am Auge verletzte Fotografin und Videokünstlerin Nicole Kramm und sicherlich wird auch niemand bei den Veranstaltungen des EFM etwas dazu sagen.

Ja, das Gastland Chile hat eine Regierung, die die Menschenrechte verletzt, wie mehrere Berichte der UN, von Human Rights Watch, Amnesty International, der CIDH und weiterer Organisationen verdeutlichen. Diese Politiker*innen sind es, die das Treffen der Filmindustrie auf der Berlinale eröffnen werden, ein Festival, das nach den Prinzipien des Rechts auf ein Leben in Frieden, Pluralismus und gegenseitigem Respekt ausgerichtet ist.

Daher bitte ich Euch, Berliner*innen, dass ihr uns helft. Kommt und protestiert vor dem Martin-Gropius-Bau, ruft eure Abgeordneten an und helft uns laut und klar zu fordern: „Nie wieder!”, denn diese Botschaft gegen den Faschismus hallt in euren Straßen genauso laut wieder wie in unseren, weil ich sicher bin, dass euer Kampf auch unserer ist.  In diesen Tagen brauchen wir eure internationale Solidarität. Lasst uns nicht allein bei unserer Suche nach neuen Schutzorten vor dieser unkontrollierten polizeilichen Gewalt. Wir brauchen neue Verbündete gegen die Straflosigkeit und wir hoffen, dass das Kino weiterhin eine*r von ihnen bleibt.

ALLES IST MÖGLICH, NUR NICHT HIER

© Varsovia Films

Während die Jugendlichen aus dem Viertel sich die Zeit damit vertreiben, Billigbier aus abgeschnittenen Plastikflaschen zu trinken, Handymusik zu hören und im Laufe des Abends in Zweierkonstellationen in den dunklen Treppenaufgängen verschwinden, läuft Iris mit ihrem Basketball durch die Straßen von Corrientes im Nordosten Argentiniens. Clarisa Navas, die Regisseurin von Las Mil y Una, hat für ihren zweiten Langfilm, den Eröffnungsfilm des diesjährigen Berlinale-Panoramas, die eigene Geburtsstadt als Dreh- und Handlungsort gewählt.
Beton dominiert das Erscheinungsbild der Sozialbausiedlung, in der Iris lebt. Aus den Wohnungen schallen laute Stimmen, eine Mischung aus Bachata und Fernsehprogrammen im Hintergrund. Ein eigenes Zimmer in der Wohnung, wie Iris es hat, ist Luxus. Doch nicht einmal dort entkommt sie den Streitereien ihrer Familie und dem Lärm. Zuflucht findet Iris beim Basketball und den zwei besten Freunden, ihren Cousins. Das Leben der Protagonistin gestaltet sich recht monoton, zur Schule geht die 17-Jährige nicht mehr, „wozu auch?“ fragt sie sich, eine Aussicht auf einen gut bezahlten Job scheint ohnehin in weiter Ferne.

Vieles ändert sich, als Renata im Viertel auftaucht. Sofort erweckt sie Iris‘ Interesse. Während Renata cool und abgebrüht auftritt, zeigt sich Iris unerfahren. Voneinander angetan begeben sie sich gemeinsam auf die Suche nach Orten in der Siedlung, an denen sie für sich sein können. Doch das ist gar nicht so einfach, denn das Viertel scheint überall Augen und Ohren zu haben. Schon bald machen verschiedenste Gerüchte über Renata die Runde. Die Freiheit, die Iris draußen sonst verspürt hat, verwandelt sich in Renatas Gegenwart in Enge, denn nirgendwo können sie sich aufhalten, ohne dass getuschelt und gegafft wird.

Las Mil y Una nimmt sich viel Zeit für diese Geschichte über das Leben junger Menschen in Corrientes. Zwischen oft fehlender elterlicher Fürsorge und gesellschaftlicher Akzeptanz setzt die Regisseurin Clarisa Navas in zwei Stunden einen detaillierten und lebensnahen Raum zusammen, in dem sich junge Erwachsene sexuell wie emotional ausprobieren und in dem es keine Grenzen zu geben scheint. Mehr als einmal wird das Gegenteil bewiesen. Wer hier viel Handlung oder ein spannendes Coming-of-Age-Drama erwartet, wird enttäuscht. Trotzdem ist Navas‘ Beitrag zum diesjährigen Berlinale-Panorama sehenswert: Die starken schauspielerischen Leistungen von Sofía Cabrera und Ana Carolina Garcia, die Iris und Renata verkörpern, lassen diesen ohnehin schon dokumentarisch anmutenden Film noch realistischer wirken.Überzeugend zeigt Las Mil y Una eine oft unterrepräsentierte Seite der Gesellschaft: Menschen in prekären und informellen Arbeits-, Lebens- und Liebesverhältnissen, die sich irgendwie durchschlagen und vom Rest der Gesellschaft vergessen wurden. Der Film zeigt jedoch nicht nur den Kontrast zwischen unterschiedlich privilegierten gesellschaftlichen Schichten, sondern macht deutlich, wie besonders für junge Menschen soziale Bindungen und Rückzugsräume entscheidend sind, wenn draußen Mobbing und Konkurrenzkampf das Leben dominieren. Es wird versucht, im Hier und Jetzt so gut wie möglich zu überleben, für große Träume ist in der Enge der Siedlung kein Platz. Ein unbesorgtes Leben frei von Diskriminierung und Armut bleibt für viele unvorstellbar. Und während Iris noch überlegt, wie sie in Zukunft leben möchte, steht für Renata bereits fest, dass sie nur noch weg will. Denn alles ist möglich, nur nicht hier.

UNGEAHNTE REALITÄTEN

© Spectre Productions, Stenar Projects

Kurzfilm-Fans haben es bei der Berlinale nicht immer leicht. Im Programm finden sich zwar meist zahlreiche Beiträge des Formats, aber neben dem offiziellen Programm Berlinale Shorts sind viele in anderen Sektionen versteckt. Abgesehen davon macht auch die fehlende regionale oder thematische Einteilung die Entscheidung für einen Kurzfilmblock oft schwierig. Umso schöner, dass die Berlinale-Sektion Forum Expanded dieses Jahr drei halbstündige Kurzdokumentationen aus Lateinamerika im Paket zeigt, die noch dazu ähnliche Themen behandeln (indigene bzw. rurale Gemeinschaften). Ein gelungenes Experiment, denn alle drei Filme sind durchaus sehenswert.

Die Reise in entlegene Regionen des südamerikanischen Kontinents führt zunächst nach Kolumbien. In Jiíbie zeigt Regisseurin Laura Huertas Millán die traditionelle Herstellung von grünem Koka-Pulver in der indigenen Gemeinschaft der Muiná-Muruí im kolumbianischen Amazonasgebiet. Für die Muiná-Muruí ist die Koka-Pflanze ein heiliges Medium, das für rituell-spirituelle und medizinische Zwecke benutzt wird. An rituellen Stätten, den Malokas wird das Jíibie oder Mambe genannte Pulver während gemeinschaftlicher Versammlungen konsumiert, um den kommunikativen Austausch und die Entscheidungsfindung zu fördern. Anders als das mit Chemie vermischte weiße Kokain ist Jíibie ein rein natürliches Produkt, das nur aus den Blättern des Kokastrauchs und des Yarumobaums besteht. Der Film zeigt in ruhigen Bildern die traditionelle Verarbeitung der Pflanzen (Ernte, Rösten, Mahlen, Koka mit Yarumo-Asche mischen, Sieben), untermalt mit rituellen Erzählungen der Muiná-Muruí. So kreiert Jiíbie ein gutes Gefühl für die spezielle Bedeutung der heiligen Pflanze, ohne allerdings Aufnahmen der Versammlungen, auf denen das Koka-Pulver als Vermittlung zur kollektiven Erfahrung eingesetzt wird, zu zeigen.

Weniger meditativ geht es in Jogos Dirigidos von Regisseur Jonathas de Andrade zu. Der Film zeigt die Bewohner*innen der 900-Seelen-Gemeinde Várzea Queimada („Verbrannte Ebene“) im Hinterland des nordöstlichen brasilianischen Bundesstaates Piauí. Die Besonderheit der Siedlung besteht darin, dass dort überdurchschnittlich viele taubstumme Menschen leben. Die kommunale Infrastruktur ist jedoch sehr schwach ausgeprägt, so dass für sie keine Gebärdendolmetscher*innen zur Verfügung stehen. Statt zu jammern, hat die Dorfgemeinschaft aber aus der Not eine Tugend gemacht und kurzerhand ihre eigene Gebärdensprache erfunden. Die ist, wie im Film schnell klar wird, sehr lebendig und expressiv und auch für Nicht-Eingeweihte relativ leicht verständlich. Die Aufnahmen zeigen die titelgebenden Jogos Dirigidos („angeleitete Spiele“), bei denen die Bewohner*innen mit großer Begeisterung Kinderspiele wie Stuhltanz oder Ochs am Berg durchführen und dann auf einer Bühne in der selbst entwickelten Gebärdensprache Geschichten aus ihrem Leben preisgeben. Dabei werden die Erzählungen zunächst meist ohne Erklärung gezeigt und danach noch einmal mit Untertitelung der wichtigsten Wörter und Ausdrücke wiederholt. Interessant ist das nicht nur aus sprachlichen Gesichtspunkten, sondern auch, weil die Geschichten viel über das nicht immer einfache Leben in der ländlichen Umgebung der brasilianischen Peripherie verraten. Die Lebensfreude der Bewohner*innen und deren oft emotionale Reaktionen beim Spiel und beim Hören der Geschichten machen Jogos Dirigidos zu einem aufschlussreichen und vergnüglichen Filmerlebnis.

Den Abschluss der Trilogie bildet der ebenfalls brasilianische Beitrag Apiyemiyekî? von Regisseurin Ana Vaz. Der Titel bedeutet „Warum?“ in der Sprache der indigenen Gruppe der Waimiri-Atroari aus dem brasilianischen Amazonasgebiet. Diese wurden Opfer des größten Genozids unter der Herrschaft der brasilianischen Militärdiktatur, der Film erzählt ihre Geschichte. Weil die Regierung Mitte der 1970er Jahre eine Straße nach Manaús baute, vertrieb sie die Waimiri-Atroari mit brutalen Mitteln aus ihrem Territorium, das auf dem Weg dorthin lag. Durch chemische Waffen wie Napalm und Massenexekutionen mit Macheten und Gewehren wurden bis zu 3000 Menschen ermordet. Erst 2019 kam es zum Prozess gegen die Regierung, der bis heute andauert.

Die Regisseurin verwendet für die künstlerisch ansprechende Dokumentation gemalte Bilder und erste schriftliche Zeugnisse der kurz vor dem Terror der Militärs alphabetisierten Mitglieder der indigenen Gemeinschaft. Visuell aufwändig werden diese wie transparente Folien über die reale Naturlandschaft des Gebietes der Waimiri-Atroari gelegt. Besonders gut gelingt dies bei den Aufnahmen von fließendem Wasser, auf die gezeichnete Boote montiert werden. Die grafischen und schriftlichen Zeugnisse dienen als Beweisstücke im Prozess gegen den Staat und bewahren eine kollektive Erinnerung der grausamen Begegnung mit den sogenannten „zivilisierten Menschen“. Die Frage nach dem Warum der Tötungen durch die „Zivilisierten“ wurde von den Indigenen am häufigsten gestellt und deshalb auch als Titel des Films ausgewählt. Mit Apiyemiyekî? ist Ana Vaz eine eindrucksvolle und visuell ambitionierte Verarbeitung eines der düstersten Kapitel der brasilianischen Militärdiktatur gelungen, die im Grunde einen Langfilm verdient hätte.

Das verbindende Element zwischen den drei filmischen Beiträgen ist der Einblick in lateinamerikanische Welten, deren Realitäten bislang vielen nicht bekannt sein dürften und die einfühlsam und informativ auf die Leinwand transportiert werden. Bleibt zu hoffen, dass trotz der etwas versteckten Platzierung als Programm 6 der Experimentalfilm-Sektion Forum Expanded viele diese empfehlenswerte Kurzfilm-Trilogie im Programm entdecken und auf dem Festival ansehen.

DAS LEBEN IST KEIN FREIZEITPARK

© Octavio Arauz

“We want to go Disney – one ticket please!“ schreien Max und Leo immer und immer wieder und stören damit Lucías Schlaf. Ihre Mutter ist müde, weil sie wie so oft die Nacht durchgearbeitet hat. Die 8 und 5 Jahre alten Brüder haben ein berechtigtes Anliegen: Wenn sie Englisch sprechen, das hat Lucía ihnen versprochen, dann fahren sie endlich alle zusammen nach Disneyland. Doch ihre Mutter kann den Wunsch nicht erfüllen, weil sie weder Zeit noch Geld hat. Allmählich wird den Beiden klar: Obwohl sie die Sprache mittlerweile ein bisschen können, wird sich ihr Wunsch so schnell nicht erfüllen.

Die Einzimmerwohnung der kleinen Familie im US-amerikanischen Albuquerque, New Mexico (bekannt aus der Erfolgsserie Breaking Bad) grenzt die Welt, in der sich Los Lobos („Die Wölfe“), der zweite Berlinale-Beitrag des mexikanischen Regisseurs Samuel Kishi Leopo abspielt, weitgehend ein. Wenig ist bekannt von der Vorgeschichte der Drei in Mexiko. Der Vater, ein Polizist, hat die Familie schon lange verlassen (die Kinder haben keine Erinnerungen mehr an ihn), sodass sich Lucía ohne viel Geld, Gepäck und Englischkenntnisse mit Max und Leo auf die Reise in die USA gemacht hat. Vorgeblich ist es ein Tourismus-Trip nach – richtig – Disneyland, tatsächlich hat Lucía nicht vor, nach Mexiko zurückzukehren. Im neuen Land aber läuft zunächst alles ganz und gar nicht so glamourös, wie sich zumindest die Kinder das ausgemalt haben. Die Wohnung ist klein, hat keine Möbel und ist zu Beginn sehr schmutzig. Ihre Mutter muss viel arbeiten und ist deshalb oft müde und gestresst, das Geld ist knapp. In eine Schule können die beiden als illegale Migranten auch noch nicht gehen. Und zu allem Überfluss müssen sie sieben strenge Hausregeln beachten: So sollen sie zum Beispiel unter keinen Umständen vor die Tür gehen, weil das Viertel, in dem sie untergebracht sind, dafür zu gefährlich ist. „Ihr seid starke Wölfe. Ihr weint nicht, sondern beißt und verteidigt euer Zuhause“, schärft Lucía ihren Söhnen ein. Doch sie selbst ist zu oft und zu lange außer Haus, als dass vor allem der ältere Max sich auf Dauer mit einer Fantasiewelt aus Cartoons und Spielen zu zweit zufriedengeben würde.

Regisseur Leopo hat Los Lobos aus autobiografischen Erlebnissen konstruiert und für den Film fiktionale und dokumentarische Elemente vermischt. Herausgekommen ist eine einfühlsame Migrations- und Familiengeschichte, die allerdings ihre Längen hat und einige Zeit braucht, bis sie richtig in die Gänge kommt. Die guten schauspielerischen Leistungen trösten darüber jedoch meist hinweg. Stark ist vor allem Martha Reyes Arias als liebevolle, aber überforderte Mutter. Los Lobos ist zwar offenkundig nicht in der Aktualität verortet (ein Handy würde viele Probleme im Film schnell lösen), zeigt jedoch einige zeitlose Probleme für (illegale) Migrant*innen auf und macht deren oft prekäre Lebensverhältnisse auch für Kinder gut versteh- und erfahrbar. Der Film läuft auf der Berlinale im Kinderprogramm Generation Kplus und ist ab 9 Jahren empfohlen.

Los Lobos // Samuel Kishi Leopo // Mexiko 2019 // 94 Minuten // Europäische Premiere // Generation Kplus

Link zum Trailer

 

Spielzeiten auf der Berlinale
Montag, 24.02.10:00, Urania
Dienstag, 25.02.14:00, Zoo Palast 2
Mittwoch, 26.02.09:30, Filmtheater am Friedrichshain
Donnerstag, 27.02. 14:00, Cubix 8
Sonntag, 01.03. 14:00, CinemaxX 1

Deutsch eingesprochen | Kopfhörer für OV

MEHR SKEPSIS ALS AUFBRUCHSTIMMUNG


© Aline Motta

Grund zur Hoffnung bestand durchaus. Nach 18 Jahren ging die Ära des Festival-Leiters Dieter Kosslick mit der letzten Berlinale zu Ende. Dieser hatte sich um das Filmfestival verdient gemacht, konnte in den letzten Jahren aber weder für größere Anziehungskraft noch für Innovation sorgen. Auf der neuen Doppelspitze aus künstlerischem Leiter Carlo Chatrian und Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek, die von einer dreiköpfigen Findungskommission (in der letztere praktischerweise selbst saß) ernannt wurde, ruhten hohe Erwartungen. Schlanker sollte die 70. Ausgabe der Berlinale werden, übersichtlicher die Sektionen, das künstlerische Niveau sollte wieder steigen. Und natürlich sollte der Anspruch an Diversität und politische Relevanz, den die Berlinale sich mehr als alle anderen großen Filmfestivals auf die Fahne schreibt, weiter erfüllt werden.

Endgültige Schlüsse sollte man vor Beginn der Veranstaltung natürlich noch nicht ziehen. Aber ein wenig Enttäuschung macht sich schon breit beim Blick auf das, was personell und programmatisch bisher passiert, oder besser, nicht passiert ist. Da wäre zunächst Jeremy Irons als Jury-Präsident. Es ist bereits 20 Jahre her, dass eine Jury-Leitung zwei Mal hintereinander von einer Frau verantwortet wurde, von mehr geschlechtlicher Diversität gar nicht erst zu sprechen. Nun wurde es mit Jeremy Irons mal wieder ein alter, weißer Mann aus Europa, der in den letzten Jahren auch noch mit sexistischen und homophoben Äußerungen (von denen er sich später allerdings distanzierte) negativ aufgefallen war. Bei den Sektionen tat sich bis auf die Abschaffung der indigenen Native-Reihe und der Einführung des neuen Formats Encounters, bei dem es schwer fällt, darin mehr als ein Panorama mit Preisverleihung zu erkennen, auch nicht besonders viel. Kurzfilme und Perspektive Deutsches Kino wurden im Umfang stark verringert, ansonsten geht es im Grunde weiter wie bisher. Für einen echten Neuanfang ist das zumindest unter Diversitätsgesichtspunkten deutlich zu wenig.

Die aktuellen Proteste in Chile sind unerwähnt

Auch, was das lateinamerikanische Kino auf dem Festival angeht, setzen sich eher die Trends der letzten Jahre fort. Das betrifft vor allem die starke regionale Konzentration der Filme. Von den bislang bekanntgegebenen 33 Beiträgen aus oder über Lateinamerika stammen 26 aus den Mercosur-Staaten. Brasilien ist dabei an nicht weniger als 18 beteiligt – eventuell ein letzter kreativer Höhepunkt, bevor die drastische Kürzung der Filmförderung durch das Bolsonaro-Regime ihre Wirkung zeigt. Chile ist „Country im Fokus“ des diesjährigen European Film Market (EFM), im Festival laufen allerdings nur zwei Beiträge mit chilenischer Beteiligung: eine Montage eines 50 Jahre alten Films und eine multinationale Produktion. Zudem wird für den EFM ein „exciting program“ versprochen, die aktuellen Proteste in Chile aber mit keiner Silbe erwähnt. Offensichtlich hat hier die Partnerschaft mit den chilenischen Regierungsinstitutionen einen höheren Stellenwert als die aktuell brisante politische Situation (siehe S. 30), die sicher auch viele Filmschaffende beschäftigt.

All das soll aber nicht die Vorfreude auf die Filme aus Lateinamerika schmälern, bei denen es sicher wieder einige Perlen zu entdecken gibt. Im Wettbewerb waren die Titel bis Redaktionsschluss noch nicht veröffentlicht, auf mehr als ein oder zwei Filme aus Lateinamerika sollte man sich allerdings keine Hoffnung machen. Dafür nehmen zwei Beiträge aus dem Subkontinent an der neuen Sektion Encounters teil, für die auch Preise vergeben werden. Isabella (Argentinien) handelt von einer jungen Schauspielerin in Buenos Aires, die über mehrere Jahre versucht, die Hauptrolle in einem Shakespeare-Stück zu ergattern. In Los conductos (Kolumbien) versucht der lange von der Polizei gesuchte Protagonist sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern.

Die beim Publikum beliebte Panorama-Sektion ist mit sechs Filmen aus Lateinamerika gut besetzt, vier von ihnen stammen aus Brasilien. In Cidade Pássaro macht sich der nigerianische Musiker Amadi auf die Suche nach seinem in São Paulo verschwundenen Bruder. Der trockene Wind, Vento Seco, bringt mit dem Neuankömmling Maicon Abwechslung in das eintönige (Liebes-)Leben von Sandro in einer ländlichen Kleinstadt. O reflexo do lago ist eine Dokumentation über eines der größten Wasserkraftwerke der Welt im Amazonasgebiet. Den Einwohner*innen der Region wurde durch die Schaffung des Stausees Entwicklung versprochen, stattdessen haben sie bis heute paradoxerweise nicht einmal Zugang zu elektrischen Strom. Auch Nardjes A. ist eine politische Dokumentation, in der der brasilianische Regisseur Karim Aïnouz eine junge algerische Aktivistin bei den Protesten in ihrem Heimatland begleitet. Aus Argentinien kommen die Beiträge Un crimen común, in dem der Sohn einer Hausangestellten tot aufgefunden wird, nachdem er in der Nacht zuvor nicht ins Haus gelassen wurde und Las mil y una, ein Coming-of-Age-Film, in dem Renata und Iris in einem feindseligen Umfeld ihre Zuneigung zueinander entdecken. Die meisten lateinamerikanischen Langfilme, acht an der Zahl, hat in diesem Jahr das Forum zu bieten. Vom uruguayischen Regisseur Alex Piperno kommt der Film Chico ventana también quisiera tener un submarino, in dem ein junger Matrose auf einem Kreuzfahrtschiff einen Gang entdeckt, der zu einem Apartment in Montevideo führt. El tango del viudo ist der erste und erst jetzt posthum vollendete Film des chilenischen Exil-Regisseurs Raúl Ruiz, ein Fiebertraum, der mit den Zeitebenen spielt. In Hombre entre perro y lobo (Kuba) verkörpern vier zurückgekehrte Veteranen aus dem Angola-Krieg die letzten Samurai der Revolution in den kubanischen Bergen. Luz nos trópicos handelt vom französischen Erfinder Hercule Florence, der seine Wahrnehmung der Welt während einer Amazonas-Expedition im 19. Jahrhundert völlig verändert.

Interessante Filme bietet traditionell die Jugendfilm-Sektion Generation

Dazu gibt es vier Dokumentarfilme: Responsabilidad empresarial vom argentinischen Doku-Spezialisten Jonathan Perel, über politische Spannungslinien in der jüngeren Geschichte; Medium (ebenfalls Argentinien), ein Porträt der 91-jährigen Pianistin Margarita Fernández; Ouvertures (Haiti), eine dokumentarische Recherche über den Anführer der Sklav*innenaufstände, die zur haitianischen Revolution führten und Vil Má (Brasilien), der sich mit der Sado-Maso-Künstlerin Vilma Azevedo aus São Paulo befasst.

Interessante Filme aus Lateinamerika bietet traditionell die Berlinale-Jugendfilm-Sektion Generation. Auch hier kommen drei Beiträge aus Brasilien. In Alice Júnior wird eine Trans*person in einer Schule in der brasilianischen Provinz zunächst gemobbt, verschafft sich mit Hilfe der YouTube-Community aber schließlich Respekt und Akzeptanz. Irmã ist ein experimentelles Roadmovie über zwei Schwestern, deren Vater sich nicht um sie kümmert und deren Mutter im Sterben liegt. Meu nome é Bagdá spielt im Skater*innenmilieu in São Paulo, wo Frauen auf der Straße und in Clubs gegen den dominanten Machismo kämpfen müssen. In Mamá, Mamá, Mamá (Argentinien) versucht Cléo in einem heißen Sommer gemeinsam mit ihren Cousinen den Tod ihrer Schwester zu verarbeiten. Der einzige mexikanische Beitrag der diesjährigen Berlinale ist Los Lobos: Zwei mexikanische Brüder sind mit ihrer Familie in die USA gezogen, ihr Traum von Disneyland kollidiert dabei mit der Realität. Schließlich gibt es noch den deutschen Dokumentarfilm Perro, der in Nicaragua spielt und einen jungen Mann begleitet, der bedingt durch den Bau des „Gran Canal“ seine Heimatregion verlassen und ein neues Leben in der Stadt beginnen muss. Im Programm sind außerdem noch die Kurzfilme El nombre del hijo (Argentinien), El silencio del río (Peru), Rã (Brasilien; alle in der Sektion Generation) und Playback. Ensayo de una despedida (Argentinien; Sektion Berlinale Shorts) und folgende Filme/Performances in der Sektion Forum Expanded: Apiyemiyekî?, Jogos Dirigidos, (Outros) Fundamentos, Vaga Carne, Letter from a Guarani Woman in Search of the Land Without Evil (alle Brasilien), Jiíbie (Kolumbien) und Imaginary Explosions, episode 2, Chaitén (Chile).

GENIE UND WAHNSINN IN NEAPEL

Unter Jubel Diego Maradona betritt das Spielfeld des SSC Neapel (Foto: Meazza Sambucetti/ AP / Shutterstock / DCM )

Diego Maradona ist ein Rausch der Bilder. Ein atemloses Eintauchen in die Dynamik des Spiels auf dem Platz und des (auch ohne Social Media) für Maradona überlebensgroß aufgeblasenen Ballyhoos darum. Aktuelle Gespräche mit Zeitzeug*innen oder Maradona selbst kommen stets aus dem Off, um die Kontinuität des Filmmaterials nicht zu unterbrechen. Zu sehen sind die Interviewpartner*innen nie. Nicht zu kurz kommen im Film jede Menge Spiel- und Jubelszenen, die die oft mit Handkamera fokussierten Bilder und ein hervorragendes Sounddesign größer wirken lassen als die Realität – von der „Hand Gottes“ bis zu den wenig glamourösen Niederlagenserien seiner Anfangszeit in Italien.
Asif Kapadia, Oscar-Gewinner für eine Doku über Amy Winehouse, kreiert so einen visuellen Strudel, der kaum Raum zur Reflexion lässt und nutzt ihn wie einen Erklärungsversuch für Maradonas oft widersprüchliche und schwer verständliche Entscheidungen. In körnigen, häufig Amateur*innenaufnahmen entsteht so das Bild eines einfachen Jungen, der die Dinge eher mit sich geschehen lässt, als sie selbst zu beeinflussen. Diego, der inmitten ärmlicher Baracken anfängt, gegen den Ball zu treten und so schon als Teenager seine ganze Familie aus dem Slum holt. Diego, verkauft als damals teuerster Fußballer der Welt vom Spitzenklub Barcelona an Neapel, eines der schlechtesten Teams der italienischen Liga. Diego, der sein erstgeborenes Kind, Ergebnis einer seiner unzähligen Affären, lange verleugnet. Diego, der auf dem Höhepunkt seiner Karriere eigentlich weg will aus Neapel, wo ihm zwischen Kokain und Camorra die Kontrolle über sein Leben entgleitet, und es doch nicht schafft.
Die Dokumentation konzentriert sich fast ausschließlich auf die Zeit, die Maradona in Neapel verbrachte. Was anfangs Enttäuschung hervorruft (die Jahre in Argentinien und Spanien werden quasi als Vorspann abgefrühstückt, sein Drogenentzug oder seine Trainerkarriere völlig ausgespart), ergibt im Laufe des Films immer mehr Sinn. Denn Maradonas fußballerische Karriere und auch sein restliches Leben werden von nichts anderem so sehr geprägt wie von diesen sieben Jahren in der Stadt am Vesuv. Bei seiner Ankunft von 85.000 Menschen im Stadion wie ein Gott gefeiert, wird er gemeinsam mit Fans und Spielern bei Auswärtsspielen bei den reichen Norditaliener*innen durchgehend beleidigt. „Wascht euch“ ist noch das Höflichste, was auf den Plakaten der gegnerischen Anhänger*innen steht. Maradona, der es aufgrund seiner Herkunft kennt, wie ein Ausgestoßener behandelt zu werden, treibt das zu Höchstleistungen an. Mit besessener Sturheit und seinem überragenden Talent formt er den SSC Neapel zu einem Spitzenteam. 1987 – mittlerweile Weltmeister – gibt er der ganzen Stadt ihren Stolz zurück, als er das Unglaubliche schafft und mit Neapel die italienische Meisterschaft holt. Für ihn, das scheint unverhohlen durch, ist dieser Titel mehr wert als der WM-Sieg.
Diesen Moment nutzt Kapadia geschickt als dramaturgischen Höhe- und Wendepunkt. Maradonas Einstellung zur im Wortsinn religiösen Verehrung, die ihm in Neapel entgegengebracht wird (in den Wohnungen hängt sein Bild oft zwischen denen von Christus und Maria), verändert sich danach. Saugt er sie zu Beginn regelrecht auf, wird er sich später davon distanzieren und seine Persönlichkeit in zwei Charaktere spalten, die Coach Signorini wie folgt beschreibt: „Mit Diego laufe ich bis ans Ende der Welt. Aber mit Maradona gehe ich keinen Schritt.“
Diego sieht man von da an im Film vor allem privat. Als naiv-volkstümlicher Junge schlittert er in die Abhängigkeit der neapolitanischen Mafia Camorra. Nach dem ersten Treffen mit dem Giuliano-Clan gibt er noch arglos zu Protokoll: „Das fühlte sich an wie in einem Hollywood-Film.“ In den folgenden Jahren wird er durch die Bosse ebenso mit Kokain und Frauen beliefert wie vor der Polizei und Dopingfahndung beschützt. Als Maradona schafft er sich eine neue Rolle in der Öffentlichkeit, erliegt aber immer mehr dem Größenwahn. Der kulminiert bei der Weltmeisterschaft 1990 in Italien in der fatalen Fehleinschätzung, das Stadion würde beim Halbfinale Italien gegen Argentinien tatsächlich ihn und sein Team unterstützen. Obwohl das Spiel in Neapel stattfindet, wird Maradona beim entscheidenden Elfmeter – den er verwandelt – ausgepfiffen. Als sich dies bei der argentinischen Hymne vor dem Finale gegen Deutschland wiederholt, formen seine Lippen deutlich sichtbar ein hijos de puta („Hurensöhne“). Es ist der Moment, von dem an Maradona in Italien – auch in Neapel – erledigt ist. Die genaue Dokumentation seines überstürzten Aufbruchs ist die geschlossene Klammer zum verdächtig überlebensgroßen Empfang in Neapel.
Man muss Kapadia ein Kompliment machen, dass er es geschafft hat, über Aufnahmen aus Privatarchiven der Familie Maradona und der Neapel-Ultras zu vielen intimen Momenten Zugang bekommen und aus dem umfangreichen Material eine fesselnde Komposition geschaffen zu haben. Zu einem besonderen Erlebnis macht Diego Maradona aber vor allem der Blick des Filmemachers, der zwar mit seinem Protagonisten sympathisiert und ihn nicht vorführt (was einfach wäre), sich aber auch nicht mit ihm gemein macht. Trotz aller Emotionalität der Bilder geht es Kapadia darum zu verstehen, nicht zu urteilen. Auch nach dem Film kann man sich also noch entscheiden, ob man Diego Maradona liebt oder hasst – oder ihn als widersprüchlichen Charakter, der er bis heute ist, akzeptiert.

 

EINTAUCHEN IN DIE TRAUER

Fotos: Cine Global, Filmstill

Wie überwindet man den Tod der anderen? Marcela (gespielt von Mercedes Morán) hat unerwartet ihre Schwester Rina verloren. Hinter zugezogenen Vorhängen, im ständigen Halbdunkel, sortiert sie die Sachen ihrer verstorbenen Schwester, räumt aus, isst aus einer angebrochenen Eisschale, die noch im Gefrierfach steht, und führt damit eine der letzten Handlungen fort, die ihre Schwester vor dem Tod noch tat.
Die Wohnung von Marcela und ihrer Familie wirkt wie ein von der Außenwelt getrennter Lebensraum – in den die Protagonistin „abtaucht«, wie der Titel Familia sumergida (in etwa: „Abgetauchte Familie“) nahelegt. So findet das erste Drittel des Filmes fast ausschließlich in diesen mit Stoffen und Möbeln überladenen Räumen statt. Außerdem vermittelt er eine Ahnung von den Spannungen, die unter der Oberfläche des Familiengefüges liegen.
Mit ihrem Film erzählt die argentinische Regisseurin María Alché glaubwürdig und in chronologischen Episoden, wie eine Frau in Buenos Aires in ihren familiären Rollen als Schwester, Mutter und Ehefrau einen Trauerprozess durchlebt. Das langsame Tempo der Kamera vermittelt etwas von der drückenden Hitze, aber auch von dem inneren Zustand der Hauptfigur Marcela: Apathische Langsamkeit. Es ist Sommerzeit, ein Ventilator rauscht an der Decke, und die Zimmer sind mit Gardinen abgedunkelt. Gelegentlich schimmert das Sonnenlicht durch. Die Atmosphäre hat etwas Beklemmendes und bewirkt ein Gefühl von Fremdsein. Die Nahaufnahmen von Marcela zeigen sie in sich zurückgezogen, manchmal wie betäubt. Ihre Gesten stimmen mit dem Rhythmus der Bilder überein. Im Wohnzimmer und anderen Räumen hat Marcela alle Topfpflanzen, die ihrer Schwester gehörten, verteilt.
Den Familienalltag nimmt Marcela immer mehr aus einer Beobachter*innenperspektive wahr, als gehöre sie nicht ganz dazu. Obwohl sie sehr bemüht um ihre Kinder ist, zu denen sie offenbar ein enges Verhältnis hat, schweift sie immer wieder ab. Die sind auf andere Weise mit ähnlichen Themen beschäftigt wie ihre Mutter. Die ältere Tochter Luisa feiert den Abschied eines Bekannten, der scheinbar alles hinter sich lassen wird. Die wiederkehrenden Elemente sind Verlust, Trennung und Neuanfang – im Guten wie im Schlechten.

Rauchpause Marcela räumt nach und nach den Hausstand ihrer Schwester aus / Foto: Cine Global, Filmstill

Nach und nach bekommt der Film eine Wendung, die ins Surreale übergeht. Marcela beginnt, luzide Tagträume zu haben, trinkt mit alten Tanten Kaffee im Wohnzimmer, die am Ende gar nicht da waren. Diese Szenen sind meist mit einem schrägen Sound unterlegt, der die innere Verwirrung Marcelas fühlbar macht. Traumartig wandelt sie zwischen Erinnerungen und Alltagsrealität: Die Vorhänge sind in ihrer Vieldeutigkeit ein allgegenwärtiges Element im Film, mal als Versteck, mal als Abtrennung und Verdunkelung nach draußen, als Sichtschutz oder als Grenze zwischen den Welten.
Die Regisseurin schafft mit ihrer Protagonistin auch eine Rolle jenseits von Klischees: Marcela ist eine Frau mittleren Alters, deren Schönheit nicht mit einem Jugendideal verwechselt wird, sondern sich aus ihrer Erfahrenheit und Ruhe ergibt. Viel zu selten sieht man alternde Mütter mit jüngeren Liebhabern auf der Leinwand. Alché vollbringt das, ohne von dem Hauptthema der Trauer abzukommen: Das Absurde am Tod und am Verlust.
Mit Electrotango-Klängen im Hintergrund, wirkt Marcela erstarkt und in Frieden mit sich selbst und der Erinnerung an ihre Schwester. Die detaillierte und gestenreiche Bildsprache, die gut beobachteten Alltagssituationen und die Nähe zur Protagonistin haben Alchés Film wohl auch die Lorbeeren eingebracht: den „Horizontes Award” des San Sebastian Film Festivals, „The Ingmar Bergman International Debut Award” des Göteborg Film Festivals sowie den „Talents Award” und „Critics’ Award« des D’A Film Festivals Barcelona.

 

SPUREN DER DIKTATUR

Mariana gehört der Oberschicht Chiles an: Sie muss sich um Geld keine Sorgen machen, nicht um den Haushalt kümmern, und verbringt ihre Tage mit Shopping, dem Leiten einer Kunstgalerie und lässt sich – eher widerwillig – mit Hormonspritzen behandeln, da sich ihr Ehemann Kinder wünscht. Es ist ein sorgloses Leben, aber auch ein monotoner Alltag. Um dieser Routine zu entfliehen, nimmt Mariana Reitstunden beim 20 Jahre älteren Juan, „El Coronel“ genannt. Schnell erfährt sie, dass gegen ihn wegen Menschenrechtsverletzungen ermittelt wird. Welche Rolle hatte Juan während der Diktatur inne? Und was weiß er von verschwundenen linken Aktivist*innen in den siebziger Jahren? Anstatt sich mit diesen Fragen zu beschäftigen und auf Abstand zu gehen, erhöht in Marianas Augen das Wissen um Juans Schuld seine Attraktivität.

Vieles bleibt unausgesprochen

In ihrem zweiten Spielfilm Los Perros zeigt die Regisseurin Marcela Said, wie aktuell die Vergangenheit sein kann. Auch nahezu 30 Jahre nach dem Übergang in die Demokratie sind die Spuren der Diktatur in Chile deutlich sichtbar, viele der Täter nach wie vor auf freiem Fuß. Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden aber nicht nur von Einzelpersonen begangen. In diesem Land gebe es zu viele passive Komplizen, sagt der ermittelnde Polizist. Zu denen gehört auch Mariana. Nicht nur ignoriert sie bewusst, warum sich ihr Vater und Juan bereits seit der Diktatur kennen; zwischen ihr und Juan entwickelt sich außerdem eine Affäre. Und eben dadurch wird Mariana zur Komplizin.

Inhaltlich wie optisch ist Los Perros ein kühler, mitunter schwer zugänglicher Film, in dem vieles unausgesprochen bleibt. Grandios sind Antonia Zegers und Alfredo Castro, die gekonnt diese arroganten, leeren, ambivalenten und auf faszinierende Weise abstoßenden Protagonist*innen darstellen, bei denen nie klar ist, wer eigentlich wen dominiert.
Gerade Mariana ist sehr komplex: Einerseits kann und möchte man für diese Frau, die genauso leer ist wie ihr Gegenüber, keine Empathie aufbringen. Andererseits wird ihr Wunsch nach Ausbruch bedingt durch die Art, wie sie die Männer in ihrem Leben behandeln, ein wenig verständlich – mit ihrem Ehemann findet kaum Kommunikation statt, der Vater nimmt sie als Geschäftspartnerin nicht ernst.
Die Botschaft von Los Perros ist deutlich: Auf Gerechtigkeit darf man nicht hoffen. Bei aller Schuld, welche die Elite Chiles durch ihre Kollaboration und ihr Schweigen auf sich nimmt, ist der Preis, den die Figuren am Ende zahlen, trotzdem hoch: allumfassende Einsamkeit.

GLANZ AUF DEN ZWEITEN BLICK

Espero tua (re)volta Filmstill // Foto: Bruno Miranda

Wer einen Blick auf die Preisträger*innen der diesjährigen Berlinale wirft, muss nach Beiträgen aus Lateinamerika etwas genauer suchen. Schon im Vorhinein war aufgefallen, dass kein Goldener oder Silberner Bär einen lateinamerikanischen Wettbewerbsfilm würde küren können – Marighella aus Brasilien lief zwar im Wettbewerb, jedoch außer Konkurrenz. Auch in den anderen Sektionen fiel die Preisausbeute in diesem Jahr eher spärlich aus. So holte der sehr zu empfehlende 12-Minüter El tamaño de las cosas*, eine minimalistische Fabel über das Begehren von Dingen, mit dem Spezialpreis der Internationalen Jury für den Besten Kurzfilm in der Sektion Generation Kplus den einzigen offiziellen Preis auf dem Subkontinent.
Erfreulich sind dagegen die Prämierungen lateinamerikanischer Filme durch die unabhängigen Jurys. Gleich zwei Preise – der queere Filmpreis Teddy Award für den besten Spielfilm und der Teddy Reader’s Award – gingen an Breve historia del planeta verde*, einem mysteriösen Mix aus Science Fiction und Drama von Santiago Loza. Auch Lemebel* von Joanna Reposi Garibaldi, das Porträt des gleichnamigen chilenischen Autors, Aktivisten und Performancekünstlers, gewann seinen verdienten Teddy für den besten Dokumentarfilm. Zwei Preise durfte außerdem Eliza Capai für Espero tua (re)volta mit nach Brasilien nehmen: den Amnesty International Filmpreis und den Friedensfilmpreis. Capais Dokumentation aus der Sektion Generation 14plus erzählt von einer Generation junger Brasilianer*innen, die früh gelernt haben, was es heißt, für die eigenen Rechte zu kämpfen und nicht daran denken, diesen Kampf aufzugeben (Rezension auf Seite 43, Interview mit der Regisseurin auf Seite 46).
Auch wenn die Preisausbeute im Vergleich zur letzten Berlinale (siehe LN 525) eher enttäuscht, haben viele der lateinamerikanischen Filme auf dem Festival politische Zeichen gesetzt und auf ihre ganz eigene Art und Weise geglänzt. So beweist die Prämierung von Espero tua (re)volta die Präsenz und internationale Aufmerksamkeit, die brasilianische Filme in diesem Jahr genossen haben. Die Dokumentation ist einer von mindestens drei Filmen, die die aktuelle Regierung Brasiliens unter Bolsonaro scharf kritisieren. So begleitet die Dokumentarfilmerin Camila Freitas in Chão* auf bemerkenswerte Weise die Landlosenbewegung MST in ihrem Kampf für das eigene Land und zieht nach nicht einmal zwei Monaten Bolsonaro-Regierung ein erschreckendes Fazit. Auch Marighella (Rezension auf Seite 44), der die Geschichte des Revolutionärs Carlos Marighella unter der brasilianischen Militärdiktatur erzählt, zeigt klar politische Intentionen. Der Regisseur Wagner Moura (Narcos) zog in Interviews gleich mehrere Parallelen zwischen der Zeit der Diktatur und heute. Gleiches tat auch Joanna Reposi Garibaldi bei einer Vorführung von Lemebel und betonte das Wiedererstarken konservativer Wertevorstellungen, unter denen in Chile – ebenso wie in Brasilien – besonders LGBTIQ* leiden. El despertar de las hormigas* aus Costa Rica erzählt von der Unterdrückung weiblicher Unabhängigkeit und Sexualität und ist nicht nur deswegen hier unbedingt zu erwähnen. Auch indigene Stimmen und Bilder aus Lateinamerika gab es auf der Kinoleinwand zu sehen: Sembradoras de vida* porträtiert äußerst stimmig fünf indigene Kleinbäuerinnen, in Lapü* geht es um den Umgang der indigenen Wayúu mit dem Tod.
Diese und viele andere lateinamerikanische Filme haben auf der 69. Berlinale wichtige Themen und Realitäten eines Subkontinents angesprochen. Es bleibt zu bedauern, dass besonders die starken politischen Beiträge nicht mit Preisen bedacht wurden und abzuwarten, welche Filme es in diesem Jahr auch außerhalb der Berlinale in die deutschen Kinos schaffen.

Alle unsere Film-Rezensionen der Berlinale 2019 befinden sich hier.

“SIE KÖNNEN ALLES VON UNS ERWARTEN, NUR KEINE STILLE”

Espero tua (re)volta Filmstill // Foto: Bruno Miranda

„Warum müssen wir für unsere Bildung kämpfen, wenn Bildung doch unser Recht ist?” Das fragen sich Nayara, Marcela und Koka, die diese jüngste Geschichte Brasiliens aus Sicht der Schüler*innenbewegung erzählen, von den ersten Protesten gegen die Erhöhung der Preise für den öffentlichen Nahverkehr 2013 bis zur Wahl des ultrarechten Jair Bolsonaro Ende 2018. Espero tua (re)volta, der fünfte Dokumentarfilm der Journalistin und Regisseurin Eliza Capai, berichtet von vielen Brüchen und Niederlagen, aber auch von Mut, Power und Erfolgserlebnissen. Der Film könnte aktueller nicht sein und weiß dies auch. Eine seiner großen Stärken ist die Fülle an Material zu den verschiedenen Formen jugendlicher Rebellion gegen all das, was schon immer ein Problem in Brasilien war und nun mit dem neuen Präsidenten immer akuter wird: Sexismus, Homo- und Trans*phobie, Rassismus und die Unterteilung der Gesellschaft in Menschen erster und zweiter Klasse.
Espero tua (re)volta, das die „Revolte“ schon im Titel trägt, ist eigentlich ein klassischer Dokumentarfilm – Bilder von Demonstrationen, Versammlungen, besetzten Schulen und, natürlich, exzessiver Polizeigewalt –, die Erzählform ist jedoch besonders. Nayara, Koka und Marcela waren von Anfang an bei den Protesten und den Schulstreiks im Bundesstaat São Paulo dabei, kommentieren die Szenen, in denen ihre jüngeren Ichs teils selbst vorkommen, und leiten die Kamera an. „Geh’ noch mal kurz zurück zu der Szene davor, ich war noch nicht fertig“ oder „wir müssen jetzt doch nochmal einen kurzen Exkurs ins Jahr 2012 machen“, heißt es, und die Kamera gehorcht. Mit viel Humor achten Nayara und Marcela darauf, dass Koka als männlicher Erzähler nicht zu viel Redezeit bekommt. „Jetzt sind wir Frauen wieder dran, deine Zeit ist abgelaufen“, heißt es gleich zu Beginn, und Koka gehorcht, verliert dabei aber nie seinen Mittei­lungs­drang.
Passend zur Energie der drei Erzähler*innen geht der Film musikalisch genauso kraftvoll vor, Baile Funk und Hiphop unterstreichen die rebellischen Szenen, in denen ein Meer junger Menschen durch die Straßen São Paulos zieht und Gerechtigkeit fordert, oder in denen die besetzten öffentlichen Schulen – insgesamt 200, deren Schüler*innen sich gegen die Schließung wehren – zu Orten der Selbstverwaltung werden, wo sich Arbeitsgruppen zu Themen wie Sexismus und Rassismus bilden und die Jungs putzen und kochen müssen. Nicht selten erfolgt plötzlich ein musikalischer Bruch, zu dem die drei ankündigen, dass Szenen voller Polizeigewalt gegen Minderjährige folgen werden. Dazu erfahren wir: „Die Diktatur ist vorbei, aber die Repression blüht.” In diesen Szenen wird deutlich, wie viel die Schüler*innen der Bewegung bereits an Gewalt haben ertragen müssen und wie sehr sie der eigene Kampf mitnimmt. Immer wieder folgt die Warnung: „Dies ist erst der Anfang, es wird wieder passieren.“
Umso wichtiger, dass Espero tua (re)volta trotz allem Hoffnung schenkt. Hoffnung in eine Generation junger Brasilianer*innen, die früh gelernt haben, was es heißt, für die eigenen Rechte zu kämpfen und nicht daran denken, diesen Kampf aufzugeben.

“ICH BIN BRASILIANER”

Marighella Eine Mischung aus historischem Drama und Actionkino // Foto: O2 Filmes

Wer während einer Diktatur geboren und aufgewachsen ist, ganz gleich auf welchem Fleck dieser Erde, trägt das ganze Leben eine besondere Last mit sich herum: Die Last der Unfähigkeit zu verstehen, was passiert ist. Oder vielmehr die der Unfähigkeit zu verstehen, was passiert ist und nach dem Warum zu fragen.
„Auge um Auge, wir werden nicht aufgeben”, das ist der Satz, der ständig wiederholt wird und der im kollektiven Unterbewusstsein verbleibt, nachdem man Marighella gesehen hat. Der Film von Wagner Moura erzählt vom Leben und Kampf des brasilianischen Revolutionärs Carlos Marighella von 1964 bis zu seinem Tod 1969. Im Jahr 1911 geboren, erlebt er die Zeit der großen Revolutionen in Lateinamerika und der Karibik und wird von diesen geprägt. Er wird anerkanntes Mitglied der Brasilianischen Kommunistischen Partei (PCdoB) und leitet später die bewaffnete Gruppe Nationale Befreiungsaktion (ALN).
Marighella ist eine Mischung aus historischem Drama und Actionkino, in dem wir sein strategisches Handeln mit der ALN und die Meilensteine seiner Biografie wie die Veröffentlichung seines Buches Kleines Handbuch der Stadtguerrilla verfolgen können. Zu den einschneidendsten Momenten im Leben des Revolutionärs gehören sicherlich auch die Entführung des US-Botschafters Charles Elbrick und jeder einzelne der Versuche Marighella selbst umzubringen, etwa im Hinterhalt vom November 1969 durch die faschistische Geheimpolizei DOPS unter Sergio Paranhos Fleury. Gelungene Verfolgungsszenen, gefilmt mit der Handkamera geben den Zuschauer*innen das Gefühl, selbst unter denen zu sein, die in den 60er Jahren von der Polizei verfolgt wurden. Die Spannung und das Adrenalin übertragen sich derart, dass man sich in einigen Momenten am liebsten die Augen zuhalten möchte, aber das unangenehme Schicksal und die geschichtliche Verantwortung verbieten es.
Selbstverständlich ist der Film nicht frei von Gewalt- und Folterszenen. Glücklicherweise wird die Grausamkeit derer, die der Film zeigt, in visueller Hinsicht nicht allzu exzessiv. Sowohl Masken- als auch Szenenbild leisten ganze Arbeit. Trotzdem nehmen diese Szenen einen am meisten mit, überwältigen, weil man weiß, dass es tatsächlich so geschehen ist. Genau dieses Verhältnis macht Marighella zu einem Spielfilm, der sinnbildlich für alle in lateinamerikanischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts begangenen Grausamkeiten stehen könnte.
Die Leistungen von Regie und Schauspieler*innen sind einwandfrei, eine einzelne Nahaufnahme des Gesichts von Seu Jorge – der Carlos Marighella darstellt – oder der anderen Darsteller*innen ist schon allein so viel wert wie die Gesamtheit aller Szenen. Der gezeigte tiefe Schmerz und die unnachgiebige Überzeugung der Revolutionär*innen lassen immer wieder die Frage aufkommen, warum dieser Film zwar im Wettbewerb, jedoch außer Konkurrenz lief. Bleibt so ein dreistündiger Film unbemerkt, weil er schlicht und ergreifend zu lang ist? Oder geht ein Werk, das die Unterdrückung der Menschen in Lateinamerika und auf der ganzen Welt auf so heftige Weise kritisiert, der ehrbaren Jury dieser 69. Berlinale gegen den Strich?
Wagner Moura hebt in Marighella auch den Kampf der Revolution gegen die Zensur hervor, ebenso wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Freiheit und Unabhängigkeit der Medien. In einem Interview sagte er der Zeitung Brasil de Fato: ,,Dieser Film ist Teil des Kampfes gegen die brasilianische Rechte und das Regime Bolsonaros.” Auf diese Aussage hin folgten Drohungen von faschistischen Gruppen gegen ihn und sein Team, das Filmset zu überfallen und alles zu verwüsten. ,,Ich bin auf Prügel vorbereitet”, erwiderte Moura als Antwort auf diese moderne Form der Zensur. Es scheint, als käme nichts aus der Mode. Leider.

 

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