STIMMEN DER PROTESTE 2.0

„Ich stimme einer Verfassungsgebenden Versammlung zu“ Demonstrant in Valparaíso (Foto: Martin Yebra)

Letztes Jahr sprach ich von der Nachbarschaftsorganisation als Schwerpunkt des Wandels und wichtigste Transformation, die die Proteste hervorgebracht haben. Diesen Standpunkt vertrete ich auch heute in der Pandemie noch. Über Monate, den Großteil des Jahres hinweg, war die Regierung damit beschäftigt, dem Land die noch immer blutenden Augen zu verbinden. Sie wollten nicht, dass wir sehen – zumindest nicht im Fernsehen – dass den hunderttausenden Infizierten nur ein paar Dutzend Krankenhausbetten gegenüber standen. Aber der Mangel, der fehlende Zugang zum Gesundheitssystem und die Vereinsamung machten sich in der Bevölkerung bemerkbar, also mussten wir uns um die Bedürfnisse selbst kümmern. Ein Jahr nach dem Beginn der Proteste gibt es noch immer eine Ausgangssperre, ist das Militär auf der Straße, töten die Bullen und lügt die kriminelle Regierung. Aber ebenso hält auch nach einem Jahr die Unzufriedenheit an und geht die Organisierung der Bevölkerung weiter, mit Autokorsos für das Apruebo, aus denen mit voller Kraft „Veränderung!” geschrien wird. Heute, am 25. Oktober, springt mein Herz vor Freude, denn heute hat sich zum ersten Mal die Tür zum Dialog geöffnet, und die Bevölkerung hat eine einheitliche und sehr klare Botschaft: Das hier wird nicht so weitergehen.
// Dante Acevedo Miranda, Pädagogik-Student, Puente Alto, Santiago

 

Es ist schwer zusammenzufassen, was dieser Prozess alles für Chile bedeutet. Zuallererst heißt es, den Ballast der Diktatur hinter uns zu lassen. Es bedeutet aber auch, all den Forderungen Rechnung zu tragen, die seit Oktober letzten Jahres vorgebracht wurden. Ich bin persönlich sehr berührt von diesem Prozess, weil ich glaube, dass dadurch letztendlich auch Themen wie Umweltschutz, die Förderung von Kultur und Kunst und die wissenschaftliche Entwicklung in unserem Land mit einbezogen werden können. Aber was mich am meisten beglückt, ist, dass es eine Verfassung mit Geschlechtergleichheit sein wird, also, dass sie sowohl von Männern als auch von Frauen zu gleichen Teilen erarbeitet wird. Ich finde, dass das ein sehr großer Schritt ist, sowohl für Chile als auch für Südamerika und die ganze Welt, denn in unserem Land haben wir Frauen erst seit weniger als 100 Jahren das Wahlrecht. Und dass wir in diesem Moment Teil haben können an der Erarbeitung unseres Grundgesetzes, einem der Grundpfeiler unserer Gesellschaft und unseres Landes, ist etwas wahnsinnig Wichtiges. Es ist ein riesig großer Schritt für uns als Frauen und es ist auch ein Zeichen dafür, dass wir uns endlich als Bürgerinnen mit unserem vollen Recht behaupten können.
// Gabriela Pineda Cárcamo, Journalismus-Studentin, Santiago

 

Auch noch ein Jahr nach dem Beginn dieser sozialen Explosion ist Chile noch immer wach. Das hat auch der überwältigende Erfolg der Zustimmung zur neuen Verfassung und einem verfassunggebenden Konvent gezeigt. Ich gehöre zu denen, die wissen, dass es nicht die politische Führung war, sondern der Kampf auf der Straße und besonders die Jugendlichen, die das ermöglicht haben. Ich gehöre zu denen, die denken, dass es jetzt keine Ausrede mehr gibt, um sich mit grundlegenden Veränderungen zu befassen. Unsere Repräsentation ist gegeben durch diejenigen, die Teil des sozialen Gefüges gewesen sind und nicht durch politische Akteure, die Berater brauchen, die ihnen berichten, wie das Leben außerhalb ihrer Blase aussieht. Ich für meinen Teil hoffe, dass Kunst und Kultur Platz finden werden in diesem Prozess und dass ihre freiheitliche Essenz nicht zerstört wird durch die institutionalisierenden Männer, die den Glanz aller Dinge verdunkeln, die sie anfassen. Die Straßen sprachen auf künstlerische Weise und das fernab von jedem Gedanken des Wettstreits, der sonst die Künstler*innen Chiles mit seiner neoliberalen Logik geteilt hat. Möge dieser Raum, der auf eben jenen Straßen gewonnen wurde, einer sein, in dem Poesie, Farben, Tanz und Musik in Stadtviertel dieses Landes zurückkehren. Und das, ohne dass das Logo der jeweiligen Regierung seine Flügel beschneidet.
// Uca Torres Mora, Poetin, Concepción, Region Bío Bío

 

Es ist ein Jahr vergangen seit dem großen sozialen Aufstand, der ein Produkt der großen Ungleichheiten und Missstände dieses neoliberalen kapitalistischen Systems war, und in dessen Folge noch immer mehr als 4.000 junge Held*innen des Volksaufstands ihrer Freiheit beraubt sind. Viele von ihnen ohne Beweise, und das in solchem Ausmaß, dass viele Anklagen schon wieder fallen gelassen wurden, weil sie sich als fingiert herausgestellt haben. Freilich wurde bereits einiges verändert, aber es ist noch nicht genug. Es ist wichtig zu betonen, dass eine der großen Errungenschaften des Drucks seitens der Bevölkerung die Durchführung des Plebiszits war, dass trotz Quarantäne, Ausgangssperren, Covid-19 und einer rechten Terrorkampagne nichts und niemand das Volk davon abhalten konnte, seine Meinung an den Urnen kundzutun, dass sie nicht verhindern konnten, dass mit absoluter Mehrheit das Apruebo gewann und ein erster Schritt getan wurde, um den Inhalt der Verfassung zu ändern und den Neoliberalismus in Chile zu zerschlagen. Dabei wurde auch erreicht, dass die Indigenen und ihr historischer Kampf gegen die kolonialistische und kapitalistische Unterdrückung durch den chilenischen Staat verfassungsmäßig anerkannt wird. Regional gesehen befinden wir uns als Kommune von Coyhaique gerade in Quarantäne, was uns in unserer normalen Arbeit und auch hinsichtlich der organisatorischen Aktivitäten einschränkt, da alles über das Internet geregelt wird, man aber an vielen Orten nur schlechten Empfang hat. Das hält uns aber nicht davon ab, weiter zu machen und Netzwerke mit Führungspersonen und Gemeinschaften zu knüpfen, denn wir sind Frauen vom Land, Indigene, im Kampf für die Verteidigung unserer Rechte und vor allem unseres Territoriums. Gerade in diesen Tagen stellen wir uns dem neuen Angriff einer privilegierten Familie, die in Komplizenschaft mit den staatlichen Behörden Konzessionen für eine langfristige bodenschädigende Nutzung beantragen, die auch Zugang zu Süßwasserreservaten wie dem Jorge Montt-Gletscher beinhalten (es handelt sich hierbei um die Familie Luksic, Anm. d. Red.). Ein Unterfangen, das die großen Unternehmen auf Kosten der Bauern bevorzugen würde, obwohl jene seit mehr als 30 Jahren genau dieses Gebiet im Sektor Tortel vom chilenischen Staat einfordern, ohne je eine Antwort bekommen zu haben. Aus all diesen Gründen finden wir es nötig, dass in der neuen Verfassung auch der Verteidigung des Landes, der landwirtschaftlichen Produktion mit autochthonem Saatgut, einer Agrarökologie für Ernährungssouveränität und einer Agrarreform Priorität eingeräumt werden und dass alle natürlichen Ressourcen geschützt werden vor den Umweltzerstörern, die die großen Verursacher der Umweltprobleme in unserem Land sind.
// Testimonio von Alejandra Carrillo Manríquez, Bäuerin, Coyhaique, Region Aysén

 

In diesem Moment gehen die Proteste weiter. Sie sind nicht mehr ganz so massiv wie im letzten Jahr. Sie wurden brutal niedergeschlagen durch die chilenischen Carabineros, unsere Polizei. Auch wenn die Proteste nachgelassen haben, sind sie immer noch stark. Aber leider sind die Medien in unserem Land nur damit beschäftigt, die Proteste zu kriminalisieren, obwohl sie ein angemessenes Mittel waren. Die Proteste waren es gerade, die die soziale Explosion hervorgerufen und damit die Änderung der Verfassung, die uns seit 1980 regiert, bewirkt haben. Hinsichtlich der Frage, ob sich die Situation verändert hat im Vergleich zu vor einem Jahr würde ich sagen, es hat sich nicht viel verändert. Die Regierung beschränkt sich weiterhin darauf, repressive Gesetze zu erlassen, sie haben überhaupt keine Lösungen für die sozialen Forderungen vorgeschlagen und ziehen sich auf ihre Ablehnung der neuen Verfassung zurück. Für sie war es eine totale Niederlage, und es war vor allem ein Triumph über die Gewalt und das hat die Regierung dazu gebracht zu fragen: „Was wollt ihr denn noch?”. Das einzige, was sie gemacht haben, ist, die Demonstrationen zu unterdrücken und sie als so gewalttätig wie möglich darzustellen. Hinsichtlich des Verfassungsprozesses gibt es Hoffnung auf der Straße – das Apruebo hat mit fast 80 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung gewonnen. Es gibt große Hoffnung, trotz einer Situation, in der die Rechte mit allen Mitteln versuchte den Prozess zu boykottieren, ihm Steine in den Weg zu legen und so zu tun, als hätte die Gewalt gewonnen. Aber letztendlich wurde es durchgeführt, auf eine Weise, die Mut macht. Meine Erwartung ist, dass es einen wichtigen Wandel in unserem Land erzeugen kann, einen der wichtigsten, seitdem die Verfassung Pinochets eingesetzt wurde. Meinerseits glaube ich, dass es Hoffnung gibt. Es gibt noch viel zu tun, die Verfassung allein löst nicht alle Probleme der Bevölkerung, aber trotzdem können wir beginnen, mit diesem Prozess der neuen Verfassung ein gerechteres Land aufzubauen. Es wird sich nicht alles von heute auf morgen lösen, das ist ein Prozess von zwei Jahren, ein langer Prozess, aber das ist bei weitem besser als mit der Verfassung weiter zumachen, die uns von Pinochet aufgezwungen wurde.
// César Calquín, Journalist, Santiago

REGGAETON UND FLAMMENWERFER

Im Stil einer Abrissbirne Protagonistin Ema mit Feuerwerfer (Foto: koch films)

Valparaíso, Chile. Eine menschenleere Straße im Morgengrauen. Hoch darüber hängt eine Ampel, die in Flammen steht. Der Zoom-Out der Kamera gibt die Silhouette einer jungen Frau frei: Gelbes Aufschnallvisier, platinblonde Haare, auf dem Rücken ein Flammenwerfer. Die Ampel schaltet auf Grün. Ema zieht los.

Es ist ein Kickstart in den neuen Film des chilenischen Regisseurs Pablo Larraín (u.a. Neruda, Jackie, El Club), der es dieses Jahr in den Wettbewerb des renommierten Filmfestivals von Venedig geschafft hat. Und nicht weniger furios geht es weiter: Die Protagonistin Ema (beeindruckend gespielt von Kino-Debütantin Mariana di Girolamo) betritt in der nächsten Szene das deutlich weniger glamouröse Setting eines städtischen Jugendamts und wird prompt von der resoluten Leiterin Marcela (Catalina Saavedra) zurück auf die Straße befördert. In der Folge sieht sie sich einer Schimpfkanonade ausgesetzt, die sich gewaschen hat. Denn Ema und ihr Mann Gastón (Gael García Bernal) haben etwas getan, was sich nicht gehört: Sie haben ihren Adoptivsohn Polo dem Jugendamt zurückgegeben, weil er gezündelt und dabei Emas Schwester schwere Verbrennungen zugefügt hat. Nun will Ema aber trotzdem wissen, wie es ihrem Sohn geht, was Marcela gehörig auf die Palme bringt: „Du hast keinen Sohn! Weißt du, was du hast? Einen miesen Ehemann und gefärbte Haare! DICH hätten sie zurückgeben müssen! Kauf dir lieber eine Puppe und zieh ihr etwas an!“ Die Reaktionen in der Schule, wo Ema Kindern Tanzunterricht gibt, sind nicht viel freundlicher. Und so verlässt sie ihre Arbeitsstelle ebenso im Zorn wie schon bald auch die Wohnung ihres Ehemanns, im Kopf nur ein Ziel: Sie will ihren Sohn zurück. Befreit von allem, was sie zurückhalten könnte, macht sich Ema im Stile einer Abrissbirne daran, ihren Plan zu verwirklichen.

Aufeinanderprallen konservativer und progressiver Lebensweisen in Chile

Pablo Larraín hat es dem Publikum auch in seinen vorherigen Filmen nicht immer leicht gemacht, seine Protagonist*innen ins Herz zu schließen. Und auch jetzt wecken sowohl die impulsiv-egozentrische, aber in ihrer Stärke und Bestimmtheit faszinierende Ema wie der zwischen Weinerlichkeit und Machismo schwankende Gastón gemischte Gefühle. Die beiden Eheleute sind Antipoden im Zentrum des Films: Er erfolgreicher Choreograf einer modernen Tanzgruppe, sie die wichtigste Akteurin dort. Sie jung und sexuell sehr aktiv, er deutlich älter und unfähig, Kinder zu zeugen. Die toxische Beziehung, die beide führen, entlädt sich nicht nur in schonungslosen Wortgefechten („Eine Mutter verlässt ihr Kind nicht!“ – „Unfruchtbares Schwein!“) sondern führt auch zu Spannungen innerhalb der Tanzgruppe. Denn Ema und ihre Freundinnen dort stehen mehr auf den angesagten Reggaeton als auf die sphärischen Elektro-Klänge, zu denen sie sich bei Gastóns Aufführungen bewegen sollen. Dieser wiederum hasst die „Gefängnismucke“, zu der Emas Frauencombo in ihrer Freizeit performt. Im Gegenzug wird er von den Reggaetoneras als „Tourist“ bezeichnet, der von der Kultur der Straße keine Ahnung mehr habe. Und so werden Musik und Tanz zu einem (wenn auch nicht dem einzigen) Schauplatz des Kampfes zwischen Etabliertem und Neuem, zwischen Konvention und Rebellion. Wie Ema Musik als Ausdruck der Selbstbestimmung und individuellen Entfaltung zeigt, ist faszinierend, bisweilen hypnotisch. Die videoclipartig geschnittenen Tanzsequenzen sind ein Spektakel an Farben und Bewegung. Dazu passt der exzellent ausgewählte Soundtrack von Nicolas Jaar, der die rau-pittoresken Settings der Küstenperle Valparaíso perfekt untermalt. Regisseur Larraín, der mit Reggaeton nach eigener Aussage vor dem Dreh des Films nichts anfangen konnte und erst durch eine Spotify-Hitliste von der Relevanz des Genres überzeugt werden musste, setzt dem oft zu Unrecht diffamierten Musikstil mit diesem Film so regelrecht ein Denkmal.

Kein feministisches Statement

Und dennoch kann sich bei aller visuell-akustischen Brillanz, bei aller schauspielerischen Exzellenz vor allem der fantastischen Mariana di Girolamo, nach dem Ende von Ema das Gefühl einstellen, aus dem Film nicht so recht schlau geworden zu sein. Das mag daran liegen, dass Larraín es zu genießen scheint, Erwartungen zu enttäuschen. Eine Mutter, die um ihr Kind kämpft und dazu noch Anführerin einer Frauen-Tanzgruppe ist und die ihre Selbstverwirklichung im machistisch dominierten Reggaeton findet: Es wäre einfach gewesen, aus Ema ein feministisches Statement zu machen. Doch das kann und will der Film nicht sein. Larraín hat sich stattdessen für die Ambivalenz entschieden, was der sperrigere, vielleicht aber auch realistischere Blick war.

Ema funktioniert nicht als politisches Manifest, sondern als Apologie radikaler Lebensentwürfe – im Film verdeutlicht durch das sich durchziehende Motiv der Pyromanie der Protagonistin und deren Rücksichtslosigkeit, spätestens aber durch das sämtliche Konventionen sprengende Ende. Leider trägt dieses etwas arg dick auf und lässt dazu die nötige Sensibilität mit den Beteiligten vermissen. Die emotionalen Abgründe, die Ema bei ihren Mitmenschen aufreißt, hätte ein Almodóvar vermutlich etwas eleganter eingefangen.

Dennoch ist Ema ein mutiger, visuell wegweisender und trotz dramatischer Züge auch vergnüglicher Film geworden. Er dürfte mit seinem frischen und ungewöhnlichen Blick auf das Aufeinanderprallen konservativer und progressiver Lebensweisen in Chile und darüber hinaus für einige Diskussionen sorgen.

DISKRIMINIERUNG, GEWALT, CORONA

„Bringt Machi Celestino zurück“ Demonstration in Temuco zur Unterstützung der Hungerstreikenden (Foto: Radio Kurrvf )

Zwei brennende Rathäuser waren am Sonntag, den 9. August, in allen chilenischen Fernsehsendern zu sehen. Angestachelt von rechtsextremen Organisationen hatten militante Gruppen versucht, vier Gemeindeverwaltungen zu räumen. Mapuche hatten diese eine Woche zuvor besetzt, um hungerstreikende inhaftierte Mapuche in ihren Forderungen nach besseren Haftbedingungen zu unterstützen. Die Polizei sah zunächst tatenlos zu und beteiligte sich später an der Räumung. Trotz coronabedingter Ausgangssperre wurden keine Mitglieder der militanten Gruppen festgenommen, Mapuche dagegen schon. Der Vorfall schleuderte den schon lange schwelenden Konflikt in den südlichen Regionen Chiles wieder einmal ins öffentliche Bewusstsein.

Vor rund 140 Jahren besetzte der chilenische Staat das Land der Mapuche. Die fruchtbaren Gebiete wurden an europäische Siedler*innen – unter ihnen viele Deutsche – verteilt, während die Indigenen marginalisiert und ermordet wurden. Politische Unfähigkeit, Rassismus, wirtschaftliche Interessen und mächtige Unternehmensverbände haben zu dem Konflikt beigetragen, der bis heute andauert und sich unter der derzeitigen Regierung unter Präsident Sebastián Piñera verschärft hat.

Während der Pandemie spitzte sich die Auseinandersetzung nun nochmals zu. Das öffentliche Interesse galt in den vergangenen Monaten jedoch voll und ganz der Unfähigkeit der Regierung und der daraus resultierenden wirtschaftlichen und sozialen Krise. Da die Region der Mapuche relativ wenig von der Pandemie betroffen war, kam ihnen und ihren Themen lange wenig Aufmerksamkeit zu. Soziale Konflikte blieben unbeachtet, doch am Beispiel der Gemeinde von Ercilla, ein traditioneller Hotspot des Mapuche-Konflikts, zeigt sich, dass die Pandemie die vorherrschenden Ausschlussmechanismen verstärkt hat.

Forstplantagen schmücken hier die Autobahn der Panamericana. Um die Gemeinschaft Tricauco, rund zwölf Kilometer von Ercillas Ortskern entfernt, wachsen Eukalyptus- und Tannenbäume. „Im Sommer ist es hier staubtrocken“, erzählt Antuhuenu Marileo aus Tricauco den LN am Telefon – eine Anreise ist aufgrund des Coronavirus unmöglich. Seitdem in den 80er-Jahren unter der Militärdiktatur auf den Feldern ehemaliger Großgrundbesitzer*innen massiv Bäume angebaut wurden, ist der Wasserpegel gesunken. Und jedes Jahr wird es schlimmer: Die schnell wachsenden Bäume nutzen mit ihren tiefen Wurzeln all das Wasser.

„Seit Beginn der Pandemie erleben wir eine zunehmende Militarisierung unserer Gebiete“

„Die Felder, auf denen die Bäume wachsen, gehören eigentlich uns“, fügt Marileo an, „wir haben immer noch die Urkunden“. Doch im Laufe der Jahrzehnte wurde vielen Mitgliedern der Gemeinschaft das Land „abgekauft“ – durch Betrug, Bestechung oder Drohung. „Wir haben sowohl vor Gericht als auch mit Protestaktionen versucht, das Land zurück zu bekommen“, sagt er – bislang erfolglos.

Zweimal die Woche kommt ein Tanklastwagen vorbei. Er füllt die Wassertanks der Häuser auf, denn das Grundwasser ist schon lange aufgebraucht. Marileo erzählt von der Diskriminierung durch die Gemeindeverwaltung: Der Tanklastwagen würde viel zu selten kommen, „das Wasser reicht häufig nicht aus“. Um den Anschein zu vermitteln, man würde alle Häuser versorgen, werden hin und wieder neue Familien in die Liste der Wasserempfänger*innen aufgenommen. Marileo meint, dass dafür aber andere einfach gestrichen werden.

„Der Bürgermeister von Ercilla ist ein Rassist“, meint Marileo. Seine kleine Häusergemeinschaft gehört zur Gemeinde von Ercilla. Während der Corona-Pandemie fühlen sich die Mapuche hier besonders ausgeschlossen. Marileo erzählt vom Fall eines älteren Mitglieds der Gemeinschaft, das an einem Freitag Mitte Juni starb. Am darauffolgenden Wochenende verabschiedeten sich die Mitglieder der Gemeinschaft von dem Verstorbenen. Am Montag kam schließlich eine Mitarbeiterin vom örtlichen Gesundheitszentrum mit der Mitteilung, dass der Mann am Coronavirus erkrankt gewesen sei. Die Nachricht kam viel zu spät, mittlerweile hatten sich weitere Mapuche bei dem Verstorbenen angesteckt.

Für Marileo ist das ein klarer Fall von Diskriminierung: „Hier wurden die Regeln nicht befolgt, weil wir ihnen egal sind“. Als die Zentralregierung Lebensmittelpakete verteilte, ließ die Gemeindeverwaltung die Mapuche-Gemeinschaften außerhalb von Ercilla aus. „Angeblich, weil wir die Beamt*innen angreifen würden“, erklärt Marileo, „wir haben noch nie jemanden angegriffen. Trotzdem werden wir vom Staat wie Kriminelle behandelt“. Oft rasen Jeeps der Polizei über die Sandpisten bei den Häusern, hin und wieder taucht ein Panzer auf.

„Seit Beginn der Pandemie erleben wir eine zunehmende Militarisierung unserer Gebiete“, berichtet auch Eduardo Curin aus der Kleinstadt Nueva Imperial im Telefonat mit den LN. Das Virus ist in der Region Araucanía relativ unter Kontrolle, trotzdem patrouilliert hier seit Beginn des Ausnahmezustands das Militär. Spionageflugzeuge überfliegen einzelne Gemeinden. Kaum verwunderlich, wenn Curin von einer militärischen Besetzung spricht.

Eigentlich begann die rechtskonservative Regierung Piñeras ganz anders. Noch zu Beginn, im Jahr 2018, lancierte sie eine großangelegte Übereinkunft für wirtschaftliche Entwicklung und Frieden in der Araucanía. Mit dabei: Mapuche und Unternehmen, welche bislang kaum im Dialog gestanden hatten. Die Umsetzung der Übereinkunft endete jedoch abrupt: Am 14. November 2018 tötete die chilenische Polizei bei der Verfolgung von Autodieben den Mapuche Camilo Catrillanca mit einem Schuss in den Rücken, während dieser auf einem Traktor nach Hause fuhr (siehe LN 535). Die Polizei war angeblich auf der Jagd nach Autodieben. Als Antwort auf das Attentat gründete sich die Bewegung Xawn de Temucuicui.
Eduardo Curin war Teil dieser Bewegung. „Wir sind sofort nach Valparaíso vors Parlament gegangen, haben erreicht, dass die zuständige Polizeieinheit aufgelöst und der Polizist, der den Schuss abgab, identifiziert und angeklagt wurde.“ Doch danach bewegte sich nichts mehr, „seit fast zwei Jahren laufen die Ermittlungen nun und der Mörder wird für die erfüllte Mission mit einem Extra-Gehalt belohnt“. Curin ist aufgebracht: Nach einem Aufenthalt in Untersuchungshaft veranlasste das Gericht im April 2020 die Überführung des Polizisten in den Hausarrest und es kam heraus, dass die Polizei ihm weiterhin einen Lohn von 900.000 Pesos im Monat zahlte, rund 1.000 Euro. Das ist in etwa doppelt so hoch wie das Einstiegsgehalt einer Lehrperson.

Die inhaftierten Mapuche kämpfen dafür, dass der Staat das Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation einhält

Inhaftierte Mapuche dagegen erfuhren Diskriminierung: Zu Beginn der Pandemie wurden hunderte Häftlinge freigelassen, nur zwei Gruppen blieben weiterhin in Haft: Mapuche und im Zuge der Revolte vom 18. Oktober Festgenommene, also die politischen Gefangenen.

Anfang Mai beschlossen deshalb neun Mapuche im Gefängnis von Angol, in den Hungerstreik zu treten. Ihnen folgten 18 weitere, unter ihnen viele, die in Untersuchungshaft saßen. Der Prominenteste unter den 27 war der Machi (Mediziner und religiöse Autorität der Mapuche, Anm. d. Red.) Celestino Córdova. Die inhaftierten Mapuche kämpfen dafür, dass der Staat das Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation einhält. Dieses verpflichtet die unterzeichnenden Länder, die speziellen Rechte und Lebensweisen der indigenen Völker anzuerkennen und zu fördern. Im Fall des Machi bedeutet dies, ihm die Verbindung zu seiner Gemeinschaft zu ermöglichen. Die Mapuche setzen sich daher dafür ein, dass er regelmäßig dorthin zurückkehren darf, um sich um die Mitglieder zu kümmern und sich bei seinem Rewe (ein den Mapuche heiliger Altar, der für das Wirken der Machi eine zentrale Rolle spielt, Anm. der Red.) körperlich und spirituell zu erholen.

Nach mehr als 90 Tagen Hungerstreik besetzten Mapuche am 3. August die Gemeindeverwaltungen von Curacautin, Victoria, Traiguen und Galvarino, um die Forderungen zu unterstützen. Der Innenminister Víctor Peréz, da erst seit einer Woche im Amt, reiste vier Tage später in die Araucanía. Er forderte die unverzügliche Räumung der Rathäuser. Peréz ist ein Hardliner, kommt aus der Region und hat gute Verbindungen zur ehemaligen Colonia Dignidad und rechtsextremen Kreisen.

Am Tag darauf versammelten sich während der nächtlichen Ausgangssperre mehrere hundert Menschen, um die besetzten Gemeindeverwaltungen zu räumen. Die Menge vor den Rathäusern grölte rassistische Sprechchöre, setzte Autos der Besetzer*innen in Brand und verfolgte fliehende Mapuche. Aufgerufen dazu hatte unter anderem die rechtsextreme Gruppierung Vereinigung für den Frieden und die Versöhnung in der Araucanía (APRA). Deren Sprecherin ist Gloria Naveillán, Mitglied der Regierungspartei Unabhängige Demokratische Union (UDI), der auch der Innenminister angehört.
Für Vicente Painel, Menschenrechtsbeauftragter der indigenen Vereinigung zur Forschung und Entwicklung der Mapuche (AID), waren die Geschehnisse Pogrome an den Mapuche. Er erzählt von verprügelten Mapuche, die nur noch aus dem Geschehen fliehen wollten und meint, dass die Polizei schon vor den Ereignissen wusste, dass sich Menschen vor den Rathäusern treffen würden. „Der Innenminister hat eine klare Mitschuld. Dass sich eine relativ kleine Anzahl von 50 bis 100 Leuten während der nächtlichen Ausgangssperre unbehelligt treffen kann, geht nur mit Zustimmung der örtlichen Sicherheitsbehörden“. Laut Painel ging es ihnen darum, die Konflikte zu verschärfen.

Den Mapuche gegenüber steht eine Gruppe einflussreicher Unternehmer*innen, die in der Araucanía Geschäfte machen: Forstunternehmen, Lastwagenspeditionen und Zellulosefabriken sitzen seit der Militärdiktatur dort auf einer Goldgrube. „Die Militärdiktatur hat nach dem Putsch befreundete Gruppen mit Ländereien belohnt. So sind wahrhafte Enklaven rechtsextremer Akteure entstanden. Unter ihnen auch Lastwagenunternehmer*innen, die den Putsch gegen die sozialistische Regierung Allendes unterstützten.“, so Painel, der auch Historiker ist, gegenüber LN.

Die Bevölkerung in Chile solidarisiert sich von Jahr zu Jahr immer mehr mit den Mapuche.

Hin und wieder gibt es Anschläge auf Forstunternehmen und Lastwägen, die Holz transportieren. Zum Teil werden diese von militanten Mapuche verübt, die oft der Koordination der Gemeinschaften im Konflikt Arauco-Malleco (CAM) angehören. Diese tritt als Organisation für einen unabhängigen Mapuche-Staat ein und setzt auch Gewalt gegen Dinge ein, um Unternehmen zu vertreiben, die das Gebiet der Mapuche ausbeuten. Andererseits hat sich im Nachhinein häufig herausgestellt, dass es es sich bei den Anschlägen um Versicherungsbetrug oder politisches Kalkül rechter Verbände handelte.

Nach harten Verhandlungen willigte der Justizminister, Hernán Larraín (UDI), ein, dass der Machi Celestino Córdova für 30 Stunden seine Gemeinschaft besuchen darf. Des Weiteren wurde erreicht, dass indigene Gefängnisinsass*innen in gemeinsamen Modulen untergebracht werden und das noch innerhalb des laufenden Jahres neue und spezielle Protokolle bei der Inhaftierung Indigener ausgearbeitet werden sollen. Córdova setzte daraufhin seinen Hungerstreik aus. Auch für die anderen 26 Hungerstreikenden schien eine Lösung nahe. Doch dann folgte am 24. August ein weiterer Anschlag auf einen Holzlastwagen, ein kleines Mädchen, das mitfuhr, wurde dabei angeschossen. Gleichzeitig verlangten Lastwagenunternehmensverbände härtere Strafen und mehr Polizei im Kampf gegen die „kriminellen Mapuche“. Der kleinste von drei Verbänden blockierte daraufhin über eine Woche die wichtigsten Autobahnen im Land. Die Regierung versprach ein weiteres Mal härtere Repression und mehr Subventionen. Beachtenswert war, das eigens gegen Straßenblockaden verabschiedete Gesetze nicht gegen die Lastwagenfahrer*innen angewendet wurden.

Die Bevölkerung in Chile solidarisiert sich von Jahr zu Jahr immer mehr mit den Mapuche. Am 25. Oktober 2020 wird über die Ausarbeitung einer neuen Verfassung abgestimmt. Einige Mapuche haben die Hoffnung, dass nach bolivianischem Modell ein Vielvölkerstaat mit speziellen Autonomierechten für die Indigenen ausgerufen wird. Antuhuenu Marileo aus der Gemeinde bei Ercilla ist frohen Mutes und hofft, dass der Diskriminierung damit endlich ein Ende gesetzt wird. Eduardo Curin aus Nueva Imperial dagegen lacht, auf die neue Verfassung angesprochen, am Telefon laut auf. „Das ist nur Augenwischerei. Hier geht es um wirtschaftliche Machtverhältnisse, die lassen sich nicht per Verfassung ändern.“

IMMER GEGEN DENSELBEN FEIND

Isidoro Bustos Valderrama (Foto: Privat)

Wenn ich mich an Don Isidoro erinnere, denke ich an die Telefonate, die wir geführt haben, und ich erinnere mich, wie sie immer mit „Don“ begannen. Von denen gab es sehr viele, nachdem wir uns in Berlin wieder getroffen hatten, in dieser Stadt, in der die Erinnerungen an die harten Jahre der Militärdiktatur immer präsent waren. Wir waren gebrandmarkt durch den 11. September 1973, durch die Erfahrung, die 1.000 Tage unseres Präsidenten Salvador Allende, welcher eine nie vorher da gewesene politische Bewegung für Frauen und Studierende, Arbeiter*innen und Intellektuelle, Landarbeiter*innen und das Volk anführte. Es waren diese Erinnerungen, die uns immer wieder überkamen.

Ich hatte die Ehre, Isidoro Bustos Valderrama kennen zu lernen, in einem der vielen Gefangenenlager, durch die mich mein Weg nach dem Militärputsch vom 11. September 1973 führen würde. Es war im Lager Chacabuco, dem zweitgrößten nach dem Fußballstadion „Estadio Nacional de Chile“, das von der Diktatur als Gefangenenlager benutzt wurde. Wir waren damals keine besonders engen Freunde, wohl aber Gefährten in der Gefangenschaft und irgendwie kannte man sich immer auf die eine oder andere Weise. Man wusste, wer wer war und Isidoro war damals schon Jurist und militanter Sozialist, ein Mann mit starkem Charakter, der konsequent seinen Idealen und Prinzipien folgte. Während seiner Zeit im Gefangenenlager hatte er, zusammen mit seinen Kolleg*innen, von denen er einer der jüngsten war, immer geheime Aufgaben. Einiges von dem, was sie dort aufschrieben, wurde an internationale Organe wie die Menschenrechtsabteilung der Vereinten Nationen oder das Internationale Rote Kreuz übergeben, während andere Schriften und Dokumente noch immer versteckt überdauern zwischen den Balken und Trümmern des Konzentrationslagers – als stumme Zeugen dieser Zeit der Zwangsinternierung, an die sich Isidoro immer mit innerlicher Bewegung erinnerte.

Nach vier Jahren, 1978, trafen wir uns in dieser Stadt wieder, in Berlin. Endlich frei, wenngleich ich noch zwei Jahre länger in politischer Gefangenschaft als Isidoro gewesen war, konnte ich Isidoro in die Arme schließen. Wie groß war die Freude des Wiedersehens und unsere ersten Gespräche handelten natürlich von den langen Monaten, die wir im lebensfeindlichen Konzentrationslager Chacabuco eingesperrt waren. Inmitten der Atacama-Wüste, bei Temperaturen, die tagsüber 45 Grad erreichten und nachts auf 8 oder 10 Grad unter Null fielen. Isidoro lebte bei unserem Wiedersehen bereits seit vier Jahren in Berlin, war an der Freien Universität Berlin und promovierte in Politikwissenschaft. Nach meiner Ankunft im Jahr 1978 entwickelte sich eine Freundschaft und ich schloss mich ihm in der Gewerkschaftsarbeit an. Dabei behielten wir immer unsere politischen Differenzen bei und respektierten sie, da wir in unterschiedlichen politischen Lagern kämpften, aber immer gegen denselben Feind: die Militärdiktatur in Chile, die durch Feuer und Blutvergießen über das Land gekommen war und von Augusto Pinochet Ugarte angeführt wurde.

Isidoro war Gewerkschaftsvertreter der „Central Única de Trabajadores de Chilenos“ in Deutschland mit Sitz in Berlin, unsere Hauptaufgabe war es, Verbindungen mit der deutschen Gewerkschaftsbewegung, insbesondere dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), aufzubauen. Wir arbeiteten auch direkt mit der Bildungsgewerkschaft (GEW), der IG-Metall und anderen Metallarbeiter*innengewerkschaften zusammen. Es gab eine große Anstrengung ihrerseits, den Kampf des chilenischen Volkes zu unterstützen. Isidoro war sehr solidarisch und arbeitete für die Einheit des Widerstandes. Er hielt Kontakt zu allen chilenischen politischen Strömungen gegen die Diktatur, die es in Deutschland und in Berlin gab.

Wie die meisten Chilen*innen, die ins Exil gingen, hatte auch die Familie von Don Isidoro sich hier in Berlin wieder zusammengefunden. Ich durfte sie kennen lernen und so wie er, war auch seine Frau und Gefährtin Mireya. Wir, die engsten Freund*innen der Familie nannten sie liebevoll Mireyita. Sie war eine Person mit großem politischem Interesse, die sich mit anderen Frauen in der Chile-Solidarität engagierte. Isidoro und Mireya haben zwei Söhne, Rodrigo und Gonzalo, die sich ebenfalls auf die eine oder andere Weise an den Aktionen gegen Pinochet beteiligten. Isidoro, der große Bewunderung und großen Respekt für seine Gefährtin hegte, sagte mir einmal, dass er gern ein Buch schreiben würde, in dem die Hauptfigur Mireya sein würde. Er schrieb 1987 tatsächlich ein Buch, allerdings eines, das sich mit Aspekten der Verfassung Pinochets beschäftigte. Ein Buch, das heute einen ganz besonderen Wert als Dokument bei der Diskussion über eine neue Verfassung für Chile hat: Die Verfassung der Diktatur. Die Entwicklung der Grundrechte in Chile.

Es fällt mir schwer, diese Chronologie über meinen Freund und Mitkämpfer hier zu schließen. Dank seiner beiden Söhne, die einer Liste von Personen außerhalb des unmittelbaren Familienkreises ermöglichte, ihren geliebten Vater zu sehen, konnte ich Isidoro in seinem Pflegeheim bis zuletzt besuchen. Ich bin persönlich dankbar für dieses großartige und wunderbare Entgegenkommen gegenüber seinen engsten Freund*innen, zu denen ich mich selbst und auch José Lagos und seine Frau zähle. Ich spreche hier auch im Namen der Familie Lagos-Miranda und meiner eigenen, Struve-Mardones, wenn ich sage, dass die Zeit, in der wir uns wegen der Pandemie nicht sehen konnten, sehr lang war. Nachdem Besuche wieder erlaubt waren, begannen wir, diese wieder in einem wöchentlichen Rhythmus aufzunehmen. Die fünf Monate, in denen ihn nicht einmal die Familie sehen konnte, waren zu viel für ihn. Als ich ihn das erste Mal nach diesen langen fünf Monaten besuchte, war die Veränderung, die in ihm stattgefunden hatte, schwer zu ertragen. Er war mürrisch und sehr verschlossen. Mich überkam eine große Traurigkeit und ich dachte bei mir, ob Einsamkeit töten kann? Ich fragte mich, ob die letzten Wochen wohl nicht mehr die gleichen gewesen waren wie früher. Die Nachricht von seinem Tod erreichte mich, als ich ihm gerade seine letzte Empanada aufwärmte, gemacht von unserem Genossen Pablo Jeldres, denn an diesem Tag wollte ich ihn noch besuchen! Es war traurig und schmerzvoll mit anzusehen, wie unser lieber Freund Monat für Monat mehr und mehr dahinwelkte und sich auf den Weg zu seiner schon verstorbenen Gefährtin machte, die er sein Leben lang so sehr geliebt hatte und die ihn nun vielleicht an einem anderen Ort im Universum erwarten würde?

Ich kann diese Worte über meinen Freund und Gefährten, Isidoro, aber nicht beenden, ohne vorher auf diese Verse nach Heinrich Heine zu verweisen, die Isidoro selbst geschrieben hat – in einem zehnseitigen Manuskript, das er mir, mit der Bitte um meine Meinung, gegeben hatte. Sie lauten folgendermaßen:

Ihr, Wächter, die ihr in meinem Koffer sucht,
nichts werdet ihr hier finden
die Schmuggelware, die mit mir reist
beschloss ich in meinem Kopf zu verwahren …
… und viele Bücher trag‘ ich im Kopf!
Ich darf es Euch versichern,
mein Kopf ist ein zwitscherndes Vogelnest
von konfiszierlichen Büchern.
Insel Moabit, 25/06/2014

FÜR ÁMBAR, FÜR ANTONIA, FÜR JEDE

Antipatriarchale Erziehung Viele Denkweisen erlernen wir schon im Kindesalter (Foto: Fernanda Requena)

Ámbar Cornejo wurde zuletzt gesehen, als sie zum Haus ihrer Mutter aufbrach, um den ihr zustehenden Unterhalt abzuholen. Sie wurde kurz darauf als vermisst gemeldet, doch weder ihre Mutter noch deren Partner halfen bei der achttägigen Suche nach der 16-Jährigen. Dann wurde Ámbar Anfang August tot auf dem Grundstück ihrer Mutter aufgefunden. Auch die beschuldigt inzwischen ihren Partner, Hugo Bustamante, Ámbar umgebracht zu haben.

Antonia Barra war 20 Jahre alt, als sie sich im vergangenen Oktober das Leben nahm. Wenige Wochen zuvor war sie vergewaltigt worden. Für diese Tat mit der Folge des Suizids sowie für sexualisierte Übergriffe an vier weiteren Frauen wurde im Juli dieses Jahres ein Verfahren gegen Martín Pradenas eröffnet. Die Fälle Ámbar Cornejo und Antonia Barra stehen aktuell stellvertretend für viele weitere Namen und Geschichten, die vom Scheitern der für den Schutz von Frauen und Kindern verantwortlichen staatlichen Institutionen zeugen.

In Chile kämpft eine Vielzahl feministischer Gruppen seit Jahren für das gesellschaftliche Bewusstsein über sexualisierte Gewalt und ihre Folgen. Ein erster Erfolg konnte 2010 errungen werden, als der Begriff Feminizid als juristischer Tatbestand für den Mord an Frauen aufgenommen wurde – allerdings nur, wenn diese mit dem Täter verheiratet sind oder zusammenleben. Nachdem 2018 ein bekannter Fall nicht als Feminizid behandelt wurde, bei dem das Opfer Gabriela und ihre Mutter vom Ex-Partner letzterer ermordet wurden, kam es zu Massenmobilisierungen – mit Folgen. Die unzureichenden Gesetzesformulierungen wurden überarbeitet, im März dieses Jahres trat das Ley Gabriela in Kraft. Zwar war Chiles Präsident Sebastián Piñera voll des Lobes über das Gesetz, jedoch bereits sein begleitender Kommentar bei der Unterzeichnung ließ das Ausbleiben wahren Wandels erwarten: „Manchmal ist es nicht allein der freie Wille der Männer zu missbrauchen, sondern auch die Position der Frauen, missbraucht zu werden.” In den folgenden Monaten zeigte sich die schleppende Umsetzung des Gesetzes. Nun verfolgt das ganze Land die Anwendung der Gesetze in den Fällen von Antonia und Ámbar – zwei Fälle, die aus unterschiedlichen Gründen besondere Aufmerksamkeit bekommen und durch ihre Komplexität viele Fragen unbeantwortet lassen.

Auch Ámbars Tod war ein Feminizid, zudem an einer Minderjährigen

Ámbar Cornejo lebte in Angst vor ihrem Aggressor. Der Partner ihrer Mutter war erst 2016 unter Auflagen frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden, wo er wegen Mordes an seiner Ex-Frau und seinem Stiefsohn für elf Jahre inhaftiert gewesen war. Den Behörden war die Lage bekannt, Ámbar war zeitweise auch in Kinderheimen des staatlichen Minderjährigenservices SENAME und anderen staatlichen Programmen untergebracht. Doch es wurde nicht genug unternommen, um das Mädchen zu schützen. Die traurige Liste von registrierten Feminiziden in Chile allein in diesem Jahr zählt laut Angaben des chilenischen Netzwerks gegen Gewalt an Frauen (Interview siehe LN 549) neben Ámbar bereits 30 weitere Fälle. Dass die Statistiken des Ministeriums für Frauen und Gleichstellung der Geschlechter für den gleichen Zeitraum nur 24 Feminizide registrieren, zeugt von der Ablehnung des Tatbestands in einigen Fällen.

Fest steht: Auch Ámbars Tod war ein Feminizid, zudem an einer Minderjährigen. Die Anteilnahme ist aufgrund dieser Umstände besonders groß. Im Kontext des jüngsten Falls wird in Chile nicht nur Gewalt an Frauen, sondern auch Gewalt und Missbrauch an Kindern einmal mehr auffällig. Gewaltige Missstände beim SENAME sind bekannt, kürzlich hat auch UNICEF die unzureichende Wirkungsweise des chilenischen Minderjährigendienstes kritisiert. Ende August hat die chilenische Abgeordnetenkammer die Gründung einer Sonderermittlungskommission eingeleitet, die die Verantwortung innerhalb der kritisierten Institutionen klären soll. Dazu gehören neben dem SENAME die öffentliche Kinderschutzinstitutiton Defensoría de la Niñez, aber auch die Polizei und Teile des juristischen Systems, das dafür verantwortlich ist, dass Ámbars mutmaßlicher Mörder vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen wurde.

Der Fall Antonia Barra erregte die öffentliche Aufmerksamkeit besonders durch die Debatte darüber, wie mit Suiziden infolge von sexualisierter Gewalt umzugehen ist. Antonia Barra nahm sich das Leben, nachdem sie wenige Wochen zuvor sexualisierte Gewalt erlebt hatte. Sie blieb davon traumatisiert, ihr Aggressor bedrohte sie auch weiterhin. Viele feministische Gruppen und Organisationen wie auch das chilenische Netzwerk gegen Gewalt an Frauen fordern, den Begriff Suicidio Femicida für den Suizid von Frauen infolge sexualisierter Gewalt gesellschaftlich und juristisch zu etablieren. Nur so kann die Verantwortung am Suizid dem Aggressor zugeschrieben werden.

In den letzten Monaten entstanden so gewaltige Protestaktionen über soziale Netzwerke

Die Gerichtsverhandlungen im Fall Antonia wurden online live übertragen, Tausende verfolgten sie von zuhause. Dazu hatten feministische Gruppen über soziale Netzwerke aufgerufen, unter anderem die Vereinigung Redpsicofem, in der Psychologinnen Informationsarbeit mit feministischer Perspektive anbieten. Auch sie betonen, dass der Fall Antonia lediglich ein prominentes Beispiel für sexualisierte Gewalt ist, ebenso wie der Fall Ámbar. Wie so oft stieg auch nach dem Bekanntwerden dieser Fälle die Nachfrage an psychologischer Betreuung. Redpsicofem erläutert, dass viele Patient*innen „von persönlich erlebten Erfahrungen berichten und sich an weitere erinnern, die den öffentlich bekannten Fällen sehr nahekommen”. Dies mache nur noch deutlicher, „dass jene Erlebnisse uns allen passieren können”. Sie stehen stellvertretend für all die bekannten und unbekannten Fälle von Frauen und Mädchen, deren Anzeigen gegen Aggressoren ohne Folgen blieben, die weiterhin in Angst leben, da die Täter in Freiheit, wenn nicht gar in ihrer direkten Nähe verweilen. Das Netzwerk gegen Gewalt an Frauen dokumentierte in diesem Jahr bereits drei Fälle von Suicidio Femicida. In Statistiken des Frauenministeriums werden diese Fälle nicht geführt.

Anstatt wie sonst nach solch erschütternden Geschehnissen auf die Straße zu gehen, müssen feministische Bewegungen in der Phase des Lockdowns andere Mittel des Protests und des Gedenkens finden. In den letzten Monaten entstanden so gewaltige Protestaktionen über soziale Netzwerke: Tausendfach wurden Fotos, Illustrationen und Slogans für Gerechtigkeit und mehr Schutz für Frauen und Kinder geteilt. Mit dem Protest auf der Straße geht oft ein Trost, ein Verständnis unter Frauen, ein Gefühl der Verbundenheit und Stärke einher. Ohne Versammlungen und ohne Demonstrationen ist die Situation für viele noch schwieriger.

Ohnehin war die psychische Belastung für Frauen durch die anhaltenden Kontaktbeschränkungen und die vielen Monate der Zurück-*gezogenheit zuhause angestiegen. Wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtet, liegt das an der Zunahme ökonomischer, sozialer und gesundheitlicher Probleme. Wie wichtig eine gute Versorgung der mentalen Gesundheit in Zeiten der Pandemie besonders in Lateinamerika ist, hat erst kürzlich Carissa Etienne, Präsidentin der Panamerikanischen Gesundheits-*organisation (PAHO), erläutert. Sie erwähnt außerdem, dass bisherige Schätzungen über das Ausmaß häuslicher Gewalt während der andauernden Ausgangsbeschränkungen eher zu gering ausfallen.

Entsprechend der weltweit beobachtbaren Tendenz hat auch in Chile die häusliche Gewalt mit dem Lockdown zugenommen. Nach Angaben des Ministeriums für Frauen und die Gleichstellung der Geschlechter gingen in den Monaten April, Mai und Juni dieses Jahres doppelt so viele Anrufe bei der staatlichen Hilfe-Hotline ein wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Auch bei anderen Anlaufstellen stieg die Zahl der Hilfesuchenden, so auch bei den Freiwilligen der Vereinigung Redpsicofem: „Es traten mehr Probleme verbunden mit der Einsamkeit der Patientinnen auf, außerdem Probleme zwischenmenschlicher Beziehungen wegen der Ausgangsbeschränkungen. In einigen Fällen gab es Probleme im Zusammenleben, familiäre Probleme sind stark angestiegen.” Die Unterstützung für Betroffene sei außerdem erschwert, da sich jene während der Beratung oder der Therapiesitzung nicht immer an einem sicheren Ort befinden.

Die Coronavirus-Pandemie verstärkt somit die bestehende Problematik sexualisierter Gewalt. Doch wurde diese bereits vor dem Lockdown exotisiert und wird es wohl auch danach bleiben. Aus der Notwendigkeit heraus haben sich auch die Psychologinnen von Redpsicofem das Ziel gesetzt, Unterstützung und kostenlose Therapiesitzungen für Betroffene sexualisierter Gewalt anzubieten. Die Freiwilligen betonen, dass damit natürlich nicht das eigentliche Problem, nämlich die machistische Gewalt und die patriarchalen Strukturen in Chile, direkt angegangen wird. Doch könnten durch die psychologische Unterstützung zumindest die Betroffenen an Stärke gewinnen und aus Gewaltsituationen entkommen und weitere Betroffene ermutigen. Da die Hilfesuchenden oft nicht über die nötigen finanziellen Mittel für eine Therapie verfügen, wird das kostenfreie Angebot von Redpsicofem auch ebenjene erreichen können. Der Vereinigung ist wichtig, dass sich „die psychologische Versorgung nicht in einen Raum für die Elite verwandelt”.

Mit der schrittweisen Lockerung des Lockdowns in Chile begeben sich wieder mehr Menschen auf die Straßen, treffen sich, kehren zum zentralen Platz der Proteste der letzten Monate, dem „Platz der Würde“, zurück und atmen kurz auf. Nach dem Aufatmen wird wohl nicht lange auf den Schrei zu warten sein, der Gerechtigkeit fordert: für Antonia und Ámbar und alle, die unter der machistischen Gewalt leiden. Die Prozesse dauern an: in der Justiz, in der Gesellschaft und in jedem einzelnen Menschen. Redpsicofem stößt dabei wichtige Denkprozesse an: „Aktuell lösen einige Fragen Unwohlsein aus: Wie finden wir nach dem Lockdown zur Alltäglichkeit zurück? Wie treten wir wieder in Beziehung zu anderen?“

GUERILLERO DES STILS

Er ist vermutlich eines der letzten unentdeckten Genies der chilenischen Gegenwartsliteratur im deutschsprachigen Raum. Pablo de Rokha – legendärer Erzfeind seines Namensvetters Neruda und Wegbereiter der literarischen Moderne Chiles – erlebt mehr als ein halbes Jahrzehnt nach seinem Suizid eine verdiente Renaissance. Einen wichtigen Beitrag zu diesem späten Comeback leistet nicht zuletzt die junge Generation Latein-amerikas, welche de Rokhas zutiefst sozialkritischen Gedichten eine neue Plattform bietet. Trotz seiner enormen Wichtigkeit als Begründer des Avantgardismus in Chile und seiner Nähe zu literarischen Größen wie Pablo Neruda und Vicente Huidobro verwundert es, dass sein Werk bisher nicht in deutscher Sprache zu lesen war. Mit der zweisprachigen Anthologie “Mein Herz brüllt wie ein rotes Tier. Gedichte 1916 – 1966” eröffnet Reiner Kornberger durch seine hingebungsvolle Übersetzung der deutschsprachigen Leserschaft das Universum der Zerrissenheit de Rokhas.

Wichtigste Konstante im Leben und Inspirationsquelle für sein Schaffen stellte seine Frau, die Dichterin Winétt de Rokha dar. Die gegenseitige künstlerische Bezugnahme der beiden aufeinander ist so stark, dass das Werk Pablos in seinem Ganzen nur in Zusammenhang mit Winétts Lyrik zu erfahren ist. So enthält diese Gesamtschau eine bezeichnende Auswahl an Gedichten von Winétt und kommt damit einem Willen Pablos nach. Die Anthologie stellt den literarischen Dialog zwischen den beiden Liebenden wieder her. Sie liest sich wie ein offenes Buch ihrer innigen Verbindung, aber auch ihrer geteilten Erschütterung über die menschliche Existenz – geprägt von Ausbeutung und Fremdbestimmung.

Ungeachtet dieser besonderen Verbindung zeigen die Texte eine intensive Auseinandersetzung mit dem Selbst. Die Suche nach Identität und der Ausdruck des persönlichen Schmerzes ist jedoch niemals losgelöst von der Außenwelt, sondern offenbart sich als Spiegel, welcher die desolaten sozialen und psychischen Zustände des modernen Menschen reflektiert. Tragische Übertreibung und radikaler Expressionismus durchziehen das Werk. Dabei bleibt de Rokha auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen für den zerrissenen Menschen der Moderne stets seinen linken politischen Überzeugungen treu. Stilistisch sprengt er dabei jeden Rahmen, bedient sich einerseits volkstümlicher Kunstformen, wie dem Canto oder der Satire und begründet andererseits eine eigene metasprachliche Ästhetik. Als einen „Guerillero des Stils“ tauft ihn sein Übersetzer daher zu Recht. Zerfall, Verwesung und Widersprüchlichkeit prägen die sprachlichen Bilder, welche eine von den Schrecken des Krieges geläuterte Menschheit abbilden.

Die Verzweiflung der Zeit äußert sich in Winétts Werk weniger gewaltig, doch sie spielt bewusst mit der Sprache und stellt eine explosive Diskrepanz zwischen Form und Inhalt her. Das Entsetzen über den Kapitalismus, psychische Zerrüttung und scharfe Kritik am Faschismus drücken sich in frommer Form und sanften Versen aus.

De Rokha ist nicht einfach zu fassen, weshalb die detaillierte Übersicht über Leben und Schaffen des Dichterpaars eine hilfreiche Einführung des Übersetzers darstellt. Die Anthologie ist ein energiegeladenes Werk, das mal erschüttert, mal erzürnt, Abgründe eröffnet und dann wieder tief berührt. Vor allem aber revolutioniert es das ästhetische Empfinden.

BIOGRAFIE EINES CHILENISCHEN ARBEITERS

Es ist ein kurzer schöner Moment mitten in einer schrecklichen Zeit, in dem der titelgebende Satz für dieses Buch fällt: Wenige Wochen nach dem Militärputsch im Jahr 1973 wird Orlando Mardones – chilenischer Gewerkschaftsführer, Mitglied der Kommunistischen Partei und nun politischer Gefangener – aus seiner Zelle geholt und glaubt, dem Tod entgegenzugehen. Doch stattdessen erwarten ihn hinter der entsprechenden Tür andere Gefangene, darunter viele Bekannte. Einer kommt zu ihm, muss ihn anfassen, um es glauben zu können: „Mensch, du lebst noch? Du lebst ja – du bist es?“.

Orlando Mardones schildert diese wie andere Szenen bewundernswert nüchtern und ohne dramatische Überspitzungen. In kurzen Kapiteln hangelt sich der heute 74-Jährige chronologisch durch seine eigene Biografie. Bereits mit 14 Jahren muss er lernen, sich selbst durchzuschlagen: erst als Aushilfe in einem Kaufladen, dann in einer Bäckerei. Nach einem freiwilligen Jahr beim Militär steigt er bei der chilenischen Elektrizitätsgesellschaft ENDESA ein und arbeitet sich bis zum Gewerk- schaftsvorsitzenden hoch. Die gesellschaftliche Politisierung der 60er-Jahre ergreift auch Mardones. 1966 tritt er in die Kommunistische Partei ein, später unterstützt er Salvador Allende im Wahlkampf.

Mardones‘ Erzählungen ergänzen bisher Bekanntes über diese hochpolitische Zeit mit lebensnahen Schilderungen aus der Perspektive eines chilenischen Arbeiters und Gewerkschafters. Besonders eindrucksvoll sind seine Berichte vom Gemeinschaftsgefühl unter den Arbeiter*innen und den großen arbeitsrechtlichen Errungenschaften dieser Jahre. Doch die Euphorie legt sich bald. „Wir, die Gewerkschaften, die Linke, waren nicht genügend darauf vorbereitet, eines Tages die politische Macht in unsere Hände zu nehmen“, analysiert Mardones und spricht von der Wahl Allendes zum Präsidenten als „verlorenen Sieg“. Und dann kommt der Putsch. Bereits am Tag darauf wird Orlando Mardones festgenommen, entführt und gefoltert. Insgesamt drei Jahre verbringt er in verschiedenen Gefängnissen und Lagern des Landes. Danach findet er in Chile weder genügend Arbeit noch familiären Halt. 1978 emigriert er nach Deutschland, wo er bis heute lebt.

Der Text, der 1989 bereits in kürzerer Form auf Deutsch erschienen war, wurde nun bei Edition AV neu herausgebracht. Mardones Erzählungen, durch geschichtliche Ausführungen vom Journalisten Winfried Roth ergänzt und übersetzt, werden von Fotografien und sogenannten arpilleras (Stoffbildern) aus der Sammlung des Museo de la Memoria y Derechos Humanos illustriert.

So dokumentiert „Mensch, du lebst noch?“ Mardones‘ Leben auf ehrliche Art und Weise. Seien es die Jahre der Gefangenschaft und Folter oder das Leben zu Hause und der schlechte Umgang mit seiner ersten Ehefrau: Mardones reflektiert vieles aus seiner Biografie, auch den eigenen Machismus, offen. Gerade das macht seine Erzählungen so echt. Der chilenische Journalist Antonio Skármeta schreibt dazu im Vorwort: „Er [Mardones] stellt sich in seiner Unvollkommenheit dar“. Nur schade, dass seine Erzählung 1978 endet. Mardones‘ Perspektive auf aktuelle politische Entwicklungen in Chile wäre sicherlich auch sehr lesenswert.

DAS BESSERE GESCHICHTSBUCH

Wer an Salvador Allende denkt, kommt wahrscheinlich bald bei dessen Sturz am 11. September 1973 an. Seine letzte Rede, im Angesicht des Putsches und des Beginns einer Militärdiktatur, machte Allende zur Ikone: „Ich werde nicht zurücktreten! In eine historische Situation gestellt, werde ich meine Loyalität gegenüber dem Volk mit dem Leben bezahlen.“

Diese Sätze stehen in Die Jahre von Allende erst auf den letzten Seiten. Die Graphic Novel rollt die komplexen Ereignisse der 1.000 Tage andauernden Allende-Regierung ab seiner Wahl im September 1970 auf. Die drei Kalenderjahre bilden Kapitel und strukturieren die sich überschlagenden Entwicklungen: vom Amtsantritt und der Regierungsbildung unter Allendes Unidad Popular über die Rolle der sozialen Bewegungen und Gewerkschaften, den Einfluss der USA und extrem rechter Organisationen bis hin zu politischen Attentaten und den bis heute umstrittenen Todesumständen Allendes.

Zwischen den Geschehnissen auf der Straße und im Parlament – etwa Allendes Erfolge, wie die Verstaatlichung der Kupfervorkommen – fällt es schwer, den Überblick zu behalten. Hierfür haben die Autoren eine Rahmenhandlung um den US-amerikanischen Journalisten John Nitsch entworfen. Dieser Schachzug mag zunächst verwundern, beim Lesen leuchtet er ein: Nitschs Außenperspektive macht das komplexe Geschehen auch für nicht-chilenische Leser*innen verständlich und verdeutlicht die Rolle der USA an den Ereignissen.

Die Zeichnungen von Rodrigo Elgueta lockern die manchmal überfordernd detaillierte Chronik in Die Jahre von Allende auf. Trotz der schlichten Gestaltung lassen die Bilder bei längerer Betrachtung interessante Details zum Vorschein kommen. Hierfür lohnt es sich sehr, auch den ausführlichen Anhang zu lesen: Die Autoren erläutern dort die popkulturellen Anspielungen, die sie überall auf den Seiten versteckt haben, zum Beispiel Plakate und Comics der frühen 70er Jahre.

Es ist eine Bereicherung, dass die Graphic Novel nach fünf Jahren nun für ein deutschsprachiges Publikum zugänglich ist. Die Übersetzung von Lea Hübner überzeugt auch bei der Vermittlung des besonderen Pathos, das bei Salvador Allendes Reden stets mitschwang. Einige Fußnoten helfen bei der Einordnung politischer Organisationen oder Personen.

Der Szenerist Carlos Reyes und der Zeichner Rodrigo Elgueta, beide in den Jahren Allendes noch Kleinkinder, haben somit eine Graphic Novel für ein breites Publikum geschaffen. Diese zeigt, beinahe wie ein spannendes Geschichtsbuch, auch pädagogisches Potenzial. Beide Autoren sind übrigens Lehrer. Die kritische und detaillierte Auseinandersetzung mit der Geschichte wird sowohl jüngeren Leser*innen als auch Kenner*innen neue Erkenntnisse über Salvador Allende bringen. Dessen letzte Worte behalten angesichts der Massenproteste für eine neue Verfassung seit Oktober 2019 wohl bis heute Gültigkeit: „Ich glaube an Chile und sein Schicksal. Es werden andere Chilenen kommen. In diesen düsteren und bitteren Augenblicken […] sollt ihr wissen, dass ihr früher oder später, sehr bald, erneut die großen Alleen aufstoßen werdet, auf denen der würdige Mensch dem Aufbau einer besseren Gesellschaft entgegengeht.“

DIE FRAGE NACH DER HÖCHSTEN DRINGLICHKEIT

Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

Unter anderem eine Fehleinschätzung führte zum dramatischen Anstieg der Fallzahlen von COVID-19: Ende April hatte die Regierung deren Entwicklung als „stagnierend“ eingeschätzt, begann über eine „sichere Rückkehr“ der Bürger*innen zur Arbeit nachzudenken und beriet sich mit Wirtschaftsführer*innen über eine Normalisierung der wirtschaftlichen Aktivitäten. Dann stieg die Zahl der Infektionen innerhalb weniger Tage dramatisch an. Auf schrittweise in mehreren Kommunen Santiagos verhängte Beschränkungen folgte erst am 13. Mai eine generelle Quarantäne, nachdem sich das Infektionsgeschehen vom wohlhabenden Osten der Stadt bereits in die bevölkerungsreicheren, ärmeren Teile ausgebreitet hatte.

Anfang Juni gab der damalige Gesundheitsminister Jaime Mañalich fast unbeachtet zu, dass die Strategie der Regierung versagt hatte. Diese beruhte entscheidend auf zwei Faktoren: einer deutlichen Reduzierung der Mobilität sowie einer effizienten Nachverfolgung der Fälle. Aber der mittels Handydaten geschätzte Umfang der innerstädtischen Reisen ging aufgrund relativ großzügig vergebener Passierscheine anstatt auf laut Expert*innen notwendige 35 Prozent nur auf 70 Prozent zurück, gleichzeitig konnten nur 60 Prozent der Infizierten nachverfolgt werden. Auch eine Verzehnfachung des Personals im Kontaktzentrum konnte die Lage nicht mehr ändern.

Erfolgreich war die Regierung hingegen dabei, die Anzahl der Tests und Intensivbetten mit Beatmungsgeräten zu erhöhen. Mittlerweile sind in Chile über 1 Million PCR-Tests durchgeführt worden, relativ zur Bevölkerung die höchste Zahl in Lateinamerika. Die Anzahl von Beatmungsgeräten konnte von etwa 1.000 Geräten Anfang April bis heute mehr als verdreifacht werden.

Unsolidarität mit tödlichen Folgen

Bei den Intensivbetten selbst hat die Regierung jedoch nur auf die öffentlichen Krankenhäuser direkten Einfluss. Während diese die Zahl ihrer Intensivbetten zum Teil deutlich ausbauten, erhöhte sich die Bettenkapazität privater Kliniken nur wenig. Der Grund: diese verzeichnen aufgrund einer gesetzlich festgelegten Abrechnungspauschale Umsatzeinbußen, wenn sie COVID-19-Patient*innen ohne private Krankenversicherung übernehmen. Daraufhin wurden die Privatkliniken unter Androhung von Sanktionen zum Ausbau weiterer Intensivplätze verpflichtet.

Dass die Privatkliniken ein wirtschaftliches Interesse haben, dem Gesundheitssystem gegenüber unsolidarisch zu sein, wirkt sich indirekt auf das Überleben der Menschen in den ärmeren Kommunen aus. Die Sterberate in den staatlichen Krankenhäusern ist durchschnittlich doppelt so hoch wie in den privaten. Mauricio Toro, stellvertretender Leiter des Krankenhauses Padre Hurtado, das mit 25 Prozent die höchste Sterberate in Santiago hat, erklärte schon im Juni gegenüber dem Medium CIPER Chile, dass in die staatlichen Krankenhäuser nur die schwersten Fälle kämen. „Wir arbeiten seit Wochen am Limit. Wir müssen festlegen, wen wir an ein Beatmungsgerät anschließen und wen nicht. Wir entscheiden uns für diejenigen mit den besseren Überlebenschancen.” Zu solchen Situationen kam es in vielen Krankenhäusern.

Mancherorts werden Menschen mangels Betten in der Notaufnahme beatmet, auch mit umfunktionierten Narkosegeräten. Zur bestmöglichen Nutzung freier Betten versucht eine zentrale Bettenkoordinationsstelle (UGCC) im Gesundheitsministerium die Patient*innen landesweit auf freie Intensivbetten zu verteilen. Nicht alle Patient*innen sind jedoch áusreichend transportfähig, andere werden häufig irrtümlich in bereits volle Krankenhäuser gebracht, da die UGCC nicht in Echtzeit arbeitet.

Die aktuelle Situation legt nahe, dass mehr Tests und Beatmungsgeräte allein das Problem nicht lösen. Das neoliberale Gesundheitssystem Chiles wird in Kombination mit dem Missmanagement der Regierung vermutlich Menschenleben gekostet haben. Der Radioreporter Carlos Escobar von Radio Plaza de la Dignidad formuliert es gegenüber LN so: „Das Gesundheitssystem legt die sozialen Unterschiede bloß und obwohl die Krise es erfordert, die staatlichen und privaten Systeme für die Behandlung zusammenzuführen, sind die Ansteckungen und Todesfälle in den ärmeren Bevölkerungsschichten anteilig höher.“

Alltag in Zeiten der Pandemie Auch im Lockdown bleibt Santiagos Metro nie leer (Fotos: Diego Reyes Vielma)

Eine ärmere Bevölkerungsgruppe, die auch während der Pandemie besonders benachteiligt ist, hat nun an den Staat appelliert: Eine Versammlung von Vertreter*innen verschiedener indigener Gruppen Chiles (ASODEPLU) weist in einem Aufruf darauf hin, dass es in ihren Gebieten oft an medizinischer Versorgung und Verkehrsmitteln mangele, keine Daten zur Verbreitung von COVID-19 in der indigenen Bevölkerung erhoben würden und bei den Pandemiemaßnahmen keinerlei Rücksicht auf ihre kulturellen Belange genommen werde. Die Aktivitäten der großen Unternehmen in ihren Gebieten wie der Bergbau, Forstwirtschaft oder die Lachszucht gingen jedoch weiter und würden teilweise während der Pandemie noch gezielt verstärkt.

Andere Benachteiligte sind zahlreicher und bereiten den regierenden Konservativen im Hinblick auf die kommenden Wahlen und das Verfassungsreferendum daher mehr Sorgen. Die Wirtschaft leidet in der Krise, die große Fluglinie LATAM hat Insolvenz angemeldet und die Arbeitslosigkeit mit über elf Prozent ihr Zehnjahreshoch erreicht. Die Rückkehr zu Präsenzunterricht an den Schulen ist auch nach vier Monaten noch nicht absehbar. Präsident Piñeras Zustimmungsrate war während der Pandemie noch nie so niedrig. Der Druck, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, ist also hoch. Die Regierung hat daher beschlossen, erneut Millionen von Lebensmittelkisten an von der Krise wirtschaftlich bedrohte Menschen zu verteilen. Gesundheitsminister Enrique Paris spricht derzeit von einer „leichten Besserung“ bei den Infektionszahlen, ein Beratergremium hat Kriterien für künftige Lockerungen ausgearbeitet.

Mehreren Abgeordneten der Regierungsparteien Nationale Erneuerung (RN) und Unabhängige Demokratische Union (UDI) war das noch nicht genug, sie verhalfen nun im Abgeordnetenhaus einer von der Opposition eingebrachten Verfassungsänderung zum Erfolg, die die Auszahlung von 10 Prozent der Pensionsanlagen aus dem System der privaten Rentenkassen AFP erlauben soll. Dieses wird seit langem dafür kritisiert, mit den Einlagen der Bevölkerung Investorengeschäfte zu betreiben, dafür aber nur eine mickrige Rente zu gewährleisten. Ein zeitgleich zur Abstimmung gestellter Solidarfonds, der die ausgezahlten Mittel ersetzen soll, verfehlte jedoch die nötige Mehrheit. Viele rechte Politiker*innen erklärten, dass die Verfassungsänderung künftig zu geringen Renten führen würde. Der Abgeordnete Gastón Saavedra entgegnete: „Es ist nicht wahr, dass die Renten nun wegen dieser 10 Prozent armselig werden. Die Leute sind ohnehin schon dazu verurteilt, schlechte Renten zu haben.“

Für Einwohner*innen der 64 Kommunen Chiles, die noch immer unter Quarantäne stehen, darunter die gesamte Hauptstadtregion, mögen diese politischen Entwicklungen nur ein kleiner Hoffnungsschimmer sein. Menschen mit nicht-systemrelevanten Berufen können dort nur zweimal wöchentlich mit einem online beantragten Passierschein der Carabineros ihr Haus verlassen. Diese werden zwar relativ großzügig vergeben, sind aber zeitlich begrenzt und nur für bestimmte Tätigkeiten gültig._In der Praxis sei das kaum mit der Lebensrealität vieler vereinbar, meint Carlos Escobar: „Für die Menschen, die darauf angewiesen sind, jeden Tag in prekären und informellen Arbeitsverhältnissen ihre Existenz zu sichern, ist es unmöglich, zu Hause zu bleiben und die Quarantäne einzuhalten“. Trotzdem setzt die Regierung auf harte Strafen bei Verstößen. Mitte Juni trat eine Regelung in Kraft, die zwischen drei und fünf Jahre Haft und Geldstrafen von bis zu 12,5 Millionen Pesos (etwa 14.000 Euro) für die Nichteinhaltung der Beschränkungen vorsieht. Seit der Ausrufung des Katastrophenzustands Mitte März hat es bis Mitte Juli laut Informationen des Innenministeriums beinahe 120.000 Festnahmen unter dem Vorwurf solcher „Straftaten gegen die öffentliche Gesundheit“ gegeben.

Protest in Zeiten der Pandemie Auch mit Maske droht staatliche Repression

Zur Sicherung der öffentlichen Ordnung ist auch das Militär noch immer auf den Straßen – die Verlängerung des Ausnahmezustands bis Mitte September gibt auch weiterhin die Befugnis dazu. Im Mai waren so über 70.000 staatliche Sicherheitskräfte auf den Straßen im Einsatz. Die 33.000 Militärs unter ihnen dürfen bisher nur für den Schutz sogenannter kritischer Infrastruktur – etwa das Stromnetzwerk oder Krankenhäuser – eingesetzt werden. Das will die Regierung aber durch eine Reform des Gesetzes für kritische Infrastruktur ändern. Viele befürchten eine Militarisierung der öffentlichen Sicherheit, sollte das Vorhaben es in bisheriger Form durch die Verhandlungen im Abgeordnetenhaus schaffen.

Auch die harten Strafen und die Präsenz des Militärs auf den Straßen konnten manche nicht davon abschrecken, auf die Straßen zu gehen. Mehrfach hatten Menschen aus den poblaciones bereits in den letzten Wochen gegen die Maßnahmen der Regierung und die unzureichende staatliche Versorgung während der Pandemie protestiert. „Wenn uns der Virus nicht tötet, dann tötet uns der Hunger“, hieß es bei den Protesten in Santiagos Außenbezirken. Waren diese Aktionen Ausdruck unmittelbarer Not, blieben andere Proteste eher ruhig oder fanden online statt. Außer beim Gedenken an die Streiks am 2. und 3. Juli 1986, bei denen große Teile der Arbeiter*innen als Zeichen des Protests gegen die Diktatur ihre Arbeit nieder- und das Land lahmgelegt hatten. In Santiago kam es zu Zusammenstößen mit den Carabineros, die Protestierenden zündeten Busse an und errichteten Barrikaden. In der Stadt Melipilla südwestlich der Metropolregion kam ein 21-Jähriger bei den Protesten ums Leben. Der zuständige General der Carabineros, Enrique Monraz, erklärte gegenüber der Presse, der junge Mann sei durch Schüsse der Demonstrierenden getötet worden, die polizeilichen Ermittlungen laufen. Viele Protestaktionen blieben derzeit von einer breiteren medialen Öffentlichkeit fast unbeachtet. „Die großen Fernsehsender sind zu Sprechern der kriminellen Regierung geworden, deswegen sind Community-Medien hier jetzt die wahre Informationsquelle“, meint Carlos Escobar. Die Arbeit kleiner und alternativer Medien wurde aber zuletzt immer schwerer. Escobar erklärt: „Mit der neuesten Regelung der Regierung wird eine rechtliche und steuerliche Unternehmensform auch für diese Medien vorausgesetzt. Für die meisten ist das nicht möglich, erst recht nicht während einer Gesundheitskrise“.

Anti-Riot Ausrüstung aus Europa

Für Unmut sorgten mitten in der Pandemie außerdem Berichte über Investitionen in Anti-Riot-Ausrüstung. So auch die auf ZEIT ONLINE veröffentlichte Recherche über die Kooperation deutscher und chilenischer Polizei sowie den Export deutscher Impulslöschpistolen nach Chile. Sieben Löschpistolen der Firma IFEX aus Niedersachsen hat die chilenische Polizei im Januar gekauft. Es gibt Hinweise darauf, dass die für die Brandbekämpfung entwickelten Pistolen gegen Protestierende eingesetzt wurden. Ende Juni bestätigte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags, dass die Geräte unter den Geltungsbereich der EU-Anti-Folter-Verordnung fallen und ihr Verkauf demnach von der Bundesregierung hätte kontrolliert werden müssen. Mitte Juni machten Angestellte im Hafen von San Antonio über Twitter außerdem die Ankunft eines neuen Wasserwerfers der österreichischen Firma Rosenbauer publik, auch das Onlinemedium El Desconcierto berichtete darüber. Laut einem Sprecher des Innenministeriums sei der Kauf bereits im vergangenen Jahr getätigt worden, die Lieferung habe sich jedoch verzögert und gleiche lediglich den Verschleiß an Ausrüstung seit Beginn der Proteste im Oktober 2019 aus.

Im Zuge der „Agenda für Sicherheit und sozialen Frieden“ treibt die Regierung nun außerdem die Reform des Geheimdienstgesetzes voran, die Präsident Piñera und Verteidigungsminister Alberto Espina schon vor der Coronakrise vorgelegt hatten. Seit Mitte März hat Piñera dem Projekt zur Modernisierung des staatlichen Sicherheitssystems und des Geheimdienstes ANI bereits elf Mal suma urgencia, „höchste Dringlichkeit“, zugesprochen – somit sind die Kammern des Parlaments gezwungen, innerhalb von 15 Tagen über das Projekt zu beraten.

„Wir Chilenen werden besser vor den internen und externen Bedrohungen geschützt sein“, kündigte Espina an. Schon früher hatte die Regierung Piñera in Pinochet-Manier gesellschaftliche Proteste als „Feind aus dem Inneren“ bezeichnet. Die Reform sieht die Schaffung eines neuen Rats vor, der den Präsidenten in Sicherheitsfragen beraten soll. Über den Haushalt des chilenischen Geheimdienstes ANI, im Jahr 2020 umgerechnet ca. 7,9 Mio. Euro, sollen zukünftig nur noch vier Personen – ANI-Direktor*in, Innen- sowie Verteidigungsminister*in und Präsident*in – in geheimen Sitzungen entscheiden. Dieses intransparente Verfahren ließe anderen staatlichen Stellen keine Kon-*trollmöglichkeiten. Außerdem sollen die Befugnisse der Behörden in Sachen Überwachung erweitert und verdeckte Ermittler*innen, auch Nicht-Angehörige von Polizei und Militär, eingesetzt werden dürfen.

Derzeit werden mögliche Änderungen an der Reform vom Verteidigungsausschuss des Abgeordnetenhauses ausgehandelt. Dessen bisheriger Präsident Jorge Brito, Abgeordneter der linken Revolución Democrática (RD) und Kritiker der Reform, wurde Anfang Juli in einem Misstrauensvotum abgesetzt. Die entscheidende Stimme im von zwei UDI-Politikern initiierten Verfahren kam ausgerechnet von der Vertreterin einer Mitte-Links-Partei: Loreto Carvajal, Abgeordnete der Partei für die Demokratie (PPD).

Kritiker*innen bemängeln vor allem autoritäre Züge der Reform, die „den Weg für eine Sicherheitspolitik freimacht, die sich auf die Unterdrückung und Neutralisierung sozialer Proteste richtet“, wie die Chilenische Menschenrechtskommission konstatiert. Auch Amnesty International Chile meint, das Geheimdienstgesetz decke schon in seiner bisherigen Form Menschenrechtsverletzungen wie die Unterdrückung und Überwachung von Mapuche-Aktivist*innen während der Operation Huracán (siehe LN 526). Die Organisation zeigte sich besorgt darüber, dass der derzeitige Entwurf die Macht bei der Exekutive konzentriert. Bei El Desconcierto warnen Expert*innen vor einer „Politisierung der Streitkräfte und der öffentlichen Ordnung“.

Auch das Tempo, mit dem Präsident Piñera die Sicherheitsreformen vorantreibt, stößt auf Kritik. Amnesty International Chile betont, derartige Gesetzesprojekte bräuchten langfristige und gründliche Überlegungen. Der Journalist Roberto Sáez drückt es im Nachrichtenportal der Universidad de Chile drastischer aus: „Der Druck, den die Regierung anwendet, um dieses Gesetz mitten in der Wirtschafts- und Gesundheitskrise zu verabschieden, offenbart die Verzweiflung einer Regierung, deren Tage gezählt sind und die versucht, sich mit dunkelsten Methoden an der Macht zu halten”.

ALLE DIESE LEBEN

Francisca Fernández Droguett
ist Sprecherin des sozialökologischen Komitees der feministischen Organisation Coordinadora 8M in Santiago de Chile. Gleichzeitig ist sie Aktivistin der MAT, einer Bewegung gegen die Wasserprivatisierung, die in etwa 100 Mitgliedsorganisationen Bäuer*innen- und Landarbeiter*innen mit Anti-Bergbauprotesten und indigenen Organisationen vereint. Die MAT versteht sich als plurinational sowie antipatriarchal und setzt sich gegen die Ausbeutung von Natur und Frauen ein.
(Foto: Luis Antonio Gonzalez)


Bezieht sich der sozialökologische Feminismus auf den Ökofeminismus aus den 1980er Jahren? Werden Frauen hier nicht etwa als Hüterinnen der Natur idealisiert und patriarchale Rollenzuschreibungen eher zementiert?
Sozialökologische Feministin zu sein ist eine komplexe Aufgabe! Ja, es gibt in der ökofeministischen Debatte oft einen sehr romantischen Blick auf Frauen als Hüterinnen des Saatguts oder Schützerinnen der Natur. Das hat aber etwas mit historisch-kulturellen Rollenzuschreibungen zu tun und nichts mit der Natur. Wir gehen davon aus, dass die Natur selbst „entnaturalisiert“ – also von ihren Normen befreit – werden muss, denn dort gibt es ja keine Monokultur der heteronormativen Verhältnisse. Die Natur ist selbst vielfältig. Wir könnten auch sagen: Sie ist queer.

Woran orientiert sich der Ansatz dann?
Wir beziehen uns eher auf vielfältige theoretische Bezüge aus Lateinamerika bzw. Abya Yala als aus Europa. Dabei haben wir viel vom feminismo comunitario (gemeinschaftlicher Feminismus, Anm. d. Red.) aus Bolivien und dem dekolonialen Feminismus unserer migrantischen Schwestern aus Kolumbien oder Haiti gelernt. Heute ist es eine große feministische Herausforderung, die Rassifizierung des Extraktivismus zu verstehen. Allgemein von einer Unterdrückung der Frau zu sprechen, macht die Unterdrückungserfahrungen von Mapuche, Migrantinnen, Schwarzen Frauen oder Queers unsichtbar. Deshalb wollen wir verschiedene Kämpfe einbeziehen und den Feminismus dekolonialisieren.

Wie äußert sich das in konkreten Diskussionen im sozialökologischen Komitee?
Diese alltäglichen Diskussionen sind nicht weniger komplex. Wir arbeiten einerseits mit jungen veganen Frauen aus dem Antispeziesismus (radikale Tierrechtsbewegung, Anm. d. Red) zusammen, die in besetzten Häusern in den Städten leben. Andererseits sind Mapuche-Bäuerinnen dabei, die sich dafür einsetzen, Saatgut zu schützen und für die der Kampf für ihre Familie und ihre comunidad essenziell ist. Da gibt es Konflikte: Zum Beispiel sagen die Mapuche-Genossinnen: „Wir sind dagegen, Tiere auszubeuten. Wir gehen andere Beziehungen zu ihnen ein als die industrielle Tierhaltung. Aber wir essen sie.“ Die Tierrechtlerinnen finden es dagegen respektlos, wenn eine Bäuerin zum Treffen dulce de leche, eine Süßigkeit aus Milch, mitbringt.

Ein anderes Thema ist die Mutterschaft: Wir unterstützen sowohl Queers, die für alternative Formen der Mutterschaft kämpfen, als auch den Kampf für Abtreibungsrechte. Manche von uns sagen: „Abtreibung ist nicht unser Hauptproblem. Wir haben uns schon immer mit bestimmten Pflanzen selbst helfen können. Wir kämpfen eher dafür, überhaupt Mütter werden zu können.“ Denkt an die großen Zwangssterilisations-Kampagnen im ländlichen Raum in Peru. Wir haben auch einmal intensiv die Frage einer Mapuche-Genossin diskutiert: „Bis wann werden wir Frauen immer nur sopaipilla (Teigwaren) zubereiten, während die Männer die politischen Entscheidungen treffen?“ Für eine andere war die Küche ein wichtiger Ort für Sorgenetzwerke – und ohne Nahrung sei auch kein politischer Kampf möglich. Wir haben uns darauf geeinigt, dass die Küche ein politischer Ort ist und jede selbst entscheiden können muss, ob sie sie als ihren Ort ansieht oder nicht.

Warum sprecht ihr in einem eurer Radiospots vom Kampf gegen Extraktivismus als „maskulinisierte Ökonomie“?
Maskulinisierte Ökonomie ist ein neues Konzept. Wir möchten sichtbar machen, dass der Extraktivismus ein Ergebnis moderner westlicher Entwicklungsvorstellungen ist – egal ob neoliberal, realsozialistisch oder links-progressiv. Es geht um eine Enklavenökonomie: Ein bestimmtes Gebiet wird in die kapitalistische Lieferkette integriert und gleichzeitig zerstört. Dies führt zu maskulinisierenden Effekten auf allen Ebenen – Produktion, Sorgearbeit und auch Politik. In der Produktion sind die Frauen den schlechtesten und gesundheitsschädlichsten Arbeitsbedingungen ausgeliefert, in Chile sind das etwa die temporeras, migrantische Saisonarbeiterinnen in der Agrarindustrie. Auch im Bergbau verdienen Frauen sehr viel weniger als Männer. Zudem tragen Frauen die viel größere Last der Sorgearbeit. Das ist zwar ein globales Phänomen, aber im Rahmen des Extraktivismus bedeutet es eine extreme Überlastung. Allein die Wasserversorgung! 137 Kommunen im Land haben kein Wasser mehr und die Menschen müssen sich dort mit Wasser von Lastwagen (Aljibe-Wasser) versorgen. Zudem müssen die Frauen sich mit den Folgen von Umweltverschmutzung befassen und um Kranke kümmern. Obendrein müssen sie den Widerstand am Laufen halten. Die monatelangen Straßenblockaden in Caimanes in der Provinz Choapa gegen das Kupfer-Bergbauunternehmen Los Pelambres haben zu 90 Prozent Frauen aufrechterhalten. Wenn es aber um politische Verhandlungen geht, dann ist das eine Sphäre der Männer. Im großen Kampf gegen die Wasserverschmutzung durch die Lachs­industrie in Chiloé etwa haben nur Männer mit der Regionalregierung verhandelt; die im Kampf aktiven Frauen wurden unsichtbar gemacht.

Was heißt eine solche Analyse für feministische Utopien?
Für uns ist die Idee einer territorialen, lokalen und solidarischen Ökonomie zentral. Nur so können wir die kapitalistischen Import- und Exportketten auf globaler Ebene unterbrechen – von der Produktion über den Vertrieb bis zum Konsum. Wir setzen uns für die Nutzung herkömmlichen Saatguts ein und für Konsumkooperativen. Aber wir vertreten keine antitechnologische Position, wie uns oft vorgeworfen wird. Wir sagen niemandem: „Hör auf, ein Smartphone zu benutzen“, wohl aber: „Kauf dir nicht alle sechs Monate ein Neues!“ Wir sind dafür, Berufe zu fördern, die auf Reparatur und Wiederverwertung ausgerichtet sind, wie Recycling von Kleidung. Schließlich bedeutet die Produktion jeder Jeans einen enormen Wasserverbrauch und Umweltverschmutzung.

Im Deutschen verbinden wir mit Territorium eher Vorstellungen von Nationalstaat oder Besitzansprüchen auf ein Gebiet. Was meint das Konzept „Körper-Territorium“ genauer?
Das ist vielleicht auch ein Übersetzungsproblem. Wir wollen verstehen, dass und wie wir unterschiedliche Räume bewohnen. Der feminismo comunitario ist auf den Kampf gegen den Extraktivismus ausgerichtet und dafür, unser Territorium, also den Raum, der uns umgibt und in dem wir leben, zurückzugewinnen. Nur so können wir eigene Formen entwickeln, uns mit unserer Umgebung in Beziehung zu setzen. Zudem verstehen wir unsere Körper als allererstes und enorm umkämpftes Territorium. Was in Corona-Zeiten sehr deutlich wird: Wenn wir für unsere Gesundheit kämpfen, können wir das nur tun, wenn wir verstehen, dass unsere Körper Teil kollektiver Prozesse sind und wir immer von anderen abhängig sind. Das Konzept verweist auch auf ein anderes Naturverständnis: Wir bewohnen die Natur, weil wir ein Teil von ihr sind und mit anderen Organismen koexistieren.

Wie arbeitet ihr in der Wasserbewegung mit dem Konzept der Rechte der Natur?
In Chile ist das Wasser durch die Verfassung aus Zeiten der Diktatur privatisiert. Der chilenische Staat vergibt private Nutzungsrechte, mit denen Wasser verkauft, vermietet und sogar mit Hypotheken belegt werden kann. In San Pedro de Melpilla zum Beispiel besitzt das Schweinemast-Unternehmen Agrosuper 90 Prozent der Wasserrechte, die Gemeinde dagegen nur 10 Prozent, was absolut nicht ausreicht. Wir finden deswegen auch die hiesige Debatte über den Klimawandel eher entpolitisierend. Oft wird nicht deutlich, dass der Klimawandel von einem bestimmten wirtschaftlichen Modell verursacht wird und dass nicht alle Menschen dafür verantwortlich sind, sondern mächtige Interessengruppen. Es gibt eben auch andere Gründe für das Austrocknen von Seen als weniger Regen. Deswegen sagen wir in unserer Bewegung: No es sequía, es saqueo! („Nicht die Trockenheit, sondern der Raubbau ist das Problem!“).

Was macht die MAT dagegen?
Seit unserer Gründung vor sieben Jahren ist uns klar, dass wir ohne eine Verfassungsreform nichts erreichen können. Damals wussten wir nicht, dass diese Forderung durch den Aufstand seit 2019 politisch so aktuell werden würde. Uns ging es zunächst um die Forderung nach einem Men­schenrecht auf Wasser. Wir wollten aber auch über diesen anthropozentrischen Blick auf Wasser als Ressource hinausgehen. Die Debatten in Ecuador und Bolivien sind dafür unsere Vorbilder. Denn auch die Erhaltung und Wiederherstellung von Ökosystemen ist angesichts der dramatischen aktuellen Krise des Biozids eine zentrale Forderung. Wir arbeiten viel mit dem Konzept „Itrofill Mongen“, das bei den Mapuche übersetzt in etwa „alle diese Leben“ heißt und das so etwas wie Biodiversität meint. Über andere Handlungsformen zu sprechen als die menschlichen ist nicht einfach. Aber wir tun dies nicht allgemein, sondern aus den spezifischen Perspektiven der Aymara, Quechua oder in Chile eben der Mapuche heraus. Es sind die indigenen Organisationen in der Wasserbewegung, die das möglich gemacht haben.

TRAUM EINES BESSEREN LANDES

Bild: Real Fiction Filmverleih

„Wir erträumten uns Chile aus der Ferne. Die Kordillere ist mit ihrer Kraft und ihrem Charakter die Metapher dieses Traums“. So erklärt Patricio Guzmán, der seit langem im Exil lebt, zu Beginn seines neuen Films Die Kordillere der Träume dessen Titel. Nach Nostalgie des Lichts (2010) und Der Perlmuttknopf (2015) schließt Guzmán nun seine Trilogie ab, in der wesentliche Landschaftselemente Chiles bildlich für die Verbrechen der Militärdiktatur oder deren Aufarbeitung stehen. Nach der Wüste und dem Wasser widmet sich der dritte Teil den Anden: Bilder fruchtbarer Täler, zerklüfteter Felsen und schneebedeckter Gipfel ziehen sich durch den ganzen Film – die Berge als Konstante in der Geschichte, stumme Zeugen der Vergangenheit.

Anders als die ersten beiden Filme verbindet Die Kordillere der Träume jedoch die Landschaft nicht direkt mit den Geschehnissen während der Diktatur, was das Sinnbild etwas bemüht wirken lassen könnte – wäre da nicht die dieses Mal dezidiert persönliche, intime Ich-Perspektive Guzmáns. Bilder der Ruine seines Kindheitshauses stehen am Beginn der Auseinander­setzung mit der zerstörten Kindheit und Jugend so vieler, die sich zu Allendes Zeiten für eine bessere Gesellschaft engagierten.

Weggefährt*innen und Zeitzeug*innen, darunter die Musikerin Javiera Parra und der Dokumentarfilmer Pablo Salas, erzählen von ihren persönlichen Schrecken und der Repression nach dem Putsch: die Angst der Eltern, Hausdurchsuchungen, Aufwachen mit einem Maschinengewehr am Hals. Salas blieb in Chile und dokumentierte später die von den Staatsmedien totgeschwiegene Repression. Szenen aus seinem umfangreichen Archiv zeigen aus nächster Nähe Demonstrationen während der Diktatur und die gewaltsame Reaktion der Sicherheitskräfte, darunter einen bedrückenden Moment, in dem Militärs ein ganzes Stadtviertel durchsuchen und alle erwachsenen Männer mitnehmen. Aufnahmen aktueller Polizeigewalt verdeutlichen anschließend die Kontinuität der Repression.

Die Kordillere der Träume verwebt erneut gekonnt Schrecken und Schönheit zu einem ernsten und doch poetischen Gesamtkunstwerk. Mehr als die Vorgängerfilme schlägt es dabei den Bogen zur heutigen politischen Situation Chiles und analysiert aus der Perspektive von Guzmáns Gesprächspartner*innen auch die Prägung der Gesellschaft durch den mit brachialer Gewalt durchgesetzten Neoliberalismus: Die wirtschaftliche Ausbeutung geht weiter, die soziale Kluft ist enorm und die Gesellschaft individualisiert. Dazu passen Guzmáns Bilder von Tagebauen im Hochgebirge, Geisterzügen, die das chilenische Kupfer vorbei an namenlosen, verarmten Dörfern abtransportieren, oder den verlassenen Büros von Pinochet und seiner Junta.

Am Ende des noch vor Beginn der Protestwelle im Oktober 2019 gedrehten, in Cannes preisgekrönten Films wünscht sich Patricio Guzmán, Chile möge seine Kindheit und Freude zurückgewinnen. Möge sein Traum in Erfüllung gehen.

ZU VIELE FRAGEZEICHEN

Foto: Zikophotography via Flickr (CC BY-NC 2.0)

Wie kann man sich ein Netzwerk für klandestine Schwangerschaftsabbrüche vorstellen?
María: Diese Gruppen entstehen lose aus der Not heraus, um Personen, die ungewollt schwanger geworden sind, zu begleiten. Ich sage Personen und nicht Frauen, weil es zum Beispiel trans Männer oder auch Menschen mit nicht-binären Geschlechtsidentitäten gibt, die schwanger werden und gebären können. Weil wir alle schon persönliche Erfahrungen mit ungewollten Schwang-*erschaften gemacht hatten, war uns von Anfang an klar, dass es zu diesem Thema im Allgemeinen ein Informationsloch gibt. Vor zehn Jahren sprach man in Chile kaum über Abtreibungen. In diesem Sinn waren wir uns alle einig darüber, wie wichtig es ist, Unterstützungsnetzwerke für ungewollt Schwangere aufzubauen und die Stimmen von Personen, die abgetrieben haben, zu verbreiten.

Lobelia: Einige Netzwerke sind größer als andere. Ich zum Beispiel arbeite in einer Stadt in den Anden in einem Netzwerk hauptsächlich mit Freundinnen von vor Ort zusammen, um Entscheidungsprozesse zu dezentralisieren. Trotzdem stehen wir in Kontakt mit anderen Netz- werken und tauschen uns aus. Jedes Netzwerk hat seine eigene Art, aber ich denke, wir begreifen uns alle als Fürsorgeorganisationen, die schwesterlich und feministisch handeln. Wir machen das jetzt seit zwei Jahren. Im Laufe der Zeit haben wir ein Aktionsprotokoll entwickelt, nach dem wir Frauen aus der Stadt, aus der Hochebene und der Nähe der Grenze begleiten.

Wie läuft ein konkreter Fall ab?
María: Die Empathie und das Verständnis, das wir aufbringen können, weil viele von uns selbst schon einmal in dieser Situation waren, macht die Kommunikation in dieser schwierigen Situation etwas leichter. Nach dem Gespräch erklären wir der Person, was bei einer Abtreibung körperlich und emotional geschieht. Wir fragen, welche Begleitung sie sich vor, während und nach dem Schwangerschaftsabbruch wünscht und was sie braucht. Manchmal ziehen wir professionelle Ärztinnen hinzu. Wir hatten auch Kontakt zu einer Gynäkologin, Psychologinnen und Therapeutinnen. Als „Entlohnung“ für unsere Arbeit als Netzwerk haben wir die Betroffenen darum gebeten, etwas zurückzugeben – je nachdem wie sie konnten und wollten, damit das Netzwerk weiterhin funktionieren und Menschen helfen kann.

Lobelia: Die Kommunikation ist in dieser Arbeit das wichtigste. Unsere Hilfe setzt beispielsweise voraus, dass wir nur mit der Schwangeren sprechen und sie bitten, zu unserem Treffen nicht mit ihrem Vater, Ehemann oder Freund zu erscheinen – zu unserem Schutz und dem des Netzwerks. Die Mehrheit der Frauen zeigt dafür sofort Verständnis. Bei Minderjährigen, deren Mütter Bescheid wissen und die Entscheidung für eine Abtreibung unterstützen, sprechen wir auch mit den Müttern, wollen aber hauptsächlich mit der Frau sprechen, um die es geht. Diese Fälle sind zudem meist komplexer, weil wir herausfinden müssen, ob der Sex einvernehmlich war oder ob die Schwangerschaft aus einer Vergewaltigung hervorgeht.

Wer nimmt eure Netzwerke in Anspruch?
María: Sehr unterschiedliche Frauen. Es geht nicht immer um einen Schwangerschaftsabbruch, es kommen auch Frauen, die bereits abgetrieben haben und danach emotional oder körperlich von ihren Partnern missbraucht oder verlassen wurden. Ich denke, so ist es bei vielen Netzwerken: Es geht darum, Hilfe und Unterstützung für Frauen zu leisten, die sich in einem schwierigen Moment ihres Lebens befinden. Dieser Moment, der die Möglichkeit in den Raum stellt, Leben zu erschaffen, bringt ganz viele Unsicherheiten und Ängste mit sich. Viele müssen diese Gefühle in einer Umgebung verarbeiten, in der sie selbst nicht entscheiden dürfen, ob sie Mütter werden wollen oder nicht.

Wie hat die Pandemie eure Arbeit verändert?
Lobelia: Hier herrscht nur nachts ab 22 Uhr Ausgangssperre, das heißt, dass wir erstmal normal weitermachen und uns mit den Frauen treffen konnten. Aber seit einem Monat haben wir keine Medikamente mehr vorrätig, weil die Grenzen geschlossen sind. Soweit wir wissen, werden in Chile keine Pillen für Schwangerschaftsabbrüche hergestellt. Als uns die Vorräte ausgegangen sind, haben wir mit einer Frau gesprochen, die Arzneimittel in der Stadt verkauft. Sie meinte zunächst einmal, der Preis für eine Pille habe sich von 6.000 auf 12.000 Pesos verdoppelt. Bei dem Preis ist es uns unmöglich, in größeren Mengen an das Medikament zu kommen, nur die Frauen aus stabileren ökonomischen Verhältnissen haben Zugang. Kurz darauf sagte uns unsere Kontaktfrau, dass auch sie nun keine Medikamente mehr vorrätig habe. Wir fragten andere Netzwerke in der Nähe, überall kam die gleiche Antwort: Es gibt keine Medikamente mehr, nirgendwo.

Und jetzt?
Wir müssen zu anderen Maßnahmen greifen. Wir arbeiten zum Beispiel mit Frauen aus indigenen Gemeinschaften zusammen daran, Informationen über Verhütung bereitzustellen. Wir arbeiten auch an Methoden zum Schwangerschaftsabbruch mit Pflanzen. Als die Medikamente knapp wurden, standen außerdem viele der Frauen, die auf die Behandlung angewiesen sind, auf einmal mit Fake-Pillen da, für die sie teuer bezahlt haben. Zusammen mit den falschen Pillen erhielten sie Nachrichten sogenannter Lebensschützer*innen, die drohten, sie anzuzeigen. Außerdem gibt es Leute, die die Medikamentenpreise aufs dreisteste in die Höhe treiben. Das sind nicht nur ein oder zwei Gruppen, das Internet ist voll von Fake-Händler*innen.

Wie organisiert ihr euch als Netzwerk und wie fällt ihr Entscheidungen?
María: Das Netzwerk hat sich über die verschiedenen Aufgaben organisiert: die Betreuung davor, danach, die Ausgabe der Medikamente und so weiter. Je nachdem, wie die Aufgaben verteilt wurden, waren manche von uns mehr in bestimmte Fälle involviert als andere. Die emotionale Last ist dabei immer Teil der internen Dynamik so einer Gruppe. Dinge wie Selbstfürsorge und kollektive Unterstützung, auch der Kontakt mit Psychologinnen und Therapeutinnen, sind essenziell, um entscheiden zu können, bis zu welchem Punkt man involviert sein und weiterarbeiten kann. Trotzdem hat sich unsere Gruppe aufgelöst, nicht nur wegen der emotionalen Belastung, die wir alle spürten, sondern weil die betroffenen Personen dem Versprechen, nach ihrem eigenen Fall selbst Unterstützung für andere zu leisten, nicht nachgekommen sind, auch wenn es nur darum ging, einen Erfahrungsbericht zu schreiben.

Welche Netzwerke gibt es aktuell?
María: Es gibt einige feministische, lesbofeministische und queere Gruppen, die in diesem Bereich arbeiten. Con las amigas y en la casa ist vielleicht die bekannteste Organisation. In verschiedenen Regionen sind in letzter Zeit Gruppen an den Universitäten entstanden, die diese Art von Aktivismus dezentralisieren wollen und sich auf die Arbeit in der unmittelbaren Umgebung konzentrieren. Einige beschäftigen sich auch mit der Verbreitung traditioneller Methoden, wie die Abtreibung mit Heilkräutern. Eine solche Abtreibung ist viel weniger invasiv, braucht aber Disziplin, um die Veränderungen, die der Körper durchläuft, erkennen zu können. Es gibt auch einige institutionalisierte Gruppen, Info-Webseiten und Hotlines.

Was erwartet ihr für die Zukunft von staatlicher Seite?
Lobelia: Wir als Kollektiv fordern akut die gesetzliche Transparenz über die Anwendung der drei Gründe für einen legalen Schwangerschaftsabbruch. Von 13 Ärzt*innen in unserer Stadt, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen können, weigern sich acht aus Gewissensgründen. Das heißt, selbst bei einer legalen Abtreibung ist es schwierig, jemanden zu finden, der diese durchführt. Dass Schwangerschaftsabbrüche – außer aus drei Gründen – immer noch illegal sind, hinterlässt viel zu viele Fragezeichen.

* Name geändert

SOLIDARISCHE SUPPENKÜCHE GEGEN DIE CORONAKRISE

Olla común in La Pintana Caren Ponce kocht Linseneintopf für 60 Nachbar*innen (Foto: Sophia Boddenberg)

„Entweder tötet das Virus uns oder der Hunger“, sagt die 31-jährige Stephanie Hurtado. Sie ist Präsidentin einer Junta de Vecinos, eines Nachbarschaftsverbands in der Gemeinde La Pintana am südlichen Stadtrand Santiagos. „Viele Leute wurden entlassen oder können wegen der Quarantäne nicht arbeiten. Sie haben kein Einkommen und nichts zu Essen.“ Der wöchentliche Flohmarkt werde immer länger, weil die Leute ihr Hab und Gut verkaufen, um zu überleben. Viele verkaufen auch selbstgenähte Atemschutzmasken.

Hurtado hat ihre Arbeit nicht verloren. Sie arbeitet als Lehrerin und gibt Online-Kurse. Auch das sei nicht leicht, weil viele Kinder keinen Zugang zu Computern haben. „Die Hälfte meines Einkommens gebe ich für Lebensmittel für meine Nachbarn aus. Wir müssen uns gegenseitig helfen, weil der Staat uns im Stich lässt“, sagt sie.

Drei Mal in der Woche organisiert die Junta de Vecinos eine olla común, eine solidarische Suppenküche. 200 warme Mahlzeiten werden an die Nachbar*innen verteilt, die sonst Hunger leiden würden. Die ollas comunes haben eine lange Tradition in Chile. Ihren Ursprung haben sie in der Wirtschaftskrise 1929, als viele Bergbauarbeiter*innen ihre Arbeit verloren. Auch in den 1980er Jahren während der Pinochet-Diktatur kochten die Bewohner*innen der poblaciones für die Armen und Arbeiter*innen.

Auch Hurtado lebt in einer población, wie die dicht bewohnten Armen- und Arbeiter*innenviertel in Santiago genannt werden. „Auf 35 Quadratmetern leben zwischen sechs und 14 Personen. Für sie ist es unmöglich, die Quarantäne einzuhalten. Einer muss immer das Haus verlassen, um das täglich Brot zu verdienen – wenn er sich mit dem Virus ansteckt, steckt er alle mit an“, sagt sie.

Immer wieder hat es in den vergangenen Wochen Proteste in La Pintana und anderen Vierteln am Stadtrand von Santiago gegeben, wo die Menschen ums Überleben kämpfen. Der Protest auf der Straße sei die einzige Möglichkeit, sich politisch Gehör zu verschaffen. „Wir fordern schon seit langer Zeit mehr soziale Rechte. Die Coronavirus-Pandemie hat unsere Not nur noch verschärft und uns gezeigt, was soziale Ungleichheit bedeutet. In Chile ist die Gesundheitsversorgung für die, die es sich leisten können.“ Vor wenigen Tagen sei eine ältere Frau an Covid-19 gestorben und die Leiche sei immer noch nicht abgeholt worden. „Hier gibt es nicht genügend Krankenwagen. Deshalb muss ich die kritischen Patienten ins Krankenhaus fahren. Dort sagen sie ihnen dann manchmal, sie sollen zu Hause sterben, weil die Betten alle belegt sind“, sagt Hurtado.

Die täglichen Neuinfektionen liegen bei über 5.000, 90 Prozent davon in der Hauptstadt

Knapp 150.000 Fälle von mit dem Coronavirus Infizierten gibt es Mitte Juni in Chile, die Zahl der täglichen Neuinfektionen liegt bei über 5.000, 90 Prozent davon stammen aus der Hauptstadt. Die Gemeinden, in denen sich das Virus am schnellsten ausbreitet, sind die Armen- und Arbeiter*innenviertel am Stadtrand wie La Pintana, El Bosque, San Bernardo und Puente Alto. Die Zahl der Todesfälle liegt bei fast 2.500. Der Regierung wird jedoch vorgeworfen, falsche Zahlen zu veröffentlichen, unter anderem von der Journalistin Alejandra Matus, die durch ihre Recherchen viel höhere Todeszahlen feststellte.

Fabián Araneda arbeitet in der öffentlichen Gesundheitsversorgung La Pintanas und ist Gewerkschaftsführer. „Das öffentliche Gesundheitssystem befand sich schon vor dem Coronavirus in einer Krise, jetzt steht es kurz vor dem Zusammenbruch. Es wird von den Arbeitern und Arbeiterinnen aufrechterhalten, die unter extrem prekären Bedingungen arbeiten“, sagt er. Auch Araneda kritisiert die Statistiken des Gesundheitsministeriums: „Es gibt viele Todesfälle, die nicht als Covid-19-Tote registriert werden.“ Die Arbeitsbedingungen in der öffentlichen Gesundheitsversorgung sind prekär, es fehlt an medizinischen Mitteln und Personal. Eine Kollegin von Araneda ist an Covid-19 erkrankt, sie ist nicht die einzige. Ende Mai haben sich bereits 6.840 Mitarbeiter*innen der Krankenhäuser infiziert. „Für die Regierung ist die Wirtschaft wichtiger als die Gesundheit und die Leben der Menschen. Wir brauchen Maßnahmen, damit die Menschen in Würde die Quarantäne einhalten können“, sagt Araneda.

Die Regierung hat stattdessen ein Gesetzesdekret erlassen, das Unternehmen erlaubt, die Verträge der Angestellten zu suspendieren und ihnen keinen Lohn zu bezahlen. Die Arbeitslosigkeit liegt auf dem höchsten Wert der vergangenen zehn Jahre. Hinzu kommt, dass ein Drittel der berufstätigen Bevölkerung in Chile im informellen Sektor arbeitet, also gar keinen Vertrag hat. Viele haben deshalb jetzt keinerlei Einkommen.

Präsident Piñera hat zwar 2,5 Millionen Hilfspakete mit Lebensmitteln angekündigt. Die sollen aber nur 70 Prozent der ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung erhalten und die Verteilung dauert über einen Monat. Für viele handelt es sich dabei um eine Inszenierung der Regierung, um ihr schlechtes Image in der Bevölkerung zu verbessern. „Der Präsident hat bei seinen Freunden eingekauft. Viel effektiver wäre es gewesen, den Menschen direkt Geld zu überweisen, damit sie in den Geschäften in ihren Vierteln einkaufen“, sagte zum Beispiel der Bürgermeister von Recoleta, Daniel Jadue. Zuletzt sorgte ein Dokument für Polemik, in dem die Stadtverwaltung der Gemeinde Ñuble dazu angewiesen wurde, die Verteilung der Lebensmittelpakete in Fotos und Videos festzuhalten und dabei die „Dankbarkeit der Empfänger“ und die „Wertschätzung des Präsidenten“ in den Vordergrund zu stellen.

In der Notlage sind die ollas comunes unerlässlich. Die Schwestern Constanza und Caren Ponce aus der Gemeinde El Bosque sammeln Spenden und kochen regelmäßig für ihre Nachbar*innen. Heute haben sie einen Linseneintopf für 60 Personen gekocht. „Die Hilfspakete, die sie im Fernsehen zeigen, sind hier nicht angekommen. Wir helfen uns unter Nachbarn“, sagt Constanza Ponce. Ihre Schwester fügt hinzu: „Das Volk hilft dem Volk.“ Normalerweise würden sie sich auf die Straße stellen, um das Essen zu verteilen. Aber wegen der Coronavirus-Pandemie füllen sie im Haus die Portionen in Behälter ab und bringen sie anschließend zu Obdachlosen oder Familien nach Hause. „Die Leute kommen das Essen nicht hier abholen, einerseits damit es keine Menschenansammlungen gibt und andererseits, damit die Polizisten uns nicht den Topf umtreten, wie es in anderen Vierteln passiert ist“, sagt Caren Ponce.

„Wir wiederholen eine Aktion, die Frauen seit vielen Jahren ausüben. Die olla común hat ihren Ursprung in der Armut, im Hunger. Es gibt sie seit vielen Jahren und bis heute, weil sich nichts verändert hat. Die ollas comunes sind von der población für die población. Wir sind keine Reichen, die Armen helfen“, sagt Constanza Ponce. Die meisten Spenden kommen von Nachbar*innen aus der Umgebung, Freunden und Familie. Viele seien bereit, zu helfen. Die Schwestern sammeln auch Kleidung, Schuhe, Bettwäsche und Decken, denn in Chile bricht gerade der Winter ein. „Es ist traurig, dass jetzt ans Licht kommt, dass wir in Armut leben, dass wir Hunger haben, dass uns kalt ist“, sagt Caren Ponce. „Die Regierung will das verstecken. Das war schon immer so in unserer Geschichte. Das macht uns wütend und motiviert uns zu diesen Aktionen, damit sich etwas ändert.“

SCHEITERNDES GENIE


So schlecht wie er in der Schule ist, muss er einfach, davon sind Rafael und seine Familie überzeugt, ein Genie sein; der unerschütterliche Glaube daran macht dieses Scheitern weniger schmerzhaft. Rafael versagt nicht nur in sämtlichen Unterrichtsfächern, auch sonst will ihm herzlich wenig gelingen. Die Entwurzelung nagt an ihm, selbst nach Jahren im Exil hat er immer noch keine Freund*innen gefunden. Nach Augusto Pinochets Putsch 1973 flohen die Gumucios nach Paris, wo Rafael seinen Alltag im Jardin du Luxembourg zwischen den Statuen von Baudelaire, Beethoven und Verlaine – wie es sich für ein Genie gehört –, seiner frisch erwachten Liebe zu Gott und, im Schlepptau seiner Eltern, dem Europakomitee der Partei Izquierda Cristiana („Christliche Linke (IC)“) verbringt. Seine Genialität findet er dabei allerdings nicht.

Als die Familie in den achtziger Jahren nach Santiago de Chile zurückkehrt (nicht ohne Probleme; Rafael und sein Bruder landen kurzerhand auf einer speziellen Liste unerwünschter Exilant*innen, „zwei gefährliche Terroristen im Untergrund“, wie er ironisch beschreibt), wird der jugendliche Rafael erstmals mit der Realität in seinem Heimatland konfrontiert, die sich unter anderem durch mehrere Tote im Bekanntenkreis äußert. „Es war meine erste Beerdigung und ich fühlte, dass ich in Chile angekommen war“, kommentiert er einen dieser Tode nüchtern. Doch das Ankommen ist so eine Sache, nicht nur wird Rafael wegen seines Akzents ausgelacht, die vergebliche Suche nach seiner genialen Ader und die vielen Ängste, die ihn plagen, verschwinden auch in Chile nicht, sie bekommen durch den drohenden Militärdienst vielmehr neue Facetten. Im Alltag beschäftigt Rafael auch sein erwachtes Interesse an Frauen, das auf herzlich wenig Gegenliebe stößt – obwohl er sich bei Treffen von Linksaktivist*innen um Anerkennung und Aufmerksamkeit bemüht.

In vielen kurzen, episodenhaften Kapiteln erinnert sich Rafael Gumucio an seine Kindheit und Jugend zurück. 1999 unter dem Titel Memorias prematuras erschienen, wurde der autofiktive Roman jetzt als Transitkind erstmals auf Deutsch übersetzt – in Schweizer Orthografie allerdings, die das „ß“ nicht kennt. Gumucios Familie ist in Chile nicht unbekannt; sein Onkel etwa war Gründer von Izquierda Cristiana, die zur Regierungskoalition Allendes gehörte. Zum Verständnis von Transitkind hilft es, sich gut mit der chilenischen Geschichte auszukennen.

Rafael Gumucio bleibt sehr nahe bei seinem Alter Ego Rafael und erzählt dadurch eine subjektive, persönliche Geschichte, bei der politische und gesellschaftliche Ereignisse nur angedeutet werden. Transitkind ist somit weniger der Roman über ein Land im Umbruch, auch wenn die Militärdiktatur als Fundament fungiert. Vielmehr ist es die Geschichte eines jungen Menschen, der Scheitern als Antrieb, Trauma als Motivation hat und auch der Gesellschaft, in die er einst geboren wurde, immer ein wenig entrückt bleibt. Mit leiser Ironie geschildert ist Transitkind somit eine erstaunlich universelle Geschichte von einem Menschen, der versucht, über das Schreiben sein eigenes Leben zu begreifen – und der erkennen muss, dass er zwar kein Genie, das aber vollkommen okay ist.

“REVUELTA CONTRA LA PRECARIZACIÓN DE LA VIDA”

Für die deutschsprachige Version hier klicken.

„Fuera el temor” Contra el miedo y para el trabajo colectivo del cuidado: Javiera Manzi (Foto: privat)

¿Qué impacto tiene la actual crisis en los problemas ya existentes?
Estamos viviendo una crisis sanitaria, pero también económica, política y social. En el contexto particular de Chile, la vivimos en un contexto de revuelta, en un proceso abierto. Vemos un levantamiento de la mayoría de la población en contra de la profundización de la política neoliberal de los últimos 30 años de democracia y también en contra de los lastres y las herencias de la dictadura, como la constitución. La revuelta trae varios cambios: El tejido social en Chile se ha regenerado – algo muy potente. Se ha creado una articulación en los barrios a través de las asambleas territoriales. Hay un cambio fundamental en la vida social y territorial, junto a una consciencia crítica y abierta.

La forma de organizarse de esta política impugna directamente tanto al gobierno de Sebastián Piñera como a todos los gobiernos transicionales. Pone por delante una consciencia crítica en contra de la privatización de la salud pública, la educación, la financiación de las pensiones y la falta de las condiciones de la seguridad social y laboral. Estos son elementos que dieron paso a una impugnación radical respecto a la forma en que se organiza la vida. Es una revuelta contra la precarización de la vida y nos permite pensar en este momento crítico con otra mirada, con otros ojos.

En una entrevista con Página12 dijeron que las medidas del Gobierno ante la crisis son un “desprecio por la vida”. ¿Por qué?
Son un desprecio por la vida, pero no por todas las vidas. No todas las vidas valen lo mismo, y no todas las vidas van a ser cuidadas, protegidas o reconocidas en esta crisis. Esto ya era visible con un gobierno que nosotras hemos llamado desde el comienzo criminal, por las violaciones de los derechos humanos. Tanto el propio gobierno como también los sectores empresariales se han radicalizado, ellos son los primeros que partieron de una oposición: la oposición de su economía capitalista y nuestra posibilidad de una vida en la que todas podamos vivir.

Este desprecio se hizo muy evidente como un desprecio a la vida del pueblo. También existe un sobre resguardo de ciertas vidas. Como movimiento feminista hemos buscado no solo que la vida sea nuestra lucha, porque estamos en los grupos que se han apropiado de la noción de vida. Para nosotras ha sido también una tarea preguntarnos: ¿Vamos a permitir que sean ellos los que tomen esta consigna, ellos que son justamente los antiderechos, aquellos a los que no les importa la condición de vida?

El concepto de la vida es central para los feminismos en América Latina. ¿Cómo se evidencia ahora, en esa crisis, el concepto de vida?
Nuestra movilización se define contra la precarización de la vida. Entendemos que no es exclusivamente laboral, sino más amplia. Nuestra tarea es pensar en la vida como problema político e imaginar posibilidades para su transformación. ¿Cuál es el lugar de la vida en este contexto, en esta sociedad? ¿Qué alternativas puede ofrecer el feminismo?

Estas preguntas se han intensificado al ver muchos de nuestros temores realizándose en los últimos días. Hoy día nos concentramos en cómo entender un cambio estructural que sea un cambio que ponga en el centro la vida y un buen vivir. Esa noción necesariamente también pone en cuestión la organización capitalista y patriarcal.

Ante ese panorama tan oscuro desarrollaron el plan de emergencia feminista. ¿Cómo surgió la idea de un plan de emergencia feminista y cómo fue el proceso de elaborarlo?
Nosotras venimos de la marcha más grande que hemos realizado en la historia de Chile. Fuimos dos millones solamente en la ciudad de Santiago. Es un hecho fundamental desde dónde vamos construyendo esta posible alternativa y la responsabilidad con la que asumíamos hacerlo. La marcha fue realmente la segunda huelga general feminista y había tres ideas principales.

La primera fue la noción de la primera línea contra el terrorismo de Estado. La primera línea es también la fuerza de contención de la represión policial que se ha levantado durante la revuelta. Entendiendo ese lugar como una tarea que hay que cuidar, como se cuida ante la policía.

En segunda instancia era la idea de la vida como un problema político. En Chile hemos levantado el feminismo en la heterogeneidad, en la diversidad de nuestros cuerpos, de nuestros lugares de vida. Para la huelga hay voceras provenientes de luchas socioambientales, educacionales, la lucha mapuche, también compañeras trans, migrantes, víctimas de traumas ocular – que perdieron los ojos en la revuelta y en la lucha por los derechos humanos.

En tercer lugar, la idea de la precarización de la vida. El 8 de marzo reinauguramos la revuelta desde el feminismo. Yo diría que parte de la tarea que asumimos con este plan de emergencia tiene que ver con la responsabilidad directa.

¿De qué se trata exactamente el plan?
El plan, en términos generales, tiene cuatro líneas.

La primera es levantar redes de cuidado en los espacios territoriales. Nuestra tarea principal ahora es evitar que el distanciamiento físico se convierta en aislamiento social.

En segundo lugar, está el levantamiento de un espacio de articulación feminista para enfrentar la violencia patriarcal en este contexto. Buscamos poner en el centro la posibilidad de responder desde los movimientos y organizaciones sociales, y no exclusivamente desde el Estado. Eso incluye también violencias que el mismo Estado no ha considerado problemas políticos.

En tercer lugar, son estas medidas que hemos llamado “nuestro cuidado contra su ganancia”. En un contexto de total privatización de derechos sociales se sostienen muy rápido cosas como privilegios que en realidad son derechos sociales: tener un trabajo estable, tener ciertas condiciones de salud o incluso acceso al agua. Hay territorios completos que no tienen acceso al agua, ¿cómo hay que lavarse las manos? El gobierno entiende la noción del cuidado como una tarea individual. No concibe una política del cuidado en un sentido transformador necesariamente colectivo. El cuidado es un trabajo y hay que organizarlo y socializarlo.

En cuarto lugar, la tarea de imaginación política radical: ¿Qué tipo de acción política podemos hacer desde el confinamiento, desde la restricción del uso del espacio público? Incluso para quienes no pueden hacer cuarentena porque están forzados a trabajar. La posibilidad cierta de los despidos es tan apremiante que es difícil que las personas deseen o tengan la posibilidad de exigir o protestar. Allí es donde nosotras llamamos a la huelga por la vida. Pasamos de la huelga general feminista a una huelga por la vida.

Protestas ruidosas para la dignidad Con la cacerola en la mano (Foto: FM La Tribu)

¿Sobre qué es específicamente esta huelga y dónde busca adhesión?
Esta huelga es productiva, porque el trabajo reproductivo o el trabajo de cuidado no se ha detenido. La estamos levantando junto con otras organizaciones: las asambleas territoriales, los estudiantes secundarios, la organización por la liberación de presas y presos políticos, movimientos por la salud y organizaciones de la disidencia sexual. Es una red que sólo es posible por la revuelta. Organizamos acciones en las redes sociales, cacerolazos, impresión de consignas para las ventanas de las casas o de los trabajos. No basta con hacer cuarentena, se necesitan condiciones para hacerla. En el comienzo, cuando todavía estaba todo menos restringido, se hizo un llamado a la intervención en los espacios laborales exigiendo condiciones sanitarias mínimas.

Enfrentamos esta crisis en un contexto de terrorismo de Estado. Una de nuestras principales llamadas durante la huelga general feminista fue precisamente contra esto. Entendemos que el gobierno aterroriza a la población para que no se organice. No es casual que una de las primeras medidas que se haya tomado sea precisamente la militarización, eso habla muy bien de la forma en que se resuelve en este contexto una crisis. Por otra parte, existe una total impunidad ante los responsables de la violación sistemática de los derechos humanos. El fantasma del pasado dictatorial está presente todavía.

Entendemos también que es un periodo donde se intensifica el trabajo reproductivo, el trabajo del cuidado de las crianzas porque las escuelas están cerradas. Las mujeres tienen que responsabilizarse de cuidar de manera permanente. Otra circunstancia que nos atañe muy directamente es la violencia doméstica. En Chile observamos que un 60 por ciento de las llamadas a los dispositivos del Ministerio de Mujer son en pedido de apoyo en situaciones de violencia. Pero lo que ha disminuido son las denuncias. Esto se debe a que las mujeres no pueden salir a hacer las denuncias y es difícil imaginar que pueden hacer esas llamadas dentro de las casas.

Los viernes en la revuelta solían ser el día de la movilización, entonces desde el 18 de octubre hasta la fecha, todos los viernes íbamos a la Plaza de la Dignidad (LN 547). Los días viernes son los días de movilización, los viernes por la vida y por la dignidad. Esta es la forma en la que se ha dado continuidad dentro del contexto de la revuelta.

¿A quién se dirige el plan de emergencia?
Es un plan que busca la acción colectiva. Pensamos en estrategias para el apoyo mutuo y el cuidado colectivo dentro de los barrios. Nos interesa no soltar aquello que nos reunió durante la revuelta: las luchas contra la impunidad y contra la prisión política. Se trata de construir una nueva forma de voz política. Las asambleas territoriales son redes de tejido social que no existían porque en Chile con lo que hizo la dictadura y con la profundización neoliberal en los noventa había un quiebre en ese tejido.

Como feministas, siempre buscamos poner en cuestión la distinción entre lo público y lo privado. Nos preguntamos: ¿Con qué estrategias podemos colectivizar el cuidado? Por ejemplo, organizando de manera colectiva la compra de alimentos y medicamentos, del cuidado doble de la población mayor y de niños y niñas dentro de los barrios. Hacer de estas asambleas instancias en contra de las amenazas que enfrentamos.

¿Qué esperan del plan más allá de la protección ante el coronavirus?
Con lo que enfrentamos hoy día globalmente no es posible volver atrás. Esto no es un paréntesis en la vida, donde queda algo a lo que podemos retornar. Como decíamos en la revuelta: La normalidad siempre fue el problema. Una tarea central es una estrategia de salida de la pandemia, que ponga en el centro la vida de la mayoría de la población, particularmente de la más precarizada. Y para eso, necesitamos construir alternativas transformando radicalmente la manera en que se ha producido y acumulado a lo largo de todos estos años. El plan anticipa un deseo muy profundo y muy radical de que la salida de este momento implique necesariamente cambiar las condiciones y las reglas – no solo de este país, porque es una crisis global. Cambiar la forma en que se ha organizado el capitalismo en un contexto neoliberal. Una de las principales tareas es contribuir a una articulación internacional feminista desde la revuelta. Hemos organizado un espacio de resistencia más allá de los límites nacionales, en un feminismo transfronterizo (para la primera convocatoria transnacional el 8 de marzo pasado véase LN 549, nota de la redacción). Desde allí nos articulamos con organizaciones feministas de todo el mundo, pero particularmente de América Latina, para pensar formas de organización que nos permitan salir juntas de la crisis, cambiar el sistema y transformar la vida. Hoy vemos que el feminismo es una herramienta fundamental para organizarnos frente a este momento.

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