TRAUM EINES BESSEREN LANDES

Bild: Real Fiction Filmverleih

„Wir erträumten uns Chile aus der Ferne. Die Kordillere ist mit ihrer Kraft und ihrem Charakter die Metapher dieses Traums“. So erklärt Patricio Guzmán, der seit langem im Exil lebt, zu Beginn seines neuen Films Die Kordillere der Träume dessen Titel. Nach Nostalgie des Lichts (2010) und Der Perlmuttknopf (2015) schließt Guzmán nun seine Trilogie ab, in der wesentliche Landschaftselemente Chiles bildlich für die Verbrechen der Militärdiktatur oder deren Aufarbeitung stehen. Nach der Wüste und dem Wasser widmet sich der dritte Teil den Anden: Bilder fruchtbarer Täler, zerklüfteter Felsen und schneebedeckter Gipfel ziehen sich durch den ganzen Film – die Berge als Konstante in der Geschichte, stumme Zeugen der Vergangenheit.

Anders als die ersten beiden Filme verbindet Die Kordillere der Träume jedoch die Landschaft nicht direkt mit den Geschehnissen während der Diktatur, was das Sinnbild etwas bemüht wirken lassen könnte – wäre da nicht die dieses Mal dezidiert persönliche, intime Ich-Perspektive Guzmáns. Bilder der Ruine seines Kindheitshauses stehen am Beginn der Auseinander­setzung mit der zerstörten Kindheit und Jugend so vieler, die sich zu Allendes Zeiten für eine bessere Gesellschaft engagierten.

Weggefährt*innen und Zeitzeug*innen, darunter die Musikerin Javiera Parra und der Dokumentarfilmer Pablo Salas, erzählen von ihren persönlichen Schrecken und der Repression nach dem Putsch: die Angst der Eltern, Hausdurchsuchungen, Aufwachen mit einem Maschinengewehr am Hals. Salas blieb in Chile und dokumentierte später die von den Staatsmedien totgeschwiegene Repression. Szenen aus seinem umfangreichen Archiv zeigen aus nächster Nähe Demonstrationen während der Diktatur und die gewaltsame Reaktion der Sicherheitskräfte, darunter einen bedrückenden Moment, in dem Militärs ein ganzes Stadtviertel durchsuchen und alle erwachsenen Männer mitnehmen. Aufnahmen aktueller Polizeigewalt verdeutlichen anschließend die Kontinuität der Repression.

Die Kordillere der Träume verwebt erneut gekonnt Schrecken und Schönheit zu einem ernsten und doch poetischen Gesamtkunstwerk. Mehr als die Vorgängerfilme schlägt es dabei den Bogen zur heutigen politischen Situation Chiles und analysiert aus der Perspektive von Guzmáns Gesprächspartner*innen auch die Prägung der Gesellschaft durch den mit brachialer Gewalt durchgesetzten Neoliberalismus: Die wirtschaftliche Ausbeutung geht weiter, die soziale Kluft ist enorm und die Gesellschaft individualisiert. Dazu passen Guzmáns Bilder von Tagebauen im Hochgebirge, Geisterzügen, die das chilenische Kupfer vorbei an namenlosen, verarmten Dörfern abtransportieren, oder den verlassenen Büros von Pinochet und seiner Junta.

Am Ende des noch vor Beginn der Protestwelle im Oktober 2019 gedrehten, in Cannes preisgekrönten Films wünscht sich Patricio Guzmán, Chile möge seine Kindheit und Freude zurückgewinnen. Möge sein Traum in Erfüllung gehen.


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ZU VIELE FRAGEZEICHEN

Foto: Zikophotography via Flickr (CC BY-NC 2.0)

Wie kann man sich ein Netzwerk für klandestine Schwangerschaftsabbrüche vorstellen?
María: Diese Gruppen entstehen lose aus der Not heraus, um Personen, die ungewollt schwanger geworden sind, zu begleiten. Ich sage Personen und nicht Frauen, weil es zum Beispiel trans Männer oder auch Menschen mit nicht-binären Geschlechtsidentitäten gibt, die schwanger werden und gebären können. Weil wir alle schon persönliche Erfahrungen mit ungewollten Schwang-*erschaften gemacht hatten, war uns von Anfang an klar, dass es zu diesem Thema im Allgemeinen ein Informationsloch gibt. Vor zehn Jahren sprach man in Chile kaum über Abtreibungen. In diesem Sinn waren wir uns alle einig darüber, wie wichtig es ist, Unterstützungsnetzwerke für ungewollt Schwangere aufzubauen und die Stimmen von Personen, die abgetrieben haben, zu verbreiten.

Lobelia: Einige Netzwerke sind größer als andere. Ich zum Beispiel arbeite in einer Stadt in den Anden in einem Netzwerk hauptsächlich mit Freundinnen von vor Ort zusammen, um Entscheidungsprozesse zu dezentralisieren. Trotzdem stehen wir in Kontakt mit anderen Netz- werken und tauschen uns aus. Jedes Netzwerk hat seine eigene Art, aber ich denke, wir begreifen uns alle als Fürsorgeorganisationen, die schwesterlich und feministisch handeln. Wir machen das jetzt seit zwei Jahren. Im Laufe der Zeit haben wir ein Aktionsprotokoll entwickelt, nach dem wir Frauen aus der Stadt, aus der Hochebene und der Nähe der Grenze begleiten.

Wie läuft ein konkreter Fall ab?
María: Die Empathie und das Verständnis, das wir aufbringen können, weil viele von uns selbst schon einmal in dieser Situation waren, macht die Kommunikation in dieser schwierigen Situation etwas leichter. Nach dem Gespräch erklären wir der Person, was bei einer Abtreibung körperlich und emotional geschieht. Wir fragen, welche Begleitung sie sich vor, während und nach dem Schwangerschaftsabbruch wünscht und was sie braucht. Manchmal ziehen wir professionelle Ärztinnen hinzu. Wir hatten auch Kontakt zu einer Gynäkologin, Psychologinnen und Therapeutinnen. Als „Entlohnung“ für unsere Arbeit als Netzwerk haben wir die Betroffenen darum gebeten, etwas zurückzugeben – je nachdem wie sie konnten und wollten, damit das Netzwerk weiterhin funktionieren und Menschen helfen kann.

Lobelia: Die Kommunikation ist in dieser Arbeit das wichtigste. Unsere Hilfe setzt beispielsweise voraus, dass wir nur mit der Schwangeren sprechen und sie bitten, zu unserem Treffen nicht mit ihrem Vater, Ehemann oder Freund zu erscheinen – zu unserem Schutz und dem des Netzwerks. Die Mehrheit der Frauen zeigt dafür sofort Verständnis. Bei Minderjährigen, deren Mütter Bescheid wissen und die Entscheidung für eine Abtreibung unterstützen, sprechen wir auch mit den Müttern, wollen aber hauptsächlich mit der Frau sprechen, um die es geht. Diese Fälle sind zudem meist komplexer, weil wir herausfinden müssen, ob der Sex einvernehmlich war oder ob die Schwangerschaft aus einer Vergewaltigung hervorgeht.

Wer nimmt eure Netzwerke in Anspruch?
María: Sehr unterschiedliche Frauen. Es geht nicht immer um einen Schwangerschaftsabbruch, es kommen auch Frauen, die bereits abgetrieben haben und danach emotional oder körperlich von ihren Partnern missbraucht oder verlassen wurden. Ich denke, so ist es bei vielen Netzwerken: Es geht darum, Hilfe und Unterstützung für Frauen zu leisten, die sich in einem schwierigen Moment ihres Lebens befinden. Dieser Moment, der die Möglichkeit in den Raum stellt, Leben zu erschaffen, bringt ganz viele Unsicherheiten und Ängste mit sich. Viele müssen diese Gefühle in einer Umgebung verarbeiten, in der sie selbst nicht entscheiden dürfen, ob sie Mütter werden wollen oder nicht.

Wie hat die Pandemie eure Arbeit verändert?
Lobelia: Hier herrscht nur nachts ab 22 Uhr Ausgangssperre, das heißt, dass wir erstmal normal weitermachen und uns mit den Frauen treffen konnten. Aber seit einem Monat haben wir keine Medikamente mehr vorrätig, weil die Grenzen geschlossen sind. Soweit wir wissen, werden in Chile keine Pillen für Schwangerschaftsabbrüche hergestellt. Als uns die Vorräte ausgegangen sind, haben wir mit einer Frau gesprochen, die Arzneimittel in der Stadt verkauft. Sie meinte zunächst einmal, der Preis für eine Pille habe sich von 6.000 auf 12.000 Pesos verdoppelt. Bei dem Preis ist es uns unmöglich, in größeren Mengen an das Medikament zu kommen, nur die Frauen aus stabileren ökonomischen Verhältnissen haben Zugang. Kurz darauf sagte uns unsere Kontaktfrau, dass auch sie nun keine Medikamente mehr vorrätig habe. Wir fragten andere Netzwerke in der Nähe, überall kam die gleiche Antwort: Es gibt keine Medikamente mehr, nirgendwo.

Und jetzt?
Wir müssen zu anderen Maßnahmen greifen. Wir arbeiten zum Beispiel mit Frauen aus indigenen Gemeinschaften zusammen daran, Informationen über Verhütung bereitzustellen. Wir arbeiten auch an Methoden zum Schwangerschaftsabbruch mit Pflanzen. Als die Medikamente knapp wurden, standen außerdem viele der Frauen, die auf die Behandlung angewiesen sind, auf einmal mit Fake-Pillen da, für die sie teuer bezahlt haben. Zusammen mit den falschen Pillen erhielten sie Nachrichten sogenannter Lebensschützer*innen, die drohten, sie anzuzeigen. Außerdem gibt es Leute, die die Medikamentenpreise aufs dreisteste in die Höhe treiben. Das sind nicht nur ein oder zwei Gruppen, das Internet ist voll von Fake-Händler*innen.

Wie organisiert ihr euch als Netzwerk und wie fällt ihr Entscheidungen?
María: Das Netzwerk hat sich über die verschiedenen Aufgaben organisiert: die Betreuung davor, danach, die Ausgabe der Medikamente und so weiter. Je nachdem, wie die Aufgaben verteilt wurden, waren manche von uns mehr in bestimmte Fälle involviert als andere. Die emotionale Last ist dabei immer Teil der internen Dynamik so einer Gruppe. Dinge wie Selbstfürsorge und kollektive Unterstützung, auch der Kontakt mit Psychologinnen und Therapeutinnen, sind essenziell, um entscheiden zu können, bis zu welchem Punkt man involviert sein und weiterarbeiten kann. Trotzdem hat sich unsere Gruppe aufgelöst, nicht nur wegen der emotionalen Belastung, die wir alle spürten, sondern weil die betroffenen Personen dem Versprechen, nach ihrem eigenen Fall selbst Unterstützung für andere zu leisten, nicht nachgekommen sind, auch wenn es nur darum ging, einen Erfahrungsbericht zu schreiben.

Welche Netzwerke gibt es aktuell?
María: Es gibt einige feministische, lesbofeministische und queere Gruppen, die in diesem Bereich arbeiten. Con las amigas y en la casa ist vielleicht die bekannteste Organisation. In verschiedenen Regionen sind in letzter Zeit Gruppen an den Universitäten entstanden, die diese Art von Aktivismus dezentralisieren wollen und sich auf die Arbeit in der unmittelbaren Umgebung konzentrieren. Einige beschäftigen sich auch mit der Verbreitung traditioneller Methoden, wie die Abtreibung mit Heilkräutern. Eine solche Abtreibung ist viel weniger invasiv, braucht aber Disziplin, um die Veränderungen, die der Körper durchläuft, erkennen zu können. Es gibt auch einige institutionalisierte Gruppen, Info-Webseiten und Hotlines.

Was erwartet ihr für die Zukunft von staatlicher Seite?
Lobelia: Wir als Kollektiv fordern akut die gesetzliche Transparenz über die Anwendung der drei Gründe für einen legalen Schwangerschaftsabbruch. Von 13 Ärzt*innen in unserer Stadt, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen können, weigern sich acht aus Gewissensgründen. Das heißt, selbst bei einer legalen Abtreibung ist es schwierig, jemanden zu finden, der diese durchführt. Dass Schwangerschaftsabbrüche – außer aus drei Gründen – immer noch illegal sind, hinterlässt viel zu viele Fragezeichen.

* Name geändert


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SOLIDARISCHE SUPPENKÜCHE GEGEN DIE CORONAKRISE

Olla común in La Pintana Caren Ponce kocht Linseneintopf für 60 Nachbar*innen (Foto: Sophia Boddenberg)

„Entweder tötet das Virus uns oder der Hunger“, sagt die 31-jährige Stephanie Hurtado. Sie ist Präsidentin einer Junta de Vecinos, eines Nachbarschaftsverbands in der Gemeinde La Pintana am südlichen Stadtrand Santiagos. „Viele Leute wurden entlassen oder können wegen der Quarantäne nicht arbeiten. Sie haben kein Einkommen und nichts zu Essen.“ Der wöchentliche Flohmarkt werde immer länger, weil die Leute ihr Hab und Gut verkaufen, um zu überleben. Viele verkaufen auch selbstgenähte Atemschutzmasken.

Hurtado hat ihre Arbeit nicht verloren. Sie arbeitet als Lehrerin und gibt Online-Kurse. Auch das sei nicht leicht, weil viele Kinder keinen Zugang zu Computern haben. „Die Hälfte meines Einkommens gebe ich für Lebensmittel für meine Nachbarn aus. Wir müssen uns gegenseitig helfen, weil der Staat uns im Stich lässt“, sagt sie.

Drei Mal in der Woche organisiert die Junta de Vecinos eine olla común, eine solidarische Suppenküche. 200 warme Mahlzeiten werden an die Nachbar*innen verteilt, die sonst Hunger leiden würden. Die ollas comunes haben eine lange Tradition in Chile. Ihren Ursprung haben sie in der Wirtschaftskrise 1929, als viele Bergbauarbeiter*innen ihre Arbeit verloren. Auch in den 1980er Jahren während der Pinochet-Diktatur kochten die Bewohner*innen der poblaciones für die Armen und Arbeiter*innen.

Auch Hurtado lebt in einer población, wie die dicht bewohnten Armen- und Arbeiter*innenviertel in Santiago genannt werden. „Auf 35 Quadratmetern leben zwischen sechs und 14 Personen. Für sie ist es unmöglich, die Quarantäne einzuhalten. Einer muss immer das Haus verlassen, um das täglich Brot zu verdienen – wenn er sich mit dem Virus ansteckt, steckt er alle mit an“, sagt sie.

Immer wieder hat es in den vergangenen Wochen Proteste in La Pintana und anderen Vierteln am Stadtrand von Santiago gegeben, wo die Menschen ums Überleben kämpfen. Der Protest auf der Straße sei die einzige Möglichkeit, sich politisch Gehör zu verschaffen. „Wir fordern schon seit langer Zeit mehr soziale Rechte. Die Coronavirus-Pandemie hat unsere Not nur noch verschärft und uns gezeigt, was soziale Ungleichheit bedeutet. In Chile ist die Gesundheitsversorgung für die, die es sich leisten können.“ Vor wenigen Tagen sei eine ältere Frau an Covid-19 gestorben und die Leiche sei immer noch nicht abgeholt worden. „Hier gibt es nicht genügend Krankenwagen. Deshalb muss ich die kritischen Patienten ins Krankenhaus fahren. Dort sagen sie ihnen dann manchmal, sie sollen zu Hause sterben, weil die Betten alle belegt sind“, sagt Hurtado.

Die täglichen Neuinfektionen liegen bei über 5.000, 90 Prozent davon in der Hauptstadt

Knapp 150.000 Fälle von mit dem Coronavirus Infizierten gibt es Mitte Juni in Chile, die Zahl der täglichen Neuinfektionen liegt bei über 5.000, 90 Prozent davon stammen aus der Hauptstadt. Die Gemeinden, in denen sich das Virus am schnellsten ausbreitet, sind die Armen- und Arbeiter*innenviertel am Stadtrand wie La Pintana, El Bosque, San Bernardo und Puente Alto. Die Zahl der Todesfälle liegt bei fast 2.500. Der Regierung wird jedoch vorgeworfen, falsche Zahlen zu veröffentlichen, unter anderem von der Journalistin Alejandra Matus, die durch ihre Recherchen viel höhere Todeszahlen feststellte.

Fabián Araneda arbeitet in der öffentlichen Gesundheitsversorgung La Pintanas und ist Gewerkschaftsführer. „Das öffentliche Gesundheitssystem befand sich schon vor dem Coronavirus in einer Krise, jetzt steht es kurz vor dem Zusammenbruch. Es wird von den Arbeitern und Arbeiterinnen aufrechterhalten, die unter extrem prekären Bedingungen arbeiten“, sagt er. Auch Araneda kritisiert die Statistiken des Gesundheitsministeriums: „Es gibt viele Todesfälle, die nicht als Covid-19-Tote registriert werden.“ Die Arbeitsbedingungen in der öffentlichen Gesundheitsversorgung sind prekär, es fehlt an medizinischen Mitteln und Personal. Eine Kollegin von Araneda ist an Covid-19 erkrankt, sie ist nicht die einzige. Ende Mai haben sich bereits 6.840 Mitarbeiter*innen der Krankenhäuser infiziert. „Für die Regierung ist die Wirtschaft wichtiger als die Gesundheit und die Leben der Menschen. Wir brauchen Maßnahmen, damit die Menschen in Würde die Quarantäne einhalten können“, sagt Araneda.

Die Regierung hat stattdessen ein Gesetzesdekret erlassen, das Unternehmen erlaubt, die Verträge der Angestellten zu suspendieren und ihnen keinen Lohn zu bezahlen. Die Arbeitslosigkeit liegt auf dem höchsten Wert der vergangenen zehn Jahre. Hinzu kommt, dass ein Drittel der berufstätigen Bevölkerung in Chile im informellen Sektor arbeitet, also gar keinen Vertrag hat. Viele haben deshalb jetzt keinerlei Einkommen.

Präsident Piñera hat zwar 2,5 Millionen Hilfspakete mit Lebensmitteln angekündigt. Die sollen aber nur 70 Prozent der ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung erhalten und die Verteilung dauert über einen Monat. Für viele handelt es sich dabei um eine Inszenierung der Regierung, um ihr schlechtes Image in der Bevölkerung zu verbessern. „Der Präsident hat bei seinen Freunden eingekauft. Viel effektiver wäre es gewesen, den Menschen direkt Geld zu überweisen, damit sie in den Geschäften in ihren Vierteln einkaufen“, sagte zum Beispiel der Bürgermeister von Recoleta, Daniel Jadue. Zuletzt sorgte ein Dokument für Polemik, in dem die Stadtverwaltung der Gemeinde Ñuble dazu angewiesen wurde, die Verteilung der Lebensmittelpakete in Fotos und Videos festzuhalten und dabei die „Dankbarkeit der Empfänger“ und die „Wertschätzung des Präsidenten“ in den Vordergrund zu stellen.

In der Notlage sind die ollas comunes unerlässlich. Die Schwestern Constanza und Caren Ponce aus der Gemeinde El Bosque sammeln Spenden und kochen regelmäßig für ihre Nachbar*innen. Heute haben sie einen Linseneintopf für 60 Personen gekocht. „Die Hilfspakete, die sie im Fernsehen zeigen, sind hier nicht angekommen. Wir helfen uns unter Nachbarn“, sagt Constanza Ponce. Ihre Schwester fügt hinzu: „Das Volk hilft dem Volk.“ Normalerweise würden sie sich auf die Straße stellen, um das Essen zu verteilen. Aber wegen der Coronavirus-Pandemie füllen sie im Haus die Portionen in Behälter ab und bringen sie anschließend zu Obdachlosen oder Familien nach Hause. „Die Leute kommen das Essen nicht hier abholen, einerseits damit es keine Menschenansammlungen gibt und andererseits, damit die Polizisten uns nicht den Topf umtreten, wie es in anderen Vierteln passiert ist“, sagt Caren Ponce.

„Wir wiederholen eine Aktion, die Frauen seit vielen Jahren ausüben. Die olla común hat ihren Ursprung in der Armut, im Hunger. Es gibt sie seit vielen Jahren und bis heute, weil sich nichts verändert hat. Die ollas comunes sind von der población für die población. Wir sind keine Reichen, die Armen helfen“, sagt Constanza Ponce. Die meisten Spenden kommen von Nachbar*innen aus der Umgebung, Freunden und Familie. Viele seien bereit, zu helfen. Die Schwestern sammeln auch Kleidung, Schuhe, Bettwäsche und Decken, denn in Chile bricht gerade der Winter ein. „Es ist traurig, dass jetzt ans Licht kommt, dass wir in Armut leben, dass wir Hunger haben, dass uns kalt ist“, sagt Caren Ponce. „Die Regierung will das verstecken. Das war schon immer so in unserer Geschichte. Das macht uns wütend und motiviert uns zu diesen Aktionen, damit sich etwas ändert.“


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SCHEITERNDES GENIE


So schlecht wie er in der Schule ist, muss er einfach, davon sind Rafael und seine Familie überzeugt, ein Genie sein; der unerschütterliche Glaube daran macht dieses Scheitern weniger schmerzhaft. Rafael versagt nicht nur in sämtlichen Unterrichtsfächern, auch sonst will ihm herzlich wenig gelingen. Die Entwurzelung nagt an ihm, selbst nach Jahren im Exil hat er immer noch keine Freund*innen gefunden. Nach Augusto Pinochets Putsch 1973 flohen die Gumucios nach Paris, wo Rafael seinen Alltag im Jardin du Luxembourg zwischen den Statuen von Baudelaire, Beethoven und Verlaine – wie es sich für ein Genie gehört –, seiner frisch erwachten Liebe zu Gott und, im Schlepptau seiner Eltern, dem Europakomitee der Partei Izquierda Cristiana („Christliche Linke (IC)“) verbringt. Seine Genialität findet er dabei allerdings nicht.

Als die Familie in den achtziger Jahren nach Santiago de Chile zurückkehrt (nicht ohne Probleme; Rafael und sein Bruder landen kurzerhand auf einer speziellen Liste unerwünschter Exilant*innen, „zwei gefährliche Terroristen im Untergrund“, wie er ironisch beschreibt), wird der jugendliche Rafael erstmals mit der Realität in seinem Heimatland konfrontiert, die sich unter anderem durch mehrere Tote im Bekanntenkreis äußert. „Es war meine erste Beerdigung und ich fühlte, dass ich in Chile angekommen war“, kommentiert er einen dieser Tode nüchtern. Doch das Ankommen ist so eine Sache, nicht nur wird Rafael wegen seines Akzents ausgelacht, die vergebliche Suche nach seiner genialen Ader und die vielen Ängste, die ihn plagen, verschwinden auch in Chile nicht, sie bekommen durch den drohenden Militärdienst vielmehr neue Facetten. Im Alltag beschäftigt Rafael auch sein erwachtes Interesse an Frauen, das auf herzlich wenig Gegenliebe stößt – obwohl er sich bei Treffen von Linksaktivist*innen um Anerkennung und Aufmerksamkeit bemüht.

In vielen kurzen, episodenhaften Kapiteln erinnert sich Rafael Gumucio an seine Kindheit und Jugend zurück. 1999 unter dem Titel Memorias prematuras erschienen, wurde der autofiktive Roman jetzt als Transitkind erstmals auf Deutsch übersetzt – in Schweizer Orthografie allerdings, die das „ß“ nicht kennt. Gumucios Familie ist in Chile nicht unbekannt; sein Onkel etwa war Gründer von Izquierda Cristiana, die zur Regierungskoalition Allendes gehörte. Zum Verständnis von Transitkind hilft es, sich gut mit der chilenischen Geschichte auszukennen.

Rafael Gumucio bleibt sehr nahe bei seinem Alter Ego Rafael und erzählt dadurch eine subjektive, persönliche Geschichte, bei der politische und gesellschaftliche Ereignisse nur angedeutet werden. Transitkind ist somit weniger der Roman über ein Land im Umbruch, auch wenn die Militärdiktatur als Fundament fungiert. Vielmehr ist es die Geschichte eines jungen Menschen, der Scheitern als Antrieb, Trauma als Motivation hat und auch der Gesellschaft, in die er einst geboren wurde, immer ein wenig entrückt bleibt. Mit leiser Ironie geschildert ist Transitkind somit eine erstaunlich universelle Geschichte von einem Menschen, der versucht, über das Schreiben sein eigenes Leben zu begreifen – und der erkennen muss, dass er zwar kein Genie, das aber vollkommen okay ist.


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“REVUELTA CONTRA LA PRECARIZACIÓN DE LA VIDA”

Für die deutschsprachige Version hier klicken.

„Fuera el temor” Contra el miedo y para el trabajo colectivo del cuidado: Javiera Manzi (Foto: privat)

¿Qué impacto tiene la actual crisis en los problemas ya existentes?
Estamos viviendo una crisis sanitaria, pero también económica, política y social. En el contexto particular de Chile, la vivimos en un contexto de revuelta, en un proceso abierto. Vemos un levantamiento de la mayoría de la población en contra de la profundización de la política neoliberal de los últimos 30 años de democracia y también en contra de los lastres y las herencias de la dictadura, como la constitución. La revuelta trae varios cambios: El tejido social en Chile se ha regenerado – algo muy potente. Se ha creado una articulación en los barrios a través de las asambleas territoriales. Hay un cambio fundamental en la vida social y territorial, junto a una consciencia crítica y abierta.

La forma de organizarse de esta política impugna directamente tanto al gobierno de Sebastián Piñera como a todos los gobiernos transicionales. Pone por delante una consciencia crítica en contra de la privatización de la salud pública, la educación, la financiación de las pensiones y la falta de las condiciones de la seguridad social y laboral. Estos son elementos que dieron paso a una impugnación radical respecto a la forma en que se organiza la vida. Es una revuelta contra la precarización de la vida y nos permite pensar en este momento crítico con otra mirada, con otros ojos.

En una entrevista con Página12 dijeron que las medidas del Gobierno ante la crisis son un “desprecio por la vida”. ¿Por qué?
Son un desprecio por la vida, pero no por todas las vidas. No todas las vidas valen lo mismo, y no todas las vidas van a ser cuidadas, protegidas o reconocidas en esta crisis. Esto ya era visible con un gobierno que nosotras hemos llamado desde el comienzo criminal, por las violaciones de los derechos humanos. Tanto el propio gobierno como también los sectores empresariales se han radicalizado, ellos son los primeros que partieron de una oposición: la oposición de su economía capitalista y nuestra posibilidad de una vida en la que todas podamos vivir.

Este desprecio se hizo muy evidente como un desprecio a la vida del pueblo. También existe un sobre resguardo de ciertas vidas. Como movimiento feminista hemos buscado no solo que la vida sea nuestra lucha, porque estamos en los grupos que se han apropiado de la noción de vida. Para nosotras ha sido también una tarea preguntarnos: ¿Vamos a permitir que sean ellos los que tomen esta consigna, ellos que son justamente los antiderechos, aquellos a los que no les importa la condición de vida?

El concepto de la vida es central para los feminismos en América Latina. ¿Cómo se evidencia ahora, en esa crisis, el concepto de vida?
Nuestra movilización se define contra la precarización de la vida. Entendemos que no es exclusivamente laboral, sino más amplia. Nuestra tarea es pensar en la vida como problema político e imaginar posibilidades para su transformación. ¿Cuál es el lugar de la vida en este contexto, en esta sociedad? ¿Qué alternativas puede ofrecer el feminismo?

Estas preguntas se han intensificado al ver muchos de nuestros temores realizándose en los últimos días. Hoy día nos concentramos en cómo entender un cambio estructural que sea un cambio que ponga en el centro la vida y un buen vivir. Esa noción necesariamente también pone en cuestión la organización capitalista y patriarcal.

Ante ese panorama tan oscuro desarrollaron el plan de emergencia feminista. ¿Cómo surgió la idea de un plan de emergencia feminista y cómo fue el proceso de elaborarlo?
Nosotras venimos de la marcha más grande que hemos realizado en la historia de Chile. Fuimos dos millones solamente en la ciudad de Santiago. Es un hecho fundamental desde dónde vamos construyendo esta posible alternativa y la responsabilidad con la que asumíamos hacerlo. La marcha fue realmente la segunda huelga general feminista y había tres ideas principales.

La primera fue la noción de la primera línea contra el terrorismo de Estado. La primera línea es también la fuerza de contención de la represión policial que se ha levantado durante la revuelta. Entendiendo ese lugar como una tarea que hay que cuidar, como se cuida ante la policía.

En segunda instancia era la idea de la vida como un problema político. En Chile hemos levantado el feminismo en la heterogeneidad, en la diversidad de nuestros cuerpos, de nuestros lugares de vida. Para la huelga hay voceras provenientes de luchas socioambientales, educacionales, la lucha mapuche, también compañeras trans, migrantes, víctimas de traumas ocular – que perdieron los ojos en la revuelta y en la lucha por los derechos humanos.

En tercer lugar, la idea de la precarización de la vida. El 8 de marzo reinauguramos la revuelta desde el feminismo. Yo diría que parte de la tarea que asumimos con este plan de emergencia tiene que ver con la responsabilidad directa.

¿De qué se trata exactamente el plan?
El plan, en términos generales, tiene cuatro líneas.

La primera es levantar redes de cuidado en los espacios territoriales. Nuestra tarea principal ahora es evitar que el distanciamiento físico se convierta en aislamiento social.

En segundo lugar, está el levantamiento de un espacio de articulación feminista para enfrentar la violencia patriarcal en este contexto. Buscamos poner en el centro la posibilidad de responder desde los movimientos y organizaciones sociales, y no exclusivamente desde el Estado. Eso incluye también violencias que el mismo Estado no ha considerado problemas políticos.

En tercer lugar, son estas medidas que hemos llamado “nuestro cuidado contra su ganancia”. En un contexto de total privatización de derechos sociales se sostienen muy rápido cosas como privilegios que en realidad son derechos sociales: tener un trabajo estable, tener ciertas condiciones de salud o incluso acceso al agua. Hay territorios completos que no tienen acceso al agua, ¿cómo hay que lavarse las manos? El gobierno entiende la noción del cuidado como una tarea individual. No concibe una política del cuidado en un sentido transformador necesariamente colectivo. El cuidado es un trabajo y hay que organizarlo y socializarlo.

En cuarto lugar, la tarea de imaginación política radical: ¿Qué tipo de acción política podemos hacer desde el confinamiento, desde la restricción del uso del espacio público? Incluso para quienes no pueden hacer cuarentena porque están forzados a trabajar. La posibilidad cierta de los despidos es tan apremiante que es difícil que las personas deseen o tengan la posibilidad de exigir o protestar. Allí es donde nosotras llamamos a la huelga por la vida. Pasamos de la huelga general feminista a una huelga por la vida.

Protestas ruidosas para la dignidad Con la cacerola en la mano (Foto: FM La Tribu)

¿Sobre qué es específicamente esta huelga y dónde busca adhesión?
Esta huelga es productiva, porque el trabajo reproductivo o el trabajo de cuidado no se ha detenido. La estamos levantando junto con otras organizaciones: las asambleas territoriales, los estudiantes secundarios, la organización por la liberación de presas y presos políticos, movimientos por la salud y organizaciones de la disidencia sexual. Es una red que sólo es posible por la revuelta. Organizamos acciones en las redes sociales, cacerolazos, impresión de consignas para las ventanas de las casas o de los trabajos. No basta con hacer cuarentena, se necesitan condiciones para hacerla. En el comienzo, cuando todavía estaba todo menos restringido, se hizo un llamado a la intervención en los espacios laborales exigiendo condiciones sanitarias mínimas.

Enfrentamos esta crisis en un contexto de terrorismo de Estado. Una de nuestras principales llamadas durante la huelga general feminista fue precisamente contra esto. Entendemos que el gobierno aterroriza a la población para que no se organice. No es casual que una de las primeras medidas que se haya tomado sea precisamente la militarización, eso habla muy bien de la forma en que se resuelve en este contexto una crisis. Por otra parte, existe una total impunidad ante los responsables de la violación sistemática de los derechos humanos. El fantasma del pasado dictatorial está presente todavía.

Entendemos también que es un periodo donde se intensifica el trabajo reproductivo, el trabajo del cuidado de las crianzas porque las escuelas están cerradas. Las mujeres tienen que responsabilizarse de cuidar de manera permanente. Otra circunstancia que nos atañe muy directamente es la violencia doméstica. En Chile observamos que un 60 por ciento de las llamadas a los dispositivos del Ministerio de Mujer son en pedido de apoyo en situaciones de violencia. Pero lo que ha disminuido son las denuncias. Esto se debe a que las mujeres no pueden salir a hacer las denuncias y es difícil imaginar que pueden hacer esas llamadas dentro de las casas.

Los viernes en la revuelta solían ser el día de la movilización, entonces desde el 18 de octubre hasta la fecha, todos los viernes íbamos a la Plaza de la Dignidad (LN 547). Los días viernes son los días de movilización, los viernes por la vida y por la dignidad. Esta es la forma en la que se ha dado continuidad dentro del contexto de la revuelta.

¿A quién se dirige el plan de emergencia?
Es un plan que busca la acción colectiva. Pensamos en estrategias para el apoyo mutuo y el cuidado colectivo dentro de los barrios. Nos interesa no soltar aquello que nos reunió durante la revuelta: las luchas contra la impunidad y contra la prisión política. Se trata de construir una nueva forma de voz política. Las asambleas territoriales son redes de tejido social que no existían porque en Chile con lo que hizo la dictadura y con la profundización neoliberal en los noventa había un quiebre en ese tejido.

Como feministas, siempre buscamos poner en cuestión la distinción entre lo público y lo privado. Nos preguntamos: ¿Con qué estrategias podemos colectivizar el cuidado? Por ejemplo, organizando de manera colectiva la compra de alimentos y medicamentos, del cuidado doble de la población mayor y de niños y niñas dentro de los barrios. Hacer de estas asambleas instancias en contra de las amenazas que enfrentamos.

¿Qué esperan del plan más allá de la protección ante el coronavirus?
Con lo que enfrentamos hoy día globalmente no es posible volver atrás. Esto no es un paréntesis en la vida, donde queda algo a lo que podemos retornar. Como decíamos en la revuelta: La normalidad siempre fue el problema. Una tarea central es una estrategia de salida de la pandemia, que ponga en el centro la vida de la mayoría de la población, particularmente de la más precarizada. Y para eso, necesitamos construir alternativas transformando radicalmente la manera en que se ha producido y acumulado a lo largo de todos estos años. El plan anticipa un deseo muy profundo y muy radical de que la salida de este momento implique necesariamente cambiar las condiciones y las reglas – no solo de este país, porque es una crisis global. Cambiar la forma en que se ha organizado el capitalismo en un contexto neoliberal. Una de las principales tareas es contribuir a una articulación internacional feminista desde la revuelta. Hemos organizado un espacio de resistencia más allá de los límites nacionales, en un feminismo transfronterizo (para la primera convocatoria transnacional el 8 de marzo pasado véase LN 549, nota de la redacción). Desde allí nos articulamos con organizaciones feministas de todo el mundo, pero particularmente de América Latina, para pensar formas de organización que nos permitan salir juntas de la crisis, cambiar el sistema y transformar la vida. Hoy vemos que el feminismo es una herramienta fundamental para organizarnos frente a este momento.


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HISTORISCH, ABER NICHT VORBEI

Die Maskerade des Ausnahmezustands

Neuer Anstrich Die Erinnerungen an den Aufstand werden aus dem Stadtbild entfernt (Foto: Martin Yebra)

Die Spuren der fünfmonatigen Proteste wurden auf der Plaza de la Dignidad bereits beseitigt: Kein Mensch ist auf dem eingezäunten Platz unterwegs, die Statue des Militärchefs Manuel Baquedano wurde geputzt, neu angestrichen und die Denkmäler der Mapuche entfernt. All dies geschah am 19. März, lediglich Stunden nach Beginn des von Präsident Sebastián Piñera – eigentlich zur Bekämpfung der Corona-Pandemie – verhängten landesweiten Ausnahmezustands. Es symbolisiert nur allzu gut, welchen Effekt die Ausbreitung des Virus in Chile gerade hat.

Drei Wochen zuvor, als bereits die ersten Fälle der Lungenkrankheit Covid-19 im Land Schlagzeilen machten, gaben sich die Protestierenden noch gelassen. „Der wahre Virus heißt Piñera“, hieß es auf den Massendemonstrationen der ersten Märzhälfte. Inzwischen ist diese laxe Haltung bei den meisten der Vorsicht gewichen.

Vielen geht die Ausrufung des Ausnahmezustands inklusive des Versammlungsverbots und der Schließung von Einkaufszentren nicht weit genug. „Denkst du, der Staat will uns so schützen? Bleib‘ zu Hause!“, lautete die Antwort eines protestierenden Schülers auf die unzureichenden Maßnahmen der Regierung zur Eindämmung des Virus – die Botschaft hinterließ er auf einem Schild auf der leeren Plaza de la Dignidad und postete ein Bild davon auf Twitter.

„Der wahre Virus heißt Piñera“

Mit diesem Aufruf blieb er nicht allein. Die Forderung nach der Einschränkung breiter Teile des öffentlichen Lebens kam von unten – teilweise auch von denen, die seit Monaten auf den Straßen protestierten. Viele von ihnen haben Angst vor dem drohenden Zusammenbruch des privatisierten Gesundheitssystems.

Insbesondere wegen der Unfähigkeit des chilenischen Gesundheitsministers Jaime Mañalich haben die Menschen geringes Vertrauen in den Umgang der Regierung mit der Pandemie (siehe LN 550). Auch in den Krankenhäusern wurde Kritik an den wenig zielführenden Maßnahmen der Regierung laut: „Wir müssen gesund sein, um unsere Patienten versorgen zu können. Quarantäne jetzt!“ und „Weniger Wasserwerfer und Panzer, mehr Beatmungsgeräte!“, hieß es auf den Transparenten, die Angestellte der Klinik San José in Santiago an den Eingängen des Krankenhauses befestigten.

Die nur langsam angelaufenen Maßnahmen der Regierung trotz sich häufender bestätigter Fälle von Covid-19 im Land sorgten auch in den chilenischen Gefängnissen, in denen bereits mehrere Infizierte gemeldet sind, für Protest. In zwei Haftanstalten in Santiago kam es zu Tumulten mit Verletzten, Gefangene legten Brände und forderten lautstark bessere Hygienemaßnahmen.

Amnesty International hat in einem offenen Brief an die chilenische Regierung Besorgnis über die Haftbedingungen in chilenischen Gefängnissen geäußert: Fast die Hälfte der Anstalten sei überfüllt, elf davon in kritischem Maße, die Gefangenen hätten außerdem keinen ständigen Zugang zu Wasser und notwendiger Hygiene. Dennoch sitzen derzeit auch 13 Angeklagte der primera línea (der ersten Reihe der Protestierenden), die bei den Protesten der letzten Monate festgenommen worden waren, in Untersuchungshaft.

Von unten verordnete Quarantäne

Der Präsident des Obersten Gerichtshofs, Guillermo Silva, hatte gegenüber Radio Biobío betont: „Teil der ersten Reihe zu sein ist keine Straftat an sich.“ Ein Berufungsgericht entschied nun trotzdem, die Haft nicht durch Hausarrest zu ersetzen.

Die Coronakrise hat die Proteste zwar in ihrer bisherigen Form unmöglich gemacht, trotzdem herrscht weiter Unzufriedenheit über die Regierung. Und obwohl die Forderungen nach Ausgangssperren und physischer Distanzierung nicht aus der politischen Führungsriege kommen, profitiert gerade die von den nun möglich gewordenen Einschränkungen bürgerlicher Rechte.

Seit dem Eintritt des Katastrophenzustands und der nächtlichen Ausgangssperre im ganzen Land sind die Handlungsspielräume der Protestierenden begrenzt. Das Versammlungsverbot, der Einsatz des Militärs auf den Straßen – all das kommt Piñera nicht nur zur Eindämmung der Pandemie, sondern auch der Proteste gelegen. In einigen Kommunen des Landes gelten komplette Ausgangssperren – nur, wer einen Passierschein zum Einkaufen oder für den Arbeitsweg vorweisen kann, darf überhaupt die Wohnung verlassen.

Demonstrationen oder die Sitzungen der cabildos und asambleas – hunderte Bürger*innenversammlungen haben sich seit Oktober zusammengefunden – sind wegen der Ansteckungsgefahr im ganzen Land verboten. Manche finden trotzdem statt: in WhatsApp-Gruppen oder Videokonferenzen.

Ohne Abstand Als Demonstrationen und Proteste noch erlaubt waren (Foto: Martin Yebra)

Dabei war die breite gesellschaftliche Mobilisierung gegen Piñera unmittelbar vor der Coronakrise wieder stärker geworden: Den Sommer über mit dem Slogan „Wenn erst der März kommt“ angekündigt, kochten die Proteste zum Schul- und Unibeginn erneut hoch. Schon am ersten Tag des Monats waren im ganzen Land cacerolazos zu hören.

Als „März ohne Angst“ bezeichneten die Protestierenden das neue Kapitel der Bewegung – allen voran die in die Städte zurückgekehrten Schüler*innen. Wie schon im Oktober machten sie den Anfang, indem sie Schulen und Metrostationen in Santiago besetzten. Die Vereinigung der Sekundärschüler*innen ACES sprach von 30 besetzten Schulen im ganzen Land, an 150 Institutionen gab es dauerhaften Protest.

Das war nur der Vorgeschmack auf die Mobilisierung, die das ganze Land eine Woche später erfahren sollte. Zum Internationalen Frauentag gingen am 8. März so viele Menschen auf die Straße wie noch nie: Allein in Santiago waren es zwei Millionen – vor allem Frauen und Queers – die gegen Feminizide und machistische Gewalt, ungleiche Lebens- und Arbeitsverhältnisse und für mehr Rechte protestierten.

Ein historischer März

Históricas, „historisch“, stand es zwischen dem Menschenmeer auf der Plaza de la Dignidad in großen weißen Lettern, die bis heute zu sehen sind. Auch den 9. März nutzten Frauen zum Protest: Angestellte des Gesundheits- und Bildungssektors streikten, ihr Demonstrationszug zog auch am Präsidentenpalast La Moneda vorbei.

Erst Tage zuvor hatte eine unsägliche Äußerung von Präsident Piñera die Wut der feministischen Bewegung neu angefacht: In seiner Rede zur Verabschiedung des Ley Gabriela zur Erweiterung des Tatbestands Feminizid im Strafregister hatte er gesagt, es sei „manchmal nicht nur der Wille der Männer, zu missbrauchen, sondern auch die Rolle der Frauen, missbraucht zu werden“.

Gleichzeitig machen seit Monaten Berichte über die politisch motivierte sexualisierte Gewalt der Carabineros die Runde. Das chilenische Menschenrechtsinstitut INDH zählt in seinem Bericht vom 18. März bereits mehr als 200 Fälle sexualisierter Gewalt durch Angehörige der Sicherheitsbehörden, die seit Mitte Oktober 2019 zur Anzeige gebracht worden sind.

Feministischer Protest Am 8. und 9. März gingen so viele Menschen wie noch nie auf die Straße (Foto: Martin Yebra)

Kurze Zeit später, zum zweiten Jahrestag von Piñeras Amtsantritt am 11. März, protestierten vor allem junge Menschen im Zentrum von Santiago und brachten dort mit Molotowcocktails und Barrikaden den öffentlichen Verkehr weitestgehend zum Erliegen, wie Bio Bio Chile berichtete. Die Demonstration gegen Piñera war eine der letzten großen Protestveranstaltungen vor Beginn der Einschränkungen durch das Coronavirus.

Die Coronakrise überschattet die gesellschaftlichen Themen, die die Protestbewegung in den letzten Monaten vorgebracht hat. Auch der Prozess hin zu einer neuen Verfassung ist vorerst auf Eis gelegt. Das Abgeordnetenhaus hat das Plebiszit über die Ausarbeitung einer neuen Magna Charta auf den 25. Oktober verschoben. Noch Anfang März war der verfassungsgebende Prozess konkreter geworden: Beide Kammern einigten sich über eine Regelung, um die Geschlechterparität in der verfassungsgebenden Versammlung zu gewährleisten. Die Einigung sieht bei ungleicher Verteilung der Geschlechter einen Ausgleich vor.

„Wir werden Millionen sein“

Ganz ersticken konnten die Beschränkungen der Coronakrise die Proteste jedoch nicht. Zum 29. März, dem Día del Joven Combatiente, an dem nun zum 35. Mal mit Protesten Opfern der Diktatur gedacht wird, gingen Menschen in Santiago und anderen Städten des Landes auf die Straßen. Mitten in der Ausgangssperre traten die Protestierenden den Carabineros entgegen und entzündeten Barrikaden, zwei Carabineros wurden verletzt. Andere begingen den Gedenktag mit einer Videokonferenz sowie Livestreams unter dem Motto „Auf dass das Gedenken die Quarantäne erleuchtet“.

Es gibt unterschiedliche Vorstellungen davon, wie der Protest in Zeiten der Krise weiterzuführen ist. Im Vordergrund steht jetzt die gegenseitige Unterstützung und Solidarität während der Pandemie sowie die Entwicklung klarer politischer Forderungen, wie sie etwa die feministische Koordinationsgruppe 8M in ihrer Notstandserklärung festgehalten hat: Nachbarschaftsstrukturen, die vor allem Frauen* und Kinder unter die Arme greifen; die Entwicklung von Strategien gegen die Zunahme häuslicher Gewalt in der Quarantäne; die Bestreikung nicht-systemrelevanter Arbeit und die Forderung nach ausreichender medizinischer Versorgung für alle.

Das Coronavirus hat die Proteste zwar eingeschränkt, sie jedoch keineswegs beendet, wie die Regierung es sich vielleicht erhofft hat. Die cacerolazos finden nun an den Fenstern und Balkonen der Städte statt, die Mobilisierung wird aus der Isolation heraus online weitergeführt. Unter #LaMarchaVirtual („Die virtuelle Demo“) teilen Nutzer*innen in den digitalen Netzwerken derzeit Fotos von den Demonstrationen der letzten Monate. Auf dem neu gestrichenen Denkmal auf der Plaza de la Dignidad prangt unterdessen ein neues Graffiti. In blauer Schrift steht dort: „Ich komme zurück und wir werden Millionen sein!“


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ZUSAMMENBRUCH UNVERMEIDBAR

Demonstrieren nein, konsumieren ja Strenge Ausgangssperren wurden in Chile bisher kaum verhängt (Foto: Martin Yebra)

Als am 8. März in Santiago über zwei Millionen Frauen für ihre Rechte auf die Straße gingen, ahnte noch niemand, dass die Tage größerer Demonstrationen bis auf weiteres gezählt sein würden. Das Coronavirus, Auslöser der Lungenkrankheit Covid-19, war seit fünf Tagen im Land bekannt, es gab bereits zehn bestätigte Fälle. Seitdem hat sich die Zahl der Infizierten exponentiell vervielfacht: Anfang April gab es bereits über 3000 bestätigte Infizierte und 16 Todesfälle. Chile verfügt landesweit derzeit nur über etwa 1000 Intensivbetten, die mit für die Behandlung schwerer Covid-19-Verläufe nötigen Beatmungsgeräten ausgestattet sind. Sollte sich die Zahl der Infizierten weiterhin wie zuletzt etwa alle vier Tage verdoppeln, könnten die Intensivstationen sehr schnell voll sein, auch 800 neu bestellte Beatmungsgeräte wären dann nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Regierung Piñera muss daher wie auch anderswo zwischen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus, Einschränkungen individueller Freiheitsrechte und der Aufrechterhaltung der Wirtschaft abwägen.

Seit Bekanntwerden des Virus wurden auch in Chile nach und nach verschiedene Einschränkungen des öffentlichen Lebens wirksam: Ab dem 16. März gab es keine Großveranstaltungen mehr, die Schulen wurden geschlossen. In den darauffolgenden Tagen folgte die Schließung der Grenzen, Einkaufszentren, Kinos, Theater, Restaurants, Diskotheken und sportlicher Einrichtungen. Ab dem 19. März galt der Ausnahmezustand, ab dem 22. eine nächtliche Ausgangssperre. Faktisch führten diese Maßnahmen zum vorläufigen Ende der seit Oktober andauernden Massenproteste für grundlegende soziale und politische Veränderungen (siehe LN 550).

Die Maßnahmen bedeuten das Ende der Massenproteste

Noch weitergehende Maßnahmen lehnte die Regierung zunächst ab. Im Zuge einer öffentlichen Debatte um das Ausmaß der Regeln zu sozialer Distanzierung forderte am 20. März daraufhin eine Gruppe von 56 Bürgermeister*innen verschiedener Parteien von rechts bis links, unterstützt von Ärzt*innen und Parlamentarier*innen, in einem offenen Brief eine sofortige landesweite Ausgangssperre. Einzelne von ihnen begannen, auf eigene Faust Ausgangssperren in ihren Kommunen zu verhängen. Izkia Siches, Präsidentin der chilenischen Ärztekammer, hob hervor, dass eine Ausgangssperre aufgrund der vielen Infizierungen besonders in der ganzen Hauptstadtregion dringend erforderlich sei. Die Regierung sah hierfür jedoch keinen Grund, zweifelte an der Machbarkeit und vertrat die Ansicht, dass eine totale Ausgangssperre zum Zusammenbruch des Landes und der Versorgungsketten führen könne. „Das ist absurd, eine unverhältnismäßige Maßnahme”, kommentierte Gesundheitsminister Jaime Mañalich. Und fügte hinzu: „Was ist, wenn dieses Virus zu einer gutartigeren Form mutiert? Was ist, wenn es mutiert und zu einem netten Virus wird?“ Verärgerte Reaktionen auf diese unsinnige Aussage folgten verständlicherweise prompt.

Gesundheitsminister Mañalich gilt als Einzelgänger, der wenig auf abweichende Meinungen hört. Seine einzige Machtbasis ist das enge Verhältnis zu Präsident Piñera: Er ist nicht nur dessen Hausarzt, sondern auch ehemaliger Geschäftsführer der exklusiven Privatklinik Clínica Las Condes, an der Piñera bis zu seiner ersten Präsidentschaft Anteile hielt.

Der Gesundheitsminister hofft auf ein „nettes Virus“

Erst auf den starken öffentlichen Druck hin wurde schließlich ein Runder Tisch zu Covid-19 mit Vertreter*innen von Regierung, Kommunen und Ärzt*innen eingerichtet, der statt von Mañalich von Innenminister Blumel geleitet wird. Außerdem wurde eine „progressive Quarantäne” angekündigt, die sich von freiwilliger Distanzierung über Abriegelung von Kommunen bis hin zur totalen Ausgangssperre steigert. Letztere wurde am 26. März, etwa eine Woche nach dem offenen Brief, schließlich in sieben Kommunen der Hauptstadtregion verhängt, die vor allem die wohlhabenden, wirtschaftsstarken Viertel Santiagos ausmachen, später auch in Temuco, Punta Arenas und auf der Osterinsel.

Schon seit Oktober protestierte das Personal der öffentlichen Krankenhäuser bei jedem der Besuche von Gesundheitsminister Mañalich gegen die schlechte medizinische Ausstattung. Daraufhin hatte der Minister erklärt, das chilenische Gesundheitssystem sei eines der besten und effizientesten der Welt. Carlos Ruiz Encina, Präsident des dem linken Parteienbündnis Frente Amplio nahestehenden Thinktanks Fundación Nodo XXI, hingegen ist da anderer Meinung. Gegenüber der argentinischen Tageszeitung Página 12 erklärte er: „Pinochet hat das öffentliche Gesundheitssystem zerstört, aber die zivilen Regierungen danach haben es nicht wieder aufgebaut.“ Im öffentlichen System gäbe es lange Wartelisten und -schlangen. Staatliche Gesundheitsausgaben würden daher weitgehend über ein Gutscheinsystem abgewickelt, mit denen sich die Leute in einer Privatklinik behandeln lassen können. „Mit anderen Worten: Die Privatwirtschaft florierte dank der staatlichen Subventionen. Anstatt das universelle soziale Recht auf Gesundheit wieder aufzubauen, trägt der Staat zum Geschäft der Privatkliniken bei”, so Encina weiter.

Abstand halten Regierung, Bürgermeister*innen und Ärzt*innen streiten sich, wie dies erreicht werden soll (Foto: Martin Yebra)

Auch die Ärztin Fabiola Alzamora vom zentralen Notfallkrankenhaus von Santiago teilte Mañalichs Meinung nicht: „Im ,besten Gesundheitssystem der Welt‘ haben wir kein Desinfektionsgel, man gibt uns eine Schutzmaske pro Person. Wir haben nichts, um uns die Hände zu waschen. Die Gesundheit des Personals wird aufs Spiel gesetzt”. Mañalich antwortete abwiegelnd und beschwichtigend, dass genügend Vorräte vorhanden seien und Personen mit geringem Risiko keine “hyper-außergewöhnlichen Schutzmaßnahmen” bräuchten. Ärztekammerpräsidentin Siches sieht den Umgang der Regierung mit der Coronakrise ebenfalls kritisch: „Die bisher veröffentlichten Daten sind unvollständig, inkonsistent und weisen einen enormen Mangel an Transparenz auf, den es in der institutionellen Geschichte des öffentlichen Gesundheitswesens in Chile so noch nie gab”.

Kritik enstpann sich auch um die Verfügbarkeit von diagnostischen Tests, die laut Regierungsangaben angeblich in hoher Zahl vorhanden seien. Aber anstatt sich zum Beispiel um vereinfachte und kostenfreie Zugänge zu Tests zu kümmern, fiel es der Regierung wesentlich leichter, sich für konkrete Interessen der Wirtschaft einzusetzen. Auf der Insel Chiloé protestierten Bürger*innen mit Straßensperren dagegen, dass trotz lokaler Quarantänebestimmungen nicht nur Lebensmittel und Dinge des täglichen Gebrauchs auf die Insel kamen, sondern auch die Lastwagen der Lachsindustrie. Die Polizei löste die Barrikaden gewaltsam auf, es gab Repression, Verletzte, Verhaftungen und jede Menge wütende Menschen.

Im „besten Gesundheitssystem der Welt” fehlt medizinische Schutzausrüstung

Die Regierung nutzte die Corona-Konjunktur außerdem dazu, mit Hilfe von Stimmen der Mitte-Links-Parteien ihr lang gehegtes Projekt eines Homeoffice-Gesetzes durchzudrücken, das es Arbeitgeber*innen erlaubt, mit ihren Angestellten gemeinsam flexible Arbeitszeiten zu vereinbaren. Nun können geltende Arbeitsverträge in unbegrenztes Homeoffice ohne Bezahlung von Überstunden verwandelt werden.  Zusätzlich sollen Löhne vom Arbeitgeber nicht weitergezahlt werden müssen, wenn jemand aufgrund der Notfallbestimmungen der Arbeit fernbleibt. Hier soll nach einem jetzt geplanten Gesetz die Arbeitslosenversicherung einen Teil des Lohns zahlen – eine Art Kurzarbeit.

Dass es bei den Neuerungen im Arbeitsrecht wenig um die Interessen der Arbeitnehmer*innen ging, wurde klar, als das Gesundheitsministerium Ärzt*innen die Möglichkeit blockierte, zum Zweck der Isolierung Krankschreibungen auszustellen. „Was bringt #QuédateEnCasa („Bleib zu Hause”), wenn man es nicht umsetzen kann?” fragten sich daraufhin Ärzt*innen auf Twitter.

Im Gegensatz zu Gesundheitsminister Mañalich haben die Kontroversen Präsident Piñera in der öffentlichen Meinung bisher wenig geschadet. Im Gegenteil, seine Zustimmung ist im März laut der Umfrage des privaten Markt- und Meinungsforschungsinstituts Cadem vom vorherigen Niedrigstniveau auf 21 Prozent angestiegen. Dazu mag auch der Beschluss der Regierung beitragen, dass niemand von der Wasser- und Stromversorgung abgeschnitten werden soll, wenn während der Krise Rechnungen nicht bezahlt werden können. Einkommensschwache Familien sollen zudem für zwei Monate gratis Internet bekommen.

Die Regierung nutzt die Lage zur Liberalisierung des Arbeitsrechts

Nach Monaten sozialer Aufstände für mehr soziale und politische Rechte erscheint es paradox, dass nun die Kritiker*innen der Regierung mit der landesweiten Ausgangssperre eine sehr weitreichende Einschränkung der persönlichen Freiheiten fordern und die Regierung dabei eher zurückhaltend ist. Schließlich hat Chile eine unheilvolle Geschichte der Einschränkung von Freiheitsrechten und Repression, vor und nach Ende der Diktatur Pinochets. Auf den zweiten Blick sind die vertauschten Rollen jedoch nicht überraschend: Für Sebastián Piñera war das Ende der Straßenproteste als Folge des Mitte März erfolgten Verbotes von Großveranstaltungen und großen Menschenansammlungen ein Geschenk, nachdem er seit Oktober vergeblich versucht hatte, diese einzudämmen. Das öffentliche Leben noch darüber hinaus einschränkende Maßnahmen schaden jedoch vor allem der Wirtschaft, deren Interessen die Richtschnur dieser Regierung sind.

Solche noch strengeren Maßnahmen könnten dennoch nötig werden, da die schon beschlossenen möglicherweise zu spät kommen. Tomás Pérez Acle, Leiter einer mit Prognosen zur Pandemie betrauten Gruppe Wissenschaftler*innen, äußert sich gegenüber der chilenischen Onlinezeitung El Mostrador eindeutig: „Wenn wir die Maßnahmen vor drei Wochen getroffen hätten, würden wir die Situation jetzt nicht bedauern. Aber nun ist der Zusammenbruch des Gesundheitssystems unvermeidbar, laut unserer Prognosen könnte es im Mai oder Juni soweit sein.”


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// ALLEIN DIE SOLIDARITÄT KANN UNS RETTEN

Ein vorbildlicher Demokrat ist Nayib Bukele ganz sicher nicht: Das zeigte El Salvadors junger Präsident, als er Anfang Februar das Parlamentsgebäude von Soldat*innen und Polizist*innen besetzen ließ, um ein Paket zur Finanzierung seiner repressiven Sicherheitspolitik durchzusetzen (siehe LN 549). Dieses verfassungswidrige Vorgehen war den hiesigen Medien kaum mehr als eine Nachricht wert. Nicht viel anders verhält es sich in Bezug auf Bukeles bemerkenswertes Vorgehen gegen das Coronavirus. Nach nur fünf nachgewiesenen Fällen im Land erließ er weitreichende Maßnahmen: Alle, die sich in „obligatorischer Quarantäne“ befänden, könnten ihre Zahlungen für Miet-, Wasser- und Telefon für drei Monate aussetzen, ebenso wie Kredit- und Zinszahlungen. 

In seiner viral gehenden Videobotschaft wandte sich der ehemalige Unternehmer Bukele an die Vertreter*innen der Geschäftswelt: „Ich garantiere Dir, was Dich am wenigsten interessiert, wenn Du ein Beatmungsgerät brauchst, ist Dein Bankkonto. Wie viel sind Dir Deine Mutter wert, Dein Vater, Deine Kinder? Gut, Du wirst vielleicht 20 Prozent Deines Kapitals verlieren, aber es gibt Menschen, die heute Abend nichts zu essen haben. Das Einzige, was uns jetzt rettet, ist Solidarität.“

Bukele neigt zur One-Man-Show, daher wird sich zeigen müssen, ob seinen Worten entsprechende Taten folgen. Unbestreitbar trifft allerdings seine Kernbotschaft zu: „Das Einzige was uns jetzt rettet, ist Solidarität.“

 Nicht die Solidarität, sondern das Virus rettet derzeit Chiles Präsident Sebastián Piñera. Die rechte Regierung hat unter dem Schirm des Seuchenschutzes endlich das geeignete Mittel gefunden, um die seit mehr als fünf Monaten andauernden Proteste zu seinem Vorteil und dem der herrschenden Elite zu beenden. Ein Negativbeispiel dafür, wie die Aussetzung von Grundrechten missbraucht werden kann.
 
Nicht alle Regierungschefs in Lateinamerika nehmen das Corona-Virus ernst. Von extremer Ignoranz ist die Situation in Nicaragua gekennzeichnet, wo weiterhin zu Massenveranstaltungen aufgerufen wird. Bereits zu Beginn der Krise hatte Rosario Murillo, die Ehefrau von Präsident Ortega, unter dem Motto „Liebe in Zeiten von Covid-19″ zu einer Demonstration mobilisiert. Die staatlichen Institutionen sind nicht geschlossen, Schulen und Universitäten bleiben weiterhin geöffnet. 
 
Auch in Brasilien versucht der rechtsradikale Präsident Jair Bolsonaro mit allen Mitteln, den Stillstand des öffentlichen Lebens zu unterbinden und erklärt sich in täglichen Videobotschaften als willfähriger Handlanger seiner Unterstützer*innen: „Das Land muss zur Normalität zurückkehren. Eine Wirtschaftskrise ist viel tödlicher als diese kleine Grippe.“ Ein Diskurs, der auch in Europa in den vergangenen Tagen zunehmend an Fahrt aufnimmt. 
 
In der Corona-Pandemie zeigt sich überdeutlich, dass ein System, in dem Gesundheit zur Ware erklärt wurde, nicht dazu geeignet ist, auf eine weltweite Katastrophe angemessen zu reagieren. Der Wettbewerb der Konzerne, um Tests, Impfstoffe und Medikamente zuerst „auf den Markt zu bringen“, überlagert die gemeinsamen Forschungsanstrengungen und Normen der Weltgesundheitsorganisation. Internationale Lieferketten für Teststäbchen und Atemschutzmasken sind ebenso wenig pandemie-kompatibel wie eine privatisierte Gesundheitsversorgung. 
 
Wenn die Welt “nach Corona” tatsächlich nie wieder so sein wird wie zuvor, wie überall zu hören ist, dann müssen wir uns schon jetzt dafür einsetzen, dass nach der Pandemie die demokratischen Rechte nicht nur wieder hergestellt, sondern erweitert werden. Menschenrechte sind keine Ware, weder das Recht auf Gesundheit noch das Recht auf Wohnen, auf Nahrung oder auf Wasser. Wenn uns heute allein die Solidarität rettet, dann muss dies auch in Post-Corona-Zeiten gelten. Anders als in der Finanzkrise sollten und müssen wir die neuen Erkenntnisse und Handlungsspielräume, die sich in der aktuellen Krise eröffnen, nutzen.

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DIE RUHE VOR DEM STURM

Foto: Frente Fotográfico

Wie jedes Jahr richten sich Ende Februar die Augen der Chilen*innen nach Viña del Mar, wo sechs Tage lang das internationale Songfestival stattfindet, eines der meist beachteten Musikereignisse Lateinamerikas. Doch dieses Mal ist alles anders: #SinJusticiaNoHayFestival, „Ohne Gerechtigkeit kein Festival“, meinen viele und fordern zunächst erfolglos die Absage des kommerziellen Großereignisses. Tausende protestieren, doch von Beginn an kontrollieren Sicherheitskräfte den Eingang zum Festivalgelände Quinta Vergara streng und weisen mutmaßlich Protestwillige ab. Einige Plakate schmuggeln sie dennoch hinein, und Künstler*innen wie Mon Laferte oder Ricky Martin solidarisieren sich von der Bühne aus mit den Protesten. Ein Rückschlag für die Regierung, die mit dem Festival Normalität demonstrieren möchte. In der chilenischen Presse wird anschließend besonders über Ausschreitungen abseits des eigentlichen Festivals berichtet: Auf das Nobelhotel O’Higgins in der Nähe werden Steine geworfen, Scheiben zerbrechen und Tränengas gelangt nach drinnen, Gäste werden evakuiert und mehrere Autos in Brand gesetzt. „Dies ist nicht die beste Art des Protestes“, sagt eine Frau hinterher Efe TV gegenüber, „aber die Leute sind müde, denn für das Festival wird sehr viel Geld ausgegeben, das eigentlich in das Gesundheitssystem und in die Bildung gesteckt werden müsste.“

Viele rechtfertigen den Einsatz von Gewalt gegen Gegenstände als Antwort auf die staatliche Repression, die weiterhin wahrnehmbar ist. Über die sozialen Medien werden immer wieder neue Aggressionen der Sicherheitskräfte bekannt, vor allem im Großraum Santiago. Da ist zum Beispiel das Video, in dem man sieht, wie sieben Carabineros – einige davon in Zivil – aus einem Polizeifahrzeug aussteigen, um brutal auf den Studenten Matías Soto einzuprügeln und zu -treten. Oder die Berichte von Matías Pérez, der nach Faustschlägen in einem Polizeifahrzeug einen Nasen- und Augenhöhlenbruch erlitt. Seine Verletzungen wurden in dem Polizeibericht darüber jedoch nicht erwähnt. Die Liste ließe sich fortsetzen. Laut nationalem Menschenrechtsinstitut (INDH) sind in der Hauptstadtregion bisher etwa 90 Prozent solcher Angriffe von den Carabineros verübt worden, die restlichen von der zivilen Polizei PDI und vom Militär, welches nur während des neuntägigen Ausnahmezustands im Oktober 2019 eingesetzt wurde.

Mitte Februar forderten die Menschen bei den Protesten auf der Plaza de la Dignidad daher unter dem Motto „Un San Valentín Sin Rozas“ („Valentinstag ohne Rozas/Rosen“) den Rücktritt von Mario Rozas, dem Generaldirektor der Carabineros. Während auf dem Platz nach wie vor Tausende zusammenkommen, sind es doch keine riesigen Massen mehr wie anfangs – allerdings ist im Februar auch Ferien- und Urlaubszeit in Chile. Größere Proteste finden mittlerweile nur noch an Freitagen statt, dem Wochentag, an dem am 18. Oktober alles begann. Noch stehen laut der Umfrage Plaza Pública 56 Prozent der Chilen*innen hinter den Protesten – ein Rückgang um 16 Punkte seit Oktober. Beginnen die Proteste sich also totzulaufen, wie der rechtsgerichtete Präsident Sebastián Piñera zweifellos hofft?

„Noch haben wir nichts erreicht!“, ist ein Satz, den man auch nach vier Monaten unter den Protestierenden oft hört – es ist das Gefühl, dass immer noch alles vergeben gewesen sein kann. „Ich lade die Leute dazu ein, mobilisiert zu bleiben“, sagte im November vorausahnend ein Spitzenpolitiker, „wenn sie nicht aufpassen, werden viele die Veränderungen nicht umsetzen.“ Der Politiker war nicht etwa ein Linker, sondern Mario Desbordes, Präsident der Nationalen Erneuerung (RN), einer der Regierungsparteien aus dem rechten Spektrum. Er wird es wohl wissen.

Die Polizeigewalt könnte noch ein Fall für die internationale Justiz werden

Die handfesten Folgen der Proteste sind bisher eher traurig: über 10.000 Verhaftungen hat das INDH seit Oktober gezählt, von denen knapp 2.000 illegal waren (ein Anstieg von 77,7 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum) und mehr als 3.700 Verletzte durch Polizeigewalt, davon mehr als 2.000 durch Schüsse. 445 Menschen haben Augenverletzungen davongetragen, davon erlitten 34 schwerste Verletzungen oder einen Sehverlust. In mehr als 1.300 Fällen wurden bereits rechtliche Schritte seitens der Opfer eingeleitet, davon in 195 Fällen wegen Gewalt mit sexualisiertem Charakter wie erzwungenem Ausziehen, Begrapschen oder Vergewaltigungen, in 951 Fällen wegen Folter und Misshandlungen, in fünf wegen Mordes. Zur weitergehenden juristischen Aufarbeitung gibt es noch keine systematische Erfassung. Eine zumindest zweistellige Zahl von Polizist*innen ist inzwischen wegen Folter und sexualisierter Gewalt in verschiedenen Fällen von der Staatsanwaltschaft angeklagt und daraufhin in Untersuchungshaft genommen worden.

Gleichzeitig hat die Justiz begonnen, die übergeordnete Verantwortung von Präsident Sebastián Piñera und weiterer Autoritäten, wie Innenminister Gonzalo Blumel, seinem Vorgänger Andrés Chadwick sowie dem Generaldirektor der Carabineros, Mario Rozas, zu untersuchen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen sie aufgrund von 30 Anzeigen wegen des Todes von Mauricio Fredes, der auf der Flucht vor der Polizei in ein Loch stürzte, des Einquetschens von Óscar Pérez zwischen zwei Polizeifahrzeugen (siehe LN 548) sowie weiterer schwerer Verletzungen von Demonstrant*innen. Ein Gericht hat bereits die Vernehmung von Mario Rozas genehmigt. Aufgrund der drohenden hohen Strafen von bis zu 20 Jahren für Verbrechen gegen die Menschlichkeit haben die Carabineros bereits mehrere Anwälte für die Verteidigung abgestellt. Weitere Anwälte aus renommierten Kanzleien des Landes boten sogleich ihre (zum Teil unentgeltliche) Hilfe an und gründeten die NGO Nos Importan („Ihr bedeutet uns etwas“), die für angeklagte Mitglieder der Sicherheitskräfte juristische Hilfe organisiert und finanziert. Viele Mitglieder dieser NGO haben geschäftliche Verbindungen zu großen Unternehmen, die ihre Interessen durch die Proteste bedroht sehen. Darunter ist etwa der Anwalt Juan Francisco Gutiérrez Irarrázaval, der als Berater der Luksic-Unternehmensgruppe und der Reorganisation der Energiefirma Enersis 2015 gewirkt hat (die Nachfolgefirma Enel wird heute von einem Cousin Piñeras geleitet).

Auf den begonnenen Ermittlungen gegen die Verantwortlichen ruhen hohe Erwartungen. Der derzeit suspendierte spanische Richter Baltasar Garzón, für die Verhaftung Pinochets im Jahr 1998 verantwortlich, hat die Polizeigewalt in Chile kürzlich als ein nach dem internationalen Strafrecht relevantes Verbrechen eingeschätzt, das auch vor einem internationalen Gericht verhandelt werden könnte, falls in Chile keine adäquate Aufarbeitung erfolge.

Während die Regierung einerseits besorgt auf die Anklagen blickt, setzt sie an anderer Stelle Hoffnungen in die Justiz: Gleich am Tag des Inkrafttretens des mit Hilfe von Teilen der Opposition verabschiedeten „Anti-Plünderungs-Gesetzes“ erfolgten Ende Januar auf dessen Basis 12 Festnahmen von Demonstrant*innen. „Dieses beschämende neue Gesetz versucht, die Gefängnisse mit Demonstranten in Untersuchungshaft zu füllen und den gleichen Carabineros, die die Menschenrechte verletzen, zu ermöglichen, ihre Opfer ohne Beweise zu beschuldigen“, erklärte daraufhin der grüne Abgeordnete Félix González.

Doch die Protestierenden kritisieren nicht nur die jüngst verabschiedeten Gesetze: Ihre wichtigste Forderung nach einer neuen Verfassung bleibt auch vier Monate nach dem Ausbruch der Proteste bestehen. Die Vorbereitungen für die Kampagne zum Verfassungsreferendum am 26. April haben bereits begonnen. Die Chilen*innen sind dann aufgerufen zu entscheiden, ob es eine neue Verfassung geben soll und wie sich die Versammlung bilden soll, die diese im Falle einer Zustimmung ab Oktober ausarbeiten wird: mit 50 Prozent Parlamentsabgeordneten oder mit ausschließlich neu gewählten Delegierten. Das nahende Plebiszit hat im Februar nun auch die Gegenseite auf die Straße gebracht, es demonstrierten bis zu 2.000 Gegner*innen einer neuen Verfassung – nicht auf der Plaza de la Dignidad, sondern im Reichenviertel Las Condes, hochgehaltene Pinochet-Porträts inklusive.

Vom 27. März bis 23. April wird es eine Fernsehkampagne mit täglich zwei 15-minütigen Blöcken zu je einer der beiden Fragen des Referendums geben, beiden Antwortoptionen steht jeweils die Hälfte der Zeit zur Verfügung. Anders als im Referendum 1988, das zur Abwahl Pinochets führte, wird es jedoch nicht jeweils einen Pro- und einen Contra-Beitrag geben, sondern mehrere. Politische Parteien oder Parteienkoalitionen sowie unabhängige Abgeordnete bekamen in beiden Sendeblöcken auf Antrag Sendezeit für eine oder beide Antwortoptionen zugeteilt, insgesamt proportional zu ihrer parlamentarischen Repräsentanz. Dies führte allerdings dazu, dass in einigen Fällen extrem kurze Sendezeiten zugeteilt wurden. Eine Abgeordnetengruppe um den ehemaligen Mitte-Links-Präsidentschaftskandidaten Alejandro Guillier bekam etwa eine halbe Sekunde bzw. 17 “Bilder”. Für die Optionen „Pro neue Verfassung“ sowie „Pro 100 Prozent gewählte Versammlung“ registrierten sich zudem mehr Parteien und Abgeordnete als für die jeweilige Gegenposition, was dazu führte, dass die einzelnen progressiven Gruppen weniger Zeit zugeteilt bekamen als die konservativen, am meisten Zeit bekam mit ca. vier Minuten die ultrarechte Unabhängige Demokratische Union (UDI). Ein Drittel ihrer zugeteilten Zeit müssen die Parteien zudem an zivilgesellschaftliche Gruppierungen abgeben, die mit ihnen an der Kampagne teilnehmen wollen.

75 Prozent der Chilen*innen wollen eine neue Verfassung

Während eine vielstimmige Fernsehkampagne absehbar ist, scheint das Ergebnis schon längere Zeit festzustehen. Die Umfrage Data Influye ermittelte zuletzt eine nochmals gestiegene Zustimmung von 75 Prozent für das „Ja“ zu einer neuen Verfassung. Auch bei der Frage der Zusammensetzung der Verfassungsversammlung gibt es eine Tendenz: 44,1 Prozent der Wahlberechtigten sind für eine vollständig neu gewählte Verfassungsversammlung, nur 27,2 Prozent für eine Versammlung, die zur Hälfte aus Abgeordneten besteht (Pulso Ciudadano). Die Gegner einer neuen Verfassung dürfen mit über diese Frage abstimmen, was der gemischten Versammlung de facto einen strukturellen Vorteil verschafft, ansonsten würde das Ergebnis hier vermutlich ebenfalls bereits feststehen.

Demgegenüber bleiben die Umfragewerte für die Regierung schlecht: Nur noch sieben Prozent der Chilen*innen sind mit Präsident Piñera zufrieden, 4,6 Punkte weniger als im Januar, hinter Piñeras Kabinett stehen sogar nicht einmal sechs Prozent (Pulso Ciudadano).

Zumindest die Umfragen lassen derzeit also Grund zur Hoffnung. Mit dem Ende der Sommerferien und mehreren Anlässen mit hohem Mobilisierungspotenzial im März – Frauen*kampftag, der zweite Jahrestag von Piñeras Amtsantritt und ein Gedenktag für die Opfer der Militärdiktatur – kann außerdem erwartet werden, dass es vor dem Plebiszit Ende April noch richtig rund geht.


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CHILE IM FOKUS UND OHNE SCHUTZ

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Am Freitagabend, dem 27. Dezember 2019, füllte sich unser Herz mit dem Feuer der Hoffnungslosigkeit. Die chilenische Polizei setzte das historische Cine Arte Alameda („Kunstkino Alameda”) im Zentrum von Santiago durch eine Tränengasbombe, die sie auf das Dach schoss und die einen unkontrollierten Brand auslöste, in Flammen. Wir alle, die wir uns über zwanzig Jahre lang an diesem Ort getroffen und Filme gesehen hatten, standen entsetzt vor seinen Trümmern und dem komplett verbrannten Kinosaal.

In der gleichen Nacht, wenige Stunden später und nur einige Meter vom Kino entfernt, ertrank Mauricio Fredes in einem Graben, in den er vor einem Wasserwerfer fliehend  fiel. An diesem finsteren Freitag erkannten wir Chilen*innen so klar wie nie zuvor etwas, das wir bereits geahnt hatten: Dass es für uns keinen Schutz mehr vor Sebastián Piñeras Regierung gab. Während die Feuerwehrleute im Theater das Feuer löschten, mussten die Sanitäter*innen der Gesundheitsbrigaden, die in der Eingangshalle seit die Proteste begonnen hatten Verletzte versorgten, die Verwundeten ins Freie auf die mit Tränengas gefüllte Straße der Allee Alameda  bringen, wo die Polizei weiter mit Schrotkugeln auf die Anlage feuerte. Wie mir eine der Sanitäterinnen erzählte, verfehlte eine Kugel nur knapp ihr Gesicht, während sie gerade dabei war, einen verwundeten Jugendlichen zu versorgen.

Das Kino ist nicht nur ein Zufluchtsort für Filmliebhaber, die durch die auf die Leinwand projizierten Bilder in eine andere Welt eintauchen können, sondern auch weil seine Räumlichkeiten Treffpunkt, Mitbestimmungsort und Ort der Inklusion für alle diejenigen von uns sein können, die sich fremd in einem System fühlen, das uns ausbeutet und vergisst. Das ist das Cine Arte Alameda, ein Schutzraum für queere Menschen, Punks, Filmliebhaber*innen, wie auch für die Gesundheitsbrigaden, die auf der Straße die Rache der Polizei fürchten mussten.

Auf der anderen Seite der Welt ist die Berlinale immer einer der hoch geschätzten Schutzorte für Filmemacher*innen und Produzent*innen, die auf der ganzen Welt gegen solche und ähnliche Gewalttaten kämpfen, gewesen. So habe ich mich gefühlt, als ich 2016 dort in der Sektion Panorama mit Nunca vas a estar sólo („Du wirst nie allein sein”) von Regisseur Alex Anwandter Premiere feiern durfte. Der Film handelt davon, wie ein schwuler junger Mann in seinem Wohnviertel brutal zusammengeschlagen wird und zeigt die frenetische Suche nach Gerechtigkeit durch seinen Vater, der die hohen Krankenhauskosten nicht begleichen kann. Der Film gewann in diesem Jahr den “Teddy Jury Award” der Berlinale, in der gleichen Nacht, in der einer Trans*-Jugendlichen in einem anderen Armenviertel in Santiago de Chile durch Überschütten mit Säure das Gesicht verätzt wurde. Gegen diese Gewalt arbeiten wir und gegen diese Gewalt kommen wir zusammen.

Nach über hundert Tagen des Protests, 35 Toten, 25.000 Verhafteten, 400 an den Augen verletzten Personen und von der Polizei gefolterten Kindern und Jugendlichen, sind wir immer noch da. Wir stehen auf den Plätzen und schreien nach Würde, nach einem Leben, das es sich lohnt, zu leben, mit einer neuen Verfassung, die uns Chilen*innen eine neue Form der Verständigung erlaubt.

Obwohl dieses Jahr auf dem Festival besonders wichtig für unser Land ist, bleiben einige von uns zu Hause in Chile, um für die Kampagne für die Annahme einer neuen Verfassung zu arbeiten, die in einer verfassunggebenden Versammlung zu 100% von aus der Bevölkerung gewählten Bürger*innen geschrieben werden wird. Wir bleiben in Chile, damit diese neue Carta Magna auch als erste auf der ganzen Welt paritätisch geschrieben wird, damit sie anders ist, damit diese  Gewalt gegen unsere prekarisierten Körper und Lebensweisen aufhört.

Aber während ein paar von uns von uns zu Hause bleiben, um an einem besseren Land zu arbeiten, werden viele zur Berlinale reisen, denn Chile ist 2020 das “Land im Fokus” des Europäischen Film Markets 2020. Einige cineastische Kämpfer*innen für diese Prinzipien kommen in eure Stadt, aber auch Vertreter*innen des Ministeriums für Kunst und Kultur der Regierung von Sebastián Piñera, darunter die Ministerin Consuela Valdés und der stellvertretende Staatssekretär für Kultur, Juan Carlos Silva, die sich im Angesicht all dieser Gewalt in Schweigen gehüllt haben. Noch schlimmer, sie haben öffentlich die Politiker*innen die für ihre Ausführung verantwortlich waren, verteidigt, wie den früheren Innenminister Andrés Chadwick, der kürzlich vom Parlament wegen seiner politischen Verantwortung für die  Menschenrechtsverletzungen abgesetzt wurde. Kein Wort der Verteidigung oder der Unterstützung haben sie für die Künstler*innen geäußert, die ihr Augenlicht verloren haben, wie die in der Neujahrsnacht am Auge verletzte Fotografin und Videokünstlerin Nicole Kramm und sicherlich wird auch niemand bei den Veranstaltungen des EFM etwas dazu sagen.

Ja, das Gastland Chile hat eine Regierung, die die Menschenrechte verletzt, wie mehrere Berichte der UN, von Human Rights Watch, Amnesty International, der CIDH und weiterer Organisationen verdeutlichen. Diese Politiker*innen sind es, die das Treffen der Filmindustrie auf der Berlinale eröffnen werden, ein Festival, das nach den Prinzipien des Rechts auf ein Leben in Frieden, Pluralismus und gegenseitigem Respekt ausgerichtet ist.

Daher bitte ich Euch, Berliner*innen, dass ihr uns helft. Kommt und protestiert vor dem Martin-Gropius-Bau, ruft eure Abgeordneten an und helft uns laut und klar zu fordern: „Nie wieder!”, denn diese Botschaft gegen den Faschismus hallt in euren Straßen genauso laut wieder wie in unseren, weil ich sicher bin, dass euer Kampf auch unserer ist.  In diesen Tagen brauchen wir eure internationale Solidarität. Lasst uns nicht allein bei unserer Suche nach neuen Schutzorten vor dieser unkontrollierten polizeilichen Gewalt. Wir brauchen neue Verbündete gegen die Straflosigkeit und wir hoffen, dass das Kino weiterhin eine*r von ihnen bleibt.


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CHILE EN FOCO Y SIN REFUGIOS

Für die deutschsprachige Version hier klicken.

La tarde del viernes 27 de Diciembre del año recién pasado nuestro corazón se incendió de
desesperanza. La policía chilena quemó el histórico Cine Arte Alameda, en pleno centro de
Santiago, luego de lanzar una bomba lacrimógena sobre su techo que inició un fuego
descontrolado. Todos quienes habíamos visto películas y reunido allí por más de 20 años nos detuvimos atemorizados frente a las cenizas del lugar, su sala de cine completamente destruida.
Esa misma noche y solo unas horas más tarde, a unos metros del cine, Mauricio Fredes murió ahogado en una fosa por efecto del carro lanza aguas. Ese viernes oscuro los chilenos vimos con más claridad que nunca algo que no queríamos creer : no nos quedan refugios frente al Gobierno de Sebastián Piñera. A medida que los bomberos apagaban el fuego, las paramédicas de las brigadas de salud, quienes habían estado atendiendo en el hall del cine desde que comenzó la revuelta en Octubre, tuvieron que llevar a los heridos hacia afuera, en medio del gas lacrimógeno y los balines de metal que la policía seguía disparando desde la calle hacia las instalaciones. Una de las paramédicas me relató que uno de los balines pasó justo al lado de su cara mientras protegía a uno de sus adolescentes heridos.
El cine es un refugio no sólo para los amantes del cine, que pueden imaginar un mundo distinto en las imágenes proyectadas sobre la pantalla, si no también porque sus espacios físicos tienen la capacidad de ser lugares de encuentro, de participación, de inclusión para todos aquellos que nos sentimos ajenos a un sistema que nos explota y nos olvida. Eso es el Cine Arte Alameda, un refugio queer, punk, cinéfilo, y también un refugio para las brigadas de salud, amedrentadas con venganza en las calles por la policía.
Al otro lado del mundo, la Berlinale ha sido uno de esos preciados refugios para tantos cineastas y productores que luchan contra estas violencias alrededor del mundo. Así lo sentí cuando el 2016 llegué a estrenar en Panorama “Nunca vas a estar solo”, un film dirigido por Alex Anwandter que retrata la brutal golpiza que un joven gay recibe en su barrio y la frenética búsqueda por justicia que su padre debe emprender al no poder pagar las cuentas del hospital. Nuestra película ganó el Teddy Jury Award ese año, la misma noche que una joven trans fue quemada con ácido en su cara en otro barrio pobre de Santiago. Contra esa violencia nos cansamos y nos unimos. Después de más de 100 días de protesta, de 35 personas muertas, 30.000 detenidos, 400 heridas oculares, de niños y niñas torturados por la policía, seguimos acá, en la plazas pidiendo dignidad, pidiendo una vida que valga la pena vivir, una constitución que nos permita entendernos de una nueva forma.
A pesar de ser un importante año para nuestro país en el festival varios nos quedamos en Chile, haciendo campaña para que podamos ganar el Apruebo una Nueva Constitución, escrita 100% por ciudadanos electos por el pueblo, en una Convención Constitucional. Nos quedamos en Chile para que esa nueva carta magna sea escrita de forma paritaria por primera vez en el mundo, para que sea disidente, para que termine esta violencia contra nuestros cuerpos y vidas precarizadas.
Mientras algunos nos quedamos trabajando por un país más justo muchos viajarán a la Berlinale, pues Chile es el País en Foco del European Film Market 2020. Algunos cineastas luchadores de estos mismos principios llegarán a su ciudad, pero también representantes del Ministerio de las Culturas y las Artes del gobierno de Sebastián Piñera, como el Subsecretario de las Culturas, Juan Carlos Silva, quienes han guardado silencio luego de toda esta violencia. Peor aún, públicamente han defendido a los políticos a cargo de ejercerla, como defendieron al ex Ministro del Interior Andrés Chadwick, quien terminó destituido en el Congreso por su responsabilidad en las violaciones a DDHH. Ninguna palabra de defensa o apoyo han dicho por los artistas que han perdido su visión como Nicole Kramm, audiovisual y fotógrafa herida en un ojo la noche de Año
Nuevo y seguramente ninguna dirán en los eventos del EFM.
Sí, Chile país en foco tiene un gobierno violador de los derechos humanos según constan en los serios informes elaborados por la ONU, Human Rights Watch, Amnistía Internacional, CIDH, entre otros. Esos políticos serán quienes abran el encuentro de industria de la Berlinale, un festival orientado precisamente en torno al derecho de vivir en paz, del respeto y del pluralismo.
Por eso les pido, Berlineses, que nos ayuden. Vayan y protesten en las afueras del Martin Gropius Bau, llamen a sus representantes, ayúdennos a pedir fuerte y claro ‘Nunca Más’, porque esa frase contra el fascismo resuena tan fuerte en sus calles como las nuestras, porque estoy segura que nuestra lucha es la misma. Es en estos días que necesitamos de su solidaridad internacional. No nos dejen solos pues buscamos nuevos refugios frente a esta violencia descontrolada, necesitamos nuevos aliados contra esta impunidad y esperamos que el cine siga siendo uno de ellos.


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NICHT EINMAL DER TOD

Aufmerksame Kritikerin Echeverría verstarb am 03. Januar 2020 (Foto: Gilberto Robles)

Ich kam im Jahr 1920 zur Welt, zu einer Zeit, als die Frauen in Chile weder das Recht hatten zu wählen, noch die Möglichkeit an einer Universität zu studieren. Chile war als Land damals absolut abhängig von Europa und den USA. Es verkaufte Salpeter, später Kupfer. Es war eine koloniale Realität. Mir war väterlicherseits ein oligarchisches Erbe in die Wiege gelegt worden, mütterlicherseits gab es Facharbeiter und Intellektuelle.

Ihr Großvater, Eliodoro Yáñez, erlangt in den 1920er Jahren einen Ruf als fortschrittlicher Senatspräsident, wird Ende der 1930er jedoch ins europäische Exil gezwungen. Echeverría verbringt große Teile ihrer Kindheit in Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Ihre Mutter erinnert sich ihrer in Tagebüchern als anstrengendes Kind: „Sie ist ein unausstehlicher Schreihals, so intelligent und stolz sie auch sein mag.“ Die Mutter müht sich, dieses Temperament unter Kontrolle zu bekommen und sie auf den „gesellschaftlichen Einstand“ in Chile vorzubereiten.

Natürlich fügte ich mich erstmal den Normen meiner sozialen Klasse. Ich heiratete und bekam Kinder. Und dennoch zeigte ich immer auch Symptome einer Rebellion gegen all die Vorschriften, denen ich unterworfen war.

1950 reicht es Echeverría. Sie stellt ihren Ehemann und die drei gemeinsamen Kinder vor vollendete Tatsachen und geht als Stipendiatin für ein Jahr nach Spanien. Ihre Rolle als Ehefrau und Mutter interpretiert sie fortan selbstbestimmter, arbeitet als Lehrerin und gründet ein Theater. Nach dem Wahlsieg Salvador Allendes 1970 steigert Echeverría ihr künstlerisches Engagement weiter.

In diesen Jahren blühte die Kultur hundertprozentig auf. Es ging darum, die gesamte Bevölkerung zu erreichen und einzubeziehen. Überall waren für wenig Geld gute Bücher des staatlichen Verlags Quimantú zu kaufen. Überall wurde eifrig produziert. Folklore. Theaterstücke. Eine Explosion. Die Wände Santiagos waren voller Wandbilder, auch die Mauern entlang des Flussbettes des Rio Mapocho, der durch die Stadt fließt. Ich glaube, das war intellektuell die wachste Zeit Chiles, nie zuvor oder danach wurde so viel gelesen. Es war ein kreatives Fieber das sehr abrupt und tragisch endete.

Richard Nixon begriff schnell, dass er den sozialen Wandel in Chile aufhalten musste, denn sonst hätte dieser Weg in Lateinamerika weitere Nachahmer finden können. Sie begannen mit einem Embargo und organisierten viele weitere verdeckte Aktionen in Chile, an denen sich alle Kapitalisten der chilenischen Rechten beteiligten, besonders auch der Herausgeber der Tageszeitung El Mercurio, Augustín Edwards. Unglaublich, was für eine Hommage nach seinem Tod inszeniert wurde, und das für eine der unheilvollsten Gestalten der chilenischen Geschichte.

Unheilvoll ist auch der Putsch 1973. Echeverría nutzt den relativen Schutz ihrer privilegierten Herkunft und engagiert sich in der Fluchthilfe verfolgter Personen. Ihre Bemühungen, auch einflussreiche Frauen der deutsch-chilenischen Community für diese Aktionen zu gewinnen, schlagen fehl. In einem geheimen Treffen…

entgegneten die ehrenwerten Damen auf meinen Vorschlag, international Hilfe zu organisieren: ‚Weiß denn Lucía Pinochet [die Ehefrau des Diktators] von dieser Idee?‘ und ich sagte nur: ‚Na hoffentlich nicht! Auch die deutschen Nonnen aus der Oberschule Colegio Santa Ursula [wo Echeverría bis 1973 unterrichtete] hatten, gebildet wie sie waren, nichts verstanden. Ich wollte, dass sie eine ehemalige Schülerin verstecken, doch sie ließen mich abblitzen. Im Philosophieren waren sie stark, aber politisch gesehen absolute Faschistinnen.

Aus Sorge um zwei meiner eigenen Kinder, die nach dem Putsch im Untergrund weiterhin bei der MIR [Bewegungen der Revolutionären Linken] aktiv waren, suchte ich Hilfe bei einem deutschen Bischof [eigentlich Probst] der Lutherischen Kirche, Helmut Frenz. Ich war kurz davor, ins Exil zu gehen und meine Kinder mussten auch aus Chile raus. Noch von Cambridge aus [wo Echeverría und ihr Mann von 1974 bis 1979 lebten] hielten wir Kontakt mit ihm. Er hat so vielen geholfen und es war sicher nicht leicht für ihn, mit all den Nazis in Chile.

Ende der 1970er kehrt Echeverría nach Chile zurück. Gemeinsam mit einigen Eingeweihten gründet sie die Gruppe Mujeres por la vida (Frauen für das Leben).

Während der Diktatur begannen wir Dinge zu tun, die die Männer nicht zu tun wagten. Die hatte man nach dem Putsch zum Schweigen gebracht.

Echeverría und ihre Mitstreiterinnen zetteln mal szenische Tumulte in Supermärkten an, mal werfen sie Fußbälle mit der Aufschrift „Tretet Pinochet“ von den Dächern Santiagos. Oder sie protestieren gegen die unerträgliche parteiische Justiz.

Zu fünft schlichen wir uns in den Gerichtshof. Fünf Frauen, die Taschen gefüllt mit verfaultem Fisch und Muscheln. Mit eleganten Schritten liefen wir in den zweiten Stock und warfen von dort auf ein Kommando alle Fische und Muscheln in den Innenhof, wo die Richter herumliefen. Dann entrollten wir ein Transparent auf dem stand ‚In Chile ist die Gerechtigkeit verboten‘. Wir wurden alle festgenommen, aber was sollten sie machen? Wir hatten ja niemanden umgebracht. Also kamen wir nach zwei Tagen wieder frei. Und den Gerichtshof, den konnten sie zwei Wochen lang nicht benutzen, weil es so stank.

Auch nach dem Ende der Diktatur bleibt Echeverría eine wache Kritikerin der unvollendeten Redemokratisierung Chiles. So verfolgt sie die Lebensläufe prominenter Parteigänger Allendes, die sich nach der Diktatur als wirtschaftliche Berater, Geschäftsmänner und Politiker auf obszöne Weise bereicherten.

Diese unverschämten Scheißtypen, wie konnten sie, intelligent und gebildet wie sie sind, sich so einer perversen Mission verschreiben? Warum verlief mein Leben so anders? Ich, aus aristokratischen Kreisen, geprägt von einer elitären Bildung, ich machte mich zu einer Anderen, abseits des Wohlstands der für mich in einer glorreichen oligarchischen Zukunft reserviert war. Denn die Utopie einer anderen möglichen Welt, von einer menschlichen Gesellschaft, mit Würde und Solidarität, das ist die meine.


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NOCH LANGE NICHT VORBEI

Nicht lang gefackelt Die verfassungsgebende Versammlung wird mit Nachdruck gefordert Foto: Diego Reyes Vielma

Wie jeden Freitag versammeln sich die Menschen auch am 17. Januar wieder am von ihnen umbenannten „Platz der Würde“ im Zentrum von Santiago. Diesmal aber, am Tag vor dem vierteljährigen Bestehen der Proteste, füllt sich der Platz schneller als in den vorangegangenen Wochen. Unter tosendem Jubel zieht die reparierte, riesige schwarze Pappfigur des Hundes Matapacos, langjähriges Symbol der Proteste gegen das neoliberale System in Chile, durch die Menge zurück auf ihren ursprünglichen Platz – eine Woche zuvor hatten Unbekannte die Figur dort wieder einmal beschädigt. Tausende Demonstrierende verfolgen Livemusik – ein Rage Against The Machine-Protestcover der Band Arauco Rock – und die Tanzperformance des feministischen Kollektivs Capuchas Salvajes. Nachrichten über Demonstrationen in anderen Städten des Landes wie Concepción und Antofagasta machen die Runde. „Ich bin zur Demo gekommen, weil ich all das, was im Land passiert, unterstützen möchte“, erzählt die gerade einmal 12-jährige Matilde.

Seit drei Monaten versammeln sich jüngere wie ältere Menschen zu Demonstrationen, klopfen auf ihre Töpfe, tanzen, machen Musik, rufen und schwenken ihre Forderungen nach tiefgreifendem Wandel auf riesigen Transparenten durch die Städte. Ihre Forderungen sind seit dem sogenannten estallido social, dem „gesellschaftlichen Knall“ Mitte Oktober (siehe LN 546) präsent. Jeden Freitag gibt es Demonstrationen in Santiago. Jeden Freitag ist auch die primera línea („erste Reihe“) da, schützt die Demonstration so gut wie möglich vor der Repression der Carabineros und setzt sich dabei Wasserwerfern, (Tränen-) Gas, Gummigeschossen, Tritten und Schlägen aus.

Während sich die Proteste seit einigen Wochen vor allem in Santiago abspielten, sorgten die Schüler*innen Anfang des Jahres für ein neues landesweites Anfachen der Proteste: In 160 Schulen boykottierten sie die Zulassungstests für die Universitäten (kurz PSU), besetzten Schulen, blockierten die Eingänge mit Demonstrationen, verbreiteten Fotos der Prüfungspapiere über soziale Netzwerke oder stellten ihre Klassenzimmer während der Prüfungen auf den Kopf. Am 6. und 7. Januar hätten 300.000 Schüler*innen die Tests ablegen sollen. Diese sind umstritten, weil sie, so die Begründung der Koordinierenden Versammlung der Sekundarschüler*innen (ACES), die bestehenden Ungerechtigkeiten des chilenischen Bildungssystems noch verschärfen: Wessen Familie Geld hat und sich die entsprechende Schulbildung leisten kann, besteht und kann studieren; wer dagegen eine öffentliche Schule besucht, meist nicht. ACES ruft auch für die Wiederholungstermine der PSU Ende Januar zu Demonstrationen auf und fordert von der Regierung die Entwicklung einer Ersatzlösung, die sich den Dynamiken des privatisierten Bildungssystems entgegenstellt. Solche Forderungen werden von Regierungsseite bislang mit Anklagen gegen die Schüler*innen beantwortet. Myrna Villegas, Anwältin und Professorin für Strafrecht an der Universidad de Chile, zeigt sich insbesondere über die „Kriminalisierung von Jugendlichen, die die Durchführung der PSU unterbrochen oder blockiert haben, durch die Anwendung des Gesetzes über die Sicherheit des Staates“ besorgt – ein Gesetz, dessen Strafmaße in Zeiten der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet maßgeblich verschärft worden sind.

Foto: John Englart via Flickr (CC BY-SA 2.0)

Foto: John Englart via Flickr (CC BY-SA 2.0)

Die Polizei hatte sich im Umgang mit den teils noch minderjährigen Schüler*innen ähnlich brutal gezeigt wie mit dem Rest der Protestierenden im Land. Auch den Demonstrationen an den Schulen trat sie mit Schlagstöcken, Tränengaskartuschen und Wasserwerfern entgegen. In den Tagen der PSU erregte außerdem ein Video landesweit Aufmerksamkeit. Es zeigt, wie ein Schüler bei einer Demonstration in Santiagos Stadtteil Pudahuel von einer Polizeistreife überfahren wird. Das Chilenische Menschenrechtsinstitut (INDH) stellte eine Strafanzeige gegen Angehörige des 55. Polizeikommissariats. In Pudahuel protestierten auch noch Tage später Anwohner*innen, die Carabineros antworteten mit dem übermäßigen Einsatz von Tränen- und weiteren Gasen in Wohnvierteln. „Die Gassen hier sind so eng, dass das Gas nicht abzieht. […] Ich habe einen 28-jährigen Nachbarn, der ständig mit Sauerstoff versorgt werden muss und sein ganzes Leben schon darunter leidet. Er und seine Mutter haben sehr gelitten und hatten Angst, zu ersticken. Eine andere Nachbarin hat ein dreimonatiges Baby zu Hause. Sie musste für einige Zeit in einen anderen Stadtteil ziehen, weil man hier nicht mehr atmen kann“, schildert die Anwohnerin Anaís Labarca (22) die Situation gegenüber der Zeitung El Desconcierto.

Das Maß der Gewalt, das die Carabineros zur Unterdrückung der Proteste anwenden, hat auch trotz internationaler Aufmerksamkeit und Kritik von Menschenrechtsorganisationen (siehe LN 547) nicht abgenommen. Ende Dezember bewiesen Untersuchungen der Berufsvereinigungen der Ärzt*innen und pharmazeutischen Chemiker*innen sowie der Bewegung Gesundheit im Widerstand (MSR) Ätznatron sowie unzulässige Mengen von Pfefferspray im gelb gefärbten Wasser eines Wasserwerfers.Dani Paredes, 35-jähriger Einzelhändler aus Santiago, drückte es gegenüber der Zeitung El Comercio so aus: „Dieser Tage ist die Repression furchtbar. Die Menge an Chemikalien, die sie benutzen, um uns zu schaden ist enorm.“ 253 Menschen seien laut einer Veröffentlichung des Chilenischen Menschenrechtsinstituts (INDH) zwischen Mitte Oktober und Mitte Januar allein durch Tränengas verletzt worden, hinzu kommen Verletzungen durch weitere Gase (siehe LN 547) sowie die Chemikalien in den Wasserwerfern.

Das INDH berichtet außerdem von mehr als 2.000 Menschen, die von Geschossen der Carabineros getroffen worden sind. Die Dunkelziffer mag allerdings deutlich höher liegen, denn manche Demonstrierende haben jegliches Vertrauen in die Institutionen und somit auch in die Krankenhäuser verloren. Über 400 Personen haben durch die sogenannten Gummigeschosse Verletzungen an den Augen erlitten. In 1.445 Fällen berichtet das Institut von Menschenrechtsverletzungen in Polizeirevieren, darunter fast 200 Fälle sexualisierter Gewalt, über 400 Fälle von Folter und über 800 von exzessiver Gewaltanwendung gegenüber Gefangengenommenen. In 1.080 Fällen hat das Menschenrechtsinstitut rechtliche Schritte eingeleitet und Anzeige erstattet: die meisten wegen Folter und exzessiven Gewalteinsatzes, aber auch 17 wegen versuchten Mordes und fünf wegen Mordes. Bei solchen Zahlen ist es kaum verwunderlich, wenn Menschen aus Angst zu Hause bleiben und die Demonstrationen nicht mehr die gleiche Kraft haben wie Mitte Oktober.

Foto: Diego Reyes Vielma

Foto: Diego Reyes Vielma

Demonstrierende beobachten immer wieder heftige Fälle von Polizeigewalt: Zahlreiche Videos dokumentieren, wie ein jugendlicher Demonstrant am 21. Dezember auf der Plaza de la Dignidad aus voller Fahrt zwischen zwei zorrillos, den gepanzerten Fahrzeugen der Carabineros, eingequetscht wurde. Einige Stunden zuvor hatte der Bürgermeister von Santiago, Felipe Guevara von der rechtskonservativen Partei Renovación Nacional, ein Nulltoleranzvorgehen gegen ungenehmigte Demonstrationen angekündigt. „Nur durch ein Wunder ist er noch am Leben! Diese Barbarei […] muss aufhören!“, twitterte Marta Cortez, die Mutter des Jugendlichen, der einen Beckenbruch erlitt. Neben internationalen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und dem UN-Hochkommissariat für Menschenrechte haben auch mehrere europäische Abgeordnete inzwischen die Gewalt der Carabineros kritisiert. In einer mündlichen Anfrage an die Bundesregierung kritisiert die Abgeordnete der Linksfraktion Heike Hänsel insbesondere die Zusammenarbeit der deutschen Polizei mit den Carabineros: Seit Dezember sind deutsche Polizist*innen auf Anfrage der chilenischen Regierung zu Aus- und Fortbildungszwecken in Chile.

Obwohl internationale wie landesweite Medien die Proteste und das Ausmaß der Repression im Allgemeinen herunterspielen, schwindet die Unzufriedenheit der Menschen nicht. Laut Umfragen von Pulso Ciudadano befürworten nur 4,6 Prozent der Bevölkerung die Arbeit der Regierung. Im jüngsten Bericht des Zentrums für Öffentliche Studien (CEP), eine von chilenischen Medien vielzitierte Institution, kommt die Regierung Piñera auf gerade einmal sechs Prozent Zustimmung – ein historisches Tief seit der Rückkehr zur Demokratie. Außerdem fühlen sich immer weniger Menschen überhaupt von den politischen Parteien repräsentiert: Nur noch ein Siebtel der Befragten gab an, sich mit einer Partei identifizieren zu können.

Die Versammlungsfreiheit wird durch neue Gesetze eingeschränkt

Die Unzufriedenheit mag auch an den jüngsten Gesetzesvorhaben der Regierung liegen. Am 13. Januar hat sie mit Unterstützung der Oppositionsparteien Partido por la Democracia, der christdemokratischen DC sowie der sozialistischen PS das sogenannte Anti-Plünderungs- und Barrikadengesetz verabschiedet, welches Gefängnisstrafen von bis zu eineinhalb Jahren für Blockaden des Straßenverkehrs, Barrikadenbau, das Werfen von Steinen und weiteren Vergehen sowie Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren für Plünderungen vorsieht. Jan Jarab vom UN-Hochkommissariat für Menschenrechte kritisierte, das Gesetz mache die allgemein geltende Versammlungsfreiheit „zu einem Privileg“ und verstoße deswegen nicht nur gegen die chilenische Verfassung, sondern auch gegen internationales Recht.

Präsident Piñera verfolgt mit derartigen Vorstößen weiterhin den Diskurs von Recht, Ordnung und sozialem Frieden, versucht, die Protestierenden gegeneinander auszuspielen und mit scheinbaren Zugeständnissen wie den jüngst angekündigten Gesundheits- und Rentenreformen zu beschwichtigen.Durch eine angekündigte Reform der staatlichen Gesundheitskasse Fonasa sollen die für eine Reihe von Diagnosen garantierten maximalen Wartezeiten nun für alle Behandlungen gelten, zudem sollen die Preise für Medikamente sinken. Die Finanzierung der Reform und damit die Ernsthaftigkeit der Vorschläge sind aber unklar, zudem soll das System der privaten Krankenversicherungen nicht angetastet werden.
Auf dem Gebiet der Rentenpolitik soll es einen strukturellen Wandel geben, angekündigt sind Anhebungen der Renten für Männer um 20 Prozent, die der Frauen um 32 Prozent. Gleichzeitig sollen die Rentenbeiträge für Arbeitnehmer*innen um sechs Prozent steigen, die fortan von einer neu geschaffenen Institution verwaltet werden und je zur Hälfte an die Beitragszahlenden und einen kollektiven Rentenfond gehen sollen. Damit würde das bisherige, von der Protestbewegung kritisierte AFP-Modell zumindest angerührt, die parlamentarische Opposition bezweifelt jedoch eine grundsätzliche Veränderung des Rentensystems durch die Reform.

Dass es der Protestbewegung aber genau um diese grundsätzlichen Veränderungen geht, hat Mitte Dezember die Bürger*innenbefragung bewiesen: Zweieinhalb Millionen Menschen hatten abgestimmt, 92 Prozent von ihnen sprachen sich dabei deutlich für eine neue Verfassung aus. Fast drei Viertel stimmten außerdem für eine verfassungsgebende Versammlung bestehend aus eigens dafür gewählten Bürger*innen.

Auf parlamentarischer Ebene hat das Abgeordnetenhaus Mitte Januar wesentliche Aspekte des verfassungsgebenden Prozesses wie die Geschlechterparität, Listen für Unabhängige sowie für Indigene reservierte Sitze in der verfassungsgebenden Versammlung beschlossen. Am 21. Januar wurden diese Aspekte auch vom Senat angenommen – einstimmig. Wie die Geschlechterparität und die Mitbestimmung von Unabhängigen sowie Indigenen erreicht werden kann, wird im Detail aber erst in den kommenden Wochen zwischen den Kammern ausgehandelt werden. Darüber dürfte es in den Parteien zum Teil sehr unterschiedliche Vorstellungen geben.

Viele Befürchtungen der Protestbewegung haben sich also bestätigt: Während ihre Versammlungsfreiheit durch neue Gesetze immer weiter eingeschränkt wird und sich wegen der massiven Polizeigewalt immer weniger Menschen überhaupt auf die Straße trauen, werden ihre Forderungen von der Regierung – wenn überhaupt – nur symbolpolitisch behandelt. Nach drei Monaten des Protests und der brutalen Repression verlieren mehr und mehr Menschen das Vertrauen in die politischen Parteien, die der Regierung ebenso wie die der Opposition. Dass echter Wandel nur durch eine neue Verfassung zu erreichen ist, darin ist sich der Großteil der Menschen in Chile einig. Die langsamen Fortschritte der Politik in der Aushandlung des verfassungsgebenden Prozesses machen nur wenig Hoffnung, zeigen aber vor allem, dass die Protestierenden weiter ausharren und ihren Forderungen nach einem grundlegenden Wandel Ausdruck verleihen müssen. Nicht nur bis zum Referendum am 26. April, das der aktuellen CEP-Umfrage zufolge eine große Mehrheitvon 67 Prozent für eine neue Verfassung ergeben wird, sondern gerade auch, wenn aller Voraussicht nach im Oktober die Verfassungsversammlung zusammentritt und für alle Beschlüsse eine 2/3-Mehrheit nötig sein wird, was den rechten Parteien Möglichkeiten zur Blockade eröffnet.


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MUSEUM DER WÜRDE

Camilo Catrillanca Porträt des 2018 ermordeten Aktivisten vom Kollektiv Serigrafía Instantánea (Fotos: Museo de la Dignidad)

„Das Team des Museums der Würde besteht aus sieben Personen. Wir wollten die Kunstwerke konservieren, damit eine Aufzeichnung der Geschichte bleibt und wir nie vergessen, warum wir im Oktober 2019 auf die Straße gingen“, erklärt Felipe.

Die Öffentlichkeit schätzt die Arbeit der Initiator*innen; die Kunstwerke sind bisher von Eingriffen verschont geblieben. „Das Einrahmen der Werke bringt die Kunst den Menschen auf eine alltägliche Art nahe. So kann sie Tag für Tag genossen werden, ungeplant, ohne eine Eintrittskarte zu kaufen oder eine Einladung haben zu müssen“, erläutert Felipe

Aufgrund der unzählbaren Masse an Werken, muss das Team einige auswählen. Zum Redaktionsschluss verzeichnete das Museum der Würde 15 Werke, darunter Grafittis, Collagen, Digitaldrucke auf Papier und Gemälde. Waren die Künstler*innen zunächst anonym geblieben, ermittelte das Museumsteam ihre Namen, um sie für die Öffentlichkeit sichtbar zu machen.

„Ein Ereignis hat uns sehr inspiriert. Ein oder zwei Tage, nachdem wir zum ersten Mal losgezogen sind, um die Rahmen anzubringen, fanden wir alle Wandgemälde innerhalb der Umgebung grün überstrichen vor. Es gab zwei deutliche Anhaltspunkte, die darauf schließen ließen, dass es die Polizei selbst gewesen sein musste. Es wurde alles in grüner Farbe überstrichen und in weißen Lettern Phrasen zur Unterstützung der Polizei geschrieben. Die Botschaft war wörtlich: „Carabineros von Chile, Vielen Dank!“ In dieser Nacht hatten sie alle Kunstinterventionen in der Zone übermalt. Die einzigen, die sie verschonten, waren jene mit dem goldenen Rahmen des Museums der Würde. Wir dachten uns danach: „Krass! Das hier hat bereits eine gewisse Bedeutung erlangt“, erzählt Felipe. Die nächste Herausforderung besteht nun darin, die Werke auf lange Sicht zu erhalten und natürlich weiterhin all jene zu rahmen, die neu erscheinen und den Anforderungen des Museums entsprechen.

Chiles Guernica von Miguel Ángel Kastro

Eine Hauptattraktion des Museums ist die chilenische Version von Guernica. Urheber Miguel Ángel Castro berichtet: „Ich habe mitbekommen, dass mein Guernica Teil des Museums der Würde ist, als ich an einem Tag durch die Straßen ging und es eingerahmt vorfand. Es war sehr bewegend für mich, da es eines der ersten Wandgemälde ist, das von dem Museum eingerahmt wurde.“ Der Künstler erklärt zudem, dass er seine chilenische Version von Guernica zunächst auf Instagram veröffentlichte. Einer seiner Follower nahm es und druckte es aus, sodass das Werk von heute auf morgen Teil des Museums der Würde wurde. „Guernica ist der größte künstlerische Anti-Kriegsausruf des 20. Jahrhunderts. An einem Sonntag mitten im spanischen Bürgerkrieg wurde ein spanisches Dorf bombardiert, wobei fast 3000 Menschen starben. Diese Geschichte erzählt Pablo Picasso in seinem Originalwerk. Als Appell an den Präsidenten Sebastián Piñera, der die Situation in Chile als Krieg bezeichnete, erstellte ich dann eine an die örtliche Realität angepasste Version von Guernica. Ich verfügte über so viele Informationen, dass es mir leicht fiel, für jedes Detail des Gemäldes eine passende Figur zu finden“, so Castro.

Santísima Dignidad von Paloma Rodríguez

Die Heilige Würde (Santísima Dignidad), symbolisch als Wächterin des Aufstandes. In dieser Darstellung finden sich einige zentrale Symbole der Proteste: Das grüne Halstuch für das Recht auf legale und sichere Abtreibung. Die hervorgehobene Figur steht für die Frauen Chiles, welche die Bewegung anführen und in ihren Armen hält sie einen Pikachu. Als Pikachu war eine Lehrerin verkleidet, die sehr viel Sichtbarkeit bei Freitagsdemonstrationen erlangt hatte.

Gabriela Mistral von Fabián Ciraolo

Unter den ausgewählten Werken sticht eines hervor, das die Dichterin Gabriela Mistral darstellt. „Mit jugendlichem Anmut vereint sie alle Elemente, die heute in Chile zur Diskussion stehen: Die Verfassung, über deren Änderung im April durch eine Volksabstimmung entschieden wird, das grüne Halstuch, Symbol der feministischen Bewegung und der Legalisierung der Abtreibung, die schwarze Flagge, die zum Zeichen der Revolution wurde und Gabriela Mistral, die selbst eine Botschaft darstellt.“, so Felipe. Würde Gabriela Mistral noch leben, würde sie ohne Zweifel ihr Gedicht „Wir sollten einst alle Königinnen sein“ wiederaufleben lassen.

Jesús von Caiozzama

Die chilenische Polizei wurde aufgrund ihrer exzessiven Anwendung von Gewalt sehr stark in Frage gestellt. Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses zählte das Nationale Institut für Menschenrechte (INDH) 3.583 Verletzte, darunter 359 mit Augenverletzungen. Sie verloren ihr Augenlicht teilweise oder komplett auf Grund von Gummigeschossen, die direkt auf die Augen abgefeuert wurden. In einer Collage des Künstlers @caiozzama ist Jesus dargestellt, der vor Carabineros flieht: In Anlehnung an die letzte Botschaft Jesu, hält der Verfolgte ein Schild hoch mit der Aufschrift „Vergib ihnen nicht, denn sie wissen genau, was sie tun“.


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PIÑERA RÜSTET AUF


(Foto: Germán Andrés Rojo Arce)

„Nie wieder“, zitierte Präsident Sebastián Piñera am Internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember den ehemaligen Präsidenten Patricio Aylwin nach Diktaturende 1990: „Nie wieder Angriffe auf die menschliche Würde, nie wieder Hass und Gewalt unter Chilenen!“. Diese mahnenden Worte müssten auch 30 Jahre später präsent sein, so Piñera vor versammelter Presse. Derweil ergab sich auf der durch die Demonstrierenden performativ umbenannten Plaza de la Dignidad (Platz der Würde, ehemals Plaza Italia), dem zentralen Versammlungsort der Proteste, ein völlig anderes Bild: Carabineros schossen mit Tränengaskartuschen auf die Köpfe der Protestierenden und verletzten dabei mindestens zwei Menschen lebensgefährlich, darunter ein 15-jähriges Mädchen.

Mindestens 350 Menschen wurden am Auge verletzt

Seit dem Beginn der Proteste Mitte Oktober sind die Menschenrechtsverletzungen durch Militär und Polizei allgegenwärtig. Dass es sich dabei um ein systematisches Vorgehen handelt, bescheinigen diverse Menschenrechtsorganisationen: „Die Absicht der chilenischen Sicherheitskräfte ist klar: diejenigen zu verletzen, die demonstrieren, um Proteste zu verhindern, bis hin zur Anwendung von Folter und sexueller Gewalt gegen Demonstranten“, sagte Erika Guevara Rosas von Amnesty International auf einer Pressekonferenz. Auch die UN-Beobachtungskommission sowie Human Rights Watch konstatieren in ihren Berichten schwere Menschenrechtsverletzungen, einschließlich schwerwiegender Misshandlungen wie brutale Schläge, sexueller Missbrauch und einzelne Fälle von Scheinhinrichtungen, sowie einen wahllosen und unsachgemäßen Einsatz von Anti-Riot-Waffen in unzähligen Fällen. General Enrique Bassaletti, Oberkommandierender der Carabineros des östlichen Abschnitts der Hauptstadtregion, rechtfertigte dies mit einer historisch aufschlussreichen Diagnose: „Die chilenische Gesellschaft ist an Krebs erkrankt. Und während einer Chemotherapie werden gute und schlechte Zellen getötet.“ Dieses Statement erinnert an Ex-Diktator Pinochet, der seinerzeit davon sprach, das „marxistische Krebsgeschwür“ auszurotten.

Die politische Elite versucht die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verteidigen

Im Zuge dieser „staatlich angeordneten Chemotherapie“ wurden mindestens 350 Menschen durch gezielte Schüsse mit sogenannten Gummigeschossen, die laut einer Studie der Universität Chile vor allem Mineralien und Schwermetalle wie Blei enthalten, am Auge verletzt. Mehr als 20 von ihnen haben ein oder beide Augen verloren. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission berichtet Anfang Dezember von 26 Toten (mindestens fünf durch Schüsse der Sicherheitskräfte), mehr als 20.000 Festnahmen und mindestens 11.000 Verletzten. Dennoch betont Piñera in seinen Fernsehansprachen und bei internationalen Auftritten immer wieder, dass das Vorgehen der Sicherheitskräfte allein dem Kampf gegen Gewalt und Zerstörung diene und bei der Wiederherstellung von Recht und Ordnung selbstverständlich die Menschenrechte sowie alle entsprechenden Protokolle respektiert würden. Das allerdings scheint sogar die chilenische Staatsanwaltschaft anders zu sehen: Sie ermittelt wegen Menschenrechtsverletzungen in 2.670 Fällen.

nstatt auf die legitimen Forderungen der Bürger*innen nach tiefgreifenden Veränderungen zu reagieren, versucht die politische Elite des Landes, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verteidigen, die die Mehrheit der Bevölkerung heute eindeutig ablehnt. Dafür scheinen viele Mittel recht: Zuletzt häuften sich Berichte von Hautausschlägen und Verätzungen nach dem Kontakt mit Wasser aus den Wasserwerfern. Dies wird vom Berufsverband der Ärzt*innen, dem Colegio Médico, auf Chemikalien im Wasser zurückgeführt. Die Mediziner*innen berichten außerdem vom Einsatz verbotener Gase. Demnach versprühen spezielle Fahrzeuge der Polizei ein grünes Gas, das Leberfunktionsstörungen verursacht und ein gelbes Gas, das zu 27 Prozent aus Arsen besteht und tödlich sein kann. Im Einsatz sind zudem Bomben aus gemahlenen Glassplittern, die eine Wundheilung verhindern und spezielle Granaten, die Demonstrierende beeinträchtigen sollen, indem sie sie blenden und das Gehör schädigen.

Die Regierung räumt Verfehlungen einzelner Polizist*innen ein, will von systematischen Verbrechen jedoch nichts wissen. Stattdessen lobt Piñera den mutigen Einsatz der Carabineros, wann immer sich eine Gelegenheit bietet, erhöhte ihr Gehalt und verlieh ihnen Orden. Außerdem stockte er das Polizeikontingent um fast 5.000 zusätzliche Polizist*innen auf, die er aus Pensionären und Auszubildenden rekrutierte. Zudem kündigte er ein Gesetz an, mit dem das Militär in Zukunft „für den Schutz kritischer Infrastruktur“ eingesetzt werden kann, ohne dass dafür die Verhängung eines Ausnahmezustandes notwendig ist. Im Klartext bedeutet dies, dass das Militär in Zukunft nahezu beliebig gegen die sozialen Proteste eingesetzt werden kann.

(Foto: Germán Andrés Rojo Arce)

Der Diskurs von Sicherheit, Ordnung und Wahrung der Menschenrechte wird auf den Straßen täglich ad absurdum geführt. Aber auch auf legislativer Ebene wird deutlich, welchen Kurs die Regierung – und ein Großteil der parlamentarischen Opposition – wirklich eingeschlagen haben. Es wurden bereits mehre Gesetzesinitiativen eingebracht, die ganz eindeutig darauf zielen, den Repressionsapparat auszubauen – und die von Rechts wie Links Unterstützung erfahren haben. So zum Beispiel das „Anti-Plünderungs-Gesetz“. Mit Plünderungen hat dieses allerdings wenig zu tun, vielmehr geht es um die Kriminalisierung bestimmter Protestformen. Vorgesehen sind etwa Haftstrafen zwischen 541 Tagen und fünf Jahren für das Werfen von Steinen und anderen Objekten, für das Aufstellen von Barrikaden oder für die „Unterbrechung bestimmter strategischer Dienstleistungen“, wie Transport, Elektrizität, Kommunikation oder medizinische Versorgung. Streiks, zum Beispiel im Gesundheitswesen, könnten demnach als Verbrechen betrachtet und mit entsprechenden Haftstrafen belegt werden. Ebenso wie das Besetzen von Metro-Stationen – wie Mitte Oktober, als die Schüler*innen gegen die Fahrpreiserhöhung protestierten und damit die Großproteste im ganzen Land erst auslösten – oder landwirtschaftlichen Flächen, was sich gegen die Mapuche richtet. Für solche kollektiven Aktionen von Gruppen „von zwei oder mehr Personen“, sieht der Gesetzentwurf automatisch die Höchststraße von fünf Jahren für die Teilnehmenden vor, sofern diese Gruppe die strafbare Handlung „wiederholt begeht und es sich nicht um eine illegale Vereinigung handelt“.

Das Interesse an der Beibehaltung des Status Quo ist parteiübergreifend groß. 127 Abgeordnete votierten für das „Anti-Plünderungs-Gesetz“, 13 enthielten sich und nur sieben stimmten dagegen. Auch die linken Abgeordneten des Parteienbündnisses Frente Amplio, Gabriel Boric und Giorgio Jackson, votierten bei der Abstimmung im Abgeordnetenhaus für das Gesetz. Nach massiver Kritik räumten sie ein, dass dies ein Fehler gewesen sei: Sie hätten gehofft, dadurch größeren Einfluss auf den endgültigen Gesetzestext zu gewinnen.

Die primera línea, ausgestattet mit Helmen, Gasmasken, Steinen und bunten Schildern, hält die Polizei auf Abstand zu den großen Demonstrationen

Ebenfalls im Gesetzgebungsverfahren befindet sich das „Anti-Vermummungs-Gesetz“. Darin vorgesehen sind sofortige Festnahmen und 541 Tage bis drei Jahre Haft für Personen, die bei „Störung der öffentlichen Ordnung“ ihr Gesicht verbergen. Der Senat, in dem die Mitte-Links-Parteien der Opposition die Mehrheit haben, stimmte Ende November für den Gesetzesvorschlag. In großen Teilen der Protestbewegung genießen die encapuchados, die Vermummten, hingegen viel Anerkennung und Unterstützung. Die primera línea – der erste Block – besteht aus meist jungen Menschen aller sozialer Schichten, die ausgestattet mit Helmen, Gasmasken, Steinen und bunten Schildern in die Auseinandersetzung mit der Polizei gehen. Für sie und viele Demonstrant*innen ist das kein Verbrechen, sondern vielmehr eine Aufgabe: Die Polizei möglichst auf Abstand zu den großen Demonstrationen zu halten, damit diese vor Repression geschützt sind und überhaupt stattfinden können.

Der mittlerweile entlassene Innenminister Andrés Chadwick wurde Mitte Dezember wegen Menschenrechtsverbrechen zur Verantwortung gezogen. Der Kongress stimmte der Verfassungsbeschwerde zu, die die Opposition gegen Chadwick eingelegt hatte. Er darf nun fünf Jahre lang kein politisches Amt mehr bekleiden. Die Verfassungsbeschwerde gegen Präsident Piñera wurde vom Abgeordnetenhaus hingegen mit knapper Mehrheit abgelehnt. Klar ist jedoch, dass Piñera kaum noch Rückhalt in der Bevölkerung genießt. Die Zustimmungswerte liegen laut der Umfrage Pulso Ciudadano derzeit bei 4,6 Prozent. Sein Rücktritt ist eine zentrale Forderung der Protestbewegung, doch es sieht nicht so aus, als würde er ihr nachkommen. Stattdessen klammert er sich an die Macht – mit Repression gegen seine Gegner*innen, Symbolpolitik, Geschenken an sein Klientel, z.B. an Unternehmen, die durch die Proteste wirtschaftliche Einbußen erfahren haben, und seinem wahrscheinlich cleversten Schachzug: dem Abkommen mit der Opposition zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung.

Das Abkommen zur Bildung eines Verfassungskonvents könnte ein trojanisches Pferd sein

Mitte November einigte sich die Regierung mit den Oppositionsparteien – mit Ausnahme der Kommunistischen Partei und einiger kleiner linker Parteien – auf die Bildung eines Verfassungskonvents. Eine neue Verfassung gehört zu den Hauptforderungen der Protestbewegung, denn die aktuell gültige Magna Charta stammt aus Diktaturzeiten und ist das Fundament des neoliberalen Modells, dessen Auswirkungen die maßgeblichen Gründe für den Protest sind. Laut dem Abkommen soll die Bevölkerung bei einem positiven Ausgang einer für April geplanten Volksabstimmung im Oktober einen Verfassungskonvent wählen, der innerhalb maximal eines Jahres eine neue Verfassung erarbeiten soll.


(Foto: Diego Reyes Vielma)

Was zunächst von vielen als Erfolg der Protestbewegung interpretiert wurde, könnte sich als trojanisches Pferd entpuppen. Denn das zwischen den etablierten Parteien hinter verschlossenen Türen ausgehandelte Abkommen birgt einige Risiken. In dem Plebiszit im April soll darüber entschieden werden, wie der Verfassungskonvent zusammengesetzt sein soll: entweder zu 100 Prozent aus gewählten Delegierten oder zu 50 Prozent aus Abgeordneten im Amt. Nur die erste Option entspräche dem Charakter einer verfassungsgebenden Versammlung, wie sie die Bevölkerung fordert. Offenbar erhoffen sich die Parteien jedoch, das Ruder noch herumdrehen zu können. Sollte der Verfassungskonvent am Ende tatsächlich zur Hälfte aus amtierenden Politiker*innen bestehen, ist die Abkehr vom aktuellen System unwahrscheinlich – daran haben die Parteien kein Interesse, denn sie gehören zum kleinen Teil der chilenischen Gesellschaft, der davon profitiert. Selbst bei 100 Prozent gewählten Delegierten werden vermutlich Parteipolitiker*innen die Versammlung dominieren, denn das Wahlrecht erschwert die Teilnahme unabhängiger Kandidat*innen. Eine Dominanz von Parteipolitiker*innen könnte jegliche Veränderung im Keim ersticken, denn das Abkommen legt fest, dass alle Artikel der neuen Verfassung von einer Zweidrittelmehrheit im Verfassungskonvent angenommen werden müssen – damit haben sich die Parteien de facto ein Vetorecht eingeräumt.

Im Abkommen über den Prozess zu einer neuen Verfassung ist weder Geschlechterparität vorgesehen, noch die Beteiligung der indigenen Völker

Doch das Abkommen hat noch weitere Defizite, vor allem in Fragen der Repräsentation. Es ist weder eine Geschlechterparität vorgesehen, noch die Beteiligung der indigenen Völker. Dabei sind sowohl die feministische Bewegung, als auch die Mapuche-Bewegung zentrale Akteure der Proteste. Die Mapuche-Flagge ist auf den Demonstrationen mindestens so präsent wie die chilenische, und viele Chilen*innen solidarisieren sich mit den Forderungen nach Land und verfassungsmäßiger Anerkennung als Volk. Damit sich dies auch in der neuen Verfassung niederschlägt, fordert die Mapuche-Bewegung eine anteilige Repräsentation in der verfassungsgebenden Versammlung. Davon ist in dem Abkommen keine Rede. „Die große Mehrheit der politischen Klasse will nicht, dass unsere Völker Teil der neuen Verfassung sind. Für Gerechtigkeit und Repräsentation brauchen wir aber einen plurinationalen Staat, der auch unsere territorialen Rechte garantiert“, so Teresa Boroa, Repräsentantin der Mapuche-Gemeinde in Boyeco, gegenüber LN. Die Mapuche-Gemeinden im Süden des Landes kämpfen seit vielen Jahren um Land und Anerkennung und kritisieren ebenso lange die sozialen und ökologischen Auswirkungen des neoliberalen Wirtschaftssystems. Die Mehrheit der chilenischen Bevölkerung erfährt seit einigen Wochen, was es bedeutet, gegen das herrschende System zu protestieren – in den Mapuche-Gemeinden war Polizeigewalt und juristische Verfolgung immer präsent.
Auch die feministische Bewegung hat in den letzten Wochen eindrückliche Bilder produziert, die in den sozialen Medien um die Welt gingen. Tausende Frauen nahmen gemeinsam an den Performances des Kollektivs LasTesis teil, die auf die patriarchale Gewalt durch den Staat aufmerksam machen. Die Performance „Un violador en tu camino“ (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) wird seitdem von Frauen in verschiedensten Ländern adaptiert, unter anderem in der Türkei, Kolumbien, den USA, Kenia, Spanien, Deutschland, Frankreich und Mexiko. In Chile fügen sich die Feminist*innen ebenso in die Proteste ein wie Mapuche und Umweltaktivist*innen. „Der Feminismus schließt sich diesen Forderungen vollständig an“, sagte Paula von LasTesis im Interview mit LN. „Es ist ein Irrtum, die Forderungen nach höheren Renten, einem öffentlichen Bildungs- und Gesundheitssystem davon zu trennen. Der Feminismus fordert einen Wandel eben dieser Bereiche der Reproduktion des täglichen Lebens“, so die Aktivistin.

Dass es bei den Protesten um einen grundsätzlichen Wandel der chilenischen Gesellschaft geht, will die Regierung nicht akzeptieren. Auf die sozialen Forderungen antwortet sie und das Parlament mit Symbolpolitik, z.B. mit minimalen Erhöhungen von Mindestlohn und -rente, Einmalzahlungen an einkommensschwache Haushalte, oder der Senkung der Bezüge für die Abgeordneten. „Die Regierung versucht die Proteste auf materielle Themen zu reduzieren und weigert sich zu verstehen, dass die Menschen in den Versammlungen und Räten nicht nur über Gehälter sprechen, sondern auch über die Umwelt und die Entprivatisierung der Wasserversorgung. Sie sprechen von Parität, sie sprechen von Feminismus, sie sprechen von indigenen Völkern, von Pluralität“, meint auch Lucio Cuenca, Vorsitzender der Lateinamerikanischen Beobachtungsstelle für Umweltkonflikte (OLCA) gegenüber LN.

Am 15. Dezember sollen von fast allen Kommunen Befragungen zur neuen Verfassung durchgeführt werden. Anders als bei dem in Hinterzimmern ausgehandelten Abkommen, ist eine breite Beteiligung über die lokalen Bürger*innenkomitees geplant, die sich im Zuge der Proteste landesweit gebildet haben. Dort sollen auch Fragen zu den strittigen Punkten, wie der Beteiligung von Indigenen und Unabhängigen, gestellt werden. Die Ergebnisse lagen zum Redaktionsschluss noch nicht vor. Inwiefern diese vom Verfassungskonvent überhaupt in irgendeiner Weise berücksichtigt werden, ist jedoch noch völlig unklar.

Die Präsidentschaft von Piñera endet erst im März 2022. Bis zum Verfassungs-Plebiszit im April wird es also darauf ankommen, die Proteste und Forderungen aufrecht zu erhalten. In den letzten zwei Monaten ist das der chilenischen Bevölkerung gelungen – trotz der Versuche der Regierung, die Bewegung durch massive Repression und Symbolpolitik zu schwächen. Ob Chile 2021 eine Verfassung erhält, die mit der Ungleichheit und schlechten Lebensbedingungen für die Mehrheit der Bevölkerung aufräumt, bleibt indes unsicher. Vor allem, weil unklar ist, zu welchen Maßnahmen die Regierung noch bereit sein wird, wenn es darum geht, die Proteste mit Gewalt zu zerschlagen. Das aktuelle Gebaren der Sicherheitskräfte und die geplanten Repressionsgesetze verheißen diesbezüglich nichts Gutes.


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