VIELFALT AUF DEN ZWEITEN BLICK

Monos: Eine Gruppe von acht jungen Rebellen bewacht eine Geisel in den kolumbianischen Bergen (Foto: Alejandro Landes)

Auf der letztjährigen Berlinale waren lateinamerikanische Filme in so hoher Zahl und in nahezu allen Sektionen so erfreulich präsent, dass vielleicht die eine oder andere Erwartung an ihre 69. Ausgabe zu hoch ausfallen musste. Womit aber wohl doch niemand gerechnet hatte: Keine einzige zwischen Tijuana und Ushuaia erzählte Geschichte schaffte es dieses Mal in den Wettbewerb. Nur ein Film des Brasilianers Wagner Moura läuft dort – dieser allerdings außer Konkurrenz. Auch Afrika geht leer aus. Insgesamt sind 16 der 23 ausgewählten Filme Produktionen oder Koproduktionen aus Europa (davon allein 11 aus Deutschland oder Frankreich), drei weitere Filme kommen aus Kanada und den USA. So hat das mediale Aushängeschild der Berlinale dieses Mal leider einen eurozentristischen Beigeschmack, der aus Perspek- tive des globalen Südens enttäuschend ist (übrigens im gleichen Jahr, in dem im Herzen Berlins das wegen mangelnder Sensibilität für die koloniale Geschichte seiner ethnologischen Sammlungen kritisierte Humboldtforum eröffnet werden soll). Spielten hier nach den zahlreichen Auszeichnungen für die cineastischen Beiträge des Subkontinents im letzten Jahr politische Gründe eine Rolle? Wie auch immer, für den Abschied Dieter Kosslicks – der langjährige Direktor verantwortet das Festival nun zum letzten Mal – hätten sich lateinamerikaaffine Kinofans sicher etwas anderes gewünscht.

Breve historia del planeta verde: Eine Trans*frau macht eine außerirdische Begegnung (Foto: Santiago Loza)

Die gute Nachricht: Trotz des Ungleichgewichts im Wettbewerb gibt es mit bis Redaktionsschluss 21 neuen Lang- und elf Kurzfilmen insgesamt viele lateinamerikanische Filme zu sehen. Sie konzentrieren sich mit wenigen Ausnahmen auf die Sektionen Panorama, Forum und Generation. Dabei ist Brasilien das mit Abstand am meisten gezeigte Land. Während aus Südamerika sonst nur Argentinien, Kolumbien, Peru und Chile als Schauplätze präsent sind, ist mit Costa Rica und Guatemala erfreulicherweise Mittelamerika wieder besser als zuletzt vertreten. Auch die Karibik ist mit Beiträgen aus der Dominikanischen Republik sowie Kuba (nur in ausländischen Produktionen) dabei. Mexiko komplettiert (wenn auch nur in Kurzfilmen) den Länderreigen.

Je sechs Lang- und Kurzfilme aus Lateinamerika wurden von Frauen gedreht. An diesem Punkt kann man zumindest gewisse Bemühungen um ein Gleichgewicht feststellen, auch wenn immer noch Luft nach oben ist. Thematisch gibt es wieder ein breites Spektrum von sehr politischen Themen bis zu Familiengeschichten, von LGBT*-Protagonist*innen zu Evangelikalen, von Stadt zu Land, von filmischen Biografien bis hin zu Geschichten über Aliens. Nur auf den Glamour-Faktor in Form von großen Stars muss dieses Mal verzichtet werden. Eher ist das Gegenteil Programm: Mehrere interessante Debütfilme bekamen eine Chance, dokumentarische Formen bilden einen Schwerpunkt, dazu kommt die erwähnte große Zahl von Kurzfilmen. Hinsehen lohnt sich – spätestens auf den zweiten Blick dürfte für viele etwas dabei sein.

Marighella: Die Geschichte eines Revolutionärs (Foto: © O2 Filmes)

Fast alle lateinamerikanischen Filme feiern dieses Mal auf der Berlinale ihre Weltpremiere, daher können Besprechungen erst ab dem Zeitpunkt der ersten öffentlichen Aufführung veröffentlicht werden. In dieser Ausgabe gibt es deswegen nur einen Überblick.

Im Wettbewerb hält Marighella (BRA) die Fahne des Subkontinents hoch, eine unter dem Eindruck rechter Drohungen gedrehte Filmbiografie über den gleichnamigen brasilianischen Kommunisten und Revolutionär. Walter Moura erzählt die Geschichte jenes Mannes, der als Verfasser des Minihandbuchs des Stadtguerilleros international Einfluss etwa auf die Black Panther oder die RAF hatte und 1969 zur Zeit der Militärdiktatur von der politischen Polizei ermordet wurde.

Mit zehn Beiträgen finden sich die meisten Langfilme in der an gesellschaftlichen Themen orientierten Sektion Panorama, die sich dieses Jahr nach eigenem Bekunden mit „Zeiten des Ausbruchs“ beschäftigt.

Die kapitalismuskritische Dokumentation Estou me guardando para quando o carnaval chegar (BRA) erzählt vom Leben der von der Jeansindustrie abhängigen Menschen in der Stadt Toritama, für die der Karneval die einzige Entspannung ist.

Greta (BRA) zeigt ein queeres, generationenübergreifendes Brasilien. Ein älterer schwuler Krankenpfleger nimmt einen Patienten bei sich auf, während seine Nachbarin, eine erkrankte Trans*frau, Teil der Parallelgesellschaft ist. Um eine andere Trans*frau geht es in Breve historia del planeta verde (ARG/D/BRA/E): Als Tania erfährt, dass ihre Großmutter die letzten Lebensjahre in der liebevollen Gesellschaft eines Aliens verbracht hat, reist sie mit zwei Freund*innen durch das ländliche Argentinien, um die Kreatur an ihren Ursprungsort zurückzubringen. Mit Temblores (GUA/F/LUX) stellt Jayro Bustamante, der 2015 für Ixcanul einen silbernen Bären gewonnen hatte, seinen zweiten Film vor, der vom Coming-Out eines evangelikalen Familienvaters und den Folgen erzählt. Ebenfalls um das evangelikale Milieu geht es in Divino Amor (BRA/URU/CHI/DK/NOR/SWE): Joana, Mitglied in der Sekte dieses Namens, therapiert trennungswillige Paare durch ritualisierte Sexualakte mit ihr und ihrem Mann, ihre Beziehung und ihr Glaube leiden jedoch unter dem unerfüllten Kinderwunsch.

Monos: Eine Gruppe von acht jungen Rebellen bewacht eine Geisel in den kolumbianischen Bergen (Foto: Alejandro Landes)

La Arrancada (F) ist ein Porträt der Familie der kubanischen Leistungssportlerin Jenniffer und gleichzeitig das ihres Landes im Wandel. In Los miembros de la familia (ARG) kommen Geheimnisse eines Geschwisterpaares ans Licht, die aufgrund äußerer Umstände in einem verlassenen Haus festsitzen.

Monos (KOL/ARG/NL/D/DK/SWE/URU) befasst sich mit dem bewaffneten Konflikt in Kolumbien: Eine Gruppe von acht jungen Rebellen bewacht eine Geisel in den kolumbianischen Bergen, als ein Zwischenfall mit ihrer Kuh eine Überlebensschlacht auslöst.

La fiera y la bestia (DOM/ARG/MEX) erinnert in Form eines traumwandlerischen Spielfilms an den ermordeten dominikanischen Filmemacher Jean-Louis Jorge. Und Joanna Reposi montiert in Lemebel (CHI/KOL) einen hypnotischen Bilderfluss zu ihrem Porträt des 2015 verstorbenen chilenischen Autors, Aktivisten und Performancekünstlers Pedro Lemebel.

Das Forum bleibt gemäß der Maxime „Risiko statt Perfektion“ seiner bekannten Experimentierfreudigkeit treu. In Antonella Sudasassis erstem Spielfilm El despertar de las hormigas (COR/E) geht es um weibliche Sexualität und Selbstbestimmung in einer lateinamerikanischen Gesellschaft. Das Leben der 30-jährigen Isabel orientiert sich an den Erwartungen ihrer Familie, sie beginnt jedoch langsam mehr an sich selbst zu denken. In Camila Freitas Debüt, dem Dokumentarfilm Chão (BRA), kämpfen Landarbeiter*innen mittels politischem Aktivismus für Land und die ökologische Bewirtschaftung der Erde. Lapü (KOL) dreht sich um das Ritual der zweiten Beerdigung bei den Wayuu, das für diese indigene Gruppe aus dem Norden Kolumbiens eine große Bedeutung hat. In Fern von uns (ARG) sehen wir die Geschichte der Wiederannäherung von Ramira an ihre Mutter, ihren dreijährigen Sohn und die Gemeinschaft deutschstämmiger Bauern im argentinischen Regenwald. Auf der anderen Seite der Grenze gibt Marcelo in Querência (BRA/D) in der brasilianischen Pampa nach einem Überfall seinen Job als Cowboy auf und findet als Ansager bei Rodeo-Shows ein neues Leben.

Vom 40-jährigen, HIV-positiven Marcelo aus São Paulo erfahren wir in A rosa azul de Novalis (BRA), dass er ein besonderes Verhältnis zu Büchern hat, insbesondere Novalis’ Romanfragment Heinrich von Ofterdingen, aus dem er nackt und in ungewöhnlicher Leseposition vorträgt.

Als Bonus wird retrospektiv Nuestra voz de tierra, memoria y futuro aus dem Forums-Jahr 1982 gezeigt. Die Dokumentation des Kampfes eines indigenen Dorfes in Kolumbien um sein Land ist ein eindrückliches Werk des politischen Kinos.

Das Forum expanded steuert noch vier Kurzfilme bei: Fordlandia malaise berichtet von einer Fabrikstadt, die Henry Ford in den 1920ern in den Amazonasurwald bauen ließ, Parsi aus Argentinien schafft ein repetitives, virtuelles Gedicht, Vivir en junio con la lengua afuera ist eine Hommage an den kubanischen Autor und Dissidenten Reinaldo Arenas. Der Inhalt des brasilianischen O ensaio war bis Redaktionsschluss noch unbekannt.

By the Name of Tania: Schicksal einer jungen Frau aus dem Amazonasgebiet Perus (Foto: © Clin d’oeil Films)

In der Jugendfilm-Sektion Generation gibt es drei Dokumentationen zu sehen. Bei der hochaktuellen Arbeit Espero tua (re)volta (BRA) von Eliza Capai ist der Name Programm. Ausgehend von der sich zuspitzenden Sozialkrise in Brasilien, während der Schüler*innen im Kampf gegen Schulschließungen mehr als tausend öffentliche Gebäude besetzten, zeichnet sie Protestereignisse zwischen 2013 und der Wahl des rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro 2018 nach. By the name of Tania (BE/NL) konfrontiert uns mit dem Schicksal einer jungen Frau aus dem Amazonasgebiet Perus, die bei dem Versuch, der Enge ihres Heimatdorfs zu entkommen, in die Fänge der Zwangsprostitution gerät und dabei ihrer moralischen und physischen Integrität beraubt wird. Baracoa (CH/KOL/USA) gibt vor dem Hintergrund einer Gesellschaft im Wandel Einblicke in den privaten Kosmos einer kindlichen Freundschaft im ländlichen Kuba.

Los Ausentes: Musik für die Toten (Foto: José Lomas Hervert)

Vier Kurzfilme komplettieren das Generation-Programm: In der kolumbianischen Fabel El tamaño de las cosas steht die Größe von Dingen zu Wünschen in Beziehung, das Musiktrio eines mexikanischen Jungen muss in Los ausentes mit nur drei Songs Repertoire eine Totenwache bestreiten, und Mientras las olas handelt von der Bewältigung einer Identitätskrise. Der Inhalt von Los rugidos que alejan la tormenta war bei Redaktionsschluss noch unbekannt (beide Argentinien).

In der Rubrik Kulinarisches Kino sind im Dokumentarfilm Sembradoras de vida (PER) Bäuerinnen im Hochland von Peru zu sehen, die trotz Bedrohungen durch den Klimawandel an alten Traditionen festhalten. Der Kurzfilm La herencia del viento widmet sich der Verbundenheit eines mexikanischen Bauers mit der Natur.

Die Berlinale Shorts warten schließlich noch mit zwei Beiträgen auf: In Héctor erscheint ein geheimnisvolles androgynes Wesen bei Arbeitern in einer chilenischen Fischerbucht, und in Shakti will sich ein argentinischer Mann von seiner Freundin trennen, die ihm zuvorkommt.

 

EXILIERTE GEDANKEN

Faschismus in Europa, ein autoritäres Regime in Brasilien, Widerstand, Flucht und wechselndes Exil – der Roman „Das Vermächtnis der Seidenraupen“ des brasilianischen Autors Rafael Cardoso ist brandaktuell, obwohl er sich einem historischen Thema widmet. Als Cardoso 23 Jahre alt war, starben im Abstand von nur einem Monat sein Vater und seine Großtante. Der junge Student der Kunstgeschichte räumt daraufhin das Haus seiner Großeltern in São Paulo aus und findet einen „wahren Schatz an Fotografien, Briefen und anderen historischen Dokumenten”. Denn Cardosos Urgroßvater war Hugo Simon, der „rote Bankier“, 1918 für kurze Zeit Finanzminister im Preußischen Revolutionskabinett und einer der wenigen Unterstützer der Friedensbewegung während des ersten Weltkrieges. In seiner Berliner Zeit ist Simon nicht nur ein bedeutender Sammler und Mäzen moderner Kunst und Literatur, in seinem Haus treffen sich auch die fortschrittlichen Geister der Weimarer Zeit, darunter Albert Einstein, Alfred Döblin, Georg Grosz und Renée Sintenis. Neben politischen Aktivitäten betreibt er auch ein landwirtschaftliches Mustergut in Seelow als Versuch einer gelebten Utopie – eine Erfahrung, die für ihn im Exil in Brasilien besonders nützlich sein wird. Cardosos Roman ist somit sowohl persönliche Familiengeschichte als auch historisches Dokument.

Er zeichnet nach, wie Simon, der sich als aufgeklärter, deutscher Intellektueller versteht und seine Religion nicht praktiziert, von den Nationalsozialisten gemäß der „Ariergesetzgebung“ ausgebürgert und sein gesamter Besitz konfisziert wird. Im März 1933, gerade noch rechtzeitig vor dem Einzug ihrer Pässe, begeben er, seine Frau, seine beiden Töchter und sein Schwiegersohn sich ins Exil nach Frankreich. Acht Jahre später fliehen sie, mangels anderer Alternativen, nach Brasilien unter Präsident Getúlio Vargas; Hugo Simon und seine Frau Gertrud mit gefälschten tschechischen Papieren, der Rest der Familie mit einer französischen Identität, die ihnen die Résistance verschafft hat. Das hat schwerwiegende Folgen: Die „noms de guerre“ und das jahrelange Versteckspiel vor nationalsozialistischen Spitzeln und brasilianischen Sympathisanten der Faschisten, belegt die deutsch-jüdische Herkunft mit einem Tabu. Rafael Cardoso selbst erfährt erst mit sechzehn Jahren – nach dem Tod seines Großvaters – von seiner Herkunft. Über die Vergangenheit wird in der Familie nicht gesprochen, die Rückgewinnung der deutschen Identität ist schwierig und Hugo Simon stirbt 1950 im Exil, ohne nach Europa zurückgekehrt zu sein.

Vielleicht auch deshalb wartet Cardoso viele Jahre, bevor er den 1987 entdeckten Familienschatz hebt. Doch nachdem er diese Schwelle schließlich überschritten hatte, muss sich Cardoso lange in diesem (Zeit-)Raum aufgehalten haben. Zu den großen Qualitäten des Romans gehören die vielen, gut recherchierten Einzelheiten des Zeitgeschehens zwischen 1933 und 1945. Der Autor erzählt die Familiengeschichte aus stetig wechselnden Perspektiven der einzelnen Familienmitglieder in Kapiteln, zwischen denen jeweils ein Jahr liegt. Auch wenn vor allem Hugo Simon zu Wort kommt, werden wichtige Ereignisse ebenso von der minderjährigen Tochter Annette erzählt, wie von dem Künstler und Schwiegersohn Wolf Demeter. So setzt sich aus vielen Schlaglichtern ein ganzes Panorama dessen zusammen, was Exil persönlich, künstlerisch und politisch bedeuten kann. Das macht das „Vermächtnis der Seidenraupen“ nicht nur historisch, sondern auch literarisch spannend. Nicht zuletzt erinnert der Roman an die – aus der öffentlichen Diskussion zunehmend ausgeblendete – Notwendigkeit der Flucht aus Europa vor nur zwei Generationen. Eine Notwendigkeit, die angesichts der aktuellen Entwicklungen in Brasilien auch dort bald wieder aktuell sein könnte.

 

// MÄRKTE STATT MENSCHENRECHTE

Die Welt schaut betroffen nach Brasilien. Der rechtsradikale Jair Messias Bolsonaro wird Präsident. Wieder einmal wird mit Entsetzen gefragt, wie das bloß alles geschehen konnte. Gerade im Fall Brasiliens sind die Gründe für diese Entwicklung komplex und vielfältig. Es gibt eine breite und historisch völlig neue rechte Allianz, welche die Krisen und damit verbundene Diskurse geschickt nutzt und zahlreiche Paradigmenwechsel einleiten konnte. Anstatt die Ursachen aber ausschließlich in den Krisen und Entwicklungen innerhalb Brasiliens während der vergangenen Jahre zu suchen, macht es – insbesondere mit Blick auf die Mitwirkung deutscher Unternehmen in der vergangenen brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985) – Sinn, auch nach der Unterstützung der deutschen Politik und Wirtschaft zu fragen.

Die Ankündigung, den marktradikalen, zeitweise in Chicago zum Ökonomen ausgebildeten Paulo Guedes zum Superminister für Wirtschaft und Finanzen zu machen, sorgte für Vorfreude. Für Akteur*innen aus der Wirtschaft wird die Unterstützung des ultrarechten Bolsonaro zu einer für sie vernünftigen Option. Das Duo Bolsonaro/Guedes steht für einen deregulierten Markt, der durch ein repressives, totalitäres System geschützt wird und indem alle Unternehmen privatisiert werden sollen. Die Deutsche Bank ließ sich zu der Aussage hinreißen, Bolsonaro sei der „Wunschkandidat der Märkte“. Das sah die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung offensichtlich ganz ähnlich, denn bis einige Tage nach dem ersten Wahldurchgang berichtete sie noch auf ihrer Internetseite, Bolsonaros Partei durch Kurse für Führungskräfte auf die Wahlen vorbereitet zu haben. Was sie nach laut werdender Kritik jedoch wieder dementierte und versicherte, die Unterstützung nach dem Bekanntwerden von Bolsonaros Kandidatur eingestellt zu haben und lediglich die Webseite nicht aktualisiert zu haben. Bei all den Sorgen um die brasilianische Demokratie wurde das wohl ganz einfach vergessen. Die Börse in São Paulo jedenfalls legte zeitweise acht Prozent zu, als sich Bolsonaros Wahlsieg abzeichnete. Das war der höchste Anstieg der vergangenen zwei Jahre. Die steigenden Kurse sind für Bolsonaro ein Vertrauensvorschuss. Sie stärken aber auch Industrien in Brasilien, die ihn wiederum strukturell, politisch und teilweise auch finanziell unterstützen. Die Agrarindustie beispielsweise ist eine enge Verbündete Bolsonaros.

Bolsonaro erhält auch Legitimität durch die diplomatische Zurückhaltung der Bundesregierung, die ihm zum Sieg gratulierte. Das dürfte der Bedeutung Brasiliens für Deutschland geschuldet sein – immerhin ist Brasilien nur eines von fünf Ländern außerhalb der Europäischen Union, mit denen die Bundesrepublik eine sogenannte strategische Partnerschaft führt. Deutsche Wirtschaftsunternehmen machen etwa zehn bis zwölf Prozent der brasilianischen Industrie aus. Brasilien seinerseits ist Deutschlands größter Handelspartner in Lateinamerika.

Noch weiter als die Bundesregierung gingen deutsche Firmenchefs. Sie offenbarten schon vor der Wahl wenig Vorbehalte gegen Bolsonaro. Einem Bericht der Deutschen Welle zufolge erklärten sechs namentlich nicht genannte Firmenchefs von deutschen Unternehmen, sie erwarteten nach einer Wahl Bolsonaros die Rückkehr von Stabilität und Wirtschaftswachstum. Die Führungsetagen deutscher Firmen treten so in die Fußstapfen ihrer Vorgänger*innen aus den 1970er Jahren. Im Namen des Neoliberalismus und des ungezügelten Wachstums werden die schon vor Bolsonaros Amtsantritt beginnende Verfolgung und Ermordung an Oppositionellen und erklärten Feind*innen durch Bolsonaros Anhänger*innen stillschweigend hingenommen. Anstatt nur entsetzt die Einhaltung von Menschenrechten zu fordern, sollten wir uns fragen, was die wirtschaftsliberalen Werte, die gemeinhin mit Freiheit verbunden werden, eigentlich in ihrer konkreten Umsetzung alles anrichten können.

MUSIKLEGENDE UND MEISTER DES VERSCHWINDENS

Suchend fährt die Kamera durch ein Hotel. Entlang an verwaisten Fluren, geschlossenen Türen . Lebt hinter einer von ihnen, vor der Öffentlichkeit verborgen, der Erfinder des Bossa Nova, João Gilberto? Oder bleibt die Suche wie so oft vergeblich? Der Regisseur Georges Gachot begibt sich in seinem Dokumentarfilm Wo bist du, João Gilberto? auf die Suche nach dieser brasilianischen Musiklegende.

Sein Film basiert auf dem Buch Hobálálá, geschrieben von Marc Fischer, einem deutschen Journalisten, dessen Leidenschaft für den Bossa Nova dieses literarische Kunstwerk hervorgebracht hat, betitelt nach dem gleichnamigen Song von Gilbertos erster Platte Chega de Saudade. Auch Fischer war ein Suchender, auch er von der Idee besessen, den Meister zu finden, der 1958 nur mit seiner Gitarre und seiner Stimme einen neuen Musikstil erschuf. Fischers Buch dient dem Filmemacher gewissermaßen als Drehbuch. Es beschreibt die vergebliche Suche nach João Gilberto, einem lebend Verschollenen, der sich allen Versuchen, ihm nahe zu kommen, mit Finesse entzieht. Diese Suche, von Fischer begonnen, nimmt Georges Gachot in seinem Film wieder auf. Dabei dienen ihm Aufzeichnungen, Tagebucheinträge, Fotos, sowie Bild- und Tonmaterial aus dessen Nachlass, denn Marc Fischer hat sich mit gerade 40 Jahren das Leben genommen. Unterstützung für sein Vorhaben findet er bei Rachel Balassiano, die seinerzeit schon Fischers Gehilfin bei der Suche nach João Gilberto war. Gemeinsam gehen sie den in Fischers Buch gelegten Spuren nach. Gachot kontaktiert einstige Weggefährten, Musiker und Komponisten, die ihn zwar zu den Ursprüngen und Wegbereitern des Bossa Nova führen, jedoch nicht zu João Gilberto, denn seine Gesprächspartner*innen haben ihn seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Regisseur und Buchautor verbindet die Sehnsucht nach dem Erlebnis eines schwer zu fassenden, traurigen Verlangens, das in den sanften Klängen, dem schwebenden, fast geflüsterten, poetischen Gesang ihres Idols seinen Ausdruck findet und den Zauber des Bossa Nova ausmacht. Sehnsucht ist im Film ein Schlüsselbegriff, der die Suche nach jenem Unsichtbaren antreibt, der der Welt diese einfühlsame, melancholische Musik geschenkt hat.

Am Ende des Buches fragt Sherlock (das literarische Alter Ego Marc Fischers) seine Gehilfin Dr. Watson (Rachel Balassiano): „Warum haben wir ihn nicht gefasst, Watson? Wir haben doch alles versucht.“ Watson: „Weil die Sehnsucht nicht zu fassen ist. Von niemandem, Sherlock.“ Am Ende des Films ein letzter Versuch des Filmemachers ihn doch noch zu fassen und Gilberto wenigstens ein einziges Mal live spielen zu hören: Vermittelt durch dessen Agenten lauscht Georges Gachot in einer der letzten Einstellungen andächtig seiner Musik durch eine Tür. Bleibt Joao auch diesmal ein Phantom? Das Archivmaterial diverser Konzerte Gilbertos, filmische Streifzüge durch Rio de Janeiro und die allgegenwärtige Präsenz der Bossa Nova-Rhythmen, lassen die Zuschauer*innen die Schönheit dieser Musik erleben. Nebenbei erfährt man, dass der Bossa Nova in der Toilette entstand, da João Gilberto diesen fünf Quadratmeter großen Ort als idealen Resonanzraum erkannte, wo die Akustik am besten war. Der Film ist gleichzeitig eine Art Entdeckungsreise in die Welt der brasilianischen Musik und der brasilianischen Musikszene des Bossa Nova.

„WIR WERDEN NICHT EINEN MILLIMETER ZURÜCKWEICHEN”

Gemeinsam unterwegs: Die JUNTAS wollen im Kollektiv die Politik verändern (Foto: Juntas_Baixa3)

JUNTAS ist ein kollektives, feministisches Mandat im Abgeordnetenhaus von Pernambuco – warum hat sich JUNTAS gegründet?
JUNTAS wurde als Antwort auf das gescheiterte Parteiensystem gegründet. Ein Drittel der Bevölkerung hat nicht gewählt, weil es kein Vertrauen mehr in unser politisches System hat. Die Idee kommt aus der feministischen Bewegung, die wir auch schon kollektiv aufgebaut haben. Alle sozialen Bewegungen, an denen wir uns beteiligen, organisieren wir als Kollektiv. Die Idee wurde außerdem von dem allerersten kollektiven Mandat der MUITAS aus Belo Horizonte inspiriert, von der nationalen Bewegung PartidA, die Frauen dabei unterstützt, mehr politische Räume zu erobern, und von der nationalen Bewegung Ocupa política (Besetzt die Politik, Anm. d. Red.), die überparteilich Kandidaturen unterstützt. Unsere Einschätzung war, dass wir hier in Pernambuco mit einer feministischen, kollektiven Kandidatur antreten können, weil es sehr viele Frauen gab, die sich das zutrauten und das gerne machen wollten. Wir haben uns dann zu JUNTAS zusammengeschlossen.

Aber rein formal hat Jô Cavalcanti das Mandat erhalten? Wie ist die rechtliche Situation?
Ja, Jô stand auf dem Wahlzettel. Kollektive Kandidaturen sind nicht verboten, aber sie sind auch noch nicht anerkannt. Es gibt dazu ein Gesetz im Kongress, aber damit geht nichts voran.

Die fünf Kandidatinnen sind sehr unterschiedlich, in Bezug auf ihr Alter, ihre Berufe – eine trans Frau ist auch dabei – erhöht das die Unterstützung?
Wir verstehen den Feminismus, die Feminismen, als intersektional. JUNTAS ist ein Kollektiv, gebildet von einer weißen feministischen Frau, Mutter und Journalistin – das bin ich –, von einer schwarzen Frau, Anwältin aus der Favela, von einer Lehrerin und Gewerkschafterin, von einer schwarzen Straßenhändlerin und politischen Aktivistin und von eine sehr jungen Frau aus dem Agreste im Landesinneren von Pernambuco. Ich würde sagen, ja, wir repräsentieren Diversität.
Wir glauben daran, dass wir diese politischen Räume besetzen können. Und es hat funktioniert, 39.000 Menschen waren auch der Meinung, dass wir das tun können. Uns wurde immer verweigert, was uns zusteht. Eine schwarze Frau kann ein Mandat erhalten, eine trans Frau kann ein Mandat erhalten. Und dies kollektiv zu erobern entspricht dem, was wir auch schon im Alltag in anderen Zusammenhängen tun.

Gibt es schon Gesetzesvorhaben, die die JUNTAS vorbereiten?
Die große Sache bei dieser kollektiven Kandidatur ist die Veränderung des Formats. Wir haben schon die Wahlkampagne mit der feministischen Bewegung abgesprochen, mit der LGBTI-Bewegung, mit der Bewegung für Wohnraum, der informellen Arbeit, der agro-ökologischen Bewegung und der Jugendbewegung. Wir haben eine Vielzahl an Vorschlägen und ab Januar werden wir die ersten 100 Tage des Mandats planen. Ein konkretes Beispiel: Im Kulturbereich haben wir den Vorschlag, dass alle Ausschreibungen gleichmäßig nach Genderkriterien vergeben werden. In Bezug auf Jugendliche ist unser Vorschlag, dass die Schließung von Schulen im Landesinneren von Pernambuco überprüft werden soll. In Bezug auf informelle Arbeit fordern wir die Anerkennung der Arbeit der Straßenhändler*innen als Beruf. All dies in Form von Gesetzesvorhaben, so als wären wir eine Brücke der Bewegungen in die parlamentarische Arbeit. Aber wir wissen gleichzeitig, dass wir nicht die Bewegungen sind, auch wenn viele von uns in sozialen Bewegungen aktiv sind. Wir wollen den Bewegungen in der legislativen Arbeit eine Stimme geben und die Gelegenheit, diese zu erheben. Gleichzeitig brauchen wir wiederum die Kraft der Bewegungen, um im Parlament etwas zu erreichen.

Trotz des Schocks über den Wahlerfolg von Bolsonaro und seiner Partei ist der Kongress doch wesentlich diverser geworden als er vorher war. Wie bewerten die JUNTAS die letzten Parlamentswahlen?
Unserer Meinung nach gab es – trotz der vielen Sitze, die die Partei von Bolsonaro errungen hat – Fortschritte bei den Parlamentswahlen. Unsere Fraktion von der P-SOL hat die Anzahl der Sitze im Kongress von sechs auf zehn erhöht und fünf davon sind Frauen. Der Anteil der Frauen in allen Parlamenten hat sich von zehn Prozent auf fünfzehn Prozent erhöht, das ist für uns schon eine sehr positive Veränderung, auch wenn die Anzahl der Abgeordneten in Bezug auf das Geschlecht gleich sein sollte. Es gibt heute drei trans Abgeordnete, zwei in São Paulo, Erica Malunguinho und Alexya Salvador, und Robbeyoncé Lima, die Teil der JUNTAS in Pernambuco ist. Das bedeutet, dass die Leute sich tatsächlich mit den Kandidat*innen identifizieren können, sich repräsentiert fühlen.
Wir sind uns bewusst, dass es eine Zunahme des Konservativismus auf globalem Niveau gibt und gleichzeitig sehen wir auch schon die Anworten darauf, zum Beispiel in den USA: Es gibt mehr Frauen, die sich politisch engagieren, mehr Frauen aus Lateinamerika, mehr schwarze Frauen, mehr homosexuelle Männer. Gleichzeitig brauchen wir mehr Beteiligung der gesamten Bevölkerung an der Politik. Es reicht nicht aus, alle vier Jahre wählen zu gehen. Und die kollektiven Mandate erreichen genau das: mehr Partizipation.

Wie sehen die JUNTAS die Rolle der Frauen in der aktuellen politischen Situation?
Für mich sind die Frauen, besonders die schwarzen Frauen, der Schlüssel dieser Revolution. Die schwarzen Frauen in Brasilien haben nie in einer Demokratie gelebt. Sie hatten nie Zugang zu Trinkwasser, zur Gesundheitsversorgung, sie sind diejenigen, die am häufigsten in den Krankenhäusern sterben. Die Gewalt gegen Frauen ist im weißen Bevölkerungsteil gesunken, die gegen schwarze Frauen ist gestiegen. Diese Frauen haben keine Angst vor dem, was gerade passiert. Es ist das, was sie schon immer erleben. Sie sind organisiert und sie brauchen dringend einen Wandel, weil sie die Rückschritte am meisten betref­fen. Wenn zum Beispiel der Preis für Kochgas steigt, dann sind es die schwarzen Frauen mit geringem Einkommen, die anfangen, mit Alkohol zu kochen und sich dabei verbrennen. Sie spüren die ökonomische Verschlechterung buchstäblich am eigenen Leib.
In Pernambuco wurden im vergangenen Jahr 5.427 Menschen ermordet. 90 Prozent dieser Menschen sind schwarz. Und wenn ein schwarzer Mann ermordet wird, dann gibt es eine schwarze Tochter, eine schwarze Mutter oder eine schwarze Schwester dieser Männer. Die Anzahl der weiblichen Inhaftierten hat sich seit 2010 um 600 Prozent erhöht und mehr als die Hälfte von ihnen hat noch nicht einmal vor Gericht gestanden. Sie dürften gar nicht inhaftiert sein. Die Mehrzahl dieser Frauen ist schwarz. In der Presse und in der Öffentlichkeit heißt es immer die Favelas seien gewalttätig. In Wirklichkeit wird die Bevölkerung der Favelas täglich vergewaltigt: Weil sie keinen Zugang zu Bildung hat oder zur Gesundheitsversorgung.

Wie analysieren die JUNTAS die Bedrohungslage unter einer von Bolsonaro geführten Regierung?
Wir handeln als Netzwerk, gemeinsam mit den anderen Frauen, die gewählt wurden. Wir sind natürlich sehr besorgt über die möglichen Entwicklungen. Dabei ist die Rolle der internationalen Öffentlichkeit äußerst wichtig, damit die Welt erfährt, was hier passiert, wenn etwas passiert. Aber wir werden nicht einen Millimeter zurückweichen, wir gehen keinen Schritt zurück. Natürlich haben wir auch Angst, aber das ist eher etwas, was uns antreibt. Wir erleben hier einen historischen Moment, wir werden uns nicht verstecken, wir sind das historische Subjekt. Aber wir müssen uns natürlich auch schützen, am Besten durch die internationale Öffentlichkeit.

 

BOLSONARO SCHÜRT DEN HASS

Der Widerstand lebt: Bolsonaro-Gegner*innen ziehen durch das Zentrum von São Paulo (Foto: Niklas Franzen)

Nur kurz hielt die Schockstarre an. Nach dem Wahlsieg von Jair Bolsonaro, der Brasiliens Linke in einen Zustand der Trauer und Panik versetzt hatte, sind am 30. Oktober in ganz Brasilien Zehntausende gegen den Rechtsradikalen auf die Straße gegangen. In São Paulo versammelten sich schon lange vor dem offiziellen Start der Demonstration Tausende auf der Prachtmeile Avenida Paulista. Zwei Tage zuvor hatten hier noch die Anhänger*innen Bolsonaros den Wahlsieg gefeiert.

Auch Rafael Granutti ist zusammen mit seinen Freund*innen gekommen, um ein Zeichen zu setzen. „Wir haben große Angst vor dem, was auf uns zukommt. Jetzt ist es wichtig zu zeigen, dass wir vereint sind.“ Schon seit 2010 habe er sich immer wieder an Protesten gegen Rechts beteiligt.

Insbesondere Bolsonaros homo- und transphobe Aussagen schockierten den 25-jährigen LGBTI-Aktivisten, der sich eine Regenbogenfahne über die Schultern gehängt hat. Das Klima habe sich seit der Wahl verändert. Insbesondere in den sozialen Netzwerken tobe der Hass. Eine Freundin sei mitten in São Paulo angegriffen worden.

Auch andernorts kam es nach der Wahl zu Übergriffen. So wurden eine indigene Schule und eine Arztpraxis im Bundesstaat Pernambuco in Brand gesetzt. In Curitiba sollen Rechte am Wahlabend einen Schwulenclub angegriffen haben und die Polizei des Bundesstaates Goiás ermittelt wegen der Gründung einer homophoben Terrorgruppe, die zum Mord an Homo- und Transsexuellen aufgerufen hat. Die Wahl des ultrarechten Bolsonaro, der von vielen als Faschist bezeichnet wird, könnte einen radikalen Politikwechsel nach sich ziehen. Der frühere Fallschirmjäger will den Zugang zu Waffen erleichtern, wichtige Ministerien mit Militärs besetzen und möglicherweise aus dem Pariser Klimaschutzabkommen aussteigen.

Beim Protest, der durch die Hochhausschluchten der Megametropole führte, werden immer wieder Parolen gegen den Präsidenten skandiert. Viele Bewohner*innen solidarisieren sich spontan mit den Demonstrant*innen. An diesem Abend wird deutlich: Viele Brasilianer*innen sind mit dem Wahlsieg von Bolsonaro unzufrieden und der Widerstand lebt.

Direkt am Wahlabend war von Widerstand wenig zu sehen. Auf der Veranstaltung der Arbeiterpartei PT in einem Hotel im Zentrum von São Paulo herrschte für einen kurzen Moment Totenstille, dann begann das Schluchzen. Menschen lagen sich in den Armen, vielen stand die Panik und Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Die gesamte Führungsriege der PT, Mitglieder von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften sowieso Pressevertreter*innen aus der ganzen Welt waren anwesend. So auch der ehemalige Senator der PT, Eduardo Suplicy. „Das ist ein sehr trauriges Resultat für uns“, sagte die sichtlich geschockte Kultfigur der Arbeiterpartei. „Jetzt müssen wir reflektieren, was falsch gelaufen ist.“ Auf der Pressekonferenz in einem überfüllten Konferenzraum wurde eine Schweigeminute für die Demokratie und die Opfer der rechten Gewalt gehalten. Dann hielt Fernando Haddad an der Seite von Ex-Präsidentin Dilma Rousseff eine kurze Rede. Von seinen Anhänger*innen wurde er zwar bejubelt, dennoch überwogen an diesem Abend Traurigkeit und Fassungslosigkeit.

Nur wenige Straßenzüge entfernt, sah es zur gleichen Zeit ganz anders aus. Tausende Anhänger*innen von Jair Bolsonaro hatten sich auf der Avenida Paulista versammelt. Schon von weitem hörte man Feuerwerkskörper, Autohupen und Gebrüll. Die für den Verkehr gesperrte Straße glich einem Meer aus Gelb und Grün. An jeder Ecke standen Straßenverkäufer*innen, die T-Shirts und Fahnen mit dem Konterfei von Bolsonaro verkauften. Polizist*innen posierten gut gelaunt mit Bolsonaro-Fans für Fotos. Mehrfach wurde die Nationalhymne gesungen, getanzt und gelacht. Auch Daniel Souza hat Bolsonaro gewählt. „Jetzt werden wir endlich einen nicht-korrupten Präsidenten haben“, so der 25-Jährige. Zwar sei er Demokrat, aber bestimmte Werte, die das Militär verkörpere, müssten jetzt in Brasilien umgesetzt werden. Die Bolsonaro-Anhängerin Cristiane Silva verspricht sich vor allem eine Verbesserung der Sicherheitslage. „Ich muss endlich in der Lage sein, ohne Angst auf die Straße zu gehen.“

Doch der friedliche Schein auf der Wahlparty trügt: Die Stimmung schwankte zwischen Volksfest und Pogrom. So wurde ungeniert gegen politische Gegner gehetzt und offen die blutige Militärdiktatur (1964-1985) verherrlicht. Ein junger Mann zeigte mehrmals den Hitlergruß, während ein Redner die Politiker der Arbeiterpartei von der Bühne aus vulgär beschimpfte. Mehrere Anwesende trugen Uniformen des Militärs, kleine Kinder formten ihre Hände zu Pistolen und immer wieder ertönte der Schlachtruf „Brasilien über alles.“ Die Anhänger*innen Bolsonaros haben die menschenverachtende und faschistoide Rhetorik ihres Idols verinnerlicht.

Und Bolsonaro? Der heizt die Stimmung weiter an. Von Mäßigung nach seinem Wahlsieg ist nichts zu spüren. „Ich werde das Schicksal des Landes verändern. Jetzt wird nicht weiter mit dem Sozialismus, dem Kommunismus, dem Populismus und dem Linksextremismus geflirtet,“ erklärte er und kündigte an, „Säuberungen“ durchführen zu wollen: Dazu will er politische Gegner aus dem Land werfen und soziale Bewegungen als terroristische Vereinigungen einstufen lassen. „Das ist eine explizite Kampfansage an die Demokratie. Mit ihm wird ein Klima der Verfolgung installiert“, sagte der PT-Aktivist William Osake.

Carina Vitral, Präsidentin der Jugendorganisation der kommunistischen PcdoB meint: „Wir lassen uns nicht aus dem Land werfen und uns auch nicht verhaften. Bolsonaro wird mit einer starken Opposition zu rechnen haben.“ Doch auch sie habe Angst, über Sicherheit werde nun viel diskutiert. „Die beste Art, sicher zu sein, ist sichtbar zu sein. Deshalb sind wir heute auf der Straße.“ Jetzt sind die sozialen Bewegungen gefordert. Die Demonstrationen am 30. Oktober waren nur der Anfang.

ZWANGSVERSCHREIBUNG VIA BAYER

Medikamente von Bayer: Eine fragwürdige Angelegenheit (Foto: Bodhi Peace/Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

„Ich habe Mädchen im Alter von zwölf oder 13 Jahren gesehen, die schwanger waren oder bereits Mütter, und wir wissen, welche Probleme das bereiten kann“, erklärt die Staatsanwältin Dr. Cinara Vianna Dutra Braga, um gleich ihre Schlussfolgerung hinterher zu schieben: „Für diejenigen von ihnen, die in staatlichen Einrichtungen leben, ist es noch schlimmer, da sie sich in einer Situation extremer Verletzlichkeit befinden. Diese Partnerschaft gewährt ihnen jetzt sieben Jahre lang Schutz, sodass sie ihre Zukunft ohne das Risiko einer frühen Schwangerschaft planen können“. Cinara Vianna Dutra Braga ist Staatsanwältin im südbrasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul. Und sie hatte im Juli dieses Jahres über den Antrag auf teilweise Freigabe der in Brasilien für Minderjährige eigentlich verbotenen Hormon-Spirale Mirena aus dem Hause Bayer zu entscheiden. Sie entschied sich für die Zulassung der Spirale auch für Minderjährige, sofern diese unter Obhut des Staates stehen.

Cinara Vianna Dutra Braga begrüßte den Plan, hundert Minderjährigen, die in Porto Alegre in Fürsorge-Einrichtungen leben, Bayers Hormon-Spirale Mirena zu implantieren. In Brasilien wird das Bayer-Produkt unter dem Namen SIU-LNG vertrieben. Eine entsprechende Kooperationsvereinbarung hatte der Leverkusener Multi mit der Staatsanwaltschaft, der Landeshauptstadt Porto Alegre und zwei Kliniken der Stadt geschlossen.

Damit setzten sich die Beteiligten einfach über die Verordnungsvorschriften für Arzneien hinweg. Das Medizin-Produkt zur Langzeit-Verhütung – im Fachjargon auch Intrauterin-Pessar (IUP) oder Intrauterin-System (IUS) genannt – hat in Brasilien nämlich gar keine Zulassung für diese Altersgruppe. Die zuständige Kommission Conitec hatte sich im Jahr 2016 eindeutig gegen eine Genehmigung für 15- bis 19-Jährige ausgesprochen. „Wir sind der Ansicht, dass die vorgelegten wissenschaftlichen Nachweise nicht ausreichen, um die Überlegenheit der vorgeschlagenen Technologie gegenüber den schon vorhandenen Technologien zu demonstrieren“, hieß es in dem entsprechenden Bericht.

Die Maßnahme erinnert an die alte eugenische Politik der ‚Geburten- Kontrolle’

Auf entsprechend große Kritik stieß das Vorhaben. Einhellig protestierten der Landesrat für die Rechte von Kindern CEDICA, der Landesrat für Sozialunterstützung CEAS und Professor*innen der Universität des Bundesstaates Rio Grande do Sul (UFRGS) gegen die Maßnahme. „Zusammenfassend handelt es sich um eine weitere Strategie der Pharma-Industrie und ihrer Netzwerke, dem staatlichen Gesundheitssystem ihr hormonales IUP/IUS anzudienen“, so die Medizinerin Gabriela Godoy gegenüber Medien.

Gemeinsam mit ihren Kolleg*innen von der UFRGS hatte sie in einer Petition ethische, technische und wirtschaftliche Einwände gegen den Vorstoß formuliert. Die Hochschul-Lehrer*innen bezeichneten es darin als moralisch bedenklich, das Medizin-Produkt gerade bei Minderjährigen aus prekären sozialen Verhältnissen einzusetzen, die unter staatlicher Vormundschaft stehen. Diese Praxis erinnere an die Bevölkerungspolitik unter der Militärdiktatur, die mit derartigen Methoden versuchte, die gefährlichen Klassen möglichst kleinzuhalten. Das „geht auf die alte eugenische Politik der ‚Geburten-Kontrolle’ zurück, die in den 1960er und 1970er Jahren existierte“, konstatierten die Wissenschaftler*innen.

Nicht genug damit, dass die Verantwortlichen den Beschluss der Conitec ignorierten. Sie unterließen es zudem, die jungen Frauen über Risiken und Nebenwirkungen der Mirena und über Alternativen zu informieren, monierten die Professor*innen. Sie kritisierten zudem den hohen Preis der Spirale. Die staatlichen Stellen haben sich zum Werkzeug der Vermarktungsstrategie des Leverkusener Multis machen lassen, so ihr Fazit.

Brustkrebs, Bauchkrämpfe, psychische Krankheiten, Seh-Störungen, Migräne und Kopfschmerzen – Mirena

Der Gemeinderat von Porto Alegre, diverse Gewerkschaften und andere Organisationen formulierten ihre Einwände in einem offenen Brief. Sie warfen Bayer & Co. vor, ihre Kooperationsvereinbarung unter Umgehung der kommunalen politischen Gremien geschlossen zu haben. Darüber hinaus lasteten die Verfasser*innen des Schreibens dem Verbund an, die jungen Frauen zu Objekten zu degradieren und sie ihres Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung zu berauben. Wie die Professor*innen von der UFRGS machten auch sie in der Sozialauswahl der Mirena-Kandidat*innen ein bevölkerungspolitisches Element aus und erinnerten an ein ähnliches Projekt in der Stadt mit Jugendlichen aus einem Armen-Viertel, das nach massiven Protesten eingestellt werden musste.

Bayer wirkt an einer solchen Bevölkerungspolitik sonst vornehmlich auf dem Gebiet der Entwicklungshilfe mit. Nach der vom früheren US-Präsidenten Lyndon B. Johnson formulierten Devise „Fünf gegen das Wachstum der Bevölkerung investierte Dollar sind wirksamer als hundert für das Wirtschaftswachstum investierte Dollar“ bringt er etwa – mit freundlicher Unterstützung der „Bill & Melinda Gates Foundation“ – Millionen Einheiten seines Langzeit-Kontrazeptivums Jadelle an die afrikanische Frau. Aus Sicht der Institutionen besitzt es die gleichen Vorteile wie Mirena. Es ist „provider controlled“, also von den Nutzerinnen nicht selbstbestimmt ein- bzw. abzusetzen, und service-freundlich, weil es jahrelang wirkt und so Kontrollen erspart.

Auch in Sachen „Nebenwirkungen“ geben sich die beiden Medizin-Produkte nicht viel, denn mit Levonorgestrel haben sie den gleichen Wirkstoff. Mirena etwa kann Brustkrebs, Bauchkrämpfe, psychische Krankheiten, Seh-Störungen, Migräne und Kopfschmerzen auslösen. Ob das den jungen Brasilianer*innen aus Porto Alegre erspart bleibt, entscheiden jetzt die Gerichte. Die Initiative Themis hat nämlich Klage gegen die Zwangsverschreibung des Kontrazeptivums eingereicht.

WARTET NUR BIS ZUM ERSTEN JANUAR

Für Demokratie und Frieden Protestveranstaltung in Olinda, Pernambuco am 21. Oktober 2018 (Foto: Claudia Fix)

Um 19:44 Uhr am 28. Oktober, wenige Minuten vor den ersten Hochrechnungen zum zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl, veröffentlichte die kürzlich gewählte PSL-Landtagsabgeordnete Ana Caroline Campagnolo einen Aufruf auf Facebook. Sie bat Studierende, „alle parteipolitischen oder ideologischen Äußerungen, die die Freiheit des Glaubens oder des Gewissens verletzen“ per Audio oder Video aufzunehmen. „Viele indoktrinierende Lehrkräfte lehnen den Sieg des Präsidenten Bolsonaro ab“, begründete sie den Appell. Auch ein Kontakttelefon für Denunziationen wurde in dem Post angegeben.

Die 28-jährige Geschichtslehrerin Campagnolo, Evangelikale und Tochter eines Militärs, die sich selbst als „anti-feministisch, konservativ, Christin und Rechte“ definiert, wurde mit diesem Aufruf schlagartig in ganz Brasilien bekannt. Während Bolsonaro-Anhänger*innen ihr Beifall zollten, unterzeichneten bereits am folgenden Tag 200.000 Menschen eine Online-Petition, die sich gegen die Einschränkung der Freiheit der Lehre richtete.

Auch wenn ein Gericht Campagnolo weitere Aufrufe dieser Art untersagt hat – und sich zwei weitere Gerichte mit dem Verhalten der Landtagsabgeordneten beschäftigen – ist dieser Versuch der gewaltsamen Durchsetzung eines rechten Diskurses alles andere als ein Einzelfall im Brasilien nach der Wahl. An der Universität des Landes Pernambuco (UFPE) kursierte in dieser Woche ein Flugblatt mit dem Titel „Indoktrinierende und Studenten, die 2019 aus dem Historischen Institut der UFPE verbannt werden“. Aufgelistet sind rund 20 Namen mit Zusätzen wie: „Kommunist, Chaot und schwule Sau. Verbreitet die Gender-Ideologie, studiert Homosexualismus in Gefängnissen.“ Oder: „Sozialist. Lehrt Soziologie, die den Gebrauch von Drogen entschuldigt, gemeinsam mit seinen linken Stipendiaten.“ Oder: „Feminazi, Kommunistin, die Transvestiten unterstützt. Verbreitet die Gender-Ideologie.“

Rund drei Millionen Euro für WhatsApp-Kampagnen

Eine Dozentin für Design an einer Universität, die anonym bleiben möchte, beschreibt die Folgen dieser Form von Stimmungsmache: „Der ganze Lehrkörper ist total verunsichert. Die Studierenden nehmen selbst zu Prüfungen ihre Handys mit und werden sie nicht im Unterricht abgeben. Die Leitung der privaten Universität ist rechts, von denen ist kein Schutz zu erwarten. Und meine Koordinatorin hat einfach so getan, als gäbe es die Hetzkampagnen gegen Lehrkräfte auf Facebook nicht, als ich sie ansprach. Anfang des nächsten Semesters steht das Thema Gender auf dem Lehrplan. Ich werde den Studierenden das Material vorab mailen, damit klar ist, dass es aus einem Lehrbuch stammt und nicht von mir.“

Der zukünftige Präsident Brasiliens hat während des Wahlkampfes keinen Zweifel daran gelassen, wer für ihn außerhalb des Schutzes durch die Verfassung und den Rechtsstaat steht. Außer den „linken Banditen“ hat er Gewerkschafter*innen, Schwarze, Homosexuelle, Indigene und auch Frauen, die nicht nach dem traditionellen Frauenbild leben, in seinen Reden „markiert“ und für die Verfolgung durch seine Anhänger*innen freigegeben. Ein Hauptschauplatz der Bedrohung und gewaltsamen Durchsetzung rechter Ideologie sind Schulen und Universitäten. Bereits im Wahlkampf kam es zu zweifelhaften Entscheidungen regionaler Wahlgerichte. Ein Transparent mit der Aufschrift „Mehr Bücher. Weniger Waffen“ musste aus der staatlichen Universität von Paraíba wegen illegaler Wahlwerbung entfernt werden.

Mit der Kampagne „Parteilose Schule“ eng verbunden ist der ehemalige Senator Magno Malta. Der Pastor der Igreja Evangélica Assembleia de Deus Vitória em Cristo war der Erste, der nach dem Wahlsieg von Bolsonaro das Wort an die brasilianische Bevölkerung richten durfte: „Die Fangarme der Linken werden ohne die Hand Gottes niemals herausgerissen werden“, sagte er vor dem Vaterunser, das Bolsonaros erste Ansprache an die Nation einleitete. Ein offensichtlicher Tribut des zukünftigen Präsidenten an die evangelikalen Kirchen, ohne die sein Wahlsieg nicht möglich gewesen wäre. Immer wieder wurde bei den sogenannten „Pfingstlern“ zu seiner Wahl aufgerufen, zuletzt in den Gottesdiensten vor dem zweiten Wahlgang – ohne jede Beanstandung durch die Wahlgerichte. Auch bei der – im Wortsinn – Verteufelung der Arbeiterpartei PT und den massiven WhatsApp-Kampagnen für Bolsonaro hatten die Evangelikalen einen entscheidenden Anteil. Malta selbst wird in den brasilianischen Medien als zukünftiger Familienminister gehandelt, von Bolsonaro allerdings bisher nicht bestätigt. Dieser bekräftigte nur, dass es ein Ministerium mit diesem Namen nicht mehr geben werde. Voraussichtlich wird das Familienministerium mit dem Sozialministerium und dem Sekretariat für Menschenrechte zusammengefasst werden, denn der PSL-Kandidat hatte vor den Wahlen eine drastische Reduzierung der Ministerien von 29 auf maximal 17 angekündigt. Gleich ganz streichen möchte er das Arbeitsministerium, das in „irgendein anderes Ministerium integriert werden soll“. Das Arbeitsministerium ist u.a. für das Verhältnis zwischen Gewerkschaften, Arbeiter*innen und Unternehmen, die Verfolgung von Sklaven- und Kinderarbeit sowie Programme zur Schaffung von Einkommen und Arbeitsplätzen verantwortlich. Als Agrarministerin ist Tereza Cristina da Costa Dias von der neoliberal-konservativen demokratischen Partei (DEMOCRATAS) nominiert, die wegen ihrer vehementen Verteidigung der Deregulierung des Einsatzes von Pestiziden auch als „Königin der Ackergifte“ bekannt ist.

Neuer Superminister für Justiz und Innere Sicherheit soll Bundesrichter Sérgio Moro werden. Dieser hatte den ehemaligen Präsidenten Lula da Silva in einem äußerst umstrittenen Indizienprozess zu Gefängnishaft verurteilt und damit dessen erneute Kandidatur für die Präsidentschaft unmöglich gemacht. Im Vorwahlkampf hatte Lula da Silva in allen Meinungsumfragen immer einen deutlichen Vorsprung vor Bolsonaro – auch als er bereits in Haft war. Teilen wird sich Moro die Regierungsbank mit dem zweiten Superminister: Der Neoliberale Paulo Guedes soll für Wirtschaft, Haushalt und alles andere Ökonomische zuständig sein. In gleich zwei Verfahren wird gegen ihn wegen Investitionsbetrugs ermittelt.

Den evangelikalen Sender Rede Record, fünftgrößtes TV- und Radionetzwerk Brasiliens, geleitet von Edir Macedo Bezerra, Bischof der Pfingstkirche Igreja Universal do Reino do Deus, erkor Bolsonaro umgehend zu seinem Hofsender. Bereits im Wahlkampf gab er Record Exklusiv-Interviews, während er sich allen direkten TV-Duellen mit dem Gegenkandidaten Fernando Haddad entzog. Gedroht hat er dagegen dem Medienimperium O Globo, dessen Berichterstattung dem Kandidaten nicht positiv genug ausfiel. In einer improvisierten Pressekonferenz kündigte er O Globo vor seiner Wahl eine drastische Kürzung des Anteils an staatlichen Werbeausgaben an, ebenso wie der renommierten konservativen Zeitung Folha de S. Paulo. Beide Medien wurden zur ersten Pressekonferenz von Bolsonaro als gewähltem Präsidenten nicht eingeladen. Keine guten Aussichten für die Pressefreiheit.

„Möchten Sie reden? Tausche ein Stück Kuchen gegen ein Gespräch über Politik.“

Die Folha de S. Paulo hatte zehn Tage vor der Stichwahl eine Recherche veröffentlicht, nach der brasilianische Unternehmen mindestens 12 Millionen Reais (rund 3 Millionen Euro) in WhatsApp-Kampagnen investiert hatten. Über WhatsApp-Gruppen wurden täglich tausende Nachrichten verschickt, die den PT-Kandidaten Haddad diffamierten. Viele der Absender*innen hatten Konten in den USA oder in Europa, was das ohnehin schwierige Monitoring von WhatsApp durch die Wahlbehörden zusätzlich erschwerte. Nachdem Fernando Haddad nach der Veröffentlichung eine formelle Anklage beim Obersten Wahlgericht beantragt hatte, lud dieses zur Pressekonferenz. „Unsere Verfassung garantiert einen juristisch einwandfreien Prozess. Wir werden im geeigneten Moment eine angemessene Antwort erteilen“, erklärte die Oberste Richterin Rosa Weber eine Woche vor der Wahl. Mit der Entscheidung, ob es sich um eine illegale Wahlbeeinflussung gehandelt hat, wird nicht vor Mitte 2019 gerechnet.

Das Szenario in Brasilien sieht nach den Wahlen denkbar düster aus. Auch wenn Bolsonaro in seiner Antrittsrede versprach, die Verfassung zu respektieren, fühlen sich seine Anhänger*innen bereits jetzt ermächtigt, die Rechte ihrer „Gegner“ einzuschränken, was sich ebenso auf der Straße wie im Parlament ausdrückt. Sie treffen dabei allerdings auf eine Opposition, die in den letzten zehn Tagen vor dem zweiten Wahlgang in überraschendem Ausmaß gewachsen ist und zu einer neuen Einigkeit in der Verteidigung der Demokratie gefunden hat. Als deutlich wurde, dass die digitale Schlacht weitgehend verloren war, haben sich unzählige Menschen aufgemacht, in ihrem Umfeld oder im direkten Gespräch mit Unbekannten um jede einzelne Stimme zu kämpfen. „Unsicher? Möchten Sie reden?“ oder „Tausche ein Stück Kuchen gegen ein Gespräch über Politik“, lauteten die Angebote vor U-Bahnhöfen oder Shopping-Malls. Gleichzeitig fanden täglich Großdemonstrationen mit zehntausenden Menschen statt, die größte am 27. Oktober in Salvador de Bahia mit weit über 100.000 Teilnehmer*innen. Tatsächlich gelang es in mehreren Millionenstädten, wie São Paulo und Recife, das Stimmenverhältnis zwischen Haddad und Bolsonaro im Vergleich zum ersten Wahlgang umzukehren. Dass es am Ende für einen Sieg von Haddad nicht gereicht hat, ist besonders der Führungsspitze der PT vorzuwerfen, die völlig verantwortungslos die Kandidatur von Haddad zum letztmöglichen Zeitpunkt angekündigt hatte. Mit der Folge, dass mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten nach dem ersten Wahlkampf nicht einmal wusste, wer der Gegenkandidat zu Bolsonaro war. Auf der parlamentarischen Ebene – auf der es in den letzten Tagen vor der Wahl eine eher halbherzige, aber dennoch ausgesprochene Unterstützung verschiedener Parteien für den PT-Kandidaten Haddad gab – scheint die Bildung einer schlagkräftigen Opposition mit der PT als stärkster Partei in weiter Ferne. Um so wichtiger werden die Impulse aus den sozialen Bewegungen sein. Der Ruf nach resistência (Widerstand) ist jedenfalls in aller Munde.

DIE ÜBERLEBENDEN

Pakuyi und Tamandua: Nach der teilweisen Auslöschung und Vertreibung ihrer Gemeinde allein im Regenwald (Foto: mindjazz Pictures)

Pakyî und Tamandua, ein Onkel und sein Neffe, wollten sich nicht vertreiben lassen und leben seit mehr als zwanzig Jahren alleine im Amazonaswald. Denn im Reservat leben nur noch wenige Überlebende der Piripkura fernab von ihrem ursprünglichen Leben. Der Film Piripkura beschreibt eine Suche nach der gleichnamigen indigenen Gemeinde. Jair Candor, Koordinator der brasilianischen Indigenenschutzbehörde FUNAI, sucht sie alle paar Jahre auf. Solange nachgewiesen werden kann, dass sie weiterhin dort leben, darf der Wald nicht abgeholzt werden. Die Suche ist vor allem deshalb schwierig, weil die beiden ständig unterwegs sind.

Die Expedition hat zwangsläufig etwas Exotisierendes – Pakyî und Tamandua werden gesucht wie seltene Schätze, meistens sind Weiße von der FUNAI zu sehen, wie sie sich auf dieser Suche durch den Urwald kämpfen. Dass sie einen Gesundheitscheck mit den beiden Männern durchführen, obwohl diese seit Jahren unabhängig unter härtesten Bedingungen leben, hat etwas vom weißen Helferkomplex und ist manchmal peinlich. Immerhin wird diese Rolle im Film nicht schön geredet. Die verlegene Unbeholfenheit während der ersten Begegnung etwa, wird nicht rausgeschnitten, sondern genauso gezeigt. Wahr ist auch, dass die FUNAI eine der wenigen Regierungsorganisationen ist, die tatsächlich gegen illegale Holzfäller*innen und deren Morde und Straftaten vorgeht.

Es bleibt etwas Unfassbares, der Wahnsinn dieser Begegnung: Zwei Menschen haben sich nach der teilweisen Auslöschung und Umsiedlung ihrer Gemeinde entschieden, weiterhin im Regenwald zu leben. Unbekleidet treffen Paykî und Tamandua auf die FUNAI und sprechen eine Sprache, die sonst niemand versteht. Wie ist dieses Leben zu zweit, in solcher Einsamkeit? Was brachte sie zu dieser Entscheidung? Wie fühlt es sich an, als letzte Überlebende der eigenen Zivilisation an diesem Stück Natur noch festzuhalten? Es sind Fragen, die ihnen keine*r der Anwesenden stellen kann.

Manchmal fühlt es sich fast übergriffig an, die beiden Männer zu beobachten – einerseits. Es gibt aber die politische Notwendigkeit andererseits, ihrem Leben Sichtbarkeit zu verleihen, um ein Argument gegen die Gier der Holzfäller*innen und Goldgräber*innen zu haben. Gerade jetzt: die Gewalt gegen Indigene in Brasilien hat in den wenigen Tagen nach dem Wahlsieg Bolsonaros akut zugenommen.
Bei der Verabschiedung wiederholen die beiden Piripkura gegenüber den Angestellten der FUNAI die wenigen Worte auf portugiesisch, die sie sprechen können, unzählige Male “Ciao” und mit großer Nachdrücklichkeit beim Gehen: “Ihr bleibt hier.”

ERST EINMAL DAVONGEKOMMEN

#Elenao – “Er nicht” Hunderttausende demonstrierten gegen Bolsonaro (Foto: Mídia NINJA CC BY-NC-SA 2.0)

„Ich bin für Folter, das weißt du” und „der einzige Fehler der Diktatur war, dass sie gefoltert und nicht getötet hat” – es sind öffentliche Aussagen wie diese, die es so unfassbar machen, dass fast fünfzig Prozent der brasilianischen Wähler*innen in Jair Bolsonaro den nächsten Präsidenten Brasiliens sehen. Als das brasilianische Parlament am 17. April 2016 über die Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff abstimmte, widmete Bolsonaro sein Votum dem Andenken von Oberst Carlos Alberto Brilhante Ustra. Ustra leitete die militärische Einrichtung, in der während der Militärdiktatur zwischen 1970 und 1974 politische Gefangene gefoltert wurden, unter ihnen auch Dilma Rousseff.

Bolsonaro macht immer wieder deutlich, dass er ein Anhänger der Diktatur und ihrer Folterer ist

Dass Bolsonaro als Hauptmann der Reserve ein Anhänger der Diktatur und ihrer Folterer ist, hat er immer wieder deutlich gemacht. „Er ist ein nationaler Held”, sagte er neun Wochen vor der Wahl in einem Interview über Ustra. Und weiter: „Warum greifen die uns an? Weil wir von den Streitkräften das letzte Hindernis für den Sozialismus sind.” Nach dem Attentat auf ihn am 6. September bekräftigte er: „Als Präsident werde ich mehr Militär auf die Straßen schicken. Wer dagegen ist, soll mir sagen, wie wir die Probleme lösen, ohne zu schießen.” Sein offizieller Vizepräsident ist folgerichtig ein General: Der 65-jährige Antônio Hamilton Martins Mourão gehört zur Reserve des Heeres.

Doch es sind nicht nur diese Äußerungen von Bolsonaro und auch seinem Vize, die demokratischen Kräften und sozialen Bewegungen Anlass zu äußerster Besorgnis geben. Beide vertreten eine sexistische, rassistische und homophobe Agenda in einem selbst in Brasilien seltenen Ausmaß. Bolsonaro teilte einer Kollegin im Kongress vor laufenden Kameras mehrfach mit: „Sie verdienen es nicht vergewaltigt zu werden!” Später erklärte er: „Sie ist zu hässlich.”. Er hält es für gerecht, wenn Frauen weniger verdienen, weil „sie schwanger werden”. Seit 2016 ist er evangelikaler Christ und grundsätzlich gegen Abtreibung.

Kandidat und Vize machten öffentlich ihre Ablehnung der Menschenrechte von afrobrasilianischen und indigenen Brasilianer*innen überdeutlich – gepaart mit der Ankündigung, dass unter einem Präsidenten Bolsonaro in indigenen Territorien „kein weiterer Zentimeter zusätzlich demarkiert” werde.

Es war die Frauenbewegung, die in diesem Wahlkampf die entschiedendste Opposition gegen den Kandidaten der extremen Rechten organisierte

Es war die Frauenbewegung, die in diesem Wahlkampf die entschiedendste Opposition gegen den Kandidaten der extremen Rechten organisierte. Als „Frauen geeint gegen Bolsonaro“ erreichte eine geschlossene Facebookgruppe innerhalb weniger Tage die Millionengrenze. Kurz vor dem ersten Wahlgang waren es fast vier Millionen.

Am 29. September mobilisierte die Frauenbewegung Hunderttausende in 114 Städten zu öffentlichen Demonstrationen gegen Bolsonaro. Sie erreichte eine breite Allianz von feministischen, indigenen, afrobrasilianischen, gewerkschaftlichen, queeren und anderen Bewegungen, die dem Protest von der Anzahl der Teilnehmer*innen und der Vielfalt der Agenda eine historische Dimension gab.

Das „Phänomen Bolsonaro” wird oft mit dem US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump verglichen. Wie diesem gelingt es ihm, sich als „neu und unverbraucht”, als „anti-systemisch” und „gegen Korruption” zu inszenieren, was umso erstaunlicher ist, weil er auf eine lange parlamentarische Karriere zurückblicken kann. Allein 27 Jahre ist er Abgeordneter im Kongress, allerdings für neun verschiedene Parteien. Die längste Zeit, von 2005 bis 2016, war er Abgeordneter der rechtskonservativen PP, deren Mitglieder von allen Parteien am stärksten in den Lava-Jato-Korruptionsskandal (s. LN 513) verwickelt sind. In einem Interview hat Bolsonaro zugegeben, selbst über die PP Zahlungen des Nahrungsmittelkonzerns Friboi erhalten zu haben.

In einem zentralen Punkt unterscheidet er sich allerdings vom Trump: Er kokettiert im Gegensatz zum selbst ernannten „Dealmaker” mit seinen fehlenden ökonomischen Kenntnissen und Erfahrungen. Wenn Journalisten nach seinem Wirtschaftsprogramm fragen, verweist er nur auf seinen zukünftigen „Superminister“: Paulo Guedes. Der hat 1979 an der Universität Chicago in Ökonomie promoviert, unter Brasiliens Wirtschaftswissenschaftlern ist der „Chicago Boy“ eher ein Außenseiter. Als Investmentbanker wurde er zum Millionär und gründete eine Privatuniversität. In zahlreichen Artikeln kritisiert er immer wieder die Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte. Im Kabinett von Bolsonaro hätte er ausreichend Möglichkeiten, es anders zu machen, denn dieser will ihm das Finanz-, Wirtschafts-, Planungsministerium ebenso unterstellen wie das Ministerium für Privatisierungen.

Bolsonaro plant, alle verbliebenen Staatsbetriebe sowie das Renten- und Bildungssystem zu privatisieren

Letzteres würde Guedes besonders gern besetzen. Als radikaler Neoliberaler will er die Politik weitestgehend aus allen gesellschaftliche Bereichen heraushalten. Er plant, alle verbliebenen Staatsbetriebe zu privatisieren, um die Staatsschulden zu begleichen. Außerdem will er das bestehende Renten- und Bildungssystem privatisieren und eine Einheitssteuer einführen, die für eine Hausangestellte mit einem Mindestlohn von rund 280 Euro ebenso gilt, wie für einen Multimillionär. Da Guedes über keinerlei Regierungserfahrung verfügt und noch nie in der Position war, unbeliebte Reformen gegen mächtige Interessensgruppen durchzusetzen, erscheint es eher unwahrscheinlich, dass er mit seinem Programm Erfolg hätte.

Bisher steht die brasilianische Wirtschaft dem Kandidaten Bolsonaro positiv gegenüber, vor allem der agro-industrielle Sektor, der im Parlament die stärkste informelle „Fraktion” mit den meisten Abgeordneten bildet. LN-Autor Thomas Fatheuer bereiste während des Wahlkampfs mit dem Bus die 1.700 Kilometer lange Bundesstraße zwischen Cuiabá und Santarém, eine Amazonasregion, die besonders von der Agro-Industrie (Soja und Rinder) geprägt ist: „Auf den gesamten 1.700 Kilometern habe ich, ohne jede Übertreibung, nur Wahlwerbung von einem einzigen Kandidaten gesehen: Bolsonaro. Teile des Landesinneren unter der Ägide des Agrobusiness haben sich total diesem Kandidaten zugewandt, der auch von diesen Kräften unterstützt wird”, berichtete er im Interview mit Radio Dreyeckland. Als sich Anfang Oktober die Meinungsumfragen zugunsten von Bolsonaro stabilisierten, wurde die Landeswährung Real gegenüber dem US-Dollar deutlich aufgewertet und an der Börse stiegen die Aktienkurse explosionsartig.

Wut und Angst seien die bestimmenden Emotionen dieses Wahlkampfs gewesen, ist die einhellige Einschätzung. Dies trifft ebenso auf die Anhänger*innen Bolsonaros zu wie auf seine Gegner*innen. Die Dämonisierung der Arbeiterpartei PT als Wegbereiterin des „Sozialismus”, die aus Brasilien ein „zweites Kuba” machen wolle, ist bereits seit mehreren Jahren verbreitet.

Der höchste Anteil an Bolsonaro-Fans findet sich unter weißen Männern aus der Mittelschicht, die sich ihrer Privilegien beraubt sehen.

Verschwörungsideologische Befürchtungen vor einer „Genderdiktatur“ an den Schulen, trugen zu den Angstszenarien bei. Der höchste Anteil an Bolsonaro-Fans findet sich unter weißen Männern aus der Mittelschicht, die sich durch die Forderung nach gleichen Rechten für alle und ihrer politischen Umsetzung, z.B. durch Quoten an Universitäten, ihrer Privilegien beraubt sehen. Die juristische Verfolgung der zahlreichen Korruptionsskandale, die zur Verhaftung von führenden Politiker*innen fast aller Parteien führte, hat das Ausmaß an Korruption zumindest teilweise öffentlich gemacht. Für viele Wähler*innen hat dies die gesamte politische Klasse des Landes diskreditiert. Bolsonaro konnte sich mit seinen provokanten Aussagen und Regelverstößen von der „politischen Elite” medial erfolgreich abgrenzen – eine Parallele zum US-amerikanischen Präsidenten Trump.

Fernando Haddad, der zunächst nur als Vizepräsident unter Präsidentschaftskandidat Lula von der PT nominiert worden war, wurde von Lula selbst als Kandidat ausgewählt. Als ehemaliger Bürgermeister von São Paulo, mit Abschluss als Jurist und Ökonom sowie einem Doktor in Philosophie, vertritt Haddad einen ganz anderen Typ von PT-Politiker als der ehemalige Metallgewerkschafter Lula. In der größten Stadt Brasiliens war er als Bürgermeister durchaus erfolgreich, auch haushaltstechnisch. Auf der anderen Seite konnte er seine moderne Stadtpolitik selbst unter PT-Wähler*innen nur schwer vermitteln, gerade der Ausbau von Busspuren und Fahrradwegen rief große lokale Widerstände hervor.

Erst in allerletzter Minute hatte die PT die formale Kandidatur von Lula – der in den Umfragen auch aus dem Gefängnis heraus immer mit mehr als 40 Prozent führte – durch Haddad ersetzt. Dieser hatte dadurch weniger Zeit für seine persönliche Kampagne, konnte jedoch die Anzahl seiner Wählerstimmen in weniger als vier Wochen von 9 auf 29,3 Prozent steigern.
Selbst wenn das schlimmste anzunehmende Szenario für die demokratischen Kräfte und sozialen Bewegungen in Brasilien – ein Wahlsieg von Jair Bolsonaro im ersten Wahlgang – nicht eingetreten ist, sind die Ergebnisse mehr als besorgniserregend. Mit 46 Prozent der Stimmen hat Bolsonaro einen Vorsprung von nahezu 17 Prozentpunkten gegenüber Haddad. Meinungsforschungsinstitute sagten zudem voraus, dass es für Haddad deutlich schwieriger werden würde, im zweiten Wahlgang gegen Bolsonaro zu gewinnen. Andere Kandidaten, wie Ciro Gomes von der sozialdemokratischen PDT (12,5 Prozent) oder Geraldo Alckmin von der rechtsliberalen PSDB (4,8 Prozent), sind für das bürgerlich-konservative Spektrum wählbarer als der PT-Kandidat. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass Haddad alle Wähler*innen von Ciro Gomes und weitere Stimmen gewinnen sollte, ist der Vorsprung von Bolsonaro groß. Es scheint, als sei ein rechtsextremer Präsident in Brasilien nicht mehr aufzuhalten.

WIDERSTAND IN AMAZONIEN

Wächter des Waldes Die Guardiões da floresta kämpfen gegen Abholzung des Urwaldes (Foto: survivalinternational.org)

 

Zunächst hatte keine öffentliche Behörde sich des Falls Jorginho Guajajara angenommen. Dann behauptete die Polizei aus der naheliegenden Stadt Arama, dass der Mann durch Ertrinken umgekommen sei. Die Guajajara-Gemeinde bestreitet das heftig und hat nun auf föderaler Ebene die Polizei hinzugezogen, die den Körper exhumiert, um erneut zu überprüfen, unter welchen Umständen der Guajajara-Führer umgekommen ist. Erst Ende September kann mit Ergebnissen der Untersuchung gerechnet werden.

Für die Guajajara ist sicher: Es war Mord – und nicht der erste. Im Konflikt mit den illegalen Holzfäller*innen seien seit dem Jahr 2000 rund 80 Gemeindemitglieder umgebracht worden, berichten sie. Die meisten Toten haben sie am selben Ort oder in der Umgebung gefunden, eben­falls mit gebrochenem Genick. Dort, in der Nähe des Flusses, verläuft die Grenze zwischen der Gemeinde der Guajajara und der Gemeinde Arama.

Allein im Jahr 2016 wurden drei Guardiões durch die Holzmafia getötet

Mit Jorginho Guajajara hat es einen Anführer der Gemeinde getroffen, der besonders aktiv gegen die Holzmafia gewesen war. Der 56-Jährige war Teil der Widerstandsgruppe Guardiões da floresta („Wächter des Waldes“), die seit Jahren gegen das Abholzen des Urwalds kämpft. „Wir patroullieren, wir finden die Holzfäller, zerstören ihre Arbeitsgeräte und schieben sie ab“, sagte einer von ihnen ohne seinen Namen zu nennen im Mai gegenüber der Nichtregierungsorganisation Survival International, die sich für die Rechte indigener Völker einsetzt. „Wir haben viele Holzfäller gestoppt. Es funktioniert.“ Im Mai erst hatten die Guardiões eine Bande von Holzfäller*innen überwältigt und deren mit illegal gefälltem Holz beladenen Wagen in Brand gesetzt. Laut dem Onlineportal IHU waren diese Holzfäller*innen eine polizeilich gesuchte Bande, die von den Guardiões gefangen genommen und später einer bewaffneten Einheit der brasilianischen Umweltbehörde Ibama übergeben wurden.

Ein Video des brennenden Trucks schickten die „Wächter des Waldes“ an Survival International mit der Bitte um Verbreitung. Sie berichteten in diesem Zuge von mehreren durch die Holzmafia gelegten Bränden im Wald und von immer wieder neuen Morddrohungen gegen die Guajajara. Allein im Jahr 2016 wurden drei Guardiões durch die Holzmafia oder deren Auftragsmörder*innen getötet, wobei nicht klar ist, ob es sich dabei eventuell um dieselben Personen handeln könnte.

Das Gebiet Araribóia, in dem die Guajajara wohnen und wo die Holzmafia rodet, gilt als eines der bedrohtesten in Amazonien, was die Vernichtung des Urwaldes betrifft. 70 Prozent des Gebietes wurden laut dem staatlichen Forschungsinstitut INPE bereits abgeholzt. Dabei leben in dieser Region auch einzigartige Tiere und Pflanzen, die es nirgendwo sonst in der Amazonas-Region gibt.

Eigentlich steht das Gebiet unter Natur- und Erhaltungsschutz, doch faktisch tut die brasilianische Regierung nichts, um das zu kontrollieren, geschweige denn durchzusetzen. Die Guajajara beklagen, dass die Holzfäller*innen und ihre Auftragsmörder*innen straffrei bleiben. Im Sommer 2017 reiste eine Gruppe der Wächter*innen in die Stadt Imperatriz und besetzte Büroräume öffentlicher Behörden, um gegen die Untätigkeit der Regierung zu protestieren. Mehrere Nichtregierungsorganisationen kritisieren, dass eine enge Verbindung zwischen der Holzmafia und der Politik besteht, sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene. Die Mafia sei „agressiv, mächtig und bewaffnet“, so Stephen Corry, Vorsitzender von Survival International.

„Die Arbeit der Wächter ist extrem mutig und unglaublich riskant“, meint auch Sônia Guajajara, ebenfalls eine führende Persönlichkeit der Gemeinde, die sich brasilienweit in Verbänden engagiert und die bei den nächsten brasilianischen Präsidentschaftswahlen in Brasilien für die sozialistische Partei PSOL als Vizepräsidentin kandidieren wird. Gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters sagte sie kurz nach dem Tod von Jorginho Guajajara: „Das ist nur einer der vielen Morde in Maranhão, der deshalb verübt wurde, weil indigene Völker ihr Land gegen Rodung schützen.“ Sie wolle die Untätigkeit der Regierung nicht länger hinnehmen, sagte die Politikerin.

Den Guardiões geht es auch um den Schutz der benachbarten Gemeinde der Awá, die jeden Kontakt mit Menschen außerhalb des Amazonas zurückweist und sich selbst nicht in der Lage sieht, der Holzmafia entgegenzutreten. Viele Awás wurden in den 1990er Jahren von Auftragsmörder*innen erschossen, einmal mehr vermuten sie die Holzmafia dahinter. „Die Awá sind unsere Verwandten und können nicht überleben, wenn ihr Wald vernichtet würde“, sagt einer der Guardiões. „So lange wir leben, kämpfen wir weiter für uns alle hier. Für die, die hier leben, und für die Natur.“

Besonders schwierig festzustellen ist, für welche Firmen die illegalen Holzfäller*innen in der Region von Araribóia roden. Die organisierten Morde und die Straflosigkeit, das Stillschweigen der brasilianischen Regierung, scheinen zumindest auf Geldmittel hinzuweisen. Neben der Holzmafia gibt es auch illegale Jagdaktivität, gegen die brasilianische Autoritäten genauso untätig bleiben. Auch Jäger*innen gefährden sowohl das Naturschutzgebiet als auch das daran gebundene, kulturelle Leben der dort ansässigen Gemeinden.

Trotz des Mordes an Jorginho Guajajara scheinen die Gemeinde und die Wächter des Amazonas jedoch nicht aufzugeben. Im Gegenteil: Sie gehen gezielt an die Öffentlichkeit. Die Guardiões haben auch eine Email-Vorlage verfasst, die Unterstützer*innen an die brasilianische Regierung schicken können, um sie zum Handeln aufzufordern. Bis jetzt wurden über 18.000 solcher Mails verschickt. Mit Sônia Guajajara steht weiterhin eine starke Persönlichkeit an ihrer Spitze, die für mehr Öffentlichkeit sorgen kann, auch wenn sie als Kandidatin der PSOL derzeit wegen des Wahlkampfes nicht mehr vor Ort ist.

VERFRÜHTE MIDLIFE-CRISIS

Sie waren zu viert: Aurora, Emiliano, Antero und Andrei „Duke“ Dukelsky. Ein Quartett, das um die Jahrtausendwende das digitale Fanzine Orangotango publizierte, Wegbereiter des Internets, Millennials, bevor man von Millennials sprach. Jung, wild, populär, belesen und provokativ erleben sie die intensivste Zeit ihres Lebens gemeinsam in Porto Alegre. Doch was bleibt, wenn junge Wilde älter werden? Aurora hat trotz ihres Erfolgs als Bloggerin den Journalismus geschmissen und schlägt sich als Doktorandin mit bahnbrechenden Forschungen zu Zuckerrohr und misogynen Professoren herum. Andrei veröffentlichte drei Romane und wird „eines der vielversprechensten Talente der zeitgenössischen brasilianischen Literatur“; gleichzeitig begeht er „digitalen Selbstmord“, indem er alle seine Internet-Accounts löscht. Antero berät die ganz großen Firmen zu Kommunikations-Strategien, hat Geld, Frau, Kind und eine Reihe Online-Affären. Emiliano, sieben Jahre älter als die anderen, wird mäßig erfolgreicher freier Journalist und Autor, der offen schwul lebt.

Viel miteinander zu tun haben sie, 15 Jahre nach der Zeit mit Orangotango, nicht mehr. Dann stirbt Andrei völlig überraschend, erschossen bei einem Raubüberfall auf seiner Joggingrunde. Anlass für Aurora, Antero und Emiliano den Freund zu beerdigen, auf Spurensuche in die Vergangenheit zu gehen und die Frage zu beantworten, wer der immer rätselhafte „Duke“ eigentlich war.

Der Autor Daniel Galera – auch er ist 1979 geboren, lebt in Porto Alegre und gilt als großes Talent der zeitgenössischen brasilianischen Literatur – wählt die eher konventionelle Ausgangssituation eines plötzlichen Todesfalles, um viele kleine und einige größere Geschichten aus den „Nullerjahren“ zu erzählen, immer wieder durchbrochen von Ausflügen in das heutige Brasilien: die Streiks der Busunternehmen, die großen Proteste von 2013, die immer weiter zunehmende Gewalt auf den Straßen. Er bleibt dabei ganz in seinem Universum der brasilianischen Mittelklasse, ihren Aufstiegsnöten und Abstiegsängsten. Das große Thema des Romans So enden wir (im Original „Zwanzig nach zwölf“), atmosphärisch und sprachlich überall angedeutet, ist aber eine irgendwie drohende Apokalypse: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich irgendwas bessern wird. Jeder weiß doch, was falsch läuft und was man besser machen könnte, aber was gemacht werden könnte, wird nicht gemacht, und deswegen kann man sich gar nicht mehr vorstellen, dass es gemacht werden könnte. Ich fürchte, ich gehöre allmählich zu den Leuten, die an das Ende der Welt glauben. Dabei fand ich das immer so lächerlich“, sagt Aurora, als sie zu dritt nach der Beerdigung in „ihrer alten“ Bar sitzen.

Aurora als Biologin übernimmt den Part der Mahnerin in der Wüste, zieht auch die radikalsten Konsequenzen aus ihrer Kritik. Doch mit dem Fortgang der Handlung wächst das deutliche Gefühl, dass es den dreien nicht wirklich um eine drohende ökologische Katastrophe oder fehlende gesellschaftliche Veränderung geht, sondern sie ganz einfach von „Lebensüberdruss“ geplagt werden. 15 Jahre nach den intensiven, wilden Zeiten ist ihr Leben schal geworden. Am Ende folgt Aurora einem Fabelwesen in den Wald und Emiliano macht eine gänzlich neue sexuelle Erfahrung: „Es war ein neues, unerschlossenes Terrain, etwas, das ich noch nicht kannte und das mich mit einer Energie erfüllte, die ich mir für später aufbewahren würde. Für einen Moment in der Zukunft, der alles sein konnte, nur nicht langweilig. Solange diese Art von Energie existierte, dachte ich, bevor ich einschlief, solange ein paar von uns sie noch in sich spürten, auch wenn wir sie gerade nicht nutzten, würde unsere Welt weiterbestehen.“ Liest man den Roman als aktuelles Psychogramm der aufgeklärten brasilianischen Mittelklasse, dann ist an Verbesserungen wirklich nicht zu denken.

DAS GIFTPAKET

Eine Sojaplantage in Argentinien / Foto: Pedro Reyna

Die PL 6299 sieht zum einen vor, dass nicht mehr die jeweiligen Fachgutachten und Stellungnahmen des brasilianischen Bundesgesundheitsamts Anvisa, des Bundesumweltamts Ibama und des Bundesagrarministeriums entscheidend für Freigabe oder Verbot einer potentiell gesundheitsgefährdenden oder umweltschädlichen Substanz sind, sondern nur noch alleine das Agrarministerium. Anvisa und Ibama können dem Entwurf zufolge zwar noch Stellungnahmen abgeben, aber nicht mehr mitent­scheiden. Des Weiteren soll der Begutachtungs­zeitrahmen für Freigabe oder Verbot einer Substanz maximal zwölf Monate betragen. Sollten binnen dieses Zeitraumes die toxikologischen Untersuchungen nicht abgeschlossen sein, kann das Agrarministerium eine vorläufige Freigabe erteilen. Sollte es sich um eine Substanz handeln, die in mindestens drei OECD-Mitgliedstaaten registriert und freigegeben ist, kann eine Freigabe in Brasilien gar ohne eigene Untersuchungen erfolgen. Die Gesetzesinitiative sieht zudem vor, dass alle bisherigen Mitbestimmungsrechte von Landes- und Munizipalebenen beim Entscheidungsfindungsprozess zur toxikologischen Bewertung von Agrargiften wegfallen. Verpackt wird das „Gesetzespaket des Gifts“, wie es Kritiker*innen titulieren, mit einem Werbetrick: Der Begriff „Agrargifte“ soll demnach in Zukunft, wie auch in Deutschland schon lange üblich, durch die Wortwahl „Pflanzenschutzmittel“ ersetzt werden.

Der Gesetzestext wird nun im Plenum von allen Abgeordneten zur Abstimmung gebracht, dann muss noch der brasilianische Senat entscheiden. Aller Voraussicht nach würde dies aber erst nach den Präsidentschafts- und Kongresswahlen Ende dieses Jahres erfolgen. Da aber die parteiübergreifende Fraktion der Großgrund­besitzer­*innen und Farmer*innen, die bancada ruralista, einen Großteil der Abgeordneten im brasilianischen Nationalkongress stellt, steht Brasilien wohl eine weitere Ausweitung des Verbrauchs von Herbiziden, Insektiziden und Fungiziden bevor.

„Dieses Gesetzespaket des Gifts zertrümmert die letzte noch bestehende Gesetzeslage zum Schutz der Bevölkerung. Es wurde von Abgeordneten im Dienst der transnationalen Agrargiftkonzerne geschrieben und wird nur diesen Firmen Gewinne bringen“, sagt Alan Tygel von der brasilianischen Permanenten Kampagne gegen Agrargifte und für das Leben (Campanha Permanente Contra os Agrotóxicos e Pela Vida) im Gespräch mit LN. Tygel kritisiert vor allem die künftige alleinige Zuständigkeit des Agrarministeriums für den Prozess der Freigabe oder des Verbots eines Agrargifts. „Genau dieses Ministerium wird von den Großfarmern kontrolliert“, so Tygel. Hinzu kommt: „Das neue ‚Gesetzespaket des Agrargiftes‛ beschneidet nicht nur massiv die Rolle der Gesundheits- und Umwelt­behörden bei der Registrierung der Agrargifte, es würde auch die Vorschriften des Registers krebserregender Agrargifte abschaffen. Aktuell haben 250.000 Menschen eine Petition gegen dieses Gesetzesvorhaben unter­zeichnet!“, erinnert der Aktivist.

Aber die Aktivist*innen sind nicht untätig. „Aktuell haben wir eine Basisinitiative mit dem Ziel gestartet, gegen dieses Agrargiftpaket unsere eigene Politagenda der landesweiten Reduzierung der Agrargifte ins Feld zu führen, um so die Gifte zu reduzieren und gleichzeitig die Agrarökologie auszubauen“, sagt Tygel. Ein weiter Weg, der allerdings nun durch die Verabschiedung des Gesetzesentwurfs in der zuständigen Kommission im Kongress behindert wird.

Dabei sind es nicht nur die Aktivist*innen und Umweltschützer*innen, die gegen das Giftpaket des brasilianischen Nationalkongresses Sturm laufen. Sogar die Vereinten Nationen zeigten sich sehr besorgt. Bereits Mitte Juni sandten die fünf UN-Sonderberichterstatter*innen für Menschenrechtsfragen, Gesundheit, Ernährung, Wasser und Umweltfragen einen offenen Brief an Brasiliens UN-Botschafterin, in dem sie vor den Folgen des Gesetzesentwurfes warnten und sich um die Wahrung der Menschenrechte der Landarbeiter*innen, der lokalen Gemeinschaften sowie der Konsument*innen sorgten.

Der Aktivist Alan Tygel hatte im Mai auch in Bonn auf der Jahreshauptversammlung der Bayer AG einen kritischen Protestbeitrag vor den zu Tausenden anwesenden Kleinaktionär*innen verlesen. Er erinnerte an die oft zu wenig beachtete Seite der verdeckten Lobbyarbeit der Konzerne. Er warf den Konzernvorständen von Bayer vor, dass Vertreter*innen der Firma Monsanto, die Bayer nun für einen Milliardenbetrag übernimmt, allein im vergangenen Jahr an neun Lobby-Treffen mit dem brasilianischen Agrarministerium teilgenommen haben, und Bayer an sechs, wie die Daten des brasilianischen Transparenzregisters verraten. Einige von diesen Treffen waren direkt mit Brasiliens Landwirtschaftsminister Blairo Maggi.

Bayers herausragendes Interesse an Brasilien sei dabei klar, so Tygel. „Aus der Sicht von Bayer ist Brasilien ein sehr vielversprechendes Land. Brasilien ist das Land, das am meisten Agrargifte verbraucht, und dies weltweit“, so Tygel.

Es ist klar: Brasilien ist Weltmeister. Weltmeister im Spritzen von Agrargiften. 2009 wurden im Land erstmals eine Milliarde Liter Pestizide und Herbizide in der expandierenden Landwirtschaft auf die Äcker ausgebracht, Tendenz seither weiter ansteigend. Rechnet man die jährlich ausgebrachte Menge auf die Bevölkerung herunter, so kommen 7,3 Liter Agrargifte auf jede*n brasilianische*n Bürger*in.

„Und Brasilien ist das Land, in dem der Verkauf von Agrargiften voraussichtlich am meisten wachsen wird“, prognostiziert der Aktivist Tygel. „In Brasilien war Bayer im Jahr 2014 die Firma, die am zweitmeisten Agrargifte verkaufte. Nach dem Kauf von Monsanto wird Bayer auf Platz 1 landen, mit einem Marktanteil von rund 23 Prozent“, sagt Tygel.

Also alles einfach nur ein Geschäft? Ja, aber eines mit Folgen. Denn, so Tygel, in Brasilien müssten jedes Jahr 6.000 Menschen wegen Intoxikation durch Agrargifte medizinisch behandelt werden. „Aber wir wissen, dass die realen Zahlen mit Sicherheit zehnfach größer sind“, sagt Tygel. Denn die Mehrzahl der Vergifteten lebe auf dem Land, dort, wo es keinen oder kaum Zugang zu medizinischer Versorgung gibt. „Landwirte begehen Selbstmord, Kinder werden mit Schäden geboren, Babys weisen Anzeichen von Pubertät auf. Alles nachgewiesenermaßen wegen der Agrargifte“, so Tygel.

Diese Zahlen werden auch durch Brasiliens Gesundheitsministerium gestützt. Demnach erlitten im Jahr 2017 5.501 Menschen Vergiftungen durch Kontakt mit „Pflanzenschutzmitteln“. Im vergangenen Jahr sind dem Gesundheitsministerium zufolge 150 Menschen an den Vergiftungen in Brasilien gestorben.

Unklar sind indes die Langzeitfolgen. Niemand weiß, wie viele Menschen durch anhaltenden Konsum von Agrarchemikalien in Form von Rückständen in Nahrungsmitteln im Lauf der Jahre an Krebs erkrankten. Laut Zahlen der Nationalen Behörde für Gesundheitsüberwachung Anvisa weisen 15 Prozent der in Brasilien konsumierten Nahrungsmittel gesundheitsgefährdende Werte bei Rückständen von Pflanzen­schutzmitteln auf.

Das Beispiel des überwiegend ländlichen Bundesstaats Mato Grosso, dort, wo das meiste Soja und Getreide Brasiliens angebaut wird, macht die ganze Dimension des Problems deutlich. Eine Studie der Bundesuniversität von Mato Grosso stellte 1.442 Fälle von Magenkrebs, Speiseröhren- und Bauchspeicheldrüsenkrebs in 14 Munizipien fest, in denen zwischen 1992 und 2014 Soja, Mais und Baumwolle angebaut wurden. In Vergleichsmunizipien, wo nichts dergleichen angebaut wurde, lag der Wert der Krebsfälle bei 53. Die Todesrate bei Kindern im Alter zwischen 0 und 19 Jahren hat sich demnach von 2,97 Prozent im Jahr 2000 auf 3,76 Prozent im Jahr 2006 erhöht. Im Jahr 2006 wurde Krebs bei Kindern zur zweithäufigsten Todesursache, 8 Prozent aller Todesfälle bei Kindern in der Region waren auf Krebs zurückzuführen.

In der Boomregion des landwirtschaftlichen Agrobusiness in Mato Grosso, in der Gemeinde Lucas do Rio Verde, führten die Forscher*innen der Bundesuniversität von Mato Grosso gemeinsam mit der staatlichen Bundesstiftung Oswaldo Cruz eine Untersuchung der Auswirkungen dieser Anbaugebiete und des Agrargiftverbrauchs vor Ort durch. Das Ergebnis: Die Wissenschaftler*innen fanden in 88 Prozent der Blut- und Urinproben von untersuchten Lehrer*innen auf dem Land Rückstände von Agrargiften, vor allem Glyphosat und Pyrethroide – also synthetische Insektizide. In 83 Prozent der zwölf Trinkwasserbrunnen wurden mehrere Agrargifte gefunden. Dasselbe gilt für 56 Prozent der entnommenen Regenwasser- und 25 Prozent der Luftproben; in 100 Prozent der Proben der untersuchten Muttermilch von 62 stillenden Müttern wurden Rückstände von Agrargiften wie DDE, Endosulfan, Deltamethrin und DDT gefunden.

Auswertungen der letzten verfügbaren Daten des staatlichen Instituts für Agrarsicherheit des Bundesstaats Mato Grosso, Indea, zeigen, dass beispielsweise allein im Munizip Sapezal, ebenfalls in Mato Grosso, im Jahr 2012 neun Millionen Liter Agrargifte zur Anwendung gebracht wurden. Würde man diese Menge in olympische Schwimmbecken füllen, ergäbe dies acht bis oben mit Agrargiften gefüllte Becken. Rechnet man diese Menge auf die Bevölkerung in Sapezal herunter, kommt man auf einen Wert je Bürger*in, der 52 Mal höher liegt als der brasilianische Durchschnitt von den erwähnten 7,3 Liter je Person: In Sapezal liegt dieser Wert bei 393 Liter je Person. Brasilien ist Weltmeister.

BILDUNG ZU DIESEL

Die Bilder in den Medien vermittelten ein Horrorszenario: Eine weinende hochschwangere Frau bettelt an einer Tankstelle um Benzin für ihr Auto, „weil die Ambulanzen nicht fahren“. Kein Insulin für Diabetes-Patient*innen in den Krankenhäusern, leergefegte Regale in den Supermärkten. Komplett überfüllte Autobusse, kilometerlange Schlangen an den Tankstellen, Streichung von Inlandsflügen an 14 Flughäfen, weil kein Kerosin geliefert werden kann. Und der Präsident setzt nach den ersten gescheiterten Verhandlungen das Militär ein, um die Blockaden der Lkw-Fahrer*innen auf den Fernstraßen aufzulösen. Grundlage dafür ist das Gesetz zur „Garantie von Gesetz und Ordnung“, das zum ersten Mal für das gesamte Land galt.

Doch am Abend des zweiten Tages nach dem Ende des landesweiten Streiks der selbstständigen Fuhrunternehmer*innen ist in der Millionenstadt Recife im Nordosten des Landes die Versorgungslage weitestgehend normal. Die langen Schlangen an den Tankstellen haben sich auf fünf bis zehn Autos reduziert. In den großen Supermärkten gibt es vereinzelte Lücken bei den Frischwaren wie Fleisch oder Gemüse, aber von einer Krise kann keine Rede sein. Und die – jährlich von starken Überschwemmungen der Straßen geprüften – Recifenses nehmen den Streik denkbar gelassen. „Wir machen sowieso einmal im Monat einen Großeinkauf, Obst und Gemüse kaufen wir alle vierzehn Tage“, sagt Kilsa Oliveira, die in einem Friseursalon arbeitet. „Da hat es uns an nichts gefehlt. Und mein Bus ist immer voll, das war nichts Neues.“ So oder so ähnlich klingt das bei fast allen, die den Streik beschreiben. Stärker als die Privatleute haben die Blockaden allerdings das Gewerbe getroffen, auch Restaurants sind auf tägliche Lieferungen angewiesen.

Und die öffentlichen Mittel für Gesundheit, Bildungm Wissenschaft und Würde werden zu Diesel

Aber auch hier galt: Im Ernstfall wurde einfach die Speisekarte umgeschrieben. Am schwierigsten war die Versorgung mit Benzin, drei bis vier Stunden zu warten und dann nicht einmal volltanken zu können – eine echte Geduldsprobe. Andere stiegen auf Öffentliche um, deren Verkehr in vielen Städten eingeschränkt weiter funktionierte. So fuhr in São Paulo immerhin jeder zweite Bus. Da viele Taxis Hybridmotoren haben, konnten sie Gas oder Alkohol als alternativen Treibstoff nutzen. Deshalb empört sich Taxifahrer Sandro Manga auch eher über diejenigen, die versuchten, aus dem Streik Geld zu schlagen, als über die Lkw-Fahrer*innen: „Das Benzin für neun Reai und 90 Centavos (2,27 Euro) zu verkaufen, das ist unverschämt. Die versuchten, auf unsere Kosten reich zu werden. Aber sie werden eine sehr hohe Strafe von 150.000 Reais erhalten, was ich ihnen wirklich gönne!“

Betroffen waren auch Universitäten und Schulen. „Wir mussten unsere Kurse für zehn Tage aussetzen“, erzählt Fatima Silva, die in Recife als Dozentin an einer Fakultät für Mode und Design arbeitet: „In den Außenbezirken fuhren kaum Busse, so dass viele Studierende gar nicht kommen konnten. Erst am vierten Juni konnten wir den Unterricht wieder aufnehmen.“

Doch auch wenn das Katastrophenszenario eher medial erzeugt war: Die selbständigen Fuhrunternehmer*innen haben mit ihrer zehntägigen Blockade-Aktion der Regierung Temer ihre erste große innenpolitische Niederlage beschert. Neben einer Senkung des Preises für Diesel – dieser ist in den vergangenen zwölf Monaten um fast 20 Prozent gestiegen – forderten sie eine Steuerbefreiung des Treibstoffs sowie eine festgelegte Untergrenze für Frachtgebühren. Und sie hatten Erfolg, denn nach nur wenigen Verhandlungstagen ist die Regierung eingeknickt, um die Straßen wieder frei zu bekommen und eine Ausweitung der Proteste zu verhindern.

Auch erhielten die Lkw-Fahrer*innen für ihre Blockaden durchaus Unterstützung von der Bevölkerung, selbst in armen ländlichen Gebieten im Sertão wurden sie tagelang mit Essen und Getränken versorgt. Schwerer tat sich die traditionelle Linke mit der Unterstützung. Da die meisten der streikenden Fahrer*innen zumindest offiziell selbständig sind, gehören sie nach Einschätzung der Linken eher zu den zu bekämpfenden Unternehmer*innen denn zur arbeitenden Klasse. Hinzu kommt, dass Teile der Fuhrunternehmer*innen nach dem Streik auf einer Demonstration in São Paulo den Eingriff der Militärs („Intervenção Militar“) in die brasilianische Innenpolitik forderten. Doch die Blockierenden sind nicht mehrheitlich den Rechten zuzuordnen; die vielen aus den Blockaden in den sozialen Medien veröffentlichen Videos und Interviews zeigen deutlich mehr Stellungnahmen zugunsten der Freilassung des ehemaligen Präsidenten Lula und mit Zuspruch für dessen Arbeiterpartei PT.

Aufgegriffen wurden die Proteste von der Gewerkschaft der Raffinerie-Arbeiter*innen, FUP. Diese erklärte einen Warnstreik von 72 Stunden ab dem 30. Mai und forderte eine erneute staatliche Regulierung der Preise für Benzin, Diesel und Gas sowie das Ende der täglichen Anpassungen an den Weltmarktpreis – was die große Mehrheit der Bevölkerung sicher aufs Wärmste begrüßen würde. Weiter ein Ende der Privatisierung des halbstaatlichen Mineralölunternehmens Petrobras und eine erneute Erhöhung der Produktion in den Raffinerien, um den auf 20 Prozent gestiegenen Marktanteil an internationalen Erdölderivaten wieder zu senken. Außerdem forderten sie den sofortigen Rücktritt des Direktors der Petrobras, Pedro Parente, der im Auftrag der Regierung Temer die Preisregelungen außer Kraft gesetzt hatte. Zumindest die letzte Forderung wurde schnell erfüllt, Pedro Parente ist bereits zurückgetreten. Bis zum Ende des Monats will die FUP entscheiden, ob weitere Streiks folgen sollen.

Ein weiteres Zugeständnis der Regierung ist die Senkung des Preises für den Liter Diesel um 0,46 Centavos, allerdings verkaufen bisher nur wenige Tankstellen Diesel zu diesem Preis. Denn, wie es die Folha de São Paulo formuliert, „das Dekret des Präsidenten verfügt den Preisnachlass durch die Raffinerien. Von den Raffinerien bis zu den Tankstellen bestimmen freie Verhandlungen den Preis. Es stellt sich die Frage, ob die Aktionen der Regierung an den Zapfsäulen verfassungsgemäß sind.“ Die teilweise Steuerbefreiung des Treibstoffs – insgesamt werden fünf verschiedene Formen von Steuern für Union und Bundesstaaten erhoben, die u.a. für den Straßenbau eingesetzt werden – sorgen für Unmut bei den Landesregierungen. Und die neuen Untergrenzen für Frachtgut rufen die Unternehmerverbände auf den Plan. Der Unternehmerverband von São Paulo, FIESP, hat bereits mit einer Klagewelle gedroht. So wird seit dem Ende des Streiks nachverhandelt und jeden Tag eine neue Lösung für die Einhaltung der Zusagen diskutiert.

Bereits am 30. Mai veröffentlichte die Regierung Temer das Präsidialdekret 839, eine 35 Seiten lange Liste mit Streichungen von finanziellen Mitteln in Regierungsprogrammen und Subventionen. Mehr als 1,2 Milliarden Reais (270 Millionen Euro) werden u.a. in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Förderung von Frauen und der kleinbäuerlichen Landwirtschaft gestrichen. Der größere Teil der Budgetkürzungen, 12,1 Milliarden Reais, betrifft allerdings bisherige Subventionen, darunter in der Getränkeindustrie. Die Liste mit Kürzungen war bereits seit längerem erwartet worden, denn seit dem Oktober 2016 sind die Ausgaben für staatliche Sozialprogramme für 20 Jahre „eingefroren“. Die versprochene Preissenkung für Diesel muss daher durch weitere Kürzungen finanziert werden – oder wie es der Blogger Leonardo Sakamoto formulierte: „Und die öffentlichen Mittel für Gesundheit, Bildung, Wissenschaft und Würde werden zu Diesel.“

KARNEVAL DER KRITIK

Foto: Brasil de Fato (CC BY-NC-SA 2.0)

Der kritische Geist, der in den Anfängen des Karnevals so deutlich präsent war, kehrte dieses Jahr bis zum Aschermittwoch in die Samba-Schulen von Rio de Janeiro zurück. Herausragend war die Parade der Samba-Schule Paraíso do Tuiuti, die aus der gleichnamigen Favela im Viertel São Cristóvão stammt. Ohne um den heißen Brei herum zu reden und ohne sich zu verstecken, zeigte Tuiuti Kunst, Samba und Sozialkritik auf höchstem Niveau, unter dem Motto „Meu Deus, Meu Deus, Está Extinta a Escravidão?“ (Mein Gott, mein Gott, ist die Sklaverei ausgestorben?) Schnell zeigte sich in den Reaktionen der Öffentlichkeit und der sozialen Medien, dass diese Frage der Sambaschule aus der armen Nordzone von Rio de Janeiro rhetorisch war.

Die Mitglieder von Tuiuti tanzten als Lohnsteuerkarten, eine Anspielung auf die Reform der Arbeitsgesetze, und schufen mit einem Vampir mit Präsidentenschärpe, einer direkten Repräsentation von Michel Temer, eines der markantesten Bilder. Der Refrain des Sambas fand sein Echo weit über Rio de Janeiro hinaus und wurde weltweit von Zeitungen aufgegriffen, die die expliziten politischen Anspielungen erklärten, die in den letzten Jahren nicht sehr häufig im Sambódromo vorkamen. Gleichzeitig forderte dieses große Medienecho das Narrativ der großen brasilianischen Medienkonzerne heraus, die in ihrer Mehrheit die Reformen der brasilianischen Bundesregierung unterstützen.

„Wir sagen, was das Volk will“, erklärte Thiago Monteiro, Direktor der Samba-Schule Paraíso Do Tuiuti in einem Interview mit dem Blog von Intervozes. Das Ziel war, das alltägliche Brasilien zu zeichnen, so wie es im Karneval in den 1970ern und 1980ern üblich war. Zum Aufsehen, das der Auftritt erregt hatte, und zu der Interpretation, dass Medienkritik ebenfalls ein Teil der Präsentation war, sagte er nur: „Die Antworten muss die Gesellschaft geben. In unserer Parade stellen wir als Samba-Schule nur Fragen. Alle Elemente wurden eingesetzt, damit das Volk die Antworten gibt.“

Und offenbar hat die Samba-Schule einen Nerv getroffen. Nach der Parade stand der Hashtag #tuiuti an der Spitze der Trends des Nachrichtenportals Uol sowie bei Twitter. Am Rosenmontag wurde die Parade von Tuiuti von 92 Prozent der Befragten als beste Präsentation des Karnevals in Rio de Janeiro bezeichnet. Unter den wenigen Samba-Schulen, die politische Kritik äußerten, war Paraíso de Tuiuti sicher die mit der mutigsten Haltung. Ihr Auftritt provozierte „Temer Raus!“-Rufe von den Tribünen, was sich in zahlreichen Straßenumzügen in verschiedenen Bundesstaaten wiederholte. Während der 74 Minuten ihrer Parade präsentierte die Samba-Schule eine scharfe und aktuelle Gesellschaftskritik, die von der Fortdauer gesellschaftlicher Strukturen des Zeitalters der Sklaverei ausgeht und die Ausbeutungsverhältnisse der Arbeit, in der Stadt wie auf dem Land, zeigte. Sie machte so die zunehmende Prekarisierung der Arbeiter*innen Brasiliens deutlich sichtbar. Am Ende der Parade kritisierte Tuiuti sehr direkt die Reform der Arbeitsgesetze: In einer Sektion mit dem Titel „Guerreiros da CLT“ (Krieger der Arbeitsgesetze) trugen die Tänzer*innen ein Kostüm voller Arme, die „schmutzige Lohnsteuerkarten“ hielten.

Beredtes Schweigen der Presse zum “neoliberalen Vampir”.

Wer den Umzug im Fernsehen anschaute – exklusiv vom Fernsehsender O Globo übertragen – verstand den Kontext aus den Bildern, die so plastisch von den Kostümen und riesigen Karnevalswagen geschaffen wurden. Der Kommentar im Fernsehen beschränkte sich auf die Bezüge zur Vergangenheit in der Präsentation. Angesichts der letzten Reihen der Parade, die als „manifestoches“ kostümiert waren – eine Anspielung auf die Mittelschicht-Demonstrant*innen, die ab 2013, stets in Trikots der Nationalmannschaft gekleidet, auf Töpfe schlugen – blieben die Kommentator*innen Fátima Bernardes, Alex Escobar und Milton Cunha rein beschreibend, ohne irgendeinen Bezug zur aktuellen Situation in Brasilien herzustellen. Als auf dem Höhepunkt der Parade schließlich der Vampir mit Präsidentenschärpe auftauchte, stellte Fátima Bernardes nur den Namen der Figur vor: „Das ist der neoliberale Vampir.“ Es folgten exakt acht Sekunden Schweigen, ohne irgendeinen zusätzlichen Kommentar, während das Abschlussbild des Umzugs mit dem Titel „Neues Sklavenschiff“ vorüberzog, was zu großem Erstaunen bei den Fernsehzuschauer*innen führte. Kein weiteres Wort über das Thema. Weder die Reform der Arbeitsgesetze, die im Juli 2017 verabschiedet wurde, noch die Rentenreform, die von der Regierung Temer durchgedrückt werden soll, waren Themen während der Übertragung aus dem Sambadrómo.

Tatsächlich ist die Liste dessen, was in den Medien nicht gesagt wurde, sehr lang. Dazu gehört auch, dass das Oberste Bundesgericht in der Woche vor Karneval die Landrechte der Quilombolas (Nachfahren von geflohenen Sklav*innen, Anm. d. Red.) bestätigt hatte. Obwohl dieses Thema bei den Aktionen der sozialen Bewegungen zentral war, ein Ergebnis der heftigen Debatten in der Gesellschaft, wurde kaum darüber berichtet, beeinträchtigt doch das Urteil die Interessen der mächtigen Agrarindustrie. Selbst angesichts eines Motto-Wagens, der die Quilombolas als Beispiel für den Widerstand der schwarzen Bevölkerung des Landes feierte und die verschiedenen Formen der Sklaverei bis zum heutigen Tag skizzierte, schwiegen die Journalist*innen von O Globo.

Vielen Zuschauer*innen schien das peinliche Schweigen der O Globo-Kommentator*innen eine Folge ihrer Überraschung über die Themenwahl von Tuiuti. Doch die Fakten gehen in eine andere Richtung: Der Direktor des Karnevals von Tuiuti erklärte, dass der Sender gleich dreimal die Werkstätten der Samba-Schulen besucht hätte. Er habe vorab alle Informationen über die Kostüme, die Motto-Wagen und die Themen erhalten. Die Kommentare hätten also sehr gut vorbereitet gewesen sein können, doch O Globo wählte die diskrete Linie der Selbstenthaltung, ohne viele Adjektive und zusätzliche Informationen.

Monteiro betonte, dass die Samba-Schule auf die große Bedeutung der Medien für die Bildung der öffentlichen Meinung ausdrücklich hinwies. Ein Mottowagen thematisierte die Erstveröffentlichung der Zeitung O homem de Cor (Der farbige Mann) Anfang des 19. Jahrhunderts, während der Debatte um die Abschaffung der Sklaverei. „Das war die erste Zeitung gegen die Sklaverei, die von einer schwarzen Person herausgegeben wurde. Wir reden hier von den Medien dieser Zeit, sie haben sicher dazu beigetragen, dass das Goldene Gesetz [Gesetz zur Abschaffung der Sklaverei vom 13. Mai 1888, Anm. d. Red.] unterzeichnet wurde. Das war eine wichtige Mobilisierung“, erklärte er. Während der Fernsehübertragung erwähnten die Kommentator*innen zwar, dass die Zeitung von Schwarzen geschrieben wurde und dass diese, aus Furcht vor Repressionen, anonym publizierten. Doch sie erwähnten mit keinem Wort, dass Schwarze bis heute in den brasilianischen Medien unterrepräsentiert sind, eine konkrete Form der Fortsetzung der Ausgrenzung, was die Präsentation von Tuiuti sehr wohl problematisierte.
So blieb es schließlich dem alternativen Medienportal Mídia Ninja überlassen, den „Vampir des Neoliberalismus“ zu interviewen. In dem über Instagram veröffentlichten Interview erklärte der Tänzer: „Wir haben viel unter den Korruptionsskandalen gelitten. Wir haben gesehen, wie die gewählte Präsidentin, die mehr als 54 Millionen Stimmen erhalten hatte, daran gehindert wurde, weiter zu regieren, durch einen höchst zweifelhaften politischen Prozess. Und das brasilianische Volk protestiert, verlangt, dass dieser Präsident zurücktritt. Wir wollen diesen Präsidenten nicht!“

Die Samba-Schule Tuitui versteht sich als urbaner Quilombo, also Widerstandsorganisation.

Bei O Globo gab es kein Interview mit dem Hauptdarsteller der Parade von Tuiuti. Aus dem Studio des Senders sandte aber der Komponist des Sambas von Tuiuti, Cláudio Russo, noch eine Nachricht: „Dieser Samba ist ein Widerstandsschrei gegen die schlimmste Institution, die es je gegeben hat, die Sklaverei. Mit dem Samba sagen wir, dass wir in Tuiuti nicht die Sklaven eines Herren sind.“

In den sozialen Netzwerken war davon die Rede, dass während der Live-Übertragung die Mikrofone ausgeschaltet wurden, als die „Temer Raus!“-Rufe im Sambódromo die verstärkte Musik zu übertönen drohten – diese Information konnte allerdings noch nicht bestätigt werden. Doch die Frage bleibt: Warum wurde auf diesen Protest gegen die aktuelle politische Situation auf der größten populären Kulturveranstaltung des Landes nicht näher eingegangen? Warum sind die brasilianischen Medien nicht in der Lage, die Debatte zu zeigen? Auf die Bildschirme zu bringen, was das Volk möchte – das, was Paraíso do Tuiuti auf so meisterhafte Weise geschafft hat?

Die Antworten sind vielfältig und sie sind struktureller Natur. Um einen Anfang zu machen, muss man sagen, dass sich die Samba-Schule Tuiuti als urbaner Quilombo versteht, als Widerstandsorganisation. Und der Karneval, insbesondere die Samba-Schulen, kommen aus der Arbeiter*innenklasse. Auf der anderen Seite waren die brasilianischen Medien immer in der Hand einiger weniger weißer Familien, Repräsentanten der Eliten des Landes.

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