FÜR MEHR EINSATZ

Marta Viera da Silva Die sechsfache Weltfußballerin ist ein vorbild für den Nachwuchs / Foto: UN Women (CC BY-NC-ND 2.0)

Seit der ersten offiziellen Frauen-Weltmeisterschaft 1991 hat noch kein lateinamerikanisches Team den Titel gewonnen. Allein die brasilianische Nationalelf schaffte es 2007 ins Finale einzuziehen und den zweiten Platz hinter den deutschen Frauen zu erreichen. Deutlich an der Spitze liegen die USA mit vier Meisterschaftstiteln, Deutschland befindet sich mit zwei Titeln an zweiter Stelle. Dabei ist zu bedenken, dass von 1955 bis 1970 auch in Deutschland noch ein Verbot des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) herrschte, das Frauen untersagte Fußball-„Mannschaften“ zu gründen. Nach Aufhebung des Verbots gestattete der DFB den Frauen das Spielen nur unter Vorbehalt. Es durfte nur mit Jugendbällen und ohne Stollenschuhe gespielt werden. Die Spielzeit wurde auf 60 Minuten verkürzt.
Vor kurzem ist eine neue Diskussion entbrannt: Emma Hayes, Trainerin des Chelsea F.C. Women, machte den Vorschlag, die Tore im Frauenfußball entsprechend den Körpergrößen von Frauen zu verkleinern und stieß damit auf heftige Kritik. Während die Befürworter*innen in der Anpassung eine Chance für bessere Spielbedingungen sehen, befürchten andere Stimmen einen Rückschritt in der Debatte um Geschlechtergerechtigkeit und gleiche Bezahlung.

“Wir brauchen für den Frauenfußball eine eigene Identität”


Doch bevor man sich der Frage über die Größe des Tores annehmen kann, muss weltweit zunächst einmal an anderen Baustellen, wie Investitionen zur Förderung von Fußballtrainerinnen und Ligen gearbeitet werden. Der aktuelle Präsident der Fédération Internationale de Football Association (FIFA), Gianni Infantino, versprach aus diesem Grund am Tag des Eröffnungsspiels der WM 2019 Taten sprechen zu lassen, damit Frauenfußball besser promotet werden kann. “Wir brauchen für den Frauenfußball eine eigene Identität” – so der Funktionär. Dafür wäre es zunächst einmal nötig aufzuhören, ständig Vergleiche zu männlichen Pendants zu suchen. Warum wird die Brasilianerin Marta Vieira da Silva „Pelé de Saias“ („Pelé im Rock“) genannt und die Argentinierin Estefanía Banini „La Messi Feminina“ („die weibliche Messi“)? Und warum wird Christiane Endlers Talent als Torschützin mit der deutschen Herkunft ihres Vaters in Verbindung gebracht und nicht mir den chilenischen Wurzeln ihrer Mutter? Trotz des frühen Ausscheidens der lateinamerikanischen Nationalmannschaften lohnt es sich, die Profile dieser drei Kapitäninnen genauer unter die Lupe zu nehmen.
Die 1,82-Meter große Torhüterin Christiane Endler hat bei dieser WM mit körperlichem und spielerischem Einsatz geglänzt. Endler ist nicht nur eine der besten Spielerinnen und Kapitänin der chilenischen Nationalelf, sondern hat aufgrund spielerischer Höchstleistungen weltweite Anerkennung erlangt. Mit ihr als Torhüterin haben Chiles Frauen es erstmalig geschafft, an der Weltmeisterschaft teilzunehmen. Um an ihrer Karriere als Profi-Spielerin zu arbeiten, ist sie nach Europa gekommen. Aktuell spielt sie im französischen Verein Paris Saint-Germain. Zuvor hatte die 26-jährige Torhüterin ein Jahr lang für den spanischen FC Valencia ihren Einsatz gezeigt. Im selben Jahr spielte auch Estefanía Banini für den FC Valencia. Die Dribbling-Meisterin hat der Argentinischen Nationalelf zum ersten Mal seit 2007 zum Einzug in die Qualifikationsrunde verholfen. Im Einspielvideo der FIFA zur diesjährigen WM zeigt sie ihren Kampfgeist: „Wenn ich Fußball spiele fühle ich mich glücklich, frei, lebendig. Aber es ist nicht immer einfach gewesen“. Nach einem hart erkämpften 3:3 in der Gruppenphase gegen Schottland, musste die Argentinierin leider unter Tränen einsehen, dass es für den Einzug ins Achtelfinale nicht gereicht hat. In einem Interview, das Endler kurz nach der Qualifikation zur Weltmeisterschaft mit Radio France Internationale geführt hat, erklärt sie, dass es in ihrer Heimat an weiblichen Vorbildern fehle. Erst durch den Schritt ins europäische Ausland habe sie erkannt, dass Frauenfußball auf einer hohen professionellen Ebene gespielt werden kann. Hier verbessere sie stetig ihre Techniken und gewöhne sich langsam an Spielweisen, die einen höheren Grad an Tempo und Körpereinsatz forderten. Sie beobachte einen Aufschwung der Förderung von Frauen-Fußballligen in Chile, stellt aber zugleich klar, dass in Chile sowie in Argentinien die Mehrheit der Frauen nicht von den Einkünften als professionelle Spielerinnen leben können und es zeitweise sogar an Aufwandsentschädigungen fehle.


„Es wird nicht für immer eine Formiga geben, es wird nicht für immer eine Marta geben und auch keine Cristiane“


Ein etabliertes Vorbild für jüngere Generationen ist die sechsfache Weltfußballerin Marta Vieira da Silva. Sie hat den langen Weg von den Straßen der brasilianischen Kleinstadt Dois Riachos bis hin ins Maracanã-Stadion geschafft. In den jungen Jahren ihres Werdegangs wurde sie immer wieder mit Stimmen aus ihrem Umfeld konfrontiert, die behaupteten, dass Fußball nichts für Frauen sei. Auch sie trat aus diesem Grund eine Karriere in Europa an. Nachdem sie mehrere Jahre lang für schwedische Vereine spielte, ist sie seit 2017 beim US-amerikanischen Verein Orlando Pride unter Vertrag. Als „United Nations Women Goodwill Ambassador“ setzt sie sich für die Gleichberechtigung von Frauen im Sport ein und motiviert junge Sporttalente, ihr Potenzial auszuschöpfen. Im diesjährigen Gruppenspiel gegen Italien schoss Marta in der 74. Minute ihr 17. WM-Tor und erzielte damit nicht nur den entscheidenden Treffer für den Einzug ins Achtelfinale, sondern auch den Weltrekord unter den – männlichen wie weiblichen – WM-Torschütz*innen. Dass Marta für die Lippenstiftmarke Avon wirbt und auf der Titelseite der Vogue zu sehen ist, steht der Anerkennung ihrer sportlichen Leistungen nicht im Wege. Im Achtelfinalspiel gegen Gastgeberin Frankreich reichte es dann leider nicht für einen Sieg. Nach Angaben der FIFA verfolgten 23.965 Besucher*innen im Stade Océane und ca. 33,57 Millionen Zuschauer*innen vor dem Fernseher die Niederlage. Marta nutzte die Aufmerksamkeit, um einen Appell an die jungen Nachwuchstalente in ihrer Heimat zu richten: „Ich würde jetzt gerne lächeln oder vor Freude schreien. Und das ist, glaube ich, der wichtigste Punkt: Zuerst zu weinen, um an Ende zu lächeln. Was ich damit meine, ist, mehr zu wollen, mehr zu trainieren. Achtet auf euch, seid bereit, 90 und die zusätzlichen 30 Minuten zu spielen, so viele Minuten wie nötig. Es wird nicht für immer eine Formiga geben, es wird nicht für immer eine Marta geben und auch keine Cristiane. Dass der Frauenfußball überlebt, hängt von Euch ab, denkt darüber nach und schätzt es mehr. Weint zuerst, um am Ende zu lächeln“ (Sportschau, veröffentlicht am 25.06.2019). Die Förderung von motivierten Nachwuchsspielerinnen ist auch deshalb so wichtig, da Martas erfolgreiche Teamkolleginnen Cristiane Rozaira de Souza Silva und Miraildes Maciel Mota Formiga (Ameise) mit 34 und 41 Jahren ihre Hochphase als Leistungssportlerinnen bereits hinter sich haben.
Leider gibt es zu viele Fälle aus der Vergangenheit, die gezeigt haben, dass weibliche Stars des Fußballs weniger aufgrund ihres spielerischen Talents, sondern vielmehr aufgrund ihrer Körpereigenschaften auf sich aufmerksam machen. Fußball spielenden Frauen wird in den Medien häufig erst dann Aufmerksamkeit geschenkt, wenn sich die Themen um ihr erotisches Aussehen, ihre vermeintliche sexuelle Orientierung oder um ihr angeblich unangebrachtes burschikoses Auftreten drehen. Ein Beispiel dafür ist der sogenannte Model-Fußball, der in den 90er Jahren in den brasilianischen Medien bekannt wurde. Als Aufnahmekriterien zählten weniger die spielerischen Leistungen, als vielmehr das Äußere der Frauen. Fußball wurde mehr als Trend denn als Leistungssport betrieben. Die Qualität und Sichtbarkeit des Frauenfußballs nahm stark ab. Potenzielle Talente wurden in die zweite Liga abgestuft und blieben hier lange Zeit unentdeckt, da die Gelder zur Professionalisierung der Spielerinnen fehlten.

Der Frauenfußball braucht neue Idole, die die Menschen mit ihrem Fieber für den Sport anstecken


Nicht nur an diesem Beispiel ist zu erkennen, dass die finanzielle Budgetplanung der FIFA stark von der Medienberichterstattung und den damit zusammenhängenden Quoten des öffentlichen Fernsehens abhängt. Je mehr Zuschauer*innen sich für den Frauenfußball begeistern lassen, desto mehr finanzielles Interesse entsteht. Nun stellt sich die Frage: Wer schaut sich Frauenfußball an und warum? Für sportlich interessierte Zuschauer*innen und Profis stehen sicherlich herausragende spielerische Leistungen, Kreativität und technisches sowie taktisches Können im Vordergrund. Doch diese Gründe allein erklären nicht den gesamten Zauber, der mit der Fußballfankultur einhergeht. Wenn Menschen Fußball schauen, dann sind sie unter anderem auf der Suche nach großen Emotionen, nach einem Gemeinschaftsgefühl, nach einer kollektiven Euphorie, oder zumindest der Hoffnung darauf. Finden nicht viele Zuschauer*innen im Fußball einen Raum zur Identifikation? Dafür braucht der Frauenfußball neue Idole, wie Endler und Banini, die die Menschen mit ihrem Fieber für den Sport anstecken. Ob es sich nun um eine 1,82 m große Torhüterin oder eine 1,62 m kleine Mittelfeldstürmerin handelt − die Beurteilung körperlicher Eigenschaften der Frauen tritt nur dann in den Hintergrund, wenn wir als Zuschauer*innen beginnen, auf das Talent und die Leidenschaft der Spieler*innen zu schauen. Erst dann können finanzielle Förderungen zur Ausbildung von Trainerinnen und Schiedsrichterinnen und der Aufbau von weiblichen Fußball-Ligen erfolgreich in die Wege geleitet werden.

 

„BÜCHER JA, WAFFEN NEIN“

João Paulo da Silva „Ich bin der erste meiner Familie, der auf eine staatliche Universität geht und ich werde dafür kämpfen, nicht der letzte zu sein!“ // Foto: Beatriz Mota
In ein paar Tagen wird Julia De Souza Rodrigues auf eine Konferenz nach Italien fahren, doch bis dahin wird die Neurowissenschaftlerin weiter protestieren. Souza Rodrigues forscht für ihre Doktorarbeit an der Bundes-Universität UFABC im Süden von São Paulo zu dem Zusammenhang von muskulärer und neuronaler Aktivität. Möglich macht das auch ein Stipendium, das sie aus öffentlichen Geldern für vier Jahre erhält. Souza Rodrigues hat einen wissenschaftlichen Schnellstart hingelegt, sie ist erst 21 Jahre alt. Inzwischen hat sich auch Harvard bei ihr gemeldet und sie eingeladen. Es ist nicht so, dass es unter den linken Vorgängerregierungen keine Kürzungen gegeben hätte, sagt sie, „aber der große Unterschied sind die Rechtfertigungen. Unter Dilma hieß es, wir haben kein Geld, aber in keinem Augenblick wurden wir derartig angegriffen. Heute sehen wir, dass die Regierung die Leute nicht respektiert, die das Beste für ihr Land wollen“. Für Bildung und gegen die Regierung demonstrieren gehört für sie in diesen Tagen unbedingt zusammen.

„Er hat Geld für die Milizen, aber nicht für Bildung“

„Raus Bolsonaro!“, das steht wie ein einstimmiges Fazit auf den Bannern, schallt durch die Reihen der Protestierenden und findet immer wieder zustimmende Antworten von den Balkons der angrenzenden Hochhäuser und im Hupen vorbeifahrender Autos. Die Studierenden rufen „Er hat Geld für die Milizen, aber nicht für Bildung“ oder fordern „Bücher ja, Waffen nein“. Am 15. Mai haben sie schließlich die gesamte Avenida Paulista besetzt, die größte und wichtigste Straße in São Paulo. Gewerkschaften, Parteien und Studierendenvereinigungen hatten landesweit zum Nationalstreik an Universitäten aufgerufen, mehr als 1,5 Millionen Menschen sollen es am Ende gewesen sein, in über 170 Städten. Offizielle Zahlen der Polizei gibt es nicht.

Protest der philosophischen Fakultäten am 3. Mai 2019  // Foto: Lisa Pausch

Die Schwarzen-Bewegung hat die Quotenregelung erreicht, aber ohne passende Politiken können wir nicht an den Unis bleiben

Es ist die erste große Protestwelle seit dem Amtsantritt des rechtsextremen Jair Bolsonaro. Ende April nahm sie Fahrt auf, auch als Folge von fliegenden Personalwechseln und zweifelhaften Aussagen des Bildungsministers.
Abraham Weintraub, Ökonom mit Erfahrung im Finanzsektor, ist selbst erst seit Anfang April im Amt. Sein Vorgänger, Ricardo Vélez Rodríguez, hatte kurz vor seiner Entlassung in einem Interview gesagt, es habe 1964 keinen Putsch gegeben, „sondern einen souveränen Beschluss der brasilianischen Gesellschaft“ und er wolle entsprechende Änderungen in Lehrbüchern vornehmen. Dass er ein paar Tage später entlassen wurde, hing eher mit internen Streitigkeiten zusammen als mit inhaltlichen Unstimmigkeiten. Wie auch Vélez Rodríguez hat es sich sein Nachfolger Weintraub auf die Fahnen geschrieben, Universitäten von einem vermeintlichen „Kulturmarxismus“ zu befreien. Eine Regierungsmaxime ganz im Sinne von Bolsonaros Guru, dem rechten Philosophen Olavo de Carvalho, nach dem das größte Problem Brasiliens der „Kulturmarxismus“ sei, der von den Linken in allen Sektoren der Gesellschaft verbreitet werde.
Nachdem der Kampf gegen die Kulturszene schon im März rhetorische Auswüchse in sozialen Netzwerken getrieben hatte, folgte am 24. April eine Ankündigung Jair Bolsonaros auf Twitter. Ausgaben für Soziologie und Philosophie sollten gekürzt werden, hieß es da, man werde sich auf andere Bereiche konzentrieren, die einen „direkten Nutzen für den Steuerzahler“ hätten, wie „Ingenieurswissenschaften und Medizin“.
Am 29. April legte Caroline de Toni, Abgeordnete der Regierungspartei, einen Gesetzesentwurf vor, der vorsieht, Paulo Freire den Titel als „Patron der brasilianischen Bildung“ zu entziehen. Dieser war ihm unter der linksgerichteten Regierung von Dilma Rousseff 2012 zuerkannt worden. „Paulo Freire war Marxist und er hat sich mehr um Politik gekümmert“, erklärte de Toni. Die Abgeordnete gehört mit zu den Carvalho-Anhängern und ist Verteidigerin der Initiative „Escola Sem Partido“ (Schule ohne Partei), deren Ziel es ist, gegen die linke „Indoktrination“ von Schüler*innen vorzugehen. Der brasilianische Pädagoge und Philosoph Paulo Freire (1921-1997) wurde für sein Werk Die Pädagogik der Unterdrückten weltweit rezipiert, seine Schriften sind Teil des Weltdokumentenerbes der UNESCO.
Am 30. April kündigte das Bildungsministerium (MEC) an, zunächst 30 Prozent der Budgets an den bundesstaatlichen Universitäten UFBA (Bahia), UFF (Rio de Janeiro) und UnB (Brasília) zu streichen, mit der Begründung, sie hätten die Erwartungen an ihre akademische Arbeit nicht erfüllt, stattdessen verursachten die Studierenden „Durcheinander“ und „lächerliche Veranstaltungen“. Bildungsminister Weintraub nannte als Beispiel für diesen „Radau“ etwa „Ohne-Land- Aktivisten“ und „nackte Menschen“ auf dem Campus, ohne diese Angaben genauer zu spezifizieren. Inzwischen geht die regierungsunabhängige Bundesstaatsanwaltschaft juristisch gegen Weintraub vor und fordert eine Entschädigung über eine Million Euro als „kollektiven Moralschaden“. Nach heftiger Kritik wurde diese Kürzung auf alle bundesstaatlichen Universitäten ausgeweitet.
Gabriel Dias, 19, ist Geschichtsstudent an der bundesstaatlichen Universität UNIFESP in São Paulo. Er hatte bereits am 3. Mai den ersten Protest der philosophischen Fakultäten organisiert. An dem Tag waren etwa 200 Studierende in São Paulo auf der Straße. „Die UNIFESP hatte historisch gesehen schon immer ein Profil von vielen Schwarzen Studierenden und jenen aus der Arbeiterklasse“, betonte er, „Wir leiden am meisten unter dem Angriff auf die Maßnahmen, die uns den Verbleib an der Uni überhaupt ermöglichen. Die Schwarzen-Bewegung hat die Quotenregelung erreicht, aber ohne passende Politiken können wir nicht an den Unis bleiben.“

Brachiale Polizeipräsenz Bildungsprotest in São Paulo am 23. Mai // Foto: Lisa Pausch

In einem ersten Schritt hatte die Regierung zu verstehen gegeben, 30 Prozent aller Gelder für bundesstaatliche Universitäten einzufrieren, später revidierte sie diese Aussage, es gehe um die „nicht-obligatorischen“ Zahlungen und das auch nur „vorübergehend“. Sollte die Rentenreform durchgehen, so Weintraub, könnten auch die Zahlungen für die Bildung wieder freigegeben werden. Mehrere Gruppen sprachen sich auf den Bildungsprotesten ausdrücklich auch gegen die Rentenreform aus.
Hintergrund der Einsparungen ist auch ein Haushaltsdefizit von über 139 Milliarden Reais (derzeit umgerechnet 31 Milliarden Euro). Das Bildungsministerium soll dabei auf umgerechnet rund 1,7 Milliarden Euro seiner insgesamt bewilligten 34 Milliarden. Euro verzichten. Für die bundesstaatlichen Unis bedeutet das: Von den bewilligten 11,5 Milliarden Euro für die bundesstaatlichen Universitäten sollen 3,5 Prozent wegfallen, also mehr als 400 Millionen Euro. Das klingt wenig, bedeutet in der Praxis aber rund 30 Prozent weniger für all die Kostenpunkte, die nicht auf Löhne oder Renten entfallen. Allein die Personalkosten verschlingen mit umgerechnet 9,6 Milliarden. Euro mehr als 85 Prozent der Gesamtkosten an diesen Unis. Unter diese sogenannten nicht-obligatorischen Kosten fallen Neubauten, Renovierungen oder auch die Ausstattung für Labore, laufende Kosten für Wasser, Gas, Strom, Reinigungs- und Sicherheitspersonal, Mensen, Transport, Lehrmittel und vor allem Stipendien- und Projektmittel. Der Einschnitt ist an den Universitäten unterschiedlich, beläuft sich an den Universitäten im Süden der Bahia und Mato Grosso do Sul aber auf über 50 Prozent.
Ricardo Fonseca, Rektor der bundesstaatlichen Universität UFPR in Curitiba warnte vor einer Schließung der Universität, sollten die Kürzungen weiter bestehen bleiben. „Zu diesem Zeitpunkt werden sie die Aktivitäten im zweiten Semester unmöglich machen“. Die UFRJ in Rio de Janeiro beklagte, bereits jetzt mit einem Defizit von 170 Millionen Reais haushalten zu müssen, eine Folge vorheriger Kürzungen.
Gerade Stipendien haben es in den letzten Jahren Teilen der marginalisierten Bevölkerung erleichtert, Zugang zu höherer Bildung zu bekommen. Das bundesstaatliche Gesetz N.12711 wurde 2012 beschlossen, demnach müssen mindestens 50 Prozent der Studienplätze an Schüler*innen aus öffentlichen Schulen vergeben werden. Diese sind in Brasilien dafür bekannt, zwar kostenlos aber nur unzureichend auf die Aufnahmeprüfungen der Unis vorzubereiten. Dementsprechend niedrig war die Quote der Schüler*innen aus öffentlichen Schulen vor allem an den Exzellenzuniversitäten. Das Gesetz regelt auch die Quoten für Schwarze Menschen, People of Color (PoC) und Indigene, sie orientieren sich an dem jeweiligen Bevölkerungsanteil in den Bundesstaaten. Nach Angaben des nationalen Bildungsforschungsinstituts INEP sind in den ersten drei Jahren nach Gesetzesbeschluss die Zahlen der angenommenen Absolvent*innen aus öffentlichen Schulen von knapp 29.000 auf über 78.000 gestiegen, die Zahl der Studierenden, die sich als Schwarze oder PoC identifizieren, von knapp einer auf über zwei Millionen.
Parallel zu den Nachrichten aus dem Bildungsministerium stellten die Abgeordneten der Regierungspartei PSL Rodrigo Amorim in Rio de Janeiro und die Lehrerin Dayane Pimentel im Bundesstaat Bahia Gesetzesentwürfe vor, die das Quotensystem an den Universitäten beenden sollen.
Auch vor diesem Hintergrund kann das Foto des 20-jährigen João Paulo da Silva als ein Symbol gesehen werden. Die Journalistin Beatriz Mota fotografierte den Studenten während der Proteste am 15. Mai in Rio, er blickt entschlossen in die Kamera, auf seinem Schild steht: „Ich bin der erste meiner Familie, der auf eine staatliche Universität geht und ich werde dafür kämpfen, nicht der letzte zu sein!“ Sein Foto wird auf Facebook tausendfach geteilt. Er selbst habe nicht mit dieser Verbreitung gerechnet, schreibt da Silva später auf Twitter und: „Ein junger lebender Schwarzer Studierender in einer Zeitung, das ist, was zählt, nicht nur weil ich das bin. Zwischen all den Todesnachrichten über unsere Leute, glaube ich, ist das eine andere Schlagzeile.“
Präsident Jair Bolsonaro ist während der Proteste außer Landes auf Staatsbesuch in den USA. Die Proteste seien Werk von „nützlichen Idioten“, die nicht einmal die Formel von Wasser kannten, weiß er aus der Ferne zu kommentieren, „Schwachköpfe, die als Manövriermasse einer kleinen Gruppe von Schlaumeiern dienen, die den Kern unserer Bundesuniversitäten in Brasilien ausmachen“. Ein paar Tage später kündigte die Regierung an, rund 20 Prozent der Kürzungen zurückzunehmen – ob aus Angst vor weiteren Protesten, bleibt unklar.
Angesichts der zweiten großen Proteste am 30. Mai, teilte das Bildungsministerium mit, es sei Lehrer*innen, Mitarbeiter*innen, Schüler*innen und Eltern „nicht erlaubt, während der Unterrichtszeit Proteste zu verbreiten und anzuregen“. Minister Weintraub ermutigte in einer Videobotschaft dazu, entsprechende Personen direkt auf der Website des Ministeriums anzuzeigen.

LYRIK AUS LATEINAMERIKA

Illustration: Joan Farias Luan, www.cuadernoimaginario.cl

 

HOMO SAPIENS

„Creció en mi frente un árbol.
Creció hacia dentro.“
Octavio Paz

sou máquina?

sou sujeito?

ou sou sujeito à maquina?

sou um ser centrípeto
eu sei
quando cismo
assumo meu eixo
quando assumo
sou o centro
de mim mesma

me assumindo
sou eu sendo

e a máquina
vem
e a máquina
me ajuda
e a máquina
me atropela
a máquina vem
e me esfacela

e a máquina vem
e faz as dela
computa meus dados
registra a minh´idade
as vezes soft
as vezes hard

sou um ser centrípeto
eu sei
quando cismo
assumo:
diante da máquina
sou um pássaro
diante da máquina
sou um fraco
diante da máquina
sou um fluxo de sangue
procurando ser de aço.

 

 

HOMO SAPIENS

„Es wuchs in meiner Stirn ein Baum.
Er wuchs nach innen.”
Octavio Paz

bin ich maschine?

bin ich subjekt?

oder objekt der maschine?

ich bin zentripetal
ich weiß
wenn ich grüble
stehe ich für mich gerade
geradestehend
bin ich zentrum
meiner selbst

für mich einstehend
bin ich seiend

und die maschine
kommt
und die maschine
hilft mir
und die maschine
überrollt
die maschine
zerfetzt mich

und die maschine
kommt
und macht ihr ding
benutzt meine daten
registriert mein alter
mal soft
mal hard

ich bin zentripetal
ich weiß
wenn ich grüble
gestehe ich ein
vor der maschine
bin ich ein vogel
vor der maschine
bin ich schwach
vor der maschine
bin ich ein blutstrom
der sein soll wie stahl.

 


Elisabete Albuquerque-Wegenast (1950, Buri, Brasilien) studierte Literatur- und Sprachwissenschaften an der Universidade de São Paulo und erwarb einen Master of Arts an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig mit dem Schwerpunkt Medienpädagogik und Ästhetische Praxis. Sie arbeitete in Deutschland und Brasilien im Kulturbereich und als Kulturpädagogin. So war sie etwa im Amazonasgebiet im Rahmen eines Projekts zur Einführung der Schrift in oralen Kulturen tätig. Zurzeit schreibt sie Lyrik und Essays und lebt in Berlin.

Lea Hübner ist freiberufliche Übersetzerin für Spanisch und Portugiesisch, vom Dokument überEssay, vom Ausstellungskatalog bis Lyrik. Sie studierte Lateinamerikanistik an der Freien Universität Berlin mit Schwerpunkt Brasilianistik sowie Spanisch und Philosophie. Sie lebt in Berlin und hat in den letzten Jahren insbesondere Graphic Novels ins Deutsche übertragen, zuletzt Angola Janga. Eine Geschichte von Freiheit von Marcelo D’Salete (bahoe books, 2019).
* Übersetzt von Rudolf Wittkopf, in: Octavio Paz, In mir der Baum. Gedichte. Spanisch und Deutsch, Frankfurt/M. 1990, 198f.

 

 

DIE 120 TAGE VON SODOM IN BRASÍLIA

Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

Seit dem Amtsantritt des Präsidenten Jair Bolsonaro verging kaum ein Tag, an dem nicht eine der zu einem demokratischen Gemeinwesen gehörenden Selbstverständlichkeiten von ihm oder seinen Regierungsmitgliedern erst unter Beschuss geriet, dann in schwerem Gewässer ohne Seenotrettung ausgesetzt und damit dem Untergang überlassen wurde. Schon in den ersten Tagen seiner Regierung setzte Bolsonaro mit der Erleichterung des Zugangs zu Feuerwaffen eines seiner Wahlversprechen um. Seit Januar dieses Jahres haben „Bewohner von städtischen Gebieten mit hoher Kriminalität“ sowie „Eigentümer von kommerziellen oder industriellen Geschäften“ die Erlaubnis, sich legal mit bis zu vier Feuerwaffen hochzurüsten. Flankiert wird diese Liberalisierung des Waffengesetzes von einer Lizenz zum Töten.

Die dahinter waltende Exzellenz ist Justizminister Moro, jener Richter, dessen Hauptmission es war, den ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva zu verhaften und ihn damit an der erneuten Kandidatur zum Präsidenten zu hindern, und der dafür mit einem Ministeramt beschenkt wurde. Moro hat rasch eine Justizreform ins Parlament gebracht. Zum Kern dieser „Reform“ gehört die Entkriminalisierung von Tötungsdelikten der Polizei in Fällen von „entschuldbarer Angst, Überraschung und heftigen Emotionen“, falls diese der Erschießung von Banditen (fast immer junge, schwarze Männer) vorausgegangen seien. Dazu soll es dem Gesetzentwurf zufolge ausreichen, wenn die Polizist*innen dies anschließend glaubhaft deutlich machen. Wahre Leidenschaft aus dem ersten der Höllenkreise.

Zeitgleich lässt der neugewählte faschistische Gouverneur von Rio de Janeiro, Wilson Witzel, mit Scharfschützen auf Favela-Bewohner*innen schießen, denen aus hunderten Metern Entfernung beim Blick durch das Zielfernrohr unterstellt wird, sie seien bewaffnet. Mehrere Fälle von Regenschirmen und Bohrmaschinen bezeugen deren Unschuld. Witzel beglückwünschte die Todesschützen. Fehlt nur noch der Orden aus dem Höllenkreis des Blutes.

Demokratisch verfasste Gemeinwesen brauchen eine lebendige Zivilgesellschaft, die Partizipation erkämpft und verteidigt, was der brasilianischen Zivilgesellschaft nach 1988 durchaus gelungen ist. Dem wurde nun de facto ein Ende gesetzt: Sämtliche der bestehenden Beiräte und Partizipationsorgane aller Ministerien wurden mit einem Federstrich abgeschafft, einschließlich staatlicher Organe, die in der Verfassung verankert sind oder durch völkerrechtlich verbindliche internationale Abkommen Rechtssicherheit genießen. Der Klageweg dagegen ist lang und steinig.

Wo die Bolsonaro-Truppe Widerstand mutmaßt, wird die Axt angesetzt. Der Kulturförderung wurde der Garaus gemacht, der Indigenenbehörde der Großteil ihres Etats genommen, und Philosophie und Soziologie sollten an Bundesuniversitäten gar nicht mehr gefördert werden. Bolsonaro will Fächer, die einen konkreten Nutzen haben. Ingenieur*innen haben sich schon immer angepasster an faschistische Systeme gezeigt als Geisteswissenschaftler*innen. Grundsätzlich sollen die Kids der Wohlhabenden die Universität wieder für sich alleine haben. „Die Universitäten sollen für eine intellektuelle Elite reserviert werden“, so der wegen interner Streitigkeiten inzwischen zurückgetretene Bildungsminister Ricardo Vélez Rodríguez. Der Minister ist gegangen, aber das Ziel bleibt: Arme sollen sich der Berufsausbildung widmen oder besser gleich malochen, sie haben an einer Hochschule im Brasilien des Haupt­manns Bolsonaro nichts zu suchen.

Bolsonaro liefert auch die Umsetzung weiterer Wahlkampfversprechen. Seine Hauptunterstützer – die Agrarlobby und die Industrie – rieben sich schon vor seiner Wahl die Hände, denn Bolsonaro will indigenes Land für das Agrobusiness und Bergbaukonzerne öffnen. Der tausendfache Protest der Indigenen, die Ende April das Acampamento Terra Livre, die größte indigene Versammlung zur Verteidigung des Amazonas­gebietes, in Brasília organisiert haben, wird von den militarisierten Bundestruppen der Força Nacional de Segurança Pública in Schach gehalten.

Die Aussortierung der Armen aus der Rentenversicherung, das ist der Plan der lange erwarteten Rentenreform seiner Durchlaucht, dem ultraneoliberalen Wirtschaftsminister Paulo Guedes. Alte Menschen aus dem ländlichen Raum gehören zu den großen Verlierern, die Privilegien bei der Rente der Militärs sind aber aus der Reform herausgenommen. Überhaupt soll die Rentenkasse de facto den Banken übertragen werden: Kapitalgedeckte Altervorsorge heißt der Renner, der schon in Chile die Massen unter das Existenzminimum brachte und den Banken explodierende Börsenwerte verschaffte.

Sollen die Arbeiter*innen im dritten Höllenkreis doch Scheiße fressen.

Brasiliens Arbeiter*innen müssten sich entscheiden, tönte Bolsonaro im Wahlkampf: „Arbeit oder Rechte?“ Die logische Konsequenz aus diesem scheinbaren Gegensatz ist die Schleifung der Gewerkschaften über geschickt angesetzte Rahmenänderungen bei der Gewerkschaftsfinanzierung. Hinzu kommt, dass die Firmen nun – über die Tarifverträge hinweg – individuell mit den Arbeiter*innen verhandeln. Nicht nur wegen dieser Maßnahme freut sich die Wirtschaft über die neue Regierung und deutsche Firmen fühlen sich in Brasiliens Sodom pudelwohl. So sagt zum Beispiel André Clark, CEO von Siemens in Brasilien: „Die Zusammenarbeit zwischen der Regierung und den Unternehmern läuft sehr gut und effizient“. Sollen die Arbeiter*innen im dritten Höllenkreis doch Scheiße fressen. Da schon unter der Temer-Regierung die Arbeitsjustiz dereguliert wurde, fehlte nur noch die logische Fortsetzung der Brutalo-Politik im Lohnbeutel: Der Stopp des Zuwachses des Mindestlohns. Die regelmäßige Erhöhung des Minimalbetrages über die Inflationsrate hinaus gehörte zu den wichtigsten Instrumenten der PT-Regierung zur Armutsbekämpfung und zum sozialen Ausgleich. Ab jetzt wird bei der Erhöhung höchstens die Inflation berücksichtigt und die bindende Kraft des gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohns erheblich eingeschränkt werden – anders ausgedrückt, er gilt nicht mehr in allen Bereichen und Regionen.

Bolsonaro erklärt, „Demokratie und Freiheit gibt es nur, wenn die Armee es so will“. Und erlaubte, dass der Militärputsch von 1964 auf „angemessene Weise“ in den Armeebaracken gefeiert wird – Demokratie als Gnade der Militärs, so versteht die Bolsonaro-Truppe das politische System.Die Ermittlungen um die vielfältigen Verstrickungen des Bolsonaro-Clans in die tiefen Staatsstrukturen der Mafiamilizen kommen nicht voran, wenn sie denn je ernsthaft von den zuständigen Ermittlungsbehörden aufgenommen wurden. „Wer hat Marielle Franco erschossen, und wer gab den Mordauftrag?“, fragen Brasilianer*innen auch ein Jahr nach dem Mord millionenfach. Obwohl die mehr als anrüchigen, direkten Verbindungen der ersten festgenommenen, mutmaßlichen Täter mit dem Bolsonaro-Clan zwar höchste mediale Klickzahlen erreichen, enden sie im juristischen Niemandsland.

Die brasilianische Demokratie und die ohnehin schwache, politische und staatliche Institutionenlandschaft sind täglich in Auflösung begriffen und das ist das eigentliche Programm: „Brasilien ist nicht das Feld, wo wir viele gute Sachen für unser Volk aufbauen wollen. Wir müssen eher viel dekonstruieren“, so Bolsonaro bei seinem Besuch in den USA. Bolsonaros Brasilien ist ein Land mit immer weniger „checks and balances“. Anders sieht das allerdings die Deutsche Bundesregierung: „Wir vertrauen in die Festigkeit der brasilianischen Institutionen“, erklärte jüngst ein über die Einschätzung des Deutschen Außenministeriums informierter Mitarbeiter. Und Außenminister Heiko Maas sieht „gemeinsame Werte“ am walten.

Als Dekonstrukteur stellt sich Bolsonaro auch als Anti-Präsident dar: Er demontiert seine Minister*innen und lässt seinen Guru, den selbst ernannten Philosophen Olavo de Carvalho aus den USA, gegen die Militärs wettern (zuletzt beschimpfte er diese als „Hosenscheißer”). Mal interveniert Bolsonaro im halbstaatlichen Mineralölunternehmen Petrobras, um eine Dieselerhöhung zu verhindern. Mal beugt er sich dem Rat seines Wirtschaftsministers und verspricht, dies nie wieder zu tun. „Ich verstehe ja nichts von diesen wirtschaftlichen Prozessen“, erklärte er. Dann wieder hetzt er seinen jüngeren Sohn Carlos, den Monsignore, gegen seinen Vize-Präsidenten, einen General.

„Ich verstehe ja nichts von diesen wirtschaftlichen Prozessen“

Bolsonaros Partei PSL, aufgefüllt mit politischen Parvenüs und Abenteurern, agiert im Parlament völlig orientierungslos. Bolsonaro lässt sie nicht an die Fleischtöpfe der Macht. Und so vergeht kaum ein Tag ohne ein Verwirrspiel, das keines ist, weil es mit dem klaren Ziel geschieht, die Institutionen allmählich zu zersetzen und in diesem Chaos eine Atmosphäre der Angst zu erzeugen. Parlament und Justiz geben völlig widersprüchliche Signale und die obersten Richter*innen begehen elementare Fehler. Die etablierten Medien distanzieren sich von Bolsonaro aus Furcht, dass dieser Mann am Ende für die Herrschaft der Elite doch zu dysfunktional sein könnte. Bolsonaro schimpft über den größten Fernsehsender des Landes: „Rede Globo ist der Feind“. Und die Opposition schweigt: Die rechte Opposition der PSDB ist im Nichts verschwunden und die Linke verbleibt in der Schockstarre. Noch einmal die Journalistin Eliane Brum: „Bolsonaro ist Regierung und Opposition zugleich.”

Flankiert wird das ganze Schmierentheater durch den Auftritt der Signora in Brasiliens Sodom, der Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte, Damares Alves, der wir die Erkenntnis verdanken, dass in den Niederlanden Eltern ihre Babys sexuell stimulieren, und dass Touristen nach Brasilien reisen, um dort in den Motels Sodomie zu begehen. Woraufhin der Präsident selbst diese Einsichten durch die Aufforderung ergänzte, die Ausländer sollten ruhig nach Brasilien reisen, um dort mit den schönen Frauen zu schlafen, aber die Schwulen sollten das nicht tun, in Brasilien gälten schließlich familiäre Werte. Werte aus den Höllenkreisen der Leidenschaft, des Blutes und der Scheiße.

 

ZWEI MORDE UND EIN LABYRINTH UNBEANTWORTETER FRAGEN

Para ler em português, clique aqui.

(Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl)

Die Waffe, die Marielle Franco tötete, war eine HK MP5 von Heckler & Koch. Die Aktivistin wurde mit vier Kopfschüssen brutal hingerichtet, als sie am 14. März 2018 eine Veranstaltung im Zentrum von Rio de Janeiro verließ. Gemeinsam mit ihr wurde ihr Fahrer, Anderson Gomes, getötet. Seit mehr als zehn Jahren war sie Verteidigerin der Menschenrechte gewesen, vor allem für junge Schwarze und Angehörige der LGBTI*-Gemeinschaft, und wurde so zur fünft meist gewählten Stadträtin des Bundesstaates. Der Mord an der brasilianischen Stadträtin Marielle Franco wäre eine gute Handlung für eine Fernsehserie: die potentielle Beteiligung von Milizen, brutale Auftragsmorde und außerdem mutmaßliche Verbindungen zu hochrangigen Politiker*innen, nämlich zum Sohn des Präsidenten. Aber es ist vor allem eine Geschichte, in der sich Fiktion und Realität vermischen und es keine Grenzen gibt.

Im März 2019 jähren sich die beiden Morde. Kurz vor ihrem Tod hatte Marielle Franco außergerichtliche Hinrichtungen angeprangert, die von Polizei- und Staatsbeamt*innen in den Favelas von Rio de Janeiro durchgeführt wurden. Sie war Berichterstatterin für die Vertreter*innenkommission des Stadtparlaments geworden, deren Ziel es ist, das Eingreifen des Bundes in die öffentliche Sicherheit des Bundesstaates zu überwachen.
Marielle Franco wurde durch ein deutsches Maschinengewehr von Heckler & Koch getötet. Das Modell HK MP5, neun Millimeter Kaliber, hat eine hohe Präzision und wird für gewöhnlich nicht bei Bandit*innen in Brasilien beschlagnahmt. Es ist eine Waffe, die normalerweise von den Eliteeinheiten der Polizei von Rio de Janeiro verwendet wird.Wenn es eine Waffe aus dem Waffenarsenal der Polizei war, wie kam dann die HK MP5, die Franco getötet hat, in die Hände der Mörder*innen? Ermittlungen zufolge sind Milizen aus dem Bundesstaat Rio de Janeiro mögliche Verantwortliche für das Verbrechen. Doch auch ein Jahr nach der Ermordung der Stadträtin und ihres Fahrers ähneln die Ermittlungen eher einem Labyrinth unbeantworteter Fragen.

Die Ermittlungsrichtung, welche von der Politik am ehesten unterstützt und bereits vom Ministerium für Sicherheit von Rio de Janeiro im Dezember letzten Jahres bestätigt wurde, ist jene, dass Marielle Franco möglicherweise von Milizen getötet wurde, die von Landnahmen im Westen des Bundesstaates Rio de Janeiro profitieren. Der Sekretär und General Richard Nunes sagte der brasilianischen Presse im Dezember, dass Kriminelle möglicherweise die Arbeit der Stadträtin gefürchtet hätten. Franco hatte vor, die Bewohner*innen dieses Gebietes für die unrechtmäßige Aneignung ihres Landes zu sensibilisieren. Darüber hinaus wurden im Ermittlungsverfahren Haftbefehle erlassen, zum Beispiel gegen Anführer*innen der Gruppe Escritório do Crime. Die sollen ein Ableger der auf Auftragsmorde spezialisierten Miliz sein. Ihre Mitglieder sind ehemalige Polizist*innen, Elitekiller*innen, die handeln, ohne Spuren zu hinterlassen. Francos Tod soll 200.000 Reais, umgerechnet 47.000 Euro, gekostet haben, wobei von der Gruppe verübte Morde bis zu einer Million Reais, umgerechnet 235.000 Euro, kosten können. Bisher wurden mindestens fünf Personen in Verbindung mit der Ermordnung der Stadträtin und ihres Fahrers verhaftet. Unter den inhaftierten Mitgliedern der Militärpolizei befindet sich auch ein ehemaliger Leutnant im Ruhestand, der Chef der Miliz sein soll. Ein weiterer Verdächtiger befindet sich derzeit auf der Flucht: Es ist der ehemalige Kapitän Adriano Magalhães da Nóbrega aus der polizeilichen Eliteeinheit „Bope“ in Rio de Janeiro.


 “Eine kriegerische Erinnerung, die nicht erlischt” Murales in Rio erinnern an Marielle Franco (Foto: Dominik Zimmer)

Das politische Ansehen des umstrittenen und konservativen Bolsonaro-Clans wurde bereits im ersten Monat der Regierung erschüttert: Die brasilianische Presse berichtete, dass Untersuchungen einen möglichen Zusammenhang zwischen der Ermordung von Stadträtin Marielle Franco und dem Sohn von Präsident Jair Bolsonaro aus der PSL Partei ergeben hätten. Diese Verbindung habe einen Namen: Adriano Magalhães da Nóbrega. Wie brasilianische Medien im Januar ausführlich berichteten, beschäftigte das Büro des ehemaligen Abgeordneten und gewählten Senators Flávio Bolsonaro, Sohn des Präsidenten, bis November 2018 die Mutter und die Frau des ehemaligen Polizisten Nóbrega. Die Staatsanwaltschaft in Rio de Janeiro bezeichnete Nóbrega als Kopf der Miliz „Escritório do Crime“. Dabei handelt es sich um die gleiche Organisation, die bei den Ermittlungen als mutmaßlich verantwortlich für die Ermordung von Marielle Franco gemacht wird. Die Tageszeitung O Globo berichtet, dass der sich auf der Flucht befindende Adriano Magalhães da Nóbrega ein Freund von Flávio Bolsonaros ehemaligem Berater Fabrício Queiroz sei. Dieser stehe im Verdacht, so heißt es weiter, die Mitarbeiter*innengehälter des Politikers einzuziehen. Wegen dieser mutmaßlichen Taten laufen aktuell Ermittlungen gegen ihn. Laut dem Bericht war die Mutter des ehemaligen Polizisten, Raimunda Veras Magalhães, außerdem eine der Mitarbeiter*innen, die Überweisungen auf das Konto von Queiroz tätigten. Amnesty International Brasilien hat kürzlich einen Bericht veröffentlich, in dem die Einzelheiten der Untersuchung des Mordes an Marielle Franco und ihrem Fahrer Anderson Gomes dokumentiert werden. Der Bericht zeigt, dass Marielle Franco mit vier Kopfschüssen, von insgesamt 13 Schüssen, getötet wurde. Die Originalmunition, mit neun Millimeter Kaliber, wurde zum ersten Mal verwendet und war Teil einer Charge, welche normalerweise die brasilianische Bundespolizei verwendet.

Die Charge mit dem Namen UZZ-18 sei 2006 von dem Unternehmen Companhia Brasileira de Cartuchos (CBC) an die Bundespolizei verkauft worden, heißt es in dem Bericht weiter. Es handelt sich bei dem Unternehmen um einen der größten Munitionshersteller der Welt, das der „strategischen Verteidigung“ dient. CBC ist die Konzernmutter der Firma Taurus. Im Dezember 2018 berichtete die brasilianische Zeitung Folha de São Paulo, dass der Gerichtshof von Rio de Janeiro Aktiengeschäfte von CBC blockiert habe. Denn es besteht der Verdacht, dass der Unternehmenschef, Daniel Birmann weitere Unternehmen gegründet habe, einige davon in Steueroasen, um Vermögenswerte geheim zu halten. Wiederum sei die von CBC verkaufte Charge, die UZZ-18, 2009 von der Post des Bundesstaates Paraíba abgezweigt worden, zitiert Amnesty International den brasilianischen Minister für Sicherheit. Die Post erklärte, dass der Vorfall nicht dokumentiert sei. Es ist jedoch bekannt, dass Waffen derselben Charge im Jahr 2015 bei einem Massaker in São Paulo in den Regionen Osasco und Barueri eingesetzt wurden. 20 Menschen wurden bei den Vorfällen getötet. Möglicherweise waren daran Polizist*innen eben jener Killereinheit beteiligt, die auch die Stadträtin aus Rio de Janeiro getötet hat. Obwohl die Fingerabdrücke der möglichen Mörder*innen der Stadträtin und ihres Fahrers auf den Patronenhülsen gefunden wurden, gibt es in den Ermittlungen bisher keinen Hinweis darauf, wer diese Personen sind. Außerdem ist nicht klar, wie die Munitionscharge der Bundespolizei abhanden gekommen ist – und durch wen. Genauso, wie die Spur der verwendeten Munition, mit der Marielle Franco und ihr Fahrer Anderson Gomes getötet wurden, durch ihre Charakteristika, Fakten und beteiligte Personen unklar ist, so ist auch der Verkauf von Waffen der deutschen Firma Heckler & Koch nach Brasilien ein umstrittenes Thema.

Der in Deutschland lebende Aktivist Jürgen Grässlin untersucht seit Jahrzehnten die deutsche Firma Heckler & Koch. Grässlin schätzt, dass seit der Gründung des Unternehmens im Jahr 1949 durchschnittlich alle 13 Minuten ein Mensch auf der Welt durch eine dieser Waffen stirbt.
Nach dem Skandal der illegalen Waffenlieferungen nach Mexiko (siehe S. 22), die zum Tod mehrerer unschuldiger junger Menschen führten, kündigte das Unternehmen 2016 neue Regeln an, die auch einen Handelsstop mit Ländern mit niedrigem Demokratieindex beinhalteten. „Nach den vom Unternehmen 2016 angekündigten Regeln dürfte Heckler&Koch nicht mehr versuchen, in Brasilien Geschäfte zu machen“, sagte Grässlin der Deutschen Welle im Mai 2018. Brasilien scheint jedoch nicht unter den Ländern zu sein, mit denen Heckler & Koch in den letzten Jahren seinen Waffenvertrieb vermieden hat. Laut demselben Artikel der Deutschen Welle belegt der Jahresbericht des deutschen Waffenherstellers, dass zwischen Januar und April 2017, 37 Waffenexporte nach Brasilien stattfanden. Das Geschäftsvolumen der Exporte beträgt mehr als zehn Millionen Euro. Ein vielleicht für die deutsche Regierung ausreichendes Argument, die Exporte nach Brasilien einzuschränken, wäre, dass das lateinamerikanische Land laut der kürzlich veröffentlichten Studie Atlas de Violência des Instituts für angewandte Wirtschaftsforschung (IPEA) eine 30 Mal höhere Mordrate hat als Europa. Deutschland ist einer der fünf größten Waffenexporteure der Welt und beschäftigt mindestens 50.000 Personen in dieser Industrie.

Neben allen Kontroversen um den Namen der Firma Heckler & Koch und darum, wie eine Schusswaffe eingesetzt werden soll, damit Töten „ethisch vertretbar“ wird, definiert das Rüstungsunternehmen für seinen Waffenhandel „compliance standards“. „Unlauteres oder unethisches Verhalten gefährdet den Erfolg unseres Unternehmens bis hin zum Existenzrisiko“, heißt es dazu auf der Unternehmenswebseite. Geht man davon aus, dass die Waffe HK MP5 der Marke Heckler & Koch, die Marielle getötet hat, aus ethischen Gründen nicht in einem Land wie Brasilien kursieren darf, dessen Mord- und Kriminalitätsraten seit Jahrzehnten die Nachrichten prägt, bleibt die Frage: Warum gelangte die Waffe dann dorthin? Aber es ist nur eine der vielen Fragen, für die Menschenrechtsaktivist*innen versuchen, Antworten zu finden. Für die, wie im Fall von Marielle Franco, nur Spuren des Verbrechens in ein Labyrinth unbeantworteter Fragen führen.

“ICH BIN BRASILIANER”

Marighella Eine Mischung aus historischem Drama und Actionkino // Foto: O2 Filmes

Wer während einer Diktatur geboren und aufgewachsen ist, ganz gleich auf welchem Fleck dieser Erde, trägt das ganze Leben eine besondere Last mit sich herum: Die Last der Unfähigkeit zu verstehen, was passiert ist. Oder vielmehr die der Unfähigkeit zu verstehen, was passiert ist und nach dem Warum zu fragen.
„Auge um Auge, wir werden nicht aufgeben”, das ist der Satz, der ständig wiederholt wird und der im kollektiven Unterbewusstsein verbleibt, nachdem man Marighella gesehen hat. Der Film von Wagner Moura erzählt vom Leben und Kampf des brasilianischen Revolutionärs Carlos Marighella von 1964 bis zu seinem Tod 1969. Im Jahr 1911 geboren, erlebt er die Zeit der großen Revolutionen in Lateinamerika und der Karibik und wird von diesen geprägt. Er wird anerkanntes Mitglied der Brasilianischen Kommunistischen Partei (PCdoB) und leitet später die bewaffnete Gruppe Nationale Befreiungsaktion (ALN).
Marighella ist eine Mischung aus historischem Drama und Actionkino, in dem wir sein strategisches Handeln mit der ALN und die Meilensteine seiner Biografie wie die Veröffentlichung seines Buches Kleines Handbuch der Stadtguerrilla verfolgen können. Zu den einschneidendsten Momenten im Leben des Revolutionärs gehören sicherlich auch die Entführung des US-Botschafters Charles Elbrick und jeder einzelne der Versuche Marighella selbst umzubringen, etwa im Hinterhalt vom November 1969 durch die faschistische Geheimpolizei DOPS unter Sergio Paranhos Fleury. Gelungene Verfolgungsszenen, gefilmt mit der Handkamera geben den Zuschauer*innen das Gefühl, selbst unter denen zu sein, die in den 60er Jahren von der Polizei verfolgt wurden. Die Spannung und das Adrenalin übertragen sich derart, dass man sich in einigen Momenten am liebsten die Augen zuhalten möchte, aber das unangenehme Schicksal und die geschichtliche Verantwortung verbieten es.
Selbstverständlich ist der Film nicht frei von Gewalt- und Folterszenen. Glücklicherweise wird die Grausamkeit derer, die der Film zeigt, in visueller Hinsicht nicht allzu exzessiv. Sowohl Masken- als auch Szenenbild leisten ganze Arbeit. Trotzdem nehmen diese Szenen einen am meisten mit, überwältigen, weil man weiß, dass es tatsächlich so geschehen ist. Genau dieses Verhältnis macht Marighella zu einem Spielfilm, der sinnbildlich für alle in lateinamerikanischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts begangenen Grausamkeiten stehen könnte.
Die Leistungen von Regie und Schauspieler*innen sind einwandfrei, eine einzelne Nahaufnahme des Gesichts von Seu Jorge – der Carlos Marighella darstellt – oder der anderen Darsteller*innen ist schon allein so viel wert wie die Gesamtheit aller Szenen. Der gezeigte tiefe Schmerz und die unnachgiebige Überzeugung der Revolutionär*innen lassen immer wieder die Frage aufkommen, warum dieser Film zwar im Wettbewerb, jedoch außer Konkurrenz lief. Bleibt so ein dreistündiger Film unbemerkt, weil er schlicht und ergreifend zu lang ist? Oder geht ein Werk, das die Unterdrückung der Menschen in Lateinamerika und auf der ganzen Welt auf so heftige Weise kritisiert, der ehrbaren Jury dieser 69. Berlinale gegen den Strich?
Wagner Moura hebt in Marighella auch den Kampf der Revolution gegen die Zensur hervor, ebenso wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Freiheit und Unabhängigkeit der Medien. In einem Interview sagte er der Zeitung Brasil de Fato: ,,Dieser Film ist Teil des Kampfes gegen die brasilianische Rechte und das Regime Bolsonaros.” Auf diese Aussage hin folgten Drohungen von faschistischen Gruppen gegen ihn und sein Team, das Filmset zu überfallen und alles zu verwüsten. ,,Ich bin auf Prügel vorbereitet”, erwiderte Moura als Antwort auf diese moderne Form der Zensur. Es scheint, als käme nichts aus der Mode. Leider.

 

“DIE VIELFALT WIRD NICHT MEHR ANERKANNT”

Foto: Martin Schäfer

Der neue Präsident Jair Bolsonaro sagte, alle brasilianischen Aktivist*innen müssten jetzt entweder ins Ausland oder ins Gefängnis. Auf der Berlinale stehen Sie und Ihr Team im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Fühlen Sie sich bedroht?
Ich persönlich fühle hier auf der Berlinale, eine Mission zu haben, das ist neu für mich. Wenn ich im Ausland von der schwierigen Situation in Brasilien erzähle, versuche ich, Fakten statt Meinungen zu kommunizieren. Und ich erschrecke selbst darüber, was ich sage, da ich zum ersten Mal seit Bolsonaros Amtsűbernahme die Geschehnisse mit etwas Distanz betrachte. Zu Beginn der Fragerunde nach der Weltpremiere meines Films erkundigte sich jemand: ,,Glauben Sie, dass der Film in Brasilien gezeigt werden wird?” Und meine erste Reaktion darauf war, zu denken, ,,natürlich, was für eine dumme Frage!”. Aber dann wurde mir klar, dass das Publikum hier weiß, dass wir es mit einer repressiven Regierung zu tun haben.
Um mich selbst habe ich keine Angst, im Gegenteil, die Situation gibt mir mehr Mut, da ich weiß, wie wichtig der Kampf ist. Ich bin privilegiert und könnte im Notfall das Land verlassen, denke aber nicht daran, denn jetzt möchte ich mehr als je zuvor Filme machen. Als Regisseurin bin ich aber besorgt um die jungen Leute im Film, denn die mediale Exposition kann sie schützen, aber gleichzeitig auch in Gefahr bringen.
In Momenten wie diesen ist es sehr wichtig, zu dokumentieren, wie es den Menschen geht. Nach meiner Empfindung haben wir in Brasilien eine kranke Gesellschaft mit vielen Formen der Gewalt: Der Hunger ist eine, die Armut auch, dazu kommt die tatsächliche Gewalt selbst. Das führt zu Leiden. Der Film zeigt Gewalt, und die Verfolgung von Aktivisten ist in Brasilien nichts Neues. Neu ist aber, dass sie jetzt nicht mehr illegal ist, sondern Regierungspolitik. Das macht es noch schrecklicher, als es vorher schon war.

Steht die brasilianische Linke unter Schock?
Der Wahlausgang hat zunächst Entsetzen und Niedergeschlagenheit verursacht. Es gab Fluchtgedanken bei Leuten, die sich das leisten können. Dann beruhigte sich die Stimmung etwas. Natürlich gibt es jetzt Leute, die Angst haben, es hängt davon ab, mit welcher Situation, mit welchen Leuten man konfrontiert ist. Erwartet wird, dass es unter Bolsonaro zu Gewalt kommen wird, soviel ist klar. Es gibt aber nicht eine Stimmung, sondern viele unterschiedliche Stimmungen.

Espero tua (re)volta beginnt mit der Wahl Bolsonaros und ist daher hochaktuell. Wie haben Sie den Film ursprünglich geplant, als diese Entwicklung nicht absehbar war?
Meine Motivation für den Film waren die 200 Schulbesetzungen in São Paulo im Jahr 2015, die wiederum durch einen Dokumentarfilm über die Schulbesetzungen in Chile im Jahr 2006 beeinflusst waren. Die Bilder aus den Jahren 2013 bis 2015 im Film sind nicht von mir, der konkrete Beginn meiner Arbeit am Film war erst im Jahr 2016, nachdem ich das besetzte Parlament von São Paulo besucht hatte. Ich traf mich dort aus einem anderen Grund mit der Produzentin Mariana Genescá und wollte nur kurz bleiben. Dann wollten wir aber beide wissen, was los war, und am Ende übernachteten wir dort. Wir hatten zuvor nie zusammengearbeitet, aber am Ende entwickelten wir die Gewissheit, dass wir darüber gemeinsam einen Film machen wollten, weil es sehr komplex und sehr interessant wirkte.
Wir planten das Ende der Dreharbeiten für Juli 2018 und die Premiere für Oktober. Im August wurden wir zu Festivals in Brasilien eingeladen, aber wir hatten eine Intuition, dass der Film irgendwie nicht fertig war, das Ende stimmte noch nicht. In dem Moment konnten wir uns gar nicht vorstellen, dass Bolsonaro die Wahl gewinnen würde. Als Bolsonaro den ersten Wahlgang gewann und seine im Film gezeigte Rede gegen den Aktivismus hielt, begann ich zu ahnen, dass er gewinnen würde und fing sofort an, das Ende des Films zu ändern. Ich dachte, mein Gott, dieser Film war von Anfang an dafür gemacht, zu erklären, wie es dazu kommen konnte!

Welche Wirkung erwarten Sie von Ihrem Film?
Zuvor hatte ich für den Film ,,Resistencia“, in dem es auch um Besetzungen ging, erstmalig mit Schülern gearbeitet. Es gab damals Probleme damit, den Film im Fernsehen zu zeigen, eine Art Zensur. Wir haben ihn dann über alternative soziale Kanäle verbreitet, allein in den ersten zwei Wochen wurden in 80 Städten Vorführungen organisiert. Als ich mit Interviews überall im Land die Arbeit an meinem neuen Film begann, erzählte ich zwei Mädchen in einem Kollektiv von ,,Resistencia“. Sie waren überrascht und erzählten, dass sie den Film in einer der Vorführungen gesehen und daraufhin beschlossen hatten, ihr Schülerkollektiv zu gründen. Das war in einer sehr kleinen Stadt im Nordosten Brasiliens. Wow, dachte ich, man weiß nie, was mit einem Film passiert, wenn er einmal in der Welt ist.
Um Espero tua (re)volta zu verbreiten, wollen wir wieder Organisationen und Personen kontaktieren, die Vorführungen organisieren, und den Film außerdem über die Online-Plattform ,,Taturana“ allen zum Download zur Verfügung stellen, die selbst eine Vorführung des Films mit anschließender Diskussion organisieren möchten, in Brasilien oder auch im Ausland. So wollen wir viele Menschen erreichen. Dafür wünschen wir uns jeweils ein Feedback über die Veranstaltungen, um zu wissen, was mit dem Film passiert. Natürlich ist es ein Traum, dass ,,Espero tua (re)volta“ dabei hilft, die Leute zu mobilisieren oder zusammenzubringen. Ich wünsche mir auch, dass er den Leuten hilft zu verstehen, was mit den sozialen Bewegungen passiert.

Ihr Film nutzt eine innovative Erzählform: die drei Hauptfiguren führen durch den Film, kommentieren ihn, springen zwischen den Episoden hin und her. Wie sind Sie darauf gekommen, den Film auf diese Weise zu machen?
Das war ein langer Arbeitsprozess. Ich hatte zu Beginn über 100 Stunden Archivmaterial angesehen und dann diejenigen Schüler kontaktiert, die am längsten bei der Besetzung dabei waren. Je mehr Material ich sah, desto mehr verstand ich, wie komplex das Thema war. Daher kam das Konzept, drei Schüler mit sehr verschiedenen Perspektiven den Film erzählen zu lassen. Die Jugendlichen sind unser primäres Zielpublikum und wir wollten den Dokumentarfilm eine von ihnen inspirierte Sprache sprechen lassen. Bei der Kommunikation mit ihnen hatte ich immer das Gefühl, dass sie eine ,,Multitasking-Generation“ sind: Sie haben Ideen und Assoziationen, schauen mal eben etwas auf Google nach oder in einem Video, sie springen von einem Thema zum nächsten. Der Film orientiert sich an dieser ,,Multitasking-Sprache“ in dem Sinne, dass der Erzählfluss nicht linear ist, sondern mit Einschüben, die Ideen folgen und dann wieder zur Geschichte zurückkehren. Das entspricht auch ein bisschen der Art, wie wir Lateinamerikaner nach meiner Wahrnehmung Geschichten erzählen.

Der Feminismus spielt in Ihrem Werk eine wichtige Rolle, so auch in Espero tua (re)volta.
Ich habe eine Neugier, zu verstehen, was mit der Welt und ihren Ungerechtigkeiten passiert, daher ist es logisch, dass mich Frauen interessieren. Ich denke, ich habe schon Filme über feministische Themen gemacht, bevor mir das richtig bewusst wurde. In der Schülerbewegung war der Feminismus im Hinblick auf Geschlecht und Ethnizität ein wichtiges Thema, so dass er aus meiner Sicht im Film eine Rolle spielen musste, um der Bewegung gerecht zu werden. Es lag also nahe, dass zwei der drei Hauptpersonen Frauen sind – eine schwarze und eine nicht hetero-normative Frau.

Werden es kritische Filme wie Ihrer unter Bolsonaro jetzt schwer haben, eine Finanzierung zu bekommen oder gezeigt zu werden?
Unter den Regierungen der PT hat es in Brasilien eine große Unterstützung für die Kunstschaffenden gegeben, besonders für das Kino. Das zeigt sich auch an der großen Zahl brasilianischer Filme hier auf der Berlinale und auf anderen Festivals. Fast alle brasilianischen Filme bekamen Fördergeld vom Staat, so auch unser Film. Dadurch hatte sich nicht nur die Qualität der Filme verbessert, auch die Produktionsorte hatten sich diversifiziert – historisch betrachtet kam das brasilianische Kino vor allem aus Rio und São Paulo, ein bisschen aus Recife und Porto Alegre. Durch die neue Vielfalt gab es zuletzt viele verschiedene Stimmen im Kino, und diese Vielfalt ist sehr schön für ein so großes Land wie Brasilien.
Schon seit der Absetzung von Dilma Rousseff gab es jedoch eine Bewegung, diese Vielfalt zu beseitigen, eine Art Diffamierung oder Kriminalisierung der Künstler. Es wird der Eindruck erweckt, dass wir Geld vom Staat erhalten, ohne etwas Sinnvolles damit zu tun. Ganz so, als ob nicht die Arbeit vieler Leute davon abhängen würde, vom Regisseur über den Chauffeur bis hin zum Koch, die davon leben und ihre Mieten bezahlen. Bolsonaro hatte im Wahlkampf die Abschaffung des Kulturministeriums angekündigt und es dann mit der Unterstützung einer Bevölkerungsmehrheit am ersten Tag seiner Regierung umgesetzt. Das ist gravierend und sagt einiges über den Moment aus, in dem wir uns befinden, denn die Vielfalt wird nicht mehr anerkannt. Das sieht man inzwischen auch an den Auswahlkriterien der Filmförderung. Bisher wurden Projekte nach der Qualität ihrer Ausarbeitung und ihrer Thematik bewertet, aber das ist vorbei. Jetzt ist das wirtschaftliche Potenzial eines Regisseurs ein Kriterium für die Förderung eines Films. Wie ist wohl das wirtschaftliche Potenzial eines Regisseurs, der Dokumentarfilme über soziale Bewegungen dreht? Es ist in Ordnung, dass Filme gedreht werden, die Gewinn einbringen, aber wenn es nichts anderes mehr geben soll, ist das für mich ein ernstes Problem. Die Künstler und Kinoleute machen sich also große Sorgen darüber, was nun passieren wird. Es gibt einen Angriff auf die Kultur in Brasilien, nicht nur auf das Kino, sondern auf alles, was für Vielfalt von Meinungen und Perspektiven steht, wie kritische Stimmen oder Gruppen, die im Kapitalismus nicht glücklich sind, z.B. Indigene. Die neue Regierung ist noch keine zwei Monate im Amt, und schon merkt man den Politikwechsel an vielen Fronten.

Für das Kino, für das Sie stehen, wird es also kaum noch Möglichkeiten geben?
Die politische Verfolgung ist bereits sehr stark. Es gibt neue rechte Gruppen, die Bolsonaro unterstützen, sie organisieren demoralisierende Kampagnen, mittels derer sie Verleumdungen über Linke verbreiten. Man sieht das etwa an den Drohungen gegen den Film Marighella, dessen Regisseur Wagner Moura sich mit einem kritischen, linken Denken immer politisch geäußert hat. Wir müssen abwarten, aber ich bin nicht optimistisch.

 

“ICH BIN BRASILIANER”

Foto: © 02 Filmes


Wer während einer Diktatur geboren und aufgewachsen ist, ganz gleich auf welchem Fleck dieser Erde, trägt das ganze Leben eine besondere Last mit sich herum: Die Last der Unfähigkeit zu verstehen, was passiert ist. Oder vielmehr die der Unfähigkeit zu verstehen, was passiert ist und nach dem Warum zu fragen.

“Auge um Auge, wir werden nicht aufgeben”, das ist der Satz, der ständig wiederholt wird und der im kollektiven Unbewussten verbleibt, nachdem man Marighella gesehen hat. Der Film von Wagner Moura erzählt vom Leben und Kampf des brasilianischen Revolutionärs Carlos Marighella von 1964 bis zu seinem Tod 1969. 1911 geboren, erlebt er die Zeit der großen Revolutionen in Lateinamerika und der Karibik und wird von diesen geprägt. Er wird anerkanntes Mitglied der kommunistischen Partei Brasiliens und gründet und leitet später die bewaffnete Gruppe ALN.

Foto: © 02 Filmes

Marighella ist eine Mischung zwischen historischem Drama und Actionkino, in dem wir seinem strategischen Handeln mit der ALN und die großen Wendepunkte seiner Biografie wie die Veröffentlichung seines Buches Handbuch der Stadtguerrilla verfolgen können. Zu den einschneidensten Momenten im Leben des Revolutionärs gehören sicherlich auch die Entführung des US-Senators Charles Ekbrick und jeder einzelne der Versuche, Marighella selbst umzubringen, etwa im Hinterhalt vom November 1969 durch den faschistischen Polizisten Sergio Paranhos Fleury.

Gelungene Verfolgungsszenen, gefilmt mit der Handkamera, geben den Zuschauer*innen das Gefühl, selbst unter denen zu sein, die in den 60er Jahren von der Polizei verfolgt wurden. Die Spannung und das Adrenalin übertragen sich derart, dass man sich in einigen Momenten am liebsten die Augen zuhalten möchte, aber das unangenehme Schicksal und die geschichtliche Verantwortung verbieten es.

Selbstverständlich ist der Film nicht frei von Gewalt- und Folterszenen. Glücklicherweise wird die Grausamkeit derer, die der Film zeigt, in visueller Hinsicht nicht allzu exzessiv. Sowohl Masken- als auch Szenenbild leisten ganze Arbeit. Trotzdem nehmen diese Szenen einen am meisten mit, überwältigen, weil man weiß, dass es tatsächlich so geschehen ist. Genau dieses Verhältnis macht Marighella zu einem Spielfilm, mit dem man die Grausamkeit jeder der lateinamerikanischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts zeigen könnte.

Foto: © 02 Filmes

Die Leistung der Schauspieler*innen ist makellos, eine einzelne Nahaufnahme des Gesichts von Seu Jorge – der Carlos Marighella darstellt – oder der anderen Darsteller*innen ist schon allein so viel wert wie die Gesamtheit aller Szenen. Die Mischung aus tiefer Trauer und der intensive Eindruck über die Unnachgiebigkeit der Revolutionär*innen, der einen überkommt, lassen immer wieder die Frage danach stellen, warum dieser Film zwar im Wettbewerb läuft, jedoch außer Konkurrenz. Bleibt ein 3-Stunden-Film unbemerkt, weil er schlicht und einfach zu lang ist? Oder geht ein Werk, das die Unterdrückung der Menschen in Lateinamerika auf so heftige Weise kritisiert, der ehrbaren Jury dieser 69. Berlinale gegen den Strich?

Wagner Moura hebt in Marighella auch den Kampf der Revolution gegen die Zensur hervor, ebenso wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Freiheit und Unabhängigkeit der Medien. In einem Interview mit “Brasil de Fato” sagte er: “Dieser Film ist Teil des Kampfes gegen die brasilianische Rechte und das Regime Bolsonaros.” Auf diese Aussage hin folgten Drohungen von faschistischen Gruppen gegen ihn und das Filmteam, in das Set einzudringen. “Ich bin bereit für den Putsch”, erwiderte Moura als Antwort auf die aktuelle Zensur. Es scheint, als käme nichts aus der Mode. Leider.

HOW TO BE GRETA


Foto: © Aline Belfort


Pedro ist alt, lebt allein und arbeitet als Pfleger im Krankenhaus von Fortaleza im Nordosten von Brasilien. Morgens schleppt er sich mühselig aus dem Bett, schluckt ein paar Pillen und geht zur Arbeit. Abends sitzt er allein in seiner Wohnung und hört bei einem Glas Schnaps Musik von italienischen Sängerinnen. Seine Besessenheit von Greta Garbo lebt er in gelegentlichen Besuchen in der Schwulensauna und bei der poetischen Aussprache des Garbo-Satzes “I want to be alone“ aus dem Film Grand Hotel aus. So trostlos und einsam sein privater Alltag auch ist, bei der Arbeit widmet sich Pedro ganz seinen Patient*innen und geht liebevoll mit seinen Mitmenschen um. Zu ihnen gehört auch seine enge Freundin, die Trans*frau Daniela, die als Entertainerin arbeitet und an Nierenversagen leidet. Das Krankenhaus, in das sie eingeliefert wird und in dem das erste Drittel des Films fast ausschließlich spielt, ist weder weiß noch klinisch und sicher. Stattdessen ist es überfüllt, dunkel und bildet eine fast bedrohliche Szenerie. Als für Daniela dort kein Platz mehr ist, überschlagen sich in Pedros Leben die Ereignisse: Er verhilft Jean, einem Patienten, der nach einer Auseinandersetzung ins Krankenhaus eingeliefert wurde und seitdem von Polizisten überwacht wird, zur Flucht und lässt ihn bei sich unterkommen. Die beiden teilen Pedros Wohnung, den Alkohol und das Bett. Jean lässt Pedros Identifikation mit Greta Garbo freien Lauf und so entwickelt sich eine vielschichtige Beziehung, die schon bald auf die Probe gestellt wird. Gleichzeitig verschlechtert sich Danielas Zustand und lässt die wichtigen Themen in Greta ans Licht kommen: Freundschaft und Liebe, Leben, Krankheit, Alter und Tod.

© Aline Belfort

Armando Praças Debütfilm und Beitrag zum diesjährigen Berlinale Panorama lebt vor allem durch die besonderen Charaktere. So spielt Marco Nanini den Krankenpfleger Pedro mit seiner fürsorglichen, aber gleichzeitig traurigen Art grandios. Auch Denise Weinberg beeindruckt schauspielerisch und gesangstechnisch als die erkrankte Diva Daniela, die sich mit dem Tod konfrontiert sieht. Die zunächst zu flache Figur von Jean, gespielt von Demick Lopes, dessen Schnurrbart, Kleidung und Macho-Art einem 90er-Jahre-US-Film entsprungen sein könnte, nimmt im Laufe des Films eine erfreuliche Wendung und beweist ihre Vielschichtigkeit.

© Aline Belfort

Auch wenn die Handlung so manch seltsame oder abwegige Wendung nimmt, schafft es Greta doch, die Zuschauer*innen zu beeindrucken und nachdenklich zu machen. So beleuchtet der Film drei bemerkenswerte Persönlichkeiten und Lebensrealitäten. Besonders an Pedros Figur wird die Tiefe menschlicher Bedürfnisse nach Nähe und Vertrauen deutlich. Aus Einsamkeit, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft zu seinen Mitmenschen riskiert der 70-Jährige viel, wenn nicht alles. Wer genau hinschaut, kann in der Geschichte um Jean, Pedro und Daniela auch kleine Hinweise auf die alltäglichen Erfahrungen und Probleme älterer LGBTI* im heutigen Brasilien erkennen.

AUF AUGENHÖHE

Foto: © Camila Freitas

So 10.02. 16:30 CineStar 8
Mo 11.02. 14:00 HAU Hebbel am Ufer (HAU1), Berlinale Talents
Di 12.02. 19:30 Cubix 9
Fr 15.02. 14:00 Delphi Filmpalast
So 17.02. 16:30 Delphi Filmpalast

Sektion: Forum


P.C. und seine Großmutter sitzen im Ausguck, halten Wache und schmieden Pläne. Die Großmutter – eine alte, aber erstaunlich kräftige Frau mit sonnengegerbter Haut – zählt auf, was sie einmal anbauen möchte, wenn sie ihr eigenes Land besitzt: Reis, Maniok, Orangen und Palmherzen. Ihr Enkel P.C., ein Mann Ende 30, notiert alles und erstellt den passenden Grundriss, ergänzt Ställe und Felder für die Tierzucht. Die zuversichtlichen Blicke der beiden schweifen aus dem Fenster, das nicht einmal eine Scheibe besitzt, hinüber zum Camp. Die Zelte, die nur aus Brettern, Baumstämmen und Planen bestehen und auf einer Wiese verteilt sind, schützen die Menschen kaum vor Wind und Wetter und sind noch weit entfernt von ihrem Traum vom eigenen Land. Aber P.C., seine Großmutter und die hunderten Familien, die wie hier im brasilianischen Bundesstaat Goiás Land besetzen, sind bereit, genau dafür zu kämpfen.

© Camila Freitas

Ganze vier Jahre lang hat die Filmemacherin und Kamerafrau Camila Freitas die Besetzungen der Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) begleitet. Dem daraus entstandenen Dokumentarfilm Chão ist ebendiese Ruhe und vor allem die Vertrautheit zwischen Filmemacher*innen und Gefilmten anzumerken. So ist ein nahes und respektvolles Porträt einer Bewegung entstanden, die Menschen in dem Grundgedanken vereint, sich ihr Stück Land von Großgrundbesitzer*innen und Konzernen zurückzuholen. Viele von ihnen sind in die Städte verdrängt worden, einige leben dort schon in zweiter oder dritter Generation unter ärmlichen Verhältnissen. Der Zustand der Landlosigkeit wird im Film auch als „Versklavung“ bezeichnet, aus der sich die Menschen nun versuchen zu lösen. Eine von ihnen, eine erschöpft wirkende junge Mutter, sagt mit starker und zuversichtlicher Stimme: „Ich komme vom Land, ich bin eine Kämpferin.“ Gemeinsam organisieren die Gruppen im MST Landbesetzungen, Blockade- und Protestaktionen, die Licht auf die ungerechten und ungesunden Verhältnisse in der brasilianischen Landwirtschaft werfen (siehe dazu auch die Berichterstattung der LN – Nummer 516 und 529/ 530). Gleichzeitig begleitet der Dokumentarfilm den Aufbau eigener landwirtschaftlicher und politischer Strukturen in den besetzten Gebieten. In Versammlungen entwerfen die Menschen gemeinsame Zukunftsmodelle für ein gerechtes und nachhaltiges Leben und Arbeiten.

© Camila Freitas

Auch wenn die Mitglieder des MST zuversichtlich wirken und die Menge an Menschen, die an den Aktionen teilnehmen, Hoffnung macht, verschweigt Chão nicht die Felsen, die den Landlosen in den Weg zum eigenen Land gelegt werden. „Die Gesellschaft ignoriert uns“, erzählt eine junge Frau. Die Beobachtungen, die Camila Freitas jahrelang gemacht hat und an denen sie nun auf der Berlinale ein großes Publikum teilhaben lässt, zeigen auch, wie die Landlosenbewegung von offizieller Seite kriminalisiert, bedroht und von den Medien verleumdet und als gewalttätig diskreditiert wird. „Das hier ist kein Wochenendausflug“, stellt ein Mann vom MST gleich zu Beginn einer neuen Landbesetzung klar. Die kräftezehrenden, aber friedlichen Aktionen der Bewegung, an der auch Familien mit Kindern teilnehmen, scheinen nicht in das bedrohliche Bild zu passen, das der Agrobusiness und Personen von offizieller Seite vom MST zeichnen wollen. Zu ihnen gehört auch der Blairo Maggi, Landwirtschaftsminister unter Michel Temer und selbst Großgrundbesitzer und Sojaproduzent. Die einzigen bedrohlich wirkenden Szenen von Chão aber zeigen die riesigen Genmais- und Sojafelder, die die Agrokonzerne mit monsterähnlichen Traktoren und Pestiziden bewirtschaften. Das vom MST besetze Land dagegen ist mit den unterschiedlichsten Pflanzen und Tieren vor allem eins: natürlich. Hier hegt und pflegt die Großmutter ihr Gemüsebeet, da wird Biodünger hergestellt, dort sitzt eine Familie am Abendbrottisch.
Statt das Thema der Landkonflikte in Brasilien schnell und reißerisch abzuhandeln und auf große Effekte oder gewaltvolle Szenen zu setzen, hat das Team um Camila Freitas keine Zeit und Mühe gespart, um sich den Menschen in der Landlosenbewegung ehrlich zu nähern. Chão schafft es, deren Leben und Miteinander unvoreingenommen zu begleiten und ihr wichtiges Anliegen zu vermitteln. Und genau das ist angesichts der ernüchternden Bilanz der ersten Wochen brasilianischer Agrarpolitik unter Bolsonaro höchst relevant. Nicht nur deswegen ist Chão unbedingt zu empfehlen.

Camila Freitas (mit Mikro), das Filmteam und Elizabet Cerqueira vom MST (rote Mütze) bei der Weltpremiere von Chão in Berlin (Foto: Christian Russau)

Wer sich für die aktuelle Situation des MST unter Bolsonaro interessiert, ist am Mittwoch (13.2.2019, 18:30 Uhr) herzlich ins FDCL eingeladen. Dort wird MST-Mitglied Elizabet Cerqueira, die anlässlich der Berlinale vor Ort ist, berichten und mit den Gästen diskutieren. Mehr Informationen unter: https://www.fdcl.org/event/brasilien-bolsonaro-und-die-landlosenbewegung-mst/

 

EINE ANDERE ART VON LEBEN?

© Eduardo Crespo


Ich wäre nicht auf die Erde gekommen, wenn ich gewusst hätte, wie kompliziert hier alles ist.“ Daniela ist sich sicher, dass das violette Alien im blauen Koffer nicht freiwillig hier ist. Die Sehnsucht nach der Heimat spielt aber nicht nur für das Alien eine Rolle, sondern für alle Protagonist*innen von Breve historia del planeta verde. Doch was ist eigentlich Heimat? Und für wen kann die Erde ein zu Hause sein?

© Eduardo Crespo
Nachdem 2018 Malambo – el hombre bueno auf der Berlinale zu sehen war, ist der argentinische Regisseur Santiago Loza auch dieses Jahr wieder dabei. Mit seinem „Road Movie zu Fuß“, hat er ein kraftvolles Porträt einer bedingungslosen Freundschaft geschaffen, das am Ende jedoch einige Fragen offen lässt und eine eher zweifelhafte Message aussendet.

Als Tanias Großmutter stirbt, macht sie sich gemeinsam mit ihren Kindheitsfreund*innen Daniela und Pedro auf den Weg, den letzten Wunsch der Verstorbenen zu erfüllen: das Alien, das die Großmutter in ihren letzten Jahren begleitet hat, zurück in seine Heimat zu bringen. Schwarz-weiß Fotos, die die Oma mit dem Alien in Alltagssituationen zeigen, als wäre es ein geliebtes Enkelkind, rühren die drei zutiefst. Sie folgen einer Karte der Großmutter, auf der Suche nach dem Ort, an dem das Alien die Erde zum ersten Mal betreten hat. Alle drei befinden sich in schwierigen Lebenssituationen und nutzen die Reise und die wohltuende Gesellschaft des Aliens, um zu neuer Kraft zu finden. Daniela hat gerade eine Trennung hinter sich, Pedro scheint depressiv, tanzen ist für ihn die einzige Möglichkeit, seiner Traurigkeit zu entfliehen. Die Trans*frau Tania wirkt zwar selbstbewusst, ist in Wirklichkeit aber zutiefst verletzlich.
© Eduardo Crespo
Konfrontiert mit den Schatten der eigenen Kindheit in der Kleinstadt, in der ihre Reise startet, wird trotz weniger und kurzer Dialoge deutlich, dass alle drei Traumata erfahren haben. Sie transportieren das immer schwächere Alien durch unwegsames Gelände, während Tania selbst mit Schmerzen zu kämpfen hat. Doch die beiden scheinen sich gegenseitig zu heilen. Überhaupt strahlen all diejenigen, die mit dem Alien in Kontakt kommen, im Anschluss eine tiefe Glückseligkeit aus. Fast scheint es, als sei das Anders-sein selbst eine Heilung von den Traumata des Anders-seins. Vielleicht ist das Alien aber auch einfach „zu gut“ für den grünen Planeten.
Die große Stärke des Films ist die intensive und spannungsvolle Musik, von Techno über melancholische, psychedelische Cumbia zu immer wiederkehrenden Piano Variationen, in Kombination mit den düsteren Bildern der Reise durch das ländliche Argentinien. Es ist kein Film zum Wohlfühlen, aber das macht nichts. Allerdings verstrickt die Geschichte sich jedoch gerade zum Ende hin in zumindest problematischen Analogien. Die Gleichsetzung von Trans*Personen mit Aliens ist möglicherweise eine Überinterpretation, gibt jedoch Grund zum Nachdenken. Während der Film darauf pocht, dass eine andere Art von Leben möglich ist, widerspricht er sich im Verlauf der Erzählung leider selbst. Das mag Absicht sein, hinterlässt aber einen bitteren Beigeschmack.
Nichtsdestotrotz hat Loza ein ästhetisch durchaus gelungenes Tribut an den „Alien in uns“ geschaffen, das von der intimen Verbindung der drei Protagonist*innen lebt, die bereit sind, alles füreinander zu tun – sogar loszulassen.

NEOLIBERALES SCHNARREN

Foto: © Carnaval Filmes


Viel Hoffnung scheint es nicht zu geben. Das, was bleibt, ist das gleichförmige Rattern, Schnarren und Klicken der unzähligen Nähmaschinen, die sich zu einem einzigen großen vielmaschigen Soundteppich verweben. Dazu gesellt sich die Monotonie derselben, sich immer wiederholenden Bewegungsabläufe: Umkrempeln des rechten Beins, lange Naht rechte Seite, halbe Drehung, lange Naht linke Seite und wieder von vorn. Das Leben der Dorfbewohner*innen scheint von Gleichförmigkeit und Monotonie bestimmt. Das Hamsterrad der ewigen Profitmaximierung dreht sich unaufhaltsam weiter. Der moderne Kapitalismus interessiert sich nicht für die Einzelschicksale der Menschen, welche die Maschinen bedienen. Marcelo Gomez aber versucht einen Blick auf eben diese Persönlichkeiten zu werfen und die Auswirkungen eines menschenunwürdigen Systems am lebenden Objekt nachzuvollziehen.

© Carnaval Filmes

Die Kleinstadt Toritama in Agreste (Pernambuco), einer trockenen, vom Kapitalismus ausgebrannten Region im Nordwesten Brasiliens, dient als Schauplatz seines Dokumentarstreifens Estou Me Gourdando Para Quando O Carnaval Chegar. Ein Großteil dieser 40.000-Seelengemeinde hat sich über die Jahre hinweg eine oder mehrere Nähmaschinen zugelegt. Mehr braucht es nicht, um in die Jeansproduktion – die einzige vielversprechende Ernährungsgrundlage – einzusteigen. Hiermit lenkt der Regisseur die Aufmerksamkeit auch auf neue Auswüchse des modernen Kapitalismus und auf neue, schwer fassbare Beschäftigungsverhältnisse: Als Kleinunternehmer*in kann jede*r Bewohner*in durch den bloßen Besitz einer Nähmaschine für namentlich nicht genannte Konzerne von seinem eigenen Heim aus Hosenteile zusammenflicken. Jegliche gewerkschaftliche Organisation wird so von vornherein unterbunden, geregelte Löhne und Arbeitszeiten sind fehl am Platz. Es gilt die Devise: Je mehr du schuftest, desto praller gefüllt ist auch dein Geldbeutel. So kehrt der moderne Kapitalismus zu seinen Grundprinzipien und ursprünglich größten Verheißungen zurück und macht das abgedroschene neoliberale Motto „Du bist deines eigenen Glückes Schmied“ wieder salonfähig.

© Carnaval Filmes

Mittels einer meist statischen Kameraführung erzählt Marcelo Gomez von den Einzelschicksalen dieser Maschinerie und schaut in die Hinterhöfe und Garagen der Bewohner*innen von Toritama. Die Zuschauer*innen nehmen dabei durch auffallend unauffällige Weise Anteil an den Auswirkungen der Überproduktion auf die Menschen und ihre Beziehungen und erhaschen intime Einblicke in deren Familienverhältnisse. Auffällig ist, dass die meisten der Dorfbewohner*innen ihre Situation weitaus positiver bewerten, als es die meisten Zuschauer*innen wohl tun würden. Zwar hinterfragen viele das inhumane System, aber die Mehrzahl bewertet ihre Situation als relativ zufriedenstellend. Sie hätten ja Arbeit und das sei verglichen mit anderen auf dieser Erde ja das wichtigste, das und wiedabei nur zweitrangig, so sagen sie. Trotzdem sprechen sie von ihren Sehnsüchten, von ihren Träumen und – zwischen den Zeilen – auch von einem besseren Leben. Es wird offenkundig, dass die Widersprüche des Kapitalismus am drastischsten, da in fast allen Lebensbereichen allgegenwärtig, am Produktionsort hervortreten. Am stärksten zeigt sich dies am magischen Realismus des durch Landwirtschaft und Aberglauben geprägten Dorfalltags, welcher sich noch heute im krassen Gegensatz zur industrialisierten Moderne präsentiert. Zur Karnevalszeit scheint ein Mal im Jahr jenes bessere Leben für viele greifbar nahe. Sie verkaufen ihre Fernseher, ihre Kühlschränke und ihr letztes Hab und Gut, um sich die Reise ans Meer und einen Moment der Ausgelassenheit und des Glücks finanzieren zu können. Für ein paar Tage verwandelt sich Toritama in eine Geisterstadt und die Maschinen stehen still, nur um kurz darauf erneut in ein gleichförmiges, unaufhörliches Surren zu verfallen.


Estou Me Guardando Para Quando O Carnaval Chegar läuft auf der diesjährigen Berlinale in der Kategorie Panorama Dokumente

„SIE KÖNNEN ALLES VON UNS ERWARTEN, NUR KEINE STILLE”

Foto: © Bruno Miranda


Warum müssen wir für unsere Bildung kämpfen, wenn Bildung doch unser Recht ist?” Das fragen sich Nayara, Marcela und Koka, die diese jüngste Geschichte Brasiliens aus Sicht der Schüler*innenbewegung erzählen, von den ersten Protesten gegen die Erhöhung der Preise für den öffentlichen Nahverkehr 2013 bis zur Wahl des rechtsextremen Jair Bolsonaros Ende 2018. Espero tua (re)volta, der fünfte Dokumentarfilm der Journalistin und Regisseurin Eliza Capai, berichtet von vielen Brüchen und Niederlagen, aber auch von Mut, Power und Erfolgserlebnissen. Der Film könnte aktueller nicht sein und weiß dies auch. Eine seiner großen Stärken ist die Fülle an Material zu den verschiedenen Formen jugendlicher Rebellion gegen all das, was schon immer ein Problem in Brasilien war und nun mit dem neuen Präsidenten immer akuter wird: Sexismus, Homo- und Trans*phobie, Rassismus und die Unterteilung der Gesellschaft in Menschen erster und zweiter Klasse.

© Eliza Capai

Espero tua (re)volta, das die „Revolte“ schon im Titel trägt, ist eigentlich ein klassischer Dokumentarfilm – Bilder von Demonstrationen, Versammlungen, besetzten Schulen und, natürlich, exzessiver Polizeigewalt –, die Erzählform ist jedoch besonders. Nayara, Koka und Marcela waren von Anfang an bei den Protesten und den Schulstreiks im Bundesstaat São Paulo dabei, kommentieren die Szenen, in denen ihre jüngeren Ichs teils selbst vorkommen, und leiten die Kamera an. „Geh’ noch mal kurz zurück zu der Szene davor, ich war noch nicht fertig“ oder „wir müssen jetzt doch nochmal einen kurzen Exkurs ins Jahr 2012 machen“, heißt es, und die Kamera gehorcht. Mit viel Humor achten Nayara und Marcela darauf, dass Koka als männlicher Erzähler nicht zu viel Redezeit bekommt. „Jetzt sind wir Frauen wieder dran, deine Zeit ist abgelaufen“, heißt es gleich zu Beginn, und Koka gehorcht, verliert dabei aber nie seinen Mitteilungsdrang.

© Carol Quintanilha

Passend zur Energie der drei Erzähler*innen geht der Film musikalisch genauso kraftvoll vor, Baile Funk und Hiphop unterstreichen die rebellischen Szenen, in denen ein Meer junger Menschen durch die Straßen São Paulos zieht und Gerechtigkeit fordert, oder in denen die besetzten öffentlichen Schulen – insgesamt 200, deren Schüler*innen sich gegen die Schließung wehren – zu Orten der Selbstverwaltung werden, wo sich Arbeitsgruppen zu Themen wie Sexismus und Rassismus bilden und die Jungs putzen und kochen müssen. Nicht selten erfolgt plötzlich ein musikalischer Bruch, zu dem die drei ankündigen, dass Szenen voller Polizeigewalt gegen Minderjährige folgen werden. Dazu erfahren wir: „Die Diktatur ist vorbei, aber die Repression blüht.” In diesen Szenen wird deutlich, wie viel die Schüler*innen der Bewegung bereits an Gewalt haben ertragen müssen und wie sehr sie der eigene Kampf mitnimmt. Immer wieder folgt die Warnung: „Dies ist erst der Anfang, es wird wieder passieren“.

Umso wichtiger, dass Espero tua (re)volta trotz allem Hoffnung schenkt. Hoffnung in eine Generation junger Brasilianer*innen, die früh gelernt haben, was es heißt, für die eigenen Rechte zu kämpfen und nicht daran denken, diesen Kampf aufzugeben.

 

BRASILIANISCHE COWBOYS

© Sabrina Maniscalco


Cowboy Marcelo wird zum rappenden Moderator beim Rodeo, ist aber im Alltag eher introvertiert. Er liebt das Leben auf dem Land und auch seine Rinder, denen er Namen gibt und sie nur ungern verkauft. Der Film spielt im Bundestaat Minas Gerais am Fluss Urucuia, die dort lebenden Sertanejos (Landbevölkerung) leben mit der Natur und werden vom modernen Brasilien ignoriert. Einmal, im Gespräch mit seinem Kollegen Kaic, bricht es aus Marcelo heraus, „die Leute aus der Stadt haben keine Ahnung, aber meinen die Welt zu regieren.“ Der dreißigjährige Marcelo ist ein empathischer und bedachter Mensch, dem seine innere Erschütterung äußerlich kaum anzumerken ist als er bedroht wird und ihm um die hundert Rinder gestohlen werden. Und obwohl er anschließend seinen Beruf aufgibt, nimmt er doch das Ereignis zum Anlass aktiv etwas Neues zu probieren. Der Raub im Film fand auch in Marcelos realem Leben statt und ist als einer der größten in der Region bekannt. Überhaupt orientiert sich die Handlung an dem Leben seiner Darsteller*innen.

© Sabrina Maniscalco

Das eigentümliche an dem Ruhe ausstrahlenden, besinnlichen Film, der vom ländlichen Brasilien quasi dokumentarisch erzählt, ist seine Authentizität. Die Schauspieler*innen sind Laien und spielen Figuren mit ihren echten Namen. Der Regisseurs Helvécio Marins hat sich Zeit gelassen, sich darauf konzentriert die Menschen kennen zu lernen bevor er sie vor die Kamera holte. Damit erweckt das Geschehen auf der Kinoleinwand das Gefühl zu Besuch zu sein. Es ist eine Einladung zu beobachten wie Cowboys auf Pferden eine Herde auf dem Weideland zusammenhalten, wie Heiligenfiguren vor einem Rodeo um Schutz gebeten werden. Aus der nordamerikanischen Kultur stammend haben sich die brasilianischen Rinderzüchter*innen eine neue, hybride Form des Rodeos geschaffen, dem sich die Protagonisten des Films mit großer Leidenschaft widmen. Die rhythmischen Ansagen Marcelos sind manchmal Reime zur Huldigung der Cowboy-Kultur, dienen auch mal zur Unterstreichung männlicher Identität und handeln vor allem von der Solidarität zwischen den Sertanejos, was teilweise als deutliche Kritik an den herrschenden politischen Verhältnisse in Brasilien formuliert wird.

© Sabrina Maniscalco

Weil Erklärungen oft fehlen, wirken einige Szenen fast mystisch, einem dem/ der Besucher*in unbekannter Gefilde bekannten Gefühl. Querência ist eine Reise in eine auch für viele Brasilianer*innen neue Gegend, welche einem die Menschen und das Land näher bringt.

KRIEGSERKLÄRUNG AN UMWELTORGANISATIONEN

Bolsonaro am Ziel Auch Faschist*innen werden manchmal zu Präsident*innen gewählt (Senado Federal, Marcos Brandão/Agência Senado/ Flickr, CC BY 2.0)

Brasiliens neuer Umweltminister, Klimawandel-Leugner und Lobbyist der Agrarindustrie, Ricardo Salles, begann bereits in den ersten vierzehn Tagen nach der Amtsübernahme Bolsonaros, das von diesem geforderte Ende des Aktivismus im Umweltschutz einzuleiten. Am 15. Januar setzte er alle Partnerschaften und Vereinbarungen mit Umweltschutzorganisationen für 90 Tage aus, um die Zusammenarbeit „neu zu evaluieren“. Dies erlaube es zu beurteilen, ob die Verträge fortgesetzt werden könnten sowie mögliche Veränderungen und Anpassungen durchzuführen. Zunächst betrifft dies 47 Kooperationen, eine Anzahl, die sich laut Salles „noch ändern werde“. Dazu gehört auch der Fundo Amazônia, der von der brasilianischen Entwicklungsbank BNDES verwaltet wird und vor allem Mittel von der deutschen und der norwegischen Regierung erhält.

“Wenn ich Präsident werde, wird es kein Geld für NGOs geben. Diese nutzlosen Leute werden arbeiten gehen müssen.“

Am 17. Januar bestätigte Salles bei der Amtseinführung des neuen Direktors des Instituto Chico Mendes de Conservação da Biodiversidade (ICMBio) die Aussetzung der Verträge und Zahlungen. Er kündigte außerdem „Überraschungsbesuche“ bei den Nichtregierungsorganisationen an, mit denen staatliche Institutionen kooperieren. „Ich werde die Orte besuchen, an denen die Projekte durchgeführt werden. Ich möchte gerne mehr über die Erfahrungen mit der Verwendung öffentlicher Mittel herausfinden.“ Während seiner Wahlkampagne hatte Bolsonaro versprochen: „Ihr könnt sicher sein, wenn ich Präsident werde, wird es kein Geld für NGOs geben. Diese nutzlosen Leute werden arbeiten gehen müssen.“
Acht Netzwerke von Umweltorganisationen kritisierten die Aussetzung der Verträge als „nicht gerechtfertigt“ und nicht verfassungskonform: Kooperationen zwischen der Regierung und NGOs können nur durch ein formales Prozedere ausgesetzt werden, nachdem Unregelmäßigkeiten in der Arbeit der Organisationen dokumentiert wurden. Selbst die Zeitung O Globo kommentierte, die Ankündigung „höre sich an wie eine Kriegserklärung an Umweltschutzorganisationen“.

Auch Carlos Rittl, Direktor des Klima-Observatoriums, kritisierte die Aussetzung als unbegründet. Weil Kooperationen zwischen Regierung und NGOs auf der Grundlage langer, klar geregelter Verfahren geschlossen würden und letztere ständig über die Fortschritte der Projekte berichteten, sei der Minister bereits im Besitz aller Informationen, die zur Evaluierung der bestehenden Verträge notwendig seien. „Der Minister hat deutlich mehr Interesse gezeigt, die Organisationen zu attackieren, die die Umwelt schützen, als Umweltverbrechen zu bekämpfen“, sagte er. Die Schäden der dreimonatigen Aussetzung könnten irreversibel sein. „Der Umweltschutz wird attackiert. Alle Anzeichen zeigen, dass Entwaldung und Gewalt gegen Indigene ansteigen werden.“

Auch internationale Nichtregierungsorganisationen geraten unter politischen Druck. Per Dekret verfügte Bolsonaro, dass der Minister des Präsidialamts, der Militär Carlos Alberto dos Santos Cruz, die Aufgabe übernimmt, die Aktivitäten internationaler Organisationen zu beobachten und zu koordinieren. Die Direktorin von Amnesty International in Brasilien, Jurema Werneck, äußerte sich besorgt über diese Maßnahme: Nichtregierungen seien entscheidend, um die Arbeit der demokratischen Institutionen zu kontrollieren.

 

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