„MEXIKANISIERUNG DER SICHERHEITSLAGE“

Statt Liberalisierung des Waffengesetzes Feuerwaffen zu Stahlschrott (Foto: Agência Brasil CC BY 2.0)

Viele brasilianische Städte durchleben derzeit eine Welle der Gewalt. Wie erklären Sie das?
Als Erstes muss gesagt werden: Was momentan in Brasilien passiert, ist keine neue Tendenz. In den vergangenen 30 Jahren ist die Gewalt stetig angestiegen. Das zeigt sich vor allem am Zuwachs der Mordrate. Was neu ist, ist die extreme Gewalt in den Gefängnissen. Wir haben lange die Ursachen erforscht, sind jedoch zu keinem Konsens gekommen. Aber: Es ist sehr wahrscheinlich, dass das sozioökonomische Profil Brasiliens Einfluss auf die Gewalt hat. Brasilien ist eine reiche Nation mit einer sehr hohen Anzahl von Armen. Der Reichtum ist extrem ungleich verteilt. Was die Gewalt zudem stark angetrieben hat, ist die Politik der Masseninhaftierung. Arme Viertel werden von der Polizei belagert und Jugendliche, die mit kleinen Mengen Drogen erwischt werden, landen im Gefängnis. Viele schließen sich erst dort dem organisierten Verbrechen an. Die aktuelle Sicherheitspolitik stärkt die Präsenz der Kartelle und heizt ihre Kämpfe um die Vorherrschaft sogar noch an.

Welche Rolle spielen die Veränderungen des organisierten Verbrechens?
Es gibt eine neue Ökonomie des Verbrechens vor allem im Bereich des Drogenhandels. Man kann von einer Globalisierung sprechen, die fast alle Kontinente betrifft. Brasilien hat eine riesige Grenze und es haben sich verschiedene Profile des organisierten Verbrechens entlang dieser Grenze entwickelt. Das macht die Situation sehr kompliziert. Meine These ist: Das organisierte Verbrechen hat sich verändert, aber das brasilianische Strafsystem ist das Gleiche geblieben.

Im Norden und Nordosten explodiert die Gewalt. In São Paulo geht die Mordrate zurück. Warum?
Die Banden aus São Paulo und Rio de Janeiro sind in den Norden und Nordosten expandiert. Sie sind immer aktiver in den Grenzregionen und kämpfen um die Kontrolle von Territorien. Was dort derzeit passiert, ist in São Paulo bereits vor Jahren geschehen: Das PCC (Erstes Hauptstadt-kommando, Anm. d. Red.) erkämpfte sich in den 1990er Jahren zuerst das Monopol in den Gefängnissen. Bald überschritt das Kartell die Gefängnismauern und heute kontrolliert es einen Großteil der armen Stadtteile von São Paulo. Das PCC hat dort fast die absolute Macht und hat Regeln des Zusammenlebens etabliert: So darf man beispielsweise nicht mehr ohne ihre Autorisierung töten. Deshalb ist es mittlerweile in São Paulo relativ ruhig geworden. Einige Menschen sagen sogar, dass das PCC in ihren Vierteln den Frieden gebracht habe. Diese Stärke bedeutet auch, dass es sich beim PCC nicht nur um eine einfache Gruppe von Kriminellen handelt, die man kontrollieren könnte. Es würde vielleicht zu weit gehen, bereits von Strukturen wie bei der italienischen Mafia zu sprechen, aber es hat eine enorme Professionalisierung stattgefunden. Wenn man sich ihre im Zuge von Ermittlungen veröffentlichte Buchhaltung anschaut, sieht man, dass das keine Amateure sind.

Ist Brasilien auf dem besten Weg dahin, ein „Narcostaat“ wie Mexiko zu werden?
Nein, ich denke, bis jetzt gibt es dafür noch keine Anzeichen. In Brasilien ist die Präsenz des organisierten Verbrechens im Staat noch relativ gering. Es ist noch kein Szenario, in dem der Staat komplett die Kontrolle über die Sicherheit verloren hat. Die Geschichte von Staaten wie Mexiko ist ganz anders. Brasilien ist noch nicht bei diesem Szenario angelangt. Aber man sollte nicht denken, dass sich das nicht bald ändern könnte. Studien von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen zeigen, dass Verbindungen zwischen Staat und organisiertem Verbrechen existieren. Es gibt eine starke Tendenz des Kontrollverlusts und die Gefahr einer Mexikanisierung der Sicherheitslage.

Der Staat reagiert mit einer Politik der harten Hand. Immer mehr Polizist*innen werden eingesetzt, der Kongress diskutiert im Moment die Liberalisierung der Waffengesetze, neue Gefägnisse sollen gebaut werden. Lassen sich auf diese Weise die Probleme lösen?
Auf keinen Fall. Wenn man immer mehr Jugendliche ins Gefängnis wirft, sorgt man dafür, dass der Gewaltmechanismus angetrieben wird. Und mit Gewalt wird man den Rachekreislauf nur weiter in Gang setzen. Das wird noch mehr Opfer zur Folge haben.

WEISSE SIND KRANK

In dem Buch Der letzte Herr des Waldes zeigt Madarejúwa dem Deutschen seine Welt. Es ist eine Welt der Tiere und der Jagd, eine Welt alter Bräuche und Sagen. Madarejúwa spricht durch Fischermann zu den Leser*innen. Der wenig präzise Titel dient wohl eher dem Verkauf des Buches. Fischermann betrachtet die Geschichten unter anderem „als eine Gebrauchsanweisung für den Regenwald“. Madarejúwa scheint grenzenlose Kenntnisse über Pflanzen- und Tierarten zu haben, aber auch kulinarisch weiß er bescheid: vom Raubfisch Trairá bis zum Skalare aus der Gattung „Pterophyllum“. Ausführliche Anmerkungen, inklusive Verweise auf wissenschaftliche Literatur, erklären vieles und unterziehen manche Aussagen Madarejúwas oder anderer Tenharims einer kritischen Überprüfung.

Es gelingt Fischermann dabei, nicht in ein eurozentrisches Muster des aufgeklärten Europäers zu fallen. Er macht das Unrecht und die Bevormundung deutlich. Dass das Buch vereinzelt von der zeitgemäßen Wortwahl „indigene Völker“ abweicht, wird so erklärt: Der Begriff „índio“, also Indianer, habe im Portugiesischen, anders als im Spanischen, keine negative Konnotation. Die staatliche Behörde für den Schutz der indigenen Völker heißt tatsächlich „Fundacao Nacional do Índio“. Madarejúwa sage „índio“ und manchmal „Indigener“. Er betrachte keines der Wörter als abwertend.

Fischermann ist nicht der erste Weiße, der in das Gebiet der Tenharim eindringt, wenn gleich einer der wenigen, die dies mit friedlicher Absicht tun. Als Anfang der 1970er Jahre unter Brasiliens Militärdiktatur der Bau der Transamazonica-Straße quer durch den Regenwald begann, starben viele Tenharim. „Die Transamazonica brachte die Krankheiten der Weißen. Ein Verwandter nach dem anderen wurde mit Masern, Keuchhusten, Malaria und Lungenentzündung angesteckt, sie starben nach fünf oder sechs Tagen. Diese Krankheiten hatte es vorher nie gegeben, und wir hatten keine Medizin, nicht die Medizin der Weißen“, sagt Madarejúwa.

Seit dieser Zeit haben die Tenharim keine Schamanen mehr. Der letzte konnte sein Wissen nicht weitergeben, bevor er starb. „Es bedeutet, dass wir nie wieder einen Schamanen haben werden, denn Schamanen werden nicht einfach geboren“, sagt Madarejúwa. Jetzt gebe es nur noch einen, „der die Geister sehen kann“: Topeí, „ein Enkel von Ariu’vi, dem größten Schamanen der Tenharim. Topeí sollte der nächste Schamane werden, doch am Ende blieb keine Zeit.“

Madarejúwa ist Anfang 20. Er kennt die Außenwelt,ist eine Weile in der Stadt zur Schule gegangen und spricht Portugiesisch. Die naturverbundene Lebensart vermischt sich mit der von draußen. Früher hätten die Tenharim mit Hilfe einer Schlingpflanze namens Y’po Feuer gemacht. Heute kauften sie Streichhölzer von den Weißen.

Madarejúwas Großvater sei darüber verärgert, dass viele Tenharim sich der Kultur der Weißen annäherten. „Er sagt, dass die Weißen krank sind und die Welt anstecken, dass sie selber eine Krankheit sind. Sie bestehe darin, „dass sie die Erde zerstören und dann verscherbeln.“ Bis eines Tages selbst die Mücken nicht mehr sicher sind…

// LANGE SCHATTEN

Sie sei „vom Drogenhandel finanziert“ worden, eine „Verteidigerin von Banditen und Verbrechern“. Nichts davon stimmt, aber auf diese Weise beschimpfte ein rechter Mob auf sozialen Medien die Stadträtin Marielle Franco, die am 14. März in ihrem Auto erschossen wurde.

Marielle Franco war schwarz und lesbisch, sie hatte Untersuchungsausschüsse über Polizeigewalt in die Wege geleitet und sich gegen den Rassismus und Sexismus in der brasilianischen Gesellschaft engagiert. Deshalb wurde sie ermordet, viele ihrer Freund*innen vermuten die Mörder*innen in den Reihen der Polizei. Die Reaktionen der Rechten auf dieses Verbrechen machen auf erschreckende Weise klar, wie weit antidemokratisches und autoritäres Gedankengut in Teilen der brasilianischen Bevölkerung verbreitet ist.

Die Gesellschaft ist gespalten. Das zeigt sich auch an der Bewertung des Ex-Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva. Lula will bei den Wahlen im Oktober erneut als Präsidentschaftskandidat antreten und liegt auch in allen Umfragen vorne. Die Rechte wollte ihn schnellstmöglich hinter Gittern sehen – Lula wurde in zweiter Instanz zu über zwölf Jahren Haft wegen passiver Korruption und Geldwäsche verurteilt. Die Höhe der Strafe ist völlig überzogen, rechte Politiker*innen, die ebenfalls knietief im Korruptionssumpf stecken, mussten nie eine solche juristische Verfolgung befürchten – ein Sieg des Rechtsstaats bedeutet das Urteil nicht, doch als den feiern es die bürgerlichen Medien Brasiliens. Nun wurde der Wunschkandidat eines großen Teils der Bevölkerung in einem zweifelhaften Verfahren einfach beseitigt.

Doch diese Rechtsbeugung ist nicht das Schlimmste: Einen Tag vor dem Gerichtsentscheid über Lulas Antrag auf Haftverschonung hatte der Oberbefehlshaber der brasilianischen Armee, General Villas Boas, via Twitter durch die Blume mit einem Putsch gedroht, sollte das Gericht Lulas Antrag stattgeben. Politik und Justiz schwiegen größtenteils zum angedrohten Verfassungsbruch, auf Twitter klatschten tausende Brasilianer*innen noch Beifall und forderten sogar eine politische Intervention der Militärs.

Und auch im Rennen der potenziellen Präsidentschaftskandidat*innen manifestiert sich der Aufschwung der Rechten in der Person von Jair Bolsonaro, der in allen Umfragen auf den zweiten Platz kommt. Dass Bolsonaro eine autoritäre Regierung befürwortet, hatte er bereits mehrfach deutlich gemacht. Im Juli 2016 erklärte er: „Der Fehler der Diktatur [von 1964 bis 1985] war, dass sie gefoltert und nicht getötet haben.“ Bolsonaro legitimiert seine autoritären Phantasien damit, dass er ja auf der Seite der „gesetzestreuen Bürger“ stehe und gegen die korrupten Eliten sei. Doch schließt er auch explizit alle Favelabewohner*innen, Schwarzen, Indigenen, Lesben, Schwule, Trans*personen aus, die nicht in sein Bild des „guten“ Bürgers passen; sie würde er wohl am liebsten alle verschwinden lassen, nimmt man ihn beim Wort.

So rückt der Kampf um die Vergangenheit wieder in den Mittelpunkt der politischen Debatte. Der hässliche Schatten der Militärdiktatur, nie wirklich verschwunden, wird momentan wieder bedrohlich lang. Das Amnestiegesetz, das den Folterern von damals noch immer Straffreiheit garantiert; die Polizeigewalt in den Favelas und die ungestraften kriminellen Machenschaften der Großgrundbesitzer*innen auf dem Land; die überkommenen, seit Kolonialismus und Sklaverei unangetasteten Eigentumsverhältnisse: Sie alle sind Symptome eines Gemeinwesens, das sich seiner Vergangenheit nicht gestellt hat. Marielle Franco hat diese Strukturen benannt und bekämpft – und hat dafür mit dem Leben bezahlt.

URTEIL IN OLIVGRÜN

Seine politische Karriere fand ihren vorläufigen Tiefpunkt, wo sie begonnen hatte. Als Bundesrichter Sérgio Moro am 6. April einen Haftbefehl gegen Expräsident Luiz Inácio Lula da Silva erlassen hatte, befand sich dieser im Hauptquartier der Metallarbeitergewerkschaft der ABC-Region (dem Industriegürtel von São Paulo) in São Bernardo do Campo. In den 1980er Jahren hatte der spätere Präsident dort seine politische Arbeit begonnen und maßgeblich zum Sturz der Militärdiktatur beigetragen.

Vor dem Gebäude standen einige tausend Menschen, um gegen die drohende Inhaftierung Lulas zu protestieren. Bis zum Nachmittag des nächsten Tages blieb Lula da Silva mit Verbündeten im Gebäude und beriet, ob er sich freiwillig stellen sollte. Der zuständige Richter Sérgio Moro hatte dazu eine Frist bis 17 Uhr Ortszeit gesetzt. Lula ließ die Frist verstreichen. Seine Verteidigung argumentiert, dass beim zuständigen Bundesgericht nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft seien und der Haftbefehl keine Gültigkeit habe. Seine Verbündeten bewerteten es auch als besonders perfide, dass Richter Sérgio Moro verlangte, dass Lula ausgerechnet am ersten Geburtstag seiner Frau nach ihrem Tod, den 7. April, ins Gefängnis gehen musste. Nach einer Gedenkmesse für seine Frau, die in dem Gebäude gefeiert wurde, stellte er sich der Bundespolizei. Dass Lula so lange in der Schwebe ließ, ob er sich stellen würde, war ein meisterlicher medialer Schachzug, denn auf diese Weise bekam seine umstrittene Verhaftung die größtmögliche Aufmerksamkeit.

Zwei Tage zuvor, am 4. April, hatte der Oberste Gerichtshof Brasiliens mit sechs gegen fünf Stimmen entschieden, dem Gesuch auf Habeas Corpus – also eine Haftprüfung – der Verteidigung des Ex-Präsidenten nicht stattzugeben. Der ehemalige Staatschef wurde in einem umstrittenen Verfahren in zweiter Instanz zu 12 Jahren und einem Monat Haft wegen passiver Korruption und Geldwäsche verurteilt.

Die brasilianische Linke sieht in dem Urteil eine politische Verfolgung Lulas. Denn der ist fest entschlossen, bei den Wahlen im Oktober erneut auf das Präsidentenamt zu kandidieren. Gute Chancen hätte er: Seit Monaten führt er alle Umfragen mit über 30 Prozent Zustimmung an. Mit dem Urteil, so die einhellige Einschätzung der brasilianischen Linken, wolle die Rechte sich eines Kandidaten entledigen, den sie bei den Wahlen nicht besiegen könne.

Völlig unklar bleiben die Konsequenzen einer möglichen Inhaftierung Lula da Silvas. Das Gesetz der „Ficha Limpa“, der „weißen Weste“, verbietet allen Brasilianer*innen, die in zweiter Instanz verurteilt wurden, auf das Präsidentenamt zu kandidieren. Doch der Wahlausschluss erfolgt keinesfalls automatisch mit einer Inhaftierung Lulas: Darüber müsste erst das Oberste Wahlgericht entscheiden, das dafür bis September Zeit hat. Es ist ein vorstellbares Szenario, dass Lula aus der Haft heraus kandidiert und womöglich sogar gewählt wird. Sollte dann das Wahlgericht feststellen, dass er nicht hätte kandidieren dürfen, gäbe es Neuwahlen. Auf Gouverneursebene hat es solche Fälle bereits gegeben.

Beunruhigend ist, dass angesichts der politischen Krise auch die Militärs wieder ihre Muskeln zeigen. Am Vorabend des Urteils über den Habeas Corpus verlautbarte per Twitter der Oberbefehlshaber der brasilianischen Armee, General Eduardo Villas Boas, das „Militär stünde bereit, seiner institutionellen Verantwortung gerecht zu werden“, sollte die Straflosigkeit weiter anhalten; eine kaum verhohlene Putschdrohung gegen die Judikative. Noch deutlicher wurde der Reservegeneral Schroeder Lessa: Sollte Lula straffrei bleiben und gar zum Präsidenten gewählt werden, sei es die „die Pflicht der Armee, die Ordnung wieder herzustellen“. Weder die Regierung, noch der Oberste Gerichtshof verurteilte die Putschdrohungen, dafür applaudierten tausende Brasilianer*innen via Twitter General Villas Boas und forderten eine militärische Intervention. So scheint in Brasilien einen politischen Rückschritt um 30 Jahre zu machen: Während Lula aufgrund eines fragwürdigen Gerichtsurteil Haft in gehen muss, bleiben mit Putsch drohende Generäle unbehelligt.

“DAS POLITISCHE SYSTEM IST GESCHEITERT”

Herr Boulos, Sie sind Nationalkoordinator der Wohnungslosenbewegung MTST und treten zusammen mit der indigenen Aktivistin Sônia Guajarara zu den Präsidentschaftswahlen im Oktober an. Warum?
Brasilien befindet sich in einer schweren politischen Krise. Die Hoffnungslosigkeit ist groß und die Menschen sehen keine Zukunft für sich und ihre Kinder. Es ist notwendig, unsere Wut in die Politik zu tragen. Wir wollen das, wofür wir auf der Straße gekämpft haben, nun in der Politik umsetzen. Es bedarf grundsätzlicher Veränderungen, da das politische System in Brasilien gescheitert ist. Wir haben keine Angst, den Finger in die Wunde zu legen.

Aber zielen Sie mit ihrer Kandidatur eher darauf ab, die politische Debatte zu beeinflussen oder wirklich zu regieren?
Wir wollen regieren und nicht einfach nur stille Zeugen der politischen Auseinandersetzung sein. Zusammen mit Sônia Guajajara, der PSOL und sozialen Bewegungen kämpfe ich für ein politisches Projekt, das sich lohnen soll.

Die Arbeiterpartei PT hat 12 Jahre regiert, bis sie 2016 durch ein juristisch fragwürdiges Amtsenthebungsverfahren abgesetzt wurde. Die PSOL entstand als Linksabspaltung der Partei (siehe Kasten). Was würden sie im Falle eines Wahlsieges anders machen als die PT?
Es gab Regierungserfahrungen der Linken in Brasilien – mit Fortschritten und Grenzen. Obwohl wir die Fortschritte anerkennen, werden wir nicht aufhören, Kritik zu üben. Diese Regierungen der PT haben nicht die Banken und das Kapital angegriffen. Brasilien ist weiterhin eines der Länder mit der größten Ungleichheit der Welt. Der Oxfam-Bericht vom September 2017 zeigt, dass hier sechs Personen mehr besitzen als 100 Millionen Menschen. Das Steuersystem ist sehr regressiv. Die Armen zahlen proportional mehr als die Reichen. Es gibt keine Steuern auf große Vermögen, die Erbschaftssteuer ist ein Witz. Es ist wie bei Robin Hood – nur andersrum. All dies wurde während der Amtszeiten der PT nicht angetastet. Wir müssen außerdem ein politisches System angreifen, das sich aus Koalitionen mit den reaktionärsten Kräften zusammensetzt. Diese nutzen die Politik lediglich, um Geld zu machen. Wir brauchen also eine umfassende Demokratisierung des politischen Systems. Auch die Medien müssen demokratisiert werden. Daneben kämpfen wir für eine Agrarreform sowie für eine urbane Reform. Kurz gesagt: Es geht darum, Privilegien anzugreifen – denn das ist mit der PT nicht geschehen.

Der Eintritt von Aktivist*innen in die institutionelle Politik wurde in der Vergangenheit immer wieder scharf kritisiert. Sehen Sie, als Koordinator einer sozialen Bewegung, kein Problem darin, nun zu Wahlen anzutreten?
Nein. Seit mehr als 15 Jahren bin ich Aktivist der Wohnungslosenbewegung MTST und wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir es uns nicht mehr leisten können, nur über Wohnraum zu sprechen. Durch die Regierung von Michel Temer verlieren die Brasilianer derzeit historische Rechte. Wir dürfen nicht länger zusehen, wie diese kriminelle Bande das Land führt, brutal das Leben der Mehrheit der Bevölkerung angreift und einfach still sein. Und wir werden unsere Mobilisierung auf der Straße aufrechterhalten. Denn: Es reicht nicht aus, einfach nur Wahlen zu gewinnen – wir kämpfen für ein politisches Projekt.

Ex-Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva wurde unlängst in zweiter Instanz verurteilt und kann voraussichtlich nicht zur Wahl antreten. Welche Rolle spielt die PT für ihre Kandidatur?
Die PT ist nicht mehr an der Regierung, mehr als das: Sie hat einen Putsch erlitten. Gegen Lula läuft eine juristische Verfolgung, besser gesagt eine juristische Farce. Dies könnte ihn hinter Gitter bringen, obwohl es keine Beweise gibt. Die Justiz verhält sich wie eine politische Partei, um Lula von den Wahlen auszuschließen. Es ist eine Sache, Differenzen mit der PT zu haben – und die haben wir. Das haben wir in der Vergangenheit immer wieder klar artikuliert. Aber wir werden uns nicht zum Komplizen dieser Justiz machen. Umfragen zeigen, dass der ultrarechte Kandidat Jair Bolsonaro bei den Umfragen für die Wahlen immer weiter zulegt, auch viele Jugendliche aus den armen Randgebieten haben vor, für Bolsonaro zu stimmen. Wir sehen Bolsonaro nicht als Konkurrenten, sondern als Kriminellen. Er hat sich mehrerer Verbrechen schuldig gemacht: Hassverbrechen, Rassismus, Homophobie, Sexismus und Anstiftung zur Gewalt. Kürzlich sagte er, dass wenn er die Wahl gewinne und das organisierte Verbrechen nicht aus Rocinha verschwinde, er die Favela mit Kugeln durchlöchern werde. Im Parlament hat er Folterer der Militärdiktatur geehrt, unter anderem jenen Mann, der die Ex-Präsidentin Dilma Rousseff gefoltert hat. Bolsonaro ist ein Verbrecher, der hinter Gitter gehört und nicht zur Wahl antreten sollte.

Dennoch hat er Chancen auf einen Wahlsieg. Wie wollen sie das verhindern?
Bolsonaro präsentiert sich als Neuheit und als Gegenspieler zum korrupten, politischen Establishment. Allerdings war er selbst die meiste Zeit seiner politischen Karriere Abgeordneter einer der korruptesten Parteien Brasiliens. Die Menschen sind so desillusioniert und hoffnungslos, dass sie dem Diskurs von Bolsonaro ein Echo geben. Wir müssen dieses Bild demaskieren und dafür sorgen, dass die Brasilianer das Vertrauen in die Politik zurückgewinnen – und zwar indem wir Zukunftsperspektiven aufzeigen.

Doch gerade wegen seiner harten Hand gegen das organisierte Verbrechen erfährt Bolsonaro viel Zustimmung. Die Gewalt in Brasilien ist in den vergangenen Monaten explodiert, die Debatte über die öffentliche Sicherheit dürfte den Wahlkampf maßgeblich bestimmen. Wie wird das Thema bei Ihnen diskutiert?
Das Problem der öffentlichen Sicherheit ist groß. Wir müssen die Gewalt effektiv bekämpfen. Als Erstes muss aber verstanden werden, dass die Gewalt untrennbar mit der sozialen Ungleichheit zusammenhängt. Wo es weniger Sozialpolitik und weniger Möglichkeiten gibt, steigt die Gewalt. Das ist kein brasilianisches Phänomen, sondern überall auf der Welt der Fall. Wir diskutieren verschiedene Wege, die Gewalt zu bekämpfen, unter anderem mit Wissenschaftlern und einer Gruppe von antifaschistischen Polizisten.

Wie sehen die aus?
Wir haben einige Vorschläge. Als Erstes darf der Staat nicht länger Initiator der Gewalt sein. Die Polizei arbeitet in Brasilien mit einem Konzept des inneren Feindes – und dieser ist für sie der schwarze Jugendliche aus der Vorstadt. Diese Feindeslogik heizt die Gewalt nur noch weiter an. Wir brauchen eine tiefgehende Reform und Demilitarisierung der Polizei. Zudem muss eine neue Strategie gefunden werden, die öffentliche Sicherheit für alle verspricht. Zweitens, der Krieg gegen die Drogen ist auf der ganzen Welt gescheitert. In Brasilien werden lediglich die kleinen Dealer angegriffen. Es ist ein Krieg gegen die Armen. Die großen Geschäfte bleiben unangetastet. Das hat dazu geführt, dass das organisierte Verbrechen noch viel mächtiger geworden ist. Daher müssen wir Drogen entkriminalisieren – denn das ist der effektivste Weg, das organisierte Verbrechen zu bekämpfen. Unser dritter Punkt hat mit einer tief verankerten Kultur der Gewalt in der Gesellschaft zu tun. In Brasilien laufen zur besten Sendezeit Polizeisendungen im Fernsehen. Diese Shows zementieren die Kultur der Gewalt und schaffen ein tief sitzendes Gefühl der Unsicherheit. Unser Nachbar Uruguay hat vor einigen Jahren unter Ex-Präsident José Mujica ein interessantes Experiment gestartet. Die Fernsehsender durften Polizeishows nur noch nach 23 Uhr ausstrahlen. Das Ergebnis war, dass die Gewalt im Land gesunken ist. All dies sind Wege, die wir gehen müssen.

Wie beeinflussen feministische Debatten Ihre Kandidatur?
Die Ungleichheit hat verschiedene Stufen in Brasilien und Frauen stehen immer noch unten. Für die gleiche Arbeit verdienen sie weniger als Männer, auch in der Politik sind Frauen weiterhin extrem unterrepräsentiert. Obwohl sie die Mehrheit in der Bevölkerung sind, stellen sie nur zehn Prozent der Abgeordneten im brasilianischen Parlament. Dies ist Ausdruck einer tief sitzenden Ungleichheit. In Brasilien sterben außerdem jeden Tag vier Frauen an den Komplikationen von im Geheimen durchgeführten und schlecht ausgeführten Abtreibungen. Deshalb fordern wir, dass Frauen endlich über ihren eigenen Körper bestimmen können. Unser Programm ist also ein feministisches Programm. Denn: wer tief greifende Veränderungen umsetzen will, muss diese Debatten als zentral betrachten.

Ihre Parteikollegin Marielle Franco wurde brutal ermordet. Was bedeutet dieser Fall für Sie?
Der Tod von Marielle hat uns alle schwer geschockt. Sie war eine Kämpferin und wichtige Parteikollegin. Der Mord zeigt, wie tief die Wunde in der brasilianischen Demokratie sitzt. Das ist eine Nachricht von der anderen Seite: Sie sind bereit, alles zu tun. Wir müssen die Ermittlungen abwarten, aber es gibt Verdächtige. Marielle hat die Polizeigewalt in Rio de Janeiro öffentlich angeklagt, sich gegen die Militärintervention gestellt (im März übernahm das Militär die Kontrolle über die Sicherheit in Rio de Janeiro, Anm. d. Red.) und wurde zur Vorsitzenden einer Kommission im Stadtparlament über den Einsatz ernannt. Wir wollen wissen, wer sie ermordet hat und werden keine Ruhe geben, bis wir eine Antwort darauf bekommen. Marielle wird Gerechtigkeit erfahren. Ihr Kampf wird nicht umsonst gewesen sein.

“SIE BRINGEN UNS NICHT ZUM SCHWEIGEN”

„Marielle anwesend“ Trauerflor in den Innenstadt von Rio de Janeiro (Foto: Midia NINJACC BY-NC-SA 2.0)

 

Eine Schockwelle ging durch das Weltsozialforum in Salvador da Bahia, als sich die Nachricht von der Ermordung der Stadträtin Marielle Franco in Rio de Janeiro wie ein Lauffeuer verbreitete. Veranstaltungen wurden abgesagt, um Protestmärsche zu organisieren. Überall fassungslose Gesichter. Noch am Vortag hatten sich Aktivist*innen in Workshops und Debatten nach gemeinsamen Strategien für Wege aus der Gewaltkrise gerungen. Die Ermordung der Vorkämpferin gegen Polizeigewalt und Diskriminierung traf alle wie ein Schlag ins Gesicht. „Ich fühle mich heute selber tot. Es könnte mich genauso treffen.“, brachte es eine Vertreterin der Bewegung Mães de Maio auf den Punkt, die auf einem Podium über den Widerstand von Müttern ermordeter Jugendlicher aus der Peripherie von São Paulo berichtete. Einmal mehr wurde schmerzlich bewusst, wie vulnerabel Menschenrechtsaktivist*innen in Brasilien sind.

Die Stadträtin Marielle Franco war in der Nacht vom 14. März zusammen mit ihrem Fahrer Anderson Gomes auf der Rückfahrt von einer Veranstaltung für die Rechte schwarzer Frauen in der Innenstadt von Rio de Janeiro in ihrem Auto erschossen worden. Die neben ihr auf der Rückbank sitzende Assistentin überlebte den Anschlag nur knapp. Die Ermittler*innen und vor allem große Teile der schockierten Öffentlichkeit gehen von einem politischen Attentat aus.

Die Menschenrechtsaktivistin Marielle Franco hatte zuletzt vor allem die ausufernde Polizeigewalt scharf kritisiert. Wenige Tage vor ihrer Ermordung veröffentlichte sie einen Text, in dem sie das 41. Bataillon der Militärpolizei von Rio de Janeiro den Morden an drei Jugendlichen in den Favelas Acari und Jacarezinho beschuldigte. Seit Jahren prangerte sie die massenhafte Ermordung von Jugendlichen in den Armenvierteln an und machte auf die direkte Beteiligung der Polizei an diesen Morden aufmerksam.

Laut dem Atlas der Gewalt von 2017, in dem das Statistikinstitut IPEA und das Fórum Brasileiro de Segurança Pública (FBSP) die Daten 2005 bis 2015 kompiliert haben, waren zwischen 2005 und 2015 71 Prozent der Getöteten Schwarze. Dabei sprechen die Zahlen der von Polizist*innen in den Jahren 2015-2016 Erschossenen eine klare Sprache: 76 Prozent der Opfer sind schwarz. Bezogen auf den Zeitraum 2000 bis 2015 stieg in Brasilien die Mordrate insgesamt um 28,5 Prozent. Während die der weißen Opfer um 22 Prozent zurückging, erhöhte sich die der schwarzen Opfer im gleichen Zeitraum um 73,9 Prozent.

Ihr Tod sollte den Widerstand einschüchtern, doch das Gegenteil ist der Fall.

Im Jahr 2017 stellte das Land nun einen neuen Negativrekord auf: 61.000 Menschen wurden ermordet. Der Staat ist mit dem Ausmaß der Gewalt völlig überfordert und setzt vor allem auf repressive Maßnahmen. In keinem anderen Land sind die staatlichen Sicherheitskräfte für so viele Tötungen verantwortlich wie in Brasilien. Einer der meist skandierten Parolen auf den Protestmärchen anlässlich Marielles Ermordung war: „Não acabou, tem que acabar, eu quero o fim da polícia militar!“ („Es ist nicht vorbei. Es muss aufhören. Schluss mit der Militärpolizei!”)
Marielle Franco hat Polizeigewalt scharf kritisiert – und öffentlich. Unklar ist zur Zeit noch, ob die Täter eher im Bereich Polizei oder von Milizen zu suchen sind. Die paramilitärisch agierenden Milizen setzen sich aus ehemaligen Polizist*innen, Soldat*innen und Feuerwehrleuten zusammen und kontrollieren mittlerweile viele arme Stadtteile von Rio de Janeiro.

Franco war zudem eine ausdrückliche Kritikerin der Militärintervention in Rio de Janeiro. Seit Februar hat das Militär die Kontrolle über sämtliche Sicherheitsbehörden des Bundesstaates Rio de Janeiro übernommen. Dies bedeutete die erste umfassende Militärintervention seit dem Ende der Militärdiktatur. Bereits in den Jahren 2014 und 2015 hatten die Streitkräfte den Favela-Komplex von Maré besetzt. Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass diese militärischen Interventionen statt zur Eindämmung der Gewalt vielmehr zu einer Eskalation führen. Franco war die Vorsitzende der neuen Kommission, die die Militäraktionen in den Armenvierteln überwachen sollte.

Franco war 2016 als Stadträtin für die linke Partei PSOL mit den fünft meisten Stimmen ins Stadtparlament von Rio de Janeiro gewählt worden. Als einzige schwarze Frau repräsentierte sie dort die Mehrheit der Bevölkerung. Die Feministin war eine vehemente Stimme für Frauen- und LGBTI-Rechte. Nur sieben Tage vor ihrem Tod hatte Marielle Franco auf Twitter geschrieben: „2017 fielen in Brasilien 4.473 Frauen einem gewaltsamen Tod zum Opfer, eine Erhöhung um 6,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Angesichts dieser Zahlen ist es schwierig, optimistisch den Tag zu beginnen.“
Sie stammte selbst aus einem Armenviertel, dem Favela-Komplex Maré. Ihr politischer Aktivismus speiste sich aus ihrer eigenen Lebenserfahrung. Laut ihrer persönlichen Website begann sie sich politisch zu engagieren, nachdem eine Freundin einem Fehlschuss in einer Konfrontation zwischen Polizei und Drogenbanden zum Opfer gefallen war. Die 38-jährige Soziologin war ein wichtiges Sprachrohr der Favelas und brachte unbequeme Wahrheiten an die Oberfläche, die sonst in der brasilianischen Politik systematisch ausgeblendet werden. Für viele Menschen in Rio de Janeiro verkörperte sie die Hoffnung für mehr soziale Gerechtigkeit.

In den Tagen nach der Gewalttat breitete sich eine bespiellose Protestwelle im ganzen Land aus. In allen großen Städten kam es zu Massendemonstrationen. Zehntausende gingen im ganzen Land auf die Straße, um ihrem Entsetzen über die Tat und die allgemeine Eskalation der Gewaltsituation Ausdruck zu verleihen.

 

Empörung, Wut und Trauer Tausende protestieren nach Marielles Ermordung in Rio de Jainero (Foto: Mídia NINJACC-BY-NC-SA-2.0)

„Marielle Gigante“, Marielle ist riesengroß, das war auf unzähligen Bannern zu lesen. Damit brachten die Demonstrant*innen zum Ausdruck, dass sich der Wille für Veränderung und sozialen Wandel nicht ersticken lässt. Im Gegenteil, in den Massenprotesten hallte Francos Stimme durch ganz Brasilien. Sie wurde zu einer Symbolfigur für den Widerstand gegen Ungerechtigkeit, Rassismus und Gewalt im ganzen Land.
„Wir verstehen die Tötung Marielles als Signal, dass die Jagd an Menschenrechtsaktivisten eröffnet ist“, erklärte Eduardo Machado, Bürger­rechtsaktivist aus Salvador. „Es fühlt sich an wie in den Zeiten der Diktatur. Doch wir lassen uns nicht zum Schweigen bringen. Die Ideale und Ziele, die Marielle vertreten hat, leben in uns allen fort. Stärker denn je!“, so Machado gegenüber LN.

Der Fall Marielle Franco ist alles andere als ein Einzelfall, er ist die Spitze eines Eisberges einer normalisierten Gewalt und in einer durch soziale Konflikte und Spannungen zerrissenen Gesellschaft. Laut Amnesty International war Brasilien 2017 das Land, in dem weilweit am meisten Menschenrechtsverteidiger ermordet wurden. Laut dem brasilianischen Komitee für Menschenrechtsverteidiger (CBDDDH) wurden letztes Jahr mindestens 62 Menschenrechtsverteidiger getötet. Im Mai 2017 bezeichnete der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Zeid Ra’ad Al Hussein, das Niveau der Gewalt gegen Menschenrechtler als alarmierend.

Das war auch deutlich sichtbar auf den Protestmärschen und Mahnwachen im ganzen Land. Die Menschen erinnerten der vielen Toten, der ermordeten Frauen und politischen Aktivist*innen der letzten Jahre. So viele schmerzliche Wunden wurden wieder aufgerissen. Die Portraits auf Plakaten und Postern machten die lange Reihe der Todesopfer sichtbar. Der in diesen Tagen allgegenwärtige Ausruf „Marielle Presente“ (in etwa: „Marielle anwesend“) vermischte sich auf den Demos mit unzähligen anderen Namen, die das gleiche Schicksal erlitten hatten. Viele der Morde an politischen Aktivist*innen finden in abgelegenen ländlichen Regionen statt, oft im Zusammenhang mit Landkonflikten und Konflikten um natürliche Ressourcen. Oft völlig abseits der Öffentlichkeit und ohne nennenswertes mediales Echo.

Selten wirkte Brasilien so polarisiert durch einen so tief sitzenden Hass wie zur Zeit. 

Die Wellen, die der Mord an der linken Stadträtin nun schlägt, sind einmal mehr ein Indiz dafür, wie tief der Riss ist, der durch die brasilianische Gesellschaft geht. Denn neben der starken Solidaritätsbewegung gab es in den Wochen nach der Gräueltat eine regelrechte Verleumdungskampagne gegen die Politikerin. Im Internet wurden fake news über die Verwicklung der Politikerin mit dem Drogenhandel und Verzerrungen ihrer politischen Statements verbreitet, die zehntausendfach weitergeleitet wurden. Dabei geht es nicht nur um eine persönliche Diffamierung einer Symbolfigur, sondern um die tiefe Spaltung der brasilianischen Gesellschaft, was grundsätzliche menschliche Werte betrifft. Diffamierungskampagnen legen nahe, „die Menschenrechte“ würden Verbrechensbekämpfung verhindern und die Opfer seien ja selbst Schuld an den hohen Gewaltraten. Immerhin hat der beispiellose Aufschrei in der Öffentlichkeit dazu geführt, dass diese gezielten fake news nun gerichtlich verfolgt werden und sowohl Facebook als auch Google von der Justiz angewiesen wurden, die entsprechenden Posts und Videos binnen 24 Stunden zu löschen.

Selten wirkte Brasilien so polarisiert, gespalten durch einen so tief sitzenden Hass wie zur Zeit. Die Ermordung Francos ist dabei bis jetzt der Scheitelpunkt einer gesellschaftlichen Polarisierung. Die Ereignisse stimmen wenig optimistisch, dass sich die Wogen im Wahljahr 2018 glätten werden. Im Gegenteil: die Zustimmungsraten in der Bevölkerung die faschistische Forderungen wie sie beispielsweise der ultrarechte Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro vorschlägt, liegen derzeit schon bei rund 20 Prozent – Tendenz weiter steigend.

ES KOMMT IMMER ETWAS NEUES

Nein heißt Nein Marielle Franco (Foto: privat)

Im Jahr 1975 organisierten Frauen in der Brasilianischen Pressevereinigung (ABI) in Rio de Janeiro eine Veranstaltung über die Situation der Frauen in Brasilien. Mehr als 400 Menschen nahmen teil. Daraus entstand die erste feministische Organisation Brasiliens, das Zentrum der Brasilianischen Frau (CMB). Mehr als vier Jahrzehnte danach besetzten wir denselben Ort, jetzt als Frauen, Schwarze, Trans, Favela-Bewohnerinnen, Lehrerinnen, Frauen aus dem Nordosten, Mütter – also als Frauen in ihrer ganzen Diversität.

Während der damaligen Veranstaltung kritisierten Schwarze Frauen die ABI: Obwohl dort wichtige Persönlichkeiten im Kampf gegen die Diktatur vertreten waren, gab es keine Debatte über die verschiedenen Formen des Frauseins. Ende November 2017 verwandelten wir die ABI in einen Raum der politischen Debatte. Eine sehr lebendige Debatte, voller Nuancen, in der 500 von uns bekräftigten, dass wir die Politik erobern werden, die Herrschaftsräume, jedoch nicht bloß über Quoten. Es gibt zweifellos einen neuen Moment, einen Weg als Reifeprozess der Frauen hin zur Aneignung der Getriebe der Macht.

Wir gelangten in das Jahr 2018, indem wir die Früchte des jahrzehntelangen Frauenkampfes für bessere Lebensbedingungen und mehr Gleichberechtigung in Entscheidungsräumen ernteten. In diesem Zeitraum wurde der Feminismus zweifellos diverser, vor allem was Forderungen zu Rassismus, sexueller Orientierung und Geschlechteridentität angeht, aber auch verschiedenen Erfahrungen des Frauseins, wie etwa Mutterschaft. Diese Diversität fand auf der Straße Ausdruck, bei den Kundgebungen und in den sozialen Netzwerken, durch Websites, Apps, Blogs und Videos.

Es wird viel darüber gesprochen, dass wir eine neue Welle des Feminismus erleben, dabei impliziert das Bild einer Welle die Idee von einem Bruch, der in der Geschichte so nicht passiert. Die Medien verbreiten die Idee, dass es einen „neuen Feminismus“ gibt, aber in Wahrheit ist das, was wir erleben, die Übereinstimmung verschiedener Formen von Feminismus. Denn selbst bei sehr unterschiedlichen Handlungsstrategien haben wir die gemeinsame Überzeugung, dass das Internet ein Ort des Dialogs und der politischen Vernetzung ist. Der brasilianische Feminismus von heute ist nicht nur jung und ermächtigt. Die Hashtag-Feministinnen und die historischen Feministinnen treffen sich in der gemeinsamen Aktion. Der Feminismus als Ganzes ist vielfältig, divers und kann Gemeinsamkeiten hervorbringen.

Unsere Präferenz erstaunt den männlichen, weißen und heteronormativen Klüngel

Seit der Wahl 2010 erleben wir eine politische Phase, die durch tiefgreifende Widersprüche gekennzeichnet ist. Man bezeichnet diese Widersprüche als Genderfragen. Demonstrationen und Kampagnen zeigten: Diversität muss politisch repräsentiert werden. Frauen zeigten sich als politische Kraft im gesellschaftlichen Machtgefüge, besonders die Schwarzen und die indigenen Frauen. Wir übernahmen die Rolle, aufzuzeigen, was wirklich „neu“ in der Politik wäre: Das Spiel umzudrehen, aus der Position der Unterordnung in der Gesellschaft herauszukommen, um die Räume des Diskurses, der programmatischen Entwicklung, der Projekte und der Entscheidungsfindung zu besetzen.

Obwohl wir einige wichtigen Orte besetzt haben, sind Frauen in der Politik weiterhin unterrepräsentiert, und Schwarzen Frauen erst recht. Wir Schwarze Frauen bilden zirka 25 Prozent der brasilianischen Bevölkerung, wie eine Volkszählung des Brasilianischen Instituts für Geographie und Statistik (IBGE) von 2010 zeigt. Laut der „Darstellung der Ungleichheiten von Gender und Rasse“ (Ipea, 2015), bilden wir auch den größte Anteil der Arbeitslosen, derjenigen, die ohne Sozialversicherung arbeiten, als Hausangestellte oder mit dem geringsten Haushaltseinkommen pro Kopf. Dies ist keine zufällige Situation, sie ist Frucht einer zivilisatorischen Entwicklung, die es geschafft hat, den Körper der Schwarzen Frauen zu entmenschlichen und zu einem Objekt zu machen.

Inmitten von so viel Ungleichheit, so viel Rassismus und Sexismus, die darauf bestehen, uns zu vergewaltigen, ist es erstaunlich, wie viele schwarze Frauen es in die Institutionen geschafft haben. Unsere Präsenz erstaunt den männlichen, weißen und heteronormativen Klüngel. Gleichzeitig stehen wir vor der Herausforderung, ein politisches Projekt zu konstruieren, das die Frauen, die uns bis hierher geführt haben, nicht ausschließt, sie nicht zweitrangig macht. Ein Projekt, bei dem die Kämpfe der verschiedenen Bewegungen gleichzeitig geführt werden.

Ironischerweise befanden sich die Frauen, die sich 1975 versammelten, im Kampf gegen die Militärdiktatur. Heute stehen wir einer illegitimen Regierung gegenüber, die die täglichen Angriffe auf unsere Rechte und Freiheiten bestärkt. In einer Gesamtsituation voll schwerer Rückschritte und konzertierter Aktionen der religösen Kräfte im Parlament schaffen Frauen es trotzdem, Veränderungen in der Gesetzgebung durch sehr unterschiedliche Feminismen und durch gegenseitige Stärkung zu verhindern. Wir üben Widerstand gegen die täglichen rassistischen Attacken und versuchen Wege zu finden, um die Situation des Elends zu überwinden, in die Menschen aus den Favelas, der Peripherie und auf dem Land durch die Krise gekommen sind. Gleichzeitig stärken wir Initiativen der Solidarökonomie und Bewegungen wie die der Obdachlosen und der Landlosen.

Dank Gruppen wie PretaLab (Initiative Schwarzer und indigener Frauen in neuen Technologien, Anm. d. Redaktion), dank der Ausbildung über digitale Sicherheit der Freien Feministischen Universität, des MariaLab (Kollektiv feministischer Hackerinnen, Anm.d. Red.) und der Schwarzen Bloggerinnen, üben wir Widerstand gegen die Verbreitung des Hassdiskurses und gegenüber neuen Formen von Gewalt, die im Virtuellen stattfinden. Wenn wir den Slam das Minas („Wettstreit der Mädchen“, Anm. d. Red.) hören, die die Poesie der Frauen aus verschiedenen Regionen aufgreifen und die Idee der „Battles“ neu erfinden – anstatt im Poetry Slam zu konkurrieren, stehen sie Seite an Seite, und ergänzen sich in der Performance – dann wissen wir, wer wir sind: Stimmen, die sich zuhören, sich annehmen, die die ganze Zeit Politik machen. Dieser Widerstand ist auch in seiner Ästhetik neu!

Die Bewegung A PartidA Feminista mobilisiert, um Kandidatinnen aufzustellen und eine Debatte darüber zu führen, wie wichtig es ist, engagierte Feministinnen für die Projekte des Wandels zu wählen. Die Bewegung, die 2015 entstand als Aktivistinnen sich versammelten, um den Sinn und die Möglichkeit einer feministischen brasilianischen Partei zu diskutieren, vereinigt Kollektive von Frauen verschiedener Parteizugehörigkeit und verschiedener Bewegungen aus ganz Brasilien. Anders formuliert: Die Wahlen von 2018 werden durch organisierte Gespräche geschwängert. Initiativen für eine vielfältigere Repräsentierung sollen erneuert werden, ebenso wie Instrumente für die kollektive Finanzierung von Kampagnen.

Bei unserem kürzlichen Treffen in der ABI gingen wir von der Idee aus, dass „eine Frau die nächste mit sich zieht“ – einer der Slogans des Protestmarsches der Schwarzen Frauen von 2017. Wir versammelten Frauen, die sich auf dem politischen Schauplatz von Rio de Janeiro hervorhoben und die potenzielle Kandidatinnen in Machträumen sind: In Länder- und Bundesparlamenten, Gewerkschaften, Parteien und verschiedenen Vereinen. Dabei ging es vor allem um Schwarze Frauen. 2016 haben wir diese Botschaft verbreitet, und hier in Rio de Janeiro bleiben wir an der Spitze der Kommission der Frau, um die Debatte über Gender im Parlament aus unserer Perspektive anzuführen.

Talíria Petroni steht vor der Herausforderung, als einzige Frau im Stadtparlament von Niterói ein Schwarzes Regierungsmandat zu konstruieren, feministisch und an der Basis orientiert. Áurea Carolina in Belo Horizonte schafft die Neuheit eines „weiblichen Parlamentsbüros“, offen für die verschiedensten Kämpfe und gleichzeitig offen für Zärtlichkeit, Poesie und Selbstfürsorge. Wir lernen zusammen, wir suchen Formen, Politik zu machen, die keine reine Reproduktion des Immergleichen ist, weil uns dies stärker macht, um die Räume in den Institutionen zu besetzen, trotz aller Rückschritte. Aber wir möchten nicht alleine in diesem Raum bleiben, wir wollen mehr Menschen, die die Politik verändern.

Die kürzliche Veranstaltung in der ABI wurde durch ein parlamentarisches Mandat initiiert, aber nicht nur. Ein Netzwerk von unabhängigen Frauen mit Parteizugehörigkeit, schloss sich zusammen, um dieses Treffen zu fordern und zu organisieren. Nur für sich betrachtet enthüllt diese Initiative schon einen neuen Moment. Das politische System, so wie es heute (nicht) funktioniert, muss dringend verändert werden. Wir setzen darauf, dass andere Frauen gestärkt werden, um Herrschaftsräume zu besetzen. Und deshalb kann kein politisches Projekt der Linken die Fragen ignorieren, die wir aufwerfen. 2018 – wir kommen!

URTEIL MIT POLITISCHER SPRENGKRAFT

Keine Guten NachrichtenLula in São Paulo am Tag des Urteils (Foto: Ana Perugini, CC BY-NC-SA 2.0)

Das Urteil des Gerichts in Porto Alegre war einstimmig. Alle drei Richter befanden am 24. Januar Ex-Präsident Luiz Inácio “Lula” da Silva der Vermögens­verschleierung und Korruption für schuldig und bestätigten damit das Urteil der ersten Instanz, erhöhten die Strafe, die in der ersten Instanz auf neun Jahre festgelegt wurde, nun auf zwölf Jahre Gefängnis. Damit ist die politische und persönliche Zukunft Lulas ungewiss. Das Urteil bringt ihn ohne Zweifel einen Schritt näher ins Gefängnis und macht eine Kandidatur Lulas bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober dieses Jahres unwahrscheinlicher. Denn in Brasilien gilt das Gesetz der sogenannten ficha limpa, der „reinen Weste“, nach welcher in zweiter Instanz Verurteilte nicht mehr zu Wahlen antreten dürfen.

Und genau darin liegt die politische Sprengkraft dieser Entscheidung. Denn Lula führt alle Umfragen zu den Wahlen deutlich an. Das Urteil von Porto Alegre verhindert die Kandidatur Lulas und würde damit den populärsten Politiker Brasiliens von der Wahl ausschließen. Aber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Lula kann beim Obersten Gerichtshof Widerspruch gegen seine Verurteilung zur Gefängnishaft einlegen. Und beim Obersten Wahlgericht könnte er gegen den nun drohenden Bescheid des Ausschlusses von den Wahlen infolge des „ficha limpa“-Gesetzes vorgehen. Allerdings ist eine völlige Aufhebung des Urteils eher unwahrscheinlich. Die Ungewissheit hält an.

Beim Prozess ging es um ein sogenanntes Triplex, ein dreistöckiges Luxusappartement im Badeort Guarujá, das Lula von der Baufirma OAS bekommen haben soll. Lula war  zwar nie offiziell Besitzer dieses Appartements, aber Reform und Umbau der Wohnung, wie zum Beispiel den Einbau eines Privatfahrstuhls, sollen nach Wünschen von Lula und seiner im Februar 2017 verstorbenen Ehefrau Marisa erfolgt sein. Die Justiz folgerte weiterhin, dass das Appartement die Gegenleistung für Dienste zugunsten von OAS war. Lula soll als Präsident bei der halbstaatlichen Erdölfirma Petrobras zugunsten von OAS interveniert haben.

Die Verteidigung von Lula führte an, dass Lula für den Erhalt eines Appartements bestraft werden soll, das er nie besessen oder genutzt hat. Und ein direkter Zusammenhang zwischen den angeblichen Gaben der OAS an Lula und dem Wirken Lulas bei Petrobras ist nicht wirklich zu beweisen. So lässt sich der Verdacht nicht von der Hand weisen, dass Lula mit einer doch recht konstruiert klingenden Argumentation verurteilt wird, weil er verurteilt werden sollte.
Aber wie auch immer die juristische Bewertung des Urteils gegen Lula ausfallen mag, für die politische Debatte ist dies eigentlich irrelevant. In der Linken Brasiliens herrscht bei aller Meinungsverschiedenheit Einigkeit darüber, dass der Prozess politisch motiviert und das Urteil ein Angriff auf die Demokratie ist. Es handle sich dabei um einen Anschlag auf ein politisches Projekt, das von Teilen der Eliten immer mit Skepsis und Hass verfolgt wurde.

“Was wir hier gesehen haben, war kein Urteil, sondern eine Maßnahme des Ausnahmezustands.”

„Die Verurteilung Lulas ist ein weiteres Kapitel der Angriffe auf die Demokratie Brasiliens“, erklärte Juliano Medeiros, Präsident der PSOL, einer linken Abspaltung der PT „Trotz fehlender Beweise erhöhten die Richter die Strafe noch auf zwölf Jahre – während Figuren wie Präsident Temer oder Aécio Neves weiter frei herumlaufen“, so Medeiros. Auch von Seiten von Jurist*innen wird heftige Kritik am Urteil laut: „Im Falle Lula will man das Bild eines Politikers zerstören und zur selben Zeit verhindern, dass er kandidieren kann“, meint Pedro Serrano, Professor für Verfassungsrecht an der renommierten Universität von Sao Paulo (USP). Es gehe um die Verfolgung eines politischen Anführers. „Was wir hier gesehen haben, war nicht ein Urteil, sondern eine Maßnahme des Ausnahmezustands … Lula ist wie ein Feind behandelt worden, und nicht wie jemand, der irrt – wenn er denn geirrt hat“, so Serrano.

Während für die einen Lula das Opfer einer politischen Verfolgung ist und bleibt, gilt für die anderen die Verurteilung Lulas als Abrechnung nicht nur mit Lula selbst, sondern auch mit dem politischen System, das er präsentiert. In der aktuell zugespitzten Debatte vermischen sich die nachvollziehbare Ablehnung von Korruption mit einem Hass auf das, wofür das Projekt der PT und die Person Lulas auch steht: eine Sozialpolitik für die Armen und Quoten für Schwarze an den Unis.

Wie es nun konkret weitergeht, ist unklar. Die PT hält jedenfalls an der Kandidatur Lulas fest und will alle juristischen Möglichkeiten ausnutzen, um diese zu garantieren. Nichts spricht dafür, dass das Urteil der Popularität Lulas schaden wird. Am Vorabend des Urteilsspruchs kam es in Porto Alegre mit 70.000 Teilnehmer*innen zu einer der größten Demonstrationen in der Geschichte der Landeshauptstadt des südlichen Bundesstaats Rio Grande do Sul. Die Aussicht aber, dass Lula wirklich bei den Präsidentschaftswahlen antreten kann, sind durch das Urteil von Porto Alegre deutlich gesunken. Klar ist auch, dass bei einer endgültigen Kassierung der Kandidatur Lulas der Governeur von Bahia, Jaques Wagner, der ebenfalls Mitglied der PT ist, einspringen wird. Er ist ein alter Weggefährte Lulas und im armen Nordosten beliebt, wo die PT bei den vergangenen nationalen Wahlen die besten Ergebnisse erzielt hat.

Das Urteil hat jedenfalls nicht dazu beigetragen, die Spaltung in der Gesellschaft zu überwinden. Das Rechtssystem wird allgemein nicht mehr als eine unabhängige Macht im System der Gewaltenteilung angesehen, sondern als Teil des politischen Kampfes.

„DIE WOLLEN UNS IN DIE PERIPHERIE ABSCHIEBEN“

Seit in Brasilien ab 2008 die ersten Planungen für gigantische WM-Infrastukturprojekte im ganzen Land aus dem Boden sprossen (s. LN-Dossier 9, September/Oktober 2013), war der Ausbau des Flughafens von Porto Alegre, Salgado Filho, ausgemachte Sache. Der Ausbau der Landebahn sei nötig, damit auf dem internationalen Flughafen auch größere Maschinen landen und starten könnten. So würde die bestehende Piste, die 2.280 Meter lang ist, auf 3.200 Meter verlängert werden. Doch dafür müssten 1.500 Menschen der angrenzenden Favela Vila Dique und die 5.000 Menschen der sich ebenfalls dort befindlichen Favela Nazaré zwangsumgesiedelt werden.

Zwischen 2009 und 2012 wurden aus der Vila Dique die ersten 900 Familien, knapp 4.000 Menschen, umgesiedelt. Doch die restlichen Familien, von denen viele dort seit 40 Jahren leben, weigerten sich. Denn schnell sprach sich herum, wie das neue Wohnviertel aussah, in das die umgesiedelten Familien gezogen waren.

Sheila Mota ist Vorsitzende der Widerstandsbewegung Vila Dique Resiste, in der sich Bewohner*innen der Favela Vila Dique zusammen­geschlossen haben. Gegenüber Medien berichtete sie, dass die Ersatzhäuser mit 38 Quadratmeter viel zu klein für die zwangsumgesiedelten Familien waren, die oftmals zu zehnt dort wohnen mussten. „Von diesen 900 Familien sind etliche wieder zurück zur Vila Dique gekommen“, sagt Sheila Mota. „Da in Porto Novo gibt es zu viel Gewalt und keine Arbeit. Und der Transport erst: Viele müssen zwei Busse nehmen, um zur Arbeit zu kommen.“ Die meisten arbeiten, so Mota, als Müllsammler*innen oder in Recyclingfabriken, dies sei in der neuen Gegend aber nicht möglich. „Die meisten hier arbeiten mit Recycling, das ist unser täglich Brot. In Porto Novo gibt es aber keine Jobs in der Recycling-Branche, kein Auskommen“, sagt Mota. Die ersten hundert Bewohner*innen der neuen Wohngegend von Porto Novo sind nun wieder zurück in die Vila Dique gezogen.

In der Vila Dique ist die Infrastruktur seit den ersten Zwangsumsiedlungen aber massiv schlechter geworden. Eine der ersten Handlungen der Präfektur war die Schließung des örtlichen Gesundheitspostens. Denn schließlich hatte die Politik entschieden, dass die Vila Dique der Flughafenpiste Platz machen sollte. Doch diese Rechnung wurde ohne die Bewohner*innen gemacht. „Wir wohnen hier seit 40 Jahren und seit fünf Jahren leisten wir Widerstand“, sagt Sheila Mota. „Wir wollen den Politikern und den Ämtern zeigen, dass auch wir zur Stadt gehören! Dass wir hier unten auch ein Recht auf Stadt haben!“ Denn nur hier in der Vila Dique und der ebenfalls an den Flughafen angrenzenden Vila Nazaré gäbe es die Infrastuktur, die die Bewohner*innen bräuchten. „Wir wollen das gleiche Recht wie die Reichen haben, nahe an unseren Arbeitsplätzen zu wohnen. Wir wollen nicht die ganze Stadt durchqueren müssen. Wir wollen nicht an der Peripherie der Stadt leben!“, so Mota.

So haben sie die Staatsanwaltschaft und Aktivist*innen kontaktiert und leisten seit 2009 Widerstand gegen die Räumungsandrohungen der Stadt. Die Staatsanwaltschaft klagt gegen die gerichtlichen Androhungen der Zwangsräumungen, und Architekt*innen setzen sich mit den Anwohner*innen zusammen, um alternative Widerstandspläne zu erarbeiten, die vielleicht den Verbleib der comunidades ermöglichen könnten.

Claudia Favaro ist Architektin und erarbeitet einen Plan, um das ganze Gelände vor einer Räumung zu schützen. Dies könnte nur klappen, wenn es gelänge, vor Gericht einen Landtitel zu erlangen. So einen Landtitel gibt es nur, wenn die comunidade das Gericht von der gesellschaftlichen Bedeutung ihrer Lage und Struktur überzeugen kann. Dann wäre eine Räumung gerichtlich schwer durchzusetzen. Aber in Brasilien gab es auch schon viele Fälle, wo eine solche Sozialdemarkation von Gegenden erst vor Gericht erstritten wurde, aber Politiker*innen später das Ganze wieder aufhoben.

Der Kampf um die Vila Dique und Vila Nazaré geht weiter. Bislang lagen die Ausbaupläne für die Flugpiste brach, auch weil die Geldmittel dafür fehlten. „Nun aber wird es aller Voraussicht nach ernst“, sagt Sheila Mota, „denn nun haben sie den Flughafen an die deutsche Firma verkauft“.

Der deutsche MDAX-Konzern Fraport hat zum 1. Januar 2018 den Flughafen Aeroporto Internacional Salgado Filho von Porto Alegre für 382 Millionen Reais (umgerechnet 98 Millionen Euro) übernommen. Der Pachtvertrag läuft über 25 Jahre. Die Fraport AG wird mehrheitlich vom Land Hessen (31,32 Prozent), der Stadt Frankfurt (20 Prozent) und der Lufthansa (8,45 Prozent) kontrolliert. Die Flughafenbetreiber*innen versprechen Investitionen in Höhe von mindestens 600 Millionen Reais, einige Medien in Brasilien spekulierten gar über Investitionen in Höhe von knapp zwei Milliarden Reais. Was aber klar ist: Wird die Landepiste wie vorgesehen erweitert, dann werden die 6.500 Menschen der Favelas Vila Dique und Vila Nazaré zwangsumgesiedelt werden. Der vorgesehene Stichtag dafür ist in Oktober 2019.

Die Anwohner*innen wollen sich aber so leicht nicht geschlagen geben. „Wir haben den Bürgermeister mehrmals kontaktiert, um darüber zu reden. Aber der empfängt einfach niemanden [von uns]“, sagt Sheila Mota. „Das einzige, was wir von ihm gehört haben, war, dass er mit den Deutschen das Geschäft abschließt.“

Für die Chefin der Anwohner*innenvereinigung ist das Ganze ein abgekartetes Spiel. „Die wollen einfach, dass wir klein beigeben“, sagt Sheila Mota. „Die wollen die comunidade vertreiben. Haben wir nicht auch das Recht, nahe der Stadt zu wohnen? Alles Immobilienspekulation. Der Grund und Boden, wo jetzt unsere Vila Dique steht, die ist heute Gold wert. Die großen Filetstücke wurden schon von den Firmenbossen aufgekauft. Deshalb wollen sie, dass wir an die Peripherie der Stadt abgeschoben werden, nur deshalb.“

ÄSTHETISCH MÄRCHENHAFT

Eine einsame Hütte in den Bergen, nur bewohnt von der jungen Maria (Bárbara Luz) und ihrer Mutter (Patricia Pillar). Ein Granatapfelbaum, ein Brunnen, der Wald. Und ein äußerst attraktiver Ziegenhirte, der mit seiner Herde vorbeikommt. Das ist das Setting von Unicórnio, dem zweiten Spielfilm des brasilianischen Regisseurs Eduardo Nunes. Wer darauf hofft, dass sich hier nun ein actionreicher, atemloser Plot entfaltet, liegt leider falsch, denn Unicórnio ist, das merkt man schon bald, ein langsamer Film. Sehr langsam. Minutenlange Einstellungen der Hütte, der Landschaft, der Alltagshandlungen der Protagonisten, könnten dazu führen, sich gelangweilt abzuwenden. Dass das nicht passiert, liegt vor allem an den spektakulär schönen Bildern, die Nunes erschafft. Die Geschichte von Unicórnio basiert auf zwei Erzählungen von Hilda Hilst, einer brasilianischen Autorin des magischen Realismus. Und „magisch“ ist auch eine gute Beschreibung für die wundervollen Aufnahmen der Kamera und die märchenhaft wirkenden Kulissen. Speziell die warmen, nachkolorierten Farben (ein hochaufwendiger Prozess, der über 5 Monate in Anspruch nahm) ziehen in den Bann, laden zum Träumen ein, bieten mentale und visuelle Entspannung. Selbst die Bäume in der Gebirgslandschaft – echt oder nicht – wirken so, als wären sie zur Meditation in einen Feng-Shui-Landschaftsgarten gepflanzt. Es fehlt eigentlich nur noch, dass die Tür der Hütte aufgeht und ein paar Hobbits zum Tee vorbeigeschlendert kommen. Das titelgebende Einhorn wartet ohnehin schon im Wald.

Die Handlung von Unicórnio ist enigmatisch und lässt verschiedene Deutungsmöglichkeiten offen. Symbolische Gegenstände und Handlungen lassen unter anderem an die Geschichte von Adam und Eva oder antike Sagen und Mythen erinnern. Neben den Szenen vor der einsamen Hütte, bei denen sich sowohl Maria als auch ihre Mutter vorsichtig dem Hirten annähern, sind aber auch immer wieder Szenen vor einer weißen Wand zu sehen – vermutlich ein Krankenhaus oder eine psychiatrische Einrichtung. Ana unterhält sich hier mit ihrem Vater, der die Familie aus Gründen, die offen bleiben, verlassen hat, über Gut und Böse, Gott, und andere tiefgründige Themen. Wann die Szenen stattfinden – vor oder nach der Haupthandlung – bleibt ebenso offen wie das Ende, das großen Spielraum für Interpretationen lässt. Dass selbst Regisseur und Hauptdarstellerin auf Nachfrage unterschiedliche Auffassungen dazu äußerten, sollte alle Zuschauer*innen dazu ermutigen, sich eine eigene Meinung zu bilden – vielleicht gibt es hier auch nicht eine, sondern mehrere Wahrheiten.

Unicórnio ist sicherlich ein sehr spezielles Kinoerlebnis, auf das man sich einlassen muss. Zwei Stunden, in denen im Grunde kaum etwas passiert, in denen es für einige Geschehnisse keine eindeutige Erklärung gibt und in dem das Tempo maximale Entschleunigung vorgibt, sind vielleicht nicht für jeden Geschmack geeignet. Wer aber Film nicht nur als atemlose Erzählung, sondern als visuellen, poetischen Genuss verstehen kann, der wird für die Geduld in Unicórnio mit einem der ästhetisch schönsten Filme der diesjährigen Berlinale belohnt werden.

Unicórnio lief auf der diesjährigen Berlinale in der Kategorie Generation 14plus.

TWERKING GEGEN DEN MACHISMUS

Die Erzählung von Bixa Travesty (75min) unterteilt sich in drei Ebenen. Da ist zunächst die Bühne, auf der die brasilianische Popfigur und schwarze Trans*frau Linn Da Quebrada zusammen mit Jup Do Bairro (auch Trans* und seine Partnerin in Crime) mächtige, politische und rhythmische Funk-Lieder singt. Die Performances sind voller Farben und Energie, so dass die Message tief ins Bewusstsein der Zuhörer*innen dringt. Die Lieder greifen brasilianische Machos und die rassistische Gesellschaft an, sind voller Wut, die sich aus der Unterdrückung armer schwarze Transsexueller speist. In dieser Wut gibt es aber eine echte Klarheit, die zu hören wichtig ist.

Die zweite Ebene: Linn Da Quebrada und Jup sprechen über verschiedene Anliegen in ihrem Radioprogramm. Unter anderem werden die Themen Hochzeit, Liebe, Politik, Machismus oder Körper mit unvergleichlichem Humor und Charisma von beiden Künstlerinnen behandelt. Das Radioprogramm wäre sehr empfehlenswert für religiöse Fundamentalist*innen, weil beide Frauen sich darum kümmern, kontroverse Fragen über Transsexualissmus ganz einfach zu beantworten.

Die dritte Ebene ist vielleicht die wichtigste von allen und auch der Grund, der diese 75minütige Dokumentation zur einem der “Must-See-Filme” der 68. Berlinale machte. Die Kamera verlässt die Bühne und die Radiosendung und betritt Da Quebradas privates Leben. Die erste Szene spielt in der Küche. Während das Essen gekocht wird, spricht Linn mit ihrer Mutter über die Romantisierung von Armut, ihre eigene Familiengeschichte in den Favelas von Sao Paulo und wie wichtig es ist, sich selbst und den eigenen Körper zu lieben. Ab diesem Punkt wird man tiefer in Da Quebradas Leben getaucht, um sie kennenzulernen: zum Beispiel wie sie gegen den Krebs gekämpft und überlebt hat und welche politischen und körperlichen Reflektionen sie dadurch erfahren hat. Linn da Quebrada hat eine besondere Einstellung, die sie alle diese Themen immer mit einem positiven Blick betrachten und über sie lachen lässt. Sie hat ein grosses Charisma. Die Zuschauer*innen müssen unwillkürlich zusammen mit ihr lachen und sich vielleicht – warum nicht? – ein bisschen in sie verlieben.

Musik und Rhythmus spielen in diesen Film eine besondere Rolle, dafür haben die Brasilianer*innen einfach ein gewisses Talent. Man kann sich auf großartige Bilder, Humor und viel Queer Twerking freuen.

Der Film der Regisseur*innen Claudia Priscilla und Kiko Goifman lief auf der Berlinale in der Sektion Panorama und gewann den queeren Filmpreis Teddy Award für die beste Dokumentation.

GERICHTSSHOW FÜR FORTGESCHRITTENE

„Voltamos pra inferninho?“ („Gehen wir zurück in die Hölle?“) fragt José Eduardo Cardozo und er meint: den Gerichtssaal. Cardozo ist Rechtsanwalt und führte die Verteidigung der brasilianischen Präsidentin Dilma Roussef bei ihrem Amtsenthebungsprozess an. Ohne Erfolg, wie man heute weiß. Auf dem Weg dorthin hat er aber dennoch bemerkenswerte Arbeit geleistet. Dass dies nicht in Vergessenheit gerät, dafür sorgt der Dokumentarfilm O processo (Der Prozess) von Maria Augusta Ramos, der auf der Berlinale seine Weltpremiere feierte, und in dem Cardozo eine der wichtigsten Figuren ist.

Der Amtsenthebungsprozess der Präsidentin, der dem Film seinen Namen gibt, war ein bürokratisches Monster in mehreren Akten und – wie man heute mit großer Sicherheit sagen kann –ein abgekartetes Spiel, das deswegen von vielen als „kalter Putsch“ bezeichnet wird. Nicht weniger monströs war auch die Aufgabe, die sich Maria Augusta Ramos stellte. Aus 400 Stunden Material hat sie einen 137-minütigen Film destilliert, der ein anschauliches Bild der Ereignisse liefert – allerdings nur, und das ist die große Einschränkung, für Personen, die sich bereits mit Ablauf und Protagonist*innen der Ereignisse aus den Jahren 2016 und 2017 auskennen. Ramos folgt hauptsächlich dem Verlauf des Prozesses und filmt ihre Protagonist*innen bei der Arbeit, was fast den Eindruck eines Kammerspiels vermittelt. Ab und zu werden zur Auflockerung Bilder von Demonstrationen für und gegen die Präsidentin auf den Straßen, seltener private oder halb-private Eindrücke einzelner Personen oder Bilder aus der Stadt Brasilia eingespielt. Musik gibt es nicht zu hören. „Spartanisch“ nennt die Regisseurin ihre filmische Herangehensweise. „Ich mag das“.

Im Gegensatz dazu stehen die oft chaotischen Szenen aus Gerichtssälen oder Parlamenten. Angefangen mit der legendären Abstimmung im brasilianischen Parlament, in der die Stimmen pro oder contra Dilma Amtsenthebungsverfahren unter anderem Gott, der eigenen Familie, ehemaligen Folterknechten, der Demookratie, Truckern oder der LGBT*-Bewegung gewidmet wurden und einige Abgeordnete sich wüst beschimpften und bespuckten. Sprechchöre, Tumulte, das Absingen der Nationalhymne nach gewonnenen Abstimmungen – in Deutschland undenkbar, in Brasilien mittlerweile Normalität. Neben diesen oft befremdlich wirkenden Ausuferungen zeigt der Film aber auch sehr exakt den Austausch von Argumenten und Gegenargumenten im Gerichtssaal. Dabei fokussiert sich die Regisseurin auf einige emblematische Personen, zum Beispiel die Anwälte der Verteidigung (Cardozo) und der Anklage. Letztere in Person der Evangelikalen Janaina Paschoal, die nicht nur der Verteidigung mit ihren substanzarm-pathetischen, oft mit Tränen untermalten Reden („Dilma, es tut mir leid, wenn ich dir wehtun muss, aber deine Enkelkinder werden mir für deine Amtsenthebung dankbar sein!“) den letzten Nerv raubt. Brilliant dagegen die messerscharfen Analysen und Diskurse ihres Gegenspielers José Cardozo, der sich mit seiner couragierten Verteidigung eines von vorne herein verlorenen Falls großen Respekt erwirbt und fadenscheinige Argumente der Anklage gekonnt entkräftet. Gut nachvollziehen kann man den Verlauf des Prozesses dadurch, dass Maria Augusta Ramos den Argumentationen und auch den Protagonist*innen beider Seiten Platz einräumt. Dies war ihr leider bei den strategischen Lagebesprechungen vor den Verhandlungen und Abstimmungen nicht möglich, da ihr nur die Verteidigung die Erlaubnis erteilte, zu filmen. Die Diskussionen dort gehören zu den Highlights des Films, da man dort intime Eindrücke in politische Strategien gewinnt, die sonst meist im Verborgenen bleiben.

Die Schwäche von O processo ist, dass er ein Film von Expert*innen für Expert*innen ist. Als Nicht-Kenner*in der Personen und des brasilianischen politischen Systems ist es schwer, ja fast unmöglich, dem Geschehen zu folgen. Dafür verantwortlich sind zum Teil auch ganz schlichte handwerkliche Fehler. Namen der Protagonist*innen werden so gut wie nie eingeblendet, die einzelnen Schritte der Amtsenthebung weder in Wort noch in Schrift erklärt. So kann man als Außenstehende*r zwar interessiert den Debatten folgen, weiß aber nie, wo diese gerade stattfinden – in der Abgeordnetenkammer, im Senat, vor einem Gericht oder ganz woanders? Schade, denn so verspielt Ramos die Chance, ihre ansonsten hervorragend gemachte Dokumentation für ein breiteres Publikum verständlich zu machen. Dennoch ist O processo aber eine wichtige und sehenswerte filmische Aufarbeitung von Ereignissen, die als eines der dunkleren Kapitel des brasilianischen Politik- und Justizsystems in die Geschichte eingehen werden.

 

O processo lief auf der diesjährigen Berlinale in der Kategorie Panorama Dokumente.

 

REISE IN DIE TIEFE SEELE AMAZONIENS

Ex Pajé erzählt die Geschichte eines Kriegers, der außerhalb seiner gewohnten Umgebung, dem brasilianischen Amazonasgebiet, leben muss. Perera und seine Familie gehören zu den Paiter Suruí, einer indigenen Gemeinschaft, die jahrzehntelang im Regenwald nach ihrer eigenen Weltanschauung lebte, bis die Modernisierungswelle sie erreichte. Perera lebt jetzt umgeben von Handys, Waschmaschinen und anderen Objekten des Systems derWeißen Männer”. Er ist aber eigentlich ein Krieger und ehemaliger Schamane (portugiesisch: Pajé) der seine Gruppe durch das Amazonasgebiet leitete. Der Film entwickelt sich ausgehend von diesem Konflikt.

Die Gefahren im Urwald haben sich verändert. Heute muss Pereras Familie gegen das illegale Holzfällen kämpfen und die Beschwerden darüber mit Fotos auf Facebook posten. Dazu kommt die moderne Medizin: Früher hat der Schamane, also Perera, mit den Geistern des Waldes gesprochen, um seine Verwandten zu heilen, aber jetzt bekommen sie moderne Pillen für moderne Schmerzen. Um zu guter Letzt alles noch schlimmer zu machen ist auch noch die Heilige Katholische Kirche im Ort und hat ein strenges Verbot der Paiter SuruíWeltanschauung ausgesprochen, die als Teufelswerk verdammt wurde.

Perera bewacht nachts die Türen der Kirche und bekommt Besuch von den Dschungelgeistern, die ihn als Strafe für seine Unterwerfung unter das Verbot seiner Traditionen durch die Kirche schlagen. Aber etwas Unerwartetes geschieht in Pereras Familie und er muss die Entscheidung treffen, wieder ein Schamane zu werden, um seiner Gruppe zu helfen.

Diese Dokumentation des brasilianischen Regisseurs Luiz Bolognesi (u.a. Uma História de Amor e Fúria; Amazônia Desconhecida) wird bei dieser 68. Berlinale in der Sektion Panorama gezeigt. Die Geschichte trifft mit dem Konflikt des Protagonisten und der Herausforderung, der er begegnen muss, ins Herz der Zuschauer. Was den Film besonders macht, ist die Perspektive von Bolognesi: die Welt durch Pereras Augen zu sehen und seine Weltanschauung zu zeigen.

Spezielle Erwähnung muss der Filmsound bekommen: Er ist sehr wichtig. weil es die Sprache des Urwalds ist, der Perera ständig zuhört. Daher wurde hier richtig gut gearbeitet, um dem Publikum die mächtige akustische Präsenz Amazoniens nahezubringen.

Mit Ex-Pajé schafft Bolognesi etwas Wunderbares: Die orale Geschichte der Paiter Suruí durch Pereras Aktionen und Gespräche mit seinem Enkel aufzunehmen. Gedreht mit Empathie und Respekt zeigt die Dokumentation, wie wichtig es ist, die Natur zu verstehen und stellt auch die Frage, wie weit entfernt wir selbst in der “Westlichen Welt” von einer Beziehung mit der Natur sind.

Ex Pajé wurde auf der Berlinale 2018 in der Kategorie Panorama Dokumente gezeigt und erhielt neben einer Lobenden Erwähnung den Glashütte Original Dokumentarfilmpreis.

RÄTSELHAFTES AUS RIO

Zu Beginn nur Bäume. Tropischer Urwald, grün und dunkel. Ist es die Floresta de Tijuca, die grüne Lunge von Rio de Janeiro? Man weiß es nicht, man kann es nur vermuten. Wie so vieles in Evangelia Kraniotis zweitem Langfilm Obscuro Barroco, der eine Hommage an die Stadt Rio de Janeiro sein soll. Nur leider gelingt das nicht so ganz.

Obscuro Barroco folgt, so das nachvollziehbare Konzept, einem visuellen Leitfaden, der Rio de Janeiro als eine Stadt, die Platz für alternative Lebensentwürfe und deren offenes Ausleben bietet, zeigen soll. Gefilmt wurde ausschließlich nachts, Tourismusklischees wie Zuckerhut oder Corcovado finden keinen Platz im Film. Protagonistin des Ganzen, und auch das ist nachvollziehbar, ist die vor kurzem verstorbene Luana Muniz, eine Legende des Nachtlebens in Rio de Janeiro. Luana Muniz war Sängerin, aber euch Leiterin eines Bordells im Ausgehviertel Lapa, das Trans*-Personen, HIV-Positive, Prostituierte und Obdachlose von der Straße holte und aufnahm. Sie qualifizierte Travestis und Trans-Personen für den Arbeitsmarkt und war Vorsitzende der Vereinigung der Sexarbeiter*innen der Travestis und Trans*Personen in Rio de Janeiro.

All dies wären interessante Informationen gewesen, die Obscuro Barroco einem Publikum außerhalb Brasiliens hätte vermitteln können. Doch leider enthält der Film sie den Betrachter*innen vor und überlässt es – sofern sie sich überhaupt die Mühe machen – ihnen und Google, sich über das durchaus interessante Leben der „Königin von Lapa“ kundig zu machen. Stattdessen lässt Kranioti Muniz aus dem Off permanent mit reichlich Pathos aufgeladene Kommentare raunen – teils aus Werken der brasilianischen Lyrikerin Clarice Lispector, teils (auch das kann man nur vermuten) von ihr selbst verfasst. Das beginnt spätestens ab der Hälfte des Films erheblich zu nerven, da die meisten der Aussagen, die die Bilder eigentlich tragen und ihnen Bedeutung verleihen sollen, deutlich zu wenig Gehalt haben, um über Banalitäten hinauszugehen. Zu allem Überfluss wiederholen sie sich zum Teil auch noch. Darüber hinaus wird nie richtig klar, was Obscuro Barroco eigentlich sein möchte. Ein Porträt von Luana Lessa? Dazu fehlen Informationen zu ihrem Hintergrund und Menschen, die im Film auftreten und über sie erzählen. Ein umfassender Einblick in die LGBTIQ-Szene von Rio ist der Film aber genauso wenig wie ein alternatives Porträt oder eine künstlerische Collage über die Stadt, denn ständig wird der Fokus verengt, erweitert oder verschoben, so dass man irgendwann überhaupt nichts mehr damit anfangen kann. Am interessantesten ist Evangelia Kraniotis Arbeit dann, wenn sie Momente aus der Trans*-Szene Rios zeigt, ausgelassene Partys oder eine Szene bei einem Schönheitschirurgen, wo (endlich! atmet man auf) auch einmal kurz andere Personen zu Wort kommen, als der wabernde Sermon von Luana Muniz aus dem Off. Leider wird das schon kurz darauf wieder konterkariert von ziemlich aus dem Zusammenhang gerissenen Bildern einer Demonstration gegen die Amtsenthebung Dilma Roussefs, längeren Großaufnahmen der Protagonistin oder unverhohlen voyeuristischen Kamerafahrten über nackte Körper. Auch der als Stilmittel fungierende weiß maskierte Clown, der des öfteren Seilbahn fahrend oder in den Straßen spazierend durch den Film vagabundiert, wirkt aufgesetzt und prätentiös. Evangelia Kranioti hätte es gut getan, den neugierigen Blick der Außenseiterin, die sie als Nicht-Einwohnerin von Rio ist, beizubehalten, statt einen Insider-Film aus einem sehr speziellen Blickwinkel über die Stadt zu drehen. Mit dieser Herangehensweise hat sie weder dem Publikum noch ihrem Werk einen Gefallen getan, das unverständlicherweise von der Berlinale auch noch in die Sektion Panorama (statt ins experimentellere Forum) eingestuft wurde. Bis auf ein paar schöne Aufnahmen und die genannten Einblicke ins LGBTIQ-Szene von Rio bleibt so von „Obscuro Barroco“ leider nicht viel hängen – es sei denn, man ist eingefleischter Fan von Luana Muniz, was außerhalb Rios aber ein überschaubarer Personenkreis sein dürfte. Wer an der Trans*/LGBTIQ-Thematik in Brasilien interessiert ist, dem sei deswegen der deutlich lohnenswertere Berlinale-Beitrag Bixa Travesty (Rezension ebenfalls auf dieser Seite) empfohlen.

Obscuro Barroco lief auf der Berlinale 2018 in der Kategorie Panorama Dokumente und erhielt den Special Jury Award.

BEIHILFE ZUR FOLTER

„Es war Volkswagen, die dafür verantwortlich waren, dass ich von den Geheimpolizisten des DOPS an meinem Arbeitsplatz bei VW in São Bernardo do Campo verhaftet, noch auf dem Werksgelände geschlagen und von dort direkt in das Folterzentrum DOPS verschleppt wurde. Dort wurde ich wochenlang gefangen gehalten und schwer gefoltert.“ Lúcio Bellentanis Stimme dröhnt tief durch den bis auf den letzten Platz angefüllten Theatersaal der Berliner Schaubühne. Die Empörung über das, was der Metallarbeiter und Gewerkschafter im Juli 1972 bei VW do Brasil und in den Wochen nach seiner Verhaftung erlebte, ist ihm noch immer anzumerken. „Wenn VW wenigstens einmal sagen würde, dass es ihnen leid täte, dass sie Verantwortung übernehmen, dann wäre dies ein erster Schritt“, sagt der mittlerweile 73-Jährige. „Der zweite Schritt wäre eine Kollektiventschädigung. Denn wir lassen uns nicht spalten, gar einzeln verhandeln, wie VW das so gerne wollte.“

Bellentani war im November 2017 auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung nach Berlin gereist, um den Druck auf VW zu erhöhen. Denn seit September 2015 wird auf Betreiben der Arbeiter*innen wie Bellentani von der Bundesstaatsanwaltschaft in São Paulo untersucht, ob VW mit den Repressionsorganen der Militär­diktatur kollaboriert hat. In Berlin nahm Bellentani mit 60 anderen Menschenrechts­akti­vist*innen aus fünf Kontinenten an dem Reality-Schauspiel „General Assembly“ in der Schaubühne teil, das der Regisseur Milo Rau orchestrierte. Angehörige der Opfer der Brand­katastrophe der für die Textilkonzerne in Pakistan und Bangladesch schuftenden Arbeiter*innen waren bei dem dreitägigen Theater am Berliner Ku‘damm ebenso vertreten wie von Landgrabbing durch Palmölfirmen betroffene Landarbeiter*innen aus Indonesien oder Witwen der 34 im Jahr 2012 während eines Streiks von der südafrikanischen Polizei erschossenen Minenarbeiter der Platin-Mine der britischen Firma Lonmin. Alle Betroffenen und Aktivist*innen hielten als Delegierte eines simulierten Weltparlaments ihre Redebeiträge in fünf Minuten und standen dann noch vier Minuten den anderen Delegierten und der Verteidigung Rede und Antwort.

Lúcio Bellentani berichtete über seine Verhaftung und die Folter, erklärte den überraschten Zuhörer*innen, welchen gewichtigen Anteil VW do Brasil daran hatte. Und er berichtete, was sich in den vergangenen zwei Jahren in der Ange­legenheit ergeben hat.

Im September 2015 (siehe LN 497) hatten ehemalige Arbeiter*innen, die zur Zeit der Militärdiktatur (1964-1985) bei VW do Brasil Repres­sion erlitten hatten, gemeinsam mit Rechts­anwält*innen, Menschenrechtsaktivist*innen und allen elf brasilianischen Gewerkschaftsdachverbänden eine Sammelklage bei der Zivilkammer der Bundesstaatsanwaltschaft in São Paulo eingereicht. Das Ziel: Die Kollaboration von VW do Brasil mit der Militärdiktatur zu untersuchen und zu prüfen, inwieweit VW finanziell haftbar dafür gemacht werden könne.

Seither ermittelt die Staatsanwaltschaft, hat über ein Dutzend Zeug*innen vernommen, darunter sowohl die Arbeiter*innen als auch die ehemaligen VW-Werkschützer*innen. Erstere erzählten detailliert über die Bespitzelungen durch VW, ihre Verhaftungen, über die schwarzen Listen, die, wie sie später feststellten, von VW über die Mitarbeiter*innen erstellt wurden und an die Repressionsorgane weitergegeben wurden. Letztere offenbarten auffällig viele Erinnerungslücken, wiesen Anschuldigungen vehement zurück, sie hätten an den Verhaftungen der Mitarbeiter*innen aktiv mitgewirkt und Infos an die Geheimagent*innen der Militärdiktatur weitergegeben, so dass in einigen Fällen nur auf Basis dieser Tipps Menschen verhaftet wurden und in den Folterkellern der Diktatur landeten. Der Chef des VW-Werkschutz, Adhemar Rudge, stritt die Authentizität seiner Unterschrift unter solchen an den Geheimdienst weitergeleiteten Doku­menten mit VW-Stempel und Briefkopf ab, beschwerte sich im Nachhinein über den „Skandal, dass da jemand meine Unterschrift gefälscht hat!“

Bellentani berichtete vor den Theater-Zuschauer*innen auch ausführlich von dem Fall seines Kollegen Heinrich Plagge. Am 8. August 1972 war er gegen 14 Uhr in das Büro des VW do Brasil Managers Ruy Luiz Giometti gerufen worden, wo neben Giometti zwei Unbekannte auf ihn warteten und ihn für verhaftet erklärten. Plagge wurde in das DOPS verschleppt, dort 30 Tage lang gefoltert und anschließend in ein Gefängnis verlegt, aus dem er am 6. Dezember – rund vier Monate nach seiner Verschleppung – freigelassen wurde. Am 22. Dezember 1972, 16 Tage nach seiner Entlassung, erhielt er die Kündigung durch Volkswagen.

„Aber“, so berichtet Lúcio Bellentani vor der Schaubühne in die herbeigeilten Mikorophone der Journa­list*innen, „es kommt noch schlim­mer: Heinrich Plagges Frau hat auch beim Staatsanwalt ausgesagt. Sie berichtet, wie an jenem 8. August am Nachmittag ein höherer VW-Mitarbeiter zu ihr nach Haus kam und ihr mitteilte, ihr Mann habe kurzfristig für die Firma auf Dienstreise gehen müssen, daher habe er keine Zeit mehr gehabt, ihr dies mitzuteilen.“ Erst Monate später habe sie erfahren, wo Plagge war: im Folterzentrum DOPS.

Kurz nach Bellentanis Berlinreise wurde der Abschlussbericht des Gutachters, den dieser im Auftrag der Staatsanwaltschaft von São Paulo erstellt hat, publik. Der Bericht des brasilianischen Gutachters Guaracy Mingardi bestätigt die Vorwürfe der Kollaboration VWs mit der Militärdiktatur. Mingardi bestätigt „nicht nur die Kollaboration durch den Informationsaustausch [mit den Repressionsorganen], sondern auch die aktive Repression [seitens VW] der eigenen Mitarbeiter“, vor allem Anfang der 1970er Jahre. Das Gutachten bestätigte zudem die von VW Ende der 1970er Jahre erstellten schwarzen Listen, die an die Repressionsorgane und andere Firmen weitergereicht wurden. Die Aussagen von Bellentani und Plagge über ihren Leidensweg werden von Mingardi durch die Recherchen ebenfalls explizit bestätigt.

Mingardi geht in seinem Gutachten aber noch einen Schritt weiter. Auf Seite 63 schreibt er: „So bleiben keine Zweifel, dass es wirklich Unterstützung seitens Volkswagen für das [Folterzentrum] OBAN und vielleicht selbst für das [später so umbenannte Folterzentrum] DOI-CODI gegeben hat”. Das OBAN wurde 1969 gegründet, 1970 in DOI-CODI umbenannt und dem Heer unterstellt. Dort wurden zwischen 1969 und 1975 66 Menschen ermordet, 39 von denen starben dort unter der Folter, viele wurden dort gefoltert und mindestens 2.000 Menschen dort eingekerkert, meist ohne Prozess. Genaue Zahlen kennt niemand, denn nahezu alle Dokumente wurden vernichtet. Bekannt ist, dass das OBAN in seiner Anfangszeit als Folterzentrum Finanzprobleme hatte und dass die Unternehmerschaft São Paulos Geldspenden von durchschnittlich 100.000 US-Dollar je Jahr sammelte und diese dem OBAN spendete. Dass VW sich, wie andere Firmen auch, an der Sammelaktion für das Folterzentrum beteiligt habe, wird in mehreren diesbezüglichen Untersuchungen behauptet, aber es fehlt noch immer der konkrete Beweis, der die direkte Verbindung zwischen den Firmen im Einzelnen und dem OBAN herstellt. Nun hat der Gutachter im Auftrag der Staatsanwaltschaft die Quellen gesichtet und kommt zu dem Schluss, dass „es keine Zweifel“ gebe, dass VW das Folterzentrum OBAN unterstützt hat. Damit fiele Volkswagen eine Mitschuld für die im OBAN, dem späteren DOI-CODI, Ermordeten und Gefolterten zu. Die Anschuldigung zur Beihilfe zur Folter und zum Mord seitens VW do Brasil erhält dadurch sogar systemischen Charakter.

Anfang Dezember 2017 erklärte VW die Bereitschaft, Entschädigungen mit den ehemaligen VW-Mitarbeiter*innen in Brasilien auszuhandeln. Es bleibt die Frage, ob das reichen wird. Denn das Eingeständnis VWs, mit den Repressionsorganen kollaboriert zu haben, wirft die Frage auf, inwieweit VWs Unterstützung für das Folterzentrum OBAN, die der Gutachterbericht Mingardis als erwiesen ansieht, über die Opfergruppe der über Dutzende VW-Mitarbeiter*innen hinausreicht und zudem all diejenigen miteinschließt, die im OBAN und späteren DOI-CODI gefoltert wurden. Das wären Tausende.

 

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