„DIE WELT WIRD VON WIDERSPRÜCHEN BEWEGT“

Verônica Ferreira, vor genau 18 Monaten – also direkt nach der Amtsenthebung der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff durch den Senat – habe ich Sie das erste Mal interviewt (siehe LN 505/506) und nach der feministischen Analyse des Parlamentsputsches gefragt. Wie schätzen Sie die politische Situation in Brasilien heute ein?

Verônica Ferreira: Unsere Analyse des patriarchalen Charakters dieses Putsches hat sich bestätigt. Die öffentliche Politik für Frauen wurde völlig aufgelöst, ebenso wie die öffentliche Politik für LGTB und für die Gleichstellung der Schwarzen Bevölkerung. Es gibt eine sehr starke Präsenz der fundamentalistischen Sektoren in dieser Regierung sowie eine Offensive der fundamentalistischen religiösen Kräfte, in der Regierung wie im Parlament, um die Rechte der Frauen zu zerstören. Dies schließt die Leitung der äußerst reduzierten Frauenpolitik innerhalb des Ministeriums für Menschenrechte mit ein: Fátima Pelaes ist eine konservative Fundamentalistin, die sogar schon Gottesdienste innerhalb des Ministeriums abgehalten hat.

Was ist das Ziel dieser Politik?

VF: Die fundamentalistischen Kräfte in Brasilien sind mit ultra-neoliberalen Sektoren verbunden. Wir erleben eine absolute Verwüstung, nicht nur der Sozialpolitik, sondern auch des Ausverkaufs der natürlichen Reichtümer Brasiliens. Im November wurden mehrere halbstaatliche Unternehmen, darunter Petrobras, in großen Teilen zum Verkauf angeboten. Hinzu kommen die „Arbeitsreformen“, die schwarze Frauen besonders treffen, weil sie deren unsichere Arbeitsbedingungen praktisch institutionalisieren. Und die Rentenreform, die die Beitragsdauer drastisch erhöht.
Die Gesamtheit dieser Maßnahmen bestärkt unsere Analyse: Die Machtübernahme hat das Ziel, die öffentlichen Gelder, die Ressourcen des Staates, komplett zu übernehmen. Sich die natürlichen Reichtümer des Landes anzueignen und sie an das Finanzkapital und das ausländische Kapital zu übertragen.
Diese konservative Allianz hat ihre Macht konsolidiert und ihr Programm der Verwüstung des Landes etabliert. Dieses Programm hat die Wahlen 2014 verloren und wurde 2016 durch den Putsch dem Land trotzdem aufgezwungen. Die Geschwindigkeit der Verwüstung ist sehr groß. Diese Geschwindigkeit macht den Widerstand viel schwieriger.
Im Augenblick schöpfen wir Atem, um die Kraft der Mobilisierung wiederzugewinnen. Denn es ist nicht einfach, den Widerstand gegen diese Folge von Niederlagen aufrecht zu erhalten. Aber wir leisten Widerstand!
Analba Teixeira: Was in Brasilien passiert, hat die konservative Bewegung sehr gestärkt. Wir sehen den Rassismus wachsen, er existierte selbstverständlich bereits zuvor, aber die Akzeptanz wächst, die die Leute heute dem Rassismus entgegenbringen. Oder der Gewalt gegen Frauen. Der Homophobie. Seit 2016 wurde dies sehr viel stärker.

Kürzlich wurde aus konservativen Kreisen eine Unterschriftenaktion initiiert, mit der ein öffentlicher Auftritt der US-amerikanischen Feministin Judith Butler verhindert werden sollte. Wie hat die Frauenbewegung reagiert?

AT: Wenn so etwas passiert, dann reagieren die feministischen Kollektive und Bewegungen sofort, schreiben Protestbriefe, veröffentlichen Stellungnahmen und so weiter. Die sozialen Netzwerke sind dabei eine große Hilfe. Aber es sind so viele Sachen in letzter Zeit geschehen, eine nach der anderen, dass es schwierig ist, nicht den Überblick zu verlieren. Unsere aktuelle Strategie ist eine Massenmobilisierung zum 25. November, denn das Abtreibungsrecht soll verschärft und auch Abtreibungen nach einer Vergewaltigung kriminalisiert werden. Das steht im Moment im Mittelpunkt unserer Proteste auf der Straße, damit wir nicht nur Feuerwehr spielen.

Wogegen richtete sich der jüngste Protest der Frauenbewegung?

AT: Bei unserer vergangenen Aktion stand ebenfalls das Thema „Abtreibung“ im Mittelpunkt. Der 28. September ist der internationale Tag für die Legalisierung der Abtreibung und unsere dreitägige Aktion richtete sich an die brasilianische Gesellschaft, nicht an den Kongress. Wir waren von Mitternacht des 26. September bis Mitternacht des 27. September, also 24 Stunden, online: Alle 30 Minuten sprach eine andere Frau live über Abtreibung. Insgesamt hat die Aktion mehr als eine Million Klicks erhalten.
VF: An der Aktion „Sprechen wir über Abtreibung“ haben sich mehr als 100 Kollektive beteiligt, aus verschiedenen Bewegungen, aus Brasilien, aus Lateinamerika, aber auch aus Frankreich. Wir haben verschiedene Aspekte thematisiert, wie zum Beispiel das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung oder die Situation in Uruguay, wo nach der Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs Ärzte einen Gewis­sens­­konflikt geltend machen. Oder die Situation von Minderjährigen in Frankreich und wie sie Zugang zu dieser medizinischen Leistung erhalten können. Je mehr Kollektive sich beteiligen, desto einfacher ist es, den Algorithmus von Facebook zu knacken und so mehr Leute zu erreichen. Das ist umso wichtiger, weil für dieses Thema die öffentlichen Diskussionsräume stark eingeschränkt sind. Das Internet hat eine enorm wichtige Rolle, um öffentlich feministische Debatten über Themen zu führen, die durch die Präsenz des Konservativismus und der fundamentalistischen Offensive beiseite geschoben werden.
Heute sind Abtreibungen viel klandestiner als sie es früher waren. Im Alltag wird nicht mehr darüber gesprochen, eine Frau, die darüber spricht, wird sehr schnell kriminalisiert. Es ist schwieriger, solidarisch zu sein. Der Konservativismus ist im Parlament präsent, in den Gesetzesvorlagen, aber er wirkt auch sehr stark in den Alltag hinein.

“Vergewaltigung ist ein Verbrechen, Abtreibung ein Recht” Protest gegen die neuen Abtreibungsgesetze (Foto: Midia NINJA CC BY-NC-SA 2.0)

Es gab ja in jüngster Zeit sehr konkrete Versuche auch den Alltag zu bestimmen, sei es die Petition gegen eine Ausstellung im renommierten Museum für Moderne Kunst (MAM) in São Paulo oder die schon erwähnte Unterschriftenliste gegen den Vortrag von Judith Butler, welche Strategien stecken dahinter?

VF: Was in Bezug auf den Vortrag von Judith Butler und der Ausstellung im MAM passiert ist, zeigt die Strategien dieser rechten Gruppen, speziell der so genannten Bewegung des Freien Brasiliens, der MBL, ganz deutlich. Diese Bewegung hat sich 2013 gegründet, in einem andauernden Dialog mit der konservativen Jugend. Sie haben eine Strategie, ständig unbewiesene Informationen als Tatsachen zu präsentieren, die dann allgemein geglaubt werden: Es gibt diese Ausstellung im MAM, sie initiieren eine Unterschriftenliste, um die Ausstellung zu beenden, was ein großes Echo in der Öffentlichkeit und in den konservativen Sektoren der brasilianischen Gesellschaft hervorruft. Dies sind Gruppen, die an einen Konservativismus appellieren, der bereits existiert. Und den sie so mit großer Geschwindigkeit weiter befördern. Mit dem Vortrag von Judith Butler war es genau dasselbe.
AT: Was auch interessant ist: Judith Butler war vor zwei bis drei Jahren schon einmal in Brasilien und es gab keine vergleichbare Reaktion. Sie hat in Salvador einen Vortrag gehalten. Und dieses Mal gab es diese Welle, mit 200.000 Unterschriften.
VF: Es ist ja nicht so, dass die brasilianische Gesellschaft in den letzten zwei Jahren viel konservativer geworden wäre, sie ist sehr konservativ. Was es gibt, sind Sektoren, die sehr gut organisiert sind, die an diesen Konservatismus anknüpfen und dadurch selbst stärker werden. Und dies in einem gesellschaftlichen Umfeld, das für sie günstig ist. Darauf müssen wir reagieren und eine Antwort finden, die diese Strategien der Rechten mit einbezieht.

Es ist sicher schwierig, in dieser Situation nicht die Hoffnung zu verlieren, was tun Sie gegen die Entmutigung?

AT: Für mich persönlich ist es wichtig, dort zu sein, wo Frauen sich widersetzen. Ich bin in die Quilombos (vor rund 150 Jahren von geflohenen Sklav*innen gegründete Siedlungen, Anm. der Red.) gereist und wenn ich den Widerstand der Frauen in den Quilombos sehe, dann gibt mir das Hoffnung. Das sind lokale Kämpfe, aber mit sehr viel Kraft. Diese Widerstandsräume stärken uns. Als nächstes reisen wir zur feministischen Konferenz der Frauen in Lateinamerika und der Karibik, dem EFLAC. Wir werden dort sehr viele Frauen sein, sehr viele feministische Aktivistinnen. Das ist auch so ein stärkender Moment, denn diese konservative Welle gibt es in ganz Lateinamerika, eigentlich sogar in der ganzen Welt.
Für uns als Bewegung ist es außerdem wichtig, die Erfolge unserer Aktionen deutlich zu machen, auch wenn sie noch so klein sind. Denn wenn es gar keine Erfolge gibt, dann führt das zu Verzweiflung. Es gibt Frauen in der Bewegung, die sagen, dass die Proteste auf der Straße nichts nutzen, vor allem wenn gleichzeitig Temer das nächste Dekret unterzeichnet, das direkt gegen uns gerichtet ist. Aber ich denke, dass der Protest auf der Straße unverzichtbar ist. Wir haben in den letzten zwei, drei Jahren erfolgreich die Proteste auf der Straße genutzt, um zumindest der Gesellschaft zu sagen, was gerade passiert. Weil viele Leute das gar nicht wissen, gar keine Idee davon haben. Nicht einmal, wenn es sie direkt betrifft, wie die Arbeitsreformen.

VF: Ich glaube, es gibt drei Dinge, die unsere Hoffnung nähren. Fest im Widerstand zu stehen, diesen mit anderen Subjekten, anderen Kollektiven, mit anderen Frauen aufzubauen, das motiviert uns. Es ist ein schwieriger Moment, ein Moment des Verlustes der Rechte, die wir erobert hatten. Und die Kräfteverhältnisse zwischen der Rechten und der Frauenbewegung als Teil der Linken sind im Moment sehr ungleich. Aber es ist wichtig, den Widerstand am Leben zu erhalten und unsere Politik gemeinsam mit neuen Subjekten zu konstruieren, die vorher weniger sichtbar waren.
Zweitens gibt es im Widerstand viele neue Gesichter. Wenn wir an den Widerstand gegen die Diktatur zurückdenken, dann entstand dieser vor allem aus der städtischen Mittelklasse und aus der Landbewegung, die von den progressiven Teilen der Kirche organisiert wurde. Dieser Widerstand war viel homogener. Heute gibt es eine Pluralität von Subjekten und gleichzeitig gibt es neue Widersprüche in der brasilianischen Gesellschaft. Denn wer hat bisher vor allem protestiert? Es waren die Frauen, die Bewegung für das Recht auf Wohnen, die Jugend in der Peripherie, die LGBT-Jugend und die ganzen Studierenden, die Hochschulen und Schulen besetzt haben. Es ist wichtig, permanent zu handeln, sich zusammenzuschließen, zu vernetzen. Auch das nährt unsere Hoffnung.
Das dritte ist die historische Perspektive. Wir müssen strategisch denken: Dies ist ein historischer Moment, ein Moment der Niederlage. Die Frauenbewegung hatte immer eine autonome, kritische Analyse des Entwicklungsmodells der sogenannten progressiven Regierungen und hat die Widersprüche dieses Modells deutlich aufgezeigt. Wir haben bereits gesehen, dass sich diese Politik erschöpfen würde und dies ist der Moment, in dem das eingetreten ist. Aber wir haben unseren Eliten nie vertraut. Wir wussten, dass sie früher oder später das Boot verlassen würden und die ganzen autoritären und gegen Menschenrechte gerichteten Tendenzen aufbrechen würden, ebenso gegen den Staat wie gegen die sozialen Beziehungen. Wir haben eine absolut individualistische Mittelschicht, die nur an sich selbst denkt.
Das ist ein sehr herausfordernder Moment, in dem wir unsere Strategien und unsere Organisierung überdenken müssen. Denn es gibt auch eine Erschöpfung unserer Praktiken als organisierter Bewegung. Es gab ein gewisses Günstlingswesen während der progressiven Regierungen. Kritischere und eher autonome Sektoren waren isolierter, weniger gut vernetzt. Heute wollen sich alle gegen die rechten Kräfte vernetzen. Das ist eine große Herausforderung. Denn es gibt die Sektoren der Linken, die sich mehr auf den Staat bezogen haben, es gab die eher autonomen Sektoren und es gibt die neuen Sektoren, voller Widerstandskraft, aber gleichzeitig voller Misstrauen gegenüber den organisierten Formen von Widerstand. Es ist ein Moment, der gleichzeitig voller Potential und voller Herausforderungen steckt. Denn die Frage ist: Woraus konstruieren wir die heutige Linke in Brasilien? Diese Frage steht im Raum – aber immerhin steht sie im Raum. Ich glaube ja, dass die Welt von Widersprüchen bewegt wird. Wenn ich das nicht glauben würde, dann wäre ich heute nicht da, wo ich bin, voller Kampfeslust.

 

IM RYTHMUS EINES GENIALEN MUSIKERS

Chico Buarque ist einer der bekanntesten Musiker und Komponisten Brasiliens, eine international anerkannte Größe der Música Popular Brasileira. Weniger bekannt ist er in Deutschland als Autor von Romanen, die er in großen Abständen seit Anfang der 1990er Jahre veröffentlicht. Mein deutscher Bruder von 2014 erschien in deutscher Übersetzung im S. Fischer Verlag und bietet für Leser*innen hierzulande etwas ganz Besonderes: Chico Buarque, eigentlich Francisco Buarque de Hollanda, erzählt darin den lange verschwiegenen, deutschen Teil seiner Familiengeschichte. 2013 kam er nach Berlin, um nach dem unehelichen Sohn seines Vaters Sergio de Hollanda zu suchen, den dieser in den 1930er Jahren während eines Studienaufenthaltes gezeugt und nie gesehen hatte. Und – soviel sei verraten – auch ihm ist es nicht mehr gelungen, den Halbbruder lebend zu treffen.
Basierend auf dieser realen Familiengeschichte gestaltet Buarque eine fiktive Version der Entdeckung des Familiengeheimnisses und der Suche nach dem unbekannten Halbbruder, in der sich, wie in einem Vexierspiegel, reale Geschehnisse und erzählerische Verfremdung mischen. So ist der Vater der Hauptfigur, wie der Vater von Chico Buarque, ein Intellektueller, der nie über den in Deutschland gezeugten Sohn spricht.
Auch Nino selbst liebt die Bücher, spricht mehrere Sprachen und verdient so seinen Lebensunterhalt. Anders als der Autor, hat Nino nur einen, sehr verhassten, älteren Bruder, den – vermutlich – eine seiner Frauengeschichten in die Fänge der brasilianischen Militärdiktatur treibt. Auch Nino leidet unter der brasilianischen Diktatur und beschreibt die Veränderungen genau, die im Laufe der Jahre jeden Protest unmöglich machen. Anders als Chico Buarque aber, dessen politisches Theaterstück Roda Viva ihm 1967 nur die Wahl zwischen dem italienischen Exil und dem Gefängnis ließ, findet Nino eine Nische im Institut Français, das ihn vor politischer Verfolgung bewahrt. Das „Verschwinden“ seines Bruders treibt Nino immer tiefer in die Auseinandersetzung mit der deutschen Diktatur der 1930er Jahre, als sein Vater versuchte, den unehelichen Sohn aus Berlin nach Brasilien zu holen und am fehlenden Ariernachweis scheiterte. Unklar ist daher selbst der Name des Bruders – ein schlechter Ausgangspunkt für die Suche, bis Nino, auch als Nichtmusiker, ihn endlich an der wieder lebendig gewordenen Stimme des Vaters erkennt. Wie sehr ist die eigene Familiengeschichte von der Weltgeschichte bestimmt, wo berühren sich das Politische und das Private? Haben Diktaturen zu unterschiedlichen Zeiten etwas gemeinsam? Diese großen Fragen stellt diese Familiengeschichte. Doch während bei anderen Romanen, die auf realen Geschehnissen beruhen, die Fiktion oft interessanter ist als die Realität, entsteht in Mein deutscher Bruder der Verdacht, die „eigentliche“ Geschichte wäre letztlich spannender gewesen als die sehr konstruierte – und oft skurrile – fiktive Familiengeschichte. Dennoch besitzt der Roman große literarische Qualitäten. Da ist zuerst die Sprache Chico Buarques, der Rhythmus seiner oft halbseitenlangen Sätze, die den genialen Musiker verraten. Der Autor spielt mit Begriffen, mit deutschen Passagen, mit Zitaten großer Klassiker und dem Portugiesisch der Straßen von Rio de Janeiro. Kongenial übersetzt wurde er von Karin von Schweder-Schreiner, mit der er intensiv zusammengearbeitet hat. Nicht zuletzt ist angesichts der aktuellen Situation in Brasilien die Auseinandersetzung des bis heute politisch engagierten Chico Buarque mit der Militärdiktatur äußerst spannend.

 

SUBTILER RASSISMUS

1990 wohnte ich sechs Monate in Rio de Janeiro, in einem Apartment in Leme, dem ruhigen Teil der Copacabana. Nur einmal kurz die Straße und den Berg hoch kam die nächste „Favela“: Chapeu Mangueira. Der Stadtteil, schon damals mehr „Arbeitersiedlung“ denn ein Schauplatz extremer Armut, wurde durch Benedita da Silva bekannt, erste schwarze Frau im Kommunalparlament, später im Landesparlament, noch später im Senat. Fast vor deren Haustür wurden drei Jugendliche erschossen, von denen einer ein Kadett war, der Landgang hatte. Sein Ausbildungsoffizier verbürgte sich für ihn und seinen guten Ruf (kein Drogendealer!) ein und setzte sich dafür ein, dass dieser Mord aufgeklärt würde. Vermutlich war es die Kombination aus militärischer Intervention und der Prominenz von Benedita da Silva, die den Fall bekannt machte. Aufgeklärt wurde er dennoch nie. Die Jugendlichen wurden aus einem fahrenden Auto heraus erschossen, vermutlich Zufallsopfer, vermutlich eine „Nachricht“, die der Forderung nach Schutzgeldzahlungen Nachdruck verleihen sollte.

Einen ganz ähnlichen Fall hat Fernando Molica zum Ausgangspunkt seines Romans Schwarz, meine Liebe gewählt, der bereits 2005 auf Portugiesisch unter dem Titel Bandeira negra, amor erschienen ist: Drei Jugendliche werden in der Favela Borel tot aufgefunden, vor ihrem Tod wurden sie offensichtlich gefoltert, einer von ihnen hatte einen Vertrag mit einem englischen Fußballverein in der Tasche. Schnell kommt der Verdacht auf, dass es sich nicht um „Drogenhändler in einem Bandenkrieg“ handelte, sondern die Polizei selbst in den Fall verwickelt ist. Und ähnlich wie im wirklichen Leben gestaltet sich die Aufklärung schwierig, auch die internen polizeilichen Ermittlungen.

Hauptfiguren dieses Romans, der nur am Rande Krimi ist oder sein möchte, ist das unwahrscheinliche Duo und heimliche Liebespaar Fred – schwarzer Rechtsanwalt und Menschenrechtsaktivist – und die weiße Majorin der Militärpolizei Beatriz. Unabhängig voneinander ermitteln sie in ihren jeweiligen Sphären, heimlich tauschen sie Informationen aus und eröffnen Molica so die Perspektiven, um sich dem eigentlichen Romanthema zu nähern: Alltagsrassismus in Brasilien. Denn Fred hat, bevor er der respektable Rechtsanwalt Dr. Frederico Cavalcanti de Souza wurde, alle Phasen einer Erziehung durchlaufen, die darauf abzielte, ihn „weißer“ zu machen, einschließlich des allnächtlichen Gebrauchs einer Schlafhaube, um die „schlechten Haare“ zu glätten. Noch immer verwechselt ihn die weiße Mittelschicht trotz seines gutsitzenden Anzugs am Ausgang des Restaurants gerne mit dem Parkplatzwächter – die Hautfarbe ist Uniform genug. Unter diesen Umständen die Beziehung mit einer weißen Militärpolizistin offen zu leben, ist für beide ausgeschlossen.

Geschrieben ist Schwarz, meine Liebe fast ausschließlich in langen inneren Monologen. Fernando Molica, seit 1982 Journalist in verschiedenen Zeitungen, dem TV-Sender O Globo und aktuell für Rádio CBN in Rio de Janeiro, verwendet eine kraftvolle, brasilianische Alltagssprache für seine Figuren, die in der Übersetzung leider ein wenig verloren geht. Nicht weil sie schlecht übersetzt wäre, sondern weil jenseits des Slangs der Jugendkulturen oder des Mundartlichen keine ähnlich kraftvolle deutsche Alltagssprache existiert. Mit seinem zweiten Roman hat sich Molica mehrerer großer Themen angenommen und entführt uns gleichzeitig an wenig bekannte Orte der „wunderbaren Stadt“ Rio de Janeiro.

 

UNANTASTBAR

„Lasst den Mann seine Arbeit machen!“, rief der Abgeordnete aus Pará, Wladimir Costa, am 25. Oktober im brasilianischen Abgeordnetenhaus der Opposition zu. Costa wollte den amtierenden Präsidenten Michel Temer verteidigen, gegen den eine Anklage wegen Korruption, Behinderung der Justiz und Bildung einer kriminellen Vereinigung vorliegt. Die Kammer des Parlaments hatte darüber zu entscheiden, ob ein Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof zugelassen wird.

Am Ende des Tages hatte es Michel Temer wieder geschafft, einer Strafverfolgung zu entkommen, auch wenn es diesmal knapper war. Die Abgeordneten stimmten mit 251 zu 233 Stimmen dagegen, dass die Anklage zugelassen wird. Wenn man die 29 Enthaltungen und Abwesenheiten berücksichtigt, konnte Temer nicht einmal die einfache Mehrheit für sich gewinnen. Das Ergebnis ist damit schlechter als das vom 2. August. Bereits damals votierte das Parlament mit 263 zu 227 Stimmen dagegen, eine andere Klage wegen Korruption gegen den Präsidenten zuzulassen. Um das Verfahren zu eröffnen, wäre eine Zweidrittelmehrheit notwendig gewesen. In dem Fall hätte Temer für 180 Tage sein Mandat verloren; wäre er schuldig gesprochen worden, endgültig.

Die Klage gegen Temer war eine der letzten, die der ehemalige Generalbundesstaatsanwalts Rodrigo Janot eingeleitet hatte, bevor sein Mandat am 17. September endete. Neben dem Staatschef waren auch der Kabinettschef Eliseu Padilha und verschiedene Abgeordnete der Partei PMDB mitangeklagt. Die Verfahrenseröffnung wurde nun vom Parlament untersagt, doch die Klagen bleiben weiter anhängig: Nach Ende der Legislaturperiode am 31. Dezember 2018 werden sie weiter bearbeitet.

Hintergrund ist der Korruptionsskandal, der im Rahmen der Operation „Lava Jato“ (Autowaschanlage) von der brasilianischen Bundespolizei und Generalbundesstaatsanwaltschaft untersucht wird. Dabei geht es um Schmiergeldzahlungen von Baufirmen und Agrarunternehmen an Politiker*innen aller Parteien, um an öffentliche Aufträge oder günstige Staatskredite zu gelangen. Insbesondere der brasilianische Baukonzern Odebrecht musste zugeben, 788 Millionen Dollar Schmiergeld in zwölf Ländern Afrikas und Lateinamerikas gezahlt zu haben (siehe LN 517). Die Staatsanwaltschaft warf nun Michel Temer und seinen Verbündeten vor, Schweigegelder gezahlt zu haben, um sich vor Lava Jato zu schützen und die Untersuchungen der Justitz zu behindern.

Temer hat es wieder geschafft, der Strafverfolgung zu entkommen.

Temer versucht derweil, sich selbst als Opfer darzustellen. In einem Brief an die Abgeordneten erklärte er, Rodrigo Janot und andere Staatsanwälte hätten eine Verschwörung gegen ihn angezettelt. Alle Anschuldigungen gegen den Präsidenten seien unglaubwürdig, da diese auf Aussagen von verurteilten Verbrecher*innen basierten, die im Rahmen von Kronzeugenregelungen gemacht wurden. Zuletzt hatte der verurteilte „doleiro“ (Geldwechsler ohne Lizenz) Lúcio Funaro ausgesagt, die Schmiergeldzahlungen zwischen Unternehmen und Temer und seinen Vertrauten vermittelt zu haben.

Zudem sind Dokumente von Odebrecht aufgetaucht, die den Präsidenten und seine Vertrauten belasten. Die Abteilung für „Stukturierte Operationen“ des milliardenschweren Baukonzerns war ausschließlich dafür zuständig, die Schmiergeldzahlungen an Politiker*innen in aller Welt zu koordinieren. Dabei nutzte sie ein internes System namens “Drousys“. Der Staatsanwaltschaft liegen nun Belege aus diesem System dafür vor, dass Zahlungen an Padilha und andere Politiker*innen der PMDB über umgerechnet etwa 3,4 Millionen Euro angewiesen wurden. Dabei wurden die Politiker*innen mit Spitznamen bezeichnet, der Kabinettschf Padilha ist etwa als „Fodão“ (in etwa: „Krasser Typ“) benannt. Diese Dokumente sind kein Beweis, dass die Zahlungen getätigt wurden, aber starke Indizien.

Im Vergleich dazu wirken die Korruptionsvorwürfe, die dem ehemaligen Präsidenten Luis Inácio Lula da Silva gemacht werden, geradezu lächerlich: Dem Präsidenten von der Arbeiterpartei PT wird zur Last gelegt, zwei Privatwohnungen vom Bauunternehmen Odebrecht spendiert bekommen zu haben. Umstritten ist, ob die Apartments wirklich ihm gehörten. Die Staatsanwaltschaft behauptet, dass die im Grundbuch eingetragenen Personen nur Strohmänner sind. Lula nutzte den Fall, um sich als Mann der Armen zu zeigen: Falls das Gericht zu der Auffassung gelänge, er sei der Besitzer der Wohnungen – was er aber bestreitet -, werde er eine der Wohnungslosenbewegung MTST überschreiben.

Bereits in der Woche vor der Entscheidung über Temers Anklage rehabilitierte der brasilianische Senat ihr Mitglied Aécio Neves (PSDB). Der Oberste Gerichtshof hatte dem Senator aus dem Bundesstaat Minas Gerais Ende September das Mandat entzogen, da er ebenfalls wegen Korruption und Behinderung der Justiz angeklagt ist. Am 17. Oktober stimmte der Senat über die Entscheidung des Gerichtshofs ab und machte sie mit 44 gegen 26 Stimmen rückgängig. Kein Wunder: Von den 44 Senator*innen, die für Neves stimmten, sind 19 selbst von Ermittlungen im Rahmen von Lava Jato betroffen.

In Brasilien vergleichen viele Medien die Operation Lava Jato mit den italienischen Anti-Korruptions-Untersuchungen “Mani Pulite”, die in den frühen 1990er Jahren zum Zusammenbruch der sogenannten Ersten Republik geführt haben. Mehrere italienische Staatsanwälte waren im Oktober auf Einladung verschiedener Medien in São Paulo und bestätigten Parallelen der beiden Fälle.

In Italien führte die Diskreditierung der traditionellen Politiker*innen damals zum Zusammenbruch der etablierten Parteien sowie zum Aufstieg Silvio Berlusconis – und auch in Brasilien befürchten viele, dass die derzeitige Krise einem Rechtsaußen wie Jair Bolsonaro den Weg ebnen könnte. Dem Umfrageinstitut Datafolha zufolge würden 36 Prozent wieder den Expräsidenten Luis Inácio Lula da Silva wählen, auf Platz zwei kommt bereits der rechtsradikale Bolsonaro.

Temers Regierung ist die unbeliebteste seit Ende der Militärdiktatur im Jahr 1985.

Auch wenn der Präsident der Strafverfolgung entgangen ist, wirft das Ergebnis kein gutes Licht auf seine restliche Amtszeit. Michel Temers Regierung ist mittlerweile die unbeliebteste seit dem Ende der Militärdiktatur im Jahr 1985. Datafolha zufolge bewerten lediglich fünf Prozent der Befragten die Regierung mit „gut“, dagegen 73 Prozent mit „sehr schlecht“.

Um so mehr hängt die Regierung vom Parlament ab. So schrieb die Tageszeitung O Estado de São Paulo in einem Editorial: „Der Kongress kontrolliert heute nicht nur die nationale Agenda, sondern hat auch jede Scheu verloren, in ihr Rückschritte in der Sozial- und Umweltpolitik und den Verhaltensregeln für Parlamentarier zu platzieren.“ Diese Verschiebung des Machtgewichts von Exekutive zur Legislative sei im brasilianischen Präsidialsystem außergewöhnlich. Die Zustimmung des Parlaments ließ Michel Temer die Regierung einiges kosten. O Estado de São Paulo rechnete aus, dass die Zugeständnisse Temers an Abgeordnete, mit denen er seine parlamentarische Basis auf Regierungskurs hielt, den Staatshaushalt umgerechnet etwa 837 Millionen Euro kosteten. Dabei ging es vor allem um steuerliche Vergünstigungen für bestimmte Unternehmensbranchen und die Herabsetzung von Strafzahlungen für Umweltverbrechen – woran insbesondere die mächtige Agrarlobby interessiert war.

In deren Interesse war auch die sicherlich umstrittenste Entscheidung der Regierung vom 16. Oktober. In einer Regierungsdirektive wurde die Definition für sklavereiähnliche Arbeitsverhältnisse abgeschwächt. Vorher galt als Sklavenarbeit, wenn die Arbeiter*innen unter menschenunwürdigen Bedingungen wohnen und arbeiten, in Schuldknechtschaft gehalten werden oder wenn sie mit Gewalt am Verlassen des Arbeitsplatzes gehindert werden. Mit der Novelle gilt nur noch der letzte Punkt als konstitutiv für Sklaverei.

„Mit dieser Novelle kann praktisch kein sklavereiähnliches Arbeitsverhältnis mehr nachgewiesen werden“, erklärt Maurício Torres, Geograph und Sozialwissenschaftler aus Santarém in Bundesstaat Pará, gegenüber den Lateinamerika Nachrichten. Insbesondere in dieser Region in Amazonien ist diese moderne Sklaverei alltäglich. Meist sind es spezialisierte Banden, die mit Sklavenarbeit illegal Wald roden, gefälschte Landtitel besorgen und die Güter dann an Agrarunternehmen weiterverkaufen. „Ich habe noch keine Regenwaldrodung gesehen, bei der es nicht zum Einsatz von Sklaven kam“, sagt Torres.

Temers Zugeständnisse an Abgeordnete haben den Staatshaushalt 837 Millionen Euro gekostet.

Die Gesetze gegen Sklavenarbeit aufzuweichen ist eine alte Forderung der „bancada ruralista“, der parteiübergreifenden Fraktion von Abgeordneten, die die Interessen des Agrarbusiness vertritt. Viele Abgeordnete besitzen selbst riesige Farmen und wollen nicht auf den „schmutzigen Listen“ auftauchen, in denen das Arbeitsministerium die Namen der Unternehmen veröffentlich, die von Sklaverei profitiert haben.
Der zuständige Staatsanwalt Deltan Dallagnol erklärte im Interview mit O Estado de São Paulo, dass die Operation Lava Jato das Ziel habe „sehr mächtige Menschen unter das Gesetz zu stellen. Es gibt nur ein Problem: Sie machen die Gesetze.“ Derzeit ist die Legislative damit beschäftigt, Gesetzesinitiativen durchzubringen, die die Untersuchungen von Lava Jato enorm erschweren würden. So sollen Kronzeugenregelungen, auf denen die Untersuchungen vor allem basieren, erschwert werden. Außerdem sollen Gefängnisstrafen nur umgesetzt werden, wenn den Angeklagten keine Rechtsmittel mehr zur Verfügung stehen und Richter*innen sollen leichter wegen „Amtsmissbrauch“ belangt werden können. Rechtsexpert*innen sind sicher, dass diese Gesetzesvorschläge nur einen Zweck haben: Die Korruptionsuntersuchungen gegen Parlamentsmitglieder zu erschweren. So kann sich der Abgeordnete Wladimir Costa aus Pará sicher sein, dass der Präsident und das Parlament ihre Arbeit machen. Und die besteht derzeit vor allem darin, ist ihre eigene Straflosigkeit zu garantieren.

 

SCHWERE ZEITEN FÜR QUEERE KUNST

Fotos: Lanchonete.org

Die christliche Rechte in Brasilien befindet sich im Aufwind. Unlängst wurde eine Ausstellung in Porto Alegre nach Protesten abgesagt. Was ist genau passiert?
Es sollte eine Ausstellung mit den Werken von zahlreichen jungen und anerkannten queeren Künstler*innen stattfinden. Dagegen organisierten konservative Gruppen Proteste. Im Gegensatz zur Linken ist die Rechte in Brasilien sehr gut organisiert. Es ist ihnen gelungen, einige Werke mit Pädophilie und Zoophilie in Verbindung zu bringen. Das ist riesiger Schwachsinn! Die Werke, die vermeintlich Pädophilie rechtfertigen, stammen von Künstler*innen, die selbst darunter gelitten haben. Mit den Werken sollte thematisiert werden, dass auch viele junge LGBT Opfer von Pädophilie werden. Das große Problem für diese Menschen ist, dass Kindern eine sexuelle Orientierung zugeschrieben wird. Die Solidarisierung mit den Protesten war leider sehr groß. Es war zu hören: „Diese Schwuchteln machen degenerierte Kunst“. Das erinnert mich an die Rhetorik der Nazis.

Und daraufhin wurde die Ausstellung abgesagt?
Ja, sie hatten damit Erfolg. Am Ende hat die Santander-Bank, die Sponsor war, die Ausstellung abgesagt. Es war aber nicht einfach nur die Entscheidung einer privaten Bank – es geht viel weiter. Das war eine Rechtfertigung, um Menschen zu diskriminieren. Den Künstler*innen wurde ein Stempel aufgedrückt: Wenn man jetzt ihre Namen bei Google sucht, wird ihre Kunst mit Pädophilie in Verbindung gebracht. Das ist ungerecht und absurd!

Gibt es noch weitere Beispiele?
Ein Theaterstück, bei dem eine transsexuelle Schauspielerin Jesus spielt, wurde in verschiedenen SESCs (Kulturzentren, Anm. d. Red.) aufgeführt. Als es in der Stadt Jundiaí im Bundesstaat São Paulo gezeigt werden sollte, entschied ein Richter, dass das Stück eine Beleidigung des Christentums darstelle. Konsequenz: Es durfte nicht aufgeführt werden. Das war Zensur! In anderen Städten wurde das Stück zwar weiter gespielt und am Ende wurde das Urteil von einem anderen Richter aufgehoben. Trotzdem bleibt: Ein Theaterstück in Brasilien wurde zensiert. Das ist unglaublich. So etwas sollte eigentlich keinen Platz in einer Demokratie haben. In einem anderen Fall wurde ein Künstler aus Brasília während einer Performance brutal von Polizisten verhaftet, weil er nackt war.

Wie erklären Sie diesen massiven Rechtsruck?
Es gibt verschiedene Gründe. Die Bildung in Brasilien ist sehr schlecht. Keine Regierung nach dem Ende der Diktatur konnte daran etwas ändern – auch weil man kaum Fortschritte in ein oder zwei Amtszeiten erreichen kann. Auch mit dem Rohstoffboom gab es keine Verbesserungen. Zum anderen befindet sich der Katholizismus seit den neunziger Jahren im Rückgang und die evangelikalen Kirchen gewinnen immer mehr Einfluss. Die Kirche Igreja Universal do Reino de Deus besitzt den am drittmeist gesehenen Fernsehsender des Landes. Auch die anderen evangelikalen Kirchen haben großen Raum in den Medien. Die Sendezeit erkaufen sie sich mit dem Geld ihrer Anhänger*innen. Bei vielen Gottesdiensten können die Gläubigen ihren „Zehnten“ (Kirchensteuer, Anm. d. Red.) direkt mit der Kreditkarte bezahlen.

Warum sind die evangelikalen Kirchen so erfolgreich in Brasilien?
Weil diese Kirchen eine der wenigen Orte sind, wo die Armen und Allerärmsten ein Gemeinschaftsgefühl bekommen. Mehr noch: Sie erhalten dort psychologische Unterstützung. Für viele Brasilianer*innen wäre dies sonst undenkbar. In der öffentlichen Gesundheitsversorgung sind Therapien nicht eingeschlossen. Die evangelikalen Kirchen haben ein strenges moralisches Wertesystem. Das führt dazu, dass die Gläubigen anfangen zu denken, dass sie immer recht haben und die anderen auf jeden Fall falsch liegen. Auch hat sich bei diesen Menschen die Idee durchgesetzt, dass Künstler*innen nichts mit ihrer Realität zu tun haben und ihre Anliegen Wohlstandsprobleme seien. Das mag für die Künstler*innen von Globo (größter Fernsehsender und Medienmonopol, Anm. d. Red.) stimmen – aber für den Rest ist eher das Gegenteil der Fall.

Im vergangenen Jahr übernahm Michel Temer nach einem juristisch fragwürdigen Amtsenthebungsverfahren den Präsidentschaftsposten. Welche Rolle spielt seine Regierung in den aktuellen Debatten?
Auf den ersten Blick scheint die Regierung nichts damit zu tun zu haben. Temer hat sich zu keinem der Fälle öffentlich geäußert, die ich anfänglich erwähnt habe. Der Präsident arbeitet aber gerade mit Hochdruck daran, die Rechte abzubauen, die sich die Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten hart erkämpft hat. Viele Künstler*innen haben das scharf kritisiert. Die Menschen kümmern sich aber leider mehr um vermeintliche Pädophilie in Kunstwerken, als um eine Arbeitsrechtsreform oder einen erneuten Freispruch von Temer, der wegen mehrerer Verbrechen angeklagt ist. Die aktuellen Debatten schaffen also für die Regierung eine perfekte Nebelwand, um die verheerende Austeritätspolitik zu verschleiern.

Sie stammen aus São Paulo. Wie ist die Situation für LGBT in ihrer Heimatstadt?
Auf der einen Seite ist São Paulo als größtes Finanzzentrum Lateinamerikas sehr konservativ. Auf der anderen Seite hat es aber auch eine lange queere Geschichte. Der wirklich bewegende Film São Paulo em Hi-Fi zeigt die LGBT-Szene während der Militärdiktatur in den sechziger und siebziger Jahren. In dieser Zeit gab es herausragende Persönlichkeiten wie Celso Curi, der die erste Kolumne für LGBT in Brasilien geschrieben hat. Er gründete auch ein wichtiges Kulturzentrum. Das war der erste Ort für homosexuelle Paare und ist bis heute eine wichtige Referenz.

Was macht die Szene so besonders?
Ich bin viel gereist und was São Paulo wirklich besonders macht, ist die hohe Anzahl von homosexuellen Paaren in der Öffentlichkeit. Anfang der Nullerjahre haben wir angefangen, uns in Einkaufszentren und auf Plätzen zu treffen. Zum ersten Mal konnten wir uns öffentlich so zeigen, wie wir waren, und mit derjenigen Person zusammen sein, mit der wir wollten. Die unheimliche Dynamik der Stadt hat auch dazu geführt, dass LGBT mit viel Geld aus ganz Brasilien nach São Paulo kamen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Orte wie den Arouche-Platz, wo man einen halben Liter Schnaps für zwei oder drei Reais kaufen kann. Die Stadt spricht verschiedene sozioökonomische Bevölkerungsgruppen an.

Sie haben als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ausstellung Queer City – Geschichten aus São Paulo mitgearbeitet, die derzeit im Schwulen Museum in Berlin zu sehen ist. Glauben Sie, dass Kunst ein Mittel für politische Veränderungen sein kann?
Das will ich hoffen! Ich wünsche mir, dass das, was wir machen, Auswirkungen haben wird und unsere Kunst die Menschen in Brasilien und außerhalb zum Denken anregt. Auch für Deutschland und den Rest der Welt beginnt gerade eine schwierige Phase – deshalb will ich daran glauben.

HÜGEL IM KREUZFEUER

Foto: Fernando Frazão/ Agência Brasil (CC BY 2.0)

Rocinha ist auch über die Grenzen von Rio de Janeiro bekannt. Mit rund 70.000 Einwohner*innen ist Rocinha, laut dem Zensus des Statistikinstituts IBGE, die größte Favela von Rio de Janeiro. Die Gemeinde, wie die Bewohner*innen ihr Viertel nennen, liegt im Stadtteil São Conrado zwischen der schicken Südzone und dem westlich gelegenen Bezirk Barra da Tijuca. Aufgrund seiner strategischen Lage ist Rocinha einer der Hauptumschlagplätze für Drogen in der cidade maravilhosa („Wunderbare Stadt“). Lange war es ruhig in Rocinha. Die Gemeinde galt es eine der sichersten Favelas der ganzen Stadt. Die bunten Häuser und steilen Gassen wurden sogar zu einer Tourist*innenattraktion. Seit Mitte September liefern sich jedoch Drogenhändler*innen heftige Kämpfe um die Kontrolle von Rocinha. Es herrschte für mehrere Tage Ausnahmezustand. Es kam zu heftigen Gefechten, bei denen mehrere Menschen starben. An einen Alltag war nicht zu denken: Schulen blieben geschlossen, Straßen leer, Bewohner*innen in Angst. Nach erbitterten Kämpfen rückten am 22. September Polizei und Militär in die Gemeinde vor. Die Bilder des martialischen Militäreinsatzes gingen um die Welt. Aber wie konnte eine der sichersten Gemeinden der Stadt ins Chaos stürzen?

Persönliche Streits als auch Konflikte zwischen verfeindeten Drogengangs sind Auslöser der aktuellen Krise. Die Auseinandersetzungen gehen auf das Jahr 2011 zurück. In diesem Jahr wurde Antônio Francisco Bonfim Lopes, besser bekannt als Nem von Rocinha, verhaftet. Nems ehemalige rechte Hand und Ex-Leibwächter, Rogério Avelino da Silva, auch Rogério 157 genannt, übernahm die Kontrolle über Rocinha. Nem missfiel die Übernahme seines ehemaligen Untergebenen. So übte Nem weiterhin die Kontrolle über den Drogenhandel in Rocinha aus – obwohl er in einem Hochsicherheitsgefängnis in Porto Velho im nordwestlichen Bundesstaat Rondônia sitzt. Die Bundespolizei fand heraus, dass Nem im Jahr 2014 den Befehl gab Rogério 157 aus Rocinha zu vertreiben – allerdings ohne Erfolg. So wuchsen in den folgenden Jahren die Spannungen zwischen den beiden Männern. Im Jahr 2015 lieferten sich Verbündete von Nem und Rogério 157 nach einem Missverständnis einen Schusswechsel. Vier „Krieger“ von Nem wurden angeschossen und mussten im Krankenhaus be-handelt werden. Eine Person spielt eine bes-ondere Rolle in dem Konflikt: Danúbia de Souza Rangel, die Frau von Nem. Sie führte lange Zeit Befehle aus, die ihr Mann ihr bei Gefängnisbesuchen übermittelte. Sie engagierte eigene Leibwächter und strahlte immer mehr Autorität in Rocinha aus. Bald war sie als „Sherif von Rocinha“ bekannt. Laut dem britischen Journalisten und Experten für organisierte Kriminalität Misha Glenny, der die Biographie von Nem schrieb, wurde Rangel eine der zentralen Protagonist*innen des Machtkampfes: „Es gab interne Konflikte. Danúbia wollte mehr Macht und die Gemeinde war gespalten zwischen ihr und Rogério“. Allerdings vertrieb Rogério 157 Rangel aus Rocinha im Zuge der jüngsten Auseiandersetzungen. Die 33-Jährige floh in eine Favela in den Norden der Stadt, wurde dort aber am 10. Oktober von der Polizei verhaftet. Gegen Rangel lief ein Haftbefehl wegen Drogenhandel, Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und Korruption.

Rogério 157 büßte in jüngster Zeit immer mehr an Popularität ein. Der Grund: Er erhob Steuern auf Dienstleistungen wie Motorradtaxis und die Gasverteilung. Allein mit den Steuern auf die Motorradtaxis machte er einen monatlichen Umsatz von umgerechnet rund 27.000 Euro. Im Interview mit der Nachrichtenseite UOL erklärt der Carlos Eduardo Thome, Polizist bei der Drogenbekämpfungseinheit DER: „Die Daten zeigen, dass Nem sehr unzufrieden mit Rogérios Steuereintreibungen von Bewohnern und Motorradtaxis war. Wenn ein Motorradtaxifahrer nicht die fälligen Steuern zahlte, ließ er die Motorräder zerstören. Er hat die Menschen der Gemeinde erpresst“.

Die Auseinandersetzung zwischen verfeindeten Drogenbanden, die in der ganzen Stadt toben, haben auch längst Rocinha erfasst.

Die Auseinandersetzung zwischen verfeindeten Drogenbanden, die in der ganzen Stadt toben, haben auch längst Rocinha erfasst. Auch interne Konflikte im Kartell der Amigos dos Amigos (ADA; Freunde der Freunde), dem sowohl Nem als auch Rogério 157 angehörten, haben zu der Eskalation beigetragen. Laut Presseberichten hatte Rogério 157 bereits im Jahr 2014 versucht, sich vom ADA loszusagen und sich erfolglos dem Terceiro Comando Puro (Pures Drittes Kommando; TCP) anzunähern.

Im Jahr 2016 zerbrach die historische Allianz zwischen dem Primeiro Comando da Capital (PCC; Erstes Hauptstadtkommando) aus São Paulo und dem Comando Vermelho (CV; Rotes Kommando) aus Rio de Janeiro. Nach dem Ende dieser Zweckehe verbündete sich die ADA, Erzfeind des CV, mit dem PCC. Dies führte zum Zerwürfnis in Rocinha: Während Nem und andere Führer des ADA die Allianz mit dem mächtigen Kartell aus São Paulo befürworteten, versuchte Rogério 157, sich mit einem der ADA-Chefs zusammenzuschließen, der gegen das Bündnis war. Ziel war es, die Kontrolle über Rocinha zu erhalten – ohne Nem.

Am 13. August wurden drei Verbündete von Nem tot in einem Auto aufgefunden. Die Vermutung: Rogério 157 hatte zum Präventivschlag ausgeholt, um seine Entmachtung abzuwenden. Nun ging der Konflikt erst richtig los. Ende August stellte Nem seinem Widersacher Rogério 157 ein Ultimatum. Die Forderung: Rogério 157 habe Rochinha zu verlassen. Dieser weigerte sich und ging sogar noch weiter. Die Männer von Rogério 157 vertrieben mehrere Verbündete von Nem aus der Gemeinde. Daraufhin beschloss die Führung der ADA, eine Aktion vorzubereiten, um endgültig die Kontrolle über den Drogenhandel in Rocinha zurückzugewinnen. Im BBC-Interview sagt der Experte Glenny, dass es gut möglich sei, dass Nem nicht direkt hinter dieser Entscheidung stehe. Der 17. September wurde als Tag für die Invasion gewählt. 60 Personen aus den Favelas São Carlos im Zentrum und Vila Vintém im Osten stürmten schwer bewaffnet den Hügel. Allein am ersten Tag starben drei Personen, drei weitere wurden verletzt. Ein schwarzer Tag für Rocinha.

In der Presse kursierten Gerüchte darüber, dass Rogério 157 sich mittlerweile dem CV angeschlossen habe. Grund für die Spekulationen: Nach der Polizeioperation flohen 200 seiner Gefolgsleute in den Tijuca-Wald und von dort in sechs Gemeinden, in denen die CV regiert. Die Bundespolizei bestätigte, dass Rogério 157 mit der ADA gebrochen hat. Mittlerweile belegen auch abgehörte Aufzeichnungen den Wechsel von Rogério 157 zur CV.
Der Gouverneur von Rio de Janeiro, Luiz Fernando Pezão von der Mitte-Rechts-Partei PMDB, äußerte sich erstmals am 17. September zu den Ereignissen in Rocinha. Er forderte, dass vorerst weder Polizei noch Militär, die sich bereits seit August im Alarmzustand befanden, intervenieren sollten. Zivile Opfer und Probleme bei Ablauf des weltbekannten „Rock in Rio“-Festivals müssten auf jeden Fall verhindert werden, so Pezão. „Ich wurde von Wolney (Dias, Kommandant der Militärpolizei) und (Roberto) Sá (Sicherheitssekretär) informiert und habe um große Vorsicht gebeten. Ich kenne Rocinha gut. Am Sonntag sind immer die meisten Menschen auf der Straße. Wenn wir reagieren, bedeutet das Krieg, in dem viele Unschuldige sterben. Man muss den richtigen Moment abwarten. Sollte das wirklich zur Zeit von ,Rock in Rio` sein?“.

Ab dem 22. September eskalierte die Lage völlig.

Ab dem 22. September eskalierte die Lage völlig. Die Militärpolizei führte Haftbefehle gegen mehrere Kriminelle aus. Am Samstag wurden neun Personen festgenommen und 18 Gewehre beschlagnahmt. Drei Verdächtige wurden getötet, ein junger Mann verletzt. Am gleichen Tag erklärte Verteidigungsminister Raul Jungmann, 950 Soldat*innen nach Rocinha zu schicken, um den Verkehr rund um Rocinha zu sichern. Zudem wurde die Gemeinde großräumig von Soldat*innen umstellt, um Kriminelle daran zu hindern zu fliehen. Trotzdem ist es mehreren Verdächtigen gelungen, in den nahegelegenen Tijuca-Wald zu türmen – in eine Fläche von 4.000 Hektar zwischen dem Süd- und Nordteil der Stadt. So hat sich das Problem in auch andere Teile der Stadt verlagert.

Die Dominanz des Drogenhandels und die jüngsten Konflikte stehen symbolisch für das Scheitern des Sicherheitsmodells von Rio de Janeiro. Im Jahr 2008 begann die Regierung damit, in verschiedenen Favelas Stationen der Befriedigungspolizei UPP einzurichten – so auch in Rocinha. Ursprüngliche Idee des UPP-Modells war es, eine bürgernahe Polizei zu schaffen und freundschaftliche Beziehungen zu den Bewohner*innen aufzubauen. Wie in anderen Teilen von Rio de Janeiro war die Freundschaft auch in Rocinha schnell vorbei. Dies habe der UPP nachhaltig geschadet, analysiert Ignacio Cano, Mitglied des Forschungsinstituts zu Gewalt der Bundesstaatlichen Universität von Rio de Janeiro (Uerj). Im Jahr 2013 sorgte ein Fall in Rocinha für weltweite Schlagzeichen: Der Maurer-gehilfe Amarildo de Souza verschwand, nachdem er von UPP-Polizisten festgenommen wurde. Der Fall wurde zum Symbol für die grassierende Polizeigewalt und löste weltweit Proteste aus. Im November wurden 70 Polizist*innen der UPP ausgetauscht. Das angeschlagene Image der Truppe sollte verbessert werden.

Die Probleme der Polizei werden durch die derzeitige schwere Wirtschaftskrise verschärft. Rio de Janeiro hat ein Haushaltsdefizit von umgerechnet rund 5,6 Milliarden Euro. Boni für Polizist*innen wurden abgeschafft und die Regierung hat es versäumt, die freiwerdenden Stellen neu zu besetzen. Dies hat zu einem Rückgang von 3.000 Polizist*innen in fünf Jahren geführt. Auch Überstunden wurden seit langer Zeit nicht mehr bezahlt. Im August 2017 wurden die Mittel für die UPP um 30 Prozent gekürzt. Laut der Analyse des Wissenschaftlers Cano habe die wirtschaftliche Flaute auch zu einer Schwächung des Staates geführt. Dies führe wiederum dazu, dass immer mehr Menschen ihre Wege auf dem illegalen Markt suchen. Die Überfall- und Mordrate hat in letzter Zeit stark zugenommen, auch von Polizist*innen. Die erbitterten Territorialkämpfe sind eine Folge davon – die Gewalt in Rocinha ist die blutige Spitze des Eisbergs.

Ende Juli unterzeichnete Präsident Michel Temer ein Dekret, dass den Einsatz von bewaffneten Streitkräften in Rio de Janeiro erlaubt. Angehörige der Armee, Marine und Luftwaffe übernehmen im Bundesstaat von Rio de Janeiro nun zum Teil die Aufgaben der Polizei. Laut dem Dekret kann die Armee bis zum 31. Dezember auf den Straßen von Rio de Janeiro bleiben. Der Präsident ließ allerdings durchblicken, dass der Einsatz bis Ende 2018 verlängert werden könnte. Insgesamt wurden 8.500 Soldat*innen der Armee, sowie 620 Männer des Bundesheeres und der Bundesstraßenpolizei im ganzen Bundesstaat Rio de Janeiro mobilisiert. Der Fokus dieses Einsatzes liegt in der Metropolregion Rio de Janeiro. Teile dieses Heeres waren auch an der Besetzung von Rocinha beteiligt.

Diese Mobilisierung kostet umgerechnet rund 186 Millionen Euro bis zum Ende von 2017. Ein Gefühl von Sicherheit soll vermittelt werden. Auch will die Regierung zeigen, dass sie handelt. Die Gewalt in Rio de Janeiro wird so allerdings nicht gelöst. „Auf lange Sicht wird die Präsenz der Militärs nicht die Probleme lösen“, sagt Cano. Auch die Anthropologin Jacqueline Muniz vom Department für Öffentliche Sicherheit an der Bundesstaatlichen Universität von Fluminense meint: „Alle Regierungen, von Fernando Henrique, Lula oder Dilma, haben in einem Moment ihrer Amtszeiten das Militär mobilisiert. Dies dient dazu, Legitimität zu erreichen und von anderen Problemen abzulenken.“ Die Konflikte in Rio de Janeiro geschehen in politisch stürmischen Zeiten: Gegen Gouverneur Pezão laufen Ermittlungen, die in seinen Job kosten könnten. Präsident Temer hat mit nur fünf Prozent Zustimmung die schlechtesten Umfragewerte in der Geschichte Brasiliens. Gegen den 77-Jährigen laufen mehrere Verfahren.

 

Dieser Artikel erschien zuerst in der brasilianischen Onlinezeitung Nexo.

VOR DEM GESETZ IST NIEMAND GLEICH

„Vor dem Gesetz sind alle gleich“, lautet der Untertitel des Films Lava Jato („Autowaschanlage“), der Anfang des Monats in Brasilien in den Kinos anlief. Thema des Films ist die gleichnamige Untersuchungsoperation, welche die brasilianische Bundespolizei und Bundesstaatsanwaltschaft gegen korrupte Netzwerke in Politik und Wirtschaft seit nun über drei Jahren führt. Im Film werden unbestechliche Richter*nnen, Staatsanwält*innen und Bundespolizist*innen als Helden dargestellt, die der korrupten Regierung der Arbeiterpartei PT zu Leibe rücken. Mit der Realität habe der Film eher wenig zu tun, waren sich die meisten Kritiker*innen einig. Auch die Zuschauer*innen laufen die Kinosäle nicht gerade ein, um die tendenziöse Räuberpistole anzusehen.

Im echten Leben gehen derweil die Untersuchungen der Operation Lava Jato weiter und beschränken sich beileibe nicht nur auf Politiker*innen der abgesetzten PT-Regierung. So wurden auch die zahlreichen Schmiergeldzahlungen des Baukonzerns Odebrecht in verschiedenen lateinamerikanischen und afrikanischen Ländern bekannt. In Ecuador wird gegen den gerade erst gewählten Vizepräsidenten Jorge Glas ermittelt, in Peru scheinen alle Regierungen seit 1990 von dem Konzern Geld angenommen zu haben. Politiker*innen aller Couleur ließen sich von Odebrecht finanzieren und vergaben dafür lukrative öffentliche Aufträge an den Bauriesen.

Inzwischen ist auch das Internationale Olympische Komitee in die Untersuchungen verwickelt. Laut Staatsanwaltschaft soll der Chef des brasilianischen Olympischen Komitees, Carlos Arthur Nuzman, gemeinsam mit dem ehemaligen Gouverneur Sérgio Cabral Geld von Unternehmen gesammelt haben, um afrikanische IOC-Mitglieder zu bestechen, damit diese für Rio de Janeiro als Austragungsort der Olympischen Spiele 2016 stimmen. Die Unternehmen sollen im Austausch lukrative Aufträge für die Logistik der Spiele erhalten haben. Nuzman wurde Anfang des Monats in Untersuchungshaft genommen, Cabral sitzt wegen anderer Korruptionsvorwürfe bereits seit zehn Monaten rechtskräftig verurteilt im Gefängnis.

Im Zentrum der Untersuchungen von Lava Jato stehen derzeit vor allem Politiker*innen der Partei PMDB, der auch der amtierende Präsident Michel Temer angehört. Temer war Vizepräsident von Dilma Rousseff (PT), bis diese im April vergangenen Jahres abgesetzt wurde. Am 12. September 2017 sind erneut Korruptionsuntersuchungen gegen Temer eingeleitet worden. Die Gleichheit vor dem Gesetz sei „eines der republikanischen Fundamente unserer Verfassung“, erklärte der brasilianische Bundesrichter Luís Roberto Barroso, als er die neue Untersuchung gegen Temer zuließ. Diesmal wirft die Generalstaatsanwaltschaft dem Staatschef vor, ein Dekret vom 10. Mai zugunsten des Logistik-unternehmens Rodrimar verändert und dafür Gelder erhalten zu haben. Mit dem Chef von Rodrimar hatte Rodrigues Rocha Lourdes, Abgeordneter und Vertrauter des Präsidenten, am 4. Mai telefoniert, die Bundespolizei hörte das Gespräch ab. Durch die Veränderung des Dekrets konnte das Unternehmen seine Konzession für den Hafen von Santos, dem größten Südamerikas, leichter erneuern. Der Deal soll dem Unternehmen umgerechnet 350.000 Euro Wert gewesen sein.


Gegen Temer bestehen noch eine ganze Reihe weiterer Korruptionsvorwürfe, doch er genießt Immunität.

Gegen Temer bestehen noch eine ganze Reihe weiterer Korruptionsvorwürfe, doch er genießt Immunität. Nur das Oberste Bundesgericht kann gegen den Präsidenten Untersuchungen einleiten. Damit eine Klage erhoben werden kann, muss das Parlament mit einer Zweidrittelmehrheit die Immunität entziehen. Bereits einmal strengte die Bundesstaatsanwaltschaft eine Klage gegen Temer an, doch das Parlament stimmte am 2. August mit 263 zu 227 Stimmen gegen den Entzug der Immunität.

Dabei wiegen die Vorwürfe gegen den Staatschef schwer: Gegen den Präsidenten sind mehrere Anklagen wegen Korruption, Geldwäsche und Bildung einer kriminellen Vereinigung anhängig. Zudem wird Temer Behinderung der Justiz vorgeworfen: Er soll ein Netzwerk kommandieren, um die Aufklärung der Korruption zu verhindern. Auf einer Präsentation zeigte die Bundespolizei Anfang September ein Organigramm der Mafia, die Mitglieder der Partei PMDB und verbündeter Parteien im Parlament gebildet haben sollen. Im Zentrum zeigt es Michel Temer und den ehemaligen Präsidenten der Abgeordnetenkammer Eduardo Cunha (PMDB), der seit Oktober vergangenen Jahres im Gefängnis sitzt.

Immer mehr Vertraute Temers und ehemalige Minister sitzen im Gefängnis oder in Untersuchungshaft. Lourdes Rocha wurde am 3. Juni in flagranti festgenommen, nachdem er umgerechnet 130.000 Euro Schmiergeld von einem Direktor des Agrar- und Fleischunternehmens JBS entgegengenommen hatte. Geddel Vieira Lima (PMDB), der verschiedene Ministerposten sowohl in der Regierung der Arbeiterpartei PT als auch der aktuellen Regierung innehatte, wurde am 8. September aus seinem Hausarrest heraus wieder in Haft genommen – es bestand die Gefahr der Verschleierung. In einem seiner Apartments hatte die Bundespolizei 51 Millionen Reais (rund 14 Millionen Euro) in bar gefunden, das mutmaßlich aus verschiedenen Schmiergeldzahlungen stammt. Die Bundespolizei erklärte am Mittwoch vergangener Woche, Geddel, Lourdes Rocha und andere wegen Korruption inhaftierte Politiker seien „der verlängerte Arm“ von Temer. Insgesamt soll die Bande 587 Millionen Reais (rund 158 Millionen Euro) an Bestechungsgeldern angenommen haben. Am 14. September reichte der Bundesstaatanwalt Rodrigo Janot erneut eine Klage gegen Temer als mutmaßlichem Anführer dieser Mafia ein.

Während sich die Schlinge um die Regierung immer mehr zuzuziehen scheint, stellt sich Temer konsequent stur. Er bestreitet alle Vorwürfe und legt den Untersuchungen um Lava Jato Steine in den Weg: Er kürzte die Mittel für die Bundespolizei, so dass die Beamten kaum noch ihre Operationen durchführen können.

Das von rechten Parteien dominierte Parlament hält weiter zur Regierung.

Das von rechten Parteien dominierte Parlament hält weiter zur Regierung. Dies steht im krassen Gegensatz zum Verhalten des Parlaments gegenüber Temers Amtsvorgängerin Dilma Rousseff. Diese wurde wegen angeblicher Haushaltstricksereien – deren Illegalität immer noch öffentlich umstritten ist – vom Parlament abgesetzt. Konkrete Korruptionsvorwürfe gegen Rousseff bestehen bislang nicht.

Dies könnte sich bald ändern. Der Kabinettschef der Regierung Rousseff, Antonio Palocci, hat vor Gericht schwere Vorwürfe gegen den ehemaligen Präsidenten Luis Inácio Lula da Silva (PT) und Dilma Rousseff erhoben. Der frühere enge Vertraute von Lula da Silva war Finanzminister in dessen Regierung und wurde im Juni zu zwölf Jahren Haft wegen Korruption und Geldwäsche verurteilt. Am 6. September sagte er vor dem Untersuchungsrichter Sergio Moro über die Korruption zwischen Regierung und dem Bauunternehmen Odebrecht aus. „Die Verbindungen zwischen Regierung und Odebrecht waren immer sehr flüssig und informell“, erklärte Palocci. Insbesondere in der Zeit des Regierungs-wechsels von Lula da Silva zu Rousseff sei die Unternehmensführung sehr besorgt gewesen, dass diese guten Beziehungen zwischen Regierung und Bauunternehmen erhalten bleiben. Vor allem habe Odebrecht die Aufträge für den Bau von zwei großen Wasserkraftwerken an den Staudämmen Santo Antonio und Jirau an der bolivischen Grenze erhalten wollen. Emilio Odebrecht, Vater des inhaftierten Konzernchefs Marcelo, habe deshalb für den Wahlkampf Rousseffs 300 Millionen Reais (rund 81 Millionen Euro) zugesagt. Am 13. September sagte Lula da Silva zu diesen Vorwürfen vor dem Richter Moro aus. Erwartungsgemäß wies er alle Anschuldigungen seines ehemaligen engsten Vertrauten von sich.

In der PT-nahen Onlinezeitung Brasil 247 diskreditierten mehrere hochrangige Politiker*innen der Arbeiterpartei die Aussagen Paloccis und die Korruptionsermittlungen insgesamt. Gleisi Hoffmann, Senatorin und Präsidentin der PT, schrieb, dass die Operation Lava Jato den Eliten nur dazu diene, die Linke zu diskreditieren. In verschiedenen Kommentaren auf Brasil 247 ergehen sich Anhänger*innen der PT in Verschwörungstheorien: Lava Jato sei ein Instru-ment des US-Imperialismus, um die Bau- und Agrarindustrie des Landes zu schwächen. Von Selbstkritik ist im PT-Umfeld nichts zu spüren.

Dies zeigt einmal mehr das fundamentale Problem der PT-Regierungen: Lula da Silva und Rousseff glaubten, ein Bündnis mit der nationalen Bourgeoisie bilden zu können. Doch gerade von der Bau- und Agrarindustrie gehen massive Verbrechen gegen die Bevölkerung aus: Menschen werden für agro-industrielle Landwirtschaft und große Infrastrukturprojekte vertrieben, Proteste dagegen werden kriminalisiert. Anstatt diese Kräfte zu bekämpfen, suchte die PT den Schulterschluss mit ihnen. Und auch zur neuen Regierung hegen diese Industrien beste Beziehungen, um straflos zu agieren. In Brasilien sind bis auf weiteres eben nicht alle vor dem Gesetz gleich.

GEGENWIND FÜR LULA

„Wer denkt, mich mit diesem Urteil aus dem Rennen zu werfen, muss wissen, dass ich noch immer im Rennen bin.“ Kämpferisch gab sich Brasiliens Ex-Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva, auf einer Medienkonferenz in São Paulo. Er wertet die Ermittlungen gegen ihn als Versuch, seine Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr zu verhindern. Die Ermittlungen hätten in Brasilien quasi einen „Ausnahmezustand“ ausgelöst, in dem „Grundrechte in den Mülleimer geworfen“ würden. Tags zuvor war Lula am 12. Juli wegen Korruption zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt worden.

Lula wird passive Bestechung und Geldwäsche vorgeworfen.

Lula wird passive Bestechung und Geldwäsche vorgeworfen. Laut Staatsanwaltschaft soll der Baukonzern OAS den einst sehr populären Staatschef mit umgerechnet rund einer Million Euro geschmiert haben, um als Gegenleistung lukrative Aufträge des halbstaatlichen Ölkonzerns Petrobras zu ergattern. OAS soll Lula und seiner Familie ein Strandapartment auf der Insel Guarujá im Bundesstaat São Paulo überlassen und eine aufwendige Renovierung finanziert haben. Den Anklagepunkt, dass OAS auch die Aufbewahrung von Präsidentengeschenken aus Lulas Amtszeit (2003–2010) finanziert habe, ließ Richter Sérgio Moro mangels Beweisen fallen.
Zwei Mitangeklagte OAS-Manager wurden am 12. Juli ebenfalls zu Haftstrafen verurteilt, vier weitere freigesprochen. Lula, der sich in drei weiteren Korruptionsprozessen verantworten muss, bestreitet, jemals Eigentümer der Immobilie gewesen zu sein.

Lulas Arbeiterpartei PT sprach von einem „Angriff auf die Demokratie und die Verfassung“. Richter Moro sei voreingenommen und stehe im Dienst der Massenmedien, die seit Langem gegen Lula hetzen würden. „Das Urteil basiert ausschließlich auf abgekarteten Kronzeugenaussagen geständiger Krimineller, die nur die Version der Staatsanwälte bestätigten“, erklärte die PT.

Die Beweislage ist dürftig. Dokumente über Lulas Eigentümerschaft wurden nicht vorgelegt. Die Verteidigung moniert zudem das Zustandekommen der Aussage der mitverurteilten früheren OAS-Managers Léo Pinheiro. Dieser änderte offenbar seine Aussage und kam erst dann in den Genuss der Kronzeugenregelung, als er nach einer ersten Verurteilung Lula beschuldigte. Die Verteidigung kündigte Berufung an. Lula führt in Umfragen mit großem Abstand vor all seinen potenziellen Mitstreiter*innen um die Präsidentschaft 2018.

Die riesige Korruptionsaffäre um Petrobras und inzwischen auch andere Großunternehmen hat Brasilien in eine tiefe politische Krise gestürzt. Viele ranghohe Politiker*innen der abtrünnigen Koalitionspartner, die Mitte 2016 Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff in einem höchst umstrittenen Amtsenthebungsverfahren aus dem Amt jagten, und dann mit Übergangspräsident Michel Temer die Macht übernahmen, sind inzwischen selbst schwerer Korruptionsverbrechen beschuldigt. Einige sitzen bereits hinter Gittern. Temer selbst wird vom Obersten Gerichtshof der Prozess gemacht. Allerdings hat sich der Justizausschuss des brasilianischen Parlaments am 14. Juli mit einer Mehrheit von 40 zu 25 Stimmen gegen eine Anklage ausgesprochen. Die endgültige Entscheidung über eine mögliche Anklage wird nun vom Kongress am 2. August getroffen. Die dafür erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit ist eher nicht in Sicht. Und ein wichtiges Ziel hat die neue konservative Regierungskoalition ohnehin erreicht: Am Vortag des Urteils gegen Lula segnete der Kongress eine Arbeitsrechtsreform ab, die viele Errungenschaften der vergangenen 30 Jahre zurücknimmt.

KEINE “ERLÖSUNG”

Foto: Luis Blanco

Die Blicke seien das Schlimmste. „Die Leute schauen uns an und ekeln sich.“ Jessica*, kantiges Gesicht, warme, glasige Augen, wirkt müde beim Sprechen. Ein kratziger, tiefer Husten unterbricht sie. Langzeitfolgen nennt man das hier. Wie alt sie sei? So um die 30. Über die kurzen, krausen Haare hat sie sich eine graue Ballonmütze gestülpt. Von Weitem sieht Jessica aus wie ein Popstar aus den Neunzigern. Die junge Frau kommt aus einer verschlafenen Kleinstadt in der Nähe von São Paulo. Seit drei Monaten lebt sie im bekanntesten Drogenviertel Lateinamerikas.

Niemandsland, Zombiestadt, ein Stückchen Hölle – das Viertel hat viele Namen.

Niemandsland, Zombiestadt, ein Stückchen Hölle – das Viertel hat viele Namen. Der bekannteste lautet Cracolândia. 700 Menschen tummeln sich hier – nachts sind es oft dreimal so viele. Einen Steinwurf vom piekfeinen Konzertsaal Sala São Paulo entfernt befindet sich das Herz von Cracolândia. Fluxo (Fluss) nennt man die verfallenen Häuserblocks im Norden der Innenstadt. Nachts leuchten die Crackpfeifen in allen Ecken der dämmerigen Straßen auf. In graue Decken wie in Kokons gehüllte Menschen liegen auf den Bordsteinen. Hunderte sitzen unter Plastikplanen oder wandern mit leeren Blicken umher. Ein süßlich-chemischer Geruch liegt in der Luft. Aus einer gekachelten Eckkneipe dröhnt ohrenbetäubende Musik. Wie in Trance wackelt eine junge Transsexuelle mit geschlossenen Augen zum Rhythmus der Musik. In der Mitte einer Straße stehen mehrere blaue Plastikzelte.

Junge Männer in Sportkleidung und mit dicken Goldketten um den Hals sitzen hinter kleinen Plastiktischen, auf denen sich beigefarbene Cracksteine stapeln. Wie auf einem Obstmarkt wechseln Scheine und Ware den Besitzer. Ein Stein kostet hier rund drei Euro. Das reicht für zwei kurze Highs.
„Ich bin nicht nach Cracolândia gekommen, um…“, Jessica stockt kurz, „um eine Cracolândianerin zu werden.“ In ihrer konservativen Heimatstadt hätten die Menschen ihre Drogensucht nicht akzeptiert. Ihre einzige Möglichkeit: ein neues Leben, ein Neustart „irgendwo, wo mich niemand kennt“. Ihr Partner Wesley* ging zuerst nach São Paulo. Jessica folgte ihm kurze Zeit später. Mehrere Tage irrte sie durch die Hochhausschluchten der Megametropole. Schließlich fand sie Wesley – in Craco­lândia. Heute schlafen die beiden auf einer gammeligen Matratze unter freiem Himmel.

Cracolândia entstand vor rund 20 Jahren. In den achtziger Jahren kamen die ersten Kokainlieferungen nach Brasilien. Das „weiße Gold“ zog das Land in einen Strudel aus Gewalt, Gier und Sucht. In den Neunzigern rauchten im größten Land Lateinamerikas die Ersten Crack. Heute konsumieren nirgendwo auf der Welt so viele Menschen Crack wie in Brasilien. Das Koksderivat wird in meist selbstgebastelten Pfeifen geraucht. Über die Lunge gelangt der Wirkstoff schnell zu den Nervenzellen des Gehirns. Die Wirkung ist intensiv: Euphorie, Schwerelosigkeit, Energie. Für ­einen Moment kann man alles vergessen. Der Trip ist kurz und der Fall tief. Eine chemische Achterbahnfahrt.

Keine Droge macht schneller abhängig als Crack. Die Liste der Nebenwirkungen ist lang: Depressionen, Angstzustände, Schlafstörungen. Oft konsumieren Abhängige die Droge tagelang, ohne zu schlafen. Und Crack ist billig. So rauchen vor allem Arme die „Teufelsdroge“. Der Großteil der Bewohner*innen von Cracolândia stammt aus der armen Vorstadt, die São Paulo wie ein dichter Wald aus Wellblech und Backsteinen umgibt. Viele saßen bereits im Gefängnis. Es sind Menschen, für die kein Platz in der brasilianischen Gesellschaft ist. Die großen Medien bauen Angstszenarien auf und verteufeln Cracolândia als Hort des Elends und der Kriminalität. Allerdings bieten die berüchtigten Straßenzüge vielen Ausgestoßenen Schutz und eine gewisse Solidarität.
Seit ein paar Wochen nehmen Jessica und Wesley an einem Antidrogenprogramm der Landes-regierung teil. Frühstücken, Gruppenaktivitäten, kleine Jobs – ein halbwegs geregelter Tages-ablauf. Ihren Drogenkonsum konnten beide verringern. „Obwohl wir versuchen, den Leuten zu zeigen, dass wir kämpfen, werden wir unterdrückt, geschlagen und beleidigt“, sagt Jessica. „Das macht mich traurig. Jeder hat einen Grund, hier zu sein, jeder hat eine Geschichte.“

Geschichten gibt es viele in Craco­lândia. Die meisten handeln von Leid und Gewalt. Aber auch hier gibt es so etwas wie einen Alltag – und klare Regeln. Diebstahl untereinander und Gewalt sind tabu. Vor den „Engeln“, den Kindern, sollen keine Drogen konsumiert werden. Der Zusammenhalt der Bewohner*innen ist stark. Wesley, Anfang 30, Spiegelglatze, Zahnspange, meint: „Wir sind hier alle Freunde und respektieren uns. Es ist wie in einem Dorf.“

Das Viertel ist der Staatsmacht seit Langem ein Dorn im Auge.

Das Viertel ist der Staatsmacht jedoch seit Langem ein Dorn im Auge. Polizeioperationen sind an der Tagesordnung, so wie zuletzt bei den Groß­razzien am 11. Juni und einige Wochen zuvor am 21. Mai. Bei den Einsätzen kommt es oft zu Menschenrechtsverletzungen. „Erst letztens hat die Polizei dort drüben einen Jungen verhaftet und ihn grün und blau geschlagen“, erzählt Wesley und zeigt auf eine Straßenecke. Die Polizei begründet die Einsätze meistens damit, das organisierte Verbrechen zu bekämpfen. Die Leidtragenden der Operationen sind aber oft die Abhängigen. Wenn Dealer*innen verhaftet werden, sind am nächsten Tag Neue da.
2014 initiierte der damalige Bürgermeister Fernando Haddad unter Federführung des städtischen Gesundheitsamtes ein mutiges Pilotprojekt: „Mit offenen Armen“ war eine 180-Grad-Wende in der Drogenarbeit. Mit unkonventionellen Maßnahmen sollte der Konsum reduziert werden: Die Teilnehmer*innen verpflichteten sich zu einfachen Arbeiten wie Straßenreinigung und Begrünung von Parks. Als Gegenleistung erhielten sie Verpflegung, Unterkunft in Hotels, medizinische Grundversorgung – und ­einen kleinen Lohn. Der Aufschrei ließ nicht lange auf sich warten. Man helfe den Süchtigen, ihre Drogen zu bezahlen, hieß es aus konservativen Kreisen.

Befürworter*innen argumentierten hingegen, dass die Drogenkranken dabei unterstützt würden, wieder ein halbwegs geregeltes Leben zu führen. Sucht könne nur bekämpft werden, wenn man die Menschen wieder in die Gesellschaft integriere. Größter Streitpunkt war die Frage der Abstinenz. Vorher setzten städtische Programme einen kompletten Verzicht voraus. Beteiligte an „Mit offenen Armen“ durften hingegen weiterhin Drogen konsumieren.

Das Programm knüpft an Projekte der „akzeptierenden Drogenarbeit“ an, die in den Achtzigern erstmals in Europa und Nordamerika erprobt wurden. Durch die Ausgabe von sauberen Spritzen konnte die HIV-Infektionsrate bei Heroinabhängigen stark gesenkt werden. „Schadensreduzierung“ nennt man das. Auch „Mit offenen Armen“ setzte sich zum Ziel, Risiken zu vermindern, statt einen Entzug zu forcieren. Saubere Crackpfeifen, Kondome und Aufklärungsbroschüren wurden zu Tausenden verteilt. „Pflege und Freiheit“ lautet die Leitlinie des Programms. Der enge Kontakt zwischen Sozialarbeiter*innen und Abhängigen ist fundamental. „Wir versuchen, eine Beziehung zu den Personen aufzubauen, um ihnen so zu helfen, schrittweise ihren Konsum zu reduzieren“, erklärt der Mitarbeiter Marquinho Maia. „Unser Fokus ist nicht die Droge, sondern der Mensch.“

Über 500 Menschen nahmen zu Hochzeiten an dem Programm teil. Die Erfolge sprechen für sich. Einer Sta­tistik der Stadtverwaltung zufolge haben 88 Prozent der Teilnehmer*innen ihren Konsum verringert. Über die Hälfte der Befragten habe wieder Kontakt zu ihren Familien aufgenommen. Das Projekt hat Vorbildcharakter in ganz Lateinamerika.

Doch damit ist nun Schluss. Am 1. Januar trat João Doria den Posten des Bürgermeisters São Paulos an. Der millionenschwere Unternehmer inszeniert sich gerne als Mann des Volkes. So ließ sich der Politiker der rechten Partei PSDB in Müllmannuniform ablichten, besuchte Favelas und spazierte mit Obdachlosen durch die Stadt. Doch kurz nach Amtsantritt verbot Doria Obdachlosen, sogenannte Minifavelas unter Brücken zu errichten.
Bald kündigte er auch an, Cracolândia zu beseitigen. Ende Mai ließ er seinen Worten Taten folgen. Mehrere Hundert Polizist*innen stürmten das Viertel, rissen Zelte ab, trieben Drogenkranke zusammen. Für viele Stunden lag eine dicke Tränengaswolke über dem Viertel. Die Polizei lieferte sich Schusswechsel mit Dealer*innen. Doria besuchte noch am selben Tag Cracolândia und ließ medienwirksam das Schild „Mit offenen Armen“ abmontieren. Es war das Ende des Programms. Zuvor hatte er es als „Crack-Stipendium“ verunglimpft. Von nun an sollen Arbeitsmaßnahmen eine Drogenabstinenz voraussetzen, Zwangs­internierungen sind geplant. „Erlösung“ hat Doria sein Programm für Cracolândia getauft.

„Es ist lächerlich, bei einem Programm für Drogensüchtige vorauszusetzen, dass sie auf einmal aufhören, Drogen zu nehmen. Das ist ein langer Prozess und wird nicht von einem auf den anderen Tag geschehen“, sagt Raphael Escobar. Der Endzwanziger mit blondiertem Strubbelkopf hat mehrere Jahre als Sozialarbeiter in Craco-lândia gearbeitet. „Die Politik von Doria lautet: Wenn man sich nicht anpasst, wird man zwangsinterniert oder verhaftet.“ Zusammen mit anderen Sozialarbeiter*innen, Gesundheitsexpert*innen und Künstler*innen hat Escobar das Kollektiv „Craco wehrt sich“ gegründet, als „Antwort auf die Pläne von Doria“, wie Escobar betont. Mehrmals in der Woche veranstaltet die Gruppe Kulturveranstal­tungen in Cracolândia, organisiert Nachtwachen und Demonstrationen und registriert Polizeigewalt. „Wir wollen eine Gegenöffentlichkeit als Antwort auf den medialen Diskurs herstellen“, sagt Escobar.

Hinter Dorias Politik der harten Hand stehen auch ökonomische Interessen. Lange galt die Innenstadt als verwahrlost, gefährlich und unattraktiv für die Mittel- und Oberschicht. Seit einigen Jahren interessieren sich jedoch wieder Investor*innen für das Stadtzentrum. Die Grundstückspreise rund um Cracolândia sind in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Die bekannte Bahnstation Luz liegt gleich um die Ecke. Im imposanten Prunkbau drängeln sich in den Morgen- und Abendstunden Tausende Pendler*innen. Ab und zu schauen auch mal Tourist*innen vorbei. Mehrere renommierte Museen, Theater und Konzerthäuser befinden sich in der Nähe, aber auch viele besetzte Häuser und die letzte Favela im Zentrum von São Paulo. Kleine Elektrogeschäfte und billige Hotels reihen sich hier an zwielichtige Kneipen. Müllsammler*innen mit sonnengegerbter Haut kreuzen die Wege von Sexarbeiterinnen und stylischen Hipstern.

In den vergangenen Jahren scheiterten mehrere Versuche, den dynamischen Stadtteil zu „revitalisieren“. Auch der linksliberale Fernando Haddad hatte als Bürgermeister erfolglos versucht, die Gegend aufzuwerten. Nun will der selbstdeklarierte Selfmademan Doria durchgreifen. Ganz unverhohlen kündigte er an, die Häuser rund um den fluxo zu enteignen und dort Immobilienfirmen freie Hand zu lassen. „Sozialhygiene“ nennen Kritiker*innen die Pläne von Doria. „Seit vielen Jahren hat der Staat großes Interesse an der Gegend“, sagt Ed Peixoto von „Craco wehrt sich“. „Sie wollen die Gegend ‘reinigen’ und in eine finanziell rentable Region umwandeln.“ Kritik kommt nicht nur von den Bewohner*innen und ­sozialen Bewegungen. Internationale Organisationen rügten Mitte März in Wien auf einer UN-Drogenkonferenz die Pläne Dorias.


Brasilien folgt in der Drogenpolitik den USA.

Brasilien folgt in der Drogenpolitik den USA. Dort begann der Staat in den Achtzigern mit dem „Krieg gegen die Drogen“ und einer Null-Toleranz-Politik. Mittlerweile befinden sich Hunderttausende Menschen in den USA wegen Drogenvergehen hinter Gittern. So auch in Brasilien. Zwischen 1990 und 2014 hat sich die Gefängnisbevölkerung um das Siebenfache erhöht. Heute sitzen 600 000 Brasilianer*innen im Gefängnis, ein Großteil davon wegen Drogendelikten. Der „Krieg gegen die Drogen“ fordert fast nirgendwo so viele Opfer wie in Brasilien. Bei kriegsähnlichen Auseinandersetzungen in den Favelas sterben täglich viele Menschen. Hauptopfer ist die arme, schwarze Bevölkerung. Die Erfolge der Politik der harten Hand lassen auf sich warten. „Das Ziel des Staates ist es, bestimmte Menschen zu internieren, ins Gefängnis zu werfen und sie somit aus den Augen der Gesellschaft zu verdrängen“, meint Maia. Der 34-Jährige ist sich sicher: Nicht die Droge sei das Problem, sondern die soziale Situation der Menschen. Der Konsum und Verkauf von Drogen werde daher nicht enden, solange die Gesellschaft von extremer Ungleichheit geprägt sei.

Auch Expert*innen warnen, dass man das Problem mit Gewalt nicht lösen könne. So auch in São Paulo: Nach der Räumung von Cracolândia sind die Abhängigen einfach ein paar Straßen weitergezogen. Auch der Drogenhandel ist zurück. Es ist eine Verlagerung des Problems, keine „Erlösung“.

Wesley hat Angst vor der Zukunft: „Wenn Doria wirklich ernst macht, wird es sehr schwierig für uns. Wir wissen nicht, wohin wir gehen sollen.“ Die Hoffnung will er aber nicht aufgeben: „Ich bin mir sicher, dass wir irgendwann clean sein und ein Dach über dem Kopf haben werden.“ Er legt den Arm um Jessica und die beiden verschwinden im Gewimmel der Nacht.

*Name von der Redaktion geändert

DER RUF DES WALDES

Fotos: Pororoca.red

Es ist Donnerstagabend. Morgen früh beginnt das achte Panamazonische Sozialforum (FOSPA) auf dem Gelände der Universität von Tarapoto, einer mittelgroßen Stadt im Nordosten Perus. Auf dem Campus wird noch eifrig gewerkelt: Bühnenbauer*innen verlegen Drainagen, streuen säckeweise Sägespäne und schimpfen auf den Klimawandel. Nach zwei Tagen tropischem Dauerregen steht im großen Veranstaltungszelt knöcheltief das Wasser. Techniker*innen verlegen trotzdem mutig Internetkabel. Internationale Freiwillige rücken Plastikstühle zurecht und machen die Scheinwerfer der Hauptbühne wasserdicht. Nun kann es eigentlich losgehen.
Doch bevor die Veranstaltung beginnt, müssen noch die Geister des Dschungels beschwichtigt werden. Es darf auf keinen Fall wieder regnen! Wie gut, dass das diesjährige FOSPA mit einem spirituellen Eröffnungsritual beginnt. Dieses findet nicht im doch recht lauten Tarapoto statt, sondern im benachbarten Dörfchen Lamas. Hier versammeln sich am Freitagvormittag etwa zweihundert Menschen. Die Aktivist*innen kommen aus Peru, aber auch aus den Nachbarstaaten Bolivien oder Brasilien. Und manch einer hat sogar eine weite Reise auf sich genommen und ist aus dem Kongo oder Haiti zum Forum angereist, um den internationalen Erfahrungsaustausch anzuregen. Europäer*innen sieht man hingegen kaum.

Langsam setzt sich die Menge in Bewegung, zu der parkähnlichen Plaza, auf der die Zeremonie stattfindet. Es geht einen Hügel hinab und einen anderen wieder hinauf, mit spektakulärem Ausblick auf die nebelverhangenen Bergketten von Lamas. Als alle Kinder der Pachamama (Quechua: Mutter Erde) angekommen sind, werden sie herzlich begrüßt, um dann der Erde ihren Dank auszusprechen. Verbunden natürlich mit der Bitte, für gute Energie und gutes Wetter in den kommenden Tagen zu sorgen.

„Die Politiker sollten den Begriff ‚Gutes Leben‘ nicht mal in den Mund nehmen dürfen!“

Und das hat gut geklappt! Auf dem Universitätsgelände von Tarapoto, dem Ort des eigentlichen Geschehens, strahlt am nächsten Morgen die Sonne vor einem wolkenlosen Himmel. Unter dem grünen Blätterdach eines großen Baumes steht ein weißes Zelt. Hier befindet sich das mobile Studio von La Nave Radio, einem Zusammenschluss von Medienmachenden aus dem Amazonasgebiet. In den Sendungen sollen Besucher*innen und Akteur*innen des Forums frei und ehrlich erzählen: was ihnen politisch wichtig ist, warum sie überhaupt hier sind oder welche Konflikte sich gerade in ihren Dörfern und Städten abspielen. La Nave Radio sendet live vom Forum, ist aber auch im Internet zu hören.

Gerade moderieren der Musiker Lucho und der Geschichtenerzähler Leonardo. Beide kommen aus Peru. Ihre Gemeinden Nieva und Nauta liegen am gleichen Fluss, dem Río Marañón, einem Quellfluss des Amazonas. Mit dem Mikrofon kämpfen sie seit Jahren gegen Ölförderung, Holzeinschlag und Infrastrukturprojekte in ihren Gebieten. Themen, die auch ihren heutigen Studiogästen Domingo und Elvia vom ecuadorianischen Indigenen-Dachverband CONFENIAE unter den Nägeln brennen: „Wir entwickeln gerade das Projekt ‚Cuencas Sagradas‘“, verrät Domingo dem Publikum. Übersetzt heißt das die ‚Heiligen Quellflüsse‘. Für ihren Schutz setzt sich CONFENIAE ein. Denn im Río Napo und Río Marañón liege der Ursprung der gesamten Artenvielfalt der Region. „Alle Bodenschätze dort müssen unangetastet bleiben!“, fordert Domingo. So neu klingt das nicht, sondern eher nach Yasuní. Bereits im Jahr 2010 erklärte sich Ecuador dazu bereit, kein Erdöl im Yasuní-Nationalpark zu fördern. Wenn, so die Bedingung, die internationale Staatengemeinschaft dafür Kompensationszahlungen leistete. Doch am Ende fehlte es an willigen Spendern, um die 3,5 Milliarden Euro zusammenzubekommen. Und die ecuadorianische Regierung vollzog eine Kehrtwende: Zwar wird offiziell weiter das „Buen Vivir“ gepredigt, das „Gute Leben“, bei dem Mensch und Natur im Einklang miteinander leben. Tatsächlich verkauft der Staat jedoch seit 2013 auch Förderlizenzen im Yasuní-Park. Die Indigenen sind nicht länger Verbündete. Domingos Mitstreiterin Elvia ist empört: „Von welchem Guten Leben spricht die Regierung, wenn Mutter Erde zerstört wird? Die Politiker sollten diesen Begriff nicht mal in den Mund nehmen dürfen!“

Vor dem Radio-Zelt von La Nave hat sich eine Menge gebildet, die gebannt zuhört. Auch nach der Sendung diskutieren die Zuhörer*innen mit Elvia und Domingo noch lange auf der Straße über den Vorschlag weiter: Würde sich China wirklich auf einen Schuldenschnitt mit Ecuador einlassen und so der Regierung Handlungsspielraum verschaffen? Was ist der im vergangenen Jahr von der UNO geschaffene Klima-Topf wert, wenn am Ende doch niemand einzahlt? Alles Fragen, über die in den kommenden Tagen noch zu reden sein wird.

Starke Frauen: Die Teilnehmerinnen verschaftten sich lautstark Gehör

Rund 1.500 Aktivist*innen, in der Mehrzahl Indigene, haben es zum Sozialforum nach Tarapoto geschafft. Auf die Beine gestellt wird das FOSPA von Vertreter*innen der Basisgruppen und NGOs aus allen teilnehmenden Ländern. Sie schicken Hilfskräfte und bringen so gut wie möglich ihre finanzielle Unterstützung ein. Wen man hier wenig sieht, sind Vertreter*innen aus den größeren Medien. Mitorganisatorin Leslie bedauert das. Zur FOSPA-Pressekonferenz, die im Vorfeld in Lima stattgefunden hat, seien wieder nur die „üblichen Verdächtigen“ gekommen: „Es ist sehr schwer, andere Medienvertreter für unsere Sache zu gewinnen,“ sagt sie und hofft, dass die peruanische Presse vielleicht in Zukunft auch mal gesellschaftspolitisch ambitioniertere Themen auf die Titelseite bringt, als den täglichen Einheitsbrei aus Korruption und Gewalt in den Städten. Doch bis es soweit ist, bleibt die Berichterstattung des FOSPA vor allem in den Händen von Community-Medien, allen voran La Nave Radio, mit ihren Moderator*innen aus dem Amazonasgebiet.

Im weißen Radiozelt macht derweil die Kolumbianerin Dora Muñoz von den indigenen Nasa die Situation in der südwestlichen Provinz Cauca zum Thema. Dora, selbst seit fünfzehn Jahren Medienmacherin, unterstreicht, wie wichtig es sei, dass Indigene selbst über ihre Realitäten berichteten – denn nur so würden Zusammenhänge klarer. Für die Nasa etwa habe sich seit den Friedensverträgen zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerilla vieles geändert: „Einerseits wurde es ruhiger: Man hört keine Flugzeuge mehr, keine Bomben und keine Schießereien.“ Allerdings sei es zu früh, um von einem wirklichen Frieden zu sprechen. Für Dora handelt es sich eher um eine fragile Art von Befriedung. „Es gibt immer noch Morde und Morddrohungen. Auch in diesem Jahr sind bereits fünfzehn soziale Aktivisten ums Leben gekommen. Vertretern von Menschenrechtsorganisationen werden bedroht. Für die Regierung sind das Einzelfälle; doch es steckt ein System dahinter”.

Starke Frauen wie Dora sind auf dem Forum überall präsent.

Erst Mitte April ist Gerson Acosta, ein Sprecher der Nasa, an seinem Wohnort erschossen worden. Seine Gemeinde war bereits 2001 von Paramilitärs angegriffen und vertrieben worden. Es gibt Hinweise, denen zufolge diese bei ihrer Aktion von der kolumbianischen Armee unterstützt wurden. Und die Armee wiederum soll von rechten Unternehmer*innenkreisen dafür bezahlt worden sein. Alles, um sich das ressourcenreiche Gebiet der Indigenen unter den Nagel zu reißen: ein in Kolumbien nicht unüblicher Vorgang. Aktivist Acosta, der immer wieder Ermittlungen zu den Drahtzieher*innen gefordert hatte, war schon mehrfach mit dem Tod bedroht worden. Schließlich hatte er sogar Personenschutz von der Regierung erhalten – und bezahlte doch mit dem Leben. Radiomacherin Dora Muñoz erzählt anschaulich von der Lage in den zuvor von den FARC (der größten kolumbianischen Guerilla) kontrollierten Gebieten, in denen sich jetzt Paramilitärs und Rebellen-Splittergruppen ungehindert breit machen. Doch die indigenen Nasa seien jetzt dabei, eine Gegenstrategie zu entwickeln. Im April hat eine Vollversammlung in Corinto stattgefunden. Dort haben die indigenen Gemeinden und Bäuerinnen und Bauern die Guardia Indígena wieder aktiviert, „mit dem Ziel, keine bewaffneten Gruppen mehr auf ihr Gebiet zu lassen“.

Starke Frauen wie Dora – sie sind auf dem FOSPA überall präsent. Am dritten Tag des Forums findet diesbezüglich noch mal ein Höhepunkt statt: „El Tribunal de las mujeres“ – das Tribunal der Frauen. Auf dem Podium in dem voll besetzten Hörsaal sitzen vier Feministinnen. Heute sind sie Richterinnen. Sie hören sich die Geschichten von kämpferischen lateinamerikanischen Frauen an, die ermordet wurden, deren Täter aber straflos bleiben – wie im Fall der honduranischen Umwelt-Aktivistin Berta Cáceres. Oder die akut vom Tode bedroht sind – wie die Kleinbäuerin Máxima Acuña. Ihre Ackerfläche liegt in der Provinz Cajamarca, im Nordwesten Perus. Mitten in einem Gebiet, in dem die Mega-Goldmine Conga entstehen soll. Wäre da nicht Máxima, die sich weigert zu gehen und ihr Land den Interessen des Extraktivismus zu opfern. Die Gewalt, der sie seitdem unterworfen ist, hat viele Gesichter: Zerstörung ihres Hauses und ihrer Anbauflächen, körperliche Angriffe auf sie und ihre Familie, sexualisierte Gewalt, Hetzkampagnen in der Presse und den sozialen Medien, und schließlich juristische Prozesse, die sie mürbe machen sollen. Zwar haben alle Instanzen bislang zugunsten der Campesina Máxima entschieden. Und für die Richterinnen des Tribunals ist klar: Der Staat muss Máxima vor den Interessen des Unternehmens schützen. Ob die Entscheidungsträger*innen das gehört haben? Vielleicht. Jedenfalls entschied der Oberste Gerichtshof einige Tage nach Ende des Forums im Interesse der Kleinbäuerin. Conga Ade! (siehe Kurznachricht in dieser Ausgabe) Vorerst jedenfalls.

Überzeugend: Interview mit indigener Aktivistin

Am 1. Mai ist Tag der Arbeit und zugleich der letzte Tag des Panamazonischen Sozialforums. Geregnet hat es in den ganzen Tagen kaum einen Tropfen, und auch die Energie der Teilnehmenden ist weiterhin gut. Im Hauptzelt werden vormittags die Beschlüsse der einzelnen Arbeitsgruppen vorgestellt und die „Charta von Tarapoto“ verlesen. Darin steht, dass der Kapitalismus, welcher sich aktuell in rücksichtslosem Rohstoffabbau und „grüner Ökonomie“ ausdrücke, im Amazonas die Rechte der Bevölkerung und der Natur in Frage stelle. Er bedrohe die Nachhaltigkeit indigener Territorien und die Ernährungssicherheit der Bevölkerung. In dem Abschlussdokument des diesjährigen FOSPA wird einmal mehr das „Gute Leben“ als neues Paradigma des Zusammenlebens angepriesen. In mehr als zwanzig Unterpunkten werden konkrete Ideen und ehrgeizige Forderungen formuliert: vom Ende der Monokulturen, über die bessere Verwirklichung von Minderheiten- und Frauenrechten bis hin zu einer neuen Beziehung zwischen ländlichen und urbanen Räumen.

Bei den Besucher*innen und auch bei La Nave Radio stehen die Uhren auf Abschied. Die letzten Sendungen werden gefahren, dann soll das Zelt abgebaut und eingepackt werden, bis zum nächsten Jahr. Dann soll das Forum in Kolumbien stattfinden. Da taucht Domingo von der CONFENIAE noch mal auf. Er lächelt für ein Gruppenfoto. Und erzählt von den Schritten, die er in den letzten Tagen unternommen hat, um das Schutzprojekt der Cuencas Sagradas auf die Beine zu stellen: „Wir haben hier mit vielen peruanischen Basisgruppen gesprochen. Anfang Juli werden wir uns in San Lorenzo, Peru, noch einmal alle zusammenfinden.“ Und bereits vorher soll es ein Treffen mit der ecuadorianischen Regierung geben. Im Herbst, bei dem Weltklimagipfel in Bonn, wird dann auch in Deutschland von den heiligen Quellflüssen und dem Schutz der Amazonas-Region die Rede sein. Gerade wegen der vielfältigen Probleme sei es unerlässlich, Ideen und Perspektiven zu entwickeln, die über nationalstaatliche Initiativen hinausgingen, sagt Domingo: “Wir müssen unsere Kräfte vereinen, uns die Hände reichen und endlich die Grenzen zwischen den Ländern vergessen. Das ist das Wichtigste.”

AGGRESSIVER KAMPFHUND STATT LAHME ENTE

Die Lage bleibt unübersichtlich in Brasilien. Aber eines wird deutlich: Die Opposition gegen die Regierung von Michel Temer gewinnt an Kraft und erobert die Straße zurück. Deutliches Signal dafür war der Generalstreik am 28. April (siehe Kasten), der einen der erfolgreichsten Ausstände in der jüngeren Geschichte des Landes darstellte. Aber es ist nicht nur der Generalstreik: Im ganzen Lande flammen diverse Proteste auf. In unglaublich kurzer Zeit hat die durch ein umstrittenes Impeachmentverfahren an die Macht gekommene Regierung Temer jegliche Unterstützung in der Bevölkerung verspielt.

Gründe dafür gibt es mehr als genug. Nach zwei Jahren schwerer Rezession kommt die Wirtschaft immer noch nicht in Schwung. Die Regierung hat es immer schwerer, für diese Wirtschaftsmisere nur das Vermächtnis der vorangegangenen Regierungen verantwortlich zu machen. Insbesondere die Zunahme der Arbeitslosigkeit trifft die Bevölkerung hart. Nichtsdestotrotz versucht die Regierung Temer eine „Reformagenda“ durchzusetzen, die aus dem kleinen Einmaleins des Neoliberalismus zu stammen scheint. Staatsausgaben sind bereits für eine langen Zeitraum gedeckelt und die Tertiärisierung – also die Verlagerung von Arbeitskräften auf den Dienstleistungssektor – erleichtert worden.

Nun werden zwei entscheidende Elemente der Reformagenda im Parlament verhandelt: eine Reform des Arbeitsrechtes und eine Rentenreform. So soll ermöglicht werden, dass in Tarifverträgen im Einverständnis von Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen auch Vereinbarungen getroffen werden können, die unterhalb der rechtlichen Rahmenbedingungen liegen, also etwa bei Regelungen für Urlaub oder Überstunden. Angesichts einer zersplitterten und fragmentierten Gewerkschaftsbewegung würde diese perverse Auslegung von Tarifautonomie dem Sozialabbau Tür und Tor öffnen. Auch bei der Rentenreform geht es um das übliche: Erhöhung des Rentenalteres und verschärfte Bedingungen für den Erhalt einer Rente, die insbesondere Landarbeiter*innen hart treffen würde. Beide Reformen sind – wie Umfragen zeigen – in der Bevölkerung extrem unbeliebt.

Die Regierung Temer hat kein demorkatisches Mandat solche Reformen durchzuführen.

Insbesondere die Rentenreform sieht die Bevölkerung als Angriff auf Rechte, die Teil der gesellschaftlichen Kultur Brasiliens sind. Die Regierung Temer hat kein demokratisches Mandat, solche umstrittenen Reformen durchzuführen. Temer ist als Vize einer Präsidentin gewählt worden, die zumindest im Wahlkampf eine neoliberale Wende in Brasilien als Antwort auf die Wirtschaftskrise entschieden ablehnte.

Trotz fehlender Legitimierung, einer kurzen Amtszeit von maximal etwa zweieinhalb Jahren und katastrophalen Umfragewerten ist die Regierung Temer alles andere als eine „lahme Ente“, sie erweist sich immer mehr als aggressiver Kampfhund für eine extrem reaktionäre Wende.

Diese Wende zeigt sich nicht nur in der angestrebten Arbeits- und Rentenreform, sondern auch in der Umweltpolitik. Der Etat des zuständigen Ministeriums ist um um die Hälfte gestrichen worden, internationale Gelder des Amazonasfonds mussten eingesetzt werden, um eine Minimum von Kontrolle in Amazonien zu ermöglichen. Und dies alles in einer Zeit, in der der Anstieg der Entwaldung in Brasilien wieder für internationale Schlagzeilen sorgt.

Besonders hart trifft es auch die indigene Bevölkerung und traditionelle Gemeinschaften. Im Parlament werden eine Reihe von Gesetzesvorhaben verhandelt, die deren Rechte fundamental einschränken. So soll der Bau von Straßen und die Ausbeutung von Bodenschätzen in indigenen Territorien oder anderen Schutzgebieten erleichtert werden.

Dabei geht es nicht nur um einzelne Maßnahmen. Durch die Regierung Temer fühlen sich reaktionäre Kreise und insbesondere das Agrobusiness ermuntert. Die Wahl des Großgrundbesitzers und Sojaproduzenten Blairo Maggi zum Landwirtschaftsminister ist ein deutliches Signal an diese Klientel. Ein ganz anderes Signal haben die indigene Völker erhalten. Die für sie zuständige Behörde FUNAI wurde nicht nur finanziell ausgetrocknet, sondern auch der extrem reaktionären und und von evangelikalen Gruppen dominierten Christlich-Sozialen Partei PSC zugeschlagen. Diese ernannte prompt zuerst einen Militär als Präsidenten der Behörde, und dann einen Priester – doch auch der musste bald zurücktreten. Indigene Völker haben daher eine historische einmalige Mobilisierung gegen die Regierung Temer auf die Beine gestellt: Ende April versammelten sich bis zu 3.000 Vertreter*innen indigener Völker und Unterstützer*innen in Brasilia zu einem Zeltlager, das sie „Terra Livre“ nannten.

Mitten in diese komplizierten und unruhigen Zeit platzte eine weitere politische Bombe: Im Rahmen des nicht enden wollenden Korruptionsskandals, der Brasilien nun seit geraumer Zeit erschüttert, wurden die Aussagen der Chefs des größten brasilianischen Baukonzerns Odebrecht veröffentlicht. Dazu kam eine Liste des Untersuchungsrichters Fachin mit den Politiker*innen, die unter Anklage gestellt werden. Nun wurde offensichtlich, was schon lange vermutet worden war: Das gesamt politische System ließ sich von dem Baugiganten schmieren, Politiker*innen fast aller Parteien finden sich auf der Liste, einschließlich der bisherigen Präsidentschaftskandidaten der wichtigsten Oppositionspartie PSDB. Die Aussagen und die Liste belasten führende Politiker*innen der Arbeiter*innenpartei PT schwer, sie werden beschuldigt illegale Parteispenden in dreistelliger Millionenhöhe entgegengenommen zu haben. Aber dasselbe trifft auch auf führende Oppositionspolitiker*innen zu, Odebrecht war zu allen Seiten hin spendabel. Dabei beschränkt sich der Aktionskreis des Konzerns nicht auf Brasilien: Nach eigenen Angaben hat der Konzern in zwölf Ländern illegale Zahlungen in Höhe von 788 Millionen US-Dollar getätigt (siehe LN 513).

Indigene Völker haben eine historische Mobilisierung gegen die Regierung aufgestellt.

Die Regierung Temer ist zentral von den Ermittlungen betroffen, acht Minister stehen nun unter Anklage. Temer selbst entkommt der Anklageerhebung nur, weil er durch das Präsidentenamt eine erweiterte Immunität genießt. Die bittere Tragödie des Impeachmentverfahrens ist nun für alle sichtbar: Durch die Amtsenthebung Dilma Rousseffs (die nicht auf der Liste erscheint!) im August vergangenen Jahres ist die wohl korrupteste Regierung Brasiliens in das Amt gelangt – unter dem Vorwand des Kampfes gegen Korruption.

Im Kern der strafrechtlichen Ermittlungen stehen nicht deklarierte und damit illegale Zuwendungen an Parteien und einzelne Politiker. Aber die Aussagen von Firmenchef Marcelo Odebrecht enthüllen noch ein andere Dimension der Geschichte: die quasi symbiotische Beziehung zwischen Lula und den Odebrechts. Die Geschichte begann schon vor der Zeit Lulas als Präsident (2003 – 2010). Eine Episode in dieser langen Beziehung wirft ein Schlaglicht darauf, wie sich die Interessen des Unternehmens mit dem Handel der Regeirung und Präsident Lula direkt vermischen. Unter der Lula-Regierung wurden der lange unterbrochene Bau von Großstaudämmen in der Amazonasregion wieder aufgenommen. Jirau und Santo Antonio im Bundestaat Rondonia waren die Bahnbrecher dafür. Als es Schwierigkeiten mit der Umweltlizenz für den von Odebrecht übernommenen Staudamm von Santo Antonio gab, mischte sich Lula direkt ein und beschwerte sich sinngemäß: „Nun muss ich mich auch noch um die Welse kümmern“. Der Satz und die Welse (bagre) wurde berühmt als Ausdruck von Lulas ostentativer Missachtung von ökologischen Fragen. Lulas Einmischung war nicht ohne Folgen: Der Chef der Umweltbehörde IBAMA musste den Hut nehmen, die Lizenz wurde erteilt und der Staudamm gebaut. Nun erfahren wir von Marcelo Odebrecht die ganze Geschichte: „Wenigstens einmal traf ich mit dem damaligen Präsidenten Lula um zu fordern, dass nicht zu einer Verzögerung bei der Finanzierung von Santo Antonio durch die (staatliche Entwicklungsbank) BNDES kommen dürfe. Ebenso bat ich um eine spezielle Unterstützung, damit es nicht zu einer Verzögerung bei der Erteilung der Umweltlizenzen komme, was auch den gesamten engen Zeitplan gefährdet hätte. Lula hat dann unsere Unzufriedenheit mit dem berühmten Satz ausgedrückt: ‚Jetzt kann wegen des Wels‘ nicht gebaut werden, sie haben den Wels in meinen Schoss geworfen. Was habe ich damit zu tun?‘“

Insgesamt hat Odebrecht nach eigenen Angaben etwa 80 Milllionen Reais (circa 25 Millionen US-Dollar) spendiert, um den Bau von Santo Antonio zu erleichtern.

Die politische Bewertung der Beziehung zwischen Lula und Odebrecht steht aber nicht im Mittelpunkt der aktuellen Debatte. Es geht in erste Linie um die Frage der strafrechtlichen Relevanz der Vorwürfe. Und da beteuert Lula – wie alle anderen Beschuldigten – seine völlige Unschuld.

Der politische Effekt der jüngsten Wendungen scheint paradox: Nach einer Ende April veröffentlichten Befragung durch das Institut Datafolha würde Lula bei Präsidentschaftswahlen deutlich vorne liegen. Das war schon bei den letzten Umfragen so, aber Lula hat noch einmal zugelegt und würde jetzt alle bekannteren Oppositionspolitiker*innen auch in einer Stichwahl klar besiegen. Nur gegen eine Person liegt er knapp zurück: gegen den untersuchenden Richter Moro, der zur Personifizierung der Ermittlungen der Operation Lava Jato geworden ist. Die Umfragen zeigen ein zutiefst gespaltenes Land. Gut 40 Prozent der Befragten würden Lula wählen und praktisch eben so viele den erklärten Widerpart und das Idol aller Lula- und PT-Hasser, den smarten Richter Moro. Aber Moro ist kein Kandidat und würde er es, dann müsste er sich in die Tiefen des von ihm angeblich bekämpften politischen Systems begeben und könnte leicht an Glaubwürdigkeit und Zustimmung verlieren.

Ein weitere neue Entwicklung in den Umfragen ist der Aufstieg Jair Bolsonaros, des erklärt rechtsextremen Politikers, der die Folterer der Militärdiktatur feiert und Homosexuelle verfolgen will (siehe LN 503). Mit 15 Prozent der Stimmen liegt er bei den Umfragen für den ersten Wahlgang auf Platz zwei. Im Zug der politischen Auseinandersetzungen formiert sich also in Brasilien eine rechtsradikale Strömung und versucht zunehmend Einfluss auf die Politik zu gewinnen.

Natürlich lassen solche Umfragen noch keine Schlussfolgerungen auf das Ergebnis der Wahlen zu, die planmäßig im Oktober 2018 stattfinden werden. Aber sie markieren eins: die wiedergewonnene Zentralität der Person Lulas im Brasilien der Gegenwart. Für das PT-Lager aber auch wohl für viele andere, die zuletzt mit der PT-Regierung unzufrieden waren, stellt nun Lula die einzige politisch aussichtsreiche Alternative zu einer reaktionären Wende da. Große Teile der Linken unterstützen die Kandidatur Lula 2018 – auch aus völligen Mangel an Alternativen und dem Eindruck, welchen Schaden eine reaktionäre Regierung wie die von Temer anrichten kann. Gleichzeitig wird die Linke damit aber auch in großem Maße abhängig von der Person Lulas und dessen politischen Perspektiven.

Für das rechte Lager hingegen wird die politische Vernichtung Lulas im Mittelpunkt stehen. Eine Karte ist dabei ausgespielt: die Korruption. Denn in einer weiteren Umfrage von Datafolha sehen die Befragten in Lula den korruptesten aller Präsidenten seit 1989, dem Jahr der ersten Wahlen nach dem Ende der Militärdiktatur. Die resignierende Ansicht, dass Korruption ein unvermeidlicher Teil des politischen Systems sei, kommt offenbar vor allem Lula zugute.

Für die Rechte bleibt die juristisch Verfolgung Lulas, um zu verhindern, dass dieser überhaupt kandidieren kann. Damit haben sich aber die juristische und politische Dimension zu einem unentwirrbaren Knäuel verwickelt. Lula nun auf juristischen Wege kalt zustellen hieße, zu verhindern, dass der zurzeit populärste Politiker Brasiliens bei den Wahlen antreten darf. Dies würde eine heftige Reaktion der sozialen Bewegungen und großer Teile der Bevölkerung provozieren. Der Generalstreik war ein Auftakt für weitere unruhige Zeiten in Brasilien.

„DIE ERDE BEBTE“

„Niemals mehr wird sich auch nur eine von uns allein fühlen. Unsere Devise ‘Wenn sie eine angreifen, greifen sie uns alle an’ ist real und international geworden“, so enthusiastisch analysiert die brasilianische Feministin Analba Brazão die diesjährigen Demonstrationen, Diskussionen und Aktionen am internationalen Frauentag. Brazão, Aktivistin des nationalen Frauenverbandes Articulação de Mulheres Brasileiras, spricht gar von einer neuen Ära, einer Zeitenwende vor und nach dem 8. März 2017.

„Dies ist kein Tag, um Glückwünsche zu erhalten!“

Es scheint, als habe der Erfolg des Women’s March im Januar den Frauenbewegungen international Aufschwung verliehen, so als habe die kollektive Abscheu gegen den wieder erstarkenden offenen Sexismus in der Politik hunderttausende von Frauen weltweit mobilisiert – wenn sich auch der massenhafte Protest von mehr als einer Million Frauen am Tag nach der Amtseinführung von Präsident Trump nicht wiederholen ließ. Die größten und leidenschaftlichsten Proteste am Weltfrauentag fanden in Lateinamerika statt: In Argentinien, Brasilien, Chile, Mexiko und Uruguay protestierten Zehntausende gegen den voranschreitenden Konservativismus, der in den Regierungen Macri in Argentinien und Temer in Brasilien aktuell am deutlichsten wird.

Die meisten lateinamerikanischen Bewegungen schlossen sich dem Aufruf des Bündnisses Paro Internacional de Mujeres (Internationaler Frauenstreik) an, dem Organisationen aus 24 Ländern angehören. Dieser richtete sich gegen Machismo, Sexismus, Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, Lohnungleichheit und Feminizide. Dahinter steht die Idee zu zeigen, wie ein Tag ohne den Arbeitseinsatz von Frauen aussehen würde – eine Idee, die polnische Feministinnen in ihrem Widerstand gegen die Verschärfung der Abtreibungsgesetze 2016 sehr erfolgreich umgesetzt haben, die sich ihrerseits von der isländischen Bewegung 1975 inspirieren ließen.

In Uruguay schloss sich der zentrale Gewerkschaftsverband PIT-CNT dem Streikaufruf an und rief für die Zeit zwischen 16 und 22 Uhr den Generalstreik aus. In Montevideo demonstrierten mehrere zehntausend Frauen; sie protestierten besonders gegen häusliche Gewalt. Bereits am Montag vor dem internationalen Frauentag hatte das uruguayische Parlament öffentlich über die Situation der Frauenrechte im Land debattiert. Im Mittelpunkt standen die Pläne der Regierung zur Herstellung von mehr Gleichberechtigung und der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Während der Debatte kündigte Verteidigungsminister Jorge Menéndez an, am Weltfrauentag sämtlichen Mitarbeiter*innen, die an den Kundgebungen teilnehmen, bezahlten Urlaub zu genehmigen. „An diesem Tag müssen die Männer Aufgaben erfüllen, die sonst Frauen übernehmen“, sagte Menéndez.

In mehr als 60 Städten in Brasilien fanden Kundgebungen statt. Die brasilianischen Gewerkschaften hatten sich dem Aufruf zum Streik allerdings nicht angeschlossen. „Die Rente bleibt – Temer geht“, unter diesem Motto demonstrierten in São Paulo 30.000 Frauen. Die Schauspielerin Juliana Liegel betonte: „Als jemand, der im Kulturbereich arbeitet, bin ich auch hier, um die Rechte der Frauen gegen diese Rentenreform zu verteidigen, wir müssen auf die Straße gehen. Dies ist kein Tag, um Glückwünsche zu erhalten, sondern ein Tag, um sich zusammen zu schließen und unsere Rechte zu verteidigen.“

Wie in São Paulo machte sich auch in anderen Regionen die Frauenbewegung Forderungen weiterer politischer und sozialer Bewegungen zu eigen. Die Landlosenbewegung MST mobilisierte bereits in den Tagen vor dem 8. März rund 40.000 Landarbeiter*innen in allen Teilen des Landes. Rund 200 Aktivist*innen besetzten den landwirtschaftlichen Betrieb des Unternehmers Eike Batista. „Wir haben die Fazenda von Eike Batista besetzt, der wegen Bestechung in Rio de Janeiro im Gefängnis sitzt“, erklärte Esther Hoffmann aus der Leitungsebene des MST. Die vollständige Aufklärung aller Korruptionsfälle, der Rücktritt des nicht demokratisch legitimierten Präsidenten Michel Temer und die Verhinderung der von seiner Regierung geplanten Rentenreform – die gerade Frauen mit Mindestlohn besonders hart trifft – gehören zu den Hauptforderungen der sozialen Bewegungen in Brasilien.

In Rio de Janeiro wurde der Flughafen Tom Jobim – RioGaleão für zehn Tage nach der bekannten Aktivistin gegen häusliche Gewalt in Flughafen Maria da Penha umbenannt. Der geschäftsführende Direktor des Flughafens, Gabriel França, sagte, die Reaktionen auf die Hommage seien überwiegend positiv: „In dem Maße, in dem die Gesellschaft sich zum Besseren entwickelt, werden auch wir uns verbessern.“ Ganz das konservative Frauenbild vertrat dagegen Präsident Michel Temer in seinem Grußwort zum Weltfrauentag. Er lobte zunächst das Engagement der Frauen im Haushalt und bei der Kindererziehung, um dann anzuschließen: „Niemand ist mehr dazu geeignet, die Preise im Supermarkt zu kontrollieren als die Frau. Und niemand ist mehr dazu geeignet, die ökonomischen Veränderungen zu entdecken als die Frau, allein durch das Sinken oder Steigen des Haushaltsgeldes.“

In Argentinien hatte das Kollektiv “Ni una menos!” (Nicht eine weniger!), das sich besonders gegen Gewalt gegen Frauen und Feminizide wendet, zum internationalen Streik am 8. März aufgerufen. Obwohl sich tausende von Frauen auf der Plaza de Mayo und in anderen Landesteilen, darunter in mehreren Städten in Córdoba, versammelten, konnte “Ni una menos!” nicht in dem Maße mobilisieren, wie zum ersten Nationalstreik der Frauen in der Geschichte Argentiniens, als im Oktober des vergangenen Jahres Hunderttausende auf die Straße statt zur Arbeit gingen. In Buenos Aires kam es während einer Kundgebung vor der Kathedrale zu Übergriffen der Polizei, 20 Teilnehmer*innen wurden festgenommen.

„Die Erde bebte. Und es waren die Frauen, die sie zum Beben brachten“, schreibt die brasilianische Feministin Analba Brazão. „Lasst uns gemeinsam in eine neue Internationale schreiten.“ Ob der diesjährige 8. März 2017 tatsächlich eine Zeitenwende bedeutet oder nicht – die internationale Selbstermächtigung von Frauen und die massenhaften Proteste gegen den konservativen politischen Rückschritt stimmen hoffnungsvoll.

 

WER AN DER RENTENREFORM VERDIENT

Auf vielen Plakaten, die Teilnehmer*innen der Proteste Mitte März gegen die Rentenreform bei sich trugen, wurde davor gewarnt, dass die Rentenrefom der Regierung Temer vor allem die Frauen hart treffen werde. Warum?
Sandra Quintela: Zunächst einmal ist das keine „Reform“ der Rente. Es handelt sich vielmehr um ein Projekt, dass öffentliche Mittel privaten Interessen, vor allem der Banken, zuschaufelt. Denn es sind Mittel der Öffentlichen Hand, die zuvor nicht nur die Rentenzahlungen, sondern auch die Sozialprogramme und die Gesundheit von Millionen von Brasilianer*innen garantierten – also das, was den gesamten Bereich der Sozialsysteme umfasst. Ein Angriff auf den ganzen Strukturrahmen, der die ganze Bandbreite an Sozialaufgaben des Staates umfasste – von Mutterschutz über Entgeltfortzahlungen im Krankheitsfall bis hin zu Sozialrenten bei begründet kürzerer Beitragszahlung oder Berufsunfähigkeit.
Wir Frauen werden davon am stärksten betroffen sein, da laut diesem Vorhaben das derzeit noch unterschiedliche Renteneintrittsalter bei Frauen und Männern nivelliert wird. Dies soll in Zukunft einheitlich bei 65 Jahren liegen. Ignoriert wird dabei aber die Ungerechtigkeit bei der Arbeitsteilung der Geschlechter, da den Frauen zusätzlich die Haushaltsarbeit sowie die Kindererziehung und Altenpflege auferlegt wird. Obwohl wir Frauen in Brasilien mit 51 Prozent in der Mehrheit sind, stellen wir nur 42,8 Prozent der offiziell als arbeitstätig Anerkannten dar. 57,2 Prozent belegen die Männer. Der Mangel an Horts und Kindergärten ist dabei einer der Hauptgründe, warum Frauen nicht im gleichen Maße eine Arbeitsstelle suchen können. Und obendrein erhalten Frauen bei gleicher Tätigkeit nur 76 Prozent des Lohnes, den Männer erhalten. In den vergangenen 20 Jahren stieg die Zahl der allein von Frauen geführten Familienhaushalte von 23 auf 40 Prozent. Solange diese Unterschiede nicht aufgehoben werden, wird nun ein einheitliches Renteneinstiegsalter die Missstände noch weiter verschärfen.

Worum geht es bei den geplanten Kürzungen des Rentenaufstockungsprogramms?
Dieses Programm sozialer Renten ist für jene Menschen gedacht, die aufgrund ihres Alters – 65 Jahre oder älter – oder aufgrund von Berufsunfähigkeit ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können. Die Höhe beträgt einen gesetzlichen Mindestlohn. Dazu muss die betroffene Person nachweisen, dass ihr Haushaltseinkommen bei weniger als einem Viertel des Mindestlohns liegt. Laut der nun vorgelegten Verfassungsänderung PEC 287 soll das Mindestalter, ab dem überhaupt dieses Rentenaufstockungsprogramm beantragt werden könnte, auf 70 Jahre angehoben werden. Hinzu kommt, dass diese Sozialleistung gar nichts mit dem Rentenprogramm zu tun hat, denn es ist ein Sozialprogramm. Es ist vollkommen unbegründet, diesen Änderungsvorschlag im Rahmen dieser Renten-Konterreform einzubringen.

Welche Konsequenzen bringen die Änderungen für Arbeitende auf dem Land und für Kleinfischer*innen?
Nach den neuen Regeln der PEC 287 steigt auch für Landarbeiter*innen das Renteneinstiegsalter auf 65 Jahre. Und dies selbst dann nur, sofern sie zuvor mindestens 25 Jahre lang monatlich Beiträge in die Rentenkasse eingezahlt haben. Um aber überhaupt den vollen Rentenbetrag zu erhalten, müsste sie 49 Jahre Beiträge gezahlt haben.
Seit der Verfassung von 1988 ist das Sozialrentensystem das zentrale Mittel sozialer Umverteilung in Brasilien. Die Wirtschaft ganzer Kleinstädte basiert zu einem Großteil auf den Renten der Senior*innen. Mit zunehmender Verarmung auf dem Land, bei verschärfter Dürre wie zum Beispiel im Nordosten des Landes, muss man sich fragen: Wie sollen die Familien diese monatlichen Beitragszahlungen leisten, wenn sie schon heute von Sozialprogrammen wie dem Familienzuschuss Bolsa Família leben müssen?
Dieses Bild lässt sich fortzeichnen bei den Quilombolas, den Nachkommen entflohener Sklaven, und bei den Kleinfischer*innen. Also genau diejenigen traditionellen Bevölkerungsgruppen, die zuvor ohnehin schon unter der Entwicklungswalze der industriellen Großprojekte gelitten haben, die von ihrem Land verdrängt wurden und deren Lebenswelten zerstört wurden.

Warum sind die Militärs sind von den Plänen zur Rentenreform bisher ausgenommen?
Die Militärs werden in einem gesonderten Gesetzesvorhaben abgehandelt, nachdem die einzelnen Bundesstaaten die neuen Berechnungen für die Militärs durchführen sollen – also für die mit 50 Jahren in Rente gehenden männlichen Militärs und für die mit 45 Jahren in Rente gehenden Frauen beim Militär. Dahinter steckt das taktische Interesse der Regierung, einer unpopulären Regierung ohne Rückhalt in der Bevölkerung und die nie in Wahlen legitimiert worden war: Ohne sich taktisch politische Unterstützung bei Gruppen wie den Militär- oder Polizeikräften zu holen, hat diese Regierung keine politische Chance.

Die Befürworter*innen der Rentenreform verweisen auf die Defizite in der Rentenkasse. So habe dieser Wert 1997 bei 0,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukt gelegen, 2017 nun bei 2,7 Prozent. Die Brasilianer*innen lebten länger, mehr Alte bedeuteten mehr Rentner*innen und weniger Beitrags-Zahler*innen durch die alternde Bevölkerung. Die Financial Times frohlockte gar, um „Brasiliens Rentenlast zu reduzieren, hat Präsident Temer nun die Chance, eine Reform durchzusetzen, die Brasiliens Pleite abwendet“. Was entgegnen Sie solcher Argumentation?
Die Zahlen des brasilianischen Finanzministeriums sind klar: die Renten- und Sozialeinnahmen liegen über den Ausgaben. Brasiliens Sozialsystem erwirtschaftet sogar Überschüsse! 2012 lag der bei 82,7 Milliarden Reais, 2013 bei 76,2, 2014 bei 53,8 und 2015 bei 23,9 Milliarden Reais. Die von der Regierung in die Welt gesetzten Zahlen splittet die Konten der Rente und derer des Sozial- und Gesundheitswesens. Dies ist illegal, weil die Berechnung seit der Verfassung von 1988 zusammen erfasst wird. Dieses Splitten der Konten in zwei Bereiche ist ein klarer Versuch, die Banken zu privilegieren. Nicht umsonst stammt die PEC 287 aus der Feder des Finanzministers Henrique Meirelles, der zuvor bei der Bank of Boston gearbeitet hat. Vor kurzem hat eine Richterin der brasilianischen Bundesregierung gerichtlich untersagt, weiterhin Werbebotschaften dieser Form und Inhalts in die Welt zu setzen. Die Richterin sah es als erwiesen an, dass die Bewerbung der Rentenreform durch die Regierung den in der Verfassung Brasiliens festgeschriebenen Vorgaben für Werbemaßnahmen der Regierung widersprach: Sie dienten weder Zwecken der Bildung, noch der Information oder sozialer Orientierung.

Die Regierung Temer argumentiert zudem, die Rentenreform mache nur Sinn, wenn zugleich die große fiskalpolitische Haushaltssperre komme. Dies bei Inflationsraten von derzeit knapp fünf Prozent. Was ist von diesem politisch gesetzten Junktim zu halten?
Die große Haushaltsbremse, die die sogenannte PEC 55 vorgibt, friert die Höhe der Ausgaben für 20 Jahre ein. Eine Ausnahme ist dabei vorgesehen: die Kosten für Zins- und Zinstilgungen des Schuldendiensts. Dessen Ausgaben steigen von 42,43 Prozent 2016 auf 50,66 Prozent 2017. Obendrein hat der Putschpräsident Michel Temer den für Budgetverschiebungen erlaubten Rahmen von 20 auf 30 Prozent erhöht. Diese Erhöhung der Bandbreite um die Hälfte ermöglicht der Regierung, die vom Kongress bewilligten Haushaltslinien um bis zu 30 Prozent umzuschichten. So kann die Regierung von nun an, dem Sozialhaushalt oder dem Bildungshaushalt einfach so je 30 Prozent wegnehmen. So erleichtert das der Regierung, dieses Geld dem Schuldendienst zuzuschlagen. Tag für Tag tritt klarer zutage, dass der im August 2016 orchestrierte Putsch von den Eliten, den Medien und dem Justizsektor durchgezogen wurde, um alle sozialen Errungenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts und der ersten Jahre dieses Jahrhunderts zu schleifen. Mit unabsehbaren Folgen. Das fängt mit der Reform der Rente und des Arbeitsgesetzes an und geht über den Ausverkauf der Landflächen an ausländische Investor*innen und reicht bis hin zur Schleifung der Umweltgesetzgebung. Brasilien wird so den Interessen des internationalen Finanzwesens untergeordnet. Dieser Putsch richtet sich gegen die Klasse der Arbeitenden.

 

BIZARRE SCHOCKSTARRE

„Wir stehen vor der traurigen Tatsache, dass die Demokratie unter Beschuss steht,“ sagte Brasiliens Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot und übergab dem Obersten Gerichtshof kistenweise Beweismaterial und eine höchst brisante Liste. Sie zählt die Politiker*innen auf, die von dem skandalträchtigen Baukonzern Odebrecht Bestechungsgeld erhalten haben sollen – eigentlich das gesamte Establishment in Brasília: Mindestens neun amtierende Minister*innen, die Präsident*innen von Senat und Parlament, einflussreiche Senator*innen und Parteichefs der Regierungskoalition und nicht zuletzt die ehemaligen Präsident*innen Dilma Rousseff und Luis Inácio Lula da Silva.

Eigentlich hat das gesamte Establishment Bestechungsgelder erhalten.

Inzwischen sickern immer mehr Details über die eigentlich geheime Namensliste an die lokale Presse durch: Ende März wurde bekannt, dass mindestens zehn Gouverneur*innen in die Korruptionsaffäre verwickelt sein sollen, unter ihnen Geraldo Alckmin, Gouverneur des Bundesstaates São Paulo. Auch Eduardo Paes, Bürgermeister von Rio de Janeiro während der Fußball-WM und der Olympischen Spiele, wird Bestechlichkeit vorgeworfen.

Nicht zuletzt Präsident Michel Temer ist unmittelbar in die Affäre verwickelt. Sein Name steht zwar nicht auf der Liste, aber er muss dennoch mit Strafermittlungen rechnen: Im Jahr 2014 hatte er Odebrecht-Manager und Minister*innen in seine Residenz zum Abendessen geladen und um Wahlkampfhilfen in Millionenhöhe für die Regierungspartei PMDB gebeten. Angeblich ganz legale Spenden. Der Oberste Gerichtshof hat allerdings schon in anderen Urteilen angedeutet, dass auch deklarierte Spenden illegal seien, sofern sie aus fragwürdigen Quellen stammen – in diesem Fall von der berüchtigten Odebrecht-Abteilung, die für Bestechungen aller Art in zahlreichen Ländern zuständig war.

Janot empfiehlt dem höchsten Gericht die Einleitung von insgesamt 83 Strafprozessen. Weitere 211 Verfahren sollen von untergeordneten Gerichten verhandelt werden. Grundlage der neuen Flut von Ermittlungen sind mehr als 70 Kronzeugenaussagen von ehemaligen Odebrecht-Manager*innen, von denen einige mehr als 20 Monate in Haft sind. Es geht um nicht deklarierte Parteispenden, illegale Wahlkampfspenden, persönliche Bereicherung und Geldwäsche.

Gemeinsam mit anderen Bauunternehmen hat Odebrecht jahrelang Politiker*innen aller Couleur bestochen, um lukrative und meist überteuerte staatliche Aufträge zu ergattern. Zum Beispiel das Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro, das zur Fußball-WM renoviert wurde. Die Stadt fordert jetzt eine Rückzahlung in dreistelliger Millionenhöhe, nachdem Pfusch in der Buchhaltung festgestellt wurde. Der Umbau kostete schließlich fast das Doppelte des Kostenvoranschlags.

Damals war Temer noch Vizepräsident unter Rousseff. Vor allem Rousseffs Arbeiterpartei PT wurde durch die spektakulär dargestellten Korruptionsermittlungen an den Pranger gestellt, zum Teil seitens Justiz, der Polizei und der Medien mit dem klaren Ziel, einen Machtwechsel herbeizuführen. Den unmittelbaren Nutznießer*innen von 2016 fällt diese Strategie nun auf die eigenen Füße. Mehrere der jetzt offiziell verdächtigten PMDB-Größen hatten bereits in einem mitgeschnittenen Gespräch zugegeben, dass Rousseff geschasst wurde, um das „Ausbluten“ der Politiker*innenklasse im Zuge der Korruptionsermittlungen zu stoppen.

Bereits vor zwei Jahren hatte Janot eine erste Liste mit 47 verdächtigen Politiker*innen erstellt, darunter die damaligen Präsidenten von Senat und Parlament. Die Ermittlungsverfahren verlaufen jedoch sehr schleppend, da die meisten amtierenden Politiker*innen eine Art Immunität genießen und nur vom Obersten Gericht verurteilt werden dürfen. Dennoch wurden in den vergangenen drei Jahren, die die Korruptionsermittlungen gegen das Kartell von Bauunternehmen und den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras schon andauern, bereits einige Politiker*innen und Manager*innen zu teils hohen Haftstrafen verurteilt, unter ihnen der ehemalige Firmenchef Marcelo Odebrecht.

Der vor rund 70 Jahren von Nachfahren deutscher Einwander*innen gegründete Bauriese Odebrecht hat Ende vergangenen Jahres vor einem US-Gericht eingestanden, in zwölf Staaten Hunderte Millionen US-Dollar Bestechungsgeld an Regierungspolitiker*innen gezahlt zu haben. Gericht und Konzern einigten sich auf eine Strafzahlung in Höhe von 3,5 Milliarden US-Dollar, der höchste jemals für Korruptionsvergehen bezahlte Betrag. Auch in anderen Ländern Lateinamerikas wird der Odebrecht-Skandal zu einer Bedrohung von früheren oder amtierenden Regierungen. Unter anderem in Peru, Kolumbien, Panama und Argentinien drohen der politischen Klasse Strafverfolgung wegen Bestechlichkeit und Geldwäsche (siehe LN 513, zu Peru siehe Seite 29).
Brasília reagierte gefasst, fast überheblich auf den neuen Pegelstand im Korruptionsskandal. Da fast alle Parteien auf der Liste erwähnt wurden und die Zahl der inkriminierten Politiker*innen derart groß ist, sei davon auszugehen, dass der Effekt schnell wieder verpufft, so die Hoffnung in Regierungskreisen. Zudem wird die Debatte, ob illegale Spenden wirklich illegal sind, munter fortgesetzt. Ein entsprechender Gesetzesentwurf, der viele der Odebrecht-Finanzierungen nachträglich legalisieren würde, soll wieder aus der Schublade hervorgeholt werden.

Das durch eine heftige Wirtschaftskrise bereits angeschlagene Brasilien ist durch den Korruptionsskandal in eine bizarre politische Schockstarre geraten. Jederzeit kann die Situation implodieren – oder auch nicht, sollten sich die unterschiedlichen und teils heftig zerstrittenen Machtfraktionen wieder einigen. Für die meisten Beteiligten dienten die Ermittlungen in erster Linie dem Ziel, die PT zu diskreditieren und von der Macht zu vertreiben. Doch zumindest Janot und einige Mitglieder des Obersten Gerichts – unter ihnen offenbar die neue Vorsitzende Cármen Lúcia, die die Kronzeugenaussagen absegnete – lassen auch jetzt nicht locker. Dementsprechend stehen nun drei Gruppen, die die Absetzung von Rousseff betrieben, selbst im Kreuzfeuer der Ermittlungen: Zuallererst die Regierungspartei PMDB samt Präsident Temer und alteingesessenen Politfürsten, die allesamt zu den Verdächtigen gehören. Als nächstes der konservativ dominierte Kongress, der dem Präsidenten zwar eine ungewohnt breite Basis bietet, aber ebenfalls gerne das Ermittlungsdrama beenden würde, da über die Hälfte der Mandatsträger*innen vermutlich Dreck am Stecken hat.

Diesen beiden Gruppen geht es darum, die eigene Haut zu retten. Dazu schmieden sie eine Allianz mit den Teilen der Justiz, die jetzt plötzlich die Korruptionsermittlungen für überzogen halten und wie der Oberste Richter Gilmar Mendes von Anmaßungen der Staatsanwaltschaft sprechen. Zugleich bedeutet dies, dass das politische Projekt der dritten Machtgruppe, die Rousseff nicht wegen angeblicher Korruption, sondern zur Durchsetzung einer konservativen, neoliberalen Wende absetzen wollten, ins Stocken gerät. Die Regierungspartei PMDB und viele ihrer Gefolgsleute im Kongress scheuen sich mittlerweile, die herben Einschnitte im Sozialsystem, bei Renten und im Arbeitsrecht mitzutragen, da sie befürchten, 2018 nicht wiedergewählt zu werden – und damit ihren Immunitätsschutz zu verlieren und womöglich den vielen Manager*innen von Baufirmen ins Gefängnis zu folgen.

Doch auch diese dritte Machtgruppe, die aus der rechts-wirtschaftsliberalen Oppositionspartei PSDB, Unternehmerkreisen und den meisten Medien besteht, ist sich ihrer Sache nicht mehr sicher. Denn die Namen aller drei Führungspersonen und auch potenziellen Kandidat*innen der PSDB auf die Präsidentschaft sind nun auch auf der Janot-Liste aufgetaucht: Ex-Außenminister José Serra, Parteichef Aécio Neves und São Paulos Gouverneur Alckmin. Sollten sich diejenigen in der Justiz durchsetzen, die die Ermittlungen und Prozesse zu Ende bringen wollen, bliebe von der politischen Klasse Brasiliens kaum etwas übrig. Doch es ist unwahrscheinlich, dass den drei Machtgruppen nicht wieder eine Option einfällt, den Hals aus der Schlinge zu ziehen. Sicher ist, dass all die Diskreditierung der Politik, an der die PT durchaus eine Mitschuld trägt, höchstens der populistischen Rechten nützt, die auch in Brasilien erstarkt. Vor allem ihr Aushängeschild Jair Bolsonaro, der sich gerne als Retter der Nation gibt, eine Intervention der Militärs gutheißt und sich offen rassistisch und sexistisch gibt, profitiert. In Umfragen für die Präsidentschaftswahl 2018 liegt der Trump-Fan bereits an vierter Stelle.

 

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