DAS MÄDCHEN MIT DEM SELTSAMEN NAMEN

Kuba in den achtziger Jahren. Die Revolution ist längst vorbei. Die Gesellschaft lebt in den starren Grenzen einer gefühlten sozialistischen Zeitlosigkeit. Nicht linientreue Gebräuche des Wortes „Freiheit“ werden nicht geduldet. „Es ist die Zeit des kalten Krieges, des Krieges jugendlichen Schweigens“.
Das ist das Kuba, in dem Nieve, die Protagonistin Wendy Guerras Roman Alle gehen fort, aufwächst.
Nieve bedeutet auf Spanisch „Schnee“ und die Inhaberin des Namens ist nicht sonderlich davon entzückt: „Schon im heißen Sand wollte ich zerfließen vor Scham. Wer kann in dieser Hitze in Kuba auf die Idee kommen, einem Mädchen diesen Namen zu geben? Nur meine Mutter.“ Ihr einziger Vertrauter ist ihr Tagebuch. Ein Vertrauter, auf den sie nicht verzichten kann, auch wenn sie mehrmals vor den Konsequenzen gewarnt wird, die entstehen würden, wenn er in die falschen Hände gerate.

Alle gehen fort ist eine Mischung aus Tagebuchfragmenten, Texten verbotener Lieder und Gedichten. Es wird mit einem Zitat aus dem Tagebuch von Anne Frank eröffnet, das dem gesamten Buch das Vorzeichen der Hoffnungslosigkeit verleiht. Basierend auf den eigenen Tagebüchern der Autorin schildert der Roman die intimen Gedanken und Erfahrungen eines Mädchens auf dem Weg in die Pubertät. Nieves Vater ist ausfällig, ihre Mutter lebt scheinbar in ihrer eigenen Hippiewelt, ihre Freund*innen und Bekannte verlassen Kuba nach und nach. Und in Nieves Kleiderschrank „liegen Ablagerungen all jener, die fortgingen und etwas zurücklassen wollten“.

Der erste Teil des Buches erzeugt ein Gefühl der Wut und Machtlosigkeit. Sowohl die kleine Nieve als auch ihre Mutter lassen sich von dem gewalttätigen Vater schikanieren und ertragen resigniert seine Ausfälle. Die Rollen der Mutter und Tochter scheinen vertauscht. Während sich die Tochter bemüht, Verantwortung zu übernehmen, ist die Mutter nicht einmal in der Lage der Gewalt des Vaters etwas entgegenzusetzen. Jedoch liefert sie eine spannende widersprüchliche Protagonistin. Obwohl sie als Elternfigur scheitert, steht sie für ihre politische Überzeugungen und allgemeine humanistische Prinzipien.

Das düstere Stimmungsbild hellt sich im Verlauf des Buches kaum auf. Der Machismus wird nicht nur vom Vater verkörpert, er verfolgt Nieve auch in ihren Jungendjahren. Ihr erster Freund ist jemand, der dominieren möchte, um das eigene Selbstwertgefühl zu stärken, jemand, der sie als ein Objekt betrachtet, das geformt werden kann, um seinen Wünschen und Vorstellungen zu entsprechen.

Ein anderes zentrales Thema des Romans ist der Hunger. Wie der bekannte kubanische Schriftsteller Leonardo Padura einst auf einem Podium sagte: „Auf Kuba ist niemand an Hunger gestorben, aber in all den Jahren hat auch nie jemand das gegessen, worauf er wirklich Lust hatte“. Nieve hungert jedoch nicht nur nach Essen. Sie wirkt wie von Zuneigung und emotionaler Nähe beraubt. Der Liebe wird eine Absage erteilt: „Wenn du jemandem erzählst, dass du jemanden liebst, fällst du in Ungnade. NO LOVE. Also lässt du dich nicht einmal je auf den ein, der dir wirklich gefällt.“

Zensur, Exil, Machismus. Und trotzdem lässt das Buch einen kleinen Schimmer Hoffnung: Nieves Stärke, die die Leser*innen glauben lässt, dass am Ende doch irgendwie alles gut wird.

HOFFNUNG IN EINER HOFFNUNGSLOSEN WELT

Contreras Castro nimmt uns mit in eine Geschichte, in welcher sich die Grenzen zwischen der harschen sozialen Realität eines Bordells und dem scheinbar Unvorstellbaren ständig verschieben und sogar ganz zu verschwinden scheinen. In bildreicher Sprache hat Contreras eine Erzählung geschaffen, in der die Figuren des Romans versuchen, sich der Gewalt, der Ohnmacht und schlussendlich auch der Absurdität des Alltags mit bedingungsloser Liebe, mit Zusammenhalt und Akzeptanz entgegenzustellen.

Wir lernen Consuelo kennen, die seit dem Arbeitsunfalls ihres Mannes als Köchin in dem Bordell lebt und arbeitet und als gute Seele das Haus zusammenhält.

Ihr Bruder Jerónimo, ein wohl verrückter Ex-Mönch, befindet sich auf ständigen ziellosen Streifzügen durch die Stadt und nimmt die Welt auf seine ganz eigene Weise war. Er erklärt sich die Welt anhand eines Wissens, welches aus Büchern des 16. Jahrhunderts stammt, was ihn jedoch nicht davon abhält seine bisweilen kruden Anschauungen in der Realität bestätigt zu finden.

Im Mittelpunkt des Buches steht aber das Leben des kleinen Polyphem. Als Sohn eines von zu Hause verstoßenen Mädchens wird er in dem Bordell in San José geboren. Er wäre wohl ein ganz normales Kind, – wäre da nicht das große, tiefschwarze und leuchtende Auge auf seiner Stirn.

Während sich alle vor dem kleinen Monster fürchten, nimmt sich Jerónimo ihm liebevoll an, um ihm später all das, sprichwörtlich Ungeheuerliche, beizubringen, was er über das Leben weiß.

Behütet und vor den Augen Fremder versteckt, wächst der kleine Polyphem im Hof des alten Hauses auf – bis ihn eines Tages die Neugierde packt. Das Auge unter einer großen Mütze versteckt, begleitet er Jerónimo auf einen seiner Streifzügen durch die Stadt, um die Welt mit seinem eigenen Auge zu sehen. Schnell schließen die beiden Freundschaften und so nehmen uns der Mönch und das Kind, in den vielen darauf folgenden Anekdoten mit – in ihre Stadt.

Contreras überzeugt durch großes Wissen, eine noch größere Phantasie und erzählerisches Talent.

Besonders in den genialen, wie naiven, aber immer bizarren und skurrilen Anschauungen Jerónimos, spielt Contreras geschickt mit dem Spannungsverhältnis von Glauben und Wissen, welches unsere Perspektiven und somit unsere Wahrnehmung der Welt mitbestimmt. Jerónimos Zugang zur Welt erweitert die harsche Realität des Alltags um magische Elemente– und lässt die Lesenden nicht selten schmunzelnd, lachend, andere Male ungläubig und traurig zurück.

Mit einem kritischen Blick stellt Contreras in diesem teils komödienhaften, teils bedrückenden Buch Fragen von großer gesellschaftlicher Relevanz und schafft eine Geschichte der Hoffnung in einer hoffnungslosen Welt. Auf Deutsch zuerst erschienen 2002 im Maro Verlag. Seit 2011 erscheint es im Unionsverlag.

ENDZEITSTIMMUNG IM GEISTERDORF

Juan Rulfos einziger Roman wurde in den 61 Jahren seit seinem Erscheinen vielfach rezipiert: mehrere Verfilmungen, eine davon nach einem Drehbuch von Carlos Fuentes, ein kathedralenfüllender Haufen Sekundärliteratur, unzählige Doktorarbeiten. Eigentlich, so müsste man denken, kann über ein so dünnes Büchlein unmöglich noch mehr gesagt werden. Und dennoch: In Mexiko werden Neuauflagen mit Vorworten Intellektueller und auch die Doktorarbeiten immer noch wie am Fließband produziert.

Rulfo, geboren 1917 in Sayula im mexikanischen Bundesstaat Jalisco, gestorben 1986 in Mexiko-Stadt, hat zu Lebzeiten nicht mehr als knappe 300 Seiten Text an Verlage geschickt, von denen jede einzelne jedoch umso bemerkenswerter ist. Pedro Páramo ist einer der ersten Romane der künstlerischen Strömung des Magischen Realismus, der auf der einen Seite kategorischer Imperativ war, der die Literatur des lateinamerikanischen Kontinents auf der Weltbühne zu jahrzehntelangem Exotismus und Lokalkolorit verdonnerte, und andererseits Werke wie Pedro Páramo hervorbrachte, das so gar nicht farbenfroh ist und welches Gabriel García Márquez nach eigener Aussage auswendig aufsagen konnte. Pedro Páramo ist, schlicht gesagt, Anfang und zugleich Kulmination dessen, was die Essenz eben jenes berühmt-berüchtigten Magischen Realismus ausmacht: Es scheint, als würden Worte nicht ausreichen, um dieses Buch zu beschreiben, und trotzdem wird dies immer wieder versucht.

Die einzelnen, nicht unbedingt chronologisch angeordneten Fragmente des Romans handeln von dem Aufenthalt des Protagonisten Juan Preciado in Comala, dem Dorf in dem seine Mutter einst lebte und in dem sich laut dieser auch Juans Vater, der Großgrundbesitzer Pedro Páramo aufhält. Comala, ein verwahrlostes und verlassenes Dorf, an dem die mexikanische Revolution scheinbar spurlos vorbeigerauscht ist und das von der monstruös großen Hacienda Pedro Páramos, der Media Luna, eingekesselt ist, „liegt auf glühender Erde, geradewegs am Eingang zur Hölle“. Pedro Páramo selber ist „der wandelnde Groll“. Es dauert nicht lange bis Juan bemerkt, dass die wenigen Menschen, die Comala noch bevölkern, tot sind, als Geister umherwandeln, und sich dennoch mit denselben Problemen herumschlagen wie zu Lebzeiten: mit der Boshaftigkeit Pedro Páramos, der selbst zwar längst verstorben, doch auch im Tode noch Tyrann. Comala ist ein Dorf voller Klagen, ein Ort, der die Leser*innen trotz der flimmernden Hitze immer wieder erschaudern lässt. Es ist außerdem Schauplatz einer der wohl eindrucksvollsten Szenen der Weltliteratur: die Dialoge zwischen Juan und den Toten Comalas sind Ausdruck einer tief sitzenden Verzweiflung und erfahrenen Ungerechtigkeit, die über das Leben selbst hinausgehen und eins zu eins auf Kontexte des 21. Jahrhunderts übertragbar sind.

Übersetzt wurde Pedro Páramo in mehr als dreißig Sprachen, ins Deutsche zunächst im Jahr 1958 von Mariana Frenk-Westheim, einer gebürtigen Hamburgerin mit sephardischen Wurzeln, die 1930 ins mexikanische Exil emigrierte und zu einer der wichtigsten Übersetzerinnen Mexikos avancierte. Trotz der Popularität innerhalb Lateinamerikas hat es einige Jahrzehnte gedauert, bis die deutsche Übersetzung neu aufgelegt wurde. Die neueste deutsche Ausgabe ist 2010 im Suhrkamp Verlag erschienen und wurde von Dagmar Ploetz neu übersetzt. Was hier natürlich nicht fehlen darf: das Nachwort von García Márquez, dem größten Fan Rulfos.

EIN GEWISSER BLUES

„Du trägst das Abbild der Nostalgie im Gesicht“ heißt es, als sich zwei Menschen in einem Hauseingang begegnen. Habana Light von Lien Carrazana Lau ist eine von sieben zeitgenössischen Erzählungen aus Kuba, die gerade in der zweisprachigen Ausgabe Unbekanntes Kuba erschienen sind.

Ein gewisser Blues entspringt der Sammlung zweifellos. Mal geht es um ein Havanna, das vom dichten Qualm einer Zigarette verschleiert wird, mal um das Havanna eines Exil-Kubaners, der zurückkehrt, einen „Friedhof vorsintflutlicher Saurier“ vorfindet und eben jenen Schleier der Nostalgie verzweifelt sucht.

Surreales und Realität mischen sich, wobei sich fragen lässt, was von beidem mehr Absurdität beinhaltet. In jeder der Erzählungen taucht Gesellschaftskritik auf, mal mehr, mal weniger subtil, nicht zuletzt jedoch häufig mit einem gewissen Witz. „Als vorbeugende Maßnahme gegen eine starke Reizung meiner Kopfhaut, meiner ach so empfindlichen Epidermis, schlafe ich an den Nationalfeiertagen“ heißt es zum Beispiel bei Lia Villares in Eine halbe Minute westlicher Stille. Oder so werden in Erick J. Motas Erzählung nach und nach ganze Stadtviertel von funktionierenden Zombies bevölkert, die man nur noch als Expert*in des „Zentrums für die Erforschung und Entwicklung der Zombies“ von Normalsterblichen unterscheiden kann.

Aus den Erzählungen sprechen Kummer, Perspektivlosigkeit und politischer Verdruss, aber auch Komik und Erotik. Wenn beispielsweise über mehrere Seiten hinweg der gewaltige Hintern einer Liebhaberin beschrieben wird. Oder die uralte Großmutter den Zombie, der sich als Beamter ausgegeben hat, wortlos mit einem gezielten Schlag ihres berüchtigten Spazierstocks erschlägt, um sich sogleich wieder, ebenso stumm, in den Fernsehsessel fallen zu lassen.

Alle Geschichten handeln von persönlichen und gesellschaftlichen Grenzen, vom Stagnieren eines politischen Systems und dem damit verbundenen Stillstand der Protagonist*innen. „Ein Engel, gefangen in einem Gesellschaftssystem ohne Himmel (Die Justiz ist menschlich, allzu menschlich in Kuba)“. Obgleich sie fiktiv sein mögen, könnten alle Figuren genauso existieren: Der Exil-Kubaner, der auf seinem Rückflug nach New York feststellt, dass er das verhasste Kuba liebt. Die Studentin, die über den Dächern von Havanna eine Stadt im Rauch ihrer Zigarette verschwinden lässt, und deren Freund, der der „Krankheit der Nostalgie“ zum Opfer fällt.

Dtv hat die Ausgabe mit „Texte für Könner“ betitelt, was durchaus zutrifft. Praktisch sind die beigefügten Anmerkungen und Kurzbiographien zu den Autor*innen. Aber nicht nur um Spanischkenntnisse aufzufrischen, sondern vor allem der Poesie wegen ist diese Sammlung zu empfehlen. Ein lesenswertes Nachwort des Übersetzers Enno Petermann rundet den Band ab.

DIE EINSAME KUH

Den Anfang macht ein frühmorgendlicher Anruf in Buenos Aires. Von seinem Vater erfährt Federico Souza, dass Pajarito Lernú tot in einem Wassergraben gefunden wurde und ihm „einige Stunden vor seinem Tod eine Kuh geschenkt“ habe. „Das Tier ist in keinem guten Zustand, sagt er. Er hat es dem alten Soto geklaut.“ Also fährt der Drehbuchautor erstmals nach zwölf Jahren wieder nach Chivilcoy, sein Heimatstädtchen in der Provinz, wo früher einmal die Bahnlinie endete.

Nur einen kurzen Absatz braucht der argentinische Autor Hernán Ronsino, um die Leser*innen in seinen neuen Roman Lumbre („Glühen“) hineinzuziehen. Wer nun aber eine von den Rätseln um Lernús Tod und die mysteriöse Kuh getragene Spannungsgeschichte erwartet, wird überrascht. Zwar versucht der Erzähler Souza akribisch, den Umständen von Lernús Tod auf den Grund zu gehen. Doch Ronsino verwebt in diesen Rahmen unzählige Nebenstränge, die den vermeintlichen Hauptstrang an den Rand drängen. Immer wieder schweift der herumtreibende Souza in persönliche Erinnerungen ab, sei es an seine verstorbene Mutter, deren Grab er sucht, oder an seine in Buenos Aires zurückgebliebene Freundin Hélène. „Sich an etwas zu erinnern bedeutet, es – jetzt erst – zum ersten Mal zu sehen“, lautet einer der zentralen Sätze des Buches.

Seiner Heimatstadt begegnet der Erzähler mal liebevoll, mal distanziert. Er beobachtet präzise alltägliche Szenen, beschreibt die von latenter, struktureller Gewalt durchzogenen Lebensumstände und spickt seine Erinnerungen mit zahlreichen Anspielungen auf die argentinische Geschichte. Eine zentrale Rolle spielen die Aufzeichnungen des verstorbenen Lernú und ein verschollener Film über den modernistischen Dichters Carlos Ortiz, der 1910 in Chivilcoy ermordet wurde. Das Drehbuch hat kein geringerer als der große argentinische Schriftsteller Julio Cortázar verfasst, der in jungen Jahren eine Zeit lang als Spanischlehrer in Chivilcoy gelebt hat.

Lumbre ist der dritte Roman Ronsinos, der ebenso wie seine Vorgänger in dem Geburtsort des Autors angesiedelt ist. Auch die Figuren sind teilweise schon bekannt. So ist der Vater von Federico Souza einer der vier Erzähler aus dem meisterhaft konstruierten Kurzroman Letzter Zug nach Buenos Aires, der in deutscher Übersetzung ebenfalls im bilgerverlag erschienen ist.

Ronsino bedient sich filmischer Stilmittel und erzeugt starke Bilder. Nach und nach entsteht so ein großes gesellschaftliches Panorama, verortet in der Provinz im Jahr 2002, kurz nach dem Staatsbankrott Argentiniens. Von politischer Mobilisierung ist in Chivilcoy nichts zu spüren, aber der über Jahrzehnte vollzogene wirtschaftliche Niedergang ist allgegenwärtig. Sinnbildlich dafür fallen während der drei Tage die Getreidesilos des Ortes der Abrissbirne zum Opfer. Statt des einstigen Wohlstands bleibt nur eine einsame, gestohlene Kuh zurück.

MEXIKOS VERDRÄNGTER VÖLKERMORD

Sein Ruhm als Krimiautor mag seinen Ruhm als Historiker überstrahlen. Es besteht jedoch kein Zweifel: Paco Ignacio Taibo II ist in beiden Bereichen ein Meister seines Fachs. In Sachen Geschichte hat er das mit seinen beiden Biografien über den argentinischen Revolutionär Che Guevara und den mexikanischen Revolutionär Pancho Villa unter Beweis gestellt. In seinem neuesten Werk Die Yaqui – Indigener Widerstand und ein vergessener Völkermord gelingt es ihm erneut. Mit diesem Sachbuch rekonstruiert Paco Ignacio Taibo II anhand von Archivmaterial, aber auch anhand von Gesprächen mit Nachfahren der Yaqui die Geschichte dieses widerständigen Volkes. Die Indigenen aus dem nordwestlichen mexikanischen Bundesstaat Sonora hatten dafür einen hohen Preis zu zahlen. Sie wurden in einer über 40-jährigen Verfolgung von 1868 bis 1909 fast ausgelöscht. Alles nach offizieller mexikanischer Lesart im Namen des Fortschritts oder, nach Lesart von Taibo II, um große agro-industrielle Projekte voranzubringen. Der Kapitalismus „reitet das Pferd des Teufels, auch wenn er im Gewand der Moderne daherkommt, unter juristischem Mantel und ideologischer Maske“, schreibt er. Das traditionelle Siedlungsgebiet der Yaqui, ihre acht Dörfer, liegt ausgerechnet um den Río Yaqui, der wegen seiner fruchtbaren Auswirkungen auf den umliegenden Boden auch mit dem Nil verglichen wird. Die Denkweise der Yaqui, die Kollektiv-, aber kein Privateigentum kennt, stand der kapitalistischen Landnahme von Anfang an im Weg. Rassistische Begründungen über die Minderwertigkeit der unzivilisierten Yaqui wie vom spanischen Kolonialisten Vicente Salvo bereiteten den Weg: „… ihre Faulheit ist so groß, dass wenn sie eine Tür öffnen, sie diese nie schließen.“ Dass diese Einschätzung nicht nur rassistisch ist, sondern auch von Unkenntnis strotzt, macht Taibo II klar: „Calvo wusste nicht oder wollte nicht wissen, dass die Türen in der Yaqui-Gemeinschaft nicht geschlossen wurden, weil sie weder Schlösser noch Schlüssel hatten, und zwar deshalb, weil sie sie nicht brauchten.“ In dieser treffenden Art kontert Taibo II an vielen Stellen die offiziellen Verlautbarungen, die er den Archiven entnommen hat.

1868 massakrierte die mexikanische Armee in einer Kirche eingesperrte Yaqui, einschließlich Frauen und Kinder. Seitdem kursiert unter den Indigenen ein Gedicht bis heute: „Der Yori ist derjenige, der uns immer geschadet hat mit Krieg, uns das Land genommen hat, die Ernte, das Vieh, die Weiden und das Holz; uns jeder Art von Folter und Qual unterzog.“ Der Yori, unschwer zu erraten, ist der Eindringling: als „die Fremden, Weißen, Kreolen, Mestizen, Angelsachsen, Europäer“, beschreibt sie Taibo II. Wörtlich heißt Yori, „der nicht respektierte.“
Taibo II lässt an seiner Sympathie und seiner Bewunderung für die Yaqui keinen Zweifel. Ein Volk, das sich über Jahrzehnte an Waffenkraft deutlich unterlegen, mit Guerilla-Taktik gegen einen übermächtigen Feind gewehrt haben. Neben zahlreichen detaillierten Schilderungen von größeren Schlachten, widmet Taibo auch herausragenden Persönlichkeiten auf beiden Seiten einzelne biographische Kapitel und Abschnitte, vor allem Cayeme. Er war ein Offizier der Yaqui-Kavallerie, der von Gouverneur Pesqueira 1874 die Zuständigkeit für die Yaqui- und Mayo-Territorien, eines weiteren indigenen Volks in Sonora, übertragen wurde. Ein Yaqui, der in der mexikanischen Armee ausgebildet wurde. Der Plan, so den Widerstandsgeist der Yaqui zu brechen, ging gründlich schief. Cayeme griff auf die traditionelle demokratische Struktur der Yaqui zurück, statt hierarchisch Macht auszuüben. Diesem Ansatz blieb er bis zu seiner Ermordung 1887 treu. Auch wenn sich nach seinem Tod die Landnahme beschleunigte, der Widerstand blieb, bis sich die Regierung entschloss, „die Yaqui-Indios vollkommen auszulöschen.“ Das gelang nicht ganz, aber fast. 1868 lebten rund 30.000 Yaqui, nach der Endphase mit Massendeportationen und Massenexekutionen waren es 1909 noch rund 6000. Heute leben nur noch wenige Yaqui in den Bergen von Sonora rund um den Río Yaqui. Taibo schließt mit: „Ich beende das Buch in der Hoffnung, dass seine Lektüre diese bittere Mischung aus Abscheu und Bewunderung erzeugt, die ich empfunden habe.“ Diese Hoffnung dürfte sich in den allermeisten Fällen erfüllen.

 

IM RYTHMUS EINES GENIALEN MUSIKERS

Chico Buarque ist einer der bekanntesten Musiker und Komponisten Brasiliens, eine international anerkannte Größe der Música Popular Brasileira. Weniger bekannt ist er in Deutschland als Autor von Romanen, die er in großen Abständen seit Anfang der 1990er Jahre veröffentlicht. Mein deutscher Bruder von 2014 erschien in deutscher Übersetzung im S. Fischer Verlag und bietet für Leser*innen hierzulande etwas ganz Besonderes: Chico Buarque, eigentlich Francisco Buarque de Hollanda, erzählt darin den lange verschwiegenen, deutschen Teil seiner Familiengeschichte. 2013 kam er nach Berlin, um nach dem unehelichen Sohn seines Vaters Sergio de Hollanda zu suchen, den dieser in den 1930er Jahren während eines Studienaufenthaltes gezeugt und nie gesehen hatte. Und – soviel sei verraten – auch ihm ist es nicht mehr gelungen, den Halbbruder lebend zu treffen.
Basierend auf dieser realen Familiengeschichte gestaltet Buarque eine fiktive Version der Entdeckung des Familiengeheimnisses und der Suche nach dem unbekannten Halbbruder, in der sich, wie in einem Vexierspiegel, reale Geschehnisse und erzählerische Verfremdung mischen. So ist der Vater der Hauptfigur, wie der Vater von Chico Buarque, ein Intellektueller, der nie über den in Deutschland gezeugten Sohn spricht.
Auch Nino selbst liebt die Bücher, spricht mehrere Sprachen und verdient so seinen Lebensunterhalt. Anders als der Autor, hat Nino nur einen, sehr verhassten, älteren Bruder, den – vermutlich – eine seiner Frauengeschichten in die Fänge der brasilianischen Militärdiktatur treibt. Auch Nino leidet unter der brasilianischen Diktatur und beschreibt die Veränderungen genau, die im Laufe der Jahre jeden Protest unmöglich machen. Anders als Chico Buarque aber, dessen politisches Theaterstück Roda Viva ihm 1967 nur die Wahl zwischen dem italienischen Exil und dem Gefängnis ließ, findet Nino eine Nische im Institut Français, das ihn vor politischer Verfolgung bewahrt. Das „Verschwinden“ seines Bruders treibt Nino immer tiefer in die Auseinandersetzung mit der deutschen Diktatur der 1930er Jahre, als sein Vater versuchte, den unehelichen Sohn aus Berlin nach Brasilien zu holen und am fehlenden Ariernachweis scheiterte. Unklar ist daher selbst der Name des Bruders – ein schlechter Ausgangspunkt für die Suche, bis Nino, auch als Nichtmusiker, ihn endlich an der wieder lebendig gewordenen Stimme des Vaters erkennt. Wie sehr ist die eigene Familiengeschichte von der Weltgeschichte bestimmt, wo berühren sich das Politische und das Private? Haben Diktaturen zu unterschiedlichen Zeiten etwas gemeinsam? Diese großen Fragen stellt diese Familiengeschichte. Doch während bei anderen Romanen, die auf realen Geschehnissen beruhen, die Fiktion oft interessanter ist als die Realität, entsteht in Mein deutscher Bruder der Verdacht, die „eigentliche“ Geschichte wäre letztlich spannender gewesen als die sehr konstruierte – und oft skurrile – fiktive Familiengeschichte. Dennoch besitzt der Roman große literarische Qualitäten. Da ist zuerst die Sprache Chico Buarques, der Rhythmus seiner oft halbseitenlangen Sätze, die den genialen Musiker verraten. Der Autor spielt mit Begriffen, mit deutschen Passagen, mit Zitaten großer Klassiker und dem Portugiesisch der Straßen von Rio de Janeiro. Kongenial übersetzt wurde er von Karin von Schweder-Schreiner, mit der er intensiv zusammengearbeitet hat. Nicht zuletzt ist angesichts der aktuellen Situation in Brasilien die Auseinandersetzung des bis heute politisch engagierten Chico Buarque mit der Militärdiktatur äußerst spannend.

 

VERFOLGUNGSJAGD

„Er sah auf seine Hände. Kriminelle, jawohl. Wegelagerer, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen.“ Das stellt der Soldat León Almansa am Ende des Romans fest. Gleichermaßen könnte dieses Zitat die Erkenntnis mehrerer Protagonist*innen aus Antonio Ortuños Madrid, Mexiko sein. Gewalt und Brutalität ziehen sich durch den ganzen Roman. Ob aus Rache, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen oder im Kampf ums eigene Überleben, gnadenlos wird gejagt und vergolten.

Der Roman ist die Geschichte einer Familie aus der Sicht verschiedener Generationen, aus zwei Jahrhunderten und über zwei Kontinente hinweg erzählt. Dabei verknüpft Ortuño in beinahe filmisch anmutenden Szenen die Zusammenhänge. Vom spanischen Bürgerkrieg wird ins Jahr 1997 gesprungen, in welchem der Enkel des Anarchisten Yago, einst aus Madrid vor Franco geflüchtet, nun selbst zurück in das Land seiner Großeltern flieht. Omar wird nämlich vom Handlanger eines korrupten Gewerkschaftsbosses (Mariachito genannt) verfolgt, weil er als heimlicher Geliebter von Mariachitos Freundin, der sich obendrein auch noch am Tatort befand, fälschlicherweise für dessen Mord verantwortlich gemacht wird.

Madrid, Mexiko ist nicht nur eine einzelne spannende Verfolgungsjagd, sondern bietet gleich mehrere davon, und das auf verschiedenen Ebenen. Da ist beispielsweise die Cousine Omars, die ihm zur Flucht verhilft und in gewisser Hinsicht auch Fluchthelferin der Literatur ist. So verfolgt und beschafft sie Manuskripte über Kontinente hinweg, um sie an gut zahlende, geheimnisvolle Kund*innen zu verkaufen, deren Ziel es ist, dass selbige niemals an die Öffentlichkeit gelangen.

Obwohl Flucht und Verfolgung im Vordergrund des Geschehens stehen, erzählt Ortuños neuer Roman doch vor allem vom Ankommen und von der Identitätssuche in der Fremde. Madrid, Mexiko ist auch eine Geschichte verschiedener Versuche, dem Schicksal zu entkommen und eine Heimat zu finden, Migrations- und gesellschaftliche Konflikte mit eingeschlossen. „So viel Foucault, um am Ende in irgendeinem Scheißladen ein Tüllkleid zu kaufen; So viel Derrida, um dann für einen Bauern Tortillas zu backen.“ Die Worte Omars und seiner Kommilitonin, die mit einem Landwirt aus der Provinz, aus der sie stammt, verlobt ist, treffen es auf den Punkt. Ortuño zeichnet ein authentisches Bild der konservativen mexikanischen Gesellschaft und erzählt auch von der Rebellion gegen das eigene Schicksal.

Mögen die einzelnen Charaktere auch sehr unterschiedliche Biographien haben, die auf verschiedene Weisen miteinander verwoben sind – am Ende steht eine Nachricht klar und deutlich für alle Beteiligten. Die Menschen glichen sich seit Kain nur in einem: „Sie seien alle Verbrecher.“

 

SUBTILER RASSISMUS

1990 wohnte ich sechs Monate in Rio de Janeiro, in einem Apartment in Leme, dem ruhigen Teil der Copacabana. Nur einmal kurz die Straße und den Berg hoch kam die nächste „Favela“: Chapeu Mangueira. Der Stadtteil, schon damals mehr „Arbeitersiedlung“ denn ein Schauplatz extremer Armut, wurde durch Benedita da Silva bekannt, erste schwarze Frau im Kommunalparlament, später im Landesparlament, noch später im Senat. Fast vor deren Haustür wurden drei Jugendliche erschossen, von denen einer ein Kadett war, der Landgang hatte. Sein Ausbildungsoffizier verbürgte sich für ihn und seinen guten Ruf (kein Drogendealer!) ein und setzte sich dafür ein, dass dieser Mord aufgeklärt würde. Vermutlich war es die Kombination aus militärischer Intervention und der Prominenz von Benedita da Silva, die den Fall bekannt machte. Aufgeklärt wurde er dennoch nie. Die Jugendlichen wurden aus einem fahrenden Auto heraus erschossen, vermutlich Zufallsopfer, vermutlich eine „Nachricht“, die der Forderung nach Schutzgeldzahlungen Nachdruck verleihen sollte.

Einen ganz ähnlichen Fall hat Fernando Molica zum Ausgangspunkt seines Romans Schwarz, meine Liebe gewählt, der bereits 2005 auf Portugiesisch unter dem Titel Bandeira negra, amor erschienen ist: Drei Jugendliche werden in der Favela Borel tot aufgefunden, vor ihrem Tod wurden sie offensichtlich gefoltert, einer von ihnen hatte einen Vertrag mit einem englischen Fußballverein in der Tasche. Schnell kommt der Verdacht auf, dass es sich nicht um „Drogenhändler in einem Bandenkrieg“ handelte, sondern die Polizei selbst in den Fall verwickelt ist. Und ähnlich wie im wirklichen Leben gestaltet sich die Aufklärung schwierig, auch die internen polizeilichen Ermittlungen.

Hauptfiguren dieses Romans, der nur am Rande Krimi ist oder sein möchte, ist das unwahrscheinliche Duo und heimliche Liebespaar Fred – schwarzer Rechtsanwalt und Menschenrechtsaktivist – und die weiße Majorin der Militärpolizei Beatriz. Unabhängig voneinander ermitteln sie in ihren jeweiligen Sphären, heimlich tauschen sie Informationen aus und eröffnen Molica so die Perspektiven, um sich dem eigentlichen Romanthema zu nähern: Alltagsrassismus in Brasilien. Denn Fred hat, bevor er der respektable Rechtsanwalt Dr. Frederico Cavalcanti de Souza wurde, alle Phasen einer Erziehung durchlaufen, die darauf abzielte, ihn „weißer“ zu machen, einschließlich des allnächtlichen Gebrauchs einer Schlafhaube, um die „schlechten Haare“ zu glätten. Noch immer verwechselt ihn die weiße Mittelschicht trotz seines gutsitzenden Anzugs am Ausgang des Restaurants gerne mit dem Parkplatzwächter – die Hautfarbe ist Uniform genug. Unter diesen Umständen die Beziehung mit einer weißen Militärpolizistin offen zu leben, ist für beide ausgeschlossen.

Geschrieben ist Schwarz, meine Liebe fast ausschließlich in langen inneren Monologen. Fernando Molica, seit 1982 Journalist in verschiedenen Zeitungen, dem TV-Sender O Globo und aktuell für Rádio CBN in Rio de Janeiro, verwendet eine kraftvolle, brasilianische Alltagssprache für seine Figuren, die in der Übersetzung leider ein wenig verloren geht. Nicht weil sie schlecht übersetzt wäre, sondern weil jenseits des Slangs der Jugendkulturen oder des Mundartlichen keine ähnlich kraftvolle deutsche Alltagssprache existiert. Mit seinem zweiten Roman hat sich Molica mehrerer großer Themen angenommen und entführt uns gleichzeitig an wenig bekannte Orte der „wunderbaren Stadt“ Rio de Janeiro.

 

VON ZERQUETSCHTEN FLIEGEN UND MENSCHENBREI

„Bei der Jagd auf Fliegen sind die wichtigsten Fähigkeiten Schnelligkeit und Beweglichkeit. Wenn du schnell bist und fest zuschlägst, wird sich die Fliege in einen organischen Brei verwandeln, der nicht im Entferntesten mehr an ein Lebewesen erinnert. Man jagt Fliegen zum Spaß, das Amüsement rechtfertigt auf dieser Welt alles, aber man zerquetscht sie auch aus Ekel, da sie dort hinfliegen, wo sie nicht hinfliegen dürfen, und das ärgert uns.“ Die Fliegen-Analogie ist nicht die einzige, die in Antonio Ortuños Die Verbrannten zwischen der Tierwelt und den zentralamerikanischen Migrant*innen, die Mexiko durchqueren, aufgestellt wird. Sie sind Kakerlaken, die zerquetscht werden müssen, gescheuchtes Vieh auf der Reise zum Schlachthof, das anschließend durch den Fleischwolf gezwängt wird.

Irma, genannt La Negra, eine Sozialarbeiterin der Nationalkommission für Migration, wird nach einem Brandanschlag in das fiktive Santa Rita versetzt, ein unscheinbarer, fehlkonstruierter Ort an der Grenze zu Guatemala. Der Anschlag galt der örtlichen Herberge für Migrant*innen auf der Durchreise in die USA. Irma soll die Angehörigen und wenigen Überlebenden mit Infoblättern versorgen und ein standardisiertes geheucheltes Beileid aussprechen. Desillusioniert und verzweifelt ob der Untätigkeit ihrer Beamtenkollegen im Angesicht der immer neuen Angriffe und Massaker in der Herberge, versucht Irma gemeinsam mit dem Journalisten Joel Luna eines der überlebenden Opfer zu schützen: Yein, eine junge Frau, die auf eine fast schon mystische, epische Art als Racheengel stilisiert wird.

Santa Rita ist jedoch nur ein Teilaspekt des extrem vielstimmigen Romans. Seine größte Stärke sind die eingestreuten Kapitel, die den Bewusstseinsstrom des frustrierten und hasserfüllten Vaters  der Tochter Irmas wiedergeben. Gesellschaftsfähiger Rassismus und moralische Verkommenheit werden so denunziert.

Im Stile von Bolaños monumentalen Roman 2666 schildert Ortuño mit medizinischer Präzision unfassbare Gewaltszenen, die besonders darum Übelkeit verursachen, weil sie nicht fiktiv sind, und weil sie mehr als nur die Wertlosigkeit eines Menschenlebens bedeuten. Zentralamerikanische Migrant*innen werden zum Objekt der Macho-Gewaltfantasien, des Machtwahnsinns und der Machtdemonstration degradiert. Insofern erfüllen die „Verbrannten“ eine ganz besondere Funktion zum Erhalt des Systems, aus dessen Teufelskreis scheinbar kein Entkommen möglich ist. Das wichtigste Glied in der Kette ist dasjenige, das seinen Wert durch die eigene Austauschbarkeit erhält, durch die Logik der Massenware.

Eigentlich ist Die Verbrannten trotz der thrillerhaften Motive der Jagd und Rache, des latenten Spannungsaufbaus und eines furiosen Finales kein Krimi, sondern ein Bericht einer Gesellschaft, die bis ins letzte Glied korrumpiert ist und in der Vertrauen zu schenken immer ein Fehler ist.
Für Migrant*innen in Mexiko ist ein Entkommen aus der Hölle so gut wie unmöglich. Zwar beschreibt Ortuño Mexiko als „ein Land voller Opfer mit Tigerzähnen und -krallen“ – die Umkehrung von Opfer- und Täterrollen mag somit vereinzelt zu einer makabren Rehumanisierung der Opfer führen. Ihr Widerstand, wie auch der Irmas und des Journalisten, spielen jedoch innerhalb „der sieben Kreise der mexikanischen Hölle“ keine Rolle. Der Fleischwolf Mexiko mahlt immer weiter, seine Einzelteile sind genau so austauschbar wie die Menschen, die er verschlingt.

DIE POESIE IST EIN ZUG, DER UNS NACH HAUSE BRINGT

Frank Báez (Fotos: Timo Berger)

Wenn man mich fragen würde, was ich bis in alle Ewigkeit tun könnte, ohne mich dabei zu langweilen, würde ich sagen: Deutschland mit dem Zug erfahren und in jeder Stadt aussteigen und meine Gedichte lesen. Mir kam dieser Gedanke, nachdem ich an der Latinale teilgenommen hatte, einem Festival, das sich – in der Heimat Goethes – der lateinamerikanischen Poesie widmet. Organisiert von den Übersetzer*innen Rike Bolte und Timo Berger, fand es dieses Jahr zum elften Mal statt. Es war nicht nur das erste Mal, dass ich an dieser legendären Veranstaltung teilnahm, sondern auch mein erster Besuch in Deutschland, wohin ich aus meiner Heimat, der Dominikanischen Republik, geflogen war. Ich erinnere mich noch gut, dass die deutschen Urlauberinnen am Flughafen von Punta im Bikini an Bord gingen und in Frankfurt mit langen Gesichtern und eingehüllt in übertrieben dicke Mäntel ausstiegen.

Doch das Klima war selbst für einen Karibikbewohner noch zumutbar. Die ersten Tage konnte ich sogar in meinen tropischen Hemden durch Berlin spazieren. Zum Beispiel zur Eröffnung des Festivals im Ibero-Amerikanischen Institut passte die angenehm warme Temperatur gut zu der Veranstaltung mit dem Titel „Zwischen-poetische Briefe von Dichtern aus der Karibik“, bei der ich mit Alejandro Álvarez Nieves und Lina Nieves Avilés (Li), beide aus Puerto Rico, und dem deutschen Dichter Björn Kuhligk las und wir uns gemeinsam Gedanken über unsere Heimatregion machten. Wir kamen zu dem Schluss, dass die Karibik eines der ersten Migrationsexperimente darstellt, von der das heutige Europa lernen könnte. Im Fall Deutschlands hat die Ankunft syrischer Schutzsuchender die Ausländerfeindlichkeit und die dschihadistische Bedrohung erhöht sowie ultrarechte Gruppen gestärkt. In Anbetracht dieses Szenarios waren wir vier einer Meinung: Die beste Waffe ist der Dialog. Im Neues Ufer, einer Bar, die David Bowie in seiner Berliner Zeit besuchte, wiederholte ich nach der Lesung diesen Gedanken im Gespräch mit einer Syrerin mit grünen Augen und Locken. Sie erzählte mir vom Krieg, von ihrer Ankunft in Deutschland und davon, wie sie mit dem Verkauf von Pillen überlebt.

Vormittags ging ich in die Museen und nachts in die Clubs.

Ich traute mich nicht, ihr etwas abzukaufen. Nicht nur, weil es der erste Abend der Latinale war und ich nicht meine ganze Energie gleich zu Anfang verpulvern wollte, sondern auch, weil ich am nächsten Morgen die Nofretete im Neuen Museum besuchen und bei dieser Gelegenheit über all meine geistigen Kapazitäten verfügen wollte. Das Wunderbare an der Latinale ist, dass man im Gegensatz zu Poesiefestivals in Lateinamerika genügend Zeit hat, die Städte kennenzulernen.

Aber nicht bloß das: In Berlin brachten uns die Organisator*innen in einem großartigen Hostel in der Nähe des Alexanderplatzes und fast neben der Museumsinsel unter. Mein Tagesablauf gestaltete sich wie folgt: Vormittags ging ich in die Museen und nachts in die Clubs. In Berlin gibt es so viele, dass man das ein ganzes Jahr lang machen könnte und immer noch nicht alle Ausstellungen und alle Tanzflächen gesehen hätte.

Aber gut, an besagtem Morgen rannte ich durch die Gänge des Neuen Museums und suchte die Büste der Nofretete, die ich schon immer einmal sehen wollte. Als ich sie von Weitem schon erkannte – im Innern einer Vitrine und umringt von Tourist*innen, die versuchten, sie unbemerkt von den Aufpasser*innen zu fotografieren –, rührte sie mich an: Lange Minuten stand ich verzückt vor ihrer Büste und stellte mir vor, dass ich, würde ich sie berühren, die Wärme ihrer Haut spüren würde, als wäre sie lebendig.

Ich fing selbst an, an die Macht der Worte zu glauben.

An diesem Abend fand die Lesung mit dem Titel „In anderen Worten“ in der Lettrétage statt. Dort trat ich wieder mit Li und Alejandro auf. Letzterer trug die Gedichte der Honduranerin Mayra Orihuela vor, die nicht kommen konnte. Die Mexikanerin Paula Abramo lieh ihre Stimme ihrem Landsmann und guten Freund, dem Dichter Alejandro Tarrab, dessen Haus beim jüngsten Erdbeben in Mexiko-Stadt unbewohnbar geworden ist. Ebenfalls lasen die Brasilianerin Adelaide Ivánova und der Argentinier Miguel Ángel Petrecca. Bei fast allen Lesungen der Latinale werden die deutschen Übersetzungen auf eine Leinwand projiziert. Dadurch kann nicht nur die hispanoamerikanische Community in Deutschland die Lesungen genießen, sondern auch Deutsche können die Texte verstehen und aktuelle Lyrik aus Lateinamerika erleben. Offensichtlich funktionierte das Konzept, denn bei der Lesung bemerkte ich ein heterogenes Publikum, von dem sich uns ein Teil zum Abendessen im Café do Brasil am Platz der Luftbrücke anschloss und auch noch dabeiblieb, als wir, angeführt von Betty Konschake, einer der Koordinatorinnen der Latinale, in einen Latino-Schuppen weiterzogen, der La Cantina heißt und wo wir bis zum Morgengrauen Salsa, Reggaeton und Bachata tanzten.

Dennoch brachte mich La Cantina in ein Dilemma. Ich war doch nicht von so weit hergekommen, um ganz wie zu Hause auf karibische Rhythmen zu tanzen. Ich wollte tanzen, was die Deutschen tanzen. Weniger als ein Tourist bin ich einer dieser Reisenden, die dem alten Spruch folgen: „Wohin du auch gehst, tu, was du siehst.“ Deswegen fragte ich am nächsten Abend nach der Lesung im Instituto Cervantes Li, die seit mehreren Jahren in Deutschland lebt, welchen Club Berlins sie für den besten hält.
„Das Berghain!“

Sie erklärte mir auch, dass das Berghain der Vatikan der DJs sei, dass sich der Club in einer alten Fabrik befände, dass die Leute dort von Freitag bis Sonntag durchtanzten und dass das einzige Problem sei, dass man in einer langen Schlange warten müsse und das ohne die Garantie, hineingelassen zu werden. Nachdem wir Alejandro, einen ausgemachten Diskofeind, überzeugt hatten, mitzukommen, fuhren wir mit der U-Bahn in ein Industriegebiet, in dem sofort eine lange Schlange und die Dealer*innen auffielen, die alle möglichen Arten von Drogen vertickten.

Wir standen anderthalb Stunden an. Hinter uns warteten zwei argentinische DJs, die sich immer, wenn sie nach Berlin kommen, vor dem Berghain anstellen, bisher aber stets abgewiesen worden sind. Sie waren dennoch zuversichtlich. Da fiel mir wieder ein, was Li gesagt hatte, dass das Berghain für die DJs wie der Vatikan sei, und ich dachte, dass sie mit dem argentinischen Papst Francisco nun vielleicht eine Chance hätten. Jedenfalls sorgte ihre Gegenwart dafür, dass wir uns auch alle möglichen Erwartungen machten. Als wir an die Reihe kamen, waren wir aufgeregt, denn sie hatten fast alle vor uns abgewiesen. Der Blick eines Riesen mit Sonnenbrille blieb allerdings auf meinem tropischen Hemd haften und er gab dem links von ihm ein Zeichen, uns vorbeizulassen. Erst im Club verstanden wir, dass sie die argentinischen DJs nicht hineingelassen hatten.

Ich könnte sehr lange vom Berghain erzählen, deswegen spare ich mir das für einen anderen Bericht auf. Ich erwähne hier nur, dass wir den Club um neun Uhr morgens verließen und direkt zur Lesung um elf im Buchladen Amarcord gingen. Zweifellos war diese Lesung eine der intimsten der Latinale, nicht nur weil die Enge des Ladens die Intimität regelrecht erzwang, sondern auch, weil wir alle verkatert mit heiseren Stimmen lasen, was der Atmosphäre sehr angemessen schien.

Tilsa Otto beendete die Lesung mit dem Gedicht “Die Poesie ist die große Spielverderberin.”

Der Chilene Andrés Anwandter war schon von Anfang an heiser gewesen, aber bei voranschreitender Lesung verlor er die Stimme ganz, so als würde er eine Performance über das Verstummen aufführen. Doch wer wirklich eine Performance hinlegte, war die Argentinierin Tálata Rodríguez, die ihre Gedichte aus dem Gedächtnis vortrug und sie mit großem Talent inszenierte. Die Peruanerin Tilsa Otta beendete die Lesung mit dem Gedicht „Die Poesie ist die große Spielverderberin“. Während sie las, schaute ich durch das einzige Fenster der Buchhandlung, vor dem man den nicht enden wollenden Regen von Herbstlaub sah, bis plötzlich Stille eintrat und wir wussten, dass die Latinale in Berlin zu Ende gegangen war.

Tálata Rodríguez

Dann begann der Exodus. Andrés und Alejandro flogen in ihre Länder zurück. Li fuhr nach Osnabrück. Tilsa und Tálata nach Bremen. Für Paula, Miguel und mich ging es nach München. Doch Miguel brach schon einen Tag vor unser Abreise auf und sagte, wir sähen uns dann bei der Lesung. Weswegen wir ohne ihn mit dem Zug und den Übersetzer*innen Laura Haber und Timo Berger losfuhren. Obwohl wir mehrmals unvorhergesehen umsteigen mussten, kamen wir noch rechtzeitig an.

Das Klima in München war so herrlich warm, dass ich wieder eins meiner tropischen Hemden tragen konnte. Dabei hatten die Leute in Berlin mir nur Schlechtes über München erzählt. Anscheinend existiert eine uralte Rivalität und wenn man die bayrische Stadt verteidigt, antworten die aus Berlin, dass in München die Partei der Nazis gegründet wurde, und man weiß nicht mehr, was man sagen soll. Eigentlich wusste ich fast nichts über München. Über Whatsapp hatte ich ein Foto eines Michael-Jackson-Altars gegenüber dem Hotel Bayerischer Hof bekommen, und nun erinnerte ich Laura und Timo bei jeder Gelegenheit daran, dass sie mich unbedingt dort hinbringen sollten.

Wir lasen um sechs Uhr abends in der Spanischen Buchhandlung. Wenige Minuten nach Beginn der Lesung erschien ein verschwitzter und keuchender Miguel Ángel Petrecca. Erst später erfuhren wir, dass er gerne wandert und gerade die bayrischen Alpen heruntergekraxelt war. Neben Miguel, Paula und mir lasen in München lebende lateinamerikanische Dichter*innen: Agustina Ortiz, Ofelia Huamanchumo de la Cuba, Jannet Weeber und Jorge Ernesto Centeno Vilca. Was mich in der Tat am meisten bewegte, war ein junger Spanier, der seit einem Jahr in München lebt, und mir erzählte, dass er zufällig in die Buchhandlung gekommen sei, weil er in einer Apotheke ein Plakat gesehen hatte. „Diese Lesung hat mein Leben verändert“, sagte er mir auf eine derart überzeugende Weise, dass ich selbst anfing, an die Macht der Worte zu glauben.

„Diese Lesung hat mein Leben verändert“

Bereits im Bett liegend, dachte ich nach und mir kam der Gedanke, dass Poesiefestivals sehr gut Züge sein könnten, in die diejenigen einsteigen, die zur Sprache ihrer Heimat zurückkehren wollen. Und da musste ich nicht nur an den jungen begeisterten Spanier denken, sondern auch an meinen Freund Miguel D. Mena, der seit den 1980ern in Berlin lebt und auf allen Lesungen gefilmt hat, an meinen Cousin David und seine Freundin Tao, die aus Frankfurt anreisten, um mich lesen zu sehen, und an meinen russischen Freund Alexei Kolejov, der, besessen davon, Spanisch zu lernen, aus Sankt Petersburg gekommen war, auch um mich lesen zu sehen, und der nach den Lesungen alle Dichter*innen nach Wörtern und verbalen Konstruktionen fragte, die er nicht verstanden hatte. All das setze ich gegen das, was ich bei einem Abendessen in Berlin gefragt worden war: Als der Gastgeber erfuhr, dass ich zu einem Poesiefestival gekommen war, fragte er mich, ob es überhaupt Sinn mache, weiter zu schreiben. Ich hatte ihm nicht geantwortet, aber eigentlich hätte ich ihm sagen sollen, dass viele Menschen auf diesen „Poesie“ genannten Zug warten und dass viele ihn bereits verpasst haben, ohne es zu bemerken.

Und mit diesem antifaschistischen Gedicht ging die Latinale offiziell zu Ende.

Aber zurück nach München: Unser letzter Tag in der bayrischen Stadt brach eisig an. Um zehn Uhr holte uns ein spanischsprachiger Fremdenführer ab, der mit uns eine Tour im kalten Regen machte. Immer, wenn ich ihn auf den Altar von Michael Jackson ansprach, sagte er, dass München so viel Geschichte besäße, dass wir keine Zeit mit diesem Blödsinn verschwenden könnten. Am Nachmittag nahmen wir an einem Übersetzungsworkshop in der Ludwig-Maximilians-Universität teil und abends lasen wir zusammen mit drei deutschen Autor*innen im kleinen Rationaltheater, das, wie mir erzählt wurde, eines der liebsten von Rainer Werner Fassbinder war. Es war die einzige Lesung, bei dem kein Beamer zum Einsatz kam. Doch es funktionierte hervorragend, denn wir waren nur sechs und es war eine emotionale Erfahrung, die Autorin neben dir deinen eigenen Text auf Deutsch lesen zu hören. Miguel trat zusammen mit der Dramaturgin Theresa Seraphin auf, Paula mit dem Dichter Krister Schuchardt und ich mit der Dichterin Daphne Weber. Letztere schloss die Lesung mit einem deftigen Gedicht ab, das den Titel „Hasstext“ trug, eine Art Anklage gegen die Neonazis und alle ultrarechten Bewegungen, die in den vergangenen Jahren nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa erstarkt sind. Und mit diesem antifaschistischen Gedicht ging die Latinale offiziell zu Ende. Aber wartet, wir sind noch nicht fertig. Ich hatte wohl doch lange genug Michael Jackson erwähnt, dass ich schließlich Laura, Timo und eine Handvoll Dichter*innen überzeugen konnte, den Altar des King of Pop zu besuchen. So trotzten wir der Kälte, der späten Uhrzeit und der zurückzulegenden Entfernung und unternahmen eine feierliche Prozession. Als wir vor ihm standen, verneigten wir Dichter*innen uns, legten die Festivalflyer ab und innerhalb weniger Minuten hatten wir uns verstreut.

 

DER SILBENREITER

Ende der neunziger Jahre sagte Gonzalo Rojas, damals schon über 80-jährig, sein Leben lang habe er nichts Anderes getan, als die Welt in Silben auszusprechen. Klangliche, rhythmische Physis ist es denn auch, was sein umfangreiches Werk kennzeichnet, während er von der Erotik bis zur Gesellschaftskritik eine Bandbreite an Themen zum Gegenstand seiner Dichtung machte. Nun ist es in erster Linie seinem Übersetzer und Freund, dem Bremer Romanisten Reiner Kornberger, zu verdanken, dass einhundert Jahre nach der Geburt des Dichters in Lebu im Süden Chiles und nach dem Band Das Haus aus Luft (Bremen, 2005) eine zweite zweisprachige Gesamtschau mit dem Titel Atemübung. Gedichte aus sieben Jahrzehnten erschienen ist.

Ein Drittel der Gedichte wurde, laut Vorbemerkung, aus Das Haus aus Luft übernommen, dagegen handele es sich bei den übrigen um bisher unveröffentlichte Übertragungen. In diesen ist in der Tat eine erstaunliche Treue zum Dichter zu erkennen, nicht nur im rhythmischen Fluss und den Zeilensprüngen, sondern auch, weil sich Kornberger an entscheidenden Stellen dichterische Freiheiten erlaubt und dennoch mit dem „Hohl des Meeres / Hohl des Himmels“ zu einer nahezu wörtlichen Übersetzung zurückkehrt. Die zweisprachige Ausgabe ist für Lyriklesende ein Geschenk, da für des Spanischen annähernd Kundige die Originalstimme des Dichters volltönend erfahrbar ist und zugleich das zuvor in seiner Bedeutung vielleicht nur vage Erahnte in der deutschen Version eines Kenners Präzision erlangt. Unterteilt ist das Buch in sieben Abschnitte, die nach emblematischen Gedichten betitelt sind und an sich schon neugierig machen. So finden sich gleich am Anfang bei „Rudernd im Rhythmus“ Gedichte, die der silben-malerischen Poetik von Gonzalo Rojas besonders entsprechen, während zum Beispiel unter „Der Hubschrauber“ seine politischen Gedichte zusammengefasst sind. Erhellendes bieten die sorgfältigen und dabei überschaubaren Anmerkungen im Anhang des Bandes, leichtfüßigen Genuss dagegen die Illustrationen des lebenslangen engen Freundes Rojas’, Roberto Matta, dessen durchscheinende Figuren-Miniaturen über die Seiten trippeln, hier dreiköpfig ein geflügeltes Lachen aufsetzen, dort den fragenden Zeigefinger heben.

Obwohl Gonzalo Rojas zu den herausragendsten und am meisten mit Preisen geehrten chilenischen Dichter*innen zählt, ist er in Deutschland kaum bekannt. Dabei verbrachte er nach Pinochets Militärputsch zwei Jahre im Exil in Rostock und kehrte auch danach immer wieder nach Deutschland zurück. Selbstverständlich fehlt auch in Atemübung nicht sein Gedicht „Domicilio en el Báltico – Ostsee-Domizil“, das ihm Kritik nicht zuletzt von Seiten seiner eigenen Landsleute einbrachte, weil er seinen Frust äußerte, als politischer Emigrant aus Chile von der DDR zwar in allen Ehren empfangen und mit einem Universitätslehrstuhl versehen worden zu sein, aber ohne Lehrerlaubnis, da er ungenehme Namen wie Borges und Octavio Paz auf seine Seminarliste setzte. Rojas entfloh der Enge und setzte sein Exil in Venezuela fort. Solcherlei Lebensdaten finden sich zum einen am Ende des Gedichtbands, zum anderen aber in der wunderbar plastischen Einführung zu Leben und Poetik des Dichters, verfasst von seiner französischen Biographin Fabienne Bradu. Ein rundherum schönes Buch, das sich immer wieder an beliebiger Stelle leselustvoll aufschlagen lässt.

ZWISCHEN TRAUM UND TRAUMA

Der Psychiater, die Nonnen, ihr Vater: Alle haben für Margarita einiges an Zuschreibungen parat. Ein pathologischer Fall sei sie, eine neurotische Nymphomanin, neurologisch geschädigt, erkrankt an Anorexie, Bulimie, Soziopathie, Hysterie und Legasthenie. An Letzterem stört sie sich am meisten. „Falsch, ich habe überhaupt kein Problem mit dem Lesen oder dem Leseverständnis, ich bin auch keine zwanghafte Lügnerin, wie die Direktorin sagt, ich gebe der Wirklichkeit einfach einen Hauch Kunst. Wie langweilig wäre sie, wenn niemand sie phantastisch machte…“
Die Mexikanerin Lucero Alanís hat die Geschichte der Erzählerin laut Übersetzerin Christiane Quandt aus den Aussagen verschiedener Frauen geformt. Margarita ist tatsächlich sehr viel auf einmal und lebt in vielen Welten gleichzeitig. Sie ist Zwillingsschwester, die gewaltsam von ihrem Gegenpart getrennt wurde, Tochter eines übergriffigen Vaters und einer misshandelten Mutter, rebellische Klosterschülerin, missverstandene Patientin, außergewöhnliche Künstlerin und Traumwandlerin.

Die collagenhafte, in poetischer Prosa verfasste Ich-Erzählung findet auf verschiedenen zeitlichen und räumlichen Ebenen statt, die nicht klar voneinander zu trennen sind. Da ist die Psychiatrie, da ist die Klosterschule, in der Margarita alternative Versionen biblischer Szenen in den Sekretär der Oberin kerbt und wo mit ihr gar ein Exorzismus durchgeführt wird. Und da ist das Elternhaus, in dem ihre Zwillingsschwester wegen ihrer blonden Haare und der blauen Augen bevorzugt wird, so sehr, dass der Vater beschließt sich seine eigene Tochter zur Frau zu nehmen, während Margarita als Hausmädchen fungiert und nicht mit am Tisch essen darf, da ihr Anblick dem Vater schlechte Laune bereitet.

Diese Aneinanderreihung von Klischees über Rassismus, Sexismus und das Trauma sexueller Gewalt im engsten Familienkreise ist keineswegs plump. Im Gegenteil sind Margaritas Worte von grausamer Aktualität: „Pater Tarsicio hat mir nämlich immer gesagt, alles werde uns aus Liebe verziehen, wie die Liebe, die er angeblich für mich fühlt, wenn er mich in die Sakristei führt und ich weglaufe und es den Schwestern erzähle und sie sich empören und mir niemand glaubt und ich am Schluss diejenige bin, die ihn gereizt hat.“ Die Angewohnheit, Opfer sexueller Gewalt in Täterinnen zu verwandeln, ist noch immer eine ganz normale gesellschaftliche Praxis. Ganz im Sinne der kruden Logik des „Irgendwas wird sie schon gemacht haben“ wird Frauen die biblisch verankerte Rolle der rücksichtslosen Verführerin aufgezwungen.

Margarita setzt sich viel mit männlichen „Wahrheiten“ über Weiblichkeit auseinander. Wenn auch ihr Tonfall naiv scheint, sind es ihre Handlungen keineswegs. Sie nimmt die Rolle der Liebhaberin an, wenn sie sich mit dem Klostergärtner vergnügt und verfällt nie in Selbstmitleid, sondern rechnet stattdessen knallhart mit der Scheinheiligkeit derjenigen ab, die eigentlich für ihr Wohlbefinden verantwortlich sein sollten. Der beklemmenden Atmosphäre ihrer Käfige entflieht Margarita, indem sie sich eine bunte und zauberhafte Welt erträumt, in der weiße Kaninchen, grüne Hunde und ein Pegasus ihre Freunde sind. Sie spielt mit der Zeit, bewahrt ihre Jahre in einer Schublade auf, und mit der Sprache, versteckt die Betonung ihr verhasster Worte zwischen den Laken und schert sich nicht um Syntax. Die Übersetzung meistert diese sprachlichen Eigenheiten der Erzählerin im Übrigen souverän.

Auf den ersten Blick ist Margaritas Geschichte die eines gescheiterten weiblichen Widerstands, schließlich ist sie Gefangene in einer Psychiatrie, ihr Leben ist von Verlusten und Isolation geprägt. Doch die Traumausflüge in eine Welt der Selbstbestimmung und des Glücks sind ihre persönliche Form der Ermächtigung, die das Ausmaß und die Wucht des Traumas zumindest manchmal in Zaum hält.

LYRIK AUS LATEINAMERIKA

un mal entendido lleno de encanto

nunca pensé
en las partículas que no provienen de las centrales eléctricas y nuestros automóviles

era un sitio sorprendente
lleno de encanto
magia y un exquisito estilo personal

me he quedado encantado con la decoración y
con el trato recibido
y a la gente con la que he viajado también le ha encantado

estaba usando mi crema hidratante normal

pero cuando empecé a volver a casa para las vacaciones y en el día de acción de gracias para visitar a mi familia
inmediatamente noté que mi piel empezaba a irritarse de nuevo

nunca antes pensé en la polución cosmética
en las partículas que no provienen de las centrales eléctricas y nuestros automóviles.

 

 

ein Missverständnis voller Zauber

ich habe nie
an jene Partikel gedacht die nicht von Kraftwerken und unseren Autos stammen

es war ein überraschender Ort
voller Reiz
Magie und einem exquisiten persönlichen Stil

die Dekoration hat mich verzaubert und
die Gastfreundlichkeit
und die Leute mit denen ich gereist bin waren ebenso verzaubert

ich benutzte zu der Zeit meine ganz normale Feuchtigkeitscreme

doch als ich anfing, über die Ferien oder zum Erntedankfest nach Hause zu reisen
um meine Familie zu besuchen
merkte ich sofort dass meine Haut sich wieder entzündete

ich habe vorher nie an kosmetische Verschmutzung gedacht
an die Partikel die nicht von Kraftwerken und unseren Autos stammen.

LYRIK AUS LATEINAMERIKA

Nulípara de hoy

Tiene diecisiete sobrinos de parte de hermanos y primos;
seis ahijadas de bautizo;
un par de bebés, que patrocina, en un orfanatorio;
un título universitario nacional;
dos títulos internacionales:
uno de doc y otro de post-doc;
tres libros bien publicitados;
algún piso, ganado o heredado, con vista al mar;
en fin,
maternidad holgada mas no vacía;
gracias a una madre que la parió
a un mundo, personalísimo y librepensante, que no le exige útero.

(Del libro inédito: De mujeres hembra)

Heutige Kinderlose

Siebzehn Familiensprosse durch ihre Geschwister, Cousins und Cousinen;
sechs getaufte Patenkinder;
ein paar Babys, die sie sponsert, in einem Waisenhaus;
ein Universitätsabschluss im eigenen Land,
zwei im Ausland:
durch ein Doc- und ein Postdoc-Programm;
drei gut beworbene Buchpublikationen;
eine Wohnung, gekauft oder geerbt, mit Meerblick;
kurzum,
Muttersein auf die bequeme Art und doch nicht leer;
dank einer Mutter, die sie verdammt nochmal in eine Welt gebar,
so selbstbestimmt und frei, dass frau ihren Uterus nicht einsetzen muss.

(Aus der unveröffentlichten Anthologie: Von weiblichen Frauen)

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